Deutsche Lyrik der frühen Neuzeit: Band 5/1 Aufklärung und Pietismus [Reprint 2010 ed.] 9783110942088, 9783484105706

Die immer noch zu wenig betrachtete erste Hälfte des 18. Jahrhunderts wird in der deutschen Kultur- und Literaturgeschic

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German Pages 191 [192] Year 1991

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Table of contents :
Zur technischen Einrichtung des Bandes
Vorwort
Einleitung
1) Pietismus und Aufklärung
2) Pietismus, Aufklärung und Mystik
3) Pietistisches Autonomiestreben: Selbstvergottung und Androgynie (Arnold)
Verzeichnis der zitierten Literatur
Personenregister
Sachregister
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Deutsche Lyrik der frühen Neuzeit: Band 5/1 Aufklärung und Pietismus [Reprint 2010 ed.]
 9783110942088, 9783484105706

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HANS-GEORG KEMPER

Deutsche Lyrik der frühen Neuzeit Band 5/1

HANS-GEORG KEMPER

Deutsche Lyrik der frühen Neuzeit Band 5/1 Aufklärung und Pietismus

MAX NIEMEYER VERLAG TÜBINGEN 1991

CIP-Titelaufnahme der Deutschen Bibliothek Kempcr. Hanx-Ceoi')>: Deutsche Lyrik der frühen Neuzeit / Hans-Georg Kemper. - Tübingen : Niemeyer. Literaturangaben Bd. 5. I . Aufklärung und Pietismus. - 1991 ISBN 3-484-10563-1 kart. ISBN 3-484-10570-4 Gewebe © Max Niemeyer Verlag. Tübingen 1991 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich gcschüt/t. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen. Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Satz: pagina GmbH, Tübingen Druck: Allgauer Zeitungsverlag. Kempten Einband: Heinr. Koch, Tübingen

Inhaltsverzeichnis

Zur technischen Einrichtung des Bandes Vorwort Einleitung a) Zur politischen und ökonomischen Verfassung des »Reichsmonstrums« b) Hierarchische Strukturen der Stände-Gesellschaft c) Staatskirchentum und Säkularisierungsprozeß d) Zur Begriffsbestimmung und Epochenproblematik der Aufklärung

1) Pietismus und Aufklärung a) Der Pietismus im Überblick: Erscheinungsformen und Forschungsprobleme b) »Glückseligkeit« und »Gottseligkeit auf Erden« - Reformimpulse in der »Hoffnung besserer Zeiten« (Leibniz, Spener, Francke u. a.) c) Der pietistische Kampf gegen Welt und (Mit-)Mensch, Poesie und Phantasie (Spener, Schade, Winkler, Richter, Neumeister, Hunold u.a.) d) Diagnosen pietistischer »Melancholey« (Spener, Francke, Moritz)

2) Pietismus, Aufklärung und Mystik

VII IX l

l 8 15 23

37 37 42

55 68

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a) >RechtfertigungWiedergeburt< und Erneuerung der Mystik< bei Spener 79 b) Mystik und Alchimie in Halle (Francke, Richter) 86 c) Animismus contra Mechanismus - Zur Opposition gegen Descartes und das Leibniz-XWolffsche System (Stahl, Thomasius, J. Lange) . 92 d) Hermes und die »Kette der Wesen« (Dippel, Brockes) 107

VI

3) Pietistisches Autonomiestreben: Selbstvergottung und Androgynie (Arnold) 117 a) »Fremde Pflicht« und »meines Jesu Ruh« - Brüche in Lebenslauf und Werk b) »Einfältig« und »ungezwungen« - Zur Poetik der »Göttlichen Liebes =Funcken« c) Hohelied-Allegorese in symbolisierender Bildlichkeit d) »So wird ein jeder Christ / Ein wahrer Christus seyn«: »Verinnerlichung« der Christologie e) >Lob= und Liebes = Sprüche< auf die Geschlechtslosigkeit . . . f) Habitualisierung der göttlichen Natur

117 121 125 129 132 136

Verzeichnis der zitierten Literatur

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Personenregister

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Sachregister

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VII Zur technischen Einrichtung des Bandes

Im Darstellungsteil des vorliegenden Bandes werden die im »Verzeichnis der zitierten Literatur« innerhalb von Sachgruppen alphabetisch aufgeführten Publikationen durch die Angabe der römischen Ziffer des Abschnitts der Bibliographie sowie des Verfassernamens, bei mehreren im selben Abschnitt aufgeführten Titeln desselben Autors auch durch das Erscheinungsdatum der Publikation sowie mit der Seitenzahl zitiert. Die Forschungsliteratur aus Abschnitt II des Verzeichnisses wird mit hinzugesetzter arabischer Ziffer aufgeführt, welche auf den jeweiligen historischen Bezugs-Autor verweist. Der Name eines im Satzzusammenhang bereits erwähnten oder eines im betreffenden Kapitel behandelten Autors wird in den Klammern nicht wiederholt. Bei Autoren, denen ein Kapitel oder ein Abschnitt der Darstellung gewidmet ist, entfällt die Repetition der römischen Ziffer nach ihrer ersten Notierung. Darüber hinaus werden entweder die zitierten Ausgaben nach den in der Forschung eingebürgerten Abkürzungen genannt oder die Hauptwerke nach den Titel-Initialen aufgeführt. Die betreffenden Abkürzungen selbst sind im Literaturverzeichnis unter dem jeweiligen Autor zitiert und aufgeschlüsselt.

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Vorwort

Kant hat seine - auch von Germanisten gern zitierte - Definition von Aufklärung als »Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit« »vorzüglich in Religionssachen gesetzt« (II, S. 55, 61; Hervorhebung von Kant), weil der Altar im Bündnis mit dem Thron die Freiheit des öffentlichen Gebrauchs der Vernunft als Bedingung von Aufklärung in Deutschland am entschiedensten einzuschränken und zu unterdrücken suchte. Die Zeitgenossen des 18. Jahrhunderts, voran die Naturwissenschaftler und Philosophen, welche sich aus der Unmündigkeit als dem »Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen« (ebda., S. 55), zunächst am entschlossensten zu emanzipieren strebten, mußten diese Restriktionen der kirchlichen Ordnungshüter immer wieder am eigenen Leibe erfahren. Nicht zuletzt daraus bezogen sie freilich ihre unverbrauchte Motivation zur Fortsetzung jenes Kampfes, der im >Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation< seit Einführung der Reformation und mit unverminderter Härte auch in der Epoche des Konfessionalismus von inner- und außerkirchlichen Oppositionsgruppen und von den Humanisten gegenüber den etablierten Bekenntnissen und ihrem häufig zum Despotismus verkommenen Wahrheitsanspruch ausgefochten worden war (vgl. dazu Bde. I-IV). Deshalb belehrte auch Heinrich Heine in der auf die Aufklärung folgenden Restaurationsepoche die Franzosen, sie gelangten durch Lektüre der »Erzeugnisse unserer schönen Literatur« zu keinem »Verständniß Deutschlands«, solange sie »die Bedeutung der Religion und der Philosophie« in diesem Lande nicht kennengelernt hätten (II, S. 13). Mit dem im 18. Jahrhundert kulminierenden Streit um die »Religionssachen« steht auch die Dichtung der deutschen Frühaufklärung in einer problemgeschichtlich dominanten interepochalen frühneuzeitlichen Kontinuität (vgl. Bd. I, S. IXff., 16ff.; 11.58 Winter, S. 31 ff.; III Winter 1966, S. 20ff., 32ff.; Möller, S. 9). Deshalb verdient hier aber auch der Pietismus besondere Beachtung. Als »größte religiöse Erneuerungsbewegung im Protestantismus seit der Reformation« (11.53 Wallmann 1986, S. VII) kam er bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts mit rund 40% der protestantischen Bevölkerung in Berührung, und dies nicht zuletzt durch ein »nahezu unübersehbares Mas-

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Vorwort

senschrifttum« mit einem großen Anteil geistlicher Poesie, womit er auch in zuvor leseunkundige Schichten vordrang und die publizistische Wirkung der deutschen Frühaufklärer zunächst in den Schatten stellte (vgl. III Schrader 1988, S. 86f.; wie stark Bücher - und auch Lieder Gedankenwelt und Verhaltensweisen der pietistischen Familien und Zirkel prägten, zeigt Karl Philipp Moritz eindrucksvoll in seinem autobiographischen Roman >Anton ReiserHeilige Römische Reich Deutscher Nation< war auch im 18. Jahrhundert keine politische und nationale Einheit, sondern zerfiel in eine Vielzahl kleiner, zum Teil winziger Territorien mit unterschiedlicher Autonomie. Im Norden und Osten überwogen die größeren Flächenstaaten, die freilich häufig - wie auch Brandenburg-Preußen (vgl. die Karte in III Venohr) - kein kohärentes, sondern ein territorial zersplittertes Herrschaftsgefüge darstellten, in der Mitte und im Süden dagegen dominierten zahlreiche geistliche und weltliche Klein- und Kleinstgebiete (vgl. die Karte in III Mandrou, S. 381 f.). Trotz aller politischen Veränderungen - u. a. der Entwicklung und Rivalität der beiden Großmächte Österreich und Preußen - bestand das Gesamtreich noch 1789 aus 314 reichsständischen sowie 1475 reichsritterschaftlichen Gliedern (vgl. III Kopitzsch, S. 16; eine Liste der Reichsstände im Jahr 1792 in III Kiesel/Münch, S. 203ff.). 1667 beschrieb der Naturrechtler Samuel PUFENDORF (1632-1694; vgl. V/2 Kap. I 3 a) >Die Verfassung des deutschen Reiches< und beklagte darin die über den Dreißigjährigen Krieg hinaus andauernde Rivalität zwischen Kaiser und Reichsständen (II, S. 119). Daraus resultierten »Argwohn, Mißtrauen und verborgene Ränke« sowie Ohnmacht im politischen Handeln nach außen. Darüberhinaus herrschte aber auch Zwietracht innerhalb der heterogenen Gruppe der Reichsstände:

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Einleitung

»Der Wohlstand der durch den Handel reich gewordenen Städte erregt den Neid der Fürsten, zumal er teilweise aus ihren Ländern den Städten zugeflossen ist und es sich nicht leugnen läßt, daß manche Städte wie Schmarotzer durch Auszehrung der umliegenden Fürstentümer groß geworden sind. Der Adel verachtet die Bürger, die oft nicht weniger stolz auf ihr Geld sind als jener auf seine Ahnen oder verarmten Besitzungen. Einige Fürsten erblicken in den Städten gleichsam einen Vorwurf gegen ihre Herrschaft, und sie finden, daß die Untertanen ihren Status wegen des Vergleichs mit der benachbarten Freiheit widerwilliger ertragen. So entstehen überall Neid, Verachtung, Kränkungen, Argwohn und verborgene Ränke. Noch heftiger und offenkundiger herrscht das alles zwischen den Bischöfen und den Städten, in denen ihre Kathedralkirchen liegen. Selbst auf dem Reichstag zeigen die Fürsten unverhohlen ihre Abneigung gegen das Kollegium der Städte; der Kaiser dagegen ist den Städten gewogen, weil er auf sie einen größeren Einfluß hat als auf die anderen Stände. Aber auch die geistlichen und weltlichen Fürsten sind einander nicht wohlgesonnen. Im Fürstenstand hat die Geistlichkeit den höheren Rang wegen der Heiligkeit ihres Amtes und weil sich zweifellos der Geist Gottes reichlicher auf eine Glatze ergießt als auf ungeschorene Häupter . . . Freilich sorgen auch viele Bischöfe nach dem Vorbild des Heiligen Vaters reichlich für ihre Verwandten durch kirchliche Pfründen und Schenkungen. Andererseits haben auch die geistlichen Fürsten gerechte Gründe für ihren Zorn auf die weltlichen; denn sie nötigten sie, ihren Wanst fester einzuschnüren« (ebda., S. 120f.).

Im nachfolgenden Jahrhundert mußten die Zeitgenossen miterleben, wie Deutschland mit seinen weitgehend voneinander unabhängigen Territorien in die Auseinandersetzungen zwischen Rußland und Schweden, Frankreich und England um die Vorherrschaft in Europa und in den Kolonien einbezogen wurde, und die militärischen Aktionen Preußens seit dem Regierungsantritt Friedrichs II. (1740) riefen immer wieder andere europäische Kriegs-Allianzen hervor. Von daher ist es mitzuverstehen, wenn sich nach dem Frieden von Hubertusburg (1763) und damit zu Beginn des Sturms und Drangs die Überzeugung öffentlich artikulierte, »daß es in Deutschland wichtigere Aufgaben gebe, als untereinander Krieg zu führen, daß Rückstände gegenüber Westeuropa aufzuholen seien und daß die im deutschen Volke liegenden Kräfte für gemeinsame Zwecke genutzt werden sollten« (III Vierhaus 1978, S. 187f.). Friedrich Karl von MOSER (1723-1798), pietistischer und aufgeklärter württembergischer Staatsmann (acht Jahre leitender Minister von Hessen-Darmstadt) und Liederdichter (>Geistliche Gedichte, Psalmen und LiederVon dem deutschen Nationalgeist< beredten Ausdruck:

Einleitung

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»Wir sind ein Volk von einem Namen und Sprache, unter einem gemeinsamen Oberhaupt, unter einerlei unsere Verfassung, Rechte und Pflichten bestimmenden Gesetzen, zu einem gesellschaftlichen großen Interesse der Freiheit verbunden, . . . an innerer Macht und Stärke das erste Reich in Europa, . .. und so, wie wir sind, sind wir schon Jahrhunderte hindurch ein Rätsel politischer Verfassung, ein Raub der Nachbarn, . . . uneinig unter uns selbst, kraftlos durch unsere Trennungen, stark genug, uns selbst zu schaden, ohnmächtig, uns zu retten, . . . ein großes und gleichwohl verachtetes, ein in der Möglichkeit glückliches, in der Tat selbst aber sehr bedauernswürdiges Volk.« (Zit. in: III Vierhaus 1978, S. 188).

Während in der französischen Aufklärung die »Vaterlandsliebe« als Mittel der sozialen Vergemeinschaftung, Tugendveredlung und Friedensliebe hochgeschätzt wurde - so in Denis Diderots (1713-1784) >EncyclopedieGesetzgeber< (II E, S. 214f.) -, neigten manche deutsche Aufklärer als Reflex auf das »Reichsmonstrum« eher zum Kosmopolitismus. Wenn indessen schon der frühe Lessing in seinem Lustspiel >Der junge Gelehrte< (1748) den - verlachenswerten - Damis erklären läßt: »Was geht uns Gelehrten Sachsen, was Deutschland, was Europa an? Ein Gelehrter, wie ich bin, ist für die ganze Welt; er ist ein Kosmopolit: er ist eine Sonne, die den ganzen Erdball erleuchten muß —« (II JG, S. 49), dann spricht sich hier bereits die Einsicht in die Bedeutungslosigkeit eines im bloßen Pedantismus, Polyhistorismus und im Buchwissen verharrenden Gelehrtentums aus und die Pflicht, die Isolation einer selbstgenügsamen Gelehrtenrepublik zu durchbrechen und sich - nach dem Vorbild der frühaufklärerischen Universitätslehrer für eine Verbesserung des Gemeinwesens in »Sachsen« und »Deutschland« zu engagieren (zu dem daraus resultierenden Problem eines - zunächst partikularstaatlichen - Patriotismus in Deutschland vgl. Bd. VI). 2) Das frühneuzeitliche politische Herrschaftssystem des Absolutismus haben die Territorien des Reiches auf Grund ihrer unterschiedlichen Größe und Struktur nur zum Teil und recht verschieden verwirklicht. Ausgelöst durch die Reformation und die Religionsstreitigkeiten dominierte im 16. und 17. Jahrhundert ein am Gottesgnadentum orientierter, patriarchalischer Konfessionsstaat (vgl. dazu auch Einleitung c), bei dem der jeweilige Landesherr entsprechend den Bestimmungen des Augsburger Religionsfriedens von 1555 den Untertanen die eigene Konfession aufzwingen konnte (»Cuius regio, eius religio«; vgl. I Raab, S. 163ff.; Bd. I, S. 174; Bd. H, S. 2ff., 127ff.) und das ihn jeweils ideologisch stützende Bekenntnis zu schützen, zu erhalten und erst in Ansätzen für seine weltlichen Zwecke zu funktionalisieren suchte (vgl. dazu Kap. 2c). - Im 18. Jahrhundert imponierte den deutschen Fürsten vor allem das französische Regime unter Ludwig XIV. (1638/1661-1715),

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Einleitung

das alle Machtausübung im klassischen Sinne des Feudalabsolutismus auf einen Regenten konzentrierte (vgl. III Mandrou, S. 36ff.). Der Preußenkönig Friedrich II. (1712/1740-1786) formulierte in seinem Politischen Testament von 1752< die Prinzipien absolutistischer Politik folgendermaßen: »Bei dem engen Zusammenwirken zwischen Finanzen, innerer Verwaltung, äußerer Politik und Heerwesen ist es unmöglich, einen dieser Zweige zu behandeln, indem man die anderen übergeht. . . . Eine gut geleitete Staatsregierung muß ein ebenso fest gefügtes System haben wie ein philosophisches Lehrgebäude. Alle Maßnahmen müssen gut durchdacht sein, Finanzen, Politik und Heerwesen auf ein gemeinsames Ziel steuern: nämlich die Stärkung des Staates und das Wachstum seiner Macht. Ein System kann aber nur aus einem Kopfe entspringen, also muß es aus dem des Herrschers hervorgehen.« (II, S. 204f.)

Vor allem unter Friedrich dem Großen und Kaiser Joseph II. (174l/ 1780-1790) entwickelte sich in Brandenburg-Preußen und Österreich ein aufgeklärter Absolutismus^, - aufgeklärt, weil der Herrscher sich hier nicht mehr durch das Gottesgnadentum, sondern - beeinflußt durch Vertrags- und Naturrechtstheorien der Aufklärung - durch einen Gesellschafts- oder Herrschaftsvertrag zu legitimieren suchte, wonach der Monarch »der erste Diener des Staates« war (ebda., S. 205) und deshalb auch vor der Öffentlichkeit an seinen Leistungen für den Staat gemessen werden wollte. Während der Absolutismus des 17. Jahrhunderts die alten wirtschaftlichen und ständischen Einrichtungen großenteils noch hatte bestehen lassen, förderte und legitimierte die scheinbar dienende Orientierung des aufgeklärten Absolutismus an Staatsinteresse und Leistungsprinzip die Zentralisierung des Staates sowie seiner Institutionen und schränkte damit zugleich die tradierten persönlichen und korporativen Freiheiten der adligen und bürgerlichen Schichten ein (vgl. III Weis, S. 36ff.). Während aber z. B. der Kursachse Friedrich August I. (1670/ 1694-1733), gen. »August der Starke«, seine ehrgeizigen absolutistischen Ziele gegen die durch den Dreißigjährigen Krieg gestärkten Stände, insbesondere gegen den sich mit den Städten verbündenden, wirtschaftlich potenten Adel seines Landes kaum durchzusetzen vermochte (vgl. dazu III Czok, S. 16ff., 76ff., 197f.), brach der im Blick auf seine Leistungen für den Aufbau des Staates Preußen häufig unterschätzte König Friedrich Wilhelm I. (1688/1713-1740) das Adelsprivileg der Steuerfreiheit, erhob eine »Ritterpferd«-, »Allodial«- und Grundsteuer auf jeden Adelsbesitz und beschnitt durch Ausfuhrverbote ökonomische Privilegien des Adels (vgl. ebda., S. 76; III Venohr, S. 209f.; Mittenzwei/Herz-

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feld, S. 220). Indem der »Soldatenkönig« ferner 1733 - überhaupt zum erstenmal im Reich und noch mit vielen Ausnahmen - die Wehrpflicht für seine Untertanen einführte (vgl. III Wehler, S. 245ff.), zwang er Teile aller Schichten vom Adel bis zu den Besitzlosen zum Dienst am Staat, unterwarf sie damit dem strengen militärischen Reglement und erzog durch das Heer als »Schule der Nation« zahlreiche Gruppen der Bevölkerung - allen voran die Beamten als Ausführungs- und Kontrollorgane seiner absolutistischen Politik - zu den rasch als »typisch preußisch« geltenden >Tugenden< von absoluter Pünktlichkeit, Subordination, Pflichterfüllung und Leistungsbereitschaft (»soziale Militarisierung«; vgl. ebda. S. 244; Mittenzwei/Herzfeld, S. 21 Off.). »König Friedrich Wilhelm kann / sagen wie der Kriegesmann: / Der Gehorsam zieret meine Leut'«, rühmte ihn dafür der Pietist Ludwig Graf von Zinzendorf (1700-1760) in einem Gelegenheitsgedicht (zit. in III Klepper, S. 103f.). Seit 1717 verfügte der »roi sergeant« die Schulpflicht in Preußen und griff damit tief in das angestammte Elternrecht aller Stände ein. Bis 1740 entstanden l 500 Schulen in Preußen, meist Gebäude mit einem kleinen Unterrichtsraum und völlig unzureichend ausgebildeten und besoldeten Lehrern, die häufig nebenher noch ein Handwerk ausüben mußten (III Mittenzwei/Herzfeld, S. 274). Immerhin aber begann unter Friedrich Wilhelm, der auch die Analphabeten in seiner Armee zum Lesen- und Schreiben-Lernen zwang, der Staat das bislang nahezu ausschließlich in kirchlicher Obhut befindliche Erziehungswesen als staatliche Domäne und Auftrag zu einer allgemeinen Volksbildung zu betrachten und zu betreiben (ebda., S. 273; Venohr, S. 349ff.; zu weiteren Reformen des »Soldatenkönigs« vor allem im Bereich der Justiz, Verwaltung - Vereinheitlichung des Instanzenweges - und der Zentralisierung der Regierung vgl. III Mittenzwei/Herzfeld, S. 255f.; I Glatzer, S. 120ff.). Darüberhinaus freilich wagten weder er noch sein Sohn und Nachfolger Friedrich II. die überkommenen gesellschaftlichen Strukturen in ihrem Land zu ändern. Vor allem die ständischen Schranken und Funktionszuweisungen blieben erhalten, der Adel in seinen angestammten Feudalrechten vielfach geschützt (vgl. II Friedrich, S. 174f., 198). So verfügte er weiterhin über das Jagd- und Fischereimonopol und besaß Ehrenvorrechte (Waffentragen, Ehrensitze in Kirche oder Theater; vgl. III Wehler, S. 142ff.). Erst unter dem Druck der Französischen Revolution und Napoleons (1769-1821) wurden in Preußen und im >Alten Reich< die feudalen Einrichtungen und Privilegien auf dem Wege mühsamer Reformen abgeschafft (vgl. III Weis, S. 19ff.; Wehler, S. 363ff.; Bd. VI). 3) Die wirtschaftliche Situation Deutschlands ist am Beginn der Aufklärung geprägt von den verheerenden Auswirkungen des Dreißigjäh-

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Einleitung

rigen Krieges. »Kein Land«, bemerkt Vierhaus im Blick auf das 17. Jahrhundert, »ist durch Kriege so sehr erschöpft, in seiner biologischen und ökonomischen Substanz so schwer getroffen worden wie Deutschland; keines wurde in seiner sozialen und kulturellen Entwicklung so zurückgeworfen und so sehr der Überfremdung oder dem Rückzug in Enge und Innerlichkeit überlassen - vergleichbar nur Italien im 16. und Spanien im 18. Jahrhundert« (III 1978, S. 21). Die Regierungen versuchten, die Kriegsfolgen durch eine Politik des »Retablissement«, d. h. des Landesausbaus, zu beseitigen (vgl. III Mittenzwei/Herzfeld, S. 249ff., 350ff.), und sie betätigten sich dabei - häufig in Ermangelung, aber nicht selten auch auf Kosten eines sich frei entfaltenden Unternehmertums selbst als Großunternehmer. Der schottische Nationalökonom Adam Smith (1723-1790) führte aus der Anschauung des englischen Frühkapitalismus zur Kennzeichnung der europäischen Wirtschaftspolitik in kritischer Absicht das Wort Merkantilismus ein. Im Blick auf die deutschen Territorien bezeichnet dieser Begriff eine auf starker Planung und Lenkung der Wirtschaft beruhende Staatswirtschaftspolitik mit dem Hauptziel einer Protektion eigener Wirtschaft durch »ein System von Ein- und Ausfuhrbeschränkungen« (ebda., S. 216), das in Ländern wie Brandenburg-Preußen und Kursachsen durch ein rabiates Zoll- und Kontrollsystem gehandhabt wurde (»Akzisewesen«; vgl. dazu I Glatzer, S. 41ff.; III Vierhaus 1978, S. 45ff.). Durch das Streben nach wirtschaftlicher Autarkie fundierte und repräsentierte der Merkantilismus - mit der deutschen Sonderform des Kameralismus, der sich an den Einnahmen der »Rechenkammer«, d. h. des Besitztums der jeweiligen Fürsten, orientierte - den Absolutismus. Die Einsicht in diesen politisch-ökonomischen Zusammenhang legte die GOTTSCHEDIN (d. i. Luise Adelgunde Victoria Gottsched, 1713-1762, die Frau des Leipziger Sprach- und Literaturreformers; vgl. V/2 Kap. I l u. 3) in einem großen, beachtlichen Gelegenheits-Rollengedicht der >Staatskunst< in den Mund: »Die Zeiten wollen dieß: die Sicherheit, der Frieden, Wird nicht durch sanfte Huld, sie wird durch Macht entschieden. Wer andre Forsten sich zu sehr verstärken lißt, Sitzt auf dem Throne nur, so lang sie wollen, fest. Drum dringt sein scharfer Blick auch in entfernte Sachen, Besorgt, durch Schläfrigkeit den Nachbar groß zu machen. Des innern Handels Flor zollt ihm der Länder Mark: Dieß macht die Nachbarn arm, und meinen Fürsten stark, Der fremdem Handel wehrt. .. .« (II Gottschedin SKG, S. 6)

Die Staatseinnahmen dienten der Durchsetzung des Absolutismus, u. a. durch eine aufwendige Hofhaltung als zentrales Herrschaftsinstru-

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mentarium (dazu Einleitung b) und durch Finanzierung der militärischen Aufwendungen für das nunmehr »stehende«, also auch in Friedenszeiten unterhaltene Heer. August der Starke vergrößerte seine Armee auf 30 000, der »Soldatenkönig« verdoppelte gar die preußischen Streitkräfte von 40 000 auf 83 000 Mann, wodurch dies Land die viertgrößte Armee des Kontinents unterhielt, »obwohl es seiner Bevölkerungszahl nach an dreizehnter Stelle in Europa rangierte« (III Venohr, S. 152). Von den etwa 7,5 Millionen Talern Staatseinnahmen pro Jahr verschlang das Heer 86% (ebda., S. 246, 327), indessen kurbelte der »Soldatenkönig« mit dem enormen Ausstattungs- und Verpflegungsbedarf seiner Truppen zugleich wiederum die heimische Wirtschaft von der Woll- über die Waffenindustrie bis zur Landwirtschaft an (vgl. ebda., S. 331 f.; zu den Militärsteuern und »Kontributionen«, unter denen vor allem die Bauern zu leiden hatten, vgl. III Balet/Gerhard, S. 21 f.). Voraussetzung für die Steigerung der Erträge und Grund- sowie Verbrauchssteuern im Lande war der Theorie des Merkantilismus zufolge eine möglichst hohe Bevölkerungszahl und damit eine »Peuplierungs«Politik. Auch diese wurde in Preußen planmäßig betrieben. Unter dem Großen Kurfürsten Friedrich Wilhelm von Brandenburg (16207 1640-1688) verdoppelte sich die Bevölkerung von 750 000 auf l 500 000 (III Venohr, S. 26), unter seinem Enkel König Friedrich Wilhelm I. wuchs sie von l 750000 um 40% auf 2500000, darunter 135000 bis 150 000 Immigranten (ebda., S. 353). - Insgesamt freilich erholte sich die Bevölkerung im Reich bei einer durchschnittlichen Lebenserwartung von 30 Jahren und einer eminent hohen Wochenbett- und Kindersterblichkeit nur langsam von den Kriegs- und Seuchenfolgen (vgl. III Kiesel/Münch, S. 13ff.). Erst zwischen 1720 und 1750 erreichte die Gesamtbevölkerung in Deutschland mit 15 bis 17 Millionen wieder den Stand vom Beginn des 17. Jahrhunderts. In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts nahm sie dann aber rapide zu. An seinem Ende hatte sie sich gegenüber dem Jahrhundertanfang verdoppelt. Dies beschleunigte wiederum Agrarreformen (zum preußischen Agrarkapitalismus vgl. III Wehler, S. 83ff.) und den Übergang von handwerklichen zu vorindustriellen Fertigungsmethoden (Manufakturen). Indessen hat der Fortbestand des Feudalsystems zwar eine Ertragssteigerung, doch keine grundsätzliche Verbesserung der Ernährungssituation für die Bevölkerung zugelassen (vgl. III Vierhaus 1978, S. 35f.).

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b) Hierarchische Strukturen der Stände-Gesellschaft Die vonndustrielle Gesellschaft des Alten Reichs war durch und durch ständisch - also noch nicht wie in der Neuzeit durch marktbedingte Klassen - strukturiert (vgl. dazu III Wehler, S. 124ff.). 1) Im Blick auf Macht, Reichtum und Prestige als den Generatoren für soziale Ungleichheit und hierarchische Differenzierung stand der Adel, der nur 1% der damaligen Bevölkerung ausmachte, als politisch und sozial privilegierte Führungsschicht an der Spitze der Gesellschaftspyramide, und zwar differenziert nach dem in sich wieder hierarchisch gegliederten regierenden Hochadel im Reichsfürstenstand (bis hinab zum reichsunmittelbaren Grafen) und dem Niederadel, bestehend aus der reichsunmittelbaren Reichsritterschaft und dem - reichsrechtlich geringer eingestuften - landsässigen Adel in den fürstenstaatlichen Territorien, ferner dem nobilitierten Verdienst- oder Briefadel (vgl. ebda., S. 140f.). Im Verfolg seiner absolutistischen Politik versuchte der Hochadel den traditionellen Ehren- und Verhaltenskodex ganz auf die Herrscherpersönlichkeit hin zu zentralisieren und den niederen Adel durch eine Symbiose von Kultur- und Macht-Prestige mit dem Herrscherkult als Form einer »säkularisierten Liturgie« zu domestizieren und zugleich an sich zu binden (vgl. ebda., S. 153ff.; im Blick auf Frankreich: III Elias, S. 178ff., 222ff.). Deshalb wurde eine aufwendige Hof-Haltung zu einem unentbehrlichen politisch-kulturellen Instrument (vgl. dazu auch III Schilling 1989, S. 16ff.). Der Hofstaat reichte von mehr als 2 000 Personen am Kaiserhof über l 000 beim Kurfürsten Maximilian III. Joseph von Bayern (1727/1745-1777), 712 Mitgliedern bei August dem Starken bis zu »nur« 260 Personen am Hofe des Fürstbischofs von Würzburg (in Deutschland unerreicht blieb der Hofstaat Ludwigs XIV. mit zeitweise 15 000 Menschen; vgl. III Czok, S. 212; Schmid, S. 197f.; zur demographischen Bedeutung der Höfe für die Residenzstädte vgl. III Kiesel/Münch, S. 16). Zu diesem Hofstaat zählte zu Beginn der Aufklärung in Kursachsen und Brandenburg-Preußen auch der Hof-Dichter, der das aufwendige Amt eines Zeremonienmeisters auszuüben hatte. Am Berliner Hof wirkte von 1690 bis zur Amtsenthebung 1713 (bei Regierungsantritt des sparsamen »Soldatenkönigs«) der geachtete Jurist und studierte Theologe Johann von BESSER (1654-1729; ab 1717 geheimer Kriegsrat und Zeremonienmeister Augusts II. in Dresden), am kursächsischen Hof der ebenfalls theologisch und juristisch gebildete Johann Ulrich von KÖNIG (1688-1744), und zwar zunächst als Hofpoet seit 1719, seit 1729 als Ze-

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remonienmeister und Nachfolger Bessers. Sie hatten in ihren zahllosen Gelegenheitsgedichten nicht nur die Geburts- und Todestage, sondern in >heroischen Gedichten< - auch wichtige Gedenktage (z. B. >Beschreibung der Schlacht bei Fehrbellin< 1675; II Besser, S. 122ff.) und vor allem die höfischen Feste und Feiern aller Art poetisch zu verklären, und dabei mußten sie sich nicht nur stets etwas Neues, sondern auch etwas Stil- und Gehaltvolles einfallen lassen, was dem Repräsentationsbedürfnis des Regenten Genüge tat, indem es seiner Person und seinem Werk ohne den Anschein plumper Schmeichelei Glanz und Ruhm verlieh. Bisweilen waren das auch heikle Missionen bei umstrittenen Taten. Als sich beispielsweise der prunksüchtige brandenburgische Kurfürst Friedrich III. (1657/1688-1713) 1701 selbst in Königsberg die Königskrone aufs Haupt setzte, mußte Besser in einem >Staats= und Lob = Gedicht< mancherlei Irritationen über diesen Akt ausräumen und ihn u. a. auch gegenüber den Vorfahren des Hauses Brandenburg rechtfertigen, über deren Stand sich der Potentat nun als König erhoben hatte: »Ihr Helden Brandenburgs, wofern ihr aus der Grufft, Da Ihr verschlossen seyd, auf uns zunicke schauet; Zürnt nicht, daß euer Sohn, dem selbst der Himmel rufft, Sein Hauß viel hoher führt, als Ihr vorhin gebauet: Es ist doch, was Er thut, wie hoch er sich mag setzen, Auch für das Eurige und Euren Ruhm zu schätzen. Die Tugend und das Blut, so Ihr auf Ihn gebracht, Verbleibt ein Eigenthum, das Euch noch stets gehöret. Ihr habt auch insgesamt mit Theil an seiner Macht; Weil ider seiner Seits sie nach und nach gemehret: So werdet Ihr dann auch durch seinen Glantz belehnet, Und da Er itzt sich kront, auch alle mit gekronet.« (Ebda., S. 30)

Besonders aufwendig - mit tagelangen Feiern - wurden Staatsbesuche begangen, und sie mußten nicht nur von den Zeremonienmeistern inszeniert und durchgeführt, sondern auch in Versen bis in alle Einzelheiten beschrieben werden. Als beispielsweise die sparsame preußische Majestät dem verschwenderischen König von Polen in Dresden einen Besuch abstattete, ließ dieser um des gebührenden Eindrucks willen besonders aufwendig feiern, und Ulrich von König hatte dabei jeden Schritt und Tritt der beiden Majestäten und ihres Hofstaates zu versifizieren (z. B. >Anrede bey dem Königlichen Nacht = Schiessen auf der Stall = Bahne zu Dreßden, In hoher Gegenwart Ihro beyder . Majestäten von Preussen und Pohlen, gehalten den 15. Januar 1728 . . . bey dem -

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niglichen Schnepper = Schiessen .. . . . . bey dem Königlichen Vogel = Schiessen .. .< usw.; II König, S. A2, A4, C 2). Solche Festbeschreibungen wurden aufwendig gedruckt und verteilt - den Gästen zur Erinnerung und der Nachwelt zum eigenen Ruhm. Schon daran wird deutlich, daß die Höfe erhebliche Summen verschlangen. So gab Friedrich III., der sich seit seiner Krönung Friedrich I. nannte, jährlich etwa 600 000 Taler aus, eine Summe, die sein Nachfolger - zum Schaden für sein Prestige - mühelos auf ein Viertel zusammenstrich (vgl. III Venohr, S. 122f.; zum Ausbau der Berliner Residenz vgl. I Glatzer, S. 133ff.). Über den Hofstaat Augusts des Starken sind exakte Berufs- und Gehaltstabellen überliefert. U. a. beschäftigte er 30 Pagen-, Sprach- und Exerzitienmeister, 20 Hoftrompeter, eine Hofkapelle mit 65 sowie ein Ballett und Theater mit 44 Personen (für den Münchner Hof vgl. III Schmid, S. 195ff.). Die höchsten Jahresgehälter erhielten der Generalintendant Graf Wackerbarth mit 2 000 und der Oberlandbaumeister Matthäus Daniel Pöppelmann (1662-1736) mit l 200 Talern, während ein Maler für Komödie und Opernhaus 100 und ein Komödientischler nur 25 Taler verdienten und damit auch außerhalb des Hofes ihr Auskommen suchen mußten (vgl. III Czok, S. 211 f.); denn als Mindestbudget für eine fünfköpfige Familie im 18. Jahrhundert hat man rund 200 Gulden, um 1800 etwa 150 Taler errechnet (vgl. III Wehler, S. 196f.). Der Sekretär Augusts des Starken bat 1729 in Form eines Gelegenheitsgedichts um Aufbesserung seines Gehalts von 300 Talern jährlich und listete dabei seine standesgemäßen Ausgaben im einzelnen auf: »Ich theile wie ich will 300 Thaler ein, So will mein Tractament noch nicht zulänglich seyn. Vor 40 Thaler Holtz, damit ich nicht erfriere, Zwei Thaler wöchentlich an Cofent ( = Dünnbier), Wein und Biere, Vor Butter, Fleisch und Brodt, vor Eier, Salz und Licht, Setz ich vier Gulden an. Sie reichen öfters nicht. Ein Thaler monatlich nur an Gesindes - Lohne, Auf 60 Thaler Zins, damit ich sicher wohne. Vor Cnaster, Spagniol, vor Zucker und Thee Bou, Peruquer, Wäsche - Lohn, vor Hembden, Strumpf und Schuh, Vier Thaler der Barbier, wo aber bleibt der Schneider? Ich rechne monatlich zwei Thaler nur auf Kleider. Doch leider! dieses macht 400 Thaler aus, Und dennoch hab ich nicht noch alles in dem Haus.« (Zit. in III Czok, S. 210)

Der Machtzuwachs des Herrschers und sein Hof boten dem niederen Adel Chancen im Hof- und Regierungsdienst, zwangen ihn freilich auch zur Residenzpflicht und setzten ihn zugleich dem Leistungswettbewerb

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mit jener bildungsbürgerlichen Funktionselite aus, auf deren fachwissenschaftliche Kenntnisse - vor allem als Juristen, Kameralisten, Agrarökonomen, Sekretäre und Verwaltungsbeamten - die Regenten bei der Straffung ihrer Regierung und Administration immer weniger zu verzichten vermochten und die sie für ihre Meriten (gegen Bezahlung!) nicht selten nobilitierten (vgl. Punkt 2). Im Generaldirektorium des »Soldatenkönigs« betrug die Anzahl bürgerlicher Geheimer Räte schließlich sogar 18 gegenüber nur 3 Adligen (III Mittenzwei/Herzfeld, S. 235). Wenn Friedrich Wilhelm andererseits die Offiziersstellen in seiner Armee fast ausschließlich für den niederen Adel reservierte und damit auch verarmten Junkern eine standesgemäße Versorgung verbürgte, weil das Aufrücken zum lukrativen Majorsrang und Kompaniechef streng nach dem Dienstalter erfolgte und ein Major aus dem Etat seiner Kompanie durchaus bis zu 3 000 Taler jährlich für sich erwirtschaften konnte (vgl. ebda., S. 210), überführte er die ständische »soziale Ehre« des niederen Adels zugleich in ein neues »Dienstethos« und kompensierte die im militärischen Gehorsam geforderte Disziplinierung durch ein gesteigertes Ansehen des Offiziersstandes, dem in der Öffentlichkeit nunmehr der Vorrang vor den Zivilisten gebührte: ein historischer Vorgang, der u. a. auch Leben und Verhalten von Ewald Christian von KLEIST (1715-1759) tiefgreifend bestimmte (vgl. V/2 Kap. II 3 a). Da im übrigen aber 80% der Bevölkerung im Alten Reich auf dem Lande lebten, verfügte die adlige Grund- und Gutsherrschaft über eine politisch und wirtschaftlich noch kaum zu erschütternde Machtposition (vgl. III Vierhaus 1978, S. 63). Andererseits war die oft forcierte, fast kastenmäßige Abschottung dieses Standes nach »unten« Ausdruck einer tiefgreifenden Verunsicherung gegenüber dem unübersehbaren Vordringen des >bürgerlichen< Kapitalismus, der dem Geburtsstatus den LeistungsAdel gegenüberstellte, der so manchem verarmten Junker den ländlichen Großbesitz abkaufte und mit bürgerlicher Prachtentfaltung auch das adlige Privileg kultureller Machtdemonstration usurpierte und der von einer öffentlichen Adels-Kritik begleitet wurde, die durch die Französische Revolution mächtigen Auftrieb gewann (vgl. III Wehler, S. 149ff.). 2) Das Bürgertum besaß gleichwohl bis zum Ende des Alten Reiches noch keine vergleichbar starke Position (vgl. dazu auch III Vierhaus 1981; Pikulik, S. 68ff.). »Zum Bürgertum als der Summe der nichtadligen, nichtbäuerlichen und nichtunterständischen Kräfte gehörten so heterogene Schichten und Gruppen, daß von einer Einheit nichts zu erkennen ist« (III Kopitzsch, S. 37). Der Dreißigjährige Krieg hatte die im 16. Jahrhundert reich entwickelte bürgerliche Stadtkultur stark geschä-

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digt und Deutschland zu einem »Land der Höfe« gemacht (III Vierhaus 1978, S. 20). Zwar stieg die Einwohnerzahl der Städte von 1650 bis 1750 zum Teil sprunghaft an (Wien von 80 000 auf 180 000, Berlin von 10 000 auf 100 000, Hamburg von 40 000 auf 75 000, Frankfurt/M. von 35 000 auf 50 000, Königsberg von 30 000 auf 45 000, Dresden von 20 000 auf 50 000, Leipzig von 20 000 auf 35 000, Nürnberg von 15 000 auf 40 000, Halle von 10 000 auf 18 000, Magdeburg von 5 000 auf 25 000; vgl. III Mandrou, S. 399; zu den Städten Kursachsens vgl. III Czok, S. 182ff.), doch hatten die nur dem Kaiser unterstellten autonomen Freien Reichsstädte (vor allem Hamburg, Köln, Frankfurt/M., Nürnberg und Augsburg) durch den Westfälischen Frieden an politischer Bedeutung eingebüßt, und die fürstlichen Residenzstädte wie Wien, Berlin oder Dresden sowie die einem Grundherren unterstellten Mediatstädte verloren vor allem oberhalb der Mainlinie unter dem Zugriff feudalabsolutistischer Machtpolitik weitgehend ihr Recht auf kommunale Selbstverwaltung (zu entsprechenden Tendenzen bereits im 16. Jahrhundert vgl. Bd. I, S. 21 Of f.). Wenn es daher am Ende der frühen Neuzeit mit rund 4 000 Städten im Alten Reich, in denen rund 7 Millionen Einwohner und damit ein Viertel der Reichsbevölkerung wohnten, l 000 Städte mehr als zu Beginn des 16. Jahrhunderts gab, so hatten doch die meisten kaum mehr als l 000 Einwohner - nur 5% mehr als 2 000 - und sich damit auch den kleinen ackerbürgerlich und handwerklich bestimmten Charakter aus dem Beginn der frühen Neuzeit bewahrt (vgl. Bd. I, S. 211; III Wehler, S. 180). In den Freien Reichsstädten gab es - am stärksten ausgeprägt in Nürnberg und Köln, am wenigsten in Hamburg - eine dünne bürgerliche Oberschicht, die als Honoratiorentum zugleich das Stadtpatriziat in einem relativ kleinen, über Generationen hin miteinander versippten Familienclan zu halten suchte. Diese städtische Oberschicht mit einem Bevölkerungsanteil von 1% bis 10% verfolgte mit seiner ebenfalls kastenmäßigen Abschottung nach unten eine dem Geburtsadel analoge Herrschafts- und Prestige-Politik, suchte durch Kauf von Landgütern und eine geschickte Heiratspolitik durchaus die Verschmelzung mit dem Land- und Hof-Adel und unterlag - namentlich in den Residenzstädten einem starken »Imitationssog« im Blick auf die glanzvolle säkulare Hof-Kultur (vgl. III Wehler, S. 184ff.). Diese Schicht gehörte deshalb auch zu den Adressaten einer >höfischen< Poesie. - Die städtische Mittelschicht mit einem Bevölkerungsanteil von 10% bis 35% bestand aus kaufmännisch oder handwerklich tätigen Mittel- und Kleinbürgern. Diese waren Vollbürger mit städtischem Bürgerrecht, formal gleichberechtigt und lebten in ängstlicher Abkapselung und Furcht vor Innovationen

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in vom Brauchtum und den Zünften geprägten, kontrollierten, überschaubaren, aber eben auch engen Verhältnissen überwiegend an der Grenze zum Existenzminimum (vgl. ebda., S. 189ff.). - Die plebejischen Unterschichten (Tagelöhner, Dienstboten, Manufakturarbeiter, Handlanger usw.) sowie die »pauperes« (Kranke, Bettler, Witwen, Waisen, Invaliden) machten zusammen in der Regel 50% der städtischen Einwohnerzahl aus. Sie gehörten entweder - wie ein Teil der Kleinbürger und der Zugezogenen - als »Schutzbürger« oder »Bei- und Hintersassen« zur großen Gruppe von Bürgern minderen Rechts (widerrufliches Stadtrecht, eingeschränkte Berufstätigkeit, hohe Besteuerung) oder waren gänzlich rechtlos und lebten großenteils in bitterer Armut (vgl. ebda., S. 193ff.). Vom konservativen Stadtbürgertum zu unterscheiden ist nun eine neue Schicht von Bürgerlichen: »Diese Aufsteigerschicht, die außerhalb der altständischen Sozialordnung emporkam, wurde von Verwaltungsbeamten und Theologen, Professoren und Hauslehrern, Gelehrten und Hofmeistern, Syndici und Magistratsjuristen, Richtern und Landschaftskonsulenten, Anwälten und Notaren, Ärzten und Apothekern, Ingenieuren und Domänenpächtern, Schriftstellern und Journalisten, Offizieren und Leitern staatlicher Betriebe, nicht zuletzt aber auch von jenen Unternehmern gebildet, die Verlage und Manufakturen, Protofabriken und Banken betrieben.« (Ebda., S. 204)

Diese Schicht von »Abertausenden von neuen Bürgerlichen«, die sich auch aus Unterschichten, aus ethnischen Minderheiten und religiösen Immigranten zusammensetzte, wurde »insgesamt zum Bürgerstand gerechnet, wobei dieser freilich jetzt zunehmend als funktionaler Berufsstand, nicht mehr als Geburtsstand aufgefaßt wurde« (ebda.). In dieser Schicht, die überwiegend in den Städten, aber meistens unter staatlichem oder ständischem Sonderrecht lebte, läßt sich die Gruppe des kapitalistischen Unternehmers als Bourgeoisie (ebda., S. 206) von der des neuen akademisch geschulten, zumeist in Staats- und Stadtdienst tätigen Bildungsbürgertums unterscheiden (ebda., S. 21 Of f.). Als Funktionselite verstand letzteres es, seine Kenntnisse nicht mehr nur in der akademischen »Gelehrtenrepublik« zu reproduzieren, sondern als »Qualifikationskriterium für den monopolisierbaren Zugang zu begehrten Ämtern« einzusetzen (ebda., S. 213). Und diese Bürgerlichen entwickelten das am Leistungsprinzip orientierte Selbstbewußtsein eines Beamtenstandes, der - finanziell einigermaßen abgesichert - in einer wachsenden Zahl von Behörden das zuvor meist selbstherrlich-patriarchalische und undurchschaubare landesherrliche Regiment in eine rationale, damit berechenbare und zuverlässige Verwaltung überführte (vgl. III Vierhaus 1978,

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S. 79). Solche Abhängigkeit vom »öffentlichen Dienst« verlangte in der Regel allerdings auch ein besonderes - wenn auch vielfach nicht unkritisches - Loyalitätsverhältnis zum frühmodernen Staat und seinem politischen System, und insofern bezeichnet Wehler »den größten Teil der Bürgerlichen als verstaatlichte akademische Intelligenz« (III, S. 212). - Die meisten Vertreter der Aufklärung gehörten dieser Schicht der neuen Bürgerlichen an; unter den Frühaufklärern gab es überhaupt nur einen Adligen von wissenschaftlichem Rang: den Oberlausitzer Sachsen Ehrenfried Walter Graf von Tschirnhaus (1651-1708), Miterfinder des europäischen Porzellans, Konstrukteur von Brennspiegeln, Mathematiker, Physiker und Philosoph, der - typisch für den frühaufklärerischen Eklektizismus - mit Baruch de Spinoza (1632-1677) ebenso persönlich befreundet war wie mit Philipp Jakob Spener (1635-1710) und der sich von Jacob Böhme (1575-1624) und Quirinus Kuhlmann (1651-1689) ebenso beeindruckt zeigte wie von Rene Descartes (1596-1650; vgl. dazu III Winter 1966, S. 31 ff.). - Schließlich haben die bürgerlichen Aufklärer auch mit der Differenzierung ihres Erziehungs-Konzepts zur Entwicklung des Bildungsgedankens beigetragen, von dem seit Ende des 18. Jahrhunderts - als einer Art bürgerlicher Ersatz-Religion - »eine geradezu revolutionierende Wirkung« ausging (vgl. dazu III Wehler, S. 214ff.). Erst Ende des 18. Jahrhunderts zeigen sich Ansätze zur Überwindung der ständisch strukturierten zu einer industriellen Gesellschaft prinzipiell gleichberechtigter »Staatsbürger«, unter denen sich erst die marktorientierte Klasse eines auch politisch selbstbewußteren Bürgertums herausbildete (vgl. ebda., S. 209; III Kopitzsch, S. 58; zur Entstehung der »bürgerlichen Tugenden« vgl. I Münch, S. 39ff.). 3) Das Bauerntum als ökonomisches Rückgrat vor allem der Flächenstaaten war ein in sich ebenfalls reich differenzierter Stand, bestehend aus Vollhufnern, Großbauern, Halbhufnern und Halbmeiern (eine halbe Hufe betrug 100 Morgen). Während der Grundbesitz des Adels aus dem lehnsrechtlichen Verhältnis in Eigentum überführt (»allodifiziert«) worden war, wurde das Bauernland noch lehnsrechtlich behandelt, und daher erhielten die meisten Bauern ihren Boden auf der Basis von Erbpacht- und Erbzinsrechten (vgl. III Wehler, S. 160f.). Bei der östlich der Elbe dominierenden Form der gutsherrlichen Wirtschaft war der erbuntertänige Bauer mitsamt Gesinde und Familie immer noch in einer Art von Leibeigenschaft an seinen feudalen Oberherrn gebunden, wurde faktisch wie Sachbesitz behandelt und - auch mit Frondiensten aller Art - »brutal schikaniert« (ebda., S. 162; vgl. III Mittenzwei/Herzfeld, S. 232). Insgesamt war der Bauernstand auch noch im 18. Jahrhundert - wie Adolph Freiherr von Knigge (1752-1796) for-

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mulierte - »der weiße Sklave der zivilisierten Welt« (zit. in III Wehler, S. 159). 4) In der ständischen Hierarchie unter den zumeist in Dorfgenossenschaften vereinigten Bauern lebten die auf Nebenerwerb (zumeist Spinnen für das manufakturelle Verlagswesen und Lohndienste) angewiesenen Kleinstellenbesitzer (Kätner, Gärtner, Söldner), unter diesen wiederum die große Gruppe von Landlosen (Hüttner, Drescher, Tagelöhner usw.). Diese unterbäuerlichen Schichten drängten die Bauern in die Minorität; sie machten in Kursachsen (ähnlich in Preußen um 1800) rund 50% der Gesamtbevölkerung aus (vgl. III Wehler, S. 159ff., IVOff.; Czok, S. 68; Mittenzwei/Herzfeld, S. 230ff.). - Mehr als 10% der Einwohnerzahl des Alten Reichs bestand schließlich aus Vaganten - darunter auch Schaustellern und Komödianten - und Kriminellen, die sich häufig zu Banden zusammenschlössen und trotz drakonischer Strafmaßnahmen immer wieder zu Landplagen auswuchsen. Kein Wunder deshalb, daß Kriminalität in der Literatur des 18. Jahrhunderts in verschiedenen Gattungen eine herausragende Rolle spielte: nicht nur in den nach dem Vorbild Pitavals zunehmend literarisierten Kriminalgeschichten und im Drama, sondern auch in der Lyrik, in den alten historischen Gattungen der Ereignis- und Zeitungslieder ebenso wie in den neueren und modischen Formen von Romanze, Ballade und Bänkelsang (vgl. dazu I Braungart; zu Romanze und Ballade Bd. VI). Unter dem Einfluß der Aufklärung bemühte sich diese Literatur zunehmend darum, anhand bestimmter Fälle »Herz und Geist« des Menschen - wie Schiller formulierte - gerade aus den »Annalen seiner Verirrungen« zu erkunden (II, S. 13; zur Strafrechtspraxis im 18. Jahrhundert vgl. mit weiterer Literatur III Meyer-Krentler 1987, S. 39ff.; 1988). c) Staatskirchentum und Säkularisierungsprozeß Als Epoche löste die Aufklärung das > Konfessionelle Zeitalter< ab (vgl. III Klueting; Bd. II): Gerade in den letzten Jahren mehren sich die Stimmen aus der Geschichtswissenschaft, denen »der Begriff des Konfessionalismus auch als Epochenbezeichnung brauchbar« erscheint (III Rabe, S. 334; vgl. dazu weitere Belege bei III Klueting, S. 13ff.). Dabei muß der Prozeß der Konfessionalisierung als »fast alle Lebensbereiche« der frühneuzeitlichen Gesellschaft erfassender Formierungsvorgang aufgefaßt werden, »weil Religion und Politik, Kirche und Staat noch keine unabhängigen Teilbereiche darstellten, sondern einander umschlossen« (ebda., S. 19). Von dieser >epochalen< Situation her versteht sich das besondere religions- und kirchenkritische Engagement gerade der deut-

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sehen Aufklärung. Die folgenden Hinweise sollen diese Ausgangsbedingungen veranschaulichen und verdeutlichen, warum die Aufklärung hauptsächlich durch ihren Kirchen-Kampf den grundlegenden kulturellen Wandel zur Moderne zu vollziehen vermochte. 1) Zur territorialen Zersplitterung des römisch-deutschen Reichs gesellte sich als Folge der konfessionellen Epoche auch noch eine wichtige kulturgeschichtliche Spaltung der Regionen in verschiedene religiöse Bekenntnisse. Im Verlauf der Gegen-Reformation hatten vor allem die katholischen Territorien - allen voran die bayrischen Wittelsbacher - mittels einer streng geübten Zensur ihre Landesgrenzen gegenüber dem protestantischen Schrifttum abgeschottet (vgl. III Breuer 1979, S. 44ff.). So nahmen die katholischen Gebiete beispielsweise auch nicht an der von Martin Opitz initiierten Literatur-Reform teil, die ebenso wie die Sprachgesellschaften von den Protestanten als kulturelles Kampfmittel ins Leben gerufen worden war. Wie sich innerhalb Europas das wirtschaftliche Übergewicht im Laufe der frühen Neuzeit allmählich vom katholischen Süden hin zum protestantischen Norden verlagerte, so wirkte auch im römisch-deutschen Reich die Aufklärung überwiegend im protestantischen Einflußbereich. Alle wichtigen Gelehrten und Schriftsteller aus dieser Epoche waren evangelisch, von Pufendorf, Thomasius und Christian Wolff bis zu Kant, von Brockes, Haller, E. Chr. v. Kleist, Hagedorn, Bodmer und Breitinger bis zu Geliert, Klopstock, Lessing, Wieland, Herder, Goethe und Schiller - um nur diese zu nennen. Von daher erhielt die deutsche Aufklärung einen in vieler Hinsicht protestantisch gefärbten Charakter. Dies wird zunächst daran deutlich, daß die katholische Kirche als nach dem Dreißigjährigen Krieg fortbestehende Feudalmacht mit Grundbesitz, Klöstern und geistlichen Fürstentümern der besonderen Kritik der Aufklärer anheimfiel. PUFENDORF setzte hier die Tradition massiver Konfessionspolemik fort, wenn er - freilich aus bereits säkularer Perspektive des Staatsinteresses - monierte, die Erträge aus dem kirchlichen Grundbesitz verschlängen lediglich »ein großes Heer von Müßiggängern, was weder mit theologischen Grundsätzen noch mit der Staatsklugheit vereinbar ist« (II, S. 140). Den Fürstbischöfen empfahl er, den »heiligen Bischofstitel« abzulegen, »zumal sie die damit verbundenen Pflichten wegen der Masse der weltlichen Geschäfte nicht wahrnehmen können« (ebda.). Für Pufendorf war das Bekenntnis Luthers die ideale Kirche im Blick auf die anzustrebende Form eines vom Souverän beherrschten absolutistischen Staates. »Im Luthertum«, erklärte er - übrigens keineswegs ohne Ironie -, »findet man nichts, was den Grundsätzen der Lehre von der Politik widerspricht. Die Landesfürsten haben die Gewalt in Kirchensachen, die

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geistlichen Güter sind zum großen Nutzen für den Staat gewaltig verkleinert worden . . . ; dem Volk ist eingeschärft, die Obrigkeit als Stellvertreter Gottes auf Erden zu achten; schließlich hat man das Vollbringen guter Werke allen rechtschaffenen Menschen zur Pflicht gemacht. . . . Außerdem, wie keine Religion den deutschen Fürsten nützlicher sein könnte, so gibt es generell keine geeignetere für die monarchische Verfassung.« (Ebda., S. 133) Derselben Ansicht war auch Friedrich II. (vgl. II, S. 167). 2) Tatsächlich war im deutschen Luthertum die Verquickung von Staat und Kirche, die »Allianz von Thron und Altar«, besonders eng. Luther hatte sein neues Bekenntnis nur dadurch vor der Ausrottung bewahren können, daß er es dem Schutz der Territorialherren überantwortete, und diese ließen sich die Chance nicht entgehen, auf dem Wege zum Absolutismus diese neue Konfession unter ihren Einfluß zu bringen (vgl. Bd. I, S. 5ff. u. ö.; III Rabe, S. 21 Of f., 237f f.; Schilling 1988, S. 184ff.). Die Theologen unterstützten dies Bestreben, indem sie im 17. Jahrhundert die Theorie des Episkopalismus ausformten, wodurch sie mit dem äußeren Kirchenregiment (Verwaltung des Kirchengutes, Pfarrereinstellung, Erlaß von Kirchenordnungen) die Bischofsgewalt auf den Landesherrn übertrugen (nur die innere Kirchengewalt mit Predigt, Sakramentsverwaltung und Schlüsselgewalt fiel dem Predigerstand zu; vgl. III Wallmann 1973, S. 175f.).Die Theologen hatten ferner im Gefolge der lutherischen Stände-Lehre eine sehr bildkräftige und wirksame patriarchalische Hierarchie von Gottvater über den Landesvater zum Familienvater entwickelt, von denen jeweils der untere den oberen spiegelte und nachahmte (vgl. Bd. II, S. 171ff.). Zu Grunde lag die Theorie der Gottebenbildlichkeit. »Die Herrscher hatten die Pflicht zur Repräsentation der Majestät; als Vertreter Gottes auf Erden mußten sie den Untertanen ein Bild der Vollkommenheit vermitteln« (III Lehmann 1980, S. 29). Dies legitimierte den Aufwand der Hofhaltung, suchte dem Herrscher aber auch - mit geringem Erfolg - ein vorbildliches Verhalten zur Pflicht zu machen. Ausdruck solcher Theokratisierung des Monarchen und des Hofes war die architektonische Angleichung der weltlichen und sakralen Bauten im Spätbarock des 18. Jahrhunderts. Doch auch in seiner weltlichen Machtbefugnis wurde der Herrscher von den Kirchen theologisch abgesichert, und zwar mit der Lutherischen Zwei-ReicheLehre. Danach waren nicht nur das Reich Gottes und damit die Kirche, sondern auch das weltliche Regiment zur Aufrechterhaltung der Ordnung bis zur Wiederkehr Christi von Gott ausdrücklich eingesetzt und damit sanktioniert. Deshalb war der Christ als Mitglied beider Regimenter auch dem weltlichen unbedingten Gehorsam schuldig (ausgenommen in Fragen des unmittelbaren Seelenheils; vgl. Bd. I, S. 197ff.).

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Für diese Legitimierung des feudalabsolutistischen Herrschertums wurden die Kirchen mit umfassender Machtfülle belohnt. Als »Sattelinstitutionen« beherrschten sie - wie schon angedeutet - das gesamte politische, soziale (öffentliche wie private) sowie kulturelle Leben in der frühen Neuzeit maßgeblich (vgl. III Wehler, S. 269ff.; Schilling 1988, S. 267ff., 293ff.; Klueting, S. 18ff.; Rabe, S. 316ff., 364ff, 441 ff.). Sie waren Teil des politischen Herrschaftssystems, indem sie zum einen selbst Macht ausübten wie in den Theokratien der Geistlichen Fürstentümer oder die Politik - etwa als jesuitische Beichtväter - mitbestimmten (vgl. Bd. II, S. 137ff.), indem sie zum ändern durch Einbindung ihrer Funktionsträger in die Hierarchie der politischen Verwaltung - im Protestantismus seit der »Fürstenrevolution« - selbst Instrument politischer Herrschaftsausübung wurden. - Auch das gesellschaftliche Leben war weitgehend durch kirchliche Gebote, Verordnungen und Veranstaltungen reguliert, und die Amtskirchen waren mit ihrem eigenen Verwaltungsapparat und ihrer Machtposition ein effizientes Organ der »Sozialdisziplinierung«, der Einübung von »Zucht und Ordnung« (vgl. Bd. II, S. 171 ff., 181 ff.). Eine schlechthin dominierende Rolle spielten die Kirchen im Bereich der Kultur, wenn diese die Gesamtheit nicht nur der künstlerischen, sondern auch der geistigen Lebensäußerungen und der zivilisatorischen Bedingungen meint. Die Kirchen hatten die Oberaufsicht über das Erziehungswesen von den Universitäten, an denen die Theologie die oberste Rangstufe einnahm, bis hinab zu den Katechismusschulen, sie beherrschten den Buchmarkt sowohl durch Ausübung der Zensur als auch quantitativ durch den mit Abstand größten Anteil an der Buchproduktion selbst. Vor allem aber definierten und überwachten sie den »rechten Glauben« und damit die alle sozioökonomischen und kulturellen Lebensbereiche schlechthin beherrschende und für jedermann verbindliche gesellschaftliche Leitideologie, an die sich im Prinzip auch die politische Herrschaft zu halten hatte: Glaubensfragen waren zugleich Fragen nach der individuellen, gesellschaftlichen und staatlichen Identität, bestimmten alle Lebensäußerungen, damit auch Möglichkeiten und Grenzen wissenschaftlicher Erkenntnis und Erfahrung sowie das Sozialverhalten. Und dabei bildeten die drei im Reiche sich etablierenden Konfessionen eine jeweils spezifische - katholische, lutherische und calvinistisch-reformierte - Kultur mit einem signifikant unterschiedlichen Sozialverhalten aus (vgl. Bd. H, S. 127ff., 171ff., 198ff.). - Baruch de SPINOZA (1632-1677) hat 1670 das unerträgliche Klima der Einschüchterung, des Aberglaubens, der »Leichtgläubigkeit und Vorurteile« als Resultat des konfessionellen Epochen->Geistes< schonungslos angeprangert und mit seinem Kampf um »die Freiheit zu

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philosophieren« und um die Unabhängigkeit der Weltweisheit von der Theologie auch der Aufklärung selbst ihre entscheidende Aufgabe gestellt (vgl. II Spinoza TPT, S. l, 7, 212ff.). Und noch ein Jahrhundert später (1764) richtete VOLTAIRE (d. i. Francois Marie Arouet, 1694-1778) in seinem geistreichen und polemischen, vielfach verbotenen >Dictionnaire philosophique< eine »Kampfansage an die Vormacht der Kirche« (11.60 Stierle, S. 20; vgl. II Voltaire, S. 44ff, 50ff, 66ff.). 3) Spiegelt sich darin einerseits die Beharrungskraft der engen Verquickung von Kirche und politischem System im 18. Jahrhundert, so wurde diese den etablierten Konfessionen doch zugleich mehr und mehr zum Verhängnis. Denn seit Ende des 17. Jahrhunderts machte sich in Europa und vor allem in den protestantischen Territorien des Reiches die Abkehr vom konfessionellen Staat bemerkbar (vgl. III Winter 1966, S. 7ff.; Schilling 1989, S. 140ff.; Klueting, S. 370ff.). Hatten seit der Reformation - auch und vor allem im Dreißigjährigen Krieg - politische Allianzen immer auch konfessionellen Interessen gedient (vgl. dazu Bd. II, S. Iff., 127ff.) -, so erwies sich die kirchliche Bindung und Rücksichtnahme für die säkularen Interessen der erstarkenden (National-) Staaten zunehmend als Hemmschuh. In Deutschland nutzten seit 1685 vor allem calvinistische Territorialfürsten die Ansiedlung von hunderttausenden von Hugenotten-Flüchtlingen in ihren lutherischen Gebieten zur Durchsetzung von Toleranz und zur Etablierung des Staates anstelle der Kirchen zur entscheidenden gesellschaftlichen Ordnungsmacht (vgl. Bd. I, S. 29ff.; III Winter 1966, S. 29). In England erbrachte die »glorreiche Revolution« von 1688 die entscheidende Niederlage des Konfessionalismus durch die Personalunion Englands mit den Generalstaaten unter Wilhelm III. von Oranien und die von diesem erlassene ToleranzAkte von 1689 (vgl. ebda., S. 17; III Heussi, S. 375f.); 1691 zeigten sich die inneren Widersprüche zwischen konfessionellen und absolutistischen Zielen bei der protestantischen »großen Allianz« vom Haag, welcher auch der katholische Kaiser beitrat, um dem gefährlich mächtig gewordenen katholischen >Sonnenkönig< politisch besser Paroli bieten zu können. Auch in den folgenden Jahrzehnten wechselten die politischen Bündnisse zwischen den europäischen Großmächten (England, Frankreich, Spanien, Rußland, Schweden) und den protestantischen Hohenzollern sowie den katholischen Wettinern und Habsburgern ohne Rücksicht auf die jeweils dominierende Landes-Konfession. Diesen Gesinnungswandel der >Staatskunst< gegenüber den Kirchen faßte die Gottschedin (im schon erwähnten Gedicht) in prägnante Alexandriner:

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»Ein weiser Fürst verlacht die bittern Zänkereyen, Die um ein Hirngespinst die Geistlichkeit entzweyen. Sein weiser Arm erstickt in ihrer ersten Brut, Verfolgung, Haß und Krieg; die Fruchte frommer Wut. Wer recht, wer unrecht lehrt, das llßt er unentschieden; Und schlachtet nie sein Volk um einen Kirchenfrieden.« (II SKG, S. 5)

Nur wo der Konfessionalismus noch dem säkularen Staatsinteresse zu dienen vermochte, wurde er - auch auf Grund seiner festen Verankerung im Bewußtsein der Untertanen - als politischer Machtfaktor eingesetzt. Dafür zwei Beispiele: Als der fanatische Salzburger Erzbischof Leopold Anton Eleutherius Freiherr von FIRMIAN (1679-1744) nach einer Folge von Psychoterror und physischen Pressionen gegen die Protestanten seines Territoriums - vor allem Bauern, Handwerker und Gesinde - im November 1731 das sog. >Auswanderungspatent< verfügte, wonach alle bekehrungsunwilligen Nichtkatholiken »bei schwerer Leibes- und Lebensstrafe des Landes verwiesen« wurden, erließ der »Soldatenkönig« am 2. Februar 1732 sein berühmtes >EinwanderungspatentGeneral-Principia vom Kriege< (1748/52) - dies das zweite Exempel - instruierte Friedrich der Große seine Generäle, wie sie die konfessionelle Haltung der Bevölkerung als Propaganda für die eigene Sache nutzen könnten:

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»Man beschuldiget den Feind, von den allerschlimmsten Absichten so er gegen das Land hege; Ist solches protestantisch, wie in Sachsen, so spielet man die Role eines Beschützers der Lutherschen Religion, und suchet in den Hertzen des gemeinen Mannes den Fanatismum bestens aufzublasen, dessen Einfalt darunter gar leicht zu betriegen ist. Ist das Land Catholisch, so spricht man von nichts als von Tolerance, man prediget die moderation, und man wirfft alle Schuld der Verbitterung, zwischen denen Christlichen Seelen, auf die Prediger, welche jedoch in den essentiellesten Glaubens-Puncten mit einander einstimmig wären. . . . Wenn man ein Volck wegen seiner Gewissens-Freyheit animiren, auch ihn beybringen kan, dass es von denen Pfaffen und Devoten, bedrücket wird, so kan man sicher auf dieses Volck rechnen; Das heist eigentlich, Himmel und Hölle vor Euer Interesse bewegen.« (Ebda., S. 294f.)

Mit Rücksicht auf die Masse übernahm Friedrich die Rolle des Kirchen-Fürsten (vgl. I Raab, S. 196) und verpflichtete die Geistlichen zur Toleranz: »Ich bin gewissermaßen der Papst der Lutheraner und das kirchliche Oberhaupt der Reformierten. Ich ernenne die Prediger und fordere von ihnen nichts als Sittenreinheit und Versöhnlichkeit« (ebda.). Zugleich benutzte er die Pfarrer als staatliche Beamte, die u. a. »den Kartoffelanbau einführen und von der Kanzel herab die polizeilichen Verordnungen verkündigen« mußten (III Wallmann 1973, S. 177). - Die vor allem für die Orthodoxie verhängnisvollen Folgen des Staatskirchentums zeigten sich in der Ohnmacht gegenüber dem Hereinbrechen des Rationalismus. Erst unter Friedrich Wilhelm II. (1786-1797), dem Nachfolger Friedrichs II., konnten die konservativen Kräfte zur Reaktion schreiten. Das von dem preußischen Minister Wöllner verfaßte Religionsedikt von 1788 band »alle öffentliche Lehre streng und bei Androhung von Strafen an die Norm der Bekenntnisse« (ebda., S. 178), doch galt es nur wenige Jahre: Es ließ sich gegen den fortgeschrittenen Zeitgeist nicht mehr durchsetzen. 4) Dieser Zeitgeist war Ausdruck der umfassenden Säkularisierung in Wissenschaft, Kultur und Gesellschaft, die als kulturgeschichtliches Hauptkennzeichen der frühen Neuzeit bereits von Renaissance und Humanismus initiiert, jedoch von den kirchlichen Konfessionen vor allem in der Epoche des Konfessionalismus weitgehend verzögert und unterdrückt worden war und die sich nun im 18. Jahrhundert auch als machtvolle Reaktion auf den militanten Konfessionalismus unaufhaltsam durchsetzte (vgl. Bd. I, S. 16ff., 137ff.). In diesem Prozeß ging es darum, die von den christlichen Bekenntnissen beanspruchte Autorität ausschließlicher und verbindlicher Weltauslegung in allen Lebensbereichen zu durchbrechen (vgl. dazu auch III Ruh, S. 19ff., 30, 305ff.). Das galt für Staat und Politik, die sich der konfessionellen Wahrheit nicht mehr ver-

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pflichtet fühlten und sich als säkulare Ordnungsmacht etablierten, ebenso wie für das Recht, die (Natur-)Wissenschaften und schließlich auch für die Künste. Aus Gottes zweiter Offenbarungsquelle, dem »Buch der Natur«, deduzierten die Repräsentanten der Aufklärung ein umfassendes System vernünftig-natürlicher Weltdeutung, Gesellschaftsregulierung (Naturrecht), Frömmigkeit (natürliche Religion) und Kunst (vernunftgeleitete Naturnachahmung), aus dem »Buch des Herzens« die Pietisten eine kirchlich nicht mehr domestizierte, unmittelbare Frömmigkeit, die jeweils die Autorität der Bibel als alleinverbindlicher, übergeordneter Offenbarungsquelle untergruben. Und dies geschah direkt auch durch die historische Bibelkritik, welche von SPINOZA (>Tractatus Theologico-PoliticusHistoire critique du Vieux TestamenK, 1678) und Pierre BAYLE (1647-1706; >Dictionnaire historique et critiqueautopoietische< Teilsysteme im entstehenden modernen Funktionssystem der Gesellschaft, und dabei mußten Theologie und Kirche selbst ihre Reduktion vom Gesellschafts-integral auf ein solches Teilsy-

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stem innerhalb der Sozietät hinnehmen (vgl. dazu III Luhmann 1972, S. 127ff.; 1982, S. 225ff.; S. J. Schmidt). Die Verselbständigung der Literatur in diesem Prozeß vollzog sich indes wie die Autonomisierung der anderen Künste und Wissenschaften hauptsächlich erst in der zweiten Jahrhunderthälfte (und wird deshalb zusammen mit Problemen der Zensur, der Entwicklung des literarischen Marktes und der »Verdichtung der Kommunikation« sowie der Institutionalisierung der Aufklärung selbst erst in Bd. VI ausführlich behandelt). 5) Auch in den katholischen weltlichen und geistlichen Territorien setzten sich im 18. Jahrhundert Staatskirchentum und aufklärerische Reformideen mehr und mehr durch. In Österreich suchte Joseph II. als Sohn und Nachfolger Maria Theresias deren Versuche zur Errichtung eines Staatskirchensystems energisch zu verwirklichen und ohne Rücksprache mit dem Papst eine auf seinen Staat zugeschnittene katholische Nationalkirche im Dienst eines aufgeklärten Wohlfahrtsstaates und auf der Basis eines aufgeklärten Moralglaubens zu installieren. Sein Toleranzpatent vom 20. Oktober 1781 gewährte »nichtkatholischen Untertanen« »eine beschränkte bürgerliche Gleichberechtigung. Seit 1781 konnten Protestanten an den österreichischen Universitäten den Doktorgrad erwerben. Auch die katholischen Universitäten Westdeutschlands öffneten sich bald darauf nichtkatholischen Studenten« (III Raab, S. 79). Durch die auf politischen Druck hin erfolgte Auflösung des Jesuitenordens (1773) konnte sich das katholische Schul- und Hochschulsystem modernen Formen der Pädagogik und Theorien ethischen Handelns öffnen (vgl. III Wallmann 1973, S. 178ff.; zur katholischen Aufklärung vgl. III Winter 1966, S. 94ff.; Möller, S. 87ff. u. ö.; Wehler, S. 278ff.). d) Zu Begriffsbestimmung und Epochenproblematik der Aufklärung 1) Von der zuvor entwickelten Epochenskizze her bleiben alle geistesund funktionsgeschichtlichen Versuche, die deutsche Aufklärung mit Rationalismus oder »Herrschaft der Vernunft« gleichsetzen zu wollen, der Quellenlage und der historischen Realität recht fern. Gewiß wird mit dieser neuerdings auch von Wehler wieder favorisierten Bestimmung (vgl. III, S. 270ff.) das Wirken einer bedeutenden Gruppe von Frühaufklärern um Thomasius, Wolff und Gottsched charakterisiert, deren Intention sich als »kritisches Denken in praktischer Absicht« charakterisieren ließe (so W. Schneiders, zit. in III Kopitzsch, S. 42): Das kritische Denken fordert die Traditionen vor die Schranken der Vernunft, welche die Vorurteilsstruktur der überkommenen Weltdeutung

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aufdeckt und ihr in >Vernünftigen Gedanken< (so der Reihentitel der Werke von Wolff) ein eigenes säkulares Weltbild gegenüberstellt und gesellschaftlich durchzusetzen sucht. Andererseits sind gerade in der deutschen Frühaufklärung die Vernunft-kritischen Töne unüberhörbar; so bei Thomasius selbst, der die »ratio« der »voluntas« subordiniert (vgl. Kap. 2 c; V/2 Kap. I 3 d), so auch und vor allem bei den Naturpoeten. Während der Naturwissenschaftler Albrecht von HALLER (1708-1777) in seinen Lehrgedichten die Unfähigkeit der Vernunft zur Lösung zentraler metaphysischer Probleme betont (vgl. V/2 Kap. II 2 c), warnt Barthold Heinrich BROCKES (1680-1747), so sehr er die »ratio« gegen das biblische Weltbild ins Feld führt, angesichts vieler ungelöster und unlösbar scheinender Welträtsel vor einer Überschätzung der naturwissenschaftlichen Erkenntnisfähigkeit des Menschen: »Der Mensch ist ja gelehrt. Wir haben Professores In omni scibili, Philosophos, Doctores, Wir untersuchen ja die Wirckung der Natur / Ergründen ihre Kraft / und kommen auf die Spur Von ihrer Heimlichkeit. Sind das nicht Wunder = Sachen? Vortrefflich, wunderbar! Nur eines fehlt daran, Daß keiner nicht einmahl dir recht erklären kan, Was Feur, was Wasser sey. Ich muß von Hertzen lachen, Daß die gelehrte Welt sich selbst so sehr erhobt, Da sie von der Natur und allen ihren Wegen Die Ursach nicht, nicht einst das ABC versteht, Wie ihre Widerspruch' es selbst vor Augen legen.« (II IVG II, S. 419)

Die häufige Betonung der Beschränktheit menschlicher Erkenntnis ist zwar einerseits ein raffiniertes Mittel, um neue naturwissenschaftliche Einsichten - als noch Ungewisse Hypothesen deklariert - in seine Verse zu introduzieren, andererseits aber ernstgemeint zur Abwehr vor allem des cartesianisch-mechanistischen Denkens und aus Sorge um die Plausibilität seiner Naturfrömmigkeit. Und eben daß es bei Brockes und anderen Autoren seiner Zeit um die Etablierung von Formen natürlicher Religiosität geht, wird als Schritt zur Unabhängigkeit von kirchlich bestimmten Formen des Gottesdienstes mit dem Kriterium der Rationalität als Epochen-Signum kaum angemessen erfaßt (vgl. dazu auch III Schneiders 1974, S. 16). Zugleich suggeriert der Begriff fälschlicherweise, die aufklärerische Vernunft habe sich in allen Wissenschaften und Kulturbereichen gleichermaßen durchgesetzt (vgl. dazu III Vierhaus 1985). Nun hat gerade Kant bei seiner berühmten Antwort auf die Frage der berlinischen Monatsschrift von 1783 (>Was ist Aufklärung?< vgl. I

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Bahr) zur Begründung seiner Auffassung, man lebe noch nicht in einem aufgeklärten Zeitalter, »aber wohl in einem Zeitalter der Aufklärung«, angeführt, den Menschen werde jetzt vor allem in Brandenburg-Preußen endlich »das Feld geöffnet«, »in Religionsdingen sich ihres eigenen Verstandes ohne Leitung eines ändern sicher und gut zu bedienen« (II, S. 60). Aufklärung zielt nicht auf Abschaffung der Religion mittels der »ratio«, sondern auf Verwirklichung des Rechts auf freie Selbstbestimmung - auch in der Ausübung der je eigenen Religiosität (vgl. dazu jetzt auch III Gründer/Rengstorf, S. 9ff). Da mit der Durchsetzung dieses Rechts aber die monopolistische Macht der Kirchen an ihrer entscheidenden Stelle durchbrochen sein mußte, setzte Kant die Aufklärung wie bereits zitiert - »vorzüglich in Religionssachen« (ebda., S. 61). Von daher sind alle frühaufklärerischen Bemühungen um eine von der Orthodoxie unabhängige Religiosität genuiner Bestandteil des Aufklärungsprozesses. Aus der Perspektive der Zeitgenossen war Aufklärung bei Befürwortern wie Gegnern (vgl. I Bahr) ein agonaler Prozeß (zum »polemischen Charakter« des aufklärerischen Denkens vgl. auch III Kondylis, S. 19ff.). »Aufklärung«, so definiert Johann Gottfried SEUME (1763-1810), »ist richtige, volle, bestimmte Einsicht in unsere Natur, unsere Fähigkeiten und Verhältnisse, heller Begriff über unsere Rechte und Pflichten und ihren gegenseitigen Zusammenhang. Wer diese Aufklärung hemmen will, ist ganz sicher ein Gauner oder ein Dummkopf, oft auch beides« (zit. in III Kopitzsch, S. 42f.). Daraus wie auch aus der bekannten Definition Moses MENDELSSOHNS (1729-1786) - »Ich setze allezeit die Bestimmung des Menschen als Maß und Ziel aller unserer Bestrebungen und Bemühungen« (I Bahr, S. 4) - wird überdies das vorrangig anthropozentrische (und weniger naturwissenschaftlich orientierte) Interesse der deutschen Aufklärung deutlich (vgl. dazu auch III Kondylis, S. 119ff.). Nicht Durchsetzung von Rationalität, sondern Eroberung des Rechts auf Selbstverwirklichung und freie Selbstbestimmung des Menschen lassen sich deshalb als ihre wichtigste Zielsetzung bezeichnen (so auch III Mauser 1981, S. 270; Steinhagen spricht gar unter Berufung auf III Blumenberg vom »Zwang zur Selbstbehauptung« als grundlegendem Motiv für »die gesamtgeschichtliche Entwicklung der Neuzeit«; III 1988, S. 315). Im Blick auf ihre epochale Bedeutung und ihren Stellenwert im Kontext der frühen Neuzeit sei die Aufklärung daher folgendermaßen definiert: Sie verhilft den gegen die kirchlichen Orthodoxien gerichteten frühneuzeitlichen Autonomiebestrebungen zum epochalen Durchbruch und leitet damit das Zeitalter der Moderne ein. Dies schließt (von der galanten Poesie bis zur Anakreontik) auch die mit

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Recht betonte »Rehabilitation der Sinnlichkeit« als ein häufig selbst von Mißtrauen gegen den Intellektualismus begleitetes Hauptanliegen der europäischen und deutschen Aufklärung »im Kampfe gegen die theologische Ontologie und Moral« mit ein (III Kondylis, S. 19, 170ff.). 2) Von dieser Bestimmung her sind insbesondere vier Aspekte des Epochenproblems >Aufklärung< beantwortbar. Zunächst die Frage, ob sich die erste Hälfte des 18. Jahrhunderts sowohl in der Geschichte der Literatur wie der anderen Künste und Wissenschaften als Epoche der Frühaufklärung fassen läßt. Stil-, sozial-, regional- und traditionsgeschichtliche Gründe scheinen dafür zu sprechen, die Aufklärung erst um die Mitte des 18. Jahrhunderts einsetzen zu lassen, weil das >Barock< unverkennbar bis dorthin weiterwirkt (vgl. auch die Terminierung »bis 1740« in III Steinhagen 1985): Die stilgeschichtliche Kontinuität bestätigt sich, so ließe sich argumentieren, zum einen in der mit der Publikation der Neukirchschen >Anthologie< erst 1695 einsetzenden öffentlichen Rezeption des manieristischen Stils Hoffmannswaldaus und der sog. >Zweiten Schlesischen Schulegalanten Stil< und in der >Rokoko-Literatur< ihr bürgerliches Pendant, die Barockmusik erreichte mit Johann Sebastian BACH (1685-1750) und Georg Friedrich HÄNDEL (1685-1759) erst in den Jahrzehnten bis 1750 ihren Höhepunkt (vgl. I Wiedemann; Anger; III Balet/Gerhard, S. 44f.; G. Schneider, S. 11 Off.; Anger 1962; Foerster; Blei).Regionalgeschichtlich betrachtet, war die Aufklärung ohnehin überwiegend eine norddeutsch-protestantische Bewegung, jedenfalls haben die Historiker große Mühe, überhaupt Ansätze zu einer katholischen Aufklärung vor dem Regierungsantritt Maria Theresias (1740) zu finden. Doch blieben auch zahlreiche protestantische Territorien des >Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation< in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts von der Aufklärung unberührt, und ausgerechnet in den

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>Hochburgen< der Frühaufklärung, in Sachsen und Brandenburg-Preußen, erlebte der vernunftfeindliche Pietismus zwischen 1690 und 1740 seine Blütezeit. Eine nähere Untersuchung frühaufklärerischen Denkens schließlich fördert ein beträchtliches Ausmaß an Eklektizismus und damit ein Weiterwirken überkommener religiöser, aristotelischscholastischer und aus der Antike ererbter humanistischer Denktraditionen zutage: Aus all dem läßt sich, so scheint es, schwerlich ein EpochenAnspruch der Aufklärung zumindest für die erste Hälfte des angeblichen »Siecle des Lumieres« herleiten. Gewiß sprechen diese Phänomene für einen - in der Aufklärungsdefinition auch betonten - Übergangscharakter der Jahrzehnte um 1700 und illustrieren damit die in der Geschichte stets beobachtbare »Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen« nicht nur innerhalb der literarischen Entwicklung selbst, sondern auch im Mit- und Nebeneinander der Künste und Wissenschaften, der politischen Systeme und sozialen Strukturen (vgl. dazu auch III Kaiser 1979, S. 11 ff.). Dies impliziert aber auch die mögliche Ungleichzeitigkeit der »Sprache« ein- und desselben Stils, eine in Rechnung zu stellende Divergenz von Inhalt und Form. So entstanden zum Beispiel entscheidende Ideen der Aufklärung bereits im 17. Jahrhundert und sprachen sich noch im System der alten »artes« aus (vgl. III Möller), und so hielt die literarische französische Aufklärung bis hin zu Voltaire auffällig »an den Kunstidealen der Klassik des 17. Jahrhunderts fest«, war »ideell aber innovatorisch gesinnt« (III von Stackelberg 1980a, S. 25). Deshalb fragt sich in diesem Problemzusammenhang auch, ob das, was in Deutschland mit der offenkundigen Nachahmung des französischen Klassizismus als >Barock< um 1700 importiert wurde, nicht auch bereits am Geist des neuen, mathematisch geprägten Denkens partizipierte, das wegen seiner überragenden Erfolge in der Astronomie und angesichts der methodologisch noch nicht getrennten Naturund Geisteswissenschaften vor allem von Descartes in verschiedene Künste und Wissenschaften übertragen worden war (vgl. Kap. 2 c). Sogar der Staat geriet (durch Hobbes) »in den Sog artifizieller Mathematisierung«, aber auch das sonstige Leben wurde »geometrisiert«: »Tanz-, Fecht- und Reitkunst«, ebenso wie »die Gebärdensprache des täglichen Umgangs und das Theater, das Exerzierreglement und die >Uniformierung< des Militärs, das Hof- und Staatszeremoniell bis hinauf zum diplomatischen Umgang der Staaten auf dem >großen Welttheaterbarocke< Priorität der »ars« über die »rohe« Natur erkennbar (vgl. IV Grimm, S. 207), sondern die Kunst stellte nur in geometrisierender Nachahmung die in der Gesamtnatur herrschende und mathematisch berechenbare symmetrische Proportionalität her. Ebenso erweist sich Johann Bernhard FISCHER VON ERLACH (1656-1723), einer der bedeutendsten Repräsentanten des deutschen ArchitekturBarocks, in seinen publizierten Schriften als »Exponent der Aufklärung« (ebda., S. 206). So beginnt sich in der Architekturgeschichte der Begriff der Aufklärung als Epochenbezeichnung für eine barocke Stilphase einzubürgern (vgl. III Braham; Hesse; Hirsch, S. 50ff.; von der nationalen Tradition in Frankreich handeln Middleton/Watkin, S. 9ff.; dazu und zur Rezeption des englischen Gartens vgl. III Bauer, S. 303ff.). Zugleich strebte die Architektur im 18. Jahrhundert wie die anderen Künste auch »ihre ästhetische Autonomie« an und entkleidete dazu die architektonischen Gestaltungsmittel ihrer überkommenen »Bildersprache« (vgl. III Hesse, S. 159, 171). Analoges gilt für die Malerei (vgl. III Imdahl; V/2 Kap. I 3 e) und die Musik (vgl. III Schubert; G. Schneider, S. 118ff.) - Bezeichnend auch, daß in der durch Charles PERRAULT (1628-1703) erneuerten Querelle des Anciens et des Modernes (vgl. II Perrault) den Anhängern der Moderne der französische Architekturklassizismus seit dem Bau der berühmten Hauptfassade an der Ostseite

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des Louvre-Schlosses in Paris (1667ff.) als der klassisch-antiken Baukunst überlegen galt (vgl. III Hesse, S. 151), und auch für Johann Christoph GOTTSCHED (1700-1766), der sich von den deutschen Repräsentanten der Frühaufklärung am eindeutigsten auf die Seite Perraults schlug, erwies sich in einem Gelegenheitsgedicht der Triumph der Neuzeit hauptsächlich in diesen Künsten: »Die göttliche Musik, die Baukunst, Malerey, / Die Kunst, aus Holz und Stein ein Menschenbild zu hauen, / Der Gärten Zauberlust, und andres läßt ja schauen, / Daß uns das Alterthum nicht gleich zu schätzen sey.« (Zit. in III Kapitza, S. 130; zur später schwankenden Haltung Gottscheds in der Querelle vgl. ebda., S. 140ff., 190ff., 199f., 245f.) Freilich: Gerade in Deutschland und bei vielen Aufklärern traf das mathematisierend-mechanistische cartesianische Denken auch auf erheblichen Widerspruch (vgl. Kap. 2 c). Weil die Wahrheit des alten Weltbildes durch die »new science« erschüttert war, letztere indessen zugleich als einseitig erschien (der mechanistische Naturbegriff z. B. organische Prozesse nicht zureichend zu erklären vermochte), behaupteten sich ältere Denktraditionen und Weltanschauungen in bemerkenswertem Ausmaß. Die deutsche Frühaufklärung ist daher von Thomasius bis Brockes und von Gottsched bis Lessing bestimmt vom Eklektizismus. Indessen die lange Zeit als Synonym für unselbständiges Denken diskreditierte Eklektik wird gegenwärtig vor allem in der Philosophiegeschichtsschreibung als die Denkform der deutschen Frühaufklärung vor und neben Wolff rehabilitiert (vgl. III Schmidt-Biggemann, S. 31 ff., 203ff.; Sparn, S. 72ff.; Schneiders 1985; 11.57 Schneiders 1989, S. 73ff.; vgl. auch das hohe Lob des >Eklektizismus< in Diderots >Enzyklopädieempfindsame< Poesie Einfluß geübt haben. Zunächst aber ist im literarhistorischen Kontext eine an Lied-Beispielen illustrierte problemgeschichtliche Positionsbestimmung dieser Reformbewegung von vorrangigem Belang. Zwar gilt der Pietismus - wie schon zitiert - als »die größte religiöse Erneuerungsbewegung im Protestantismus seit der Reformation« (11.53 Wallmann 1986, S. VII), indessen hat er nicht zuletzt deshalb bis heute keine gültige Gesamtdarstellung erfahren (vgl. 11.53 Blaufuß 1984, S. 23; III Namowicz, S. 469; Lehmann 1972, S. 66f.): Zu unterschiedlich und zu partiell sind die Interessen und Methoden der an seiner Erforschung beteiligten Disziplinen, zu heterogen auch die Personen, Gruppen und Anschauungen sowie die regionalen Besonderheiten und Entwicklungen, die man unter diesen - darum schwer definierbaren - Begriff subsumiert (vgl. III Schrader 1989, S. 49ff.). Und das Problem verdoppelt sich natürlich bei der Verhältnisbestimmung des Pietismus zur Aufklärung: »Völlig gegensätzliche Positionen« verzeichnet hier ein neuerer Forschungsbericht (vgl. 11.53 Müsing, S. 36; vgl. dazu III Kondylis, S. 563ff.). Daß einer so komplexen und vielgesichtigen Erscheinung wie »dem« Pietismus auch kein pauschales - positives oder negatives - historisches Urteil gerecht zu werden vermag, verdeutlicht bereits der nachfolgende kurze Überblick, aus dem sich zugleich die problemgeschichtliche Auswahl und Akzentuierung der vorliegenden Darstellung ergibt.

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1) Pietismus und Aufklärung

Die Fragen des Anfangs, des Umfangs, der Kohärenz und damit auch die Definition des Pietismus sind nach wie vor umstritten (vgl. III Kantzenbach, S. 130ff.; Namowicz; Lehmann 1972; Greschat 1977; Wallmann 1979; H. Schneider 1982 u. 1983; 11.53 Müsing; Wallmann 1986). Zum Teil sieht die Kirchengeschichtsschreibung den Pietismus als ein europäisches Phänomen, beginnend entweder in England mit William Perkins (1558-1602) und vertreten durch die Schule von Cambridge sowie durch den (calvinistischen) Puritanismus, oder beginnend in der reformierten niederländischen Kirche durch Jodocus von Lodenstein (1620-1677) bzw. Jean de Labadie (1610-1674) um etwa 1670 (so vor allem III Ritschi I, S. lOlff.; vgl. dazu III Wallmann 1979, S. 13ff.; M. Schmidt 1983, S. 24ff.; in diesem Kontext auch I Weber/Beyreuther). Im Gegensatz dazu halten indessen die meisten Kirchenhistoriker den Pietismus nach wie vor für eine Reformbewegung hauptsächlich innerhalb des deutschen Luthertums und datieren seinen Beginn auf das Erscheinen einer schmalen - und publizistisch nicht sonderlich erfolgreichen Schrift aus der Feder von Philipp Jacob SPENER (1635-1710): >Pia desideria: oder Hertzliches Verlangen/ Nach Gottgefälliger Besserung der wahren Evangelischen Kirchen< (1675). Spener (damals Leiter des Pfarrerkollegiums der Freien Reichsstadt Frankfurt und im übrigen auch Verfasser von drei Kirchenliedern und einer größeren Zahl von Gelegenheitsgedichten) verlangte eine Neuorientierung der Theologie und Frömmigkeit an der Heiligen Schrift und wollte vom fleißigen Hören des Wortes Gottes her eine Gemeinschaft der Frommen und Auserwählten innerhalb der Kirche (»ecclesiola in ecclesia«) aufbauen und besonders fördern, ohne mit solchen Konventikeln aber die Kirche zu verlassen; vielmehr sollten diese Frommen, die sich z. B. in Frankfurt bereits seit 1670 in den >collegia pietatis< trafen, den Sauerteig oder die Speerspitze für die Reformierung der Gesamtkirche bilden. Allen Anfeindungen zum Trotz drang der Pietismus während seiner Hauptwirkungsphase (1690-1740) in nahezu alle lutherischen Landeskirchen ein, und im Bereich des den calvinistischen Niederlanden benachbarten Niederrheins entwickelte sich auch eine durchaus beachtliche reformierte Version. Speners Schüler August Hermann FRANCKE (1663-1727; vgl. zu ihm III Maier-Petersen, S. 197ff.) gab dem Pietismus mit seinen Halleschen Stiftungen eine feste, ganz auf lebenspraktische Reform bedachte Richtung. Eine kirchliche Sonderform bildete sich unter dem maßgeblichen Einfluß von Nikolaus Ludwig Reichsgraf von ZINZENDORF (1700-1760) durch die Herrnhuter Brüdergemeine aus (seit 17'22). Am nachhaltigsten setzte sich der Pietismus in der württembergischen Landeskirche fest und hatte hier mit Johann Albrecht BENGEL

a) Der Pietismus im Überblick

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(1687-1752) sowie Friedrich Christoph OETINGER (1702-1782; zu ihm vgl. III Maier-Petersen, S. 303ff.) herausragende und weithin anerkannte Führergestalten. Als fruchtbarster, freilich auch mittelmäßiger Verfasser geistlicher Gesänge in Württemberg erwies sich der Pfarrer Philipp Friedrich HILLER (1699-1769) mit den 1073 Liedern seines >Geistlichen Liederkästchens< (1762/67). Der württembergische Pietismus nahm stärker mystisch-pansophische und hermetische Traditionen in sich auf, insbesondere die Lehre Jacob Böhmes (vgl. dazu III Wallmann 1973, S. 147ff.). Diese Tendenz verbindet ihn mit einigen radikalen Einzelgängern. Inwieweit nun aber auch sie dem Pietismus zuzurechnen sind, ist in der Forschung umstritten: Friedrich BRECKLING (1629-1711) und Johann Georg GICHTEL (1638-1710; vgl. zu diesen auch Bd. III; ferner III M. Schmidt 1983, S. 124ff.), Johann Jakob SCHÜTZ (1640-1690; ebda., S. 126f.), Johann Wilhelm PETERSEN (1649-1727) und seine Frau Johanna Eleonora, geb. von und zu Merlau (1644-1724; vgl. zu ihnen III Bekker-Cantarino, S. 119ff.), Gottfried ARNOLD (1666-1714; vgl. zu ihm Kap. 3), der Theologe und Philosoph, Alchimist und Mediziner Johann Conrad DIPPEL (1673-1734), die stärkste philosophische Begabung des Frühpietismus und »einer der am meisten gelesenen Autoren des 18. Jahrhunderts« (III M. Schmidt 1983, S. 134; als Indiz spricht dafür, daß die realistische pietistische Bücherliste in der >Pietisterey im Fischbein-Rocke< mit ihm beginnt: II L. A. V. Gottsched PF, S. 102f.; zu Dippel vgl. 11.11 Bender; Voss; IV Kemper I, S. 227ff.; Kap. 2 d), schließlich Johann Christian EDELMANN (1698-1767), der den Prolog des JohannesEvangeliums mit »Im Anfang war die Vernunft« übersetzte und sich zum Hermetismus und Spinozismus zugleich bekannte (vgl. III Schmidt-Biggemann, S. 141; dazu kritisch 11.54 Schröder, S. 25ff.). Die >Radikalpietisten< standen vielfach in Beziehung zu den Vertretern des eher >kirchlichen< Pietismus, brachten dies Gemeinschaftsbewußtsein in ihren Werken zum Ausdruck, bezeichneten sich selbst als Pietisten und vertraten in der Tat auch zentrale pietistische Anliegen, besaßen aber hauptsächlich im Werk Jacob Böhmes ein »Mittel- und Bindeglied« (III H. Schneider 1982, S. 23; 1983, S. 131ff.; Wallmann 1973, S. 140ff.). Vor allem der letzte Aspekt verdeutlicht, daß die Frage nach der Einheitlichkeit des Pietismus von der theologisch wichtigeren nach seinem häretischen Charakter mitbestimmt wird, denn es geht dabei immer auch um die Legitimität des - bis heute fortdauernden - pietistischen Erbes, das anzuerkennen zumindest den Theologen zweifellos leichter fiele, wenn sich die »Böhmisten« und häresieverdächtigen Mystiker als Teil eines außerhalb der Kirchen fortlebenden »mystischen Spiritualismus« klassifizieren und damit aus dem >kirchlichen< Pietismus ausgren-

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1) Pietismus und Aufklärung

zen ließen (vgl. III M. Schmidt 1961, Sp. 372f., 376f.; dag. III M. Schmidt 1983, S. 137). Dem Problem der pietistischen Mystik-Rezeption gebührt auch aus literarhistorischer Sicht besondere Aufmerksamkeit. Mit ihr stellt sich die Frage nach der >epochalen< Unterscheidung zwischen Pietismus und Barock-Mystik einerseits, nach der >epochalen< Gemeinsamkeit zwischen Pietismus und Aufklärung andererseits. Als Orientierung und Leitfaden für die nachfolgende Darstellung sei dazu hier eine Definitions- und Arbeitshypothese formuliert: Der Pietismus erstrebt als eine innerkirchliche Reformbewegung gegen den Widerstand der Orthodoxie eine habitualisierte Gottseligkeit im Diesseits, greift dazu auch auf die Glaubensanschauungen und Frömmigkeitsformen der Mystik zurück, vermittelt diese dadurch in die Aufklärung und wandelt die mystische Gotteserfahrung zugleich in eine an Selbstheiligung wie Gruppenbildung orientierte, gefühlsbetonte Frömmigkeitspraxis um. b) »Glückseligkeit« und »Gottseligkeit auf Erden« - Reformimpulse in der »Hoffnung besserer Zeiten« (Leibniz, Spener, Francke u. a.) Zunächst geht es um jene Tendenzen des Pietismus und seiner Frömmigkeit, durch die er die neue, nachkonfessionelle Ära mitkonstituierte und damit problemgeschichtlich der Epoche der Aufklärung zugerechnet werden kann. Dabei hebe ich im folgenden drei einander bedingende Aspekte hervor, von denen vor allem der erste ausführlicherer Explikation bedarf, weil er ein bislang weniger beachtetes, aber zentrales Anliegen der pietistischen Frömmigkeit in den Blick rückt: Frühaufklärung und Pietismus erstrebten - darin gründete auch ihr Reformeifer - eine möglichst vollkommene Seligkeit im Diesseits. Dieses Streben nach autonomer Selbstverwirklichung hatte zweitens eine beträchtliche Aufwertung des Menschen und ein Interesse an der Erkenntnis seiner psychosomatischen Konstitution zur Folge. Indessen konnte die beseligende Selbsterfahrung drittens nur im Kampf gegen die kirchlichen Autoritäten durchgesetzt werden. 1) Der in beiden Reformbewegungen erkennbare Einstellungswandel gegenüber Gott, Mensch und Welt hat seine realgeschichtliche Ursache im Dreißigjährigen Krieg (1618-1648) und in dessen Ende: in den großen, wenngleich regional unterschiedlichen Zerstörungen (vgl. III Vierhaus 1978, S. 12ff.), von denen sich das Reich jahrzehntelang kaum zu erholen vermochte, und in dem stimulierenden Signal des Westfälischen Friedens (zu diesem vgl. I Buschmann, S. 285ff.). Trotz fortdauernder Bedrohungen durch die Expansionskriege Ludwigs XIV. (1667-1697; vgl. III Burkhardt, S. 158f.; Mandrou, S. 65ff.) und die Türkengefahr

b) »Glückseligkeit« und »Gottseligkeit auf Erden«

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(erst 1699 beendet der Friede von Karlovitz die Türkenkriege in Europa) wird vielfach die Entschlossenheit spürbar, das materielle Elend und den kulturellen Tiefstand aus eigenen Kräften oder - wie Thomasius propagierte - durch >kluge< Nachahmung entwickelterer westlicher Nationen zu überwinden (vom fortdauernden Angstsyndrom in der Bevölkerung spricht dagegen III Lehmann 1972, S. 70ff.; 1980, S. 105ff.; vgl. dazu Bd. II, S. 10). Der Reformwille entsprang der Zuversicht, daß der Westfälische Frieden eine Stabilisierung der Verhältnisse im Reich herbeigeführt habe, daß er als Gottesgeschenk zum Wiederaufbau des Landes, zur Fortentwicklung seiner Institutionen sowie zum weiteren Abbau der lähmenden konfessionellen Spannungen zu nutzen sei. In diesem Zusammenhang ist es bedeutsam, daß die Repräsentanten von Pietismus und Frühaufklärung bereits der Nachkriegsgeneration angehörten, das Kriegselend jedenfalls nicht mehr aus eigener Anschauung und Erfahrung kannten (vgl. 11.53 Wallmann 1986, S. 2ff.). Auch die beiden Hauptinitiatoren von Aufklärung und Pietismus in Deutschland wurden durch diese Friedens-Wirkung wesentlich zu ihren Reformintentionen motiviert. Deutschland könne, erklärte Gottfried Wilhelm LEIBNIZ (1646-1716), jedem anderen Land »an Zierde und Bequemlichkeit« überlegen sein, »wenn wir die Gaben Gottes genügsam zu brauchen wüßten« (II ED, S. 50). Es stehe »in unserer Macht«, »glückselig zu sein« (ebda., S. 51), zumal »da uns Gott vermittelst des edlen Friedens einige Luft schöpfen und aufs Künftige zu denken Zeit läßt« (ebda., S. 54f.). Er forderte Reformvorschläge an, »die dahin zielen möchten, wie die Einigkeit der Gemüter befördert, die gemeine Ruhe versichert, die Kriegswunden geheilt und die erliegende Nahrung aufgerichtet werden« (ebda.). Der Westfälische Friede wird hier gleichsam zum >deistischen< Signal für die Eigeninitiative des Menschen zur Beförderung seiner irdischen Glückseligkeit und fungiert als Anlaß, Zuversicht in die Dauer der Schöpfung und damit in die Planbarkeit der Zukunft zu gewinnen (zu Leibniz' Reformaktivitäten - u. a. Akademiegründungspläne und Versuche zur Reunion der Kirchen - vgl. III Möller, S. 248f.; Winter 1966, S. 121f.; van Dülmen, S. 30ff.). Auch Philipp Jacob SPENER (1635-1705) begründete - wenige Jahre vor Leibniz - sein Konzept der Kirchenerneuerung mit der >epochalen< »Hoffnung besserer Zeiten« (und mit diesem Motiv unterschied er sich deutlich von Johann Arndt und der Reformorthodoxie; vgl. Bd. II, S. 249ff.; vgl. dazu 11.53 Wallmann 1986, S. 323ff., 353). Für Spener bestand diese Hoffnung in der biblischen Verheißung, »daß GOTT noch einigen bessern zustand seiner Kirchen hier auff Erden versprochen habe« (II PD, S. 43); denn vor der Wiederkehr Christi zum Jüngsten Ge-

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1) Pietismus und Aufklärung

rieht müßten die Juden bekehrt und der Antichrist - für Spener immer noch das »Päbstische Rom« (ebda., S. 44) - überwunden werden, und deshalb dürfe man nicht die Hände in den Schoß legen, um »über dem wünschen zu sterben«, sondern müsse »auffs wenigste so vieles thun als muglich ist« (ebda., S. 45). Sich auf längere Zeit in der Welt einzurichten - ein von ihm auch aus dem Chiliasmus adaptierter Gedanke (vgl. zu diesem Bd. III) -, hatte für Spener und den Pietismus den Wunsch zur Folge, die für die Ewigkeit verheißene Seligkeit bereits während des Erdendaseins zu genießen (zu den >Pia desideria< vgl. auch III Maier-Petersen, S. 178ff.). Seligkeit, so erklärte Spener in einer Predigt über Markus 16, 16, sei schon ein mit der Taufe für das Leben im Diesseits gegebenes Versprechen (USV, S. 618). Und auch in seinem großen Lehrgedicht Betrachtung der Gewißheit und festen grundes unserer Seligkeit reklamierte er diese für das »volle recht des wahren lebens« im Hier und Jetzt: »Das wflrcklich dir bereits und zwar also geschencket / Daß es schon überreicht / und wo mans recht bedencket / Was doch die Seligkeit und wahres leben ist / Du jetzt schon allbereit / warhafftig selig bist / Und nicht dasselbige darffst nach dem todt erst werden ...« (BGS, S. 781)

Diese Überzeugung war Gemeingut sowohl der kirchlichen wie der radikalen Gruppierungen des Pietismus. Im >Gespräch Eines Hertzens Das Aus Christlicher Sorgfalt vor seine Seeligkeit den Weg zu solcher untersuchet setzte der Spener-Schüler Johann Caspar SCHADE (1666-1698) unter Verweis auf Joh. 5,24 in das Kapitel >Ein Christ empfindet schon hier das ewige Lebern den Scopus pietistischer Frömmigkeit: »So kanstu schon allbereit hier anfangen / selig zu seyn nicht nur in der festen Hoffnung des Zukünftigen / sondern auch im Genieß (!) des gegenwärtigen / da Gott in dir und du in Gott eine süsse Freude und unaussprechliches Vergnügen empfindest.« (II GH, S. 307f.) »Ich bin schon in der Ewigkeit, / Weil ich in Jesu lebe«, pointierte auch August Hermann FRANCKE sein bekanntes >HeimwehVom Ursprung und Adel der Seelen< mit der Bitte an Gott: »So sey mein Himmel auf der Erden / Mein Reichtum / meine Herrlichkeit / Mein Gott mit mir in den Beschwerden / Mein ewig Leben in der Zeit.« (II Richter UAS, S. 50)

b) »Glückseligkeit« und »Gottseligkeit auf Erden«

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Auch Gottfried ARNOLD insistierte auf der irdischen Seligkeit des in den »vergnüglichen zustand« der erneuerten Gottebenbildlichkeit versetzten Wiedergeborenen (vgl. dazu II Spener USV, S. 622): »O vernunfft / du kanst nicht glauben / Daß ich hier schon selig sey / Und daß mirs kein feind kan rauben / Daß ich bin von sünden frey: Leb ich doch im Paradis / Da ich nichts als GOTT genieß! Wie ein grober stein der erden Hegt in sich das schonste gold: So muß mir im leib noch werden / Was der unglaub sparen wollt Nach verfliessung dieser zeit: Nein! Ich bin schon selig heut!« (II Arnold PLS, S. 60; vgl. ebda., S. 157)

Das »Genießen« Gottes (im Sinne von Teilhabe und Aneignung) geschieht dabei offensichtlich auf eine sehr sinnliche Weise (vgl. dazu auch Kap. 2 b u. 3) und »kompensiert die von der christlichen Moral geforderten Entbehrungen. Somit gewinnt die Askese selber einen gleichsam antiasketischen Aspekt, und der freien Entfaltung des Subjekts steht nichts mehr im Wege« (III Kondylis, S. 567). Der »selige Zustand« impliziert von daher im Gottesgenuß die Erfahrung andauernden Einsseins mit sich selbst und das »Ausleben aller geistigen und sinnlichen Kräfte« (III Maier-Petersen, S. 170). Die als »unglaub« apostrophierte Orthodoxie bemerkte diese Tendenz und erneuerte bezeichnenderweise gegen die des Chiliasmus verdächtige >Pietistische gefährliche Lehre, daß unter der Seeligkeit des Gnaden = Lebens der Gläubigen, hie in der Zeit und unter der Seeligkeit des ewigen Lebens, kein wesentlicher wurklicher Unterscheid; sondern eine Seeligkeit sey< (so der Titel einer Streitschrift des Schleswig-Holsteinischen General-Superintendenten Josua Schwartz, 1632-1709) ihre Lehre, erst die ewige Seligkeit bestehe in der Herrlichkeit, nämlich dem Schauen Gottes von Angesicht zu Angesicht, die Seligkeit des Erdenlebens dagegen nur in der Hoffnung - eben auf diese Freude im Jenseits (vgl. dazu II Walch RIK I, S. 816ff.). Der pietistische Zustand der Gottseligkeit beschränkte sich keineswegs auf die emotionale Pflege eines innerpsychischen Gottesbezugs, sondern schloß - Speners Kirchenreform-Programm deutet bereits darauf hin - den aktiven Einsatz im Weinberg des Herrn durchaus ein. Dies gilt noch stärker für die Anfänge des Halleschen Pietismus. Dieser stand

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1) Pietismus und Aufklärung

im Zeichen eines mit den frühaufklärerischen Reformintentionen geradezu wetteifernden Programms zur »realen Verbesserung in der ganzen Welt« (11.17 Peschke II, S. 206ff.). Die außerordentliche Arbeitsleistung der ersten pietistischen Generation resultierte offenbar auch aus dem Gefühl und Bewußtsein erfüllter (und in der Arbeit sich bestätigender) Gottseligkeit, jedenfalls hat diese Erfahrung in Halle »einer neuen, unvoreingenommenen Zuwendung zur Welt, zu Wissenschaft, Technik und Handel die Bahn gebrochen« und »einen optimistischen Grundton« in Leben und Werk gebracht (11.45 Altmann, S. 182f.). Calvinistischen Auffassungen nahestehend - wenngleich deren Prädestinations- und Abendmahlslehre scharf ablehnend (vgl. 11.17 Peschke I, S. 28ff.) - war für Francke der ganze Beruf des Menschen göttlicher Auftrag: »Es muß alles zu GOttes Ehren / und des Nächsten Nutzen gerichtet sein« (zit. ebda., S. 91). Franckes Lehre, man müsse dem Beruf nachgehen und dabei die Gedanken aufs Ewige richten (ebda., S. 100), faßte Richter in der Maxime zusammen: »Das Ziel der Seelen ist die Vereinigung mit CHristo: das Ziel des Leibes aber ist die Außubung des gottlichen Willens in der sichtbaren Welt / welchen er von dir insonderheit wil gethan haben.« (II MHW, S. 291 f.) Und dabei stellte Francke - hier noch ganz aristotelisch-scholastisch denkend - einen ganzen Stufenkosmos an Gradationen im Dienst an der Welt und im Wachstum der eigenen Gnade in Aussicht (»Diese Seligkeit in diesem Leben hat ihre Stuffen / und nimmt je mehr und mehr zu«; zit. in 11.17 Peschke I, S. 105) und stimulierte so seine Mitarbeiter, Anhänger und sich zu einer unermüdlichen und nahezu unentgeltlichen Akkumulation von geistlichem Kapital, dessen Erwerb der diesseitigen Seligkeit dienen und obendrein in der Ewigkeit Zinsen tragen sollte (zum Verhältnis von >Pietismus und Frühkapitalismus in Preußen< vgl. III Hinrichs, S. 301 ff.; zu Franckes psychischer Disposition vgl. III Maier-Petersen, S. 251ff., 261ff.). Zugleich war der Begründer des Waisenhauses von einem starken Missionseifer erfüllt und wollte in einem >Seminarium universale< erzogene Adepten als Lehrer »in alle theile der Welt, und unter alle Nationen« senden, weil er im Wirken des Lehrstandes »das allervornehmste Mittel zu einer gründlichen Verbesserung in allen Ständen« erblickte (II Francke PSU, S. 109; vgl. dazu auch III Kantzenbach, S. 160ff.; Hinrichs, S. Iff.; Winter 1953; M. Schmidt 1984a, S. 270ff.). Gewiß darf hierüber der Gegensatz zur Aufklärung in der Einstellung gegenüber der Welt nicht übersehen werden: Die Pietisten suchten gleichsam das Jenseits im Diesseits zu leben, ihre Seligkeit sollte die weltlichen Freuden des Diesseits ausschließen (vgl. Kap. l b), während sich die Glückseligkeit der Aufklärung auf ein erfülltes psychophysi-

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sches Dasein in der irdischen Existenz bezog. Indessen fragt sich doch, ob sich bei der Hallenser Arbeits-Freude tatsächlich wie intendiert aller sensueller Genuß vom gottseligen Glücksgefühl ausschließen ließ. Richter, dem die Betrachtung der Unsterblichkeit - offenbar wie Brokkes! - stets eine »große Vergnügung« gewährte (II US, S. 227), beschrieb seine Glückserfahrung wie ein »unio«-Erlebnis als einen einmal initiierten, dann aber alltäglichen, psychophysisch wirkenden Kraftspender: »Insonderheit eröffnete sich einstens ein Quell unter meinem Hertzen / der wie ein Strom / herauf ins Hertz gestiegen: da denn gantze Fluthen solcher himmlischen Außgusse mein Hertz durchdrungen / und mich durch und durch in allen Gliedmassen des Leibes mit Kraft und Friede erfüllet. In dieser Quelle habe ich täglich empfangen Feuer der gottlichen Liebe / stete Ermunterung /Kraft / Durchbruch / Unterricht / Stille des Hertzens / u. a. m.« (II AD AC, S. 344f.; vgl. ebenso MHW, S. 290)

Wie unterschiedlich auch immer die frühaufklärerische Glück- und die pietistische Gottseligkeit in Arbeit und Muße empfunden worden sein mag: mit dem Anspruch darauf annullierten beide Reformbewegungen faktisch die für den Konfessionalismus noch sinnbestimmende, heteronome Eschatologie und erklärten für ihre Selbstbestimmung und Weltorientierung jene kristallinen Grenzen zwischen Himmel und Erde für obsolet, die ohnehin dem neuen physikalisch-astronomischen Wissen zum Opfer gefallen waren (vgl. V/2 Kap. I 2 a, b). Beide trugen damit zur Etablierung eines neuzeitlichen Verständnisses von Geschichte bei, in dem sich die Vergangenheit als »Erfahrungsraum« und die Zukunft als »Erwartungshorizont« in ein asymmetrisch-emanzipatorisches Verhältnis zueinander setzten und anstelle Gottes nunmehr der Mensch selbst zum »Subjekt der Geschichte« avancierte, wobei diese Geschichte zunächst noch unter dem Ideologischen Aspekt der Vervollkommnung menschlicher Möglichkeiten gedacht wurde (vgl. dazu auch II Schade GH, S. 303; zum neuen Geschichtsverständnis III Koselleck, S. 25ff.). 2) Die Religion, erklärte Blaise PASCAL (1623-1662), müsse den Menschen darüber belehren, daß er verpflichtet sei, Gott zu lieben, und »daß es unsere wahre Seligkeit ist, in Ihm zu sein, und unser einziges Unheil, von Ihm getrennt zu sein« (II, S. 101). Aus dem Nachdenken über die Bestimmung des Menschen und aus der Einsicht in die schwindelerregende Begrenztheit der menschlichen Vernunft und Existenz triumphierte bei dem Naturforscher und Jansenisten Pascal noch einmal die überragende Autorität des allein seligmachenden Gottes. Während der mittelalterliche Nominalismus - so bei Johannes Duns Scotus (1270-1308) - ebenso an der absoluten Kontingenz im Verhältnis zwischen Gott und Welt festhielt und der - wenn auch aus Liebe - häufig

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1) Pietismus und Aufklärung

zornige Gott auch bei Luther seine Geschöpfe erlöste, wo und wann er wollte (vgl. Bd. I, S. lOOf.), setzten Pietismus und Aufklärung dem ein deterministisches Gottesbild entgegen. Sei es, daß die göttliche Liebe (auch verstanden als aus- und überströmende Schöpferkraft) ihn zur ständigen Güte seinen Geschöpfen gegenüber nötigte, sei es, daß er als mechanischer Werkmeister das Universum aus deistischer Ferne nach unveränderlichen Gesetzen eingerichtet hatte: in jedem Fall war Gott auch wo er pantheistisch gedacht wurde - ein zuverlässiger, berechenbarer Garant der Seligkeit, um den man sich nicht mehr wie noch im Konfessionalismus sorgen mußte (vgl. dazu Bd. II, S. 17ff., 227ff.). Unberechenbar war dagegen der Mensch, die Sorge um Gewinn oder Verlust der Seligkeit verlagerte sich deshalb ganz auf ihn, er rückte ins Zentrum der pietistischen Religiosität. »Weit mehr als zuvor richtete sich das Nachdenken auf das eigene Ich, seine Grundbefindlichkeiten und seine Schwankungen, seine Sehnsüchte und Erwartungen, seine Beseligungen und Enttäuschungen« (III M. Schmidt 1984, S. 19; vgl. auch III Kaiser 1973, S. 13). So ermahnte Spener die Wiedergeborenen unermüdlich, »daß sie stets über ihre seelen wachen und bey jeglichem besondern wercke achtung geben / wie ihr gemuth dabey bewandt seye / und aus welchem brunnen das jenige fliesse / was sie itzo zu thun vornehmen« (NG, S. 480). Damit aber trieben er, Francke und andere Anhänger die schon in der Frömmigkeit des 17. Jahrhunderts - vor allem in der Barock-Mystik - angelegten Tendenzen der Autonomisierung religiöser Erfahrung und damit die Individualisierung und Ethisierung der Frömmigkeit zur Psychologisierung der Selbsterfahrung voran (vgl. 11.53 Müsing, S. 45ff.; Beyreuther, S. 93). Und damit liegt in dieser Frömmigkeitsbewegung mit den von Francke inspirierten Bekehrungsberichten und den frommen Selbstzeugnissen der radikalen Pietisten (vgl. II Reitz) die Wiege für jene hochdifferenzierte pietistische Psycho-Analyse, die sowohl den autobiographischen Roman (vgl. dazu III Niggl; K.-D. Müller, S. 145ff.; 11.44 Schrader, S. 175*ff.; III Schrader 1989, S. 280ff.) als auch die Anthropologie der Aufklärung maßgeblich beeinflußt hat (vgl. III Pfotenhauer, S. Iff.) und die dann als gänzlich säkulare >Erfahrungsseelenkunde< bei Karl Philipp Moritz an mancherlei Fallbeispielen der pietistischen Frömmigkeit wiederum den psychologischen Prozeß machte (zur literarischen Säkularisierung des Pietismus< vgl. III Ruh, S. 318). Dies unter der Devise: »Und was ist dem Menschen wichtiger als der Mensch?« (II Moritz MzE I, S. 7) Damit spielte Moritz zugleich auf die Losung der Aufklärung an, die Alexander POPE (1688-1744) in seinem berühmten >Essay on Man< formulierte: »Know then thy self, presume not God to scan; / The proper study of mankind is / «.«(II Brockes P,

b) »Glückseligkeit« und »Gottseligkeit auf Erden«

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S. 32; vgl. dazu auch IV Browning, S. 17ff.) Da der Mensch, so zeigte Pope im ersten Brief seines großen Lehrgedichts, nur eine eng begrenzte untere Stelle in der großen >Kette der Wesen< einnahm, reichten seine theoretischen und praktischen Fähigkeiten auch nur »Zum Stande, wozu er erlesen, / Und zu dem Ort, der ihn umschränkt« (ebda., S. 9). Solche Mahnung zur Bescheidenheit angesichts des winzigen Planeten Erde im unendlichen Kosmos und der begrenzten Vernunft des Menschen war weit verbreitet in der Aufklärung (vgl. III Lovejoy, S. 154ff., 241 ff.) und konvenierte durchaus mit Vernunft-Kritik und Demutspostulat des Pietismus. Und daß Pope schließlich die wahre Seligkeit des Menschen in der Tugend erblickte -»Know then this truth (enough for man to know)/ VIRTUE alone is Happiness below« (II Brockes P, S. 116) -, entsprach der pietistischen Betonung von Ethik und Frömmigkeitspraxis. Doch so wie andererseits und zugleich die Demut im heimlichen Dienst frommer Deifizierung stand (vgl. Kap. l c, 3), so reklamierten auch die Aufklärer angesichts des außerordentlichen Erkenntniszuwachses über Welt und Mensch den theologischen Topos von der Gottebenbildlichkeit und das von der Renaissance entworfene Selbstporträt vom Menschen als »Gott auf Erden« für sich (vgl. dazu IV Kemper I, S. 181 ff. u. ö.; V/2 Kap. I 2 c). Selbst dort, wo sie die Existenz Gottes zu beweisen versuchten, wie in der Modeerscheinung der Physikotheologie (vgl. V/2 Kap. I 2), betrieben sie »in Wirklichkeit« »eine Verherrlichung des Menschen« (III Lovejoy, S. 225). Das Nachdenken über ihn, seine Herkunft und seinen Standort in der Welt beherrschte - programmatisch gestaltet im Titelkupfer zum dritten Band von Brockes' >Irdischem Vergnügen in Gott< von 1728 (vgl. Abb. 1) - auch bereits die Köpfe der Frühaufklärung und war ein deutliches Zeichen dafür, daß die alten Antworten, welche die Kirche von der Kanzel predigte, vielfach nur noch als Schlafmittel wirkten, wie der bekannte Kupferstich >The Sleeping Congregation von William HOGARTH (1697-1764) in drastischer Satire verdeutlicht (vgl. Abb. 2 aus II Hogarth, S. 87; zu Hogarths Popularität in Deutschland vgl. 11.27 Antal, S. 206). Doch gerade den Pietismus darf man nicht ebenfalls pauschal und unbesehen unter dieses Verdikt subsumieren. Für Spener und seine Anhänger leiteten sich nicht nur Glaube und Frömmigkeit, sondern auch alle Theologie und Wissenschaft nicht wie für die Orthodoxie aus tradierten und autoritativ vermittelten Dogmen her, sondern aus der je eigenen Erfahrung, weshalb Theologie für ihn auch Erfahrungswissenschaft im modernen Sinne war (vgl. 11.53 Hirsch, S. 37). 3) Das auch schon von den Spiritualisten des 17. Jahrhunderts praktizierte Verfahren, die Verkündigung der Kirche an der religiösen Selbst-

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1) Pietismus und Aufklärung

Abb. l

b) »Glückseligkeit« und »Gottseligkeit auf Erden«

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Abb. 2

erfahrung zu prüfen (und zu verwerfen! Vgl. Bd. III, S. 48f.), nahmen insbesondere die Frühpietisten geradezu exzessiv als Recht für sich in Anspruch, gerieten damit zwangsläufig in Auseinandersetzungen mit der Orthodoxie und wurden in diesem Kampf gegen die Autorität zu Verbündeten der Frühaufklärung (vgl. dazu auch III Kantzenbach, S. 162ff.). - Schon in den >Pia desideria< attackierte Spener - damit ebenfalls das Ende des Konfessionalismus signalisierend - die Vorliebe der >Rechtgläubigen< für die »controversien«: Sie »meynen / es seye der sachen stattlich gerathen / wo wir nur wissen / wie Papisten / Reformirten / Wiedertäuffern / &. auff ihre irrthume zu antworten seye« (PD, S. 20), und bringen ihrer Gemeinde anstatt des wahren Glaubens nur »eine ziemliche wissenschafft der Religions = Streitigkeiten« und den Hang, »mit ändern zu disputiren«, bei (ebda., S. 27). Zwar blieb das Papsttum - einschließlich der in vielen Anschauungen verwandten, nach

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1) Pietismus und Aufklärung

Aufhebung und Zerstörung ihres Zentrums Port Royal (1709/10) von Vernichtung bedrohten Jansenisten - das »hochmuthige Babel« (NG, S. 423f.; vgl. K, S. 140, 203f.; 11.53 Beyreuther, S. 73ff.), dennoch war es ein bedeutender Fortschritt, daß Spener die im Konfessionalismus erzeugten und personalisierten Feindbilder widerrief und ausdrücklich erklärte, »der rechtmässige haß der Religion« dürfe die dem einzelnen Religionsangehörigen »schuldige liebe weder auffheben noch schwächen« (PD, S. 63). Und wie später Lessing verwies er für den interkonfessionellen Umgang auf das Testament des Johannes, der immer nur gepredigt habe: »Kindlein liebet euch unter einander« (ebda., S. 61; vgl. II Lessing TJ, S. 19). Und wenn Spener riet, mit eigenem guten Beispiel in der »praxis pietatis« voranzugehen, und daran die Hoffnung knüpfte, »daß mit heiligem eiffer gleichsam in die wette die gesamte auß Juden und Heyden versamlete Kirche GOtt in einem glauben und dessen reichen fruchten dienen / und sich aneinander erbauen werde« (ebda., S. 45), dann wetteiferte er immerhin ein Jahrhundert vor Lessings Ringparabel bereits mit der Toleranzidee der Aufklärung! Gegen die »Allianz von Thron und Altar« (vgl. Einleitung c) erhob Spener dagegen den Vorwurf des Amtsmißbrauchs sowohl der Kirchen wie der Regenten, welche das Kirchenregiment »durch eine unverantwortliche Caesaropapiam mißbrauchen« und Reformen »muthwillig hindern« (PD, S. 15; vgl. auch K, S. 348ff., 356f.). Deshalb wollte Spener im Gegensatz zur Reformorthodoxie der ersten Jahrhunderthälfte bei seiner Reform auf den kirchlichen Machtapparat verzichten und diese allein mithilfe der »Aktivität wiedergeborener Prediger und Laien« durchführen (III Wallmann 1979, S. 29). Mit seiner Forderung nach »Übung der gottseligkeit« (PD, S. 21) als Haupt- und Kernstück der Reform stellte er zugleich die Seelsorge als eigentliche Aufgabe von Theologie und Kirche ins Zentrum und entwertete und unterhöhlte mit der Marginalisierung von Lehrartikeln und amtlichen Funktionen der Kirche deren gesellschaftliche Machtposition. Daß die Theologie sich nur um das Seelenheil der Menschen kümmern solle, war auch die entscheidende Forderung der Frühaufklärer von Pufendorf und Thomasius bis zu Wolff und Gottsched (vgl. V/2 Kap. I 2 a; 3 a, c). Kein Wunder, daß der Hamburger Hauptpastor und Kieler sowie Greifswalder Theologieprofessor Johann Friedrich MAYER (1650-1712) die Pietisten, gegen die er einen großen Teil seiner 581 Schriften richtete, folgendermaßen charakterisierte: »es sind Schwärmer, so unter dem Schein der Gottseligkeit die reine wahre Lutherische Religion verfolgen, den hochheiligen Grund derselben und der daraus gezogenen Lehren, als auch lobliche Gottes Wort gemäße,

b) »Glückseligkeit« und »Gottseligkeit auf Erden«

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höchst = nothige Ordnungen über den hauffen werffen, in der Kirche allen Ketzern Thur und Thor Offnen, sich ihrer annehmen und sie vertheidigen, einem ieden Freyheit zu glauben was er wolle verstatten, mit ihrer Scheinheiligkeit aber die armen Seelen bezaubern, daß sie bey den offenbahren Unwahrheiten und Betrügereyen . . . denn mit ihnen zur ewigen Verdammnis eilen.« (Zit. in II Walch RIK I, S. 821 f.)

Infolgedessen stemmte sich die Orthodoxie dem rasch und zum Teil mit aggressivem Reformeifer um sich greifenden »Spenerismus« mit dem in der Epoche des Konfessionalismus bewährten Machtinstrumentarium entgegen, indem sie ihn zunächst einer Fülle von Lehrirrtümern bezichtigte: auf 284 brachte es 1695 die erzkonservative Theologische Fakultät von Wittenberg, auf 150 der Danziger Theologieprofessor und Pietistenhasser Samuel SCHELWIG (1643-1715), der obendrein 1696/97 eine dreibändige dogmatische Abrechnung mit der >sectirischen Pietisterey aus D. Speners und seines Anhangs Schriften< vorlegte (vgl. II Walch RIK I, S. 746; III M. Schmidt 1984, S. 11). Vor allem identifizierte man die Pietisten mit den dominierenden Häresien der mystischen Tradition und etikettierte sie als Schwenckfeldianer, Weigelianer und Böhmisten bzw. als Indifferentisten, Enthusiasten, Chiliasten, »fanatici«, Quäker und »falsche Mystici« (vgl. III H. Schneider 1982, S. 17f.; II Walch RIK I, S. 616ff., 746ff. u. ö.), die für ihre Heterodoxie und ihre separatistischen Neigungen harte Strafen verdienten, ja man erblickte in ihnen Nachfahren des radikalen Flügels der Reformation (vgl. dazu Bd. I, S. 21 Of f.) und ermunterte mit dem >figuralen< Hinweis auf das Schicksal Thomas Müntzers und des Täuferreichs von Münster die Obrigkeit nachdrücklich zum Eingreifen mit dem Schwert: »Schützt GOttes Kirch / das Schwerdt ist auch drum angegürt' / Den Scepter haltet vest den ihr in Händen führt Kein Ordnungs-Feind kan euch um eure Würde bringen / Und kan kein Pietist euch eure Macht abzwingen / Ein Knipperdolling weich von eurem hohen Thron / Ein Jean von Leiden krieg das Schwerdt und Flamm zum Lohn Und was nicht leben will in Kirch und Policey / Dem zeige eure Macht daß er ein Müntzer sey.« (Christian Gottlieb von Rauchbar zu Lengefeld, 1710; zit. in III H. Schneider 1982, S. 18)

Tatsächlich kam es verschiedentlich auch zu harten Verfolgungen der Pietisten (vgl. auch V/2 Kap. II 2 a). In Hamburg z. B. wurde der des »Böhmismus« verdächtigte Pfarrer Johann Heinrich Horb (1645-1695) (ein Schwiegersohn Speners) von einem vor allem durch die Predigten seines Amtskollegen Johann Friedrich Mayer aufgehetzten »Pöbel« mit

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1) Pietismus und Aufklärung

dem Tod bedroht und mußte aus der Stadt fliehen (vgl. dazu II Walch RIK I, S. 616ff., 638ff.). Insgesamt allerdings - und auch das war Ausdruck des Epochenwandels - mußte die Orthodoxie zum ersten Mal erfahren, daß ihre Machtinstrumentarien wenig fruchteten, daß vielmehr Spener als unermüdlich tätiger »Melanchthon« des Pietismus sein Elitechristentum wie ein trojanisches Pferd unaufhaltsam in die Kirche zog. Vor allem an seiner letzten Wirkungsstätte in Berlin war Spener sehr erfolgreich tätig, griff selbst die Orthodoxie - u. a. in der Frage der »Hoffnung besserer Zeiten« - an (vgl. 11.53 Wallmann 1987, S. 82f.), arbeitete klug mit der Kirchenverwaltung des reformierten Berliner Hofes zusammen und sorgte u. a. dafür, daß so mancher außer Landes angefeindete Pietist (darunter auch der aus Leipzig vertriebene Francke) in Brandenburg eine Anstellung erhielt, während Spener selbst - von Ludwig Feuerbach noch als »religiöser Demokrat« gelobt (vgl. II, S. 76) den Orthodoxen den Zugang zu den kirchlichen Ämtern nach Möglichkeit erschwerte (vgl. 11.53 Wallmann 1987, S. 78). Besonders in der Anfangsphase - bis etwa 1710/20 - verfolgten die Vertreter der Frühaufklärung den Kampf der Pietisten überwiegend mit Anteilnahme und Sympathie. So engagierte sich - um ein poetisches Beispiel zu erwähnen - der Leipziger Poesieprofessor und mehrmalige Rektor der Universität Joachim FELLER (1638-1691; vgl. zu ihm 11.14 Breymayer) zusammen mit seinem Schwager Christian Thomasius für August Hermann Francke in den Leipziger Streitigkeiten (vgl. dazu Kap. 2 c). Bei deren Ausbruch 1689 bezeichnete Feller sich als »Biblista und Pietista« und bekannte öffentlich in einem Gelegenheitssonett: »Ich selbsten will hiermit gestehen ohne Scheu / Daß ich ein Pietist ohn schmeich- und heucheln sey«. In einem weiteren Sonett auf den Tod eines pietistischen Studenten im selben Jahr verwies Feller bereits auf die Bekanntheit der neuen Bezeichnung »Pietist« (vgl. dazu auch III Schrader 1989, S. 360ff.) und attackierte das bloße »Maul-Christentum« der Orthodoxie: »ES ist ietzt Stadt-bekannt der Nahm der Pietisten; Was ist ein Pietist? der Gottes Wort studirt / Und nach demselben auch ein heiiges Leben führt. Das ist ja wohl gethan / ja wohl von iedem Christen. Denn dieses machts nicht aus / wenn man / nach Rhetoristen Und Disputanten Art / sich auf der Cantzel ziert. Und nach der Lehre nicht lebt heilig / wie gebührt / Die Pietät die muß vor aus im Hertzen nisten.« (Zit. in III Breymayer, S. 88f.)

c) Der pietistische Kampf gegen die Welt

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Indessen kannte Feller zu diesem frühen Zeitpunkt auch bereits die orthodoxe Polemik gegen die neue »Secte«: »Zwar wer der Gottesfurcht will rechte Sorge tragen / Und sich vor ändern hilt in Lehr und Leben rein / Da heist es bait: Es ist ein blosser Heuchel = Schein / Und was solt dieser uns von Christen = Wandel sagen? Laß aber dir die Welt / mein Hertz / nicht machen Leid / Und sorge täglich ja vor deine Seligkeit.« (In: II Schade GH, S. 3)

Je mehr sich der Pietismus zu etablieren vermochte, desto mehr nahm er nun freilich selbst dogmatische und orthodoxe Züge an und desto stärker suchte er sich nicht mehr nur gegenüber der Orthodoxie, sondern auch gegenüber der Frühaufklärung abzugrenzen, ja deren >weltliche< Tendenzen zu verfolgen und zu unterdrücken. Die inhaltlichen Divergenzen und Spannungen zwischen beiden Reformbewegungen waren allerdings in der Tat - wie die folgenden beiden Abschnitte zeigen sollen nicht minder fundamental als die >epochalen< Gemeinsamkeiten. c) Der pietistische Kampf gegen Welt und (Mit-)Mensch, Poesie und Phantasie (Spener, Schade, Winkler, Richter, Neumeister, Hunold u. a.) Während die Schulphilosophie der Aufklärung die angestrebte Seligkeit in der Welt zu verwirklichen trachtete und diese deshalb auch als beste aller möglichen aufzuwerten suchte (vgl. dazu V/2 Kap. II 2 c), erblickte ein Teil der pietistischen Bewegung sein Heil umgekehrt nur in einer Abkehr von ihr, ja im Kampf gegen den als Gegensatz zum Geist Gottes verstandenen »welt = geist« (II Spener NG, S. 648; vgl. auch den Artikel >Weltgeist< in II Walch PL II, Sp. 1540ff.) und folglich gegen die Aufklärung selbst. Deren programmatischen Hauptbegriff ~>Natur< definierte Spener 1687 als »die krdffte des menschen / wie sie noch nach dem fall übrig sind«, und zwar »mangelhafft und mit sunden beflecket«, und »die daher dem heiligen und gerechten GOtt nicht gefallen« können (II NG, S. 469f.). »Wir sind«, dichtete entsprechend der brandenburgische Pfarrer Christian PRESSO (gest. 1729; Verfasser der >Neuen christlichen Gesänge über die Sonn= und Festtags = EvangelienGeistlichen Ode< dem Schöpfer für das kostbare Gut der »ratio« dankte (»Von dir empfing ich den Verstand:/ Welch ungemeines Unterpfand, / Das mich zum Menschen machet!« II SKG, S. 65), hatten für Zinzendorf die »rauhen winde vernunftger gründe« bei einem Leben mit dem »bräutgam« Christus nichts zu suchen, und angesichts der Erkenntnisschwäche und Machtlosigkeit der Vernunft galt es, das auf sie sich gründende stolze Selbstbewußtsein auf den Nullpunkt zu bringen: »Ach daß ich die kraft empfieng, / und auch mochte so gering / stets in meinen äugen bleiben, / mich vor eine null anschreiben!« Speners Mitarbeiter Johann Caspar SCHADE (1666-1698) opferte den Eigenwillen ebenfalls vollkommen dem göttlichen auf: »Mein verkehrter fleisches = wille müsse angenagelt seyn, daß er sterb und stille werde, was an mir noch heisset mein; dein will, der allein ist recht, muß der meine werden schlecht, daß ich, was du wilt, beliebe, leide, preise, woll und übe.« (II Zinzendorf I, S. 434)

Bereits Jahre vor der 1705 entstandenen >Theodizee< von Leibniz, in der Gott für sein Werk gleichsam vor den Richterstuhl der menschlichen Vernunft gestellt und gnädig freigesprochen wurde (vgl. V/2 Kap. II 2 c), attackierte Schade heftig die rationale Gotteserkenntnis der Aufklärung als blasphemische Selbsttäuschung: »War doch diß kein GOtt zu nennen, / der Vernunft sich fassen ließ, / und sein werk von ihr erkennen, / welcher thäte was sie hieß« (II Zinzendorf I, S. 434). Gott und Welt erkennen zu wollen, war Ausdruck von »hochmuth / eigener ehr und liebe« und damit Kennzeichen der aus der Verführung zum »eritis sicut Deus« entsprungenen faustischen Sünde menschlicher »superbia«. Zur Verteufelung des Intellekts gesellte sich - erst recht! - die der Bedürfnisse und Begehrlichkeiten des Leibes: »Laß dem fleische nicht den willen: gieb der lust den zügel nicht. Wilt du die begierden füllen, so verloscht das gnaden = licht.« (So der Magdeburger Domprediger und Spener-Freund Johann Joseph WINKLER, 1660-1722; ebda. S. 230). Selbst bei der Befriedigung der Grundbedürfnisse von Essen und Trinken lauerte ständig die Sünde der Wollust, vor der man sich zu schützen hatte, indem man die Nahrung nicht nur zur Erhaltung des Leibes, sondern zum Preise Gottes einnahm (vgl. 11.17 Peschke I, S. 92). Der natürliche Mensch, so lehrte Francke, befindet sich auf dem Weg ins Verderben. »Er hat sich der >Lust-Seuche< ergeben, so daß er >seinen Leib, so zu sagen, zu einem Cloac macht, in welches der Satan allen seinen Unflath und Unreinigkeit ausschütten kanJesus bei HofeFasciculus cantionumHilf Gott, wie gehts doch ietzo zu?Glaubensgrund< ein Märtyrer-Denkmal (vgl. PS. 22): »5 Laß kommen, was da will, Laß alle Spötter rasen, Laß schwarze Nachred auch Mit vollem Munde blasen Ihr tödtliches Vergift: Laß Kinder, Mann und Weib Mir treten auf den Kopf, Mir speien auf den Leib. 9 Und so denn Jemand fragt: Warum muß dieser leiden? Wo ich noch reden kann, Will ich ihm dies bescheiden: Drum, daß er lieber wollt Erfahren Spott und Pein, Als wider seine Treu Ein Lügenredner sein. 10 Dies ist mir ein Gesetz: Ich wollt den Tod erkühren, Eh daß mein mund und Herz Die Wahrheit sollt verlieren: Viel lieber soll mein Leib

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Ohn Haupt sein dargestreckt, Als meine Seele mit Treulosigkeit befleckt.« (I Pressel, S. 571)

Solch radikaler Fundamentalismus, der seine Überzeugungen ohne jeden Abstrich verwirklichen wollte und dabei an den vielen Unwürdigen und Durchschnittlichen scheiterte, wandelte mit der Bereitschaft zum Selbstopfer (in der vollkommenen »imitatio Christi«) dieses Scheitern der Gesellschaft damit zugleich die alleinige Schuld zuweisend - in einen Sieg der eigenen Sache und damit in Selbstbestätigung um. Das war ein Verfahren, das u. a. auch Luther mit seinem ersten Kirchenlied praktiziert (vgl. Bd. I, S. 175ff.) und das sich im prophetischen Selbstverständnis der spiritualistischen und mystischen Außenseiter des 17. Jahrhunderts fortgesetzt und dabei vielfach bereits gegen die sich auf Luther berufende Kirche gerichtet hatte (vgl. Bd. III, S. 23, 50ff., 136ff., 245ff., 279ff.); ein Konflikt zugleich, der sich bis hin zu den (scheiternden) Sturm und Drang-Genies immer dann wiederholen sollte, wenn geisterfüllte Individualität um der Wahrung ihrer Identität willen die eigenen Ideale kompromißlos gegenüber der Gesellschaft zu behaupten und durchzusetzen versuchte (vgl. dazu auch Kap. 3 f). So schienen die ersten pietistischen Reform-Erfahrungen mit den »schein = und maul = Christen« der lutherischen Konfession die Forderungen der Radikalpietisten nach vollständiger Separation zu bestätigen. In diesem Sinne sang Gottfried ARNOLD der Kirche sein berühmtes >Babels Grab = Lied< und wandte sich damit zugleich kritisch an die reformwilligen Spener-Anhänger: »5. Seht ihr noch nicht / daß ihr gar nichts außricht / Ihr / die ihr sie so gerne wollet heilen? Wollt ihr in dem Pest-Hause noch verweilen? Seht / daß euch ja der Patiente nicht den Halß noch bricht. 6. Man siht den Greul / der Boßheit starcke Seul. O pfuy wie stinckt die Hure hier auff Erden! Wie soll sie nicht ein Abscheu Engeln werden? Wenn sie entdeckt von so gar langer Weil der Boßheit Greul. 7. So lasst sie gehn / und ihrem Richter stehn! O reisset Band und Pflaster ihr vom Leibe / damit sie bloß und nackend stehen bleibe! Die Schande muß der gantze Himmel sehn. Drum laßt sie gehn!« (II Arnold GLF, S. 276f.)

Spener indessen sah in der Separation einen alle Kirchenreform verhindernden Irrweg, und er durchschaute das aus der Trennung erwachsende psychologische und soziale Problem, daß sich nämlich »unter gantz wenigen solchen abgesonderten personen« alsbald erneut »un-

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einigkeit erzeigen« werde, so daß dadurch ein unausgesetzter und nicht mehr kontrollierbarer Spaltungsprozeß die innere Einheit der Kirche völlig auflösen würde (vgl. II K, S. 236). So beharrte er bei allem Verständnis für die Furcht der Wiedergeborenen, nicht zugleich mit den Kindern des Satans Glieder des einen Leibes Christi sein zu können (ebda., S. 261 ff.), auf dem Verbleib in der »wahren obwohl verderbten Kirche« (ebda., S. 178) und verwies dazu u. a. auf das Vorbild Jesu und seiner Jünger, die ebenfalls im »pharisäischen« Judentum ihrer Zeit ausgeharrt hätten, auf Jesu Lehre vom gemeinsamen Wachsen von Unkraut und Weizen bis zum Jüngsten Gericht (ebda. S. 232) sowie auf die gebotene Nächstenliebe, welche sich unentwegt um eine Besserung der äußerlichen Kirchen-Christen bemühen müsse. Dennoch errichtete er starke Barrieren zwischen den Wiedergeborenen und den Unwürdigen, ließ soziale Kontakte nur bei aufgezwungenen beruflichen Verpflichtungen zu und verbot geradezu jegliche Freundschaft zwischen diesen Gruppen (K, S. 196, 217, 283f.; NG, S. 504ff.). »Allein und einsam«, assistierte der Junggeselle Schade, »ist zuträglicher als in Ermangelung guter Gesellschaft der BOsen sich bedienen. Daß du gar mit denen Gottlosen Gemeinschafft habest und gnaue (!) Freundschafft haltest / ist einem rechten Christen so ungereimet / als ob das Schaaf mit dem Wolffe sich verbünde.« (II GH, S. 106) - Auch bei der Nächstenliebe war zwischen spontaner Zuwendung und wahrer geistlicher Liebe »genau acht zu geben, damit man keinen mißgriff thue / und vor gnadenwercke halte / was warhafftig alleine von der natur kommet« (II Spener NG, S. 592): eine schwere Hypothek im Blick auf einen vorurteilsfreien, natürlichen Umgang innerhalb der Sozietät und auf eine aus mitleidigem Affekt erwachsende Ausübung der Nächstenliebe, welche in der Aufklärung ebenso wie bei Rousseau oder im Sturm und Drang als Naturgesetz verstanden wurde (vgl. dazu Bd. VI). Die Beziehungen und Freundschaften der Wiedergeborenen untereinander dagegen schätzte Spener noch höher ein als die Bande von Blutsverwandten, weil ihre Verbindung bis in die Ewigkeit hinein fortdaure (NG, S. 643f.): »Dahero es nicht unrecht ist / daß in diesen dingen ein Christ sich in seiner seelen genauer vereiniget mit dem jenigen / der ihn von haut und haar nicht angehet / aber aus der Wiedergeburt sein bruder ist / als mit seinen fleischlichen und fleischlich = gearteten freunden: ziehet deswegen auch in gewissen stucken jene diesen vor / triget mehr und inniglicher vertrauen gegen sie / und wurde sich ehe von diesen als von jenen trennen.« (Ebda., S. 644)

Mit diesem exzeptionellen, im Gnadenstand fundierten Freundschafts-Kult förderte Spener - sozialpsychologisch betrachtet - die Etablierung einer neuen Gruppenidentität, die sich nach dem In-

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group/Out-group-Verhalten zumeist auf Kosten von Vorurteilen gegenüber der größeren Gruppe der >anderen< herausbildet (vgl. III Lehmann 1977/78, S. 67; Maier-Petersen, S. 43ff.), und bei dieser »geistlichen Sympathie und geheimen regung« zwischen denen, in denen »Gott selbs« »ist und wohnet« (II Spener NG, S. 646f.), durfte sich die ansonsten verbotene affekthafte Spontaneität entfalten. Denn in dieser Zuneigung liebten die Wiedergeborenen Gott »in seinem kinde« (ebda., S. 647f.) und damit liebte die göttliche Liebe sich selbst: kein »amor intellectualis«, aber doch ein »amor sensualis Dei, quo Deus se ipsum amat« (vgl. II Spinoza E, S. 389; vgl. dazu IV Kemper I, S. 84). Aber ebenso liebte auch jeder Pietist sich in dieser Freundschaft, weil er in der ständigen doppelten Gefahr sozialer Isolierung und innerer Zweifel über die eigene Erwähltheit (vgl. Kap. l d) Vertrauen und Bestätigung durch den Gleichgesinnten für Selbstkonstituierung und Ich-Identität brauchte (vgl. dazu auch III Maier-Petersen, S. 52ff.). Die pietistische Freundschaft stützte sich freilich zunächst noch nicht auf ein Individualitätskonzept, sondern auf die gleiche Gesinnung, stärkte damit die Gruppenkohärenz und erleichterte die Überwindung ständischer Grenzen: Herzens-Adel wurde schon hier wichtiger als Geburts-Adel. - Dieses Modell einer göttlichen Liebesgemeinschaft nahm zum Teil bürgerlichfamiliale Affektbeziehungen im religiösen Gewände vorweg und führte zu ihnen hin (vgl. ebda., S. 89ff.), und nicht zuletzt deshalb besaß es auch für die Gruppenkultur seit der Empfindsamkeit und für die poetischen Feiern der »heiligen Freundschaft« eine nachahmenswerte Attraktivität (vgl. III Rasch, S. 36ff., 152ff.). Die literarischen Freundschaften hatten häufig angesichts sozialer Isolierung die Pflege eines In-group-Verhaltens mit der in solchen Freundschaften gewährten Selbstbestätigung, aber auch Hilfe zum Ziel, und vielfach dominierte hier ebenfalls die Gesinnung, und diese erleichterte die schnellen - oft nur postalisch gepflegten - Freundschaftsschlüsse: Das Gefühl der Empfindsamkeit war oft in der Tat noch »Organ für die Wahrnehmung moralischer Qualitäten« (III Luhmann 1982, S. 145; vgl. dazu auch III S. J. Schmidt, S. 102ff.; V/2 Kap. II 3 a). Indessen stellte der Pietismus doch auch im Konzept der - vor allem im radikalen Separatismus und bei den Herrnhutern gepflegten - Herzensfreundschaften mit Jesus den Modellfall einer emotionalen Individualisierung und damit privaten, sich autonomisierenden Freundschaft bereit, bei deren säkularer Adaption in der zweiten Jahrhunderthälfte aber die Regungen der >Natur< anstelle der Gnade die göttliche Privilegierung erhielten (vgl. Bd. VI).

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Die Pietisten erkannten früh die Gefahr, daß Poesie und Kunst - so 1699 Gottfried VOCKERODT (1665-1727) - »das schöne« zu einem »sonderbaren Gut/ das ist/ zu einem Neben = Gott« erhoben (zit. in III Martens 1989, S. 44), und bekämpften deshalb - im Unterschied zur Orthodoxie, welche die >artes< zu den >adiaphoraAnleitung oder Unterricht / wie man die Bibel mit Nutzen und Erbauung lesen soll< (1691) drohte er allen Menschen, die der Heiligen Schrift »heidnische Bücher und fürwitzige Künste vorziehen«, Gotte werde »diesen Ungehorsam mit Krieg / Hunger / und Pest / ja mit ewiger Verdamniß und höllischem Feuer zu straffen wissen« (zit. in III Martens 1989, S. 57, 89; vgl. ebda., S. 34, 91), ja er wollte auch »das Schertzen / und Kurtzweilen« nicht dulden, »weil es Sunde ist« (II Schade F, S. 65f.). - Joachim Justus BREITHAUPT (1658-1732; seit 1691 Theologieprofessor in Halle) faßte die Ablehnung der schöngeistigen Literatur - und damit auch der Romane, deren Nutzen Thomasius in seinen >Monatsgesprächen< noch so betont hatte - sogar in Verse: »O! die heßlichen Romanen wollen wider allen Danck Selbst das Christen - Volck besudeln; weg! mit diesem Gift und Stanck! Euch scheint itzt das Gnaden - Licht: Saugt Ihr aus Gomorrha Schriften Gift = gemischten Zucker ein? Seel und Geist euch zu vergiften? Die verdammten Geilheits-Pfeile kützeln Augen, Hertz und Brust! Was euch auf den Tod verwundet, ist das wahre Christen «= Lust? Wißt, daß, was der Schwindel-Geist auf das weiße Blat hinschreibet, Euch durch Hertz und Leber sticht, und den Heilgen Geist vertreibet.« (Zit. in III Martens 1989, S. 91)

Hier stimmte immerhin ein Teil der Orthodoxie zu, wie etwa Gottfried Ephraim Scheibeis Pamphlet gegen >Die Unerkannte Sunden der Poeten< bezeugt (vgl. II Scheibel; dazu Bd. IV). Erst in diesem Kontext werden das provokative Ausmaß und die säkularisierende Funktion der frivolen galanten Poesie aus dem Umkreis der Hofkultur und der späteren bürgerlichen Anakreontik ganz begreiflich (vgl. V/2 Kap. II 4).

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Zwei Beispiele mögen hier aber auch den beträchtlichen, vom Pietismus ausgehenden öffentlichen Druck auf die >galanten< Poeten illustrieren. Erdmann NEUMEISTER (1671-1756) studierte in Leipzig Theologie und bewarb sich dort 1695 mit der Habilitationsschrift >De Poetis Germanicis Hujus seculi Compendiaria< um die venia legendi für deutsche Dichtkunst. In diesem alphabetisch angelegten Kompendium beurteilte er die Dichterinnen und Dichter des 17. Jahrhunderts nur im Blick auf ihre poetischen Qualitäten, enthielt sich also aller weltanschaulichen Kritik. So lobte er häretische Mystiker wie Angelus Silesius, Czepko oder Anna Ovena Hoyers und räumte gleichzeitig Hoffmannswaldau die Vorrangstellung unter den Poeten ein, während er die Nürnberger Birken und Klaj, aber auch die Greiffenberg oder Quirinus Kuhlmann aus stilistischen Gründen tadelte (vgl. II Neumeister). Anschließend hielt er Poetik-Vorlesungen, entschied sich dann aber vorwiegend um einer gesicherten Versorgung willen für den Pfarrdienst, übernahm seit 1697 verschiedene Predigerstellen und wurde 1706 Superintendent beim Grafen Erdmann II. von Promnitz-Sorau in Sorau (Niederlausitz; vgl. dazu auch 11.38 Heiduk, S. 507ff.; Krausse, S. 135ff.), der sich zunehmend pietistischen Einflüssen öffnete. Ausgerechnet in dieser Zeit publizierte MEN ANTES (d. i. Christian Friedrich Hunold, 1681-1721) angeblich ohne Wissen und wider den Willen Neumeisters dessen Leipziger poetologische Vorlesungen mit dem Titel >Die Allerneuste Art, Zur reinen und Galanten Poesie zu gelangen< (Hamburg 1707, 6 Auflagen). Auch die darin enthaltenen praktischen Beispiele stammten aus der Feder des Pastors (vgl. I Wiedemann, S. 91ff., 115ff.) und zeugen, ohne »lasziv« zu sein (vgl. 11.38 Krausse, S. 139), doch »von einer, bei einem so kirchlich gesinnten Manne überraschenden Weltfreudigkeit und Genußsucht« (11.38 von Waldberg, S. 544). So geriet Neumeister nun in eine erbitterte Auseinandersetzung mit den Pietisten, wurde mehrfach vom Amt suspendiert und mußte schließlich das Feld ganz räumen. 1715 nahm er eine Berufung als Pastor primarius an St. Jakobi in Hamburg an, wo er bis zu seinem Tode wirkte. In dieser Zeit entwickelte er sich auf der Kanzel und in den rund 200 publizierten Schriften (vgl. das >Literaturverzeichnis< in II Neumeister, S. 513ff.) »mit einem fast maßlosen Zorne und unbarmherziger Rücksichtslosigkeit« zu einem der erbittertsten Streiter gegen den Pietismus, namentlich auch gegen dessen Lehre von der »Hoffnung besserer Zeiten« (vgl. Kap. l b) und gegen den »Pietistischen Unfug Thomasischen und Spinosischen Giftes« (zit. in 11.38 von Waldberg, S. 547; auch im Blick auf die unmittelbare Nachbarschaft der Hamburger >Naturmaler< und Hagedorns wäre eine nähere Untersuchung seiner Position wünschenswert). Seine >galante< Vergangenheit,

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die ihn allerdings in den Gedichtanthologien von Neukirch (hier vor allem Bd. II), Menantes und Uhse immer wieder einholte, war ihm begreiflicherweise verleidet, und er hat sich später nicht mehr zu ihnen bekannt (11.38 von Waldberg, S. 544). Umso eifriger widmete er sich stattdessen dem geistlichen Lied - noch im heutigen >Evangelischen Gesangbuchs sind vier Texte aus seiner Feder verzeichnet -, pflegte neue Formen des Kirchenliedes und insbesondere auch die Kirchenmusik, wobei er die geistliche Kantate zum Ärger mancher orthodoxer Zeitgenossen durch Anlehnung an die Oper modernisierte. Seine Kantaten wurden auch von Telemann, Mattheson und J. S. Bach vertont. Vom geistlichen Poesie-Verdikt des Pietismus und von dessen kompromißlosem Seelen-Zwang her erklärt sich - dies das zweite Exempel die öffentliche Bekehrung und Abbitte des galanten Sünders MENANTES nach seiner Anstellung als Dozent in Halle (1708). In der ersten Auflage seiner >Galanten, Verliebten, Sinn- Schertz- und Satyrischen Gedichtem (1702) hatte er noch ans Pornographische grenzende Wunscherfüllungsphantasien geträumt (so im folgenden Gedicht >Er ist glücklich im SchlafeVorrede< seiner 1713 erschienenen >Academischen

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Neben = Stunden allerhand neuer Gedichte< bekannte er: »Tugendhaffter Leser / ich wünschte / daß viele meiner Schrifften in ihrer ersten Gebührt erstickt wären.« (ANS, S. A 3) Mit seinen galanten Gedichten habe er die Jugend zur Sünde verleitet und überdies mit der Vergötterung der Geliebten und der Anrufung des Himmels »die Heiligkeit Gottes schändlich gelästert: Alle Liebe muß keusch seyn und keusch ausgedruckt werden. Meine Fehler bekenne ich / und bitte solche hertzlich ab« (ebda., S. B l v/r). Entsprechend dichtete er im ersten Band seiner >Auserlesenen . . . Gedichtet »Das Hertze thut mir weh; es zittern alle Glieder, / Mir wird gantz wunderlich, so offt mich ein Gedicht / Von fetter Wollust grusst, die mir anitzt zuwider« (II Hunold AG I, S. 748; zu >Menantes in Halle< vgl. auch III Martens 1989, S. 146ff.). Für Pietisten und Orthodoxe war die erotische Poesie wahres Teufelszeug, weil deren Bilder die Phantasie zur Sünde verleitete. Denn der Satan trieb vor allem mit Hilfe der Einbildungskraft und des Gedächtnisses seine verführerischen Geschäfte: »Wenn nun durch Antrieb und Mitwirckung des Teufels die schändliche Begierde und Lust in der Seele empfangen worden / so muß darnach der Mensch seine Kräfte des Verstandes / der Phantasie und Memorie / und des Willens hergeben / daß solche darinnen geheget / getragen / digeriret / weiter gebildet / und außgearbeitet werde« (II Richter RS, S. 133).

Der Satan »weiß / wie solche Vorstellungen der Phantasey das Gemüth bezaubern / und die Seele gantz zu einer Sclavin« der Sünden machen können (ebda., S. 178), er benutzt sie deshalb als Medium der ständigen Repetition, und deshalb »verfället die Seele unvermerckt in Gewohnheit / und durch dieselbe in eine solche Sclaverey desselben Wercks / daß sie es darnach nicht lassen kan« (ebda., S. 179). RICHTER steht hier durchaus repräsentativ für den Pietismus noch ganz in der vom >Hexenhammen mitbegründeten Tradition buchstäblicher Phantasieverteufelung (vgl. dazu Bd. III, S. 92ff.; zu den im Halleschen Pietismus gewitterten »Gefahren der Einbildungskraft« beim »Romanenlesen« vgl. III Martens 1989, S. lOlff.). Von daher fällt freilich auch ein eigentümlich vormodernes Licht auf die unentwegte frühaufklärerische Malerei einer schönen Natur: Das Verfahren gleicht aufs Haar demjenigen Friedrich von Spees (1591-1635) und anderer Mystiker, welche im Sinne der hippokratisch-galenischen Therapie, wonach das Entgegengesetzte Heilmittel für das Entgegengesetzte war (vgl. Bd. III, S. 180), die Phantasie aus Furcht und Abwehr vor den teuflischen Machinationen unermüdlich mit Bildern himmlischer Reinheit und Schönheit zu beschäftigen suchten (vgl. ebda., S. 95ff., 179ff. u. ö.; vgl. dazu auch Kap. 2 d und IV Brow-

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ning, S. 3). Und dieses Rezept empfahl auch Schade dem die wahre Seligkeit suchenden Christen: »Ja greiff selbsten munter mit an / arbeite und laß dir angelegen seyn / die Sünde / so uns immer anklebet / abzulegen. Viel / ach leider! viel ist / das du auszufegen in dir hast / was nutzet dieser übelstinckende Sunden = Koth so vieler unsaubern und unzuchtigen Gedancken . . . ? Hinaus damit. An ihren Platz kanstu gottliche und himmlische Betrachtungen stellende mehr du aber solchen nachhingest / je grossern und weitern Platz sie einnehmen.« (II Schade GH, S. 55f.)

Die Heftigkeit pietistischer und zum Teil auch orthodoxer Phantasieverteufelung ist ausreichend ferner nur im Kontext des vor allem durch Böhme intensivierten hermetischen Glaubens an die magischen Fähigkeiten der Einbildungskraft zu verstehen (vgl. Bd. III, S. 142ff.). So wie die Phantasie - wie bei Breithaupt zitiert - den Heiligen Geist zu vertreiben und damit den Menschen um sein Wichtigstes, nämlich die Gott-Seligkeit zu bringen vermochte, so sicherte sie umgekehrt vermöge der Sinnlichkeit der Bilder den Genuß Gottes, ja mehr noch: In Analogie zur göttlichen Einbildungskraft, die für den Schöpfungsprozeß verantwortlich war (denn das göttliche Voraus denken der Welt war - weil auf Konkretes gerichtet - ein Vorausimaginieren\ Vgl. Bd. III, S. 83ff.; Kap. 2 d), - galt sie als eine produktive, zwischen Sinnlichem und Geistigem vermittelnde Kraft, die den Geist in den Körper zu ziehen und mit seiner Hilfe in einem Akt magischer Selbsterlösung auch den Körper zu vergeistigen vermochte (vgl. dazu auch Kap. 3). Von daher ist es mitzuverstehen, daß die »malende« Poesie der Frühaufklärung im poetisch vergegenwärtigten »Anschauen des Universums« (vgl. II Schleiermacher, S. 38ff.) mystische Erlebnisse vermitteln und moralische Wirkungen hervorrufen zu können glaubte (vgl. V/2 Kap. I 3 e; II l c) und daß Giambattista Vico (1668-1744), auch ein Kenner der hermetischen Tradition, die cartesianische Dichotomisierung von Geist und Leib bzw. Sinnlichkeit durch die Phantasie als eine zwischen beiden Bereichen vermittelnde, auch am Erkenntnisprozeß beteiligte, ja diesen produktiv formierende »göttliche Kraft im menschlichen Geist« überwinden wollte (vgl. 11.59 Otto S. 100; III Graevenitz, S. 66ff.; Kondylis, S. 435ff.; zum Phantasiebegriff der Frühaufklärung vgl. im übrigen III Vietta, S. 78ff., 11 Of f.). - In der Frühromantik erfuhr der Glaube an die magischen Fähigkeiten der Phantasie bekanntlich einen weiteren Höhepunkt, als der Dichter als Priester die Poesie zum »gemütherregenden« Vehikel einer Deifizierung des einzelnen, einer Synthetisierung von Natur und Religion und eines daraus entspringenden, dem Unendlichen wiederum entgegenstrebenden Prozesses erhob (vgl. II Novalis COE, S. 517f.; HvO, S. 332; B; AB, S. 254; vgl. dazu Bd. VI).

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d) Diagnosen pietistischer »Melancholey« (Spener, Francke, Moritz) SHAFTESBURY (d. i. Anthony Ashley-Cooper, Earl of Shaftesbury, 1671-1713) hatte in seinem Essay >A Letter concerning Enthusiasm< (1708) den christlichen Glauben insgesamt als panik- und enthusiasmusanfällig kritisiert und die »melancholische Art, in der uns unsere Religion beigebracht worden ist«, für die falsche Vorstellung vom rächenden und strafenden Gott verantwortlich gemacht (II, S. 10, 20ff.). Diesen globalen Melancholie-Vorwurf engten die deutschen Aufklärer auf die neu entstandene >Sekte< der pietistischen Weltverächter ein, die wie Brockes in seinem Gedicht >Der Atheist < mißbilligend vermerkte »durch die Mischungen des Cörpers und bittere Melancholey / Verführet, allenthalben lehren, daß alle Lust verboten sey, / Wodurch sie nicht nur sich und andre, mit stetiger Betrubniß quälen; / Nein, noch dazu, so viel an ihnen, dem Schopffer Gut und Liebe stehlen/ Die doch sein wahres Wesen ist« (II IVG VI, S. 338). Mit diesem Vorwurf reihte sich der Senator in eine große, von Thomasius bis Karl Philipp Moritz reichende Zahl von Aufklärern ein, welche den kunstverteufelnden Pietisten mit dem Krankheitsbild der Melancholie heimzahlten und diese entweder aus einer natürlichen, temperamentbedingten Anlage oder als unnatürliche Folge der asketischen pietistischen Weltabsage erklärten (vgl. dazu III Schings, S. 73ff., 83ff.; zum melancholischen Temperament vgl. ebda., S. 41 ff.). Die durch Geiz (so Thomasius), Sorge, Furcht, Verzweiflung, Mißtrauen, Tiefsinn, Grübelei und Suche nach Einsamkeit (so Georg Ernst Stahl) gekennzeichnete Melancholie galt ohnehin als zum Teil pathologisches - Temperament der Fanatiker und Schwärmer (vgl. dazu auch Bd. I, S. 248ff.) und entwickelte sich im Meinungsbild der Aufklärung geradezu zum Inbegriff gesellschaftsfeindlicher Misanthropie, latenten Rebellentums und zu bekämpfenden Gegenbeweises gegen die Theodizee (vgl. III Schings, S. 45ff., 59ff.). Bei einem solch undifferenzierten, fast aggressiven Feindbild fragt sich, wie die pietistischen Frömmigkeitsstrategien tatsächlich aussahen, die zur Melancholie geführt haben sollen, und wie sich dieses historisch als Melancholie bezeichnete Verhalten zureichend erklären und von heutigen Erkenntnissen her fassen läßt. Jede der beiden Fragen wird im folgenden an zwei Beispielen exemplifiziert, die erste an den wichtigsten, aber unterschiedlichen Konzeptionen von Spener und Francke, die zweite am fortschrittlichsten Erklärungsmodell der Aufklärung selbst, am Fallbeispiel des Dichters und Schauspielers >Anton Reiserempfindsame< Rezeption von Goethes >Werther< und dem Göttinger Musenalmanach von 1774 (ebda., S. 291 ff.), verdeutlicht die literaturgeschichtliche Repräsentativität seiner Seelenkrankheit, die durch Empfindsamkeit und Sturm und Drang nicht geheilt, sondern stimuliert wird, - eben durch Literaturphasen, die ihrerseits ebenfalls vom Pietismus beeinflußt sind. Am Beispiel von Antons Scheitern als Dichter der großen Worte und als Schauspieler ohne Körpergefühl liest Moritz auch einem Teil der religiös inspirierten Literaturgeschichte die Leviten, welche die theologische Erbauungsliteratur auf dem Markt verdrängt, aber damit auch deren erbauliche und schwärmerische Funktionen übernommen hatte. In der totalen Subjektivierung und inneren »Leere« wandeln sich Dichtung wie ihre Lektüre wieder in religiöses Erleben um und kommen damit von den Sozialisationsmustern ihrer (historischen) Kindheit nicht los, das Schwärmertum dominiert, das Autonomiestreben im Zeichen von Vernunft und Natur mißlingt (zum Kampf der Aufklärung gegen das Schwärmertum und zu diesem Begriff vgl. III Hinske 1988). Als Heilmittel gegen diese >Krankheit< setzt Moritz - wie zitiert - das »Detail der Natur«, unerbittlichen Realismus oder - wie er zu Beginn des >Magazins zur Erfahrungsseelenkunde< programmatisch ankündigt: »Fakta, und kein moralisches Geschwätz, keinen Roman, und keine Komödie« (II MzE I, S. 8; vgl. dazu auch III Scheible, S. 190ff.). Mit der Detailtreue seines Romans sucht der Autor somit gleichsam die Schäden seiner eigenen, zur Realitätsferne erzogenen Psyche zu beheben- und eine schwärmerische Rezeption zu unterbinden.

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1) Pietismus und Aufklärung

4) Daß Moritz die Melancholie letztlich auf ein mittels Phantasie gestörtes Verhältnis zur Realität zurückführt, läßt seine Position als erstaunlich modern erscheinen, jedenfalls dann, wenn man sich bei der Analyse der pietistischen Weltsicht der kategorialen Hilfe der neueren Kognitionspsychologie versichert (vgl. V Beck u. a.), denn auch diese sucht psychische Erkrankungen durch fehlgeleitete Realitätswahrnehmungen zu erkennen und durch deren Korrektur zu heilen. - Tatsächlich offenbaren viele pietistische Texte im Blick auf ihre Weltsicht eine von apodiktischer Kürze, Entschiedenheit und Schematik sowie von Abscheu und Phobie geprägte Haltung. Letztere reduziert die von der Aufklärung gerade erst entdeckte Vielfalt und Komplexität der Welterfahrung auf wenige grobe Kategorien, und diese entsprechen einem durch Eindimensionalität und Globalität, moralistische Verabsolutierung, Invariabilität und Irreversibilität gekennzeichneten »primitiven Denken« (V Beck u. a., S. 46). Die auf diese Weise produzierten negativen Kognitionen (im Sinne verbaler und bildhafter Vorstellungen) kehren in den Texten immer wieder und repräsentieren - wie auch im folgenden Lied über die menschliche Natur - festgefügte Schemata im Sinne vorprogrammierter Einstellungs- und Verhaltensmuster: » . . . so viel sie hat, begehrt sie mehr, und was sie kriegt das qvält sie sehr: daraus entsteht ihr leiden: der bose will hat Oberhand; oft widerspricht ihm der verstand, die marter dämpft die freuden. Sie tobet in sich als ein meer, mit wellen der gedanken: der zweifei wirft sie hin und her: ihr hoffen ist ein wanken: sie ändert sich ohn unterlaß; wird kalt von lieb und heiß von haß: furcht, traurigkeit, verzagen, stolz, zorn und räche macht sie matt: wes sie sich heut begeben hat, das darf sie morgen wagen. . . . Ja wollust bringt die groste pein, wirkt krankheit, reißt die herberg ein, da muß man sich denn scheiden, vons lasters Werkzeug von dem leib, und muß den eitlen zeit = vertreib mit vielem kummer meiden.« (Anon. in II Zinzendorf I, S. 166f.)

Schon an diesem verhältnismäßig kurzen Liedausschnitt lassen sich wesentliche Merkmale dessen diagnostizieren, was die Kognitionspsychologie als Kennzeichen des psychopathologischen Zustands der Depression beschreibt. Diese ist durch die kognitive Triade von ständiger negativer Interpretation der Erfahrungen, von negativen Zukunftserwartungen und einem negativen Selbstbild geprägt (vgl. V Beck u. a., S. 41 f.). Zum ersten Aspekt gehört über das bereits Explizierte hinaus, daß der Depressive bei seiner Weltsicht anstelle nur noch eingeschränkt erfahrener Gefühle »extreme Schwingungen der unangenehmen Emotionen« erlebt. »Es ist, als liefe sein ganzes Gefühlsreservoir durch Schleusen der

d) Diagnosen pietistischer »Melancholey«

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Trauer, Apathie, Freudlosigkeit« (ebda., S. 67): » . . . wird kalt von lieb und heiß von haß: furcht, traurigkeit, verzagen, stolz, zorn und räche macht sie matt«, und aus dieser Aufzählung negativer Affekte zieht die zitierte Mittelstrophe als Fazit jenen zweiten Aspekt der Triade, nämlich die negative Zukunftserwartung im Sinne ständiger Repetition des Elends: »wes sie sich heut begeben hat, das darf sie morgen wagen« (und zuvor schon: »ihr hoffen ist ein wanken«). Darin und im gesamten Duktus des Zitats kommt als Verhaltenssymptom die Ruhelosigkeit hinzu (ebda., S. 135; vgl. »sie ändert sich ohn unterlaß«), und als motivationales Symptom ergibt sich aus dieser Iterativität der Begierde nach nichtigen Vergänglichkeiten und des halt- und ziellosen Wechselbades der Affekte der »Wunsch, >Problemen< und sogar gewöhnlichen Alltagsbeschäftigungen aus dem Wege zu gehen«, ja sogar »dem Leben zu entfliehen« (ebda.):».. . und muß den eitlen zeit = vertreib mit vielem kummer meiden.« Das negative Selbstbild schließlich als dritter Bestandteil der Triade ist ja Ziel dieser Darstellung der menschlichen Natur, in der sich jeder Leser und Sänger des Liedes wiederfinden soll. Dazu gehört insbesondere auch die entschiedene Abwertung der für die Aufklärung konstitutiven Vernunft bzw. des »Verstandes«, die hier dem »bösen willen« machtlos subordiniert sind. Ja es werden sogar zu Beginn der Mittelstrophe zwei besonders typische kognitive Symptome der Depression genannt: die »wellen der gedanken« im Sinne von Unfähigkeit zur Konzentration (ebda.) und der »zweifei«, hier im Sinne ausgeprägter Entscheidungsschwäche und Unentschlossenheit, die übrigens auch Spener immer wieder in besonderen Situationen (bei Berufungen oder kirchenpolitischen Streitfällen) an den Tag legte (vgl. III Obst, S. 47; MaierPetersen, S. 154ff., 163ff.). Es geht hier nicht darum, einen Krankheitsbegriff durch einen anderen zu ersetzen, der in der Analyse ohnehin nicht viel tiefer dringt, sondern um von einem heutigen Ansatz her zu bestätigen, daß die in Zweifel, Bußkampf, Anfechtung und Traurigkeit geradezu habitualisierten kognitiven Denkschemata im Pietismus vielfach offenbar jede Welterfahrung negativ vorprogrammierten und damit eine situationsangepaßte Realitätswahrnehmung behinderten (vgl. dazu auch V Beck u. a., S. 33ff., 39; Laing u. a., S. 37ff.), daß die Aufklärung also nicht nur ein Feindbild aufgebaut, sondern mit einer im Kern zutreffenden Diagnose auch einen keineswegs unrealistischen Therapieansatz verbunden hat. Daß die Psyche allerdings nicht vom Brot (des Realismus und der Vernunft) allein lebt, wie sich die Aufklärung alsbald von der wiederum religiösen Romantik vorhalten lassen mußte, stellt allenfalls ihre trokkenen therapeutischen Methoden, kaum aber ihre Diagnose der Gefah-

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1) Pietismus und Aufklärung

ren religiösen Schwärmertums in Frage (vgl. dazu auch III J. Schmidt 1989, S. 20ff.; vgl. auch Nathans Frage an Recha: »Begreifst du aber, / Wieviel andächtig schwärmen leichter als gut handeln ist?« II Lessing N, S. 16). Die depressive pietistische Weltschau war nun allerdings nur die Kehrseite ihrer Euphorie im Gnadenstand, und die grobe negative Sicht wurde kompensiert durch dessen hochdifferenzierte Erfahrung. Hier investierten die Pietisten ihre ganze psychische Energie, und hier konzentrierte sich in der Auseinandersetzung mit der Kirche ihr Autonomiestreben. Dieser inhaltliche Kern ihrer Seligkeitserfahrung verdient daher unser besonderes Interesse, konfrontiert uns aber auch mit dem Problem der Verwandtschaft von pietistischer und mystischer Frömmigkeit. Soweit es hierbei um Formen der Christus-Mystik geht, scheint der Gegensatz zur Aufklärung wiederum besonders groß zu sein. Umgekehrt aber verhält es sich - wie zu zeigen sein wird - bei der Rezeption der breiten naturmystischen Tradition.

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2) Pietismus, Aufklärung und Mystik

a) >RechtfertigungWiedergeburt< und Erneuerung der Mystik< bei Spener Der These Martin Schmidts, der »sachlich wichtigste Vorläufer des Pietismus« sei der »mystische Spiritualismus« gewesen (III 1961, Sp. 372), und nicht die orthodoxe Rechtfertigung, sondern die mystisch-spiritualistische Wiedergeburt bilde die »innere Mitte« der Spenerschen Theologie (11.53, S. 12), steht die Ansicht von Hirsch und vor allem von Wallmann entgegen, Spener vertrete die unverfälschte Rechtfertigungslehre der Orthodoxie (11.53 Hirsch, S. 40ff.; Wallmann 1977, S. 12ff., 22ff.; III 1977, S. 53ff.; 1979, S. 41ff.). Zugleich versucht Wallmann (u. a. gestützt auf III Stoeffler, S. 202; vgl. 11.53 Wallmann 1982, S. 22f., 31), Johann ARNDT (1555-1621) als »Vater des Pietismus« und die von diesem inspirierten Reformbestrebungen aus dem Umkreis der Orthodoxie (vgl. dazu Bd. II, S. 249ff.) als jene rechtgläubige Frömmigkeitstradition zu erweisen, aus der sich vorrangig die Spenerschen Intentionen herleiten. Damit gewinnt er das Bild einer sich relativ kontinuierlich vom »Vorpietismus« der »Arndtianer« bis zu Spener entfaltenden orthodoxen innerkirchlichen Reformbewegung. Indem er aber so mit einem weiteren und engeren Pietismus-Begriff operiert (vgl. III Wallmann 1979, S. 48; vgl. dazu auch III Lehmann 1977, S. 83), verallgemeinert er diesen notgedrungen noch mehr, ohne das Problem der Orthodoxie des Pietismus wirklich zu lösen; denn die Rechtgläubigkeit Arndts ist ebenso umstritten wie diejenige Speners, und auch häretische Spiritualisten verehrten Johann Arndt als Mystiker und Leitfigur (vgl. dazu Bd. Ill, S. Iff., 37ff.). Und wenn Wallmann den Pietismus insgesamt als eine Frömmigkeitsrichtung definiert, »die die christliche Existenz auf das Ideal der >Gottseligkeit< orientiert« (III 1979, S. 46), wobei »Gottseligkeit« den Begriff Pietismus lediglich eindeutscht (vgl. 11.53 Wallmann 1986, S. 8), dann läßt sich aus ihr kein Kriterium zur Unterscheidung von Mystik und Pietismus ableiten. Das folgende Epigramm des ANGELUS SILESIUS (d. i. Johannes Scheffler 1624-1677), des bekanntesten lyrischen Repräsentanten der Barock-Mystik, formuliert mit seinem Programm offenbar zugleich das Kernanliegen des Pietismus:

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2) Pietismus, Aufklärung und Mystik

»Was deß Menschen Weißheit ist. Deß Menschen Weißheit ist GOttseelig seyn auf Erden / Gleichförmig GOttes Sohn an Sitten und Gebehrden.« (II, S. 285; vgl. dazu Bd. III, S. 244)

Überdies hat Wallmann in seiner grundlegenden Spener-Monographie eine Fülle von Belegen dafür zusammengetragen, daß Spener von früh an mit mystischer Frömmigkeit in Berührung gekommen ist und die Nähe zu ihr immer wieder gesucht hat. Wenige Beispiele dafür müssen hier zur Illustration genügen: Am Tage der Aufnahme seines Theologiestudiums in Straßburg (14. Juni 1654) schrieb er eine Elegie in 30 lateinischen Distichen, worin er »in der Sprache der bernhardischen Mystik sich Jesu ganz zu eigen gibt und um Beistand und Leitung für sein theologisches Studium bittet« (11.53 Wallmann 1986, S. 88). Typisch an diesem Gedicht sei, so resümiert Wallmann, daß »Humanismus und eine der Mystik nahe Frömmigkeit tatsächlich die bestimmenden Elemente in Speners frühem Entwicklungsgang« gewesen sind (ebda., S. 89). So gab er auch eigene Erfahrung weiter, wenn er in den >Pia desideria< empfahl, daß mystisches Schrifttum - die von Luther edierte >Theologia DeutschNachfolge Christi< des Thomas von Kempen (d. i. Thomas Hemerken ca. 1379-1471) - »in die hdnde der Studiosorum mehr gebracht / und deren gebrauch ihnen recommendiret wurde« (ebda., S. 76). Spener edierte selbst 1681 in Frankfurt eine deutsche Ausgabe der Predigten Taulers mit einer Vorrede und berief sich in seinen eigenen Werken immer wieder auf das genannte mystische Schrifttum (vgl. z. B. den >anderen Anhang< in NG, S. 833ff.). - 1660/61 lernte er in Genf Jean de LABADIE persönlich kennen. Dieser wichtigste Repräsentant des mystischen Spiritualismus in französischer Sprache beeindruckte Spener mit seinem Postulat nach Wiederherstellung des Urchristentums und seiner Frömmigkeit tief. Spener übersetzte in Genf Labadies Traktat >La pratique de l'Oraison et Meditation Chretienne< und edierte ihn (anonym) in Frankfurt unter dem Titel >Kurtzer Underricht von Andächtiger Betrachtunge / Wie solche Christlich und Gottselig angestellet und geübet werden solle< zusammen mit seinem eigenen Lehrgedicht >Von Gewißheit der Seeligkeit< (vgl. 11.53 Wallmann 1986, S. 145ff, 240f.). Überdies zeigte Spener nicht nur Interesse für die im Luthertum halbwegs anerkannten Autoritäten mittelalterlicher Mystik, sondern auch für die hermetische Tradition und die zeitgenössischen »fanatici«. Am Hof des Herzogs Friedrich von Württemberg (1615-1682) lernte er 1662 durch die Prinzessin Antonia die Gedankenwelt der Kabbala kennen,

a) Mystik bei Spener

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verfaßte selbst ein Gedicht über die zehn Sephirot und kam in Berührung mit einem der dortigen pansophisch-rosenkreuzerischen Zirkel (vgl. ebda., S. 155ff.; zu Kabbala und Rosenkreuzertum vgl. Bd. III, S. 7Iff., 127ff.). Er kannte u. a. die Werke Abraham von Franckenbergs (1593-1652) und Christian Hoburgs (1607-1675), seit 1677 stand er mit Friedrich Breckling und Johann Georg Gichtel in brieflichem Kontakt, er hatte einige Schriften Quirinus Kuhlmanns (1651-1689) gelesen und interessierte sich für dessen Schicksal (vgl. 11.53 Wallmann 1986, S. 341ff.; zu den genannten Autoren vgl. Bd. III). Und Spener kannte Jacob BÖHME! Er besaß die von Gichtel besorgte Böhme-Ausgabe von 1682, und wenn er auch gelegentlich zum Selbstschutz behauptete, er habe den »philosophus teutonicus« nicht gelesen (vgl. II Walch RIK I, S. 619f., 746), so geht doch aus seinen Gutachten eindeutig hervor, daß ihm die wichtigsten Werke des Görlitzer Schusters keineswegs unbekannt waren (so >De tribus principiisMysterium Magnum< und der >Weg zu ChristoNatur und Gnade< von 1687), und ganz in seinem Sinne erbittet z. B. auch Christian Andreas Bernstein in seinem >Gebet zum Herrn< den pietistischen Gnadenstand als gleichsam ontologisierte göttliche Über-Natur: »Mein Vater! zeuge mich, dein Kind, nach deinem Bilde, Und schaffe selbst in mir die neue Kreatur: Laß mich doch gütig sein, ja heilig, weis' und milde, Durch deiner Gnaden Kraft, wie du bist von Natur.« (I Pressel, S. 620; ebenso in II Zinzendorf I, S. 79)

»Was Gott von Natur / das wirstu von Gnaden«, verspricht auch Schade im Kapitel >Ein Christ wird Gottlicher Natur theilhafftig< seines Gespräch Eines HertzensVom verborgenen Leben der Gläubigem aus der Feder Richters: »1. Es gläntzet der Christen inwendiges Leben / Ob gleich sie von aussen die Sonne verbrannt / Was ihnen der Konig des Himmels gegeben / Ist keinem / als ihnen nur selber bekannt. Was niemand verspuret / Was niemand berühret / Hat ihre erleuchtete Sinnen gezieret / Und sie zu der gottlichen Würde geführet. 2. Sie scheinen von aussen die schlechtesten Leute / Ein Schau = Spiel der Engel / ein Eckel der Welt / Und innerlich sind sie die lieblichsten Bräute / Der Zierath / die Krone / die JEsu gefällt; Das Wunder der Zeiten: Die hier sich bereiten / Den König / der unter den Lilien weidet / Zu küssen / in güldenen Stücken gekleidet. 4. Doch innerlich sind sie auß gottlichem Stamme / Die Gott durch sein mächtig Wort selber gezeugt / Ein Funcke und Flämmlein auß gottlicher Flamme / Die oben Jerusalem freundlich gesäugt. Die Engel sind Brüder / Die ihre Lob = Lieder Mit ihnen gar freundlich und lieblich absingen / Das muß denn gantz herrlich / gantz prächtig erklingen. 6. Wenn CHristus / ihr Leben / wird offenbar werden / Wenn er sich einst / wie er ist / öffentlich stellt / So werden sie mit ihm als Gotter der Erden / Auch herrlich erscheinen / zum Wunder der Welt. Sie werden regieren / Und ewig floriren / Den Himmel / als prächtige Lichter außzieren / Da wird man die Freude gar offenbar spüren.« (II Richter GL, S. 398ff.)

Speners Rechtfertigungslehre - mehr sollte hier nicht deutlich werden schloß der Sache nach das entscheidende Vergottungsanliegen der Spiritualisten und Mystiker keineswegs aus, sondern als Ziel des Prozesses mit ein. Da Spener andererseits aber auch rechtgläubig zu reden und seine »Heteroorthodoxie« allen Anfeindungen zum Trotz in der Kirche zu behaupten vermochte, eröffnete er damit zugleich - das ist ein hi-

a) Mystik bei Spener

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storisch außerordentlich bemerkenswerter Vorgang! - den bislang verdammten mystischen Ketzereien zu Beginn der Aufklärung eine Lebensmöglichkeit innerhalb der von den Grenzen des kirchlichen Dogmas bestimmten Gesellschaft. Die Mystiker und Spiritualisten konnten und sollten ihr zentrales religiöses Anliegen - die in Wiedergeburt und Heiligung angestrebte Seligkeit der »unio«- und Selbstvergottungserfahrung - in Spenefs theologischer Erfahrungswissenschaft voll berücksichtigt finden und sich von daher integrieren lassen. Tatsächlich verblieb hierdurch ein großer Teil der religiösen Erneuerungskräfte in der Kirche, erschütterte aber eben damit von innen entscheidend deren theologische und gesellschaftliche Vormachtstellung. Wie stark der Pietismus dabei die eigene Frömmigkeit im Rückgriff auf die Mystik des Mittelalters und des >Barock< erlebte und darstellte, zeigt der >Wortschatz des deutschen PietismusGottes Einwirkung auf die Seele< und - doppelt so umfangreich! - >Der Weg der Seele zu Gott< gliederte und woraus er u. a. folgerte, die mystischen Strömungen bildeten »die engere Umwelt des deutschen Pietismus« (III Langen, S. 398). Inhaltlich unterschied sich indessen auch und gerade Speners Vorstellung von der Erneuerung deutlich insbesondere von den Frömmigkeitsformen der Barock-Mystik: die im hermetisch-pansophischen Schrifttum des 17. Jahrhunderts erkennbare Symbiose der Mystik mit den auch im Barock-Humanismus gepflegten Renaissance-Traditionen, das Interesse an der Natur als Mittlerin zu Gott, wie es etwa auch im vierten Buch von Arndts >Wahrem Christentum< begegnet, im Zusammenhang damit Vorstellungen von Christus als ubiquitärer und omnipotenter Natur-Kraft fehlen in Speners Theologie ebenso wie die enge Verknüpfung von Mystik und Magie, welche die »unio« durch menschliche Aktivität anzustreben erlaubte und den psychophysischen Realismus etwa der Schwenckfeldschen Vereinigung mit dem »himmlischen Fleisch« Christi (vgl. R, S. 691 f.) fundierte und die von Luthers Ubiquitätslehre mitinspirierten brautmystischen »unio«-Phantasien auslöste (vgl. dazu Bd. III, S. 57ff., 252ff.). Bezeichnenderweise spielt das entscheidende magische Medium, nämlich die Imagination bzw. Phantasie, bei Spener im Erneuerungsprozeß - ganz im Gegensatz zu anderen Pietisten wie Gottfried Arnold (vgl. Kap. 3 c, d, e) - kaum noch eine Rolle; die Vereinigungsbestrebungen werden entsinnlicht zu einem innerpsychischen Geschehen, das gleichwohl über die Affekte auch somalisch wirken soll. Auch die mit rhetorischen Mitteln umgesetzte Sprachmagie der barockmystischen Poesie (etwa der Greiffenberg oder Kuhlmanns) fällt bei Spener - aber auch bei den anderen Gruppierungen des Pietismus - dem

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2) Pietismus, Aufklärung und Mystik

allgemeinen Stilwandel um 1700 zum Opfer (vgl. dazu V/2 Kap. I l b), und im Zusammenhang damit verlieren bei ihm Sprache und Poesie ihre Funktion als Inzitament und Träger der »unio«. Mit solcher Eliminierung typischer Merkmale der frühneuzeitlich-barocken Version der Mystik hat Spener zweifellos auch einen Preis für die Integration der »Gottesgemeinschafts-Kunst« in die Kirche entrichtet. Indessen ist sie nicht minder Ausdruck des Epochenwandels, als dessen Kennzeichen bei Spener u. a. bereits die Tendenz zur Psychologisierung hervorgehoben wurde (vgl. Kap. 2 a). Im Pietismus Spenerscher Observanz sublimiert sich die mystische Suche nach und Erfahrung von der »unio« mit der Transzendenz zu einem Psycho-Drama, in dem sich u. a. bei dem Versuch zur Habitualisierung der Gottesgemeinschaft als Seligkeit u. a. das Schwanken von Gottnähe und -ferne als Korrelation von Euphorie und Depression und damit bereits als unübersehbares Kennzeichen einer spezifisch modernen Seelenlage ankündigt (vgl. Kap. l d und 3 e). b) Mystik und Alchimie in Halle (Francke, Richter) Daß sich der weltzugewandt-praktische Hallesche Pietismus der Mystik gegenüber besonders resistent verhalten habe, war bereits eine verbreitete, nicht unbegründete Ansicht der Zeitgenossen und wird bis heute in der Forschung als These vertreten (vgl. Ill Martens 1989, S. 65, 112). FRANCKE selbst hat diesem Eindruck Vorschub geleistet, indem er angesichts der Beliebtheit mystischen Schrifttums unter den Hallenser Studenten und ihrer daraus inspirierten Kritiksucht am pragmatischen Schul- und Hochschulunterricht 1704 im Rahmen einer Römerbriefvorlesung die Mystik als »dasjenige wahrhaftige Christenthum« orthodox zu entschärfen suchte, »zu welchem uns GOttes Wort im alten und neuen Testament anweiset«. Ein anderes Verständnis der Theologia Mystica wäre »traun nicht zu dulden« (II TM, S. 203). Unter Berufung auf Arndt forderte er eine solche Übung der Mystik, »daß man vor allen Dingen die Busse zum Grunde setze, und eine wahre, ernstliche und gründliche Sinnes-Aenderung bey sich das erste seyn lasse« (ebda., S. 206). Indessen konnte Francke selbst in dieser apologetischen »admonitio« nicht umhin zuzugeben, daß Arndt im dritten Buch des >Wahren Christentums< den eigentlichen »Zweck der gantzen Theologiae Mysticae« beschrieben habe, »nemlich daß man zum Ebenbilde GOttes ie mehr und mehr erneuret werden, und zu einer wahrhaften und nähern Vereinigung und Gemeinschaft mit GOtt gelangen müsse« (ebda.). Vor allem der frühe Francke hat diese Vereinigung als Ziel auch der eigenen Frömmigkeit betrachtet. So in seinem Lied >HeimwehGeist = reichen Gesangbuch< Freylinghausens erschienen, davon 16 im ersten Teil (1704), die übrigen im zweiten (1714), verwundert es nicht, daß die orthodoxe Wittenberger Fakultät in einem 1716 publizierten Gutachten über dies Gesangbuch gerade Richters Lieder neben denjenigen Arnolds am heftigsten tadelte (vgl. ebda., S. 156, 172; zum Einfluß Arnolds auf Richter vgl. ebda. S. 172ff.; II.2 Stählin 1969, S. 180ff.; zur Nachwirkung Richters bis zum Sturm und Drang und zu Georg Büchner vgl. III Schrader 1989, S. 26, 345). So beschrieb Richter den Vergottungsprozeß in einem aus Böhmeschen und alchimistischen Gedanken kontaminierten Bildfeld. Aller - zum Teil heftigen - Abwertung des Leibes und der Materie zum Trotz erblickte der Waisenhaus-Arzt in der Natur ganz im Sinne Böhmes pantheisierend den Leib Gottes (vgl. Bd. III, S. 138ff.):

b) Mystik und Alchimie in Halle

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»Du / GOtt / durchdringst die Erde gantz / Daß sie die Rauhigkeit verliehret / Und man gar susse Kraft in ihren Fruchten spüret / Weil unser Erdreich fohlt des Himmels reinen Glantz.« (II GL, S. 376)

Und es scheint so, als habe der musikalisch begabte Geigenspieler, von dessen 14 eigenen Melodien für seine Lieder kein Geringerer als Johann Sebastian Bach drei für das Schemelli-Gesangbuch leicht überarbeitet hat (darunter auch die Melodie zu Richters bekanntestem Lied >Es glänzet der Christen inwendiges LebenVom Geheimniß des CreutzesVater< und »liebend«-expandierendem Sohn an den Anfang (vgl. dazu Bd. III, S. 138ff.) und deutet sodann das Leiden Christi ebenso wie dessen postfigurative »imitatio« als alchimistische Operation der »Zerstörung« bzw. »Fäulung« um des Ziels der Vergottung willen: »2. Er sähe mich in meinem Blute liegen / Sein Hertz entbrannt' in heisser Liebes = Macht. Diß war genug den SchSpfer zu besiegen / Das hat ihn bald in solchen Trieb gebracht / Daß er mit GOttes Zorn gekimpft. Nun hat sein sanftes Licht des Grimmes Quell gedämpft. 7. Nun wird mein Gold im Leiden rein gefeget / Der Ofen ist das Creutz / der Test das Hertz / Die Schlacke ist / was sich in Gliedern reget / Der Schmeltzer ist mein Freund / die Glut der Schmertz. Muß gleich das Gold durchs Feuer gehn / So bleibt es doch verklärt in seinem Tiegel stehn. 8. Dann bringt mein Geist mit Freuden seine Garben / Des Himmels Blitz durchstrahlet seinen Sinn / Die Weisheit spielt in ihren Wunder - Farben / Da blinckt das Hertz wie Jaspis und Rubin. Wenn sich der Blick durchauß erstreckt / So krigt mein Geist sein Kleid / und wird mit Licht bedeckt. 9. Da küssen ihn der Weisheit süsse Blicke / Da ruht die Seel in ihrem Liebes = Schooß; Da wird sie dann vom Tod / vom Sünden-Stricke / Und von dem Dienst der eitelkeiten los. Wenn sie des Himmels Klarheit ziert / Wird sie / als Konigin / zum Konige geführt.« (II GL, S. 386-388)

Richter erweist sich hier als Anhänger jener nicht auf handwerkliches Laborieren reduzierten, sondern religiös interessierten Alchimie, für welche die alchimistische Praxis gleichsam nur die Plausibilitätsgrundlage für die Annahme eines in Analogie zur Natur auch heilsgeschichtlich sich ereignenden Veredlungsprozesses darstellte (vgl. dazu Bd. III, S. 102ff.). Dieser geschieht auch im Menschen durch das Feuer, dessen Bildfeld hier also keineswegs metaphorisch gemeint ist. Vielmehr glaubt auch Richter noch an die im 17. Jahrhundert unter Ärzten verbreitete, ihrem Ursprung nach neuplatonische Theorie vom Feuer in Herz und

b) Mystik und Alchimie in Halle

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»Blick«, also im Auge des Menschen, weshalb die Mystiker die »unio« mit dem Numinosen auch als einen durch feurige Augenblitze ausgelösten Verschmelzungsprozeß beschrieben (vgl. Bd. III, S. 86ff., 232ff., 262ff. u. ö.): »1. Die lieblichen Blicke / dieJEsus mir giebt / Die machen mir Schmertzen / Und dringen zu Hertzen / Daß ich mich nun glntzlich in JEsum verliebt: Drum ist auch mein Geist Gantz auß mir gereis't / Und suchet nur dich / O JEsu! mein Ich :/: 2. Die strahlenden Augen die zünden mich an / Mein Hertze bekennet / Das lichter = loh brennet / Daß solches das Feuer der Liebe gethan. Es flammet mein Muth / Mit himmlischer Glut / Drum stirbet dahin Mein irdischer Sinn :/:« (II GL, S. 410)

Zeugnisse dieser Art korrigieren die These Altmanns, Richter habe »keine unmittelbare Berührung mit der Mystik gehabt« (11.45, S. 187). Dieser hat sogar - wie die zitierten Strophen 8 und 9 bezeugen - auch die besonders häretische Lehre Böhmes von der Sophia oder Weisheit als viertem weiblichen Teil der Gottheit und die damit verknüpften brautmystischen Vorstellungen übernommen (vgl. Bd. III, S. 138ff.; Kap. 3 e). Richter nennt die Seele eine »Braut des Sohnes GOttes« und »Verwandtin der Weisheit« (UAS, S. 25), »die gottlicher Natur theilhaftig worden« sei (WSGL, S. 61). Typisch für die diesseitsbezogene Seligkeitsperspektive des Pietismus ist nun aber erneut, daß der in den zitierten Versen dargestellte Vergottungsprozeß nicht die zukünftige Herrlichkeit, sondern das durch die Sophia mitbewirkte Dasein einer irdischen »neuen Kreatur« beschreibt (»So krigt mein Geist sein Kleid«); »des Himmels Klarheit ziert« die Seele schon jetzt, und indem sie als »Konigin / zum Konige gefuhrt« wird, stellt Richter die »unio« erneut in den Kontext der Alchimie, für die der König als Sinnbild des männlichen Schwefels und die Königin das (weibliche) Quecksilber repräsentierend - als Eltern aller anderen Metalle galten und den weltverbessernden »Stein der Weisen« hervorbrachten (vgl. Bd. III, S. 11 Of.). Und so wie der Alchimist das Werk der Vergoldung im Labor selbst voranzutreiben vermochte, so auch das

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2) Pietismus, Aufklärung und Mystik

Werk seiner eigenen Vergottung: >Wie der Mensch bey Erkänntniß seiner Gebrechen seine Heiligung wurcken . . . kOnneDeutschen Gedichtem seines Vetters Barthold FEIND (1678-1721) erwähnt dieser mehrfach »des scharfsinnigen Herrn Raht Thomasii Tractat von Wesen des Geistes« (vgl. II Feind, S. 14, 21, 480ff., 560ff.), u. a. auch in der Anmerkung zu einer von Brockes übersetzten Satire von Boileau. Kurz nach Erscheinen des >Versuchs Von Wesen des Geistes< (1699) hatte Brockes mit Feind in Halle bei Thomasius Jurisprudenz studiert (1700-1702; vgl. II Brockes SB, S. 200ff.). Und Brockes war nicht der einzige, der durch dessen Geister-Philosophie »ein ziemlicher Mysticus« geworden ist (das Zitat bezieht sich auf den Thomasius-Schüler Nicolaus Hieronymus Gundling; vgl. 11.57 Albrecht, S. 88). So täuschte sich denn auch Gottsched, wenn er befriedigt feststellte: »Des Herrn Thomasius Geisterlehre hat, so viel mir wissend ist, keine Anhänger gefunden, vielweniger eine Secte gestiftet« (II Fontenelle, S. 17). Doch ordnete er Thomasius (und Stahl durch Verweis auf die Abhängigkeit der Arzneiwirkung von der vernünftigen Seele) sogleich in den richtigen Traditionszusammenhang ein:

c) Animismus contra Mechanismus

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»Der deutsche Philosoph, Jacob BShme, hat vielleicht mehr geschadet. Seine Bücher sind ein rechter Kern von einer Zauber = oder Wunderphilosophie, darinnen man nichts verstehen, vielweniger recht begreifen kann. Diejenigen stlrken einigermaßen seine Parley, die sich in allen naturlichen Begebenheiten auf die Kraft gewisser Geister berufen, und gar die Wirkungen der Arzneyen auf die vernunftige Seele des Menschen ankommen lassen. Wiewohl diese Zahl ist zu allem Glucke nicht sehr groß, und wenn der gemeine Mann so bald von seinen Phantasien befreyet werden konnte, als diese Seele sich verlieren wird: so halle die Wahrheil gule Hoffnung, in weniger Zeil allenthalben zu herrschen.« (Ebda.)

Bemerkenswerterweise hat die aufklärerische »ratio« ihre dunkle »böhmische« Kehrseite aber nie ganz ins geschichtliche Dunkel verdrängen können. Wenn auch die Physik des Thomasius mit ihrer Geister-Lehre »ins naturwissenschaftliche Abseits« der »new science« geraten ist (so 11.57 Albrecht, S. 83), so verwies sie doch andererseits bereits »auf den Naturbegriff Goethes und den der deutschen Romantik« voraus (11.57 Engfer, S. 28) und hat dort entscheidend zur Ablösung des mechanistischen Weltbilds der Aufklärung beigetragen (vgl. IV Kemper I, S. 116ff., 122ff.; vgl. dazu auch die gegen Pietismus und Rationalismus gleichermaßen gerichteten, 1824/25 erschienenen >Fermenta cognitionis< des Böhmeanhängers Franz Xaver von Baader, 1765-1841). Gottsched war nicht der einzige Zeitgenosse, dem trotz aller Gegensätzlichkeit die gemeinsame hermetische Basis von Pietismus und Frühaufklärung in Halle nicht verborgen blieb. Ein anonymer Autor nutzte 1729 die Lukiansche Form der Totengespräche, um unpolemisch und biographisch gut informiert die Gemeinsamkeiten von Thomasius und Francke im fingierten Dialog zwischen beiden herauszustellen (vgl. I BCG; FBCG). Eine weitere Fortsetzung wird durch einen Kupferstich eröffnet, der die Überreichung der >Cautela< des Thomasius an Francke unverkennbar in den Horizont alchimistischer Symbolik rückt (vgl. Abb. 3 aus 11.57 Bienert, Frontispiz): Schon der Bildaufbau mit Thomasius und Francke links vor dem Tempel der Weisheit erinnert an das alchimistische Bildfeld von König (als Materie bzw. männlicher Schwefel) und Königin (als weibliches Quecksilber), aus deren Vereinigung denn auch der im Hintergrund als >Tempel der Weisheit< dargestellte »Stein der Weisen« entstehen sollte (vgl. dazu Abb. 6 in Bd. III, S. 110). Der auffliegende Vogel repräsentiert in der Alchimie die »sublimatio«, aber auch den »spiritus« oder »Schwefel«, der als drittes der drei paracelsischen Prinzipien rein und »geistig« in der Luft »verbrennt«, während die Krone auf dem Kopf des Vogels das Symbol für die wiedergeborene Materie darstellt, also die Quintessenz des ganzen alchimistischen Prozesses (vgl. dazu auch Abb. 10 und 11 ebda., S. 116f.). Auf der

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2) Pietismus, Aufklärung und Mystik

Abb. 3

rechten - durch Francke mitrepräsentierten - Bildhälfte zeigen sich im Medium der vier aristotelischen Elemente Wasser, Erde, Feuer (dies bezeichnenderweise mit dem feuerspeienden Drachen als Sinnbild der »prima materia«) und Luft all jene negativen Qualitäten, die im alchimistischen Reinigungsprozeß vernichtet werden: Wollust, Ehrgeiz (»Ambition«) und Geldgeiz als die von Thomasius aus den paracelsischen Prinzipien »destillierten« Hauptlaster der Menschen (vgl. dazu III Schings, S. 43), die in einen Sünden-Sumpf fließen, aus dem zugleich die

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päpstlichen Insignien der Vorurteile und Intoleranz ragen, und hinter diesen erhebt sich - kontrapunktisch zum Tempel der Weisheit - die Ruine der scholastischen Philosophie, zu der nur noch eine »Esels Brükke« führt, an welcher auch die Kapelle der »Sectirerey« liegt, wobei Weisheitspfad und Eselsbrücke zugleich die Alternative des christlichen »bivium« illustrieren. Das thomasianisch-frühaufklärerische und pietistische Reformwerk vereinigt zum alchimistischen Prozeß: Das ist eine auch und gerade angesichts der alchimistischen Interessen Franckes >witzige< Darstellung, welche die erste Phase der Frühaufklärung auf eine hermetische Pointe bringt! Diese Allianz bezeugte und bewährte sich nun auch in der Debatte um das zweite von Descartes' Automatentheorie ausgelöste Problem: den Zusammenhang und das Zusammenwirken von Leib und Seele. Die Frage suchten vor allem Leibniz und Christian WOLFF (1679-1754) mit ihrer Lehre von der »prästabilierten Harmonie« zu beantworten. Im Streit um diese Lehre war wiederum Halle ein Zentrum. Hierhin war Wolff 1706 als Mathematikprofessor berufen worden, doch schon seit 1709 begann er auch über andere Disziplinen (u. a. Logik, Experimentalphysik und Moralphilosophie) zu lesen (vgl. 11.57 Arndt, S. 275). Dabei fühlte er sich wegen seiner mathematischen und systemorientierten Methode des Philosophierens dem pragmatischen Eklektizismus der ThomasiusSchule weit überlegen und titulierte diese bereits 1710 in einem Schreiben an Leibniz als »absolute Laien« und »Windbeutel«. Die Thomasianer vergalten solche Geringschätzung alsbald mit Kritik an Wolff, und Thomasius selbst, der sich mit öffentlicher Polemik zurückhielt, unternahm doch auch nichts zu Wolffs Gunsten, als dieser in Streit mit den Halleschen Pietisten geriet. Das war seit Erscheinen der >Deutschen Metaphysik (1720) der Fall. Aus ihr schienen für Thomasianer wie Pietisten Determinismus, Spinozismus und Fatalismus zu sprechen, und aus der Gegnerschaft gegen dieses System entwickelte sich geradezu eine »thomasianisch-pietistische Tradition« (vgl. 11.57 Carboncini, S. 291 f.). Da Wolff - allerdings weitgehend selbständig - Kerngedanken der Leibnizschen Philosophie verarbeitet hatte, richteten sich die Angriffe nun zugleich auch gegen letzteren, und man sprach polemisch vom »Leibniz-/Wolffschen System«. Die Streitliteratur um die Wölfische Schulphilosophie war alsbald kaum noch überschaubar. Joachim LANGE (1670-1744; Vater des empfindsamen Lyrikers Samuel Gotthold Lange; vgl. Bd. VI), der als »Speerspitze des Pietismus« 1702 einen Auszug aus der pansophischen Physik von Comenius hatte erscheinen lassen (vgl. 11.57 Albrecht, S. 83) und der

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in seiner >Medicina mentis< von 1704 bereits unter dem Einfluß von Thomasius, Poiret und dem durch diesen vermittelten Hermetismus die von einer Mathematisierung der Metaphysik ausgehende Gefahr des Determinismus angeprangert hatte (vgl. 11.32 Bianco, S. 113ff., 139f.), wurde im Auftrag der Theologischen Fakultät Halle zum Hauptgegner Wolffs und benötigte bereits 1725 eine Schrift im Buch-Umfang, um diesen Streit zu dokumentieren (vgl. II Lange, S. 60ff., 92 ff; dazu und zur Verteidigung Wolffs 11.32 Bianco, S. 113ff.). Zu den zahlreichen Gegnern von Leibniz und Wolff zählte auch wieder Brockes, der befand, die Lehre von der »praestabilita Harmoniä« erkläre nicht, »wie ein Simplex in das andere wircke« (II IVG VI, S. 620f.). Dies war auch ein Hauptkritikpunkt von Lange. Mit seiner Monadologie suchte LEIBNIZ zwischen dem traditionellen organologisch-teleologischen und dem neuen physikalisch-mechanistischen Denken zu vermitteln. Für ihn gab es im Gegensatz zu Descartes überhaupt keine tote Materie im Weltall, sondern nur eine unendliche Zahl unterschiedlich organisierter und miteinander verknüpfter lebendiger Monaden (diesen Begriff übernahm er offenbar von dem Hermetiker Franciscus Mercurius van Helmont, 1618-1698, mit dem er zeitweise eng zusammengearbeitet hat; vgl. 11.33 Heinekamp, S. 188f.). Jeder Körper in der Natur und jeder tierische oder menschliche Leib bestand aus einer solchen Ansammlung von niedriger qualifizierten Monaden (vgl. II M, S. 59), wobei den tierischen Körpern eine zur Perzeption, den menschlichen eine zur Apperzeption oder Vernunft begabte Monade als höchstorganisierte Seele und als Verfügungszentrum innewohnte. Nur Gott allein war »des Körperhaften völlig frei« (ebda., S. 61). Bei der Annahme einer realen Wechselwirkung von Leib und Seele würden - so argumentierte Leibniz - entweder aus der denkenden Monade oder Seele eine Kraft auf den Körper übergehen, die es dort vorher nicht gab oder umgekehrt eine Kraft in die denkende Monade entschwinden, wodurch in beiden Fällen das Kausalitätsgesetz und das »Naturgesetz von der Erhaltung derselben Gesamtrichtung in der Materie« durcheinandergebracht würden (II M, S. 63/65; vgl. auch II Descartes MEP, S. 105f.). Während Descartes noch annahm, die Seele könne über die Zirbeldrüse mittels der Lebensgeister wenigstens die Richtung der Körper ändern, ohne ihnen damit Kraft zuzufügen und die Lösung des Problems bei Gott selbst suchte (dessen Kraft sei es letztlich, welche die Bewegung in den Körpern und die Gedanken in der Seele hervorbringe; vgl. II LS, S. 50ff.), entwarf Leibniz jene Idee, wonach der Leib dem Gesetz der Kausalität, die Seele dem der Finalität folgt und beide gleichwohl - ohne aufeinander einwirken zu können - gemäß einer in ihnen angelegten

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»prästabilierten Harmonie« zusammen funktionierten (M, S. 63; vgl. dazu T, S. 134ff.). Christian Wolff hat diese Idee - zugleich als Beweis für die Existenz eines weisen und gütigen Schöpfers - zu einer systematischen Lehre ausgebaut (vgl. II, S. 58ff.). Dabei mußte er konsequenterweise die am Wahrnehmungs- und Denkvorgang beteiligten Organe und Instanzen und damit diesen Prozeß selbst radikal zertrennen. Das sinnliche Wahrnehmen ordnete er dem Bereich des Leibes zu, da es mithilfe körperlicher Organe geschehe. Die Tätigkeiten des Vorstellens, Einbildens, Erinnerns und Denkens waren dagegen der Seele eigen. Diese stellte sich also die Welt so vor, wie die körperlichen Sinne sie ihr präsentierten. Die Bewegungen im Leibe geschehen »durch die in den Nerven befindliche Materie« (ebda., S. 70), und vollkommen parallel zu diesen Bewegungen in Nerven und Gehirn entwickelten sich auch die Vorstellungen, Einbildungen und Willens-Bekundungen der Seele. Da die Welt als beste aller möglichen eingerichtet war und sich die Seele insofern stets nur Gutes - und das Schlechte auf dem Weg zum Besseren - vorstellte, animierte dies stets den eigenen Willen, auf dem Weg der Vervollkommnung fortzufahren: Kausalgesetz und Finalursachen harmonierten so im Prozeß fortschreitender Verbesserung der körperlichen und geistigen Zustände (vgl. dazu auch V/2 Kap. I 3 a). - Indessen diese Lösung hatte einen gegenüber Descartes verdoppelten Determinismus zur Folge: Nicht mehr nur der Körper, sondern auch die Seele wurden damit stillschweigend dem >Automatenmodell< unterworfen. Die Harmonie funktionierte ja nur dadurch, daß Spontaneität, Kontingenz und Freiheit ausgeklammert wurden und die Seele in der >Vorstellung< auf den Leib als Repräsentanten des Universums (oder auf die Zentralmonade Gott selbst) bezogen blieb. Von daher war der »Seelen-Automat« nur »das selbsttätige Vermögen, eine Vorschrift zu realisieren«, die ihm der »göttliche Zentralcomputer« einprogrammiert hatte (so III Sutter, S. 96, 103). Von daher kann es nicht verwundern, daß Pietisten wie Thomasianer den Kampf gegen Leibniz und Wolff unter dem Motto »Freiheit gegen Fatalismus« führten (vgl. 11.32 Bianco). Lange faßte seine Deutung des Systems 1725 - nach der Vertreibung Wolffs aus Halle (1723) - im Blick auf die prästabilierte Harmonie so zusammen: »wie man den Menschen nach Leib und Seel zu einem gedoppelten Uhr= Wercke, und also zu und an ihm alles nothwendig mache, auch solchergestallt ihn als ein Rad mit zur statuirten universalen Welt = Machine ziehe, und mit Aufhebung aller Freyheit alles auf eine Stoische und Spinozianische Fatalität hinaus führe: dabei die naturliche Vereinigung und gemeinschaftli-

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ehe Wirckung zwischen Leib und Seele leugne, und an stat dessen eine solche praestabilirte Harmonie zwischen Leib und Seel vorgebe, daß die Gedancken und Empfindungen der Seele und die ihnen gemässe Bewegungen des Leibes, als neben einander liegende Uhr = Wercke, mit einander beständig und aufs genaueste abereinstimmten; ein jegliches aber sein Geschäfte für sich allein habe und behalte ...« (II Lange, S. 3)

Scharfsinnig extrapolierte Lange seine Kritik auch auf den Leibniz/Wolffsehen Begriff von Gott: Dieser sei nicht mehr »ein allmächtiger Schopffer«, sondern nur noch ein »allsehender Repraesentator«, dem das System keine »Wurckung auf die sichtbare Welt und auf das menschliche Geschlecht« mehr zuzuschreiben vermöge (ebda., S. 20f.). Ebenso urteilte der Thomasius-Schüler Christian August Crusius (1705-1775), »das Wolfische Systema« führe »ein Fatum ein« (zit. in 11.57 Carboncini, S. 290; über den »Spinozismus« von Leibniz und Wolff handelte auch ausführlich II Dippel EWFGC III, S. 494ff.). Daß Lange ganz unorthodox die menschliche Willensfreiheit postulierte, verweist auf die Bedeutung, welche die Pietisten der synergistischen Mitarbeit des Menschen im Prozeß der Wiedergeburt beimaßen (vgl. 11.32 Bianco, S. 116). Die pietistisch-thomasianische Kritik an Wolff war in der Aufklärung folgenreich (vgl. dazu ebda., S. 127ff.). Nicht zuletzt distanzierten sich Wolff selbst und sein Schüler Gottsched zunehmend von der »prästabilierten Harmonie« und näherten sich jener influxionistischen Richtung an, die aufs ganze gesehen im 18. Jahrhundert die Oberhand behielt (ebda., S. 129ff.). Zu ihr bekannte sich auch Brockes, doch ging er noch entschieden über sie hinaus mit der Annahme, »Daß Geister, wenn sie mit den Korpern sich fugen, sich verändern müssen; Daß sie in einen ändern Stand, als sie vorher gewesen, kämen, Und, es geschehe, wie es wolle, doch etwas anders an sich nähmen, So sie vorhero nicht gehabt (wofern wir sie, Wie in der neuen vorbestimmten, also genannten Harmonie, Nicht bey und nebst den KOrperchen fast mußig, wollten laufen lassen.« (IVG VIII, S. 554)

»Es blieb ein zentrales Anliegen der Frühaufklärung«, resümiert GeyerKordesch deren anti-cartesianischen Intentionen, »die Schöpfung der Welt und des Menschen aus dem >Unsichtbaren< zu verteidigen« (11.55, S. 256). Hier läßt sich Brockes einordnen, doch reichen seine Absichten darüber hinaus, weil es ihm nicht nur um die Möglichkeit einer tatsächlichen Einwirkung der unsichtbaren »Geister« auf die »Körper« geht, sondern um eine wechselseitige Annäherung und Verwandlung beider

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Substanzen ineinander. Eine solche Annahme war freilich sowohl für die traditionelle aristotelische Schulphilosophie wie für die von Descartes, Spinoza und Leibniz/Wolff ausgehenden Systeme undenkbar. So werden wir im folgenden zur Bestimmung der Brockesschen Position auf das Gebiet der hermetischen Naturphilosophie geführt, deren emanatistische Spekulationen auf der Grundidee des von ihm postulierten Ineinanders von Geist und Materie basierten. d) Hermes und die »Kette der Wesen« (Dippel, Brockes) Die aus dem alten »vertikalen« Weltbild des (Neu-)Platonismus stammende Idee von der »Kette der Wesen« erlebte ausgerechnet in jener Epoche ihre Blütezeit, die das alte Modell durch die Erkenntnis von der Pluralität der Welten und dem unendlichen Weltraum verdrängte (vgl. III Lovejoy, S. 123 ff., 221 ff.; Guthke 1983, S. 192). Aber die Vorstellung, daß Gott mit seiner Schöpfung und allen Kreaturen in einer emanatistisch-graduell zu denkenden Stufenfolge und damit in einer Seinsgemeinschaft verbunden sei, war nicht an die »Vertikalität« gebunden, eröffnete vielmehr dem philosophischen und theologischen Denken interessante Antworten auf die durch das neue Weltbild heraufbeschworenen Fragen. Die Idee der »Kette« war von verschiedenen weltanschaulichen Systemen beerbbar - nur nicht vom orthodoxen Protestantismus, weil dieser die pantheismusverdächtige, emanatistisch begründete Verbindung Gottes mit seinen Geschöpfen ablehnen mußte (vgl. Bd. II, S. 68). Nicht zuletzt deshalb entwickelte sich diese Idee zu einem Konkurrenzsystem der Weltinterpretation, das auf alle theologischen Fragen von der Kosmogonie und Theodizee bis zur Eschatologie eine philosophische Antwort anbot und zugleich die Fülle neuen Wissens - von der Unendlichkeit der Welt und der Fülle ihrer Erscheinungsformen bis hin zu Einzelproblemen der Biologie und Botanik - zu integrieren vermochte. Vor allem stellte es Antworten auf die in der Frühaufklärung besonders interessierende Frage nach dem Funktionieren von Natur und Mensch, Körper und Geist bereit (vgl. dazu auch V/2 Kap. II l b), und es bot einen hypothetischen Interpretationsrahmen an, von dem aus gewisse »missing links« ausgeforscht werden konnten, weil sie von der Idee her nicht bestehen durften (vgl. III Lovejoy, S. 274ff.). Alle mikro- und makrokosmischen Entdeckungen bestätigten für die Zeitgenossen eindrucksvoll die Existenz der »Kette«, und auch die zweite Modeerscheinung des frühen 18. Jahrhunderts, die Physikotheologie (vgl. V/2 Kap. I 2), konnte die »catena aurea« als aposteriorischen Gottesbeweis benutzen (und wenn man sich dabei nur mit einzelnen Glie-

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dem beschäftigte, ohne den theologisch prekären Gesamtzusammenhang zu berücksichtigen, war dies Verfahren auch für die Orthodoxie unanstößig). Die deterministische Interpretation der »Kette« durch Descartes, Spinoza, Leibniz und Wolff (vgl. dazu ausführlich III Lovejoy, S. 176ff., 206ff., 21 Off., 217, 427) rief den entschiedenen Widerspruch vor allem der Hermetiker hervor, denn sie waren es, die seit der Renaissance - seit der Übersetzung des sog. >Corpus hermeticum< ins Lateinische durch Marsilio FICINO (1433-1499) - die neuplatonische Sympathienlehre im Sinne der »chain of being« gedeutet hatten (vgl. Bd. II, S. 66ff.; III, S. 74ff.). Hermes' Beiname »Trismegistos« (= der dreimal größte) verwies auf ihre entscheidenden Bezugswissenschaften Magie, Astrologie und Alchimie, und mit ihnen verfügten die Hermetiker gerade über jene geheimen Wissenschaften, die Auskunft über die besonders mysteriösen Aspekte der »Kette« und ihr Funktionieren gaben: über den Zusammenhang Gottes mit den obersten und untersten Teilen der Kette, über deren tatsächliches Funktionieren beim Ineinanderwirken der Glieder (vgl. dazu Bd. II, S. 66f.) und vor allem über die letztlich entscheidende Frage, wie die Rückkehr des emanatistisch »Gewordenen« in die Gottheit zu denken sei. Überdies hatte sich der Hermetismus vor allem durch Paracelsus auch die Medizin erobert (vgl. Bd. III, S. 120ff.), und dieser Wissenszuwachs sowie die Bestätigung der hermetischen Lehren im Bereich der vitalen Prozesse verknüpften die Erkenntnisse im anorganischen Bereich (Alchimie) mit denen vom Makrokosmos. Den Plausibilitätsverlust der Astrologie verschmerzten die Hermetiker umso leichter, als vor allem sie die ersten und lange Zeit einzigen Anhänger des kopernikanischen Weltbildes gewesen waren (vgl. Bd. II, S. 57ff.). So bestätigten viele - und gerade spektakuläre - neue Entdeckungen wie Newtons Gravitationsgesetz das hermetische Weltbild (vgl. Bd. III, S. 155f.), während sie dem orthodoxen Bibelglauben widersprachen, und deshalb fühlten sich die Hermetiker zu Beginn der Frühaufklärung, als wichtige naturwissenschaftliche Disziplinen - von der Biologie bis zur Chemie noch kaum vom empirisch-experimentellen Zugriff der »new science« profitiert hatten, durchaus auf der wissenschaftlichen Höhe ihrer Zeit. So wundert es nicht, daß 1706 in Hamburg, der Heimatstadt des damals 26jährigen Brockes, eine deutsche Übersetzung von immerhin 17 der insgesamt 28 Schriften des >Corpus hermeticum< erschien (den Hinweis auf diese Ausgabe verdanke ich Klaus Vondung, Siegen). Der Titel >Hermetis Trismegisti Erkäntnuß Der Natur Und Des darin sich offenbahrenden Grossen Gottes< (vgl. Abb. 4) stellt das Werk in den aktuellen Streit um Gewicht und Bedeutung der göttlichen Offenbarung im »Buch

d) Hermes und die »Kette der Wesen«

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logie Hermctis, ejfen Medicin> Chemie , unt>@off m et. 3o9Corpus hermeticurm von daher als göttlich autorisierte Auslegung der »catena« aus, die >Erinnerung über das Kupferblat< schließlich reklamiert das entscheidende Anliegen der Physikotheologie, nämlich Erkenntnis und Beweis Gottes durch Betrachten der Natur, für die hermetische »Spuhren«-Suche: »SUch erst der Bildung Sinn und Grund recht zu verstehen / Such auch den Ketten gleich in deinem Schluß zu gehen; Alsdenn so folge nur in Einfalt der Natur / So fält der Umschweiff hin / und zeiget sich die Spuhr. Durch das GeschOpffe selbst den SchOpffer anzusehn / Und in dem Welt = Geblud niemahls nicht irr zu gehn.« (I Hermes, S. a 2 r)

Der Herausgeber versteckte sich geschickt hinter dem Pseudonym »Aletophilus«, das in jenen Jahren in verschiedenen Abwandlungen (»Philalethes«, »Philomathis«, »Wahrmund« u. a.) von mehreren Autoren im Gewirr der Hamburger Streitigkeiten um den Pietismus und Dr. Mayer, den Aufstand gegen den Rat, aber auch in den Streitigkeiten zwischen Barthold Feind und dem Hamburger Pfarrer Christian Krumbholtz benutzt wurde (vgl. dazu 11.13 Marigold, S. 484, 505, 515f., 518). In der Vorrede bestätigt der Editor unmißverständlich den im Schlußvers bereits angedeuteten optimistischen Glauben an die Erkennbarkeit der einen Wahrheit über das Universum. Er polemisiert gegen die Vertreter der Orthodoxie, die »nur den Christlichen Nahmen an Statt einer Staats = Decke brauchend / mit ihrer zerstummelten Klugheit sich und andere verderben« (I Hermes, S. a 3 r), und bittet den Leser, daß er manches, was ihm an der Lehre des Hermes anstößig erscheinen sollte, »mit einer vernünfftigen Discretion der Zeiten = Verwirrung / und unterschiedlichen Sentementen der Griechen / geschehener Einschieichung / als einen/ dem reinen Purpuer = Mantel Hermetis angeflickten Lappen anzusehen und wie die Rosen unter den Dornen / also die Warheit unter der Dunkkelheit des verwirrten Alterthums hervor zu suchen / belieben wolle / wohl wissend / daß die Warheit ein einfaches Wesen / so daß alles derselben zu contradiciren scheinendes/ vor eines ändern Geistes Einfluß zu halten; Zu dem Ende denn dieses den Honigsuchenden Bienen / und nicht den Gifft = saugenden Spinnen geschrieben.« (Ebda., S. a 4 r)

Daß dieser Satz zugleich bedeutet, die eine einfache Wahrheit sei nur im Buch der Natur zu finden, dürfte den orthodoxen »Gift-Spinnen« kaum entgangen sein. Die aufklärerische Distanz auch gegenüber der schrift-

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Abb. 5

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liehen hermetischen Überlieferung zeigt sich u. a. in der Entmythologisierung, die der Herausgeber in der >Nachricht Von der Persohn und Genealogie Hermetis< unternimmt. In einer gelehrten, anmerkungsreichen Abhandlung sucht er zu erweisen, daß Hermes, den er immerhin tatsächlich noch für den Verfasser dieser Schriften hält, kein numinoses Wesen, sondern ein hervorragender Mediziner, Alchimist und »ein ausbundiger Kenner der Natur / und darinn sich offenbahrenden dis All = schaffenden grossen GOttes gewesen« und »unter Noachs Nachkommen« zu suchen sei, weshalb seine Offenbarungen auch die des Moses an Alter (und Authentizität) überträfen (ebda., S. a 8 v, b 3 v, b 12 v, d 2 v). - Wie der >Versuch Von Wesen des Geistes< ist auch diese Edition ein Beleg dafür, daß den »Honigsuchenden« Eklektikern der Frühaufklärung das hermetische Weltbild bei vernünftiger Betrachtung (und unter Eliminierung »angeflickter Lappen«) die Spur zur einfachen Wahrheit über Gott und die Welt zu enthalten schien. Aber was war diese Wahrheit? Diese Frage beantwortet u. a. der radikalpietistische Hermetiker Johann Conrad DIPPEL (1673-1734) auf unzweideutige und kühne Weise. Auch er gehört zu jenen Autoren, die dem hermetischen Denken mit der Orientierung am Plausibilitätskriterium der Vernunft einen Weg in das Natur-Denken der Aufklärung geöffnet haben. Er war nicht nur Theologe und Philosoph, sondern auch praktizierender Alchimist, der u. a. das Berliner Blau erfunden hat, und fachlich angesehener Doktor der Medizin, beherrschte also die klassischen hermetischen Künste. Die gesamte empirisch wahrnehmbare Natur befand sich für Dippel in einem riesigen, unaufhörlichen Kreislauf, der von Gott ausging und wieder in ihn zurückkehrte. Gott war dabei »die Mutter aller«, der »noch alle Geschöpfe trage und beseele / und alles grobe wiedrum endlich zu subtilen und geistlichen Corpern machen konne« (II WLR, S. 35). Als Voraussetzung für diesen vitalistischen Pantheismus vertrat Dippel die häretische These, das Denkmodell eines unsterblichen Geistes, das sich sowohl im aristotelischen Intelligenz-Begriff wie in der cartesianischen »substantia cogitans« finde, irre darin, »daß es alle und jede / auch die subtileste Corperlichkeit ausschliesse«; dadurch sei fälschlicherweise auch »alles / was in der Natur geschähe«, »von der Wurckung der Geister abgesondert«. Demgegenüber behauptete Dippel, »daß alle Creaturen / Geistliche und Leibliche / Sichtbare und Unsichtbare / wie sie nun von Gott in ihre Individualitaet heraus gesetzt sind / auf gewisse Art alle geistlich / und auch leiblich sind« (ebda., S. 32f.). Insofern enthielten selbst die materiellsten Körper noch Geist und umgekehrt sogar Gott - wenn auch subtile - Materie (vgl. auch ebda., S. 34f.). Von daher

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war die Rückkehr alles Geschaffenen zu Gott als fortschreitende Sublimierung bzw. Vergeistigung aller Kreaturen vorstellbar (eine Vorform der heutigen Theorie von der zunehmenden »Intellektualisierung« des Kosmos). Den empirischen Beleg für diese Rückkehr der »Kette« lieferten Dippel sowohl die Alchimie (vgl. Bd. III, S. 101 ff.) als auch die paracelsische Medizin (vgl. ebda., S. 120ff.). Hier fand er in den Verdauungsvorgängen den zur Scheidekunst analogen Sublimierungsvorgang: Mithilfe des vom Magen aus wirkenden »Archeus« wandelte sich die pflanzliche oder tierische Nahrung in eine qualitativ höherwertige Form, welche schließlich auch noch als Seelennahrung zu dienen vermochte (dieser Vorgang war auch grundlegend für Diderots Naturauffassung; vgl. II UN, S. 71 f., 157ff.). So funktionierten also im organischen Bereich die Selbsterhaltung der Lebewesen und ihre Höherentwicklung zu geistigeren Existenzformen durch die »Dependentz« der Nahrungskette, dadurch also, daß »alle Geschöpfe der Natur« »Essen / das ist / ein ander Wesen / in ihr Wesen verwandeln müssen« (WLR, S. 78). So betrachtet führte Gott aber mit der gesamten »creatio continua« »in dieser auf = und absteigenden Circulation der Geschöpfen / und deren Verwandelung / die äussere und sichtbare Natur wiederum« »in ihren unsichtbaren Ursprung zurück«, so daß sich die gesamte Schöpfung in einem »Circul / aus GOtt / durch GOtt / zu GOtt« befand (ebda., S. 79f.). Alchimie und Medizin vermochten diesen - durch den Sündenfall in der Schöpfung behinderten - Prozeß ebenso zu beschleunigen (ebda., S. 128) wie die Magie, und zwar durch den hermetischen Phantasiebegriff (vgl. dazu Bd. III, S. 79ff., 138ff. u. ö.): So wie Gott die Welt nicht ohne vorherige Einbildung hat entstehen lassen können - »und seynd folglich alle individual Ideen in der ewigen Weißheit Gottes schon wesentlich abgefasset und gegründet gewesen / ehe sie in das Sichtbahre gekommen sind« (WLR, S. 31), so begreifen auch wir die »creation« »unter dem Bilde unserer eigenen imagination; Es ist dem Menschen in seinem Fall dieses Vermögen noch gelassen / daß er in seiner Einbildungs=Krafft allerley Bilder kan machen / und in diesen Ideen seinen Verstand exerciren« (ebda., S. 30; Hervorhebung in der Quelle; vgl. dazu auch Kap. l c mit der Position Vicos). In abgestufter Analogie zu Gott hat die menschliche Einbildungskraft wie bei Böhme (vgl. Bd. III, S. 142ff.) die Fähigkeit, den mittels Imagination des Bösen von Adam herbeigeführten Sündenfall durch Imprimation von »guten Imagines der äussern Natur« magisch wieder aus der Welt zu schaffen:

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»Nun auch in specie auf die gute Magie des Menschen zu kommen / sofern derselbe / als ein freyes Agens, aus dem guten Principio, darinnen er steht / gute Imagines der lussern Natur imprimiret / und imprimiren kan / so ist gewiß / daß der Mensch so wol als die gute Engel / wann er wiedrum in seinem Willen GOtt unterthan und glaubig worden ist / beydes in der guten Magie, die über die Natur gehet / als auch in der guten Magie, die durch gottliches Licht und Erfahrung naturliche agentia, und gute wörckende Natur = Geister gehörig zu appliciren weiß/ dem Fluch kan entgegen gehen/ und der leydenden Natur zu Hülff kommen / das B6se zu überwinden und von sich zu stossen.« (WLR, S. 54f.; vgl. Bd. III, S. 85)

Die Imprimation von »guten imagines der äussern Natur«: so ließe sich auch das Programm von BROCKES charakterisieren. Daß er hermetisch inspiriertes Schrifttum wie des Thomasius' >Versuch Von Wesen des Geistes< kannte, darf als sicher gelten (vgl. Kap. 2 c), und auch, daß ihm dieses über seinen Hamburger Freundeskreis zugänglich war. So durch Johann Albert FABRICIUS (1668-1736), den Herausgeber umfangreicher kommentierter Bibliographien zur griechischen und römischen Antike, aber auch zu den Religionsstreitigkeiten seiner Zeit (vgl. II Fabricius; Weichmann N/R, S. 85f.), der zusammen mit Brockes Mitglied der >Teutsch-übenden Gesellschaft (1715) und der >Patriotischen Gesellschaf t< (1724) war und eine umfassende Bibliothek besaß: Dieser veröffentlichte 1732 den Entwurf einer >PyrotheologiePhysica, Oder Natur-Wissenschafft< intensiv als Quelle für seine Darstellung der >drey Reiche der Natur< benutzt (vgl. II.6 Fry 1979, S. 148ff.; 1981, S. 261 ff.; zu diesem Gedicht vgl. V/2 Kap. II l b).Scheuchzer vertrat im Kern dieselbe Ansicht wie Thomasius: Er akzeptierte die Position von Descartes, wo dieser eine mechanisch »stoßende« Kraft erklärte, und zugleich die der Hermetiker, wo diese eine »vis attractiva« nachzuweisen versuchten. Als Kopernikaner und Anhänger von Newton versuchte Scheuchzer überdies, dessen Erkenntnis, daß alle Planeten »in ihren Kreisen durch zwey widrige Kräffte«, nämlich »vis centripeta« und »vis centrifuga«, gehalten werden, auf alle Phänomene, also auch auf die belebte Natur zu übertragen (vgl. II Scheuchzer KN, S. 83; dazu IV Kemper II, S. 357ff.). Brockes stand indessen - wie schon zitiert - in Opposition zu Descartes sowie zu Kernideen von Leibniz und Wolff. Über seine eigene WeltAnschauung hat der Senator allein schon in den fünf ausufernden Lehrgedichten über >Die fünf SinneDie ErdeDie LuftDas Feuer< und >Das Wasser< keinen Zweifel gelassen, die zu seinen frühen, vor 1721

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entstandenen Gedichten zählen und in den beiden ersten Bänden des >Irdischen Vergnügens< publiziert wurden (abgedruckt auch in A; vgl. dazu ausführlich IV Kemper I, S. 310ff.). Danach waren für ihn sowohl die Erde als auch der Kosmos insgesamt »ein beseeltes Thier« (A, S. 574f.), wie es nicht nur Platoniker und Aristoteliker, sondern auch die Hermetiker behaupteten (»die Welt ein eintziges Thier«, »ein unsterbliches Thier«; I Hermes, S. d 3 r, 65 u. ö.)· Im Blick auf die Planeten gereiche es Gott zur größeren Ehre, daß er »solche grosse Thiere / Hab' erschaffen und regiere, / Als wenn man den Kreis der Welt / Nur für einen Klumpen hält« (A, S. 579). Brockes bekannte sich zur paracelsisch-hermetischen Drei-Prinzipienlehre, wonach »ein Element bestehe / Nicht aus einem Zeug allein, / Sondern aus den dreyen Gründen, / So in der Natur zu finden, / Die ein jeder kennen muß, Schwefel, Saltz, Mercurius.« (Ebda., S. 583, recte 593) Und ebenso vertrat er hier die These von der Emporläuterung der Lebewesen durch die Ernährung mittels animalischer Alchimisten-Küchen als Destillierinstrumenten (ebda., S. 590f.; vgl. dazu V/2 Kap. II l b). Brockes ist von hermetischem Denken beeinflußt und hat dieses vom ersten Band des >Irdischen Vergnügens< an auch verbreitet: Diese Beobachtung muß hier zunächst genügen; denn auch der Hamburger Ratsherr ist - daran sei erinnert - Eklektiker, und in seinem Werk finden sich u. a. Belege für physikotheologische Doxologie und deistische Religiosität (vgl. V/2 Kap. I 2). Ob eines dieser zum Teil konträren Weltbilder als Integralinstanz in seinem Werk fungiert, wird sich daher erst nach Kenntnis aller Einflüsse bestimmen lassen (vgl. V/2 Kap. II 1). Allein auch schon die Tatsache eines Einflusses von hermetischem Denken auf die Frühaufklärung erlaubt zwei Feststellungen im Blick auf ihr Verhältnis zum Pietismus: Zum einen spiegelt sich darin das gemeinsame Interesse beider Reformbewegungen an der Abwehr deterministischer, das eigene Autonomiestreben behindernder Weltanschauungen, zum ändern die zunehmende Bedeutung der Natur als des religiösen und wissenschaftlichen Objekts menschlicher Selbstbestimmung. Aber darin scheiden sich die Geister: Während im Pietismus - auch bei Dippel - der christologische Heilsweg letztlich Priorität behielt und sogar durch das >vertikale< Weltbild des >Corpus hermeticum< gestützt werden konnte (»Und dies ist einig und allein des Menschen Heyl / wenn er GOtt erkennt / es ist die Auffahrt zum Himmel: Hierdurch alleine wird die Seele gut«; I Hermes, S. 87), zeigt dessen frühaufklärerische Rezeption schon durch den Rückgriff auf die noch nicht christologisch vereinnahmte (heidnische) Version - ein vorrangiges Interesse an einem nur durch die animistisch gedachte Natur vermittelten Weltbild (vgl. dazu V/2 Teil I).

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2) Pietismus, Aufklärung und Mystik

Indessen haben beide Richtungen die Literaturgeschichte das ganze Jahrhundert hindurch bestimmt: Einerseits verdrängte die pantheistische Naturreligion den christologischen Heilsweg und bot sich selbst im Medium der Literatur - kulminierend bei Goethe, aber auch in der Romantik - als religiöse Alternative, aber eben als religiöse Alternative zur etablierten christlichen Frömmigkeit an, andererseits erfolgte die Autonomisierung zum »sterblichen GOtt« oder »GOtt der weit« durchaus auch im christologischen Denkmodell des sich selbst opfernden und (nicht zuletzt dadurch) deifizierenden Genies oder Dichter-Priesters, der das Novalis'sche »Gott will Götter«-Postulat als neuer »Mittler« poetisch herzustellen suchte (vgl. dazu IV Kemper I, S. 122ff.; 11.39 Ekmann, S. 85ff.). Auch diese im exklusiven Christus-Bezug schon für die Entwicklung des Freundschaftskultes in der Poesie der Empfindsamkeit (vgl. III Rasch, S. 50ff.; Bd. VI) literarisch bedeutsame christologische Wirkungsgeschichte gebietet es, die personale »Mittler«-Mystik in ihrer epochalen pietistischen Version genauer zu erkunden, - und dies dort, wo sie sich besonders radikal und poetisch zugleich geäußert hat: bei Gottfried Arnold.

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3) Pietistisches Autonomiestreben: Selbstvergottung und Androgynie (Arnold)

a) »Fremde Pflicht« und »meines Jesu Ruh« - Brüche in Lebenslauf und Werk Gottfried Arnold (1666-1714), »eine der urwüchsigsten Gestalten des Luthertums« (III Nigg, S. 343) und »die größte wissenschaftliche Begabung innerhalb des Pietismus« (II.2 Kantzenbach, S. 263), ist als Lyriker heutzutage nahezu unbekannt. Schon seinen Zeitgenossen galt er hauptsächlich als Verfasser der monumentalen >Unpartheiischen Kirchen = und Ketzer = Historie< (1699/1700-1703). Ihre Niederschrift fällt in die Jahre zwischen 1696 bis 1700 - zugleich die Zeitspanne seiner lyrischen Produktivität! -, und hier befand er sich nach Ansicht der Forschung in einer Phase besonders radikaler Separation von Kirche und Welt, die man als mystischen Spiritualismus oder radikalen Pietismus charakterisiert (vgl. dazu auch III Schmidt-Biggemann, S. 137f.). Zugleich freilich galt den Zeitgenossen und gilt der Forschung vor allem die >Kirchen = und Ketzer = Historie< auch als »geistiger Höhepunkt der Frühaufklärung« (III Winter 1966, S. 74), als das - wie Thomasius rühmte - »nach der heiligen Schrifft« »beste und nutzlichste Buch« (II Walch RIK II, S. 688; vgl. ebda., S. 701; vgl. Walch RIK I, S. 764). Schon mit dem »Unpartheiischen« im Titel betonte Arnold das Un- bzw. Über- und damit Anti-Konfessionelle seiner Historiographie, mit der er gegen das Vorurteil der Autorität kämpfend die bisherige traditionelle Kirchengeschichtsschreibung der orthodoxen »Sieger« auf den Kopf stellte und die von den Kirchen unterdrückten und verbannten Ketzer - vor allem diejenigen des 16. und 17. Jahrhunderts - als die eigentlichen, vom Geist Gottes erfüllten Repräsentanten der christlichen Geist-Kirche rehabilitierte (vgl. II.2 Seeberg 1923/64, S. 388ff.). Dabei stellte sich das Werk als wahre Fundgrube für häretische Anschauungen dar, und in diesem Sinne studierte auch der junge Goethe 1769 Arnolds Buch und benutzte es zur Herausbildung seiner eigenen »Privatreligion«, in der neben dem »neuen Platonismus« das »Hermetische, Mystische, Kabbalistische« eine besondere Rolle spielten (II DuW I, S. 350; vgl. dazu Bd. VI; vgl. dazu auch II.2 Brinkmann). - Arnold ein Mystiker, Pietist und Aufklärer zur selben Zeit? Ein Blick auf die Biographie verschärft sogar noch das Problem einer historischen Positionsbestimmung.

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3) Pietistisches Autonomiestreben (Arnold)

Arnold wurde in Annaberg (Erzgebirge) geboren, verlor früh seinen Vater, einen Lehrer, und mußte schon mit dreizehn Jahren durch Stundengeben seinen Lebensunterhalt selbst verdienen (vgl. dazu II Reitz IV, S. 259ff.; III Nigg, S. 320ff.). Als Schüler und Student war er introvertiert und ehrgeizig, wandte sich während seines Theologiestudiums an der orthodoxen Fakultät in Wittenberg (1685-1689) auch unter dem Einfluß von Speners Schriften dem Pietismus zu und entwickelte die Grundzüge seines kirchenkritischen Frömmigkeitsideals aus einer eingehenden Beschäftigung mit der Urkirche. Spener holte ihn 1689 nach Dresden und vermittelte ihm, da er in der verderbten Kirche kein Amt übernehmen wollte, mehrere Hofmeister-, d. h. Hauslehrer-Stellen: Die Leidenschaft als »der hervorstechendste Zug« und »etwas Aufreizendes in der Persönlichkeit Arnolds« (II.2 Seeberg 1934, S. 9) sowie die Radikalität seiner Frömmigkeitsmaximen beendeten mehrfach jäh seine Dienstverhältnisse. Spener, der das hitzige Temperament und den Radikalismus Arnolds mit Sorge betrachtete, ließ es gleichwohl nie zu einem Bruch mit ihm kommen und beschaffte ihm schließlich 1693 eine Hofmeisterstelle in Quedlinburg, wo Arnold sich in einem kleinen Kreis prophetisch-visionärer Radikalpietisten selbst zu einem separatistisch gesinnten Mystiker entwickelte. Hier schrieb er auch sein erstes großes historisches Werk, die >Wahre Abbildung Der Ersten Christen^ das 1696 erschien. Es trug ihm einen Ruf auf eine Professur für Profangeschichte an der Universität Gießen ein. Nach einiger Bedenkzeit trat Arnold 1697 dieses Amt an, doch stürzte es ihn in einen fundamentalen Identitätskonflikt. Der weltliche Universitätsbetrieb erwies sich für ihn als unvereinbar mit seinem mystischen Vollkommenheitsstreben, und so gab er die Professur bereits 1698 wieder auf (vgl. dazu II Reitz IV, S. 264ff.; grundsätzlich zum Problem III Maier-Petersen, S. 75ff.): »Der eitle Wahn, was Nützliches zu lehren, Zog mich aus mir und meines Jesu Ruh In fremde Pflicht, sein Werk in mir zu stöhren. Ich ließ mich selbst und lief auf andre zu.« (Zit. in II.2 Seeberg 1923/64, S. 4)

Als Privatgelehrter in seinen identitätskonstituierenden und sozialisierenden philadelphischen Zirkel nach Quedlinburg zurückgekehrt, verfaßte Arnold hier u. a. - mit tatkräftiger Unterstützung Friedrich Brecklings - die >Kirchen = und Ketzer = Historie< sowie >Das Geheimniß der Göttlichen Sophia< (1700). Trotz des in dieser Schrift proklamierten Ideals der Ehelosigkeit heiratete Arnold 1701 Anna Maria Sprögel, die Tochter seines ebenfalls pietistisch gesinnten Hauswirts (zwei Kinder aus dieser Ehe verstarben früh). 1702 übernahm er eine Stelle als

a) Brüche in Lebenslauf und Werk

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Schloßprediger in Allstedt, der Residenzstadt des Herzogtums SachsenEisenach, in der einst Thomas Müntzer (um 1490-1525) seinen gegen Luthers Reform gerichteten >Bund der Auserwählten< gegründet und seine Kirchenreform durchgeführt hatte (vgl. Bd. I, S. 217ff.). Da Arnold sich aber weigerte, den Eid auf die lutherischen Bekenntnisschriften zu leisten, mußte er Allstedt 1705 verlassen und folgte einem Ruf des Preußenkönigs Friedrich I. als Inspektor (= Superintendent) und Oberpfarrer nach Werben in der Altmark (hier entfiel der Eidzwang), und schließlich nahm er 1707 die Berufung zum ersten Pfarrer und Diözesan-Inspektor in Perleberg (Altmark) an. Neben den Pflichten des Pfarramts publizierte er unermüdlich weiter - u. a. seine >Historie und Beschreibung der Mystischen Theologie< (1703) -, er edierte den bis dahin kaum beachteten >Cherubinischen Wandersmann< des Angelus Silesius, verdeutschte und veröffentlichte den >Geistlichen Wegweiser< von Molinos und besorgte eine von ihm ebenfalls eingeleitete Werk-Ausgabe der bis zu Goethe und Moritz auch in Deutschland einflußreichen quietistischen Mystikerin und »schönen Seele« Jeanne Marie von Guyon (1648-1717). Indessen forderte die immense Arbeitsleistung, die Arnold sich zeitlebens abverlangt hatte - allein sein schriftstellerisches Werk umfaßt 52 Publikationen -, allmählich ihren Tribut. Seine körperliche Konstitution wurde 1713 durch eine schwere skorbutische Erkrankung erheblich geschwächt, und als am Pfingstsonntag 1714 preußische Soldatenwerber in den Gottesdienst eindrangen und einige Jugendliche vom Altar weg zur Fahne preßten, erlitt Arnold einen Zusammenbruch und starb wenige Tage später (vgl. dazu II.2 Knapp, S. XXIXff.; vgl. zur Biographie ferner II.2 Büchsel, S. 24ff., 106ff., 161ff.). - Ob dieser Lebenslauf durch Brüche (so II.2 Seeberg 1923/64, S. Iff.; Seeberg 1934, S. 6f.) oder durch »Stufen« von einer pietistischen über eine radikalspiritualistische Phase bis zur nach-mystischen »Abklärung« (so III Nigg, S. 320ff., 335ff.) bzw. durch eher gleitende, aus seiner Theologie verständliche Entwicklungen gekennzeichnet ist, wie Arnold dies selbst gedeutet hat, ist in der Forschung umstritten (vgl. II.2 Büchsel, S. 13ff). Doch zeigt sich darin erneut das Problem der Verhältnisbestimmung von Pietismus und Mystik. Von Arnolds Biographie her scheint die Mystik einerseits eine konsequente Steigerung der pietistischen Frömmigkeit zu sein, andererseits aber auch wegen ihres radikalen a-sozialen Separatismus e contrario die Notwendigkeit einer dem Pietismus eigentümlichen Existenz in der kirchlich bestimmten Sozietät geradezu epochentypisch zu erweisen. Indessen trafen in Person und Werk Arnolds nicht nur Mystik und Pietismus aufeinander, sondern auch Mystik und Humanismus, und da-

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3) Pietistisches Autonomiestreben (Arnold)

mit zwei Hauptströmungen des >BarockEinfalt< mystischer Frömmigkeit zu beschreiben. Die folgenden Hinweise hierzu sollen den problemgeschichtlich bedeutsamen, aber formgeschichtlich eher traditionellen Übergangscharakter vor allem der geistlichen Poesie Arnolds illustrieren. Bezeichnend hierfür ist zunächst sein - mit aufklärerischen Intentionen konvenierendes - Interesse für die Geschichte auch und gerade in seiner mystischen Phase. Mit dem Anspruch auf historische Wahrheit suchte er die Spuren des »logos spermatikos« einzusammeln, ja sich und den Leser häufig genug geradezu darin zu zerstreuen, und diese Geschichte doch zugleich wieder zu entwerten, indem er in der Begegnung mit ihr nur das letztlich Unveränderliche des Geistes und seiner Unterdrücker herausfilterte und alle Faktizität, alles Gewordene und Institutionelle des Geschichtlichen als überflüssig, ja schädlich für den wahren Weg zu »meines Jesu Ruh« erachtete. Interesse und Desinteresse an der Geschichte manifestieren sich in verschiedenen Aspekten seiner Biographie und seines Werkes. So im Ergreifen und Niederlegen der Universitätsprofessur, in der nachfolgenden Arbeit an seiner >Kirchen= und Ketzer = Historie< und ihrer abschließenden Kritik (»Diesem nach sey

b) Zur Poetik der >Göttlichen Liebes = Funkern

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hiermit dieser Historic und dem buchstäblichen wissen, lehren und schreiben von mir ein endliches Valet gegeben!« KKH II, S. 844; vgl. dazu 11.2 Büchsel, S. 90ff., 121 f.), ferner in der trotz dieser Absage fortgesetzten Historiographie, in der er dem Kirchenverfall wiederum das positive Gegenbild des in der Geschichte wirkenden Geistes entgegenstellte (>Historie und Beschreibung der mystischen TheologieWeisheit< auf und erhob die individuelle Erfahrung im Gegensatz zur orthodoxen Wortverkündigung zum entscheidenden Organ der Gottesbeziehung; indessen maß er der Besonderheit des Einzelnen keinerlei Eigenwert zu, sondern beschrieb die großen Individuen der Geschichte im Grunde nur als Träger und Sprachrohr des immer gleichen Geistes: menschliche Größe stand für ihn prinzipiell unter dem Verdacht widergöttlicher »superbia« (vgl. II.2 Büchsel, S. 102). Daß sich persönliche Erfahrung eines individuellen Stils bediene, wie dies schon die unterschiedlichen Schreibweisen der vom Heiligen Geist diktierten Bücher der Bibel anzeigten (vgl. dazu auch II Spener NG, S. 474), war Arnold eben deshalb Ausdruck des menschlich-zufälligen Buchstaben-Sinnes, hinter dem erst der eigentlich überindividuell-wesentliche »sensus mysticus« aufzusuchen sei (vgl. HMT, S. 24ff.). So blieb er, der große Propagator einer Individualisierung der Frömmigkeit, selbst noch den konventionalisierten Ausdrucksformen seiner Zeit verhaftet. b) »Einfältig« und »ungezwungen« - Zur Poetik der >Göttlichen Liebes = Funcken< Dies gilt nun auch und erst recht für seine Poesie, ja für die Tatsache, daß er sich in seiner radikalsten Frömmigkeitsphase überhaupt dieser kunstvollen Sprachform so extensiv zugewandt hat. - Zunächst ein Überblick: 1698 erschienen erstmals die >Göttlichen Liebes = Funckem,

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3) Pietistisches Autonomiestreben (Arnold)

eine Sammlung von 169 geistlichen Liedern und Gedichten die - da das Vorwort vom 12. 6. 1697 datiert - hauptsächlich 1695/96 entstanden sein dürften (einige Lieder aus dem Schlußteil der Sammlung stammen nicht von Arnold; vgl. dazu II.2 Stählin 1966, S. 119). Der zweiten Auflage von 1701 waren 45 Kupferstiche beigegeben. Sie enthielt ferner einen >Anderen Theil der Göttlichen Liebes = Funcken< mit 36 neuen Gedichten Arnolds und weiteren Schriften, >Sinn = Bildern< (zu Arndts >Wahrem ChristentumGeheimnisses Der Gottlichen Sophia< veröffentlichte Arnold sodann 1700 seine >Poetischen Lob= und Liebes = Spruche / von der Ewigen Weißheit / nach Anleitung Des Hohenlieds SalomonisHohen geistreichen Lehren / vnd Erklärungen: Vber die furnembsten Spruche deß Hohen Lieds Salomonis< von 1622 (zu diesen vgl. Bd. III, S. 66f.). Arnold fügte dem noch eine eigene Prosaübersetzung des Hohenliedes »nach dem grund = text« (PLS, S. 168ff.) und ferner Prosaerklärungen aus Sudermanns Schrift zu einzelnen Hoheliedversen hinzu (ebda., S. 177ff.). - Im Anschluß an diese Hohelied-Deutung folgt - gleichsam als dritter Teil des >Geheimnisses Der Gottlichen Sophia< im selben Band - eine Sammlung >Neue Gottliche Liebes = FunckenDas Eheliche und Unverehelichte Leben der ersten Christen< ein >Zusatz etlicher arien und gedichte Von der gottlichen und ungottlichen liebe< mit 17 Liedern aus seiner Feder. Und während er die zuvor genannten Werke und poetischen Sammlungen aus seiner separatistischen Phase stets zur Erbauung für ein Publikum aus einzelnen Wiedergeborenen bestimmt hatte, edierte er nun nur noch - jeweils als Anhang zu einem Gebetbuch - zwei für die Gemeinde bestimmte Gesangbücher, wovon das erste, der >Kern recht = geistlicher lieblicher Lieder< (1704) noch 30 eigene Gesänge, das >Vollständige Geistreiche Gesangbuchs von 1709 dagegen kein eigenes Lied mehr enthielt (vgl. ebda., S. 124f.).

b) Zur Poetik der >Göttlichen Liebes = Funken
Vorrede< zur Erstausgabe seiner >Göttlichen Liebes = Funcken< offenkundig. An deren Schluß ordnet er sich mit dem empörten Hinweis darauf, daß »auch so gar die Heydnischen dichter von sich gesagt haben / daß GOtt in ihnen wäre / und daß er sie triebe / wann sie feurig und geschickt wären / Verse zu machen« (GLF, S. 263), in die auf den Ovid-Vers »Est Deus in nobis, agitante calescimus illo« zurückgehende, auch von Opitz bemühte Tradition von der göttlichen Inspiriertheit des Dichters ein (vgl. dazu Bd. I, S. 47ff.): »Müssen wir / wie jedermann zugibt / GOtt vor dem Ursprung aller Wissenschafften und Gaben erkennen und verehren: so wird ja vielmehr das von ihm kommen / was ihn besinget und beschreibet. Und warum solte auch der Schöpffer nicht so mächtig und frey seyn / eine Creatur nach seinem Wohlgefallen zustimmen / die ja ohne ihm keinen Finger regen darff! Wird ihm nun diese über diß getreu / und lasset die alte unart außschaffen / so füllet er sie mit sich selbsten / d. i. mit allem ersinnlichen Gute / und sonderlich mit seiner empfindlichen Süssigkeit. Warum solte so dann der Mund nicht übergehen / da das Hertz biß oben an voll ist?« (GLF, S. 263)

Die Demutsformel von der »Creatur«, die allein keinen Finger rühren könnte, bereitet eine uneingeschränkte Deifizierung des Dichters vor, und mit dieser Radikalität steht Arnold dem mystischen Selbstverständnis Catharina Regina von Greiffenbergs (1633-1694) oder Quirinus Kuhlmanns (1651-1689) nicht nach (vgl. Bd. III, S. 273ff., 290ff.). Gleichwohl markiert seine Position - sogar schon in dieser Selbstvergötterung - den Übergang von der Barock-Mystik zum Pietismus, weil er - hier ganz konform mit den weltlichen Poeten der Frühaufklärung (vgl. V/2 Kap. l i b ) - die »nicht geringe Eitelkeit« »einer jetzo gebräuchlichen Poetischen Schreib = Art« und ihren stilistischen Manierismus kritisiert: »hochtrabende Worte / weit gesuchte verblümte Redens = Arten / oder sonsten viel affectirte Manieren« sowie »die gezwungene Reimerey unn das affectirte großsprecherische Phantasieren einiger Gern = Poeten« (GLF, S. 262). Zu ihnen zählen auch die genannten Barock-Mystiker, weil sie sich - orientiert an der Böhmeschen Auffassung von der »lingua adamica« als Nachschafferin des göttlichen Schöpfungs-»Worts« (vgl. Bd. III, S. 7f., 150ff., 298ff.) - eben dieser kritisierten, manieristisch erscheinenden, aber magisch gemeinten »spätbarocken Zentnersprache« bedienten. Arnold hingegen lehnte die Sprachmagie als Mittel zur Erlangung der »unio mystica« ab. Er wollte mit seiner Poesie auch »nicht das wesen der himmlischen guter selbst / sondern nur ein äusserliches zeugnis von etlichen wenigen außflüssen davon darreichen« (NGLF,

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3) Pietistisches Autonomiestreben (Arnold)

S. 235), und zwar »einfältig«, ohne »lange über werten / redens = arten oder meynungen zu scrupuliren und streiten« (ebda., S. 240). Deshalb war er »gemeiniglich vergnügt / wann ein Verß von sich selber ungezwungen dahin floß / daß es keines Flickens und Kopffbrechens bedurffte« (GLF, S. 262). Mit diesem Stilideal näherte er die gelehrte geistliche Kunst-Poesie (zu deren Unterschied gegenüber der kirchenorientierten geistlichen Dichtung vgl. Bd. I, S. 50ff.) der an >Natürlichkeit< und > Ungezwungenheit orientierten Sprachauffassung der Frühaufklärung an (vgl. V/2 Kap. l i b ) - ein problemgeschichtlich bedeutsamer Vorgang, denn bei der Entwicklung des Genie-Begriffs und seiner Deifizierung spielte eben dieser Inspirations-Topos in Verbindung mit der >natürlichen< poetischen »Sprache des Herzens« eine wichtige Rolle (vgl. Bd. I, S. 47ff.). Doch auch wenn Arnold am Schluß der >Vorrede< - wie zitiert - bereits den (biblischen) »locus classicus« für die Abkehr von der regel- und wirkungsorientierten Poesie anführte, blieb er doch noch den Normen der gelehrten humanistischen Poetik verpflichtet. Das wird gerade da deutlich, wo er ein sachbezogenes Abweichen als Ausnahme entschuldigte: »Ja man hat manchmal gemeint das Recht zu haben / daß man nicht allezeit denen gemeinen Kunst = Regeln unterworffen wäre / wo die Sache selbst und der Nachdruck etwas besonders erforderte.« (GLF, S. 262) So entäußerte sich das dichterische Subjekt also doppelt: an Gott als den eigentlichen »inventor« und an das für die »dispositio« und »elocutio« zuständige poetische Regelinventar. Formal folgte Arnold den Poetiken von Opitz und Buchner - beide Autoren erwähnte er lobend in der Vorrede der >Göttlichen Liebes = Funkken< (GLF, S. 262) -, er benutzte am häufigsten das jambische, daneben aber auch das trochäische und - von Buchner empfohlen - das daktylische Versmaß, und in seinen Gedichten bevorzugte er den Alexandriner, der freilich häufig wegen der »einfältigen« Machart die durch die »Zweischenklichkeit« geforderte Spannung vermissen läßt (zur Kritik der Frühaufklärung am Alexandriner vgl. V/2 Kap. I l a). Bei seinen Liedern hat sich Arnold in 93 verschiedenen Strophenmaßen geübt, wobei »ein gewisser Zug zu den verwickeiteren Strophenformen« nicht zu verkennen ist (vgl. II.2 Stählin 1966, S. 30). Seine Verse entstanden »zum öfftern durch Veranlassung guter Freunde«, »daß er auff ihr Erinnern über diese und jene Sinn= oder andere Bilder einige kurtze Verse entwerf fen müssen« (GLF, S. 261), also als geistliche Gelegenheitspoesie (vgl. dazu V/2 Kap. I l b), zugleich auch in Form geistlicher Lehrdichtung als Bearbeitung und Deutung der mystischen Tradition. Während sich die Greiffenberg oder Kuhlmann der Poesie bereits als eines autobiographischen Mediums versichert hatten, besitzt Arnolds Lyrik - abge-

c) Hohelied-Allegorese

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sehen vor allem von der für ihn zentralen eigenen Erfahrungs-Auslegung in seiner sophianischen Dichtung (vgl. Kap. 3 d; dazu II.2 Benz, S. 55ff.) - im ganzen noch eher den Charakter einer gereimten mystischen Theologie. Doch gerade aus diesem doppelten Anliegen einer Vermittlung der geheimen theologischen Tradition und eigener mystischer Erfahrung resultierte letztlich Arnolds Interesse an dem bildhaftvieldeutigen, deshalb auch vor der Zensur besser geschützten Medium der Poesie (vgl. Bd. III, S. 9 u. ö.): »Ich sollte zwar nach der vernunfft wohl besorgen / es mochte mir dieser oder jener außdruck in diesen versen abel oder zum irrthum gedeutet werden . . . Geheimnisse und ungemeine sachen leiden selten einen gemeinen außdruck / und denen Poetischen . . . schrifften ist allezeit so viel freyheit vor ändern gegonnet worden / daß sie den schul = lehren nicht eben nachsprechen dorffen.« (NGLF, S. 239f.)

c) Hohelied-Allegorese in symbolisierender Bildlichkeit Von daher war es auch konsequent, daß Arnold schon in den >Göttlichen Liebes = Funcken< und dann vor allem in den >Poetischen Lob = und Liebes = Spruchen< den kühnsten Bibeltext, die (ursprünglich weltlichen) Liebesgesänge des Hohenliedes, als Grundlage für seine Nachdichtung wählte (zur poetologischen Diskussion um das Hohelied im 17. Jahrhundert vgl. IV Dyck, S. 79ff.). Bei den >Lob= und Liebes = Spruchen< folgten seine Gedichte entsprechend der Sudermannschen Vorlage dem Text der »Cantica canticorum« vers- und kapitelweise und deuteten dabei einzelne, emblematisch als »inscriptio« gesetzte Verse in zum Teil mehreren Versionen. Formal setzte er die Sudermannschen Knittelverse in die Regularitäten der Opitzschen Versreform um (einen Textvergleich bietet Kap. 3 e), inhaltlich läßt sich an seiner Überarbeitung mehrfach der Wandel ablesen, dem die Barock-Mystik beim Übergang in den Pietismus unterlag. Ein erster Aspekt betrifft Arnolds ambivalenten Gebrauch der auch für die Mystik des 17. Jahrhunderts noch zentralen Allegorese. Zu deren Verständnis zunächst einige Informationen: Aus der Deutung des schon von den Kirchenvätern als anstößig empfundenen Literalsinnes des Hohenliedes hatte sich im wesentlichen die Tradition der Auslegung nach dem vierfachen Schriftsinn entwickelt, in deren Verlauf die Liebeslieder zwischen Braut und Bräutigam auf die Kirche bzw. die Einzelseele und Christus bezogen und damit allegorisch verstanden worden waren (vgl. dazu III Ohly, S. 11 ff., 128ff.; Bd. III, S. 164ff., 230ff.). In der Mystik des Mittelalters hatte sich dann mit dem Verständnis des Hohenliedes als

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3) Pietistisches Autonomiestreben (Arnold)

»Spiegel des inneren Dramas vom Kommen und Gehen Gottes in der Seele« seit Bernhard von Clairvaux (1090-1153; vgl. III Ohly, S. 136ff., 145f.) die Möglichkeit zum unmittelbaren inneren Mitvollzug der biblischen Liebeslieder eröffnet, und dieser auch in der Frauenmystik - so bei Mechthild von Magdeburg (um 1207/10-1282/83) - intensiv genutzte neue »sensus historicus« ließ sich zugleich als spirituelle Auslegung des biblischen Literalsinnes begreifen und damit gegenüber der Kirche als »uneigentlich-biblische« Auslegung der objektiven Heilswahrheiten rechtfertigen (vgl. dazu III Kemper 1979). So waren zum Beispiel in der Auslegungstradition die im »sensus historicus« anstößigen, von der Braut auf den Bräutigam bezogenen Hoheliedverse 1,2 (»Er küsse mich mit dem Kusse seines Mundes / Denn deine Brüste sind lieblicher denn Wein«) und Hl. 1,4 (»Wir gedencken an deine Brüste mehr / denn an den Wein«) »geistlicher weiß« - wie Sudermann in seinen Versen berichtet (II, S. 5 r) - im Blick auf den Kuß als Sinnbild der »unio« bzw. des göttlichen Sprechens mit seiner Kirchen-Braut und die Brüste u. a. als allegorische Spender des Abendmahls-Weins gedeutet worden. Im Vertrauen auf die allgemeine Kenntnis dieser Tradition und auf die Abwertung des Literalsinnes zum uneigentlichen Bildspender für objektive Heilswahrheiten konnten sich die Mystiker dem »osculum« und »connubium« hingeben und dabei als spirituell-uneigentlich ausgeben, was für sie selbst doch als Zustand brautmystischer Seligkeit das Eigentliche war. Und dabei verstanden manche Mystiker wie Angelus Silesius im Rückgriff auf Jacob Böhme die Brüste Jesu auch als häretisches Attribut seiner Androgynität (vgl. Bd. III, S. 232ff.; Kap. 3 e). An diese Tradition knüpfte Arnold unmittelbar an, doch geriet er zugleich in einen Zwiespalt bei ihrer poetischen Handhabung. Denn zum einen hatte er - wie bereits gezeigt - gegenüber der Lutherischen Favorisierung des biblischen Literalsinnes die Geheimwissenschaft der Allegorese neu gerechtfertigt, zum ändern ging es ihm selbst aber auch gegenüber den dogmatisch-scholastischen Spitzfindigkeiten des zum »Wissen« erstarrten Glaubensbegriffs der Orthodoxie um eine letztlich »einfältige« Geist-Erfahrung. So insistierte er in seiner Poesie immer wieder auf dem Geheimsinn der Hohelied-Auslegung und verwendete die allegorischen Bilder, und doch waren sie ihm >eigentlich< im Wege und behinderten die Ausbildung einer kongruenten Bildlichkeit (vgl. dazu auch III Sperber, S. 509f.). Am interessantesten sind deshalb jene Gedichte, in denen er - von der allegorischen Vorlage SUDERMANNS ausgehend - die »unio« als Prozeß beschreibt, der vom Uneigentlich-Allegorischen zum Eigentlichen einer letztlich auch sinnlich zu erfahrenden Vergottung führt. Wie Arnold das von Sudermann auch in der Unter-

c) Hohelied-Allegorese

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Scheidung des kirchlich-allegorischen, moralisch-tropologischen und endzeitlich-anagogischen Sinns getreulich bewahrte Schema vom mehrfachen Schriftsinn gleichsam prozessual symbolisiert, sei an seiner Sudermann-Bearbeitung von Hl. 1,4 illustriert: »WEnn ich so wol von dir / k6nt reden / als ich dencken Und dich geniessen kan; so wolt ich ändern auch Nur etwas wissenschafft von dem geheimnis schencken: So aber bleib ich stumm beym wesen und gebrauch. Doch darff ich wol in brunst der liebe deiner brüste Mich vor dem besten wein erinnern / weil sie mir So of ft die lautre milch der reinen himmels = löste Durchs Evangelium zur nahrung geben hier / Ohn dem ich hungers stfirb. Offt kan ich / wie im spielen / Betasten / schmecken / sehn im Geist das lebens = wort / Das mensch in mir nun wird: Der glaube kan recht fühlen / Wie fleisch von deinem fleisch und bein nun wachse fort / Nicht bildlich / wesendlich. Da saug ich immer leben Aus deiner menschheit brüst / daran Johannes lag. Und frag dir alles aus / was mir kan nachricht geben Vom neuen lebens = weg. So saug ich nacht und tag: Da lern ich dich im Geist / nicht mehr nach fleisch / erkennen Erfahr / fühl / eß und trinck / weil in dir beygelegt Der weißheit schätze sind. Wer kan mich nunmehr trennen Von mund / von brüst und schoos des bräutgams / der mich hegt?« (PLS, S. 7)

Mit dem einleitenden mystischen Unsagbarkeitstopos und dem anschließenden Verweis im »sensus allegoricus« auf die Brüste als Zeichen des biblisch verbürgten Erlösungshandelns Christi (mit konnotativem Verweis auf den »besten wein« des Abendmahls) folgt Arnold im Kern noch der vorsichtigen allegorischen Auslegung Sudermanns. Ab Vers 9 jedoch, beim formalen Wechsel von der kirchlichen Sinn-Deutung zum personalen »sensus moralis«, beschreibt Arnold ein von der Vorlage gänzlich abweichendes häretisches Erlösungshandeln: Das »Wort« Gottes gebiert sich im Ich, wird »mensch« in ihm - eine Vorstellung, die Arnold u. a. von Jacob Böhme und Angelus Silesius übernommen hat (vgl. Bd. III, S. 146f., 221 f.). Es ist das »himmlische Fleisch« Christi im Sinne Schwenckfelds, das in das Ich eingeht, und hier durchbricht Arnold das überlieferte Gespinst allegorischer Deutung, indem er betont: »Nicht bildlich«, sondern »wesendlich« (Z. 13). Das bedeutet, daß das Wachsen des »himmlischen« »fleisches« im Ich keine uneigentliche, sondern eigentliche Aussage ist (vgl. dazu Kap. 3 d). Folglich besitzen spätestens von hier an die allegorischen Sinndeutungen und Rückversicherungen, die das bildliche Sprechen nur als uneigentlich im Blick auf

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3) Pietistisches Autonomiestreben (Arnold)

das eigentlich gemeinte objektive Heilsgeschehen außerhalb der Seele durch Christus und Kirche qualifizieren sollen, für Arnold die Gefahr des Wider-Sinns. Prononciert versteht er deshalb nun auch die Brust Christi als seine »menschheit brüst« und Mutterbrust zugleich, aus der das Ich psychophysische Nahrung »saugt«. In welchem Sinne dies metaphorisch gemeint ist, wird noch zu zeigen sein, aber die Darstellung insistiert auf der Eigentlichkeit des mit diesen Worten im Ich sich ereignenden Heilsgeschehens, bei dem »sensus mysticus« und »sensus historicus« ineins zusammenfallen und der »sensus anagogicus« auf den »Wachstumsprozeß« des Ich reduziert und damit dem einen >einfältigen< Literalsinn der zweiten Gedichthälfte integriert wird. Doch weder sind die Bilder das Eigentliche noch verweisen sie auf ein >ganz anderes< Geistliches, für das sie nur als allegorischer Bildspender dienen würden. Allerdings führt der Prozeß, den sie beschreiben, vom Sinnlich-Wahrnehmbaren zu einem sprachlich nicht mehr adäquat faßbaren Ereignis der »unio«. Insofern meinen die Bilder stets Eigentliches, vermögen es mehr und mehr indessen nur noch zu symbolisieren und halten in der Ebene des Bildhaften gleichwohl das psychophysisch-Konkrete des gesamten Vorgangs gegenwärtig. Wie in der Naturmystik des Angelus Silesius und der Greiffenberg vollzieht sich in solchen Gedichten Arnolds der Übergang von der allegorischen zur symbolischen Bildlichkeit, bei welcher - um Goethes berühmte Symboldefinition aus >Philostrats Gemälden< zu zitieren - »die Sache, ohne die Sache zu sein,« »doch die Sache« ist (II Goethe PG, S. 142; vgl. dazu Bd. III, S. 146, 236f., 269ff.). Was sich im Progreß dieses Gedichtes zeigt, erweist sich als exemplarisch für Arnolds Sudermann-Bearbeitung insgesamt. Er sei, erklärt er, »denen fußtapffen« der Sudermannschen »verse fast über die helffte nachgegangen: biß mir im fortgang der zweck und verstand des Hohen = Liedes immer tieffer kund worden / daß ich hernach von dem Autore ab = und der spur des H. Geistes / wie selbige in meinem gemuthe mich geleitet / nachgehen müssen.« (PLS, S. 177) Das äußerliche Abrükken von der Vorlage markiert Arnold im Text nach der Gedicht-Nr. 41, und je mehr er sich danach seinem Erlebnis-Zentrum, der SophienMystik, nähert, desto mehr entfernt sich seine poetische Sprache auch vom überlieferten Allegorese->System< und gewinnt die Qualität eines pietistisch-einfältigen mystischen Sprechens (vgl. dazu Kap. 3 e u. d). Letztlich bestätigt Arnolds Poesie den von Martens an anderen poetischen Beispielen konstatierten >Verfall geistlicher Allegorese im frühen 18. JahrhunderK (vgl. III 1989, S. 214ff.) und dokumentiert zugleich das mühsame Ringen um neue und unmittelbarere Möglichkeiten lyrischen Sprechens, das sich gleichwohl seine symbolisierende Mehrdeutigkeit

d) »Verinnerlichung« der Christologie

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bewahrt und erst ein Jahrhundert später, nämlich in der scheinbaren Simplizität der hermetischen Bildersprache der >Geistlichen Lieder< und >Hymnen an die Nacht< des Novalis (d. i. Friedrich von Hardenberg 1772-1801) seine frühneuzeitliche Apotheose erfährt. d) »So wird ein jeder Christ / Ein wahrer Christus seyn«: »Verinnerlichung« der Christologie Im Unterschied zu Sudermann und den meisten Barock-Mystikern relativiert und modifiziert Arnold Bedeutung und Funktion Christi im Erlösungsprozeß entscheidend, obgleich er über Sudermann hinaus nahezu alle bedeutenden christologischen Anschauungen der spiritualistisch, hermetisch und magisch beeinflußten Barock-Mystik in seinen >Poetischen Lob= und Liebes = Spruchen< versammelt. - Arnold adaptiert all jene Anschauungen, die es ermöglichen, sich die Wiedergeburt als einen realen psychophysischen Vergottungsprozeß der »neuen Kreatur« vorzustellen, in welcher »Der neue krafft = leib auch kein neues glied vermißt« (PLS, S. 42). Das folgende Gedicht belehrt Christus geradezu über seine diesbezügliche Erlösungs-Funktion (als Deutung von Hl. 3,9): »Denn wie dir die weißheit hat vormals einen leib bereit / Als dem HErrn vom himmel her / daß du in dem fleische kämest: Also muß diß wunder noch / wie es Pauli sinn andeut / In mir wesendlich geschehen / worzu du den leib annähmest: Ach so laß hier deinen Geist samt der weißheit meister seyn / Die dir ein sänfft' in mir von dem besten holtz zurichten / Und das reine Element dring in mein gemuth hinein / Biß dein himmlisch fleisch und blut kan den alten bau vernichten. So wird dir die bundes = lad aus kostbarem holtz geschnitzt / Ohne menschen = händ und werck / wenn der neuen menschheit kräffte Leib und seel und geist durchgehn / da die Gottheit selber sitzt / Und im gantzen tempeUbau theilet aus die Geists = geschaffte.« (PLS, S. 39)

Nicht das einmalige Opfer Christi am Kreuz bringt durch den Glauben Erlösung, sondern die tatsächliche Einwohnung und Fleischwerdung des Gottessohnes im Menschen: »Was hulffs uns / ob er diß hätt' ausser uns erlangt / Und nicht in uns brächt ein / in gleicher hoh zu preisen / Die Gottliche natur / wie seine menschheit prangt / In unserm neuen leib?« (Ebda., S. 154) Daraus folgt, »daß wir den HErren sehn / Mit seiner herrlichkeit in uns als Gott = mensch wohnen« (ebda.). Die Vorstellung der »unio« ist ganz an diese »Einwohnung« des »himmlischen flei-

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3) Pietistisches Autonomiestreben (Arnold)

sches« geknüpft: »Dann bringt er euch hinein ins ein'ge GOttes = wesen / Bringt wiederum in euch sein himmlisch fleisch und blut / das aus dem Himmel kam« (ebda., S. 76). Der Vergottungsprozeß ist somit wie bei Böhme, Scheffler, der Greiffenberg oder Kuhlmann zwar ein der kreatürlich-fleischlichen Natur entgegengesetztes geistliches, aber deshalb doch kein allein innerpsychisch-spirituelles Geschehen. Vielmehr durchdringt dieses auch die Sinne und reinigt die Affekte, so daß der solchermaßen mit himmlischen Kräften ausgestattete neue Mensch sogar imstande ist, das Gesetz zu erfüllen. Entscheidend im Blick auf die Funktionsbestimmung Christi ist nun, daß sich Arnold diese »Vergötterung« als einen Wachstumsprozeß vorstellt, in dem die Braut den Bräutigam schließlich - so das erste Gedichtbeispiel - »im Geist / nicht mehr nach fleisch / erkennen« soll. In diesem Prozeß übernimmt Christus deshalb - das wurde bereits deutlich verschiedene Funktionen in unterschiedlichen Rollen. Im Anfangs- oder Säuglingsstadium der »neuen kreatur« bietet er dem Ich den NahrungsSaft aus den mütterlichen Brüsten. Daß Christus weibliche Funktionen ausübt, ist dem Böhme-Kenner und -Anhänger Arnold eine durchaus vertraute Vorstellung (zu seiner Darstellung Böhmes vgl. KKH I, S. 1130ff.), und er begründet sie im >Geheimnis der göttlichen Sophia< ferner damit, daß Christus wie der Heilige Geist bei verschiedenen Völkern unterschiedliche (männliche oder weibliche) Namen trage - als Beweis dafür, »Daß in der Gottheit kein geschlecht sey« (GGS, S. 40). Das »Saugen« erscheint als ein sinnlicher Vorgang des »Erfahrene, Fühlens, Essens und Trinkens«, der - so das zweite Gedicht - »Leib und seel und geist durchgeht«. »Mund«, »brüst« und »schoos des bräutgams« stehen dabei metaphorisch als Lust-Orte des göttlichen Einflusses füreinander ein, doch verweisen sie nicht auf Abstraktes, sondern insistieren mit der Evozierung oraler und koitaler Lust auf der sinnlichen Erfahrungsgrundlage der »neuen Kreatur«. Zugleich markieren sie aber auch die Stationen von deren Wachstum und damit den Funktionswandel im Rollenspiel Christi von der Nähr-Mutter zum Bräutigam. Nunmehr bittet die Braut: »Köm / schwangre mich liebe / durchfliesse die kräffte / Und floß mir ein lieblich die Gottlichen säffte.« (PLS, S. 93) Umgekehrt verspricht der Bräutigam: »Da werd ich ihr meine einflusse zuschicken / Sie wird an mein hertze die liebes - brüst drücken: Wir werden uns halsen / wir werden uns küssen / Die susse vermengung wird liebe außgiessen.

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Ich werde ihr wesen durchdringend tingiren / Die menschheit zu ihrer Vergötterung fahren: Ihr funcke des lebens wird flammen vermehren / Und alles unreine wie stoppeln wegzehren.« (Ebda., S. 34f.)

Solche in der Brautmystik nicht ungewöhnliche Bildlichkeit soll die Überlegenheit der »himmlischen« über die »irdische« »ergetzung« verdeutlichen (im Sinne einer nicht verdrängten, aber kompensatorischen Opposition; zum Problemkomplex Brautmystik und Sexualität vgl. Bd. III, S. 95ff., 259ff., 266ff.): »In warheit alle wollust der Jugend und alle vermeinte Vergnügung derer leiblich = verlobten ist weniger als nichts zu rechnen gegen dieser himmlischen ergetzung. . . . Es ist eine sfisse entzöckung und einnehmung aller seelen = kräffte / und versenckung aller sinnen in diese liebes = fluthen.« (GGS, S. 113)

In den »Liebes = Fluthen« »fließt« das gesamte Bildfeld des himmlischen »Einflusses« vom Säugen bis zur geistlichen Insemination zusammen und koinzidiert zugleich mit dem Bildfeld der »Göttlichen Liebes = FunckenLob = und Liebes = Spruche< auf die Geschlechtslosigkeit Im Gegensatz zu Sudermann und dem Hauptstrom der Auslegungstradition deutet Arnold das ganze Hohelied nicht nur als Kommunikation zwischen Kirchen- bzw. Seelen-Braut und Christus, sondern auch wie schon vereinzelte Vorgänger in der christlichen Mystik (vgl. dazu II.2 Benz, S. 64) als Liebesgespräch »des seelen = Geistes mit Sophia«, also des Geistes der »neuen kreatur« mit der himmlischen Weisheit. Deshalb auch kehrt er vom 42. Gedicht an - markiert durch die Überschrift »Allhier folgen nunmehr meistentheils Unterredungen zwischen der Gottlichen weißheit und dem menschen« (PLS, S. 42) - der Sudermannschen Vorlage weitgehend den Rücken und setzt an die Stelle des zuvor mit Christus identifizierten Bräutigams die Sophia, welche zugleich dessen Funktionen übernimmt. Arnolds Sophien-Lehre ist keineswegs originell (vgl. dazu II.2 Benz). Er selbst sucht den Glauben an Existenz und Funktion der göttlichen Weisheit vom Alten Testament (Sapientia Salomonis) bis in die Kirchenlehrer und Apokryphen des frühen Christentums hinein mit gewohnter Gelehrsamkeit nachzuweisen. Seine beiden wichtigsten Gewährsleute für diese Lehre allerdings verschweigt er: Jacob Böhme, dessen Sophienlehre er in der >Kirchen = und Ketzer = Historie< referiert (vgl. dazu auch Bd. III, S. 142ff.; III Schmidt-Biggemann, S. 137f.), und Johann Georg Gichtel (1638-1710), dessen theosophische Schriften Arnold 1701 in zwei Bänden edierte (vgl. zu deren Sophiologie II.2 Benz, S. 69ff., 73ff.; Bd. III, S. 138ff., 145). Wie bei Böhme ist auch bei Arnold die Weisheit

e) Lob-Sprüche auf die Geschlechtslosigkeit

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einerseits nur eine Art Spiegel oder Gefäß der göttlichen Offenbarung (vgl. GGS, Vorrede, S. 5 r/v), andererseits aber doch weiblicher Teil der Gottheit, »ein geistliches selbs = ständiges Gottliches und himmlisches wesen« (ebda., S. 30), ja sogar »ein Geist mit dem Vater und Sohn« und »kein anderes aber oder abgesondertes wesen ausser und ohne der Gottheit seyn« (ebda., Vorrede, S. 5 r), also wesensgleich mit der Trinität und von gleicher Substanz (vgl. dazu auch das ganz im Sinne Böhmes gehaltene Lehrgedicht in PLS, S. 85ff.). Folglich ergibt sich für die menschliche Seele, »daß der Geist Jesu / und der Geist der Weißheit nicht zwey unterschiedene Geister seyn / sondern ein einiger Geist / und ein unzertrennliches wesen / welches sich in ihr durch Gottliche Wurckungen bey einfältigem gehorsam stätig offenbahre« (GGS, S. 35). Deshalb sind Christus und Sophia in ihrer Funktion und Wirkung auf den Menschen aber auch austauschbar: »In betrachtung es einem erfahrnen Christen an seinem zweck nichts hindert / ob man saget: GOtt ziehe und bringe die seele wiederum zu und in sich durch die vermihlung CHristi JEsu mit ihr; oder: GOtt gehe durch seinen ewigen geist der Weißheit in den seelen = geist ein / sich mit demselben also wiederum zu verbinden. Denn wer nur die selige erfahrung und den stäten genuß davon hat / der wird sich an den verschiedenen vortrag nicht stossen.« (PLS, >Kurtzer BerichK, S. a 4 v)

Eben diese, den Stellenwert der Christologie zusätzlich relativierende Gleichartigkeit zwischen dem Erlöser und Sophia hat Arnold in seinen >Poetischen Lob= und Liebes = Spruchen< auch strukturell verdeutlicht, indem er die traditionelle Christus-Mystik des ersten Teils mit der Sophien-Mystik des zweiten parallelisiert, daneben aber in beiden Teilen auch immer wieder die identische Funktion der Heils-Figuren (etwa durch zwei Lieder auf denselben Text: PLS, S. 74ff.) verdeutlicht. Dennoch sind beide als unterschiedliche imaginative Bezugspersonen für die Seele von erheblicher Bedeutung, weil der Weg zur Vergötterung auch die (Wieder-)Herstellung der Androgynität als ein Hauptziel einschließt, und dazu bieten sie sich alternativ als geistliche Bezugsfiguren für das jeweils andere Geschlecht an. Die Ätiologie dieses Sophien-Mythos, die Arnold in einem Lehrgedicht zu Hl. 5,1 expliziert, führt bis zum paradiesischen Adam zurück: Dieser war ursprünglich mit Sophia vereint und deshalb androgyn. Als er aber im Sündenfall »die lust vom innern auswärts kehrte / In ird'scher sucht und lieb«, floh Sophia, und aus dem androgynen Urmenschen wurden zur Strafe die kreatürlichen Geschlechtswesen Adam und Eva, beladen mit dem Fluch von Leiblichkeit und irdischer Lust, aus welcher sich die Seele nun in den paradiesischandrogynen Zustand zurücksehnt: »So mag ich nichts vom fleisch und

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3) Pietistisches Autonomiestreben (Arnold)

ird'scher Eva wissen / Ich will von solchem koth so gerne bleiben frey« (PLS, S. 55f.; vgl. GGS, S. 42f.; vgl. auch Dippels Position in Kap. 2 d). Arnolds Ehefeindlichkeit findet hier ihre theologische Begründung. Die Voraussetzung für diese Rückkehr zur Androgynität hat der an sich weibliche, mit dem männlichen Vater in polarer Spannung verbundene Gottessohn dadurch geschaffen, daß er sich als Mann in die (ihn unbefleckt empfangende) Jungfrau Maria einführte und darin prototypisch die Geschlechtlichkeit aufhob: »Zu dem ende ward nun Messias in dem weiblichen geschlechte in Maria zwar ein mensch und mann / und führete das minnliche theil wieder in den leib des jungfräulichen weibes ein / ob er gleich selbst in sich das jungfräuliche bild trug. Wodurch denn der grund geleget ward / daß die männliche und weibliche krafft wiederum ein einig bild und wesen werden konten / und die neue creatur als eine männliche iungfrau nach der Wiedergeburt vor GOtt vollkommen darstehen konte.« (GGS, S. 43)

Wie Christus an der weiblichen, so übernimmt Sophia nun den Vergöttlichungsprozeß an der männlichen Psyche. In derselben Funktion und im analogen Rollenspiel begegnet sie also - wie Arnold ausführlich im Anschluß an Sir. 15,2 erläutert - »dem Gottesfurchtigen wie eine Mutter« und nimmt ihn dann im Stadium seiner inneren Adoleszenz »auff als ein jungfräulich weib« (GGS, S. 111). Die (männliche) Seele Arnolds imaginiert diese Phasen einer wahren Busen-Freundschaft erkennbar engagierter als bei der zumeist an Vorlagen orientierten Darstellung brautmystischer Jesus-Lust (hier in einem Lied auf Hl. 4,10 »Wie schon sind deine brüste . . . meine Schwester / liebe braut«): »Hier schmieg ich mich / o weißheits-quell / An deiner liebe brüste / Ich saug getrost / ich ziehe scharff / Und trinck so viel ich nur bedarff Auff meiner Pilgrams = reise. Und wenn ich satt getruncken hab / Daß sich der matte geist erlab / So spiel ich / wie ein kind mag schertzen Und kan die zarten brunen hertzen. Bald sind sie mir ein klarer bronn Der unerschopfften liebe / Daraus mir lauter leben ronn / So of ft ich mich betrübe: Bald sind sie mir ein weiches bett / Darauff ich ewig ruhe hart:

e) Lob-Sprüche auf die Geschlechtslosigkeit

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Bald ein gewurtz und weyhrauch = högel Ja gar ein heller tugend = Spiegel. Bald sind sie mir ein Apffel = bäum / Davon ich frucht geniesse: Bald ein begrünter garten = räum / Bald wasser = reiche flösse. Wie schon ist deiner brüste zier / Sie starren voller krafft von mir / Und mochten vor begierd zerspringen / Mir leben und genug zu bringen.« (PLS, S. 47f.)

Das Gedicht liest sich wie eine Kontrafaktur galanter Liebespoesie (vgl. dazu auch Kap. l c). Jedenfalls wirken diese Verse wie eine geistliche Mutprobe wider den - durch sie stimulierten - Stachel des Eros, ja wie eine galante Kompensation für eine nur durch »himmlisches Fleisch« zu befriedigende irdische Fleischeslust. In ihnen bietet sich den gegenüber der »Welt« unterdrückten libidinösen Affekten ein zum Gefühl sublimiertes, in der sinnlichen poetischen Vergegenwärtigung narzistisch genossenes religiöses Ventil. Der Narzismus dieser symbiotischen Verschmelzungswünsche mit der Ersatz-Mutter und -Geliebten Sophia dient als Spiegel der Selbstentfaltung und -bestätigung, der Selbstheilung und -heiligung (vgl. dazu III Maier-Petersen, S. 78ff.; V Lacan; Kohut 1976 und 1981). Einerseits gefährdet dies den Prozeß der Identitätsbildung, weil sich die Angst vor der Realität um der Sicherung der psychischen Kohärenz willen zum aggressiven Haß gegen den »koth der kurtzen eitelkeit« steigert (PLS, S. 63), andererseits bot die geistliche Erziehung zur Androgynie offenbar in jenem historischen Moment eine Möglichkeit zur Kompensation, als sich mit der bürgerlichen Familie auch erst die männlichen und weiblichen psychologischen Geschlechtsmerkmale, die sog. Geschlechtscharaktere, herausbildeten (vgl. dazu III Hausen, S. 368ff.). Arnold verstand den Prozeß zur Androgynie jedenfalls durchaus historisch-konkret auch als Mäßigung der männlich-patriarchalischen Eigenschaften: »In welcher so dann die männliche feuers = eigenschafft zwar regieren / aber durch die liechts = krafft des weibes gesdnfftiget und temperiret werden muß« (GGS, S. 43f.; vgl. PLS, S. 56; NGLF, S. 295): Ein Modell für den empfindsamen Mann, für den Mann der Empfindsamkeit! Seit der geradezu naturalisiertem Geschlechterpolarisierung lebte die Idee der Androgynie nicht zufällig auch und gerade in der frühromantischen Darstellung nichtidentischer Erfahrung von Individualität als Erlösungshoffnung weiter, sei es als Möglichkeit des Geschlech-

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3) Pietistisches Autonomiestreben (Arnold)

tertausches wie bei der Günderode (vgl. II Günderode II, S. 13f.), sei es als autobiographisches Modell für die Entwicklung eines besseren »Frau-Seins« in sich um den Preis einer Eliminierung der realen Frau wie bei dem >Hysteriker< Novalis, dem es - in Anspielung auf seine früh verstorbene Braut Sophie von Kühn - um die »Kunst« ging, »alles in Sophien zu verwandeln - oder umgekehrt«, der »zu Söphchen Religion, nicht Liebe« hegte und an Friedrich Schlegel schrieb: »Mein Lieblingsstudium heißt im Grunde, wie meine Braut. Sophie heißt sie - Filosofie ist die Seele meines Lebens und der Schlüssel zu meinem eigenen Selbst« (II Novalis TBZ, S. 188; vgl. dazu auch III von Braun, S. 58ff.). Zugleich gestaltete Novalis die Androgynität aber auch zum Koinzidenzpunkt von individueller und universaler Aufhebung der Nicht-Identität wie am Schluß der >Hymnen an die Nacht< (»Hinunter zu der süßen Braut, / Zu Jesus, dem Geliebten«; HN, S. 157). Und Georg Trakl, dem die >Schwester< als »strahlender Jüngling« und »alter ego« zugleich erschien, führte sein >Abendländisches Lied< im Rekurs auf die >Hymnen< Hardenbergs bis zur Erlösungsphantasie (»Aber strahlend heben die silbernen Lider die Liebenden: Ein Geschlecht«), um damit den bösesten Fluch der Geschlechtlichkeit, den Inzest, im Bilde der zugleich unsinnlichsten und reinsten Liebesbeziehung, nämlich der Geschwisterliebe, als Vorschein der Androgynie zu entsühnen (vgl. dazu auch III von Braun, S. 85ff.; zur Geschichte des Androgynie-Motivs vgl. III Aurnhammer). Heutzutage erscheint die Aufklärung aus feministischer Perspektive geradezu als Un-Tat des Mannes, und die männliche Zukunft erfordert danach »Androgynität, die Ausbildung der weiblichen und männlichen Gaben gleichermaßen« (III Hassauer/Roos, S. 40, 47), nicht als phantasievollen Eskapismus, sondern als Postulat zur Veränderung der Realität. Und eben diese Konsequenz zog Arnold - wie abschließend zu zeigen ist - auch bereits selbst. f)

Habitualisierung der göttlichen Natur

Im Gegensatz zu Sudermann und den meisten Mystikerinnen und Mystikern aus Mittelalter und früher Neuzeit sucht Arnold die »unio mystica« im Bewußtsein des Ausbleibens der Parusie und in der Spenerschen »Hoffnung besserer Zeiten« als einen innerweltlichen und innerpsychischen Dauerzustand zu habitualisieren; die bisher ausgeführten Änderungen - Auflösung der Allegorese, Reduzierung der Funktion Christi und seine Parallelisierung mit der Sophia - haben hierin ihren Scopus. - Dieses Anliegen läßt sich bereits in Arnolds Bearbeitung des ersten Sudermann-Textes zu Hl. 1,2 (»Er küsse mich mit den küssen

f) Habitualisierung der göttlichen Natur

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deines mundes«) erkennen. Sudermann beschreibt hier - als eine Bedeutung dieses »Kusses« für die Seele - ihre Entrückung in den Himmel: »Eins ist / das sie verzacket wird / In eine solche Hohe gefuhrt / Das es vnleidlich ist zusehen / Den Augen lieblich vnd bestehn / Das ist ein Liecht der Liechter klar / In dem sie Gott läßt schawen gar / Als in eim Traum / die Ordnung schon / Wunderbarlicher Freud vnd Wonn / Deß gantzen himmlischen Heers groß / Vnd wird jhr wunder so grundloß Das sie gar nicht weiß was sie hört / Sihet oder spart eben dort. Da wird der Seelen gedächtnuß / Mit solcher Gnaden vberfluß So gantz begossen vnd vereint / Mit Gott selbs / das sie alsdann meint / Sie sey in Gott / ein kleine zeit: O wol der Seein in Ewigkeit.« (II Sudermann, S. l r)

Sudermann beschreibt das »osculum spirituale« als eine für die mittelalterliche Mystik typische Traum-Vision, in der die Seele für »eine kleine zeit« in den Himmel versetzt wird, die himmlische Herrlichkeit schaut, eine unsagbare Vereinigung mit Gott zu erleben glaubt, anschließend ins irdische Tagesbewußtsein zurückkehrt und dies Erlebnis anagogisch als »Vorschmack« auf die Ewigkeit deutet (vgl. dazu III Dinzelbacher, S. 29, 33). Sowohl die räumliche wie zeitlich-eschatologische Distanz zur unverfügbaren Transzendenz bleibt dabei deutlich gewahrt. - Arnold verändert die Elemente dieser Schrift-Allegorese entscheidend: »HErr / wenn du die seel entzückst / und in solche hohe fuhrest / Daß das äuge schaut im licht / was ein mensch sonst nicht kan sehn / Licht und glantz und herrlichkeit; wenn du sie mit wonne zierest Aus dem himmels = jubel = fest / und in deiner krafft läßst stehn: Wird sie nicht vergöttert fast / ist sie nicht voll deiner wunder / Scheints nicht der vernunfft ein träum / was der geist warhafftig spart? Zündt nicht die empfindung an den verborgnen liebes = zunder / Daß der gantze küß zuletzt selbst sie in dein Hertz einfuhrt? Kurtz: die reine seele wird so mit gnaden überschwemmet / Ja mit GOtt so gar vereint / daß sie Gott in sich nur findt /

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3) Pietistisches Autonomiestreben (Arnold)

Und sich wiederum in GOtt / der vernunfft und sinnen hemmet / Und mit JEsu ihren schätz ewig ewig sie verbindt.« (PLS, S. l; Hervorhebung im Original)

Während Sudermanns Seele die Vision »Als in eim Traum« erfährt, erlebt sie bei Arnold die göttliche »krafft« »warhafftig«, und es ist die Vernunft, die derartiges fälschlicherweise für einen »träum« hält. Die bei Arnold nur noch angedeutete Vision führt die Seele mithilfe des »liebes = zunders« (physiologisch-realistisch im Kontext damaliger Vorstellungen) ins »Hertz« Gottes und damit zur »unio«, und zwar dergestalt, daß die räumliche Distanz von Immanenz und Transzendenz durch die kursiven Wendungen »Gott in sich« und »sich in GOtt« ebenso annulliert wird wie die zeitliche Begrenzung der »unio« durch das prononcierte »ewig ewig« in der letzten Zeile. Die Sudermannsche anagogische Hoffnung auf die noch viel größeren und dann erst realen Freuden in der Ewigkeit erfährt die Arnoldsche Seele bereits im irdischen Hier und Jetzt. Arnold nennt im unmittelbaren Anschluß an das Zitierte mit dem Verweis auf die Liebe als Haupteigenschaft Christi die theologische Voraussetzung für solch ewige Vereinigung: »Dieser / wie er wesentlich lauter liebe ist und heget / Also blieb er gern mit ihr stets durch solchen küß vereint« (ebda., S. 2). Eine Unterbrechung der Vereinigung kann daher immer nur durch eine sündigende Seele selbst erfolgen, indessen vermag sie auch durch reuevolle Sehnsucht selbst den Geliebten zurückzugewinnen : »Wirst du dich / o JEsu / nicht bald zu solchem sehnen kehren? / Ja! die liebe kan nicht lang ohne den geliebten stehn.« (Ebda.) Von dieser Position des »beatus possidens« her empfindet er auch die unentwegte ängstlich-rationale Selbstprüfung Speners als geradezu schädlich, »weil diejenigen / in welchen die vernunfft dem geist noch nicht völlig unterthan gemacht ist / durch ihr stachliches scrupuliren nimmermehr zu einiger gewißheit in Gottlichen dingen kommen mögen« (PLS >Kurtzer BerichtCherubinischen Wanders-

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mann< des Angelus Silesius wird das gesamte Heilshandeln Christi zu einem sich in jedem Wiedergeborenen ereignenden Geschehen mythisiert. So wie sich die Menschwerdung Christi - wie bereits gezeigt durch das Eingehen des »himmlischen fleisches« in die »neue creatur« wiederholt, so vollzieht diese auch den Opfergang und die »neue schopffung« in sich nach. Sogar Christi Auferstehung und Himmelfahrt, ja das Jüngste Gericht selbst als Ende der Weltgeschichte werden in der schon jetzt stattfindenden und ewig dauernden Vereinigung mit dem Numinosen aus heilsgeschichtlichen Ereignissen zu Bildern und Stadien des psychologischen Wachstumsprozesses der »neuen creatur« uminterpretiert und damit vollständig enthistorisiert: »Nun muß der mensch / da er samt dir ist aufferstanden / Ins uber = himmlische mit dir versetzet seyn / Ins reinste element / das ihm die nahrung bringet / Damit die Himmelfahrt nicht mehr verschoben sey / Wenn der entrißne Geist sich über alles schwinget / Und bloß in Gottes schoos auff ewig ruhet frey. Dann spricht in mir der HErr / der Vater zu dem Sohne: Setz dich zur rechten her / regier in ewigkeit Im menschen / wie vorhin / biß daß ich deinem throne Die feinde unterwerf f / und geb sie dir zur beut!« (PLS, S. 166; vgl. ebda., S. 157)

So hat die Seele außer der eigenen inneren Dauer-Verzückung nichts Wesentliches mehr zu erwarten, zu erhoffen oder zu befürchten. Auch gegenüber der sündhaften Welt hat sie sich mit Hilfe der Sophia vollständig abgeschottet: »Des neuen menschen stärcke / Zog wesendlich in sich .. . Die weißheit kont nicht lassen / Zu seiner Sicherheit mit einer mauer schütz / Den garten um und um sorgfältig einzufassen« (ebda., S. 144). Und nicht ohne Pharisäerhaftigkeit liest dieser »neue mensch« auch der Welt die Leviten und beharrt ihr gegenüber auf seiner seligen Separation (zu Hl. 6,3): »O blinde weit! Du hast so offte mir Viel andre liebsten vorgestellt / Darein ich setzen sollt der lieb begier. Bald ehre / titel = pracht / bald wollust / gut und geld; Bald sollt ich mir ein weib nach deinem lauffe freyen: Allein Sophiae lieb macht' andre lieb mich scheuen. Bey ihr bin ich so elend nicht / Als etwan ein verblendt gesicht Mich schätzen m6cht: Ich hab in mir Gnug Schatzes / schonheit / pracht und zier.

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Ich bin kein knecht / Von GOtt bin ich ein hochgebohrn geschlecht: Mein kleid sind wesendliche kriffte / Die speise himmel = brod / glaub / liebe / hoffnung mein geschaffte. Die guter sind gantz kSniglich / Der himmel herbergt mich / So hoch bin ich!« (Ebda., S. 72)

Damit hat das mit Christus und Sophia vereinigte und vergottete androgyne »Ich« sein höchstes mystisches und pietistisches Ziel erreicht und sich zugleich gegenüber aller Heteronomie kirchlichen Heilshandelns völlig autonomisiert. Aber liegt eben darin nicht zugleich der aufklärerische Beitrag der Arnoldschen progressiven Imaginationspoesie, wenn Aufklärung im Sinne Kants als »Ausgang aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit« vorzüglich die Selbstbestimmung »in Religionssachen« meint (vgl. Einleitung d)? Mit ihrem unbedingten religiösen Autonomiestreben stärkten auch die radikal >gegenaufklärerischen< Pietisten die gegen die Macht der Kirche gerichteten Emanzipationstendenzen der Aufklärung. Und insofern kulminieren in der Androgynie als dem Zustand vollkommener Autonomie und Identität des mit dem Anderen seiner selbst verschmolzenen Individuums die Ziele von Mystik, Pietismus und Aufklärung gleichermaßen auf unüberbietbare Weise. - Und doch ist darin zugleich der dialektische Umschlag angelegt, insofern - wie Goethe bemerkt - »der vorzügliche Mensch das Göttliche, was in ihm ist, auch außer sich verbreiten möchte« (DuW II, S. 39; vgl. dazu auch II.2 Brinkmann, S. 180ff., 11.19 Bollacher, S. 102ff.). Die Separation des Frommen verhindert geradezu seine höchstmögliche Vollkommenheit, weil sie der dazu nötigen, nach außen gerichteten »praxis pietatis« bedarf. Dies einzusehen, ist Arnold schwergefallen. Das wird auch und gerade da deutlich, wo er in einem langen Gedicht über >Die wahre und unsichtbare Priesterschafft< handelt (PLS, S. 158ff.). Denn diese dient Gott nur dadurch, daß sie ihn im innersten Bezirk des Tempels verklärt! Die Ausbreitung des Reiches Gottes ist seine Sache, nicht Aufgabe kirchlicher Verkündigung. Und doch hat »gerade die Mystik zu Arnolds Wandlung wesentlich beigetragen« (II.2 Büchsel, S. 154): Die ins Extrem getriebene Separation und Selbstvergottung öffneten ihm die Augen für die luziferische Verführung des »eritis sicut Deus« dieser Existenzform, er erkannte die Gefahr des Hochmuts und der Eigenliebe - auch in seiner Beziehung zur Sophia. Die folgende Passage aus der 1702 publizierten Schrift über >Das Eheliche und Unverehelichte Leben der ersten Christen< legt auch bereits implizit Rechenschaft über die eigene Verehelichung ab:

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»Allein die unvermerckteste und subtileste art der geistlichen Unzucht ist wol diejenige, welche eine seele mit und in sich selbst begehen kan, nemlich durch eigen-liebe und selbst-gesuch: und zwar entweder in erhebung und liebkosung seiner selbst über geistliche gaben, wercken, oder ändern gutscheinenden dingen, welches der rechte Lucifers-fall auch bey Engeln des lichts ist; oder auch in ändern weichlich-zärtlenden schmeichlenden sinn der eigenheit gegen sich selbst.« (Zit. ebda., S. 155)

Bereits 1699 weist Arnold in einem >Antwortschreiben an einen Predigen auf die Gefahr hin, »daß der Glaubende bei der Absonderung von der Gemeinde seinem eigenen und nicht Gottes Willen folgt« und deshalb möglicherweise auch »dem ihm bestimmten Leiden aus dem Weg geht« (ebda., S. 116). Er fordert daher von denen, »die den Verderb der Kirche erkennen, gerade die Hinwendung zu den Menschen, die unter der verfallenen Kirche leben müssen. Das Leitmotiv bei der Ausübung des Amtes ist daher die Liebe zu dem Nächsten.« (Ebda., S. 116f.) Diese Überlegungen, mit denen er sich Speners Position annähert, haben ihm schließlich auch selbst die Rückkehr in das Kirchen-Amt als Dienst an den Schwachen ermöglicht und eine Ehe zu führen erlaubt. »Dann aber trifft er auf die rohe Welt, und um auf sie zu wirken, muß er sich ihr gleichstellen; hierdurch aber vergibt er jenen hohen Vorzügen gar sehr, und am Ende begibt er sich ihrer gänzlich« (II Goethe DuW II, S. 39): Die Wirkungsgeschichte Arnolds scheint dieses allgemeine Diktum zu bestätigen. Außer zwei Liedern im heutigen EKG (zur Rezeptionsgeschichte seiner Lieddichtung in den Gesangbuchausgaben seit 1700 vgl. II.2 Stählin 1966, S. 13Iff.) behielt die Nachwelt nur den radikal separatistischen Verfasser der >Kirchen= und Ketzer = Historie< in Erinnerung. Und dabei stellen doch gerade die Preisgabe seiner eigen-willigen Selbsterhöhung und die Einkehr in den alltäglichen Dienst an Kirche und Gesellschaft als soziale Wirkung sophianischer »Temperantz« die eigentlich aufklärerische Botschaft seines mystischen Pietismus dar!

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Verzeichnis der zitierten Literatur

I.

Anonyma und Quellensammlungen

Anger, Alfred (Hg.): Dichtung des Rokoko. 2. Aufl. Tübingen 1969. Bahr, Ehrhard (Hg.): Was ist Aufklärung? Thesen und Definitionen. Stuttgart 1974. BCG: Anon.: Besonders curieuses Gespräch In dem Reiche derer Todten, Zwischen Zweyen im Reiche der Lebendigen Hoch = Berühmten Männern / Christian Thomasio, . . . Und August Hermann Francken / . . . Anno 1729. Beyer-Fröhlich, Marianne (Hg.): Pietismus und Rationalismus. Darmstadt 1970 ( = DLE. Reihe Deutsche Selbstzeugnisse Bd. 7). Braungart, Wolfgang (Hg,): Bänkelsang. Texte - Bilder - Kommentare. Stuttgart 1985. Brüggemann, Fritz (Hg.): Aus der Frühzeit der deutschen Aufklärung. Christian Thomasius und Christian Weise. Darmstadt 1972 (= DLE. Reihe Aufklärung Bd. 1). Buschmann, Arno (Hg.): Kaiser und Reich. Klassische Texte zur Verfassungsgeschichte des Heiligen Römischen Reichs Deutscher Nation vom Beginn des 12. Jahrhunderts bis zum Jahre 1806. München 1984. FBCG: Anon.: Fortsetzung Des besonders = curieusen Gesprächs In dem Reiche derer Todten, Zwischen Zweyen in dem Reiche der Lebendigen hochberühmten Männern / Christian Thomasio,... Und August Hermann Francken / . . . Anno 1729. Glatzer, Ruth (Hg.): Berliner Leben 1648-1806. Erinnerungen und Berichte. Berlin (Ost) 1956. Hermes: Anon.: Hermetis Trismegisti Erkäntnüß Der Natur Und Des darin sich offenbahrenden Grossen Gottes/ Begriffen in 17. unterschiedlichen Büchern / nach Grichischen und Lateinischen Exemplare in die Hochteutsche Sprache übersetzet / Nebenst vorgesetzter sattsahmer Nachricht und Beweiß von der Person und Genealogie Hermetis, dessen Medicin, Chemie, Natur und Gottes = Gründe / mit unterlauffenden vielen der Egyptier Weißheit / und unterschiedlichen anderen Curiosa berührende Passagen. Verfertiget Von ALETHOPHILO. Hamburg 1706. Münch, Paul (Hg.): Ordnung, Fleiß und Sparsamkeit. Texte und Dokumente zur Entstehung der »bürgerlichen Tugenden«. München 1984. Pressel, Paul (Hg.): Die geistliche Dichtung von Luther bis Klopstock. Stuttgart 1868 (= Evangelische Volksbibliothek Bd. 5). Raab, Heribert (Hg.): Kirche und Staat. Von der Mitte des 15. Jahrhunderts bis zur Gegenwart. München 1966. Weber, Otto/Erich Beyreuther (Hg.): Die Stimme der Stillen. Ein Buch zur Besinnung aus dem Zeugnis von Pietismus und Erweckungsbewegung. Stuttgart o.J.

Verzeichnis der zitierten Literatur

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Wiedemann, Conrad (Hg.): Der galante Stil 1680-1730. Tübingen 1969 (= Deutsche Texte 11).

II. Zu einzelnen Autoren D'ALEMBERT, JEAN LE RoND/Denis Diderot u. a.: Enzyklopädie. Eine Auswahl. Hg. u. eingel. v. G. Berger. Frankf./M. 1989. ANGELUS SILESIUS s. SCHEFFLER, JOHANNES ARNOLD, GOTTFRIED: ELC: Die erste Liebe zu Christo. Oder: Wahre Abbildung der ersten Christen nach ihrem lebendigen Glauben und heiligen Leben. Eingeführt u. mit e. Anhang: »Arnold's sämmtliche geistliche Lieder«, versehen v. A. Knapp. Neue Ausgabe. Stuttgart 1845, S. 1-772. - GGS: Das Geheimnis der göttlichen Sophia. Faks.-Neudr. d. Ausg. v. Leipzig 1700. Mit einer Einführung v. W. Nigg. Stuttgart-Bad Cannstatt 1963. - GLF: Göttliche Liebesfunken aus dem großen Feuer der Liebe Gottes in Christo Jesu entsprungen und gesammelt (1698). In: Gottfried Arnold. In Auswahl hg. v. E. Seeberg. München 1934, S. 261-304. - HMT: Historic und Beschreibung der Mystischen Theologie. Faks.-Neudr. der Ausg. Frankfurt 1703. Stuttgart-Bad Cannstatt 1969 ( = G. A.: Hauptschriften in Einzelausgaben Bd. 2). - KKH: Unpartheiische Kirchen = und Ketzer = Historic, Vom Anfang des Neuen Testaments Biß auf das Jahr Christi 1688. 2 Bde. Reprogr. Nachdr. d. Ausg. Frankf./M. 1729. Hildesheim 1967. - NGLF: Neue Gottliche Liebes = Funcken und Ausbrechende Liebes = Flammen in fortgesetzten Beschreibungen der grossen Liebe GOttes in CHristo JESU dargestellet. 1700. Angehängt an PLS (s. d.), S. 231-351. - PLS: Poetische Lob= und Liebes = Spruche / von der Ewigen Weißheit / nach Anleitung Des Hohenlieds Salomonis: Nebst dessen neuen Übersetzung und Beystimmung der Alten. (1700). Angebunden an GGS (s. d.), S. 1-230. Benz, Ernst: Gottfried Arnolds »Geheimnis der Göttlichen Sophia< und seine Stellung in der christlichen Sophienlehre. In: Jahrb. der hessischen kirchengeschichtl. Vereinigung Bd. 18. Darmstadt 1967, S. 51-82. Brinkmann, Richard: Goethes >Werther< und Gottfried Arnolds >Kirchen- und KetzerhistorieTübinger Ausgabe