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German Pages [344] Year 2015
PIETISMUS UND NEUZEIT EIN JAHRBUCH ZUR GESCHICHTE DES NEUEREN PROTESTANTISMUS im Auftrag der Historischen Kommission zur Erforschung des Pietismus herausgegeben von Rudolf Dellsperger, Ulrich Gäbler, Manfred Jakubowski-Tiessen, Anne Lagny, Fred van Lieburg, Hans Schneider, Christian Soboth, Udo Sträter, Jonathan Strom und Johannes Wallmann Band 41 – 2015
VANDENHOECK & RUPRECHT
Geschäftsführender Herausgeber Prof. Dr. Udo Sträter, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, c/o Interdisziplinäres Zentrum für Pietismusforschung, Franckeplatz 1, Haus 24, D-06110 Halle a. d. Saale Redaktion PD Dr. Christian Soboth, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Interdisziplinäres Zentrum für Pietismusforschung, Franckeplatz 1, Haus 24, D-06110 Halle a. d. Saale Anschriften der Autorinnen und Autoren Prof. Dr. Veronika Albrecht-Birkner, Seminar für Evangelische Theologie, Universität Siegen, AdolfReichwein-Str. 2, 57068 Siegen • Dr. Gabriele Ball, Herzog August Bibliothek, Lessingplatz 1, 38304 Wolfenbüttel • Dr. Ursula Caflisch-Schnetzler, Deutsches Seminar, Universität Zürich, Rämistr. 42, CH-8oo1 Zürich • Dr. Simon Grote, Department of History, Founders Hall 202 A, Wellesley College, 106 Central Street, USA-Wellesley, MA 02481 • Prof. Dr. Volker Gummelt, Alwine-Wuthenow-Ring 11, 17498 Neuenkirchen • Prof. Dr. Andreas Heuser, Theologische Fakultät, Universität Basel, Heuberg 12, CH-4051 Basel • Prof. Dr. Eva Kormann, Institut für Germanistik, Universität Karlsruhe, Englerstr. 2, Geb. 20.30, 76131 Karlsruhe • Dr. Roland M. Lehmann, Lehrstuhl für Kirchengeschichte, Theologische Fakultät, Friedrich-Schiller-Universität Jena, Fürstengraben 6, 07743 Jena • Prof. em. Dr. Hartmut Lehmann, Caprivistr. 6, 24105 Kiel • Dr. Gerald T. MacDonald, Wittener Str. 253, 44803 Bochum • Prof. Dr. Benjamin Marschke, Department of History, Humboldt State University, 1 Harpst Street, USA-Arcata, CA 95521 • Prof. Dr. Markus Matthias, Protestant Theological University Amsterdam-Groningen, A de Boelelaan 1105, NL-1081 HV Amsterdam • Prof. em. Dr. Cornelia Niekus Moore, 4101 Locust Lane, USA-Fairfax, VA 22030 • Dr. Malte van Spankeren, Institut für Evangelische Theologie und Kulturgeschichte des Christentums, Universität Erfurt, Nordhäuser Str. 63, 99089 Erfurt • Dr. Wolfgang Splitter, Franckesche Stiftungen, Franckeplatz 1, Haus 24, 06110 Halle a. d. Saale • PD Dr. Friedemann Stengel, Seminar für Kirchengeschichte, Institut für Historische Theologie, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Haus 30, Franckeplatz 1, 06110 Halle a. d. Saale • Dr. Marianne Taatz-Jacobi, Institut für Geschichte, Martin-Luther-Universität Halle- Wittenberg, Emil-Abderhaldenstr. 26–27, 06108 Halle a. d. Saale • Dr. Otto Teigeler, Am Bonneshof 30, 40474 Düsseldorf • Holger Trauzettel, Bernhardystr. 21, 06110 Halle a. d. Saale • Dr. Peter Vogt, Comeniusstr. 3, 02747 Herrnhut • Dr. Markus Wegewitz, Historisches Institut, Friedrich-Schiller-Universität Jena, Fürstengraben 13, 07743 Jena • Prof. Dr. Dr. Reinhard Wunderlich, FB Evangelische Theologie / Religionspädagogik, PH Freiburg, Kunzenweg 21, 79117 Freiburg • Dr. Peter James Yoder, Department Religion and Philosophy, Berry College, 2277 Martha Berry Hwy, USA-Mount Berry, GA 30149 Mit 1 Abb. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISSN 0172-6943 ISBN 978-3-666-55913-6 Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, 37073 Göttingen/ Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U. S. A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Gesamtherstellung:
Hubert & Co. KG, Robert-Bosch-Breite 6, 37079 Göttingen
Vorwort Der diesjährige Band offeriert neben historischen Fall- und Einzelstudien zwei Beiträge, die zugleich ein systematisches Interesse verfolgen. Der Beitrag von Veronika Albrecht-Birkner entfacht ein weiteres Mal die Diskussion um den Pietismusbegriff. Angesichts der Reformentschlossenheit sowohl der Lutherischen Orthodoxie als auch der Pietisten unterschiedlicher Couleur ab dem mittleren und späten 17. Jahrhundert stellt sie den auf wertende Abgrenzung gegründeten kirchengeschichtlichen Pietismusbegriff in Frage. Statt, so der Vorschlag vor allem vor dem Hintergrund der Reformbemühungen von Herzog Ernst dem Frommen in Sachsen-Gotha, zwischen einem reformwilligen Pietismus und einer reformunwilligen Orthodoxie zu unterscheiden, sei bündelnd von einem frühneuzeitlichen bis ins 18. Jahrhundert fortwirkenden Reformprotestantismus zu sprechen. Friedemann Stengel rekonstruiert in seiner kompendiösen Studie minutiös die pädagogischen, theologischen und philosophischen Diskussionen und Kontroversen um Begriffe und Phänomene des Humanismus vor allem im 18. und 19. Jahrhundert. Stengel unterbreitet den Vorschlag einer konsequenten Historisierung des Humanismus bzw. der Konzepte und Konzeptualisierungen von Humanismus. In diesem Sinne sei Historisierung „nichts weniger als ein kritisches Projekt der Freiheit“. In den historisch orientierten Beiträgen untersucht Markus Matthias unter den Rubriken Gewissheit und Bekehrung den bislang noch kaum konturierten Einfluss der Theologie von Johannes Musaeus auf August Hermann Francke. Insbesondere dessen Bekehrungsbericht und seine Theologie der Bekehrung lassen neben den bereits bekannten Einflüssen deutliche Hinweise auf Franckes intensive und produktive Rezeption der musaeischen Theologie erkennen. An Lucas Geiger untersucht Simon Grote Aufnahme und Wirkung der Philosophie Christian Wolffs im Schulunterricht des Halleschen Waisenhauses. Wolffs Philosophie, vor allem ihre Methodik, hatte offensichtlich eine stärkere Präsenz in den Schulen des Waisenhauses, als dies lange im Horizont der Forschung zur Francke-Wolff-Kontroverse angenommen worden war. Ebenso wie bereits die Auseinandersetzung zwischen den historischen Akteuren von der Forschung in ein anderes Licht gerückt worden ist, gilt es auch hinsichtlich der Verwendung von Wolffs Lehre in hallesch-pietistischen Kontexten genauer hinzuschauen. Markus Wegewitz analysiert das Ausgründungspotenzial des Halleschen Waisenhauses am Beispiel des in Halle ausgebildeten Theologen und Pfarrers 5
Johann Ulrich Drießler und seiner Waisenhausgründung in Frederica, Georgia. Im Unterschied zum Halleschen Muster- und Mutterhaus war Drießlers Unternehmung nicht von (dauerndem) Erfolg gekrönt. Ein Schicksal, das Frederica mit anderen Nachfolgeeinrichtungen des Halleschen Vorbildes geteilt hat – sicherlich aus jeweils unterschiedlichen Gründen. Mit Georg Kunz stellt Otto Teigeler den weithin unbekannten, schillernden Lebensweg eines Herrnhuter Bruders vor Augen, dessen Nachleben und fromme Vorbildlichkeit in Gestalt des gemeineüblichen Lebenslaufes nicht stattgefunden hat. August Gottlieb Spangenberg als Nachfolger Zinzendorfs betrachtete Kunz’ Leben offensichtlich als unbotmäßig und wenig vorbildlich, so dass dessen Niederschrift einer internen Zensur zum Opfer fiel. Dem folgt der Beitrag von Ursula Caflisch-Schnetzler, einer der Herausgeberinnen der Zürcher Lavater-Ausgabe, zum Zirkel der jungen Zürcher Gelehrten und Künstler Johann Caspar Lavater, Johann Heinrich Füssli und Felix Hess. Angesprochen ist damit ein für die Signatur des 18. Jahrhunderts zentrales Thema: die Freundschaft, hier die fromme Freundschaft, die sich als ein dynamisches Mischungsverhältnis von irdischer Glückseligkeit und Gottseligkeit darstellt. Die üblichen Rezensionen, die Bibliographie und die Register beschließen den Band. Der Umstand, dass wie schon häufiger in den letzten Bänden erneut ältere, für die Forschung zentrale Titel besprochen bzw. vorgestellt werden, ist nicht zuletzt dem Umstand geschuldet, dass die seinerzeit angesprochenen Themen und Problemstellungen immer noch bzw. augenblicklich eine besonders intensive Bearbeitung erfahren. Dies ist zum Beispiel an den Erweckungsbewegungen in ihren regionalen und historischen Facetten zu beobachten. Insofern hat die Besprechung des 3. Bandes der Geschichte des Pietismus zum Pietismus im 19. und 20. Jahrhundert hier zu Recht einen nachgetragenen Ort. Für die Hilfe bei den redaktionellen Arbeiten und der Erstellung von Bibliographie und Registern danken die Herausgeber Corinna Kirschstein und Oliver Seide vom Interdisziplinären Zentrum für Pietismusforschung der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Für die Herausgeber: Udo Sträter
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Inhalt Beiträge Markus Matthias: Gewissheit und Bekehrung. Die Bedeutung der Theologie des Johannes Musaeus für August Hermann Francke . . . .
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Simon Grote: Religion and Enlightenment Revisited: Lucas Geiger (1682–1750) and the Allure of Wolffian Philosophy in a Pietist Orphanage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Markus Wegewitz: „Alles wie im Waysenhaus“: Johann Ulrich Drießler und der hallische Pietismus in Frederica, Georgia . . . . . . . . . . .
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Otto Teigeler: „Ich leide hier viel Hohn und Schmach“. Die Biographie des Herrnhuter Bruders Georg Kunz . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Ursula Caflisch-Schnetzler: Fromme Freundschaften: Johann Caspar Lavater, Johann Heinrich Füssli und Felix Hess . . . . . . . . . . . . 112 Veronika Albrecht-Birkner: „Reformation des Lebens“ und „Pietismus“ – ein historiografischer Problemaufriss . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 Friedemann Stengel: Was ist Humanismus? . . . . . . . . . . . . . . 154
Rezensionen Douglas H. Shantz: An Introduction to German Pietism: Protestant Renewal at the Dawn of Modern Europe. Baltimore: Johns Hopkins University Press 2013: Gerald T. MacDonald . . . . . . . . . . . . . 215 „Aus Gottes Wort und eigener Erfahrung gezeiget“. Erfahrung – Glauben, Erkennen und Handeln im Pietismus. Beiträge zum III. Internationalen Kongress für Pietismusforschung 2009. Hg. v. Christian Soboth [u. a.]. Halle: Verlag der Franckeschen Stiftungen 2012 (Hallesche Forschungen, 33/1 u. 33/2): Marianne Taatz-Jacobi
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Geschichte des Pietismus. Band 3: Der Pietismus im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert. Hg. v. Ulrich Gäbler. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2000: Malte van Spankeren . . . . . . . . . 231 Anton Grabner-Haider, Klaus S. Davidowicz u. Karl Prenner: Kulturgeschichte der frühen Neuzeit. Von 1500 bis 1800. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2014: Hartmut Lehmann . . . . . . . . . 240 Rudolf Schlögl: Anwesende und Abwesende. Grundriss für eine Gesellschaftsgeschichte der Frühen Neuzeit. Konstanz: Konstanz University Press 2014: Hartmut Lehmann . . . . . . . . . . . . . . . 242 Polina Serkova: Spielräume der Subjektivität. Studien zur Erbauungsliteratur von Heinrich Müller und Christian Scriver. Duisburg: Universitätsverlag Rhein-Ruhr 2013 (ESS-Kultur, 7): Eva Kormann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244 Ulman Weiß: Die Lebenswelten des Esajas Stiefel oder vom Umgang mit Dissidenten. Stuttgart: Steiner 2007 (Friedenstein-Forschungen,1): Markus Matthias . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 Robert Langer: Eine sächsische Gelehrte. Ermahnungen zu einem tugendhaften Leben in Bildungsbriefen der Henriette Catharina von Gersdorff. Dresden: KWB-Verlag 2013: Gabriele Ball . . . . . . . . . 251 Judith P. Aikin: A Ruler’s Consort in Early Modern Germany. Aemilia Juliana of Schwarzburg-Rudolstadt. Farnham (England): Ashgate 2014 (Women and Gender in the Early Modern World): Cornelia Niekus Moore . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258 Carmen Winkel: Im Netz des Königs. Netzwerke und Patronage in der preußischen Armee 1713–1786. Paderborn [u. a.]: Ferdinand Schöningh 2013: Benjamin Marschke . . . . . . . . . . . . . . . . . 260 A. Gregg Roeber: Hopes for Better Spouses. Protestant Marriage and Church Renewal in Early Modern Europe, India, and North America. Grand Rapids, Michigan: Eerdmans 2013: Peter Vogt . . . . . . . . . 264 Claudia Wustmann: Die „begeisterten Mägde“. Mitteldeutsche Prophetinnen im Radikalpietismus am Ende des 17. Jahrhunderts. Leipzig: Kirchhof & Franke 2008: Peter James Yoder . . . . . . . . . 267 8
Matthias Paul: Johann Anastasius Freylinghausen als Theologe des hallischen Pietismus. Halle: Verlag der Franckeschen Stiftungen 2014 (Hallesche Forschungen, 36): Roland M. Lehmann . . . . . . . . . . 272 Christina Jetter-Staib: Halle, England und das Reich Gottes weltweit – Friedrich Michael Ziegenhagen (1694–1776). Halle: Verlag der Franckeschen Stiftungen 2013 (Hallesche Forschungen, 34): Wolfgang Splitter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275 Malte van Spankeren: Johann August Nösselt (1734–1807). Ein Theologe der Aufklärung. Halle: Verlag der Franckeschen Stiftungen 2012 (Hallesche Forschungen, 31): Roland M. Lehmann . . . . . . . 279 Johann Peter Hebel: Sämtliche Schriften VI-VIII. Stroemfeld Verlag: Bde. VI u. VII: Predigten und Predigtentwürfe. Kritisch hg. v. Anselm Steiger unter Mitwirkung von Thomas Ilg. Frankfurt/Main 2010; Bd. VIII: Theologische Schriften. Kritisch hg. v. Anselm Steiger unter Mitwirkung von Thomas Ilg. Frankfurt/Main 2013: Reinhard Wunderlich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 282 Dem rechten Glauben auf der Spur. Eine Bildungsreise durch das Elsaß, die Niederlande, Böhmen und Deutschland. Das Reisetagebuch des Hieronymus Annoni von 1736. Hg. v. Johannes Burkhardt, Hildegard Gantner-Schlee u. Michael Knieriem. Zürich: TVZ 2006: Holger Trauzettel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 289 Julia Ulrike Mack: Menschenbilder. Anthropologische Konzepte und stereotype Vorstellungen vom Menschen in der Publizistik der Basler Mission 1816–1914. Zürich: TVZ 2013 (Basler und Berner Studien zur historischen Theologie, 76): Andreas Heuser . . . . . . . . . . . . . . 292 Rudolf von Thadden: Trieglaff. Eine pommersche Lebenswelt zwischen Kirche und Politik 1807–1948. Göttingen: Wallstein Verlag 32011 (2010). – (English-language edition, Berghahn, N. Y., Oxford 2013): Volker Gummelt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297 Max Weber: Asketischer Protestantismus und Kapitalismus. Schriften und Reden 1904–1911. Hg. v. Wolfgang Schluchter in Zus.arb. mit Ursula Bube. Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 2014 (Max Weber Gesamtausgabe Abteilung I: Schriften und Reden, 9): Hartmut Lehmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 9
Uwe Kaminsky: „Hetzt gegen die Ordnung“. Leben in Einrichtungen der Duisburger Diakonenanstalt 1926–1951. Essen: Klartext-Verlag 2014: Hartmut Lehmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301 Inga Bing-von Häfen u. Nadja Klinger: Du bist und bleibst im Regen. Heimerziehung in der Diakonie in den 50er und 60er Jahren in Oberschwaben. Berlin: Wichern 2014: Hartmut Lehmann . . . . . . . 302
Bibliographie Christian Soboth und Oliver Seide: Pietismus-Bibliographie . . . . . . 307
Register Personen- und Ortsregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 342
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MARKUS MATTHIAS
Gewissheit und Bekehrung. Die Bedeutung der Theologie des Johannes Musaeus für August Hermann Francke 1. Einleitung Im Jahre 2013 feierten die Franckeschen Stiftungen in Halle an der Saale die 350. Wiederkehr des Geburtstages ihres Gründers.1 Längst haben die Halleschen Stiftungen sich einem umfassenden sozialen, bildungspolitischen, wissenschaftlichen und kulturellen Programm verschrieben, und längst hat auch die Pietismusforschung ihren Blick von der Person des Gründers auf den hallischen Pietismus als Ganzes mit seinen ökonomischen, politischen, sozialen und missionarischen Aktivitäten erweitert. Gleichwohl verdient die Persönlichkeit August Hermann Franckes und insbesondere seine Selbstwahrnehmung, wie er sie in seinem Lebenslauf und Bekehrungsbericht niedergelegt hat, immer von Neuem Beachtung, weil hier prinzipielle Fragen über die Motive Franckes und des (hallischen) Pietismus überhaupt zur Debatte stehen. So hat im Jahre 1975 der hallesche Kirchenhistoriker Friedrich de Boor Franckes Bekehrungserlebnis unter dem Motto „Erfahrung gegen Vernunft“ als Schlüsselereignis für den Kampf des hallischen Pietismus gegen die Aufklärung interpretiert.2 Der Duktus von de Boors Analyse des Bekehrungsberichtes zielt darauf, die Eigenständigkeit des religiösen Erlebnisses (Franckes) gegenüber einem rein wissenschaftlich-vernünftigen Zugang zur Religion abzusichern, was dann auch das movens des hallischen Pietismus gegen die aufkommende (mitteldeutsche) Aufklärung gewesen sei. Dabei spürt de Boor feinsinnig den religiösen Traditionen nach, in denen Francke aufgewachsen ist und in die sein Erlebnis daher eingezeichnet werden muss. 1 Eine populäre Version der hier vorgeschlagenen Interpretation mit wenigen Überschneidungen erschien als: Markus Matthias: Franckes Erweckungserlebnis und seine Erzählung. In: Die Welt verändern. August Hermann Francke. Ein Lebenswerk um 1700. Hg. v. Holger Zaunstöck [u. a.]. Halle/Saale 2013, 69–79. 2 Friedrich de Boor: Erfahrung gegen Vernunft. Das Bekehrungserlebnis A. H. Franckes als Grundlage für den Kampf des Hallischen Pietismus gegen die Aufklärung. In: Der Pietismus in Gestalten und Wirkungen. FS Martin Schmidt. Hg. v. Heinrich Bornkamm [u. a.]. Bielefeld 1975, 120–138.
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Auch die späteren historischen Interpretationen von Franckes Bekehrungsbericht versuchen, diesen aus bestimmten, spezifischen Frömmigkeitstraditionen heraus zu verstehen. So hat Johannes Wallmann gemeint, dass Franckes Bekehrungserlebnis reformierter Frömmigkeit zuzuschreiben sei, und hat dies historisch an Franckes Begegnung mit Heinrich Wilhelm Scharff (1653– 1703), seit 1681 Superintendent des Klosters Lüne festmachen wollen,3 den Francke in seinen späten Lebensnachrichten (von 1724) einen entschiedenen Schüler Valentin Großgebauers (1627–1661) in Rostock genannt hat.4 Großgebauer aber habe reformiert-puritanische Motive in sein Denken aufgenommen, so dass Franckes Lüneburger Erfahrung (und in der Folge der hallische Pietismus) in diesen (unlutherischen) Frömmigkeitskontext eingeordnet werden müssten. Wallmanns Argumentation kann freilich weder historisch noch theologiegeschichtlich überzeugen. Zunächst ist der zeitliche Rahmen von höchstens zwei Monaten (bis zum Jahresende 1687) für einen dermaßen tiefgehenden Einfluss doch sehr kurz bemessen, auch wenn man mehrmalige Begegnungen Franckes mit Heinrich Scharff im zwei Kilometer von der Lüneburger Johanniskirche entfernten Kloster Lüne annehmen kann. Ist es wahrscheinlich, dass Francke sich seine Zweifel durch den ihm vorher persönlich unbekannten Heinrich Wilhelm Scharff mit Hinweisen auf die reformierte Wiedergeburtslehre Großgebauers hat nehmen lassen? Und müsste nicht zuerst gefragt werden, in welchen Kontext Franckes Zweifel selbst gehören? Außerdem wäre es nötig, anhand von Primärquellen nachzuweisen, dass Scharff in der Tat eine reformierte Bekehrungs- oder Wiedergeburtslehre vertreten habe, und es wäre zu untersuchen, welche Funktion die Nennung von Scharff als Schüler Großgebauers in Franckes Lebensnachrichten hat. So mag es sein, dass Scharff wie viele andere (z. B. Philipp Jakob Spener) die Werke Großgebauers sehr schätzte und sie vielleicht auch Francke empfohlen hat bzw. dass Francke in Scharff einen frommen Gesinnungsgenossen sah; aber Scharff war schon auf Grund seiner Lebenszeit sicher kein Hörer, erst recht kein Schüler Großgebauers. Um uns einen Eindruck von Scharffs Theologie zu machen, sind wir allein auf seine Lünische Rechnung von 16965 angewiesen, den Druck einer Predigt Scharffs vom 26. April 1696 anlässlich der Generalkirchenvisitation. Scharff spricht zwar in diesem Text von Buße, Zerknirschung und der Bedeutung der Erkenntnis der Sünden und der Reue; aber seine Theologie ist ganz von lutherischer Bußtheologie geprägt, wenn er die Taufe als Bad der Wiedergeburt und Erneuerung im Heiligen Geist versteht und vor dem Herausfallen aus der Taufgnade durch mutwillige Sünde warnt. Zudem sei der eigene 3
Johannes Wallmann: Der Pietismus. Göttingen 1990, 64. Gustav Kramer: August Hermann Francke 1. Halle/Saale 1880, 29 f. 5 Heinrich Wilhelm Scharff: Die Lünische Rechnung, Vorstellend Die Pflichten des Predigers und Seiner Zuhörer [. . .]. O. O. 1717. 4
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Zweifel an der Tiefe der eigenen Buße und der Festigkeit des Glaubens an Christus keine Eingebung des Satans oder der Melancholie, sondern eine durch den Heiligen Geist selbst hervorgebrachte Bewegung, die den rechten Bußweg lehren soll.6 Es ist ferner nicht nachzuweisen, dass Scharff „die von der altlutherischen Anfechtungstradition abweichende Anschauung Großgebauers von der Notwendigkeit einer einmaligen, datierbaren Bekehrung und von dem vorangehenden Bußkampf“ vertreten habe, die „Francke [. . .] bei dem Gespräch mit Scharff kennengelernt und für überzeugend gehalten“7 habe. Zumal auch Francke weder von der Notwendigkeit einer einmaligen Bekehrung noch von der Notwendigkeit ihrer Datierbarkeit ausging. Seine eigene Bekehrung hat Francke offenbar niemals an einem bestimmten Kalendertag festgemacht, eine plötzliche Bekehrung, „wie man eine hand umwendet“, hält Francke ausdrücklich nicht für notwendig.8 Schließlich überzeugt auch Wallmanns Hinweis nicht, im Puritanismus sei die Anfechtung nicht wie im Luthertum Bestandteil des Glaubens, sondern des Unglaubens. Denn auch im Puritanismus sind Glaubenszweifel und Anfechtungen Stationen im Leben des Prädestinierten und damit des (letztlich) Glaubenden. Auch Martin Brecht hat – neben Anleihen bei Wallmanns Interpretation – auf Franckes Frömmigkeitstraditionen hingewiesen, insbesondere auf Johann Arndt und Miguel de Molinos.9 Die genannten Interpretationen kommen darin überein, dass sie versuchen, Franckes Bekehrung in bestimmte Frömmigkeitstraditionen zu situieren, offenbar unter der Prämisse, dass der Pietismus kirchenhistorisch in erster Linie als eine religiöse Erneuerungsbewegung10 zu verstehen sei, weil er das defizitär empfundene religiöse Leben (Frömmigkeit) der (lutherischen) Orthodoxie erneuern, nicht aber theologische Probleme lösen wollte. Diese Erneuerung geschieht dann folgerichtig durch die Aufnahme und Verarbeitung von nicht lutherisch-orthodoxen Frömmigkeitstraditionen. Bei einem solchen Ansatz kommen die inneren Probleme, Aporien oder Anpassungen der zeitgenössischen (lutherischen) Theologie gar nicht als mög6
Scharff, Lünische Rechnung [s. Anm. 5], 249–324, bsd. 257. Wallmann, Pietismus [s. Anm. 3], 64. 8 Lebensläufe August Hermann Franckes. Hg. v. Markus Matthias. Leipzig 1999, 29, Z. 9–15; vgl. Markus Matthias: Bekehrung und Wiedergeburt. In: Geschichte des Pietismus. Bd. 4: Glaubenswelt und Lebenswelten. Hg. v. Hartmut Lehmann. Göttingen 2004, 49–79, hier 62–64. 9 Martin Brecht: August Hermann Francke und der Hallische Pietismus. In: Geschichte des Pietismus. Bd. 1: Der Pietismus vom siebzehnten bis zum frühen achtzehnten Jahrhundert. Hg. v. dems. Göttingen 1993, 439–539, hier 444 f. 10 Vgl. Wallmann, Pietismus [s. Anm. 3], 10. – Hinsichtlich der Anfänge des Pietismus in Frankfurt sieht Wallmann nicht in Spener, sondern in Johann Jacob Schütz (1640–1690) die treibende Kraft, der seinerseits reformierte (labadistische) Motive aufgenommen habe, während der hallische Pietismus in der reformierten Wiedergeburtslehre wurzele. 7
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liche Herausforderungen in den Blick, denen der Pietismus und seine theologisch gebildeten Wortführer begegnen mussten und wollten, obwohl Francke in seinem Bekehrungsbericht selbst auf diesen theologischen Kontext verweist, wenn er über die Zeit seiner Unruhe und seines Zweifels schreibt: „Ich nahm zur hand herrn Joh. Musaei collegium Systematicum MS. welches ich mir bißhero für andern bekant gemachet hatte, aber ich muste es wieder weg legen, und fand nicht woran ich mich hätte halten mügen.“11 Bemerkenswert ist an der zitierten Stelle zweierlei: Erstens, dass Franckes systematisch-theologische Bildung weitestgehend durch die Theologie des Johannes Musaeus geprägt war. Zweitens, dass Francke sein Musaeus-Manuskript wieder weglegte. Wie ich im Folgenden zeigen will, konnte Francke bei Musaeus zwar seine Frage, nicht aber eine vollständige Antwort darauf finden. 2. Johannes Musaeus als Franckes theologischer Lehrer 2.1 In der Tat liegt nun im Archiv der Franckeschen Stiftungen12 eine Handschrift mit einer Nachschrift13 eines theologischen Kollegs (Vorlesung) von Johannes Musaeus (Collegium Theologicum concinnatum) aus dem Besitz eines Christoph Erler, die dieser laut eines Eintrags auf der Innenseite des Einbandes im Oktober des Jahres 1678 erworben haben dürfte. Vermutlich handelt es sich um den in Leipzig eingeschriebenen und aus Rassberg bei Zeitz stammenden Studenten (geb. 11.01.1649), der am 29. Januar 1680 unter Johann Benedikt II. Carpzov (1639–1699) zum Magister14 ernannt worden war und gerade das Theologiestudium begonnen hatte, als er am 30. Mai desselben Jahres starb.15 Da Musaeus selbst kein Lehrbuch der (systematischen) Theologie (Dogmatik) publiziert hat, war für einen Anhänger der Theologie des Musaeus eine Vorlesungsnachschrift die einzige Möglichkeit, dessen Theologie im systematischen Zusammenhang zu studieren. Dieses Studium
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Lebensläufe [s. Anm. 8], 26, Z. 20–23. AFSt/H, H 18. 13 Vermutlich handelt es sich um die (Abschrift einer?) (autorisierte[n]?) Reinschrift des im Kolleg vorgetragenen Textes. 14 Summos in Philosophia Honores, Rectore Magnifico, Theologo Venerabili, Jo. Benedicto Carpzovio; Procancellario Gravissimo, Philosopho Acutissimo, Antonio Gunthero Heshusio; Decano Spectabili, Theo-Philosopho Celeberrimo, Valentino Alberti, d. 29. Jan. 1680. Christophoro Erlero Rasberg-Cizensi: Solenniter collatos eidem gratulantur Patroni, Praeceptores, Fautores, Amici. Lipsiae, Literis Michaelis Vogtii 1680. 15 Rector Academiae Lipsiensis ad Exuvias Viri Perexemii Atque Doctissimi Dn. Christophori Erleri, Rasberga Misnici, Philos. Magistri ac SS. Theol. Cultoris indefessi Post horam III. honore ultimo condecorandas Proceres Civesque Academicos peramanter invitat: [PP. d. XXI. Mai. Ao. Aer. Chr. M.DC.LXXX.]. [Leipzig]: Güntherus, [1680] (SLUB Dresden: Biogr. erud. D. 1567, 20). 12
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von handschriftlich tradierten Kollegnachschriften ist durchaus üblich im 17. Jahrhundert. Wir wissen, dass Francke schon zu Beginn des Jahres 1680 (noch während seiner Erfurter Studienzeit) im Besitz einer solchen Vorlesungsnachschrift war.16 Ob es sich bei dem in Halle aufbewahrten Exemplar um Franckes Exemplar handelt, das der genannte Christoph Erler dann also vor seinem Tod verkauft haben müsste, lässt sich bisher nicht sagen. Eindeutig Francke zuzuschreibende Einträge habe ich bei einer ersten Durchsicht nicht nachweisen können. Zeitlich wäre es immerhin möglich, dass es sich bei dem halleschen Manuskript um Franckes Lüneburger Exemplar handelt. Wichtiger ist, dass wir mit dem Text der halleschen Kollegnachschrift (weitgehend) denjenigen Text vor uns haben dürften, den auch Francke studiert und mit dem er sich vertraut gemacht hat. 2.2 Das Besondere dieses systematischen Entwurfs von Johannes Musaeus liegt darin, dass er darin das Thema der Bekehrung als eigenen Locus behandelt, der bei ihm weder traditionell Teil der Lehre von der (das Heil) zueignenden Gnade (gratia applicatrix) ist, noch einfach unter die Taufgnade fällt. In der Tat geht es ihm nämlich um die neue und moderne Fragestellung nach der Bekehrung des Erwachsenen und damit um die Frage, wie einer, der nicht glaubt, zum Glauben kommen kann.17 Musaeus’ mehrmalige monographische Behandlung des Themas de conversione hominis dürfte mit der im Laufe des 17. Jahrhunderts immer lauter werdenden Kritik der (christlichen) Religion zusammenhängen, einer Kritik, mit der sich Musaeus auch in anderer Hinsicht ausführlich auseinandergesetzt hat.18 2.3 Auch in der genannten handschriftlichen Kollegnachschrift handelt Musaeus unter dem Locus III. über die Bekehrung des Menschen (de hominis conversione).19 Darunter versteht er (§ 1) konkret dasjenige Geschehen, in dem der Mensch zum Glauben kommt, genauer: in dem Gott durch das Wort den Glauben im Herzen des Menschen entzündet.20 In Aufnahme seiner monographischen Behandlung des Themas unterscheidet Musaeus auch in diesem Kolleg zwischen der transitiven und intransitiven 16 A. H. Francke an Anton Heinrich Gloxin. Kiel, 01.03.1680: „Quod attinet quidem Collegium MSS. Musaei, illud e vestigio transmisissem, nisi profecto jam tum D. Sedorffio, dubium mihi fuisset, curam concrederem, utrumve gratum Tibi omnino futurum sit, si aliâ, quam quâ volueras, occasione acciperes“ (Archiv der Hansestadt Lübeck, Schabbelstiftung Nr. 26). 17 In den §§ 6–7 (539–541) unterscheidet Musaeus die theologische Frage der Bekehrung des an seiner Bekehrung erkennend und willentlich beteiligten Erwachsenen von derjenigen der Säuglinge ohne Vernunftgebrauch („infantes [. . .] utpote qui usu rationis destituantur“ [539]). Für die Frage der Wiedergeburt der Säuglinge verweist Musaeus auf den späteren Locus über die Taufe. 18 Vgl. Markus Matthias: Pietism and Protestant Orthodoxy. In: A Companion to German Pietism, 1600–1800. Hg. v. Douglas H. Shantz. London 2014, 17–49. 19 AFSt/H, H 18, 536–576. 20 AFSt/H, H 18, 536: „quâ Deus fidem per verbum in corde hominis accendit“.
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Bedeutung (§ 2–3) von „Bekehrung, bekehren“ und seinen alttestamentlichhebräischen (͇͊͋͟͠, ͇͋͟) und neutestamentlich-griechischen (ἐπιστροφή, ἐπιστρέφειν) Äquivalenten (Verweise auf Jes 6,10; Jer 31,1[8]; Mt 13,15; Mk 4,[12]). Transitiv bedeuten die Begriffe allgemein eine Handlung, die sich in einem anderen auswirkt („actionem in alio receptam“), und konkret, jemanden zu einem gesünderen Verstand zurückzuführen („aliquem convertere et ad saniorem mentem reducere“). Die transitive Bekehrung definiert Musaeus als die Handlung, in der Gott durch den Heiligen Geist mit Hilfe des gelesenen oder in der Predigt gehörten Wortes im Menschen den Glauben entzündet (§ 4).21 Dazu muss der in seinen Sünden tote Mensch zunächst mit Hilfe des Wortes des Gesetzes zur wahren Erkenntnis seiner Sünden („peccatorum suorum agnitionem“) und zur ernsten Herzensreue („seria cordis contritione“) gebracht werden. Darauf („Deinde“) wird durch das Wort des Evangeliums in seinem Verstand („intellectu“) das Licht des Glaubens („lumen fidei“) und in seinem Willen („voluntate“) ein wahres Vertrauen auf Christus („veram fiduciam in Christum“) entzündet, begleitet von dem guten Vorsatz, sein Leben künftig zu bessern („cum bono proposito vitam in posterum emendandi“).22 Intransitiv wird die Bekehrung ganz analog als Handlung (actio) des Menschen verstanden, in der er nach der Erkenntnis seiner Sünden durch das Gesetz den Zorn Gottes fürchtet und im Schmerz über die begangenen Sünden im Glauben an Christus sich wieder aufrichtet mit dem Vorsatz, sein Leben durch Gottes Gnade in Zukunft zu bessern.23 Die Notwendigkeit der Abfolge von reumütiger Sündenerkenntnis und Glaubenserfahrung verbunden mit dem Vorsatz, sein Leben zu bessern, wird von Musaeus auch später betont.24 Die analoge Formulierung zeigt, dass Musaeus mit der intransitiven Bedeutung ein und denselben Vorgang von der subjektiven Seite des Menschen her in den Blick nehmen will, also als eine psychische Handlung, deren (logisches) Subjekt der Mensch ist.25 Auf diese Weise wird die Bekehrung sowohl als Handlung des Heiligen Geistes (transitiv) als auch als Handlung des Menschen (intransitiv) betrachtet. Musaeus exemplifiziert das am Beispiel der Erleuchtung (illuminatio): Die Erleuchtung des menschlichen Geistes („illuminatio mentis“) und die Hervorbringung des Glaubens im Menschen („productio fidei“) wird als eine Handlung des Heiligen Geistes bezeichnet, weil oder insofern der Heilige Geist als handelndes Subjekt wirkt; das Erkennen der 21
AFSt/H, H 18, 536–538. AFSt/H, H 18, 536 f. 23 AFSt/H, H 18, 537: „quâ agnitis ex lege peccatis metuit iram dei, et dolens de admissis fide in Christum se rursum erigit, cum proposito vitam suam per dei gratiam in posterum emendandi“. 24 AFSt/H, H 18, 560 (§ 36). 25 AFSt/H, H 18, 537. 22
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Sünden, das Fürchten des Zornes Gottes und das Glauben an Christus seien aber Handlungen des Menschen, nicht des Heiligen Geistes. Die Anerkenntnis, dass diese Taten auch subjektive Taten („actiones immanentes“)26 des Menschen sind, bedeute (mit Phil 2,13) nicht, dass diese menschlichen Handlungen notwendig aus des Menschen eigenen natürlichen Kräften27 hervorgingen, so wenig die durch den Geist bewirkten Tätigkeiten wie „das Gute wollen“ allein Taten Gottes sind. Damit gibt Musaeus zu erkennen, dass es sich bei seiner doppelten Betrachtungsweise nicht um die traditionelle Frage nach dem freien Willen28 handelt, sondern um die doppelte, theologische und psychologische, Perspektive ein und desselben Vorganges. 2.4 Musaeus identifiziert im folgenden (§ 5) die transitive Bekehrung (conversio) mit der Wiedergeburt des Erwachsenen („regeneratio adultoris“) im engen oder genauen („strictè“) Sinn, nämlich in der Abgrenzung von der Rechtfertigung (iustificatio) und der Erneuerung (renovatio) als den auf die Wiedergeburt folgenden Handlungen des Heiligen Geistes. Die intransitive Bedeutung sei identisch mit der zum Glauben führenden Buße (poenitentia). Das hängt offenbar damit zusammen, dass die Buße als Sündenerkenntnis, Reue und Wunsch um Erlösung der psychologisch prozesshafte Teil der Bekehrung ist. 2.5 Die Bekehrung geschehe nicht im oder am ganzen Menschen, sondern nur in seinem vornehmeren Teil, nämlich in der Seele (anima); genauer in deren beiden hervorragenden Vermögen, nämlich im Verstand (intellectus) und im Willen (voluntas) (§ 9).29 Der Verlauf der Diskussion anderer Lehrmeinungen zeigt, dass Musaeus zum einen die Bekehrung der Seele im engen Sinn als Voraussetzung von Rechtfertigung und Erneuerung sieht,30 zum anderen in einer an Descartes erinnernden Weise einem Intellektualismus das Wort redet, indem das Heil des Menschen vornehmlich eine Veränderung seines Verstandes und Willens bedeutet.31 2.6 Ohne hier die Argumentation von Musaeus zu referieren und im Einzelnen zu verfolgen, seien einige zentrale Begrifflichkeiten und theologische 26
Vgl. AFSt/H, H 18, 567. AFSt/H, H 18, 537 f.: „ex suis vi= | ribus profectam“; „per naturales hominis vires producta“. 28 Vgl. hierzu AFSt/H, H 18, 550–554 (§§ 22–27). 29 AFSt/H, H 18, 539. 30 Vgl. AFSt/H, H 18, 543 f., 545 f. (§ 13–14) die Unterscheidung der Bekehrung „strictè“ als geistliche Veränderung („mutatio spiritualis“) von der weiten Auffassung der Wiedergeburt, die die Rechtfertigung („ex iniusto fit iustus“) und die Erneuerung („ex carnali fit spiritualis, ex veteri novus homo“ [545]) einschließe. 31 AFSt/H, H 18, 540 f. 27
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Entscheidungen genannt, die mir für das Verständnis von Franckes Bekehrung wichtig erscheinen. 2.6.1 Musaeus unterscheidet (§ 12) im Blick auf die Ausgangssituation des zu bekehrenden Menschen (terminus à quo) die natürliche Unfähigkeit zur geistlichen Erneuerung und zum rettenden Glauben32 von der natürlichen oder tatsächlichen Geneigtheit zum Bösen33 oder der Herrschaft der Sünde im Willen, die den Willen zum Gehorsam gegenüber den Begierden der Sünde bringt.34 Demgegenüber bringe das geistliche Leben als Ziel der Bekehrung neben der Rechtfertigung (iustificatio) als Sündenvergebung auch die Erneuerung, durch welche die Herrschaft der Sünde aufgehoben werde oder der alte Mensch ausund der neue Mensch angezogen werde.35 Auffällig ist hier das Verständnis des Glaubens als eines teils theoretischen, teils praktischen Habitus. 2.6.2 Der in der Bekehrung geschenkte Glaube wird als Erneuerung der natürlichen Relation von Seele und Leib verstanden, wonach die im actus primus (Potenz) mit dem Körper verbundene Seele im actus secundus (Wirklichkeit) die Handlungen im Körper ausübe; entsprechend sei der rettende Glaube im wiedergeborenen Menschen als actus primus das Prinzip aller geistlichen Handlungen und wirke sich im actus secundus auf das geistliche Leben aus als der Glaube, der durch die Liebe tätig sei und sich in Werken der Frömmigkeit übe.36 Glaube wird hier mithin reduziert auf die Möglichkeit oder die Potenz des frommen Lebens. 2.6.3 Musaeus kann in Anschluss an 1Joh 5,1 – der Parallelstelle zu der im Lebenslauf genannten Stelle Joh 20,3137 – als Ausgangs- und Zielpunkt der Bekehrung schlicht den Unglauben bzw. Glauben verstehen, dass Jesus der Christus sei.38 Entsprechend geht es (§ 15) bei dem hier behandelten Begriff der Bekehrung um die Frage, wie aus dem Ungläubigen der Gläubige werde oder (§ 16) wie Intellekt und Wille der Seele zum Glauben kommen oder befreit werden aus ihrer Unfähigkeit, jene geistlichen Güter zu erkennen und 32
AFSt/H, H 18, 541 f.: „et nominatim in carentia virium credendi, h. e. fidei salvificae“
(542). 33
AFSt/H, H 18, 542: „positivam pronitatem ad malum“. AFSt/H, H 18, 542. 35 AFSt/H, H 18, 542. – In § 10 benennt Musaeus als terminus à quo der Bekehrung nach Kol 2, 13 den Tod (in) der Sünde („mortem peccati“) und in § 11 mit der Konkordienformel (FC 2: De libero arbitrio) den terminus ad quem das geistliche Leben (vita spiritualia) oder die Auferstehung vom geistlichen Tod (AFSt/H, H 18, 541). 36 AFSt/H, H 18, 543:„in pietatis operibus sese exercet“. 37 Lebensläufe [s. Anm. 8], 26, Z. 3 f. 38 AFSt/H, H 18, 544: „Omnis, qui credit, Jesum esse Christum, est ex deo natus: ubi expresse asseritur, quod positâ fide in Christum, tanquam regenerationis termino ad quem, etiam, reliquis omnibus praecisis ponatur regeneratio. Fidei autem opponitur incredulitas sive etiam ἀδυναμία ad credendum, quae perinde regenerationis terminus à quo“. 34
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heilsam zu begehren.39 Die (dauerhafte) Veränderung des sinnlichen Begehrens (appetitum sensitivum) geschieht dann erst (nach § 17) im Akt der Erneuerung.40 2.6.4 Anders als Luther41 versteht Musaeus den in der Bekehrung beteiligten Willen (voluntas) als formale Freiheit, sich zu entscheiden, oder als indifferentia gegenüber den Objekten des Wollens (§ 25; vgl. § 28).42 In diesem Sinne müsse der Wille als Entscheidungsvermögen bei der Bekehrung vorausgesetzt werden (§ 27), auch wenn er in spiritualibus (§ 29) nicht frei oder aktiv beteiligt sei.43 2.6.5 Nach Musaeus44 bekehrt Gott45 den Menschen entweder über das gepredigte und gehörte oder über das gelesene Wort auf übernatürliche Weise („supernaturaliter“46), indem er zuerst im Verstand die Erkenntnis der Sünden durch das Gesetz und im Willen deren Missbilligung bewirke mitsamt einem ernsthaften Schmerz über die begangenen Sünden. Das sei die Vorbereitung oder Disposition für die Bekehrung. Wenn darauf die Verheißungen von der Gnade Gottes etc. folgten und dem zerknirschten Menschen durch das Evangelium vorgelegt würden,47 wirke Gott wiederum auf übernatürliche Weise mit, indem er dem Verstand eine heilige Erkenntnis einhauche. 2.6.6 Interessant ist vor allem Musaeus’ Beschreibung der Vorgänge im Willen bei der Bekehrung. Das betrifft zunächst den Beginn der eigentlichen Bekehrung zum Glauben, der noch einem Kampf gleiche. Musaeus betont dabei – wie später die hallisch-pietistische Rechtfertigungslehre48 – im Willen das Moment des geistlichen Verlangens: Während der Mensch nämlich noch überlege, ob die besagten Verheißungen der Gnade überhaupt möglich und 39
AFSt/H, H 18, 547: „ἀδυναμία illa ad agnoscenda et salutariter desideranda bona spiritua-
lia“. 40
AFSt/H, H 18, 547. Vgl. AFSt/H, H 18, 552 f. (§ 26), wo Musaeus seine Position verteidigt gegen den möglichen Einwand von „nonnemine“, dass der Wille des gefallenen Menschen (auch nach der Bekehrung) immer zum Bösen neige und nur durch die Gnade des Heiligen Geistes Gutes tun könne. Diese faktische Neigung hebt aber nach Musaeus die grundsätzliche, auch im Urstand vorausgesetzte Indifferenz des Willens als Fähigkeit („facultas“) nicht auf. Bekanntlich polemisiert Luther in seiner Auseinandersetzung mit Erasmus (De servo arbitrio) gegen diese Vorstellung einer indifferenten Kraft des Willens, die faktisch ohne die Gnade Gottes nur das Böse tun könne. 42 AFSt/H, H 18, 552. 43 AFSt/H, H 18, 553 f.; vgl. 554–557 (§ 30–34). 44 AFSt/H, H 18, 558 (§ 36). 45 S. zu den Wirkursachen der Bekehrung insgesamt AFSt/H, H 18, 547–550 (§ 18–20) mit einer strikten Satisfaktionslehre (548–550). 46 AFSt/H, H 18, 558. 47 AFSt/H, H 18, 559. 48 Vgl. Markus Matthias: Rechtfertigung und Routine. Zum Verständnis der Rechtfertigungslehre im lutherischen Pietismus. In: Reformation und Generalreformation – Luther und der Pietismus. Hg. v. Christian Soboth u. Thomas Müller-Bahlke. Halle/Saale 2012, 1–19. 41
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kein Trug seien, schenke Gott dem Willen des Menschen den heiligen Wunsch nach diesen Verheißungen, insbesondere nach der in Christus zu erlangenden Vergebung der Sünden, obwohl die Zweifel und das Misstrauen (diffidentia) sehr schwer seien, die aus dem Kampf des Fleisches gegen den Geist entstünden und dem Wirken Gottes widerstünden. Das liege daran, dass der Wille weiterhin durch irdische Dinge zugeschüttet sei. So könne der Verstand den Verheißungen der Gnade nicht ganz zustimmen, noch der Wille mit vollem Vertrauen die Vergebung der Sünden suchen und begehren. Diese Situation, in der Gott allein wirke, sei der Anfang der Bekehrung, der selbst noch träge („languidum“) sei, weil Gott allein wirke, mit dem Wort des Gesetzes und des Evangeliums als Mittel. Dazu komme dann das innere Wirken des Heiligen Geistes: Danach lässt die Gnade des im Wort wirksamen Heiligen Geistes nicht ab, sondern insistiert fernerhin und bestimmt den Willen oft durch Bewegen, Anklopfen, Beugen allmählich zu den geistlichen Dingen, dass diese nicht allein bereitwilliger in dem Willen aufgenommen werden, sondern auch der Verstand mehr und mehr dazu neigt, den Verheißungen der Gnade die zu erweisende Zustimmung zu geben; bis endlich im Verstand eine volle und unveränderliche Zustimmung, im Willen aber ein sicheres Vertrauen folgen.49
Die in der Auseinandersetzung mit der reformierten Theologie akut werdende Frage nach der Möglichkeit, der Gnade zu widerstehen, führt Musaeus zu folgender Überlegung, die den Primat der Willensentscheidung vor der Glaubenseinsicht bekräftigt: Ich glaube nämlich, dass jede Zustimmung in Glaubenssachen unter der Autorität des Willens stehe und dass alle Glaubensakte, die vom Verstand herkommen, Akte sind, die dem Verstand vom Willen aufgedrungen werden. In Bezug auf die Wahrnehmung oder selbst das Verständnis eines Gegenstandes, ist der Verstand eine unwillkürliche Fähigkeit; vorausgesetzt nämlich, dass jene Fähigkeit [des Verstandes] aktiv ist und alle zur Aktion notwendigen Vorbedingungen gegeben sind, muss [der Verstand] erkennen; was aber die Zustimmung [über den Wahrheitsgehalt] betrifft, so verhält sich die Sache unterschiedlich: denn der Verstand stimmt dem Gegenstand [seiner Wahrheit] nicht unwillkürlich zu, wenn der Gegenstand des Erkennens nicht evident ist; alle Glaubensgeheimnisse sind nicht-evidente Erkenntnisgegenstände. Also stimmt der Verstand göttlichen Dingen nicht unwillkürlich zu. Vielmehr ist der Akt der Zustimmung, wenn der Verstand den göttlichen Geheimnissen seine Zustimmung gibt, selbst ein [dem Verstand] vom Willen aufgedrungener Akt.50 49 AFSt/H, H 18, 559: „Postea gratia Sp. S. per verbum operantis non cessat, sed adhuc instat et voluntatem saepius movendo, pulsando, flectendo paulatim determinat ad spiritualia, ut non solum ipsa promtius in ea feratur, sed etiam intellectum magis magisque ad assensum promissionibus gratiae praebendum inclinet; donec tandem in mente plenus et immotus assensus; in voluntate autem firma fiducia sequitur.“ 50 AFSt/H, H 18, 572 f.: „Existimo enim omnem Assensum in rebus fidei esse sub imperio voluntatis, et omnes actus fidei ab intellectu provenientes esse actus imperatos à voluntate. Quan-
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Die Bekehrung kann also nur gelingen, wenn der Wille selbst dazu motiviert wird und in ihm ein Verlangen nach den geistlichen Gütern entsteht. 2.6.7 Auf die Frage nach der Motivation des Willens kann Musaeus nur mit der Irrationalität oder übernatürlichen Entstehung des Glaubens antworten: Die ganze Frage läuft endlich darauf hinaus; nämlich auf die Frage: welches sind jene Kräfte, durch welche der Wille sich selbst zu den geistlichen Gütern bestimmt? Und es muss geantwortet werden, dass jene Kräfte hauptsächlich die des Heiligen Geistes seien. Der Grund dafür aber, dass sowohl der Wille als der Verstand eine Ursache („causa“) dieser Handlungen genannt werden, ist, dass jene Handlungen [dem Menschen] immanente Handlungen nach Art der Lebensvollzüge sind. [. . .] Aber woher haben Verstand und Wille die Kräfte, jene Handlungen zu bewirken?51
Am Rande hat ein Benutzer der Handschrift notiert: „Die Kardinalfrage ist: Welches sind jene Kräfte, durch welche der Wille sich auf die geistlichen (göttlichen) Dinge richtet?“52 Eine Antwort gibt Musaeus auf diese Frage nicht. 2.6.8 Vielmehr geht Musaeus direkt über zu der Frage, ob die Bekehrung mit der reformierten Theologie in einem Augenblick oder prozesshaft vor sich gehe. Seine Argumentation läuft darauf hinaus, dass die Bekehrung im Blick auf das Aufkommen des Wunsches nach den geistlichen Gütern (sancta cogitatio und pium desiderium) und die Entstehung des Glaubens als Grund der Rechtfertigung ein anhaltender, sich sukzessiv entwickelnder Prozess ist.53 tum quidem ad perceptionem | objecti seu ipsam intellectionem, Intellectus est facultas necessaria; posita enim illa facultate in actione, et positis omnibus ad agendum requisitis, non potest non intelligere: quantum autem ad Assensum, hic dispar est ratio; nam non necessitatur intellectus ad assensum, nisi objectum intellectionis sit evidens; omnia autem fidei mysteria sunt objecta intellectus inevidentia. Ergo ad assensum intellectus in divinis non necessitatur, sed potius, quando ipse praebet assensum mysteriis divinis, est ipsi huiusmodi actus à voluntate imperatus.“ 51 AFSt/H, H 18, 574 f.: „Quaestio a[utem] tota huc tandem redit; nempe quaeritur: quaenam sint illae vires, per quas voluntas sese determinet ad spiritualia? Et non potest non responderi, illas vires in solidum esse à Sp. S. Quod autem et voluntas et intellectus vocatur causa horum actuum, ratio esse, quia sunt actus immanentes et ex genere vitalium. [. . .] sed: unde habeant intellectus | et voluntas vires actus illos efficiendi?“ 52 AFSt/H, H 18, 574. 53 AFSt/H, H 18, 567 f.: „III.o Illud quoque hoc attendendum, utrum conversio fiat successivè, an vero in instanti?“ Dabei spielt eine entscheidende Rolle, ob mit der Bekehrung auch zugleich der Status des Gerechtfertigtseins gegeben sei, der nicht zugleich mit dem Status des Sünderseins bestehen könne. Musaeus plädiert (575 f.) für das Verständnis der Bekehrung als eines Prozesses, weil die anfänglichen Bewegungen der Bekehrung, nämlich die „heilige Überlegung“ und der „fromme Wunsch“ noch unvollständig seien und der Heilige Geist immer neue Bewegungen in der menschlichen Seele bewirke, durch den die Bekehrung erst zu ihrem Ziel komme. Die reformierte Auffassung, wonach der Mensch in einem Augenblick aus dem Stand des Zorns in den Stand der Gnade getragen werde, beruhe eigentlich auf einer Verwechslung von Bekehrung und Rechtfertigung. Erst werde der Glaube dem Menschen in der Bekehrung zuteil, durch den er dann gerechtfertigt werde. So kommt Musaeus wenig später zu der Unterscheidung: „Auch wenn
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3. Der Prozess von Franckes Bekehrung Vergleichen wir Musaeus’ Aufriss der Bekehrung mit Franckes Bekehrungsbericht, so sind folgende Parallelen zu konstatieren: 3.1 Franckes Bekehrung ist die Bekehrung eines Erwachsenen (2.2; 2.3). Ausgangspunkt ist nicht ein ‚ruchloses‘ Leben, sondern die Unfähigkeit, an Gott zu glauben oder den Verheißungen der Bibel zu vertrauen. Die Spannung besteht zwischen Nicht-glauben-können und Glauben-wollen (2.6.1).54 Der Prozess (2.6.6)55 der Bekehrung wird dadurch eingeleitet, dass Francke – durch das Einwirken der göttlichen Gnade – seine Sünde erkennt (2.6.5).56 In seinem Lebenslauf erkennt Francke seinen Unglauben (2.6.1; 2.6.8)57 als die wir einräumen, dass die [geistliche] Bekehrung mit der Rechtfertigung verbunden ist, weil dort, wo der Glaube ist, auch die Vergebung der Sünden und also die Rechtfertigung sind, so dass Bekehrung und Rechtfertigung der Zeit nach | zugleich sind. Trotzdem werden sie nach der Ordnung der Natur unterschieden: Wenn daher jene [Reformierten], die dieses Argument verwenden, behaupten, dass der Mensch [nach dieser Theorie] sofort durch einen unvollständigen Akt des Glaubens gerechtfertigt würde, dann sagen wir, dass der Mensch [in der Bekehrung] auch [schon] unter der Gnade sei: Wenn sie aber behaupten, dass der Mensch endlich durch einen vollständigen Akt des Glaubens gerechtfertigt werde, dann sagen wir, dass der Mensch in dem ersten Teil der Zeit, in der er [noch] einen unvollständigen Akt des Glaubens hat, [auch] noch unter dem Zorn ist. („Quod denique III.am attinet quaestionem; an nimirum conversio fiat in instanti, an vero successive? ostensum esse in praecedentibus quod conversio graduatim in homine peragatur. Primo nam motus excitantur incompleti, qui sunt sancta cogitatio et pium desiderium: postea autem subinde alios atque alios novos motus Sp. S. accendit, quibus perficitur conversio: ex quibus patet; conversionem omnino fieri successivè. [. . .] Confunditur nam justificatio cum conversione. Per justificationem demum homo transfertur de statu irae in statum gratiae: In conversione autem confertur homini id, per quid justificatur, nempe fides in Christum. Iam autem agimus de illa actione, quâ producitur fides tanquam causa, per quam homo justificatur; et quaeritur jam: an illa fides producetur in instanti, an vero successivè? Ad quam quaestionem respondimus, affirmando posterius. Si nempe concedamus, quod conversio sp. conjuncta sit cum justificatione: ubi nam vera fides, ibi est remissio peccatorum, et per consequens justificatio, ut ita tempore conversio et justifi| catio simul sint. Ordine naturae tamen distinguuntur: unde si statuunt illi, qui utuntur hoc argumento hominem statim justificari per actum fidei incompletum, tunc dicimus, quod homo etiam sit sub gratia: Sin statuunt, quod justificatur homo per actum fidei completum demum, tunc dicimus, hominem in priori temporis fractione, quo habuit actum fidei incompletum, adhuc fuisse sub ira. Et haec de Hisce!“). 54 Lebensläufe [s. Anm. 8], 26, Z. 35–27, Z. 2: „Es war nicht etwa bey mir eine solche ruchlosigkeit, daß ich aus weltlich gesinnetem | hertzen die warheit Gottes in den wind geschlagen hätte. Wie gerne hätte ich alles geglaubet, aber ich konte nicht.“ 55 Lebensläufe [s. Anm. 8], 22, Z. 1–36 u. 27, Z. 20: „Und solches trieb ich offt und vielfältig.“ 56 Lebensläufe [s. Anm. 8], 27, Z. 4–8: „Inzwischen ließ sich Gott meinem Gewissen nicht unbezeuget. Denn bey solcher würcklichen verleugnung Gottes, welche in meinem Hertzen war, kam mir dennoch mein gantzes bißheriges Leben vor augen, als einem der auff einem hohen Turm die gantze Stadt übersiehet. Erstlich konte ich gleichsam die Sünden zehlen“. Vgl. 22, Z. 2 f: „Denn Gott unterliesse nicht mein Gewissen offtmahls gar kräfftig zu rühren, und mich durch sein wort zur busse zu ruffen.“ 57 Lebensläufe [s. Anm. 8], 27, Z. 8–12: „aber bald öffnete sich auch die haupt=qvelle, nemlich
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Wurzel seiner Sünden oder Weltzugewandtheit (2.6.6).58 Es folgt (im Willen) die Missbilligung dieses bisherigen Lebens (2.6.5)59 und der Wunsch um Rettung aus dieser Situation (2.6.6).60 Die Erweckung des Glaubens geschieht als Glauben an die Gnade Gottes (Gnade Gottes in Christo; Vaterliebe) und geschieht zuerst im Willen, der seinerseits nun die Vernunft dominiert (2.6.6).61 Mit dem Glauben ist auch eine klare Erkenntnis zwischen altem und neuem Menschen gegeben (2.6.1).62 Dieser Glaube wird nun zur ‚Seele‘ des Wiedergeborenen (2.6.2) und führt zu einem beständigen geistlichen Leben (2.6.3).63 3.2 Auch Franckes Problem, inwiefern man denn voraussetzen dürfe, dass die Heilige Schrift Gottes Wort sei, behandelt Musaeus in seinem Kolleg. Dabei betont Musaeus folgenden Unterschied: Eines ist es zu glauben, dass die Heilige Schrift Gottes Wort sei (formal), ein anderes ist es zu glauben, dass dasjenige wahr sei, was in jenem (für göttlich erachteten) Buch enthalten sei (inhaltlich). Jenes wäre nur historisch aus dem Zeugnis der Kirche (Tradition) der Unglaube, oder bloße wahn=Glaube, damit ich mich selbst so lange betrogen. Und da ward mir mein gantzes Leben, und alles was ich gethan, geredt, und gedacht hatte als sünde, und ein großer greuel für Gott fürgestellet“. 58 Lebensläufe [s. Anm. 8], 23, Z. 31–24, Z. 2: „Ich fand aber dabey meinen zustand so verstrickt, und war mit so mancherley hindernissen und abhaltungen von der welt umgeben, daß es mir gienge als einem der in einem tieffen Schlamm stecket, und etwa einen arm herfürstrecket, aber die krafft nicht findet, sich gar loß zu reissen oder wie einem der mit banden und Fesseln an händen und Füssen und am gantzen Leibe gebunden ist, und einen Strick zerreis- | set, aber sich hertzlich sehnet, daß er von den andern auch möchte befreyet werden.“ 59 Lebensläufe [s. Anm. 8], 27, Z. 12–18: „Das hertz war hart beängstiget, daß es den zum Feinde hatte, welchen es doch verleugnete, und nicht glauben kunte. Dieser Jammer pressete mir viel thränen aus den augen, dazu ich sonst nicht geneiget bin. Bald saß ich an einem Ort und weynete, bald ging ich in großem Unmuth hin und wieder, bald fiel ich nieder auff meine Knie, und ruffte den an, den ich doch nicht kante.“ 60 Lebensläufe [s. Anm. 8], 28, Z. 26–29, Z. 7: „[Ich] hielte an mit fleissigem Gebeth auch in der grösten verleugnung meines eigenen hertzens. [. . .] Denn ich fühlete es gar zu hart, was es sey, keinen Gott haben, an den sich das hertz halten könne; Seine Sünden beweynen, und nicht wissen warum, oder wer der sey, der solche thränen auspresset, und ob warhafftig ein Gott | sey, den man damit erzürnet habe; sein Elend und großen Jammer täglich sehen, und doch keinen heyland und keine zuflucht wissen oder kennen. In solcher großen angst [. . .] rieffe [ich] an den Gott [. . .] um Rettung aus solchem Elenden zustande“. Vgl. 27, Z. 18 f.: „Doch sagte ich, wenn ein Gott warhafftig wäre, so möchte er sich mein erbarmen.“ 61 Lebensläufe [s. Anm. 8], 30. Z. 9–11: „Meine vernunfft stand nun gleichsam von ferne, der Sieg war ihr aus den händen gerissen, denn die krafft Gottes hatte sie dem Glauben unterthänig gemachet.“ Vgl. 31, Z. 1–3: „Gott hatte nun mein hertz mit Liebe gegen ihn erfüllet, die weil er sich mir als das allerhöchste und allein unschätzbare Guth zu erkennen gegeben.“ 62 Lebensläufe [s. Anm. 8], 29, Z. 35–30, Z. 1: „Es durffte mir niemand sagen was zwischen dem natürlichen Leben eines natürlichen menschen, und zwischen dem Leben, das aus Gott ist, für ein unterscheid sey.“ 63 Lebensläufe [s. Anm. 8], 31, Z. 15–19: „Denn von der zeit her hat es mit meinem Christenthum einen bestand gehabt, und von da an ist mirs leicht worden zu verleugnen das ungöttliche wesen, und die weltliche lüste, und züchtig, gerecht und gottseelig zu leben in dieser welt, von da an habe mich beständig zu Gott gehalten“.
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zu beweisen, dieses ist nur gewiss auf Grund des inneren Zeugnisses des Heiligen Geistes. Es ist klar, dass der Traditionsbeweis eigentlich nicht trägt, so dass Musaeus letztlich nur auf das innere Zeugnis des Heiligen Geistes verweisen kann, ohne jedoch dieses in seiner Eigenart näher zu beschreiben.64 Außerdem unterscheidet Musaeus in seiner Vorlesung zwischen der äußeren (philologischen) Einsichtigkeit der Schrift und der Evidenz ihres Wahrheitsgehaltes. Die in der Heiligen Schrift offenbarten Heilstatsachen seien zwar sinnvoll zu rekonstruieren, hinsichtlich ihres Wahrheitsgehaltes seien sie aber eigentlich „obskur“. Und Musaeus schließt auch dieses wichtige Fragstück, das Francke in Lüneburg so bedrängte, ohne Antwort ab: „Und das [die Darstellung des Problems] genügt an dieser Stelle.“65 3.3 August Hermann Francke hat in Lüneburg das Lehrbuch von Musaeus wieder zur Seite gelegt. Er hat in ihm seine Frage wiederfinden können, wie man denn zum Glauben, der diesen Namen wirklich verdient, kommen könne bzw. wie die Bekehrung eines Erwachsenen, dem die Gewissheit des Glaubens fehle, theologisch und psychologisch geschehe. Der Rechenschaftsbericht über seine seelischen Kämpfe vor der eigentlichen Bekehrung zum Glauben zeigt, wie sehr er sich von den theologischen Vorgaben des Musaeus hat leiten lassen. Für den letzten Akt seiner Bekehrung konnte er bei Musaeus keine Lösung finden. Ihm blieb nichts weiter übrig, als auf einen übernatürlichen Eingriff Gottes zu warten, der seinen Willen zutiefst rührte und überwältigte und sich als Tat des in der Schrift sprechenden Gottes erwies. Eine solche tiefgehende und überwältigende Rührung musste den Vorsatz mit sich führen, das eigene Leben zu verändern. Oder umgekehrt: Allein eine Rührung, die zu einer grundlegenden Lebensänderung führte, konnte und musste auf Gott als Urheber zurückgeführt werden. Und in der Tat widerfährt Francke bei seiner Bekehrung eben dies: Ich stund gar anders gesinnet wieder auff, als ich mich niedergeleget hatte. Denn mit großem kummer und zweiffel hatte ich meine knie gebogen, aber mit unaußsprechlicher Freude und großer Gewißheit stand ich wieder auff. Da ich mich niederlegte glaubte ich nicht, daß ein Gott wäre, da ich auffstand hätte ichs wol ohne Furcht und zweiffel mit vergiessung meines bluts66 bekräfftiget.67
Der Nachdruck, den der Pietismus auf ein frommes Leben, auf Wiedergeburt und Bekehrung, ja auf Zeugenschaft (Martyrium) als Voraussetzung wahrer Gläubigkeit und Theologie gelegt hat, ist darin begründet. Die Entschlossenheit der Ausrichtung des eigenen Wollens auf ein gottgefälliges Leben wird als eine Kraft erfahren, die nur – über die biblische Verheißung – 64 65 66 67
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AFSt/H, H 18, 29. AFSt/H, H 18, 34 f. S. u., Anm. 82. Lebensläufe [s. Anm. 8], 29, Z. 22–27.
von Gott kommen kann. Damit wird zugleich die Heilige Schrift als Gottes Wort erfahren oder der Verstand dazu gezwungen, dem Wort Gottes als solchem zuzustimmen. Wenn man Franckes Bekehrung eine Schlüsselstellung für die Entwicklung des hallischen Pietismus und der hallischen Theologie zuschreiben kann, dann bedeutet dies, dass beide in ihren Grundelementen aus Musaeus’ Theologie zu verstehen sind. Musaeus’ Theologie ist aber bereits Teil einer Spätorthodoxie, der ihre selbstverständlichen Prinzipien abhandengekommen sind.68 So gesehen ist der (hallische) Pietismus nicht einfach eine religiöse Erneuerungsbewegung, die die Einseitigkeit theologisch-orthodoxer Lehre durch neue Formen und Ausdrucksgestalten der Frömmigkeit korrigieren will, sondern ist eine in der frühaufklärerischen Welt des Musaeus beheimatete Theologie der Wiedergeburt, die als solche auch eine Antwort auf die theologische Problematik seiner Zeit gibt.
4. Die historischen Umstände der Bekehrung Francke hatte am 22. Oktober 1687 Leipzig verlassen und war am 26. Oktober in Lüneburg angekommen,69 wo er sich bei dem in seiner Zeit bekannten und geschätzten Bibelausleger Kaspar Hermann Sandhagen (1639– 1697)70 in die Bibelexegese vertiefen sollte. Francke wohnte in Lüneburg bei dem Bruder des Superintendenten, Johann Gabriel Sandhagen († Dezember 1692), Prediger (Archidiakonus) an der Johanneskirche. Das Vorhaben musste aber schon im Februar des folgenden Jahres abgebrochen werden, da der Lüneburger Superintendent eine neue Stelle antreten wollte bzw. unentschlossen zwischen der Berufung nach Berlin oder Stargard und dem Verbleib in Lüneburg hin und her schwankte.71 Deshalb verließ Francke schon am 27. Februar 1688, nach genau vier Monaten, Lüneburg wieder und ging für weitere Studien nach Hamburg. Das Problem, mit dem Francke vor seiner Bekehrung zu kämpfen hatte, lag nach seinen eigenen Worten darin, dass er selbst nicht letztlich von der Wahrheit des Christentums überzeugt war. Vielleicht hat Philipp Jakob Spener (1635–1705) zuerst Francke zum Nachdenken über den Grund seines Glaubens angeregt. Der damalige Dresdner Oberhofprediger hatte im April 1687 an einer Sitzung des unter anderen von Francke betriebenen, philolo68
Vgl. Matthias, Pietism [s. Anm. 18]. A. H. Francke an A. H. Gloxin. Lüneburg, 27.10.1687 (Archiv der Hansestadt Lübeck, Schabbelstiftung Nr. 26). 70 Zu Kaspar Hermann Sandhagen s. Markus Matthias: Johann Wilhelm und Johanna Eleonora Petersen. Eine Biographie bis zur Amtsenthebung Petersens im Jahre 1692. Göttingen 1998, 193– 196. 71 Matthias, Petersen [s. Anm. 70], 204–217. 69
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gisch orientierten Collegium Philobiblicum teilgenommen und anschließend in einer Predigt am 24. April 1687 (Sonntag Kantate) über Joh 16,5–15 eindringlich vor einem rein historischen Glauben gewarnt, der ohne Folgen bleibe.72 Spener forderte die Lebensänderung (Buße), die erst dem wahren Glauben auch seine Gewissheit gebe. Denn – so argumentierte er theologisch – der Heilige Geist wirke über Gottes Wort in der Bibel die Überzeugung der Wahrheit (nur) in einer zur Umkehr (Buße) bereiten Seele.73 Anders gesagt: Nur ein entschiedener Christ erfahre auch die Wahrheit des in der Bibel niedergelegten christlichen Glaubens. Das ist deutlich ein Zirkelschluss, der auch die Wahrheit des Inhaltes des Glaubens subjektivistisch begründet. Das Problem wurde für Francke akut, als er 1687 erneut Stipendiat der Lübecker Schabbelstiftung wurde und nun nach dem Willen seines Onkels und Verwalters des Stipendiums, Anton Heinrich Gloxin (1645–1690), den Aufenthalt in Lüneburg eben dazu nutzen sollte, sich im Blick auf das anzustrebende höhere kirchliche Amt wieder mehr der theologischen Schriftauslegung zu widmen als der von Francke so geliebten und über die Maßen betriebenen historischen Philologie und Literaturgeschichte. Damit war klar, dass er bald in das öffentliche Pfarr- oder Lehramt eintreten und dann ex professo, also als Experte, den (wahren) Glauben an Gott vertreten und auslegen musste. Aber wie konnte er das, wenn er selbst nicht letztlich in der Weise von der Wahrheit des Glaubens überzeugt war, dass er entschlossen für ihn einzutreten bereit wäre? Zur Krise kam es nach Franckes berühmtem Bericht schließlich, als dem Pfarramtskandidaten bald nach seiner Ankunft das Halten einer Predigt in der Johanniskirche, der Lüneburger Hauptkirche, aufgetragen wurde. Die ihm gewährte („geraume“) Vorbereitungszeit stellte ihm seine verzweifelte Lage deutlich vor Augen. Wie konnte er auf der Kanzel vor die Leute treten, in Lüneburg und später im Pfarramt, ohne der Wahrheit der christlichen Lehre wirklich gewiss zu sein? Mit ziemlicher Sicherheit lässt sich als Tag der besagten Predigt Mittwoch, der 28. Dezember 1687, also der vierte Weihnachtstag (Festtag der unschuldigen Kinder), ausmachen. Denn Francke berichtet in seinen offenbar lückenlos überlieferten Briefen aus Lüneburg an seinen Onkel Anton Heinrich Gloxin als Verwalter des Schabbelstipendiums nur von einer einzigen in Lüneburg gehaltenen Predigt, und zwar am letzten Tag des Weihnachtsfestes („ultima feriarum natalum“).74 Da das Weihnachtsfest kalendarisch vier Tage dauerte (Weihnachten mit den drei begleitenden Festtagen Stephanustag, Johannestag, 72 Gedruckt in: Philipp Jakob Spener: Die Evangelische Glaubenslehre. Frankfurt/Main 1688, 562–590. 73 Der wahre, lebendige Glaube sei „ein liecht deß H. Geistes in einer bußfertigen seele / welche solcher Geist selbsten auß | GOttes wort drinnen wircket / und die warheit desselben bey ihm versiegelt.“ (Spener, Glaubenslehre [s. Anm. 72], 578 f.). 74 Lebensläufe [s. Anm. 8], 137 f.
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Fest der unschuldigen Kinder), fand diese Predigt also am 28. Dezember statt. Nach der Lüneburger Kirchenordnung von 1575 fand zwar am vierten Weihnachtstag kein Festgottesdienst statt, wohl aber der tägliche Frühgottesdienst, der in Lüneburg mittwochs an der St. Johanniskirche gehalten wurde – über einen in Absprache mit dem Superintendenten gewählten Bibeltext.75 Nach Franckes Lebenslauf war als Predigttext ein Vers aus dem Johannesevangelium vorgesehen (Joh 20,31: „Diese aber sind geschrieben, dass ihr glaubet, Jesus sei Christus, der Sohn Gottes, und dass ihr durch den Glauben das Leben habet in seinem Namen.“).76 Zu der besonderen Situation passt Franckes Hinweis an seinen Onkel, dass er die Predigt nicht ausgearbeitet vorlegen könne, da er zu wenig Zeit zur Vorbereitung (und offenbar auch nachträglichen Aufzeichnung) gehabt habe. Diese Angabe stimmt in der Tat gut mit der von Francke in seinem Lebenslauf beschriebenen Situation überein. Obwohl ihm die Predigt eine „geraume Zeit zuvor“ aufgetragen worden war, konnte Francke sich erst auf die Konzeption seiner Predigt konzentrieren, nachdem er am Sonntag zuvor seine Bekehrung erlebt hatte. Es wären ihm also nur zwei Tage Vorbereitungszeit geblieben. Der vorausgehende Sonntagabend, auf den Francke seine Bekehrung datiert, wäre dann der 25. Dezember 1687, also der 1. Weihnachtstag. In diesem Zusammenhang verdient es Beachtung, dass Francke eigentlich keine inhaltlich neue Erkenntnis (wie Luther), keine Vision oder Audition und kein besonderes Zeichen (wie Augustinus) als Modus der Bekehrung nennt, sondern schlicht die nun eingetretene Überzeugung, dass man Gott nicht nur Gott (Existenz Gottes), sondern auch seinen Vater (persönliche Providenz Gottes) nennen könne. Diese Überzeugung bricht sich Bahn in einem „Strom der Freuden“, der ihn „plötzlich“ überschüttet. Francke beschreibt also den 75
Die evangelischen Kirchenordnungen des 16. Jahrhunderts. Bd. 6.1.2 Niedersachsen: Die Welfischen Lande: Braunschweig-Lüneburgische Kirchenordnungen für das Fürstentum Lüneburg und für die Stadt Lüneburg. Bearb v. Anneliese Sprengler-Ruppenthal. Tübingen 1955, 650– 690, hier 660 u. 663. 76 Brecht [s. Anm. 9] hat auf Grund der Perikope, der Franckes Predigttext zuzuordnen wäre, gemeint, die zur Bekehrung anlassgebende Predigt und damit den voraufgehenden Sonntag der Bekehrung auf den 21. Dezember (Tag des Apostels Thomas) bzw. den 18. Dezember datieren zu können. Ob dies auch für Lüneburg am Ende des 17. Jahrhunderts zutraf, muss Brecht offen lassen. – Mit der hier vorgeschlagenen Chronologie lässt sich Franckes Angabe in seinen späten Lebensnachrichten, die Bekehrung habe vor Hermann von der Hardts Ankunft in Lüneburg stattgefunden, nicht in Einklang bringen (s. Markus Matthias: Nachwort. In: Lebensläufe [s. Anm. 8], 137). Das später äußerst gespannte Verhältnis August Hermann Franckes zu Hermann von der Hardt (vgl. den Brief Franckes an von der Hardt vom 11. 10. 1701: Vier Briefe August Hermann Francke’s zur zweiten Säcularfeier seines Geburtstages. Hg. v. G[ustav] Kramer. Halle/Saale 1863, 25–27) könnte immerhin der Grund dafür gewesen sein, dass Francke nach den Lebensnachrichten seine Bekehrung vor der gemeinsamen Studienzeit mit von der Hardt erlebt haben will; denn es ist gut denkbar, dass Francke seine Bekehrung missverstanden sah, wenn man als ihren terminus a quo die (spätere) religionskritische Position von der Hardts betrachtete; zum Problem der Datierung der Bekehrung vgl. de Boor, Erfahrung [s. Anm. 2], 132 f. Anm. 71.
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göttlichen Eingriff und seine Bekehrung als Rührung im Gefühl. Dass ein solches Gefühl einen jungen Mann in Franckes Situation überkommen kann, ist nicht unwahrscheinlich. Interessanterweise ist Francke die Tiefe oder (Über-) Macht dieses Gefühls Ausweis der Göttlichkeit seines Ursprungs. Umgekehrt betraf die Anfechtung genau den wunden Punkt seiner Bekehrungsgeschichte, den Rückschluss von dem überwältigenden Gefühl der Rührung auf dessen Ursprung in Gott: Meine vernunfft [. . .] gab [. . .] mir zuweilen in den Sinn, solte es auch wol natürlich seyn können, sollte man nicht auch von natur solche große Freude empfinden können; aber ich war gleich dagegen gantz und gar überzeuget, daß alle welt mit aller ihrer lust und herrligkeit solche Süssigkeit im menschlichen hertzen nicht erwecken könte, als diese war.77
Francke berichtet nicht, was in ihm diese Rührung ausgelöst habe, da er sie ja auf einen unmittelbaren Eingriff Gottes zurückführt. Äußerlich wäre es immerhin plausibel, dass ihm am Sonntagabend noch das Weihnachtsevangelium nachklang und mit einem Mal im Innersten rührte. Entsprechend ist Franckes Erweckung auch keine Bekehrung eines notorischen Sünders zu einem christlichen Lebenswandel, auch nicht das Ende eines Bußkampfes, sondern ein Erlebnis, das geeignet war, in ihm den Wunsch stark zu machen, die möglichen Zweifel an der Wirklichkeit oder Wirksamkeit Gottes und damit an der Wahrheit des Christentums zugunsten des Glaubens und eines gottgefälligen Lebens zu unterdrücken oder zu überwinden. Eine durch das Bekehrungserlebnis bewirkte Veränderung ist bei Francke zunächst nicht auszumachen; jedenfalls ist in den überlieferten Quellen nichts von dem über ihn sich ausgießenden „Strom der Freuden“ zu finden oder zu spüren, von dem er in seinem Bekehrungsbericht zu berichten weiß.78 Es fällt aber auf, dass Francke seit dem 28. August 1688 in seinen gut überlieferten und vertrauensvollen Briefen an Hermann von der Hardt (1660– 1746) mehrmals ankündigt, dass er „nach vorgenommener reiff= und ernstlicher Überlegung und inbrünstigem Gebet in dem Herrn entschlossen“ sei, sich von den Verpflichtungen der Schabbelstiftung befreien zu lassen.79 Was ist damit gemeint? Wie aus einem auf das Jahr 1688 zu datierenden80 Schriftstück Franckes aus den Unterlagen der Schabbelstiftung hervorgeht, hatte Francke Vorbehalte dagegen, dass er als Stipendiat der Stiftung den Doktortitel und ein leitendes 77
Lebensläufe [s. Anm. 8], 30. Z. 9–16. Lebensläufe [s. Anm. 8], 29, Z. 19. 79 Landesbibliothek Karlsruhe, Handschriften Karlsruhe 319 (Nr. 47); vgl. Ferdinand Lamey: Hermann von der Hardt in seinen Briefen und seinen Beziehungen zum Braunschweigischen Hofe, zu Spener, Francke und dem Pietismus. (Karlsruhe 1891). ND mit bibliographischen Nachträgen Wiesbaden 1974, 23. 80 Zur Datierung vgl. den Brief von August Hermann Francke an Anton Heinrich Gloxin vom 11.10.1688 (Archiv der Hansestadt Lübeck, Schabbelstiftung, Nr. 29). 78
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akademisches oder kirchliches Amt anstreben müsse. Das scheint ihm nun ein zu äußerliches Verständnis vom Christentum: Es scheint meinem Christentum und gutem Gewissen zuwiderzulaufen, mir den gradum Doctoris [Doktortitel] oder auch nur qualitatem Doctoris [Gelehrsamkeit eines Dr. theol.] als einen gewissen Scopum [Ziel], zu welchem ich mich Kraft gewisser legum [Gesetze, hier die Verpflichtungen des Stipendiums] verbunden, vorzusetzen, sondern befinde mich vielmehr in meinem Gewissen genötiget, ohne einiges Absehen und gewissen respectum einiger perfection oder characteris [ohne Absehen auf eine bestimmte Qualifikation oder Stand], treulich und fleißig mein studium theologicum zu prosequiren [mein Theologiestudium weiterzuverfolgen], und dann vergnügt zu sein, ob mich Gott auf der untersten oder obersten Stufe der Erkenntnis und äußerlichen Würde nach seinem heiligen und verborgenen Rat setzen wolle.81
Francke wollte sich nun nur von Gott leiten lassen und seine weiterführenden akademischen Studien aufgeben, sobald er in ein Pfarramt berufen würde. Dieses Sich-Ergeben in die göttliche Führung hat etwas von einem Experiment. Francke will ausprobieren, ob er eine solche Stärke und Kraft des Glaubens und der göttlichen Weisheit [habe], dass er nicht allein die göttliche Lehre selbst erkenne, sondern auch ob derselben [über sie] in allerhand Fällen und Widerwärtigkeiten halten [wachen] könne, solche gegen alle Widerwärtigen zu verteidigen und zu schützen, und auch wenn es not tut mit seinem eigenen Blut zu versiegeln.82
Francke will gleichsam die Wahrheit seines Glaubens testen. Inhaltlich kommt dieses Vorhaben der Suche nach einem entschlossenen Glauben gleich, den Spener gefordert hatte und den Musaeus als Ziel des Bekehrungsprozesses verstand: Man muss glauben wollen und dieses Wollen realisiert sich in der Entschlossenheit, ein gottgefälliges Leben zu führen. Die Analyse des Bekehrungsberichtes vor dem Hintergrund von Musaeus’ Bekehrungsverständnis bestätigt die Erinnerung von Gotthilf August Francke, die er in seinen Lectiones Paraeneticae wiedergibt: Ich erinnere mich hier abermahl aus den privat=Discursen, wie er [August Hermann Francke] Gott mehrmahls gepriesen, daß er ihn auf dieser Academie [in Erfurt] in seinen jungen Jahren über ein Collegium Theticum Manuscriptum Beati Joannis Musaei [eine dogmatische Vorlesung in handschriftlicher Form des seligen Johannes Musaeus] kommen laßen, da er also mit der Theologia Thetica dieses Mannes imbuirt [erfüllt], und nachgehends in derselben confirmirt worden, da er nach Kiel zu den HErrn Professorem Korthold gekommen, der ebenfals discipulus Musaei [ein Schüler des Musaeus] gewesen; Er hat aber darinn die göttliche Providentz gepriesen, daß er ihm da von Anfang Salubribus principiis inprimis de vera Theologia regenitorum 81
Adolf Sellschopp: August Hermann Francke und das Schabbelsche Stipendium. In: NKZ 24, 1913, 242–264 u. 265–277, hier 266 (abgedruckt in ders.: Neue Quellen zur Geschichte A. H. Franckes. Halle/Saale 1913, 105–129 u. 130–144, hier 131). 82 Sellschopp, August Hermann Francke [s. Anm. 81], 267.
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imbuiren [mit den heilsamen Prinzipen besonders über die wahre Theologie der Wiedergeborenen vertraut werden] laßen, da dieselbigen Principia schon damahls ihren Anfang genommen sich zu regen, de Theologia ista imaginaria et fictitia irregenitorum [Prinzipen dieser eingebildeten und fiktiven Theologie der Nicht-Wiedergeborenen]; Wovon aber B. Musaeus abhorriret [warnt], und das Gegentheil in seinen Schrifften, und sonderlich in der Theologia Thetica dargethan: Darinnen er auch von Doctor Kortholdten gestärcket worden sey. Er hat darinn den Nutzen vielmahls gerühmt, den er auch von dieser Thesi Dogmatica gehabt, da ihm nemlich immerdar dadurch neue Erweckungen gegeben worden, darnach zu trachten, daß er verus Theologus werden möchte und den Grund zugleich lege in einer wahren Veränderung des Gemüths, dadurch mancher ernstlicher Kampff in ihm angezündet, und erwecket worden.83
5. Die literarische Gestalt des Bekehrungsberichtes Die einmalige Situation des Jahres 1687, dass Francke eine Predigt zu halten hatte, wiederholte und verstetigte sich, nachdem er am 2. Juni 1690 in Erfurt das Amt eines Predigers (Diaconus, Hilfspfarrer, Pfarrvikar) angetreten hatte. Erst aus dieser Zeit, genauer wohl aus dem Zeitraum Oktober 1690 bis März 1691, stammt nun die von Francke schriftlich niedergelegte Erzählung seiner Erweckung in Lüneburg. Dieser neue, Erfurter Kontext war dann wohl auch bestimmend für die konkrete Gestaltung des Lüneburger Erlebnisses. Hier erst hat Francke die Erfahrungen in Worte gefasst, die er mit dem Aufenthalt in Lüneburg verband. Ein Verständnis von Franckes Bekehrungserlebnis erschließt sich daher aus der Spannung zwischen dem inneren Ringen um Bekehrung in Lüneburg nach Anleitung von Musaeus und der Form, die er diesem Ringen in Erfurt gab. Was die Form anbelangt, so orientiert sich Francke offenbar an Bekehrungsberichten, wie sie im puritanischen Bereich gängig waren. Das lässt sich daraus erklären, dass es im Erfurt der frühen Neunziger Jahre puritanisch gesinnte Personen gab, deren Erwartung Francke mit der Formgebung seines Bekehrungsberichtes offenbar entsprechen wollte. Nicht zuletzt ist dazu Joachim Justus Breithaupt (1658–1732) zu rechnen, Franckes Kieler Kommilitone, in Erfurt unmittelbarer Vorgesetzter und späterer Kollege und Vertrauter in Halle.84 Er hat nicht nur in den späten zwanziger Jahren des 18. Jahrhunderts dafür gekämpft, dass künftige Pfarrer in Preußen von ihrer Bekehrung ein Zeugnis ablegten, sondern war schon in Erfurt derjenige, der 83
G. A. Francke: Paränetische Vorlesungen, 21.8.1727 (AFSt/H, N 13, 531–582, hier 562–
564). 84
Vgl. den Lebens-Lauf von Johann Anastasius Freylinghausen. In: Wohlverdiengtes Ehren=Gedächtniß Deß Um die Kirche Christi treuverdienten Theologi, Des weyland Hoch=Ehrwürdigen, in GOtt Andächtigen und Hochgelahrten Herrn, HERRN Johann Anastasii Freylinghausens. Halle/Saale 1740, 26–46.
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Bekehrungen einzelner Personen forcierte und dabei vor allem auf das Erleben der gänzlichen Verlorenheit (descensus mysticus) pochte.85 Doch Franckes Bekehrung lässt sich nicht einfach in die Welt des Puritanismus oder die Bußtheologie Breithaupts einzeichnen. Während im Puritanismus der Bekehrungsbericht dazu diente, vor der Gemeinde Zeugnis von den Wirkungen Gottes im eigenen Leben abzulegen, die letztlich die Auserwähltheit des Bekehrten bezeugen sollte, so gebraucht Francke dieses Vorbild, um Zeugnis davon abzulegen, wie er durch Gottes Gnade zur Gewissheit des Christentums und damit zur Selbstgewissheit gekommen sei. Breithaupts moralisches Bußverständnis klingt zwar bei Francke an, aber Franckes Problem lag nicht in einem zu weltlichen Leben. Die puritanischen Bekehrungsberichte haben Francke aber Worte, Begriffe und Argumentationsmuster bereit gestellt, mit deren Hilfe er die Lüneburger Erfahrungen rückblickend wahrnehmen und ordnen und die Leerstelle in Musaeus’ Theologie füllen konnte.
85 Matthias, Bekehrung und Wiedergeburt [s. Anm. 8], 67–70; vgl. Matthias Paul: Johann Anastasius Freylinghausen als Theologe des hallischen Pietismus. Halle/Saale 2014, 40–61, bes. 59 u. 364–390.
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SIMON GROTE
Religion and Enlightenment Revisited: Lucas Geiger (1682–1750) and the Allure of Wolffian Philosophy in a Pietist Orphanage In 1723, Pietist theologians at the University of Halle engineered the dismissal and forceable expulsion of their colleague in the philosophy faculty, Christian Wolff (1679–1754). In doing so, they inadvertently produced what has long been regarded as one of the great set-pieces of eighteenth-century intellectual history: a colorful drama saturated with personal animosities, and an exemplary and seminal moment in the history of ideas. Intellectual historians dream of stories like this one. The human conflict at its center appears not only to reveal the deepest self-conscious intellectual commitments of its protagonists, but also to present the perfect opportunity for pronouncing upon the historical macrocosm by drawing attention to the microcosm. Pitting the most influential eighteenth-century German academic philosopher before Kant against the most institutionally powerful exponents of German Pietism, the story of Wolff’s expulsion has been described in the last hundred years as the outgrowth and unmistakeable indication of deep conflict between distinct intellectual currents of the early Enlightenment: between a yearning for intellectual freedom and a protectiveness of the clergy’s prerogative to defend orthodoxy; between quasi-Spinozistic determinism and a Christian commitment to the idea of human freedom; between approval and suspicion of the very enjoyment of life; between two university faculties, philosophy and theology, fighting to institute mutually exclusive programs of educational reform; and, most pervasively of all, between neo-Scholastic confidence in human beings’ rational cognitive faculties and Pietist anxiety about conversion.1 In other words, the story has long been presented as an emblem 1
Accounts like these, brutally schematized here for the sake of concision, can be found in, for example, Wilhelm Schrader: Geschichte der Friedrichs-Universität zu Halle. 2 Bde. Berlin 1894. Bd. 1, 168–81, 204–26; Ferdinand Josef Schneider: Das geistige Leben von Halle im Zeichen des Endkampfes zwischen Pietismus und Rationalismus. In: Sachsen und Anhalt 14, 1938, 137–66; Max Wundt: Die deutsche Schulphilosophie im Zeitalter der Aufklärung. (Tübingen 1945). ND Hildesheim 1992, 230–44; Carl Hinrichs: Preußentum und Pietismus. Göttingen 1971, 388–441; Bruno Bianco: Freiheit gegen Fatalismus: Zu Joachim Langes Kritik an Wolff. In: Zentren der Aufklärung I: Halle: Aufklärung und Pietismus. Hg. v. Norbert Hinske. Heidelberg 1989, 111–156; Hans Poser: Pietismus und Aufklärung – Glaubensgewißheit und Vernunfterkenntnis im Wider-
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for the great battle between Enlightenment rationalism, represented by Christian Wolff, and its opponents within a largely anti-rational and anti-philosophical Christian clergy, represented by Halle’s Pietist theologians. At first glance, it would hardly seem necessary to return to this story once again, but in fact it deserves another look. As with so many histories whose endless retelling has imparted to them the status of common knowledge, the shape and meaning given to this one have become largely a matter of convention, and the trustworthiness of its originators taken for granted. Most modern retellings lean heavily on one of the few contemporary accounts, by Georg Volckmar Hartmann, a doctor from Erfurt who appears to have studied in Halle in the early 1710s,2 and whose thousand-page Introduction to the History of the Leibnizian-Wolffian Philosophy first appeared in 1737. Looking back at Wolff’s expulsion fourteen years earlier, Hartmann advanced an explanation that has hardly been challenged since. The conflict that led to Wolff’s expulsion, he asserted, was merely the final, aggressive outbreak of a long-simmering hostility on the part of the Halle theological faculty toward philosophy and its confidence in the powers of human reason. Hartmann identified the principal instigator of this hostility as Joachim Lange (1670–1744). Already in 1704, six years before joining the theology faculty in Halle, Lange had published Medicine for the Mind, a lengthy textbook in which he asserted that human reason had been corrupted beyond repair, and that philosophy, far from helping human beings arrive at true knowledge, could produce only falsifications and distortions of the truth.3 These assertions by Lange, Hartmann alleged, were based on a long tradition of anti-rational “Mosaic physics” espoused by a series of “fanatics” – Johann Amos Comenius, Jacob Böhme, Pierre Poiret, and others – whose ideas Lange had absorbed in the 1680s while studying in Leipzig under the guidance of his future colleague on the Halle theology faculty and one of the fathers of German Pietism, August Hermann Francke (1663–1727).4 Upon arriving in Halle streit. In: Aufklärung und Erneuerung. Hg. v. Günter Jerouschek [u. a.]. Hanau 1994, 170–181, esp. 177–180; Jonathan Holloran: Professors of Enlightenment at the University of Halle, 1690– 1730. PhD diss. (U of Virginia, 2000), esp. e. g. 309; Jonathan Israel: Radical Enlightenment. Oxford 2001, 541–58; James Jakob Fehr: „Ein wunderlicher nexus rerum“. Aufklärung und Pietismus in Königsberg unter Franz Albert Schultz. Hildesheim 2005, 115–152; and Albrecht Beutel: Causa Wolffiana. Die Vertreibung Christian Wolffs aus Preußen 1723 als Kulminationspunkt des theologisch-politischen Konflikts zwischen Halleschem Pietismus und Aufklärungsphilosophie. In: Ders.: Reflektierte Religion. Beiträge zur Geschichte des Protestantismus. Tübingen 2007, 125–169. 2 Hartmann’s name appears in the Halle University matriculation register in 1710, and Hartmann himself claims to have been in Halle in 1712. Georg Volckmar Hartmann: Anleitung zur Historie der Leibnitzisch-Wolffischen Philosophie. (Leipzig 1737). ND Hildesheim 1973, 42, 87; Matrikel der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Hg. v. Fritz Juntke. Bd. 1. Halle 1960, 202. 3 Hartmann, Anleitung [see note 2], 41. 4 Hartmann, Anleitung [see note 2], iv, 81–84, 168–180, 624. On the history of “Mosaic phy-
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in 1710, Lange discovered that theology students were already being warned against attending Wolff’s lectures, and he himself quickly took over leadership of the anti-Wolff faction of the faculty.5 Now the temperature of hostilities between Wolff and the theologians began to rise. In 1712, together with several colleagues on the theology faculty, Lange took express exception to some remarks about biblical interpretation in Wolff’s newly published textbook on logic.6 In the same year, Lange and his colleagues identified Wolff as an atheist in their own lectures.7 Eleven years later, on the occasion of his accession to the rectorship of the university, with his textbooks on ethics and metaphysics now in print, Wolff delivered an inaugural lecture on the practical philosophy of the Chinese. At this point, Hartmann asserts, the theologians’ long-simmering hostility came to a boil: in reaction to Wolff’s endorsement of Confucian moral principles, they could “no longer conceal their resistance and the displeasure over this philosophy and its general acclaim that had long ago taken shape in their hearts.”8 Shortly after Wolff’s lecture, a colleague of Lange’s preached against Wolff in the university chapel, and the entire theology faculty agreed to give Wolff’s published works a thorough reading. This, Hartmann claims, was when Lange established beyond doubt that Wolff’s metaphysics contradicted his own Medicine for the Mind and the “Mosaic physics” on which it was based. In showing his colleagues where these contradictions could be found, he thoroughly convinced them of the danger of Wolff’s system and thereby motivated them to appeal to King Frederick William I for assistance. Shortly thereafter, the king expelled Wolff from Brandenburg-Prussia and banned the sale and teaching of Wolff’s ethics and metaphysics textbooks.9 Hartmann provided his contemporaries and posterity with a uniquely coherent, detailed, narrative account of Wolff’s expulsion, buttressed by Hartmann’s own claim to have witnessed part of the story himself. It therefore comes as no surprise that many elements of his story have been adopted by later commentators, most noticeably two of its guiding threads: (1) Wolff’s critics attacked him out of hostility to philosophy and contempt for the powers of human reason, and (2) this hostility and contempt had deep historical roots. Already in the eighteenth century, German philosopher Thomas Abbt (1738–66) claimed that the Halle Pietists were extreme Biblicists: they scoffed at “just about all rational demonstration” and saw no value in the
sics” see Ann Blair: Mosaic Physics and the Search for a Pious Natural Philosophy in the Late Renaissance. In: Isis 91.1, 2000, 32–58. My thanks to Frederic Clark for this reference. 5 Hartmann, Anleitung [see note 2], 157. 6 Hartmann, Anleitung [see note 2], 630–632. 7 Hartmann, Anleitung [see note 2], 42, 87, 631sq. 8 Hartmann, Anleitung [see note 2], 48. 9 Hartmann, Anleitung [see note 2], 50–52, 88, 159–161.
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“correct definition of concepts.”10 Echoes of Abbt’s view can still be heard today. In the words of a modern historian of philosophy – to take but one of many possible examples – we read that the Halle Pietists “showed hostility towards logical thinking and abstractions in general.”11 The notion that they moreover directed this hostility against Wolff long before his fateful 1721 inaugural lecture, as Hartmann emphasizes, has also found a place in modern accounts of Wolff’s expulsion, including two of the most influential.12 There are nonetheless good reasons to doubt Hartmann’s reliability. For one thing, it could hardly be clearer that his story oversimplifies a complex reality in order to advance a polemic against Halle Pietism. The tell-tale signs can be found not only in the openly hostile tone with which Hartmann describes Lange and Wolff’s other critics, but also in his aggressive repetition of pejorative motifs, and in the manifest contradictions in those parts of the story that cast Wolff’s critics in a particularly bad light. (How can it be fair, one wonders, to indict Lange and his colleagues for harboring a long-standing grudge against Wolff’s refusal to accept their fanatical “Mosaic physics,” and at the same time for disingenuously attacking the philosophy of someone whose works they had not in fact read?) Moreover, the very notion that Halle Pietists harbored a long-simmering antipathy toward philosophy and rationality flies in the face of hard evidence. One need only examine the curricula of the orphanage and schools founded and administered by Lange’s colleague, August Hermann Francke. These curricula included mathematics and logic, taught in part from a mathematics textbook written by Wolff himself and according to methods Wolff himself had prescribed.13 Hartmann conveniently ignores what the pedagogy of Francke’s schools proves beyond doubt and what modern scholars of Pietism have long known: like Wolff, Pietist theologians taught their students the value of Wissenschaft, or knowledge grounded in the rigorous application of logical principles.14 They were not opposed to
10 Thomas Abbt: Alexander Gottlieb Baumgartens Leben und Character. In: Ders.: Vermischte Werke. Bd. 4 (Berlin 1780). ND Hildesheim 1978, 228. 11 Steffen Gross: The Neglected Programme of Aesthetics. In: British Journal of Aesthetics 42.4, 2002, 403–414, here 407 (Gross has since revised his view. See below, note 14). Less extreme but tending in the same direction are Catherine Wilson: The Reception of Leibniz in the Eighteenth Century. In: Cambridge Companion to Leibniz. Ed. by N. Jolley. Cambridge 1995, 449sq.; and Israel, Radical Enlightenment [see note 1], 541. 12 Hinrichs, Preußentum und Pietismus [see note 1]; and Beutel, Causa Wolffiana [see note 1]. Both take many cues explicitly from Hartmann. 13 Johann Anastasius Freylinghausen u. Gotthilf August Francke: Ausführlicher Bericht von der Lateinischen Schule des Wäysenhauses zu Glaucha vor Halle. Halle 1736, 99; Christian Wolff: Auszug aus den Anfangsgründen aller mathematischen Wissenschaften. (Leipzig 31728). ND Hildesheim 2009, iv-viii; Hieronymus Freyer: Verbesserte Methode des Paedagogii Regii zu Glaucha vor Halle. Halle 1721, 81–87. 14 The pioneering studies of these affinities in pedagogical philosophy are Kelly Whitmer: Learning to See in the Pietist Orphanage: Geometry, Philanthropy and the Science of Perfection,
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philosophy per se, only to what they described as its abuse.15 The problems with Hartmann’s account of Wolff’s expulsion, therefore, do not lie merely on the surface. They raise doubts about the conflict’s chronology and conceptual grounds – that is, precisely those elements that Hartmann emphasized, that remain embedded in many modern accounts,16 and that have made Wolff’s expulsion appear to be such an emblematic moment in the history of the uneasy relationship between religion and Enlightenment. It would seem that the story of Wolff’s expulsion needs to be re-imagined. Luckily, Hartmann’s own account offers what turns out to be an excellent standpoint from which to re-imagine the story: an incident presented by Hartmann at a crucial moment in his narrative as the linchpin in his claim that Halle Pietism’s hostility to Wolffian philosophy began early and had deep intellectual roots. The incident involved one Lucas Geiger (1682–1750), a Memmingen-born theology student at the University of Jena, who arrived in Halle in 1707 at age twenty-five to take up a position as instructor in the Paedagogium Regium or “royal school,” one of the schools connected with August Hermann Francke’s orphanage.17 Francke apparently took in Geiger on the recommendation of Geiger’s supervisor at Jena, Johann Franz Buddeus (1667–1729), Francke’s friend and former colleague on the Halle faculty and a heavyweight of German Protestant theology in the early eighteenth century. After ten years of teaching at the Paedagogium, according to Hartmann, Geiger got into trouble with his superiors. The cause, Hartmann asserts, was a textbook on Wolff’s philosophical system – possibly the first such textbook ever conceived – that Geiger had apparently decided to write using notes taken by students at Wolff’s lectures. An advertisement appeared in the Leip-
1695 – 1730. PhD diss. (U British Columbia, 2008); and Kelly Whitmer: The Halle Orphanage as Scientific Community: Observation, Eclecticism, and Pietism in the Early Enlightenment. Chicago 2015. Also representative of the state of the art is Steffen Gross: Cognitio sensitiva. Ein Versuch über die Ästhetik als Lehre von der Erkenntnis des Menschen. Würzburg 2011, 47–108. 15 E. g. Joachim Lange: Historischer Vorbericht. In: Bescheidene und ausführliche Entdeckung der falschen und schädlichen Philosophie. Halle 1724, 3. On Pietist attitudes toward Wissenschaft and philosophy: Chi-Won Kang: Frömmigkeit und Gelehrsamkeit: die Reform des Theologiestudiums im lutherischen Pietismus des 17. und des frühen 18. Jahrhunderts. Gießen 2001; Fehr, Nexus rerum [see note 1], 143–152, modifying and elaborating upon Wolfgang Martens: Hallescher Pietismus und Gelehrsamkeit. Oder von der ‘nimia diffidentia in litteris’. In: Ders.: Literatur und Frömmigkeit in der Zeit der frühen Aufklärung. Tübingen 1989, 50–75; Hans Leube: Die Geschichte der pietistischen Bewegung in Leipzig. In: Ders.: Orthodoxie und Pietismus. Bielefeld 1975, e. g. 171–185; and, on Joachim Lange’s opposition to the “biblicism” with which he has stereotypically been associated, Udo Sträter: Wolffs Gegner Joachim Lange. In: Christian Wolff und die europäische Aufklärung. Hg. v. Jürgen Stolzenberg and Oliver-Pierre Rudolph. Bd. 3. Hildesheim 2007, 77–96. 16 On the most important exception, Holloran, Professors of Enlightenment [see note 1], see below, note 77. 17 Hermann Erhard: Memminger Pfarrerbuch. Neustadt/Aisch 1977, Nr. 35. In what follows, I shall refer to Francke’s Paedagogium Regium simply as the “Paedagogium.”
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ziger Gelehrte Zeitungen in 1717, but the book was never published, Hartmann explains, for no other reason than that the Halle theologians regarded Wolff’s general acclaim with inordinate jealousy and misgiving, and – as we already mentioned – were already abusing him implicitly in their lectures, insinuating that he was leading the youth astray and imparting atheistic teachings.18
Hartmann’s assertion that the Halle theologians suppressed Geiger’s book because of their jealousy of Wolff and their hostility to its contents appears to be little more than tendentious speculation,19 but it also happens to be the only substantial evidence Hartmann offers that the Halle theologians were already united in their anti-philosophical opposition to Wolff long before the conflict with him broke out in the open. It plays a similarly crucial role in two of the best modern accounts of Wolff’s expulsion.20 What makes this little incident more than merely one of many dubious moments in Hartmann’s problematic narrative, and rather a standpoint from which the whole story can be re-imagined, is that the evidence available for re-examining it is surprisingly abundant and rich: it includes not only dozens of letters to, from, and about Geiger in the surviving archives of Francke’s schools, but also a thick folder of documents apparently assembled in the 1720s by the Halle theology faculty, now in the University Archive.21 Taken together, these documents show that Geiger’s conflict with August Hermann Francke and the Halle theologians was far longer and more complex than Hartmann knew or let on. They also reveal that the conflict had very little to do with Geiger’s textbook of Wolffian philosophy, and equally little to do with Wolff himself. Most remarkably of all, by illuminating the actual substance of the “Geiger Affair,” as it was known at the time, these documents shed a great deal of light on aspects of the conflict between Wolff and his critics that Hartmann leaves in the shadows. On the one hand, they show 18 Hartmann, Anleitung [see note 2], 44: “[. . .] aus keiner andern Ursache, als weil die Hrn. Theologi Hallenses den allgemeinen Applausum der Wolffischen lectionum mit gar zu scheelen und neidischen Augen ansahen, und schon dazumahl, wie wir oben erwehnet, ihn, als ob er die Jugend verführe, und Atheistische Lehren vortrüge, tectis nominibus [mit verdeckten Namen] lästerten.” 19 Hartmann appears simply to be embellishing, for his own purposes, the more neutral and explanationless mention of Geiger’s unpublished textbook in Carl Günther Ludovici: Ausführlicher Entwurf einer vollständigen Historie der Wolffischen Philosophie. Bd. 1. (Leipzig 31738). ND Hildesheim 2003, § 165. 20 Hinrichs, Preußentum und Pietismus [see note 1], 398; Beutel, Causa Wolffiana [see note 1], 131. 21 Acta des studiosi Lucas Geigers übles Verhalten [. . .] betr. (UniHalleArchiv [= Archive of the Martin Luther University Halle-Wittenberg] Rep 27, 1215). The documents in this file, which were neither foliated nor reliably numbered at the time I consulted them, were arranged chronologically from earliest to latest, with only a few exceptions, and are therefore cited in this article by date alone.
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beyond doubt that two aspects of the controversy emphasized by Hartmann and reaffirmed by many later commentators – namely, that it grew out of a general Pietist hostility to philosophy and rationality, and that Wolff’s critics were relatively united in their hostility toward him long before they sought the royal assistance that resulted in his expulsion – have been severely exaggerated. On the other hand, the documents suggest two important conclusions around which the story of Wolff’s expulsion can be imagined anew: (1) One of the principal sources of early hostility toward Wolff was a carefully thought-through concern, on the part of his critics, to protect the reputation of the theology faculty in Halle. (2) The most important difference of opinion between Wolff and his critics before fighting broke out in 1721 concerned neither Wolff’s offensive remarks about biblical interpretation nor his general enthusiasm for the study of philosophy, but rather the controversial question of the “foundation of morality” or Grundlage der Moral, which was already a subject of controversy and debate in Francke’s schools in the 1710s. That Lucas Geiger’s conflict with August Hermann Francke and the Halle theologians had nothing to do with Christian Wolff is obvious from the circumstances under which it broke out – not, it turns out, in 1717 with Geiger’s plans to publish a textbook of Wolffian philosophy, but in 1716, with Francke’s dismissal of Geiger from the faculty of his Paedagogium. On November 25 of that year, Francke received a letter from Augsburg in which a friend and former colleague, Johann Philipp Treuner, reported that Geiger had incurred a substantial debt to his brother’s father-in-law, Johann Matthäus Schüßler, a medical doctor and friend of Treuner’s in Augsburg. To get the money back, Schüßler was reportedly ready to bring a lawsuit against Geiger. Enclosing documents as evidence of the seriousness of Schüßler’s intentions, Treuner advised Francke that since Geiger was at that time the assistant inspector of the Paedagogium, a lawsuit against him could damage the school’s reputation and needed to be averted. It would behoove Francke, Treuner concluded, to convince Geiger to follow his conscience and pay the money back before Schüßler followed through on his threat.22 But Francke refused to be dragged into the intrafamilial squabble. Two days after receiving Treuner’s letter, Francke confronted Geiger about the allegations, received a written apology from him, and then dismissed him, explaining that the debts and the threat of a lawsuit were already too public for comfort.23 Geiger departed almost immediately, too upset even to bid Francke farewell in person.24 22 J. P. Treuner to A. H. Francke, 18 Nov. 1716 (AFSt [= Archive of the Franckesche Stiftungen] /H C 47 : 3). 23 A. H. Francke to L. Geiger, 27 Nov. 1716 (AFSt/H C 47 : 5); A. H. Francke, Tagebuch (AFSt/H A 169 : 17a–m), 27 and 28 Nov. 1716. 24 L. Geiger to A. H. Francke, 30 Nov. 1716 (AFSt/H C 47 : 6).
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Over the next several months, faced with protest from several directions, Francke refused to reverse his decision. Through various channels, Geiger sent Francke repeated requests that he be rehired, or at least be allowed to continue to live on the school grounds. An outright dismissal, he worried, could damage his reputation beyond repair. His former teacher Buddeus would decline to recommend him for a position elsewhere – including in Memmingen, the city of his birth, to which he eventually hoped to return – and his teaching career would be over.25 For their part, Treuner and Schüßler worried that without work, Geiger would never be able to repay his debts. They, too, tried to persuade Francke to reverse the dismissal. With Geiger on the school grounds, Treuner told Francke, there would be more opportunity to rehabilitate him morally, to keep him from sinking into a general state of misery, and – particularly importantly – to get the money out of him instead of “bringing the poor man to ruin.”26 Hieronymus Freyer, on the other hand, inspector of Francke’s Paedagogium and Geiger’s former supervisor there, argued vehemently against taking Geiger back. Geiger’s behavior, he asserted, had undermined “the foundation of true Christianity,” and Francke “could no longer entrust the youth to his care.” For the sake of the schools’ reputation, too, Francke needed to show the outside world that he no longer had anything to do with a delinquent debtor.27 Francke held firm. Unable to move Francke by impassioned entreaties, Geiger turned to blackmail. If Francke did not take him back, Geiger would publish a bitterly satirical exposé of the Paedagogium. The publication was announced in the Leipziger Gelehrte Zeitungen of November 1717. Alongside two other books Geiger had been working on – (1) a history of philosophy according to lectures by Buddeus and (2) the “summary of the philosophical sciences according to lectures by Christian Wolff” famously noted by Hartmann – the reviewer (possibly Geiger himself) mentioned “a rare and still quite unknown text, [. . .] which is supposed to appear under the title, Historia Arcana Eugenophylacii Salinensis, opera egregii Praefecti Eugenophylacio Socii.” This text, according to the reviewer, “is about a certain monastery, and uncovers many intrigues engaged in by the abbot and clergy there. It is curious to read but somewhat indistinct because of the obscure names.”28
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H. Freyer to A. H. Francke, 26 May 1717 (AFSt/H C 11:44); cf. J. D. Herrnschmidt to [J. M. Schüßler?], [1717?] (StabF [= Francke Nachlass in the Berlin Staatsbibliothek] 10,2/7: 121). 26 J. M. Schüßler to A. H. Francke, 7 Dec. 1716 (AFSt/H A 169 : 71); J. P. Treuner to A. H. Francke, 7 Dec. 1716 (AFSt/H C240:7); A. H. Francke, Tagebuch (AFSt/H A 169 : 17a–m), 15 Dec. 1716. 27 H. Freyer to A. H. Francke, 26 May 1717 (AFSt/H C 11 : 44); cf. J. D. Herrnschmidt to [J. M. Schüßler?], [1717?] (StabF 10,2/7: 121). 28 Leipziger Gelehrte Zeitungen 78 (29 Sept. 1717), 632. Cf. L. Geiger to J. D. Herrnschmidt, 24 Feb. 1720 (UniHalleArchiv Rep 27, 1215).
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Francke and his colleagues were alarmed, but not by the history of philosophy or the Wolffian summary of the philosophical sciences, which get no mention in their surviving correspondence. What worried them was the Historia Arcana or Secret History. They easily deciphered the allegedly obscure names and found the meaning of the story clear as day. Upon reading sections sent by Geiger to a former colleague at the Paedagogium for transmission up the ranks, Francke’s colleague Johann Daniel Herrnschmidt reported that the text contains many calumnies under disguised names. For example: Geiger calls himself Egregius, the Professor [Francke] Arminius, me Kyriotertus, Freyer Savonarola, Treuner Hippophilas, Halle Saline, the Paedagogium Eupatridophylacius, etc. In this dreamed-up allegory, he also reports on everything, such that for example he describes the resignation of the prorectorship as the relinquishment of the governorship to Mr. Giovanni,29 presents Doctor Treuner as the Governor of the clergy in a Wittekind dukedom, calls the faculty meeting in the Paedagogium the high military council, [etc.].30
The danger of this satirical allegory was obvious. If it were published, everyone singled out by Geiger for unflattering treatment would face embarrassment. The announcement alone had already endangered the reputation of the Paedagogium, not only because its codename in the title might be deciphered, but because the announcement falsely referred to its author as adjunct inspector of the Paedagogium. Francke had dismissed Geiger largely because he knew that Geiger’s dubious character made any public association between him and the Paedagogium a serious liability. Now, with Geiger presenting himself as one of the Paedagogium’s administrators, that liability looked more real than ever. Herrnschmidt immediately wrote to the Leipziger Gelehrte Zeitungen to protest the false association, and he began to pull strings at the University of Halle as well as at the Brandenburg-Prussian court in Berlin to prevent Geiger’s Secret History from being published.31 Francke, meanwhile, during a long trip that took him through Augsburg, met with Schüßler in the 29
I have been unable to trace this reference. J. D. Herrnschmidt to A. H. Francke, [?] Sept. 1717 (StabF 10, 2/7: 121): „Es ist mein species facti von etl[ichen] bogen darinnen viele calumnien enthalten, aber unter lauter verdeckten Namen. Z[um] E[xempel] sich nennt H. geiger Egregium, H. Prof[essor] [Francke] Arminium, mich Kyriotertum, H. Freyer Savanarolam, H. D. Treuner Hippophilam, Halle Salinen, das Paedogogium Eupatridophylacium u[nd] s[o] f[ort]. [I]n dieser ausgesonnenen Allegorie referiert er auch das gantze factum, da er zum Ex[empel] die Niederlegung des Prorectorats beschreibt als die Abtretung der Statthalterschaft an H. Giovanni, den Dr. Treuner circumscribirt er als einen [?] Gouverneur deß Clergé in einem Witekindschen Herzogthum, die Conferentz in Paedagogio heisst er den geh[eimen] Kriegsrath, [etc.].” Parts of Geiger’s text may well be preserved in the archives of the Francke Foundations or the University of Halle, but I have been unable to find any. 31 J. D. Herrnschmidt to A. H. Francke, [various dates] (StabF 10, 2/7: 184, 190, 192, 106, 105). 30
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hope of returning to Halle with incriminating documents that could be used to increase the pressure on Geiger to keep the Secret History secret.32 With Francke and his colleagues now agitated by the possibility that Geiger’s satire might become public, Geiger added new fuel to the fire, posting two anonymous satirical texts on the notice board in Halle’s market square. In these texts, a poem and a brief play, Geiger turned his sights from the Paedagogium to the university faculty. Violence had recently broken out in Halle after an attempt by the royal garrison in the city to enlist a university student by force.33 In the two texts’ portrayal of the university as unable to protect its students from violence inflicted by the city’s soldiers, the theology faculty got special mention, with Francke and Joachim Lange singled out by name for derision. Geiger’s authorship of these texts soon became known, whereupon with support from the theology faculty Lange made a formal complaint against Geiger for criticizing him and his colleagues by name, which university statutes explicitly prohibited. Geiger responded with a highly implausible protest that he himself had been slandered. In the course of the long judicial proceeding that followed, King Frederick William I intervened at the request of the theology faculty and gave the university prorector official permission to expel Geiger from Halle.34 Under threat of expulsion, Geiger was ordered to submit to several demands: (1) to abandon the “satirical style” in his writing and refrain from “raillery against divine teaching and the professors of theology”; (2) to withhold and destroy his previous satirical writings, including the Secret History; (3) to give up the title of adjunct inspector of the Paedagogium; and (4) to do nothing injurious to the university or Francke’s schools. Fearing the destruction of his career, Geiger acceded to every demand.35 Even then, however, Geiger’s problems were not over. When Geiger attempted to hold private seminars in philosophy for university students one year later, in 1719, the theology faculty asked the dean of the philosophy faculty to have the advertisement for Geiger’s seminars removed from the notice board. According to the advertisement, the subjects of Geiger’s sem-
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J. D. Herrnschmidt to A. H. Francke, 26 Dec. 1717 (StabF 10, 2/7: 113); A. H. Francke to J. M. Schüßler, 3, 4 and 23 Feb. 1718, (UniHalleArchiv Rep 27, 1215); A. H. Francke, Reisebericht (AFSt/A 171, 1), 2–4 Feb. 1718, transcribed by Dr. Helmut Gier, Augsburger Staats- und Stadtbibliothek. My thanks to Dr. Gier for providing me with the transcript. 33 Schrader, Geschichte der Friedrichs-Universität [see note 1] 1, 252sq. and, in more detail, Holloran, Professors of Enlightenment [see note 1], 260–267. 34 J. D. Herrnschmidt to A. H. Francke, [various dates] (StabF 10, 2/7: 113, 201); L. Geiger to J. D. Herrnschmidt, 12 Mar. 1718 (UniHalleArchiv Rep 27, 1215); Prorector to Frederick William I, 18 Mar. 1718 (UniHalleArchiv Rep 27, 1215); Carl Hildebrand von Canstein to A. H. Francke, 26 Mar. 1718. In: Der Briefwechsel Carl Hildebrand von Cansteins mit August Hermann Francke. Hg. v. Peter Schicketanz. Berlin 1972, 804; Frederick William I to Halle theology faculty, 5 Apr. 1718 (UniHalleArchiv Rep 27, 1215). 35 L. Geiger to A. H. Francke, 1 and 3 May 1718 (UniHalleArchiv Rep 27, 1215); L. Geiger, “Geigers ausgestellter Revers.” 15 Jun. 1718 (UniHalleArchiv Rep 27, 1215).
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inars included Christian Wolff’s mathematics, logic, and moral philosophy; but as with Geiger’s 1717 announcement of his Wolffian philosophy textbook, the Wolffian content of these seminars provoked no hostility. The theology faculty protested rather that in his advertisements, Geiger had mentioned various “insidious things” in which he had recently been involved – clearly an allusion to the proceedings that had led to his near-expulsion from the university. In response, Geiger declared himself ready to submit to careful observation and to accept severe punishment if he should be found in the classroom to violate his promises to the university in the slightest.36 Later the same year, Geiger’s attempt to hold new seminars on Latin and Greek, on Buddeus’ history of philosophy, and on Wolff’s mathematics met with similar resistance, but again without provoking any obvious concern about the Wolffian content. In an official complaint to the prorector of the university, the theology faculty worried that in his seminars Geiger “was continuing to vent his hatred of the theological faculty with satirical and invidious expressions, and to instill it both in his auditors and in others with whom he has contact.”37 Though members of the university faculties deliberated about whether to advise Geiger to leave the university,38 no documentary evidence suggests that Geiger was in fact prevented from holding his seminars. In 1721, after another year in which conflict over Geiger’s seminars continued to simmer, and in which Geiger continued to beg Francke – still unsuccessfully – to take him back,39 the university’s investigations of Geiger were officially concluded.40 There the University Archive’s file ceases. Other evidence suggests that Geiger continued to teach in Halle for during the following twelve years,41 applying on at least one occasion for a more secure position there.42 In 1733, Geiger appears to have received the degree of magister 36 J. D. Herrnschmidt to J. Sperlette, 6 May 1719 (UniHalleArchiv Rep 27, 1215); “Öffentlicher Anschlag seiner Collegien,” 6 May 1719 (UniHalleArchiv Rep 27, 1215); J. Lange to Halle theology faculty, [May?] 1719 [inserted after 12 Aug. 1721] (UniHalleArchiv Rep 27, 1215); J. Sperlette to Halle theology faculty, [May?] 1719 (UniHalleArchiv Rep 27, 1215); L. Geiger to Halle theology faculty, 13 May 1719 (AFSt/H C 47 : 7). 37 Halle theology faculty to Prorector, 27 Oct. 1719 (UniHalleArchiv Rep 27, 1215); cf. L. Geiger, [n. t.], [n. d., inserted after 9 Jun. 1719] (UniHalleArchiv Rep 27, 1215). 38 C. Wolff et al., [n. t.], 6 Feb. 1720 (Universitäts- und Landesbibliothek Sachsen-Anhalt, Manuscript Department, Pon Misc. 2° 7, f. 74–5). 39 E. g. A. H. Francke to [J. D. Herrnschmidt?], 7 Feb. 1721 (UniHalleArchiv Rep 27, 1215); L. Geiger to J. D. Herrnschmidt et al., 24 Feb. 1720 until 13 Mar. 1721 (UniHalleArchiv Rep 27, 1215). 40 Christian Wolff, [n. t.], 3 July 1721 (UniHalleArchiv Rep 27, 1215). 41 Wöchentliche Hallesche Anzeigen, 9 January 1730 (v. I), 7; 15 May 1730 (v. XIX), 292–296. 42 Important evidence about Geiger’s unsuccessful 1731 application to the Rectorship of the Halle Stadt Gymnasium, among other matters, can be found in Acta, die Ersetzung des Rectorats bey dem Stadt Gymnasio zu Halle betr. (Landeshauptarchiv Sachsen-Anhalt, Standort Wernigerode, Rep A 12 a I Nr. 184). I have not been able to consult this material in person, and I thank Reimar Lindauer-Huber for alerting me to its existence and supplying me with transcriptions of several documents from the file.
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philosophiae from Halle’s Philosophy Faculty43 – shortly after receiving at last the teaching post in Memmingen to which he had long aspired.44 Geiger’s return home to take up this job brought his conflict-ridden career in Halle to an end. What can we learn from this complicated, amusing, pitiful, and occasionally hair-raising story? The most obvious lesson, of course, is that Hartmann was wrong about Lucas Geiger. From beginning to end, the controversies surrounding Geiger had nothing directly to do with Wolff or Wolffianism. Quite to the contrary, Geiger’s manifest interest in Wolff’s philosophy is not remarked in the plethora of surviving sources, be they private letters or official memoranda, and it was obviously unsuspicious in itself. At the center of the controversies were rather (1) Francke’s concern that the reputation of his schools could be endangered by an open relationship with a morally suspect person and by the publication of a satirical critique of the Paedagogium, and (2) the Halle theology faculty’s interest in protecting the honor of its members by suppressing Geiger’s satirical writings and by prohibiting oral derision inside Geiger’s classroom.45 With even closer scrutiny, Geiger’s story yields still more consequential lessons, about the intellectual content and evolution of the later controversy between Wolff and his critics in Halle. All the more remarkable for being less obvious, these lessons depend on looking past the glaring, telling absence of hostility toward Wolff and Wolffianism in the surviving documents, and noticing that Geiger’s story itself begins in medias res. The larger story of which it is a part does seem to be the Halle theologians’ conflict with Wolff after all, but this larger story looks different from the one told by Hartmann. It turns out that Geiger’s debts – the ostensible grounds of his conflict with Francke – were only a turning point in a relationship between Geiger and his superiors at the Paedagogium that had already been precarious for years. On the one hand, the relationship had been strained simply by Geiger’s difficult personality. Geiger’s penchant for satire was well known long before his dismissal. We read in the minutes of the April 28, 1716 faculty meeting that “on the occasion of the last examination it was pointed out that in the scholars’ orations the satirical style must be carefully avoided.”46 It comes as no surprise that the teacher of Latin oratory that semester is listed as Lucas Geiger.47 Nor 43
Wöchentliche Hallesche Anzeigen, 27 April 1733 (v. XVIII), 283. Erhard, Memminger Pfarrerbuch [see note 17], Nr. 35; H. Schallhammer: Das Schulwesen der Reichsstadt Memmingen von den Anfängen bis 1806. In: Memminger Geschichtsblätter 1962, 48sq. 45 On the prominence of satire in early modern German academic culture, see e. g. Günter Hess: Deutsch-Lateinische Narrenzunft. München 1971. 46 Konferenzbuch, Paedagogium Regium, 28 Apr. 1716 (AFSt/S A I 212), f. 234. On Pietist worries about satire: In: Martens, Literatur und Frömmigkeit [see note 15], 95–98. 47 Conspectus lectionum paedagogii Regii Glauchensis (AFSt/S A I 31), 6 Dec. 1715–19 Mar. 1716. 44
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did Geiger’s irritating and morally suspect penchants include only satire. A clear pattern of untruthfulness and excessive concern with money was lost neither on his colleagues in Halle nor on his later colleagues in Memmingen.48 To some, these unpleasant character flaws made Geiger merely personally repellant, while to others they made him an intolerably corrupting influence on the pupils entrusted to his care.49 On the other hand, Geiger’s relationship with the administration of the Paedogogium was also strained by a substantive quarrel over pedagogical method. This quarrel corresponded in important ways to a controversy that surfaced again as a major point of contention between Christian Wolff and his critics in the 1720s: the controversy over the so-called foundation of morality or Grundlage der Moral. This controversy had a long history, stretching back into the seventeenth century and beyond, and it persisted long after the eighteenth. In the eighteenth century itself, it provoked an abundance of texts on ethics, politics, and economics that historians in our own time have comprehended as contributions to the characteristically Enlightenment search for a compelling theory of human sociability.50 The controversial question, in essence, was how moral education happens. Can human beings become genuinely virtuous solely by exercising faculties they naturally possess, such as an inborn desire for virtue itself, or must moral education begin with a discovery and acceptance of the existence of God, the will and law of God, and the justice with which God dispenses punishments and rewards to those who obey or violate his law?51 According to most of the theologians who attacked Wolff, voicing their criticisms from a recognizably Lutheran perspective, the human will is naturally corrupt. As a consequence of this corruption, any attempt to improve one’s own character can only be motivated, in the first instance, by a fear of divine punishment and a corresponding desire to conform to divine law. The inevitable failure of this attempt at conformity must then persuade one of one’s own utter inability to merit salvation, and of one’s dependence on God’s grace. Only then is one ready for God’s intervention in one’s life, after which 48
Schallhammer, Das Schulwesen [see note 44], 49–51. Cf. Fehr, Nexus rerum [see note 1], 140. 50 Probably the best account of the debate’s many phases over the long term is Gerald Hartung: Die Naturrechtsdebatte: Geschichte der Obligatio vom 17. bis 20. Jahrhundert. Freiburg i. Br. 1998. For eighteenth-century Germany, probably the best English-language synthesis of recent literature on the subject is Knud Haakonssen: German Natural Law. In: The Cambridge History of Eighteenth-Century Political Thought. Ed. by Mark Goldie and Robert Wokler. Cambridge 2006, 251–290. Other expositions of the debate’s various eighteenth-century dimensions can be found in Jerome Schneewind: The Invention of Autonomy. Cambridge 1998; Istvan Hont: The Jealousy of Trade. Harvard 2005; John Robertson: The Case for the Enlightenment. Cambridge 2005; and Avi Lifschitz: Language and Enlightenment. Oxford 2012. 51 Similar themes are emphasized by Schneider, Das geistige Leben [see note 1], 141 and Beutel, Causa Wolffiana [see note 1], 128 and can be inferred beneath the surface of Fehr, Nexus rerum [see note 1], 143–152, who presents the central question as whether philosophical speculation leads to moral corruption. 49
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one is at last able to live according to the “Gospel” rather than merely according to the “law” – that is, motivated by genuine love of God rather than fear of divine punishment. In other words, Wolff’s Lutheran critics held that acting according to external obligation, the kind of coercive obligation that follows from an act of legislation by a lawgiver with the manifest power to reward and punish, necessarily prepares the way for acting according to an uncoercive, genuinely virtuous, internal obligation. Anyone unaware of divine law, it follows, has little hope of becoming genuinely virtuous.52 In his textbooks on ethics and metaphysics, first published in 1720, Wolff objects to this position. “When one wants to direct a human being,” he explains, one can go about it in one of two ways. Either one directs him by force like cattle, or with the help of reason, like a rational creature. In my moral philosophy I have nothing to do with the former, since using it brings no one to virtue, but rather to an external practice of the good, or to a feigned essence that contains no reality.53
In Wolff’s view, the human will is not radically corrupt. Human beings possess a natural appetite for virtue, and the task of moral philosophy is to show how we can be educated, such that we accustom ourselves to act exclusively in accordance with this appetite, and without any need for coercion. More specifically, through experience and careful reflection we develop “distinct” knowledge of the causal connections among things, such that we become capable of judging in everyday situations the extent to which any given action will increase our own “perfection.” Acting according to a distinct judgment of this type, for Wolff, means acting freely and virtuously. Wolff also maintains that this kind of moral education can have an edifying effect even on atheists – such as the Chinese – who know nothing of divine law but nonetheless have a natural appetite for perfection and are naturally capable of recognizing causal connections and understanding what will make them more perfect.54 52 E. g. Johann Liborius Zimmermann: De actionum humanarum moralitate. Jena 1728. Cf. Simon Grote: Christian Wolff’s Critics and the Foundation of Morality. In: Moral Philosophy and the Origins of Aesthetic Theory in Germany and Scotland. PhD diss. UC Berkeley, 2010. 53 Christian Wolff: Vernünfftige Gedancken von der Menschen Thun und Lassen, zu Beförderung ihrer Glückseeligkeit [= German Ethics]. Frankfurt, Leipzig 41733), Preface to 2nd ed., [xxii]: „Wenn man [. . .] den Menschen lencken wil, so kan man es auf zweyerley Weise angreiffen. Entweder man lencket ihn durch Zwang wie das Viehe; oder durch Hülffe der Vernunfft, wie eine Vernünfftige Creatur. Mit dem ersten habe ich in der Moral nichts zu thun: denn dadurch bringet man niemanden zur Tugend, sondern bloß zu einer äusserlichen Gewohnheit im Guten, oder auch zu einem verstellten Wesen, dabey keine Wahrheit ist.” 54 Christian Wolff: Discourse on the Practical Philosophy of the Chinese, trans. Julia Ching and Willard G. Oxtoby. In: Moral Enlightenment: Leibniz and Wolff on China. Ed. by idem. Nettetal 1992, esp. 163sq.; and, offering a thorough explanation of Wolff’s position on the foundation of morality in his 1721 lecture, Michael Albrecht: Die Tugend und die Chinesen. Antworten von Christian Wolff auf die Frage nach dem Verhältnis zwischen Religion und Moral. In: Nuovi studi
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This controversy between Wolff and his critics, which first broke out after Wolff’s 1721 lecture on Chinese practical philosophy made his own position public, corresponds in many respects to the essence of a disagreement six years earlier between Lucas Geiger and Hieronymus Freyer during one of the weekly faculty meetings at the Paedagogium. In a lengthy report to Francke shortly after the meeting, Freyer described the disagreement as follows: A little while ago, there was a discussion in the meeting about how the doors to the storehouses might be kept constantly locked, and the students denied all access. On this topic, [Geiger] had the opportunity to ask why we do not habituate our students or keep them under such careful observation that we would not need to lock the doors forcibly, and they would instead need to stay out because it was forbidden. Otherwise they would become accustomed to keep away from nothing that hadn’t been made inaccessible to them with locks and bars.55
Without dismissing Geiger’s comment, Freyer answered that in this particular case, locking the doors is absolutely necessary, because otherwise “the two sexes could come together.” Force needs to be used in order to bar students’ way to the “girls and other womanfolk” in the storehouses. Geiger then responded: But that would be a bit much. Elsewhere it is certainly the case that even when people haven’t yet reached Christianity and are only in a state of natural virtue [honnettete],56 they definitely moderate themselves and keep themselves under control. Couldn’t we then bring our own children at least that far – indeed, even if they weren’t already Christians?57
There followed a heated discussion about natural virtue or honnêteté, which Freyer brought to a decisive conclusion: My dear Geiger, natural virtue [die honnettete] does not suffice in this matter. In other cases, . . . one can probably be held back from excesses [in this way], and in such cases one can probably take a risk beforehand and observe how people behave; and one sul pensiero di Christian Wolff. Ed. by Sonia Carboncini-Gavanelli and Luigi Cataldi Madonna. Hildesheim 1992, 239–262. Cf. Grote, Christian Wolff’s Critics [see note 52], 147–153. 55 H. Freyer to A. H. Francke, 3 Jun. 1714 (AFSt/H C 11 : 15): “Es wurde vor einiger Zeit in der conference deliberiret, wie die Thüren zu den Oeconomien möchten beständig zu gehalten und den Scholaren aller Access versperret werden. Bey solcher Materie hatte er Gelegenheit zu sagen, warum wir unsere Scholaren nicht so gewöhneten oder so weit beachten, daß man solcher violenten Versperrung der Thüre nicht brauchte, sondern daß sie darum heraus bleiben müßten, weils ihnen verboten wäre: sonst würden sie angewöhnet, nichts zu lassen, was ihnen nicht durch Schlößer und Riegel inaccessible gemacht wäre.” 56 I.e. honnêteté. 57 H. Freyer to A. H. Francke, 3 Jun. 1714 (AFSt/H C 11 : 15): „[Das] wäre aber doch viel: anderswo [ist es] doch so, daß, wenn auch die Leute noch nicht einmal zum Christenthum, sondern nur honnettete gekommen wären, sie sich doch moderirten und in Zaum hielten; ob wir denn unsere Kinder wenigstens nicht so weit brächten, wenn sie ja noch keine Christen wären.”
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can use their excesses to make them more prudent. But in this case the risk, especially in our institution, is too dangerous, because this is a place where young people of each sex come together. Natural virtue is too weak to resist that. And experience teaches that the people with the greatest natural virtue are often the biggest fornicators and adulterers, and that in this situation their natural virtue will be immediately demolished.58
Geiger had no chance to issue a rejoinder at the meeting, but he was clearly upset. Almost immediately he continued the debate in writing, circulating among his colleagues an anonymous but easily attributable letter that he hoped – or claimed to hope – would lead to a “general awakening” in the Paedagogium. In this letter, Geiger pulled no punches. He accused the Paedagogium of applying excessive force in response to a small number of obvious transgressions, while losing the battle against more subtle sins like pride and avarice because of a systematic unwillingness to use the most effective weapon against them, namely, the appeal to students’ natural virtue. “When I consider our lot,” he wrote, I am left uncertain whether naturally virtuous people, who have heard little of God’s word, aren’t closer to the kingdom of God than our youth, who hear a great deal of God’s word, to be sure, [. . .] but don’t let it have any practical effect, and instead, when they leave us, get into the most abominable scandals.59
On this last theme, the danger of Freyer’s pedagogical approach for the reputation of the Paedagogium, Geiger escalated his assault: Not a month goes by, in which it is not said in eminent society in the city that the Paedagogium will turn out like a carnival barker who uses trained apes and monkeys to attract a crowd of people who all make a purchase. But as soon as anyone sees that he has been deceived, he doesn’t return, and when the ape stops playing the whole crowd stops coming. Another person in the group is supposed to have said that all parents should be warned about the Paedagogium as one would be warned about a 58
H. Freyer to A. H. Francke, 3 Jun. 1714 (AFSt/H C 11 : 15): „Mein lieber H. Geiger, die honnettete richtets in dieser Sache nicht aus. In anderen [Fällen] [. . .] wird einer noch wohl [in dieser Weise] von Excessen zurückgehalten: und in solchen Fällen kann man bey der Jugend noch wohl ehe und [sicherer] etwas hazardiren und sehen, wie sich die Leute halten wollen; und ihre Excesse kann man brauchen, sie kluger zu machen. Aber in diesem casu ist der Hazard, zumal bey unserer Anstallt, zu gefährlich: denn hier kommt junges Volk de utroque sexu zusammen. Sie ist die honnettete gar zu schwach zu widerstehen. Und die Erfahrung lehret, daß die honnettesten Leute vielmals die größten hurer und Ehrbrecher seyn; und daß ihre honnettete [in diesem Fall] mit einmal über den Hauffen geworfen werde.“ 59 [L. Geiger to the faculty of the Paedagogium], 19 May 1714 (AFSt/H A 167 : 2s): „[W]enn ich [. . .] unsern hauffen [. . .] betrachte: so steh ich in zweifel, ob nicht honnete leute, die wenig von Gottes wort gehört, dem reiche Gottes näher seyen, als unser Jugend, die zwar vieles von Gottes wort hört, aber es nicht zur Krafft kommen läßet, sondern zumal, wann sie von uns ausgehet in die abscheulichsten scandalen hineinrennen.“
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vicious animal. Whoever sends his child there might as well sacrifice it to Moloch,60 since there is nowhere else in the world where such wicked children are produced as in the Paedagogium.61
Geiger closed with an exhortation: “Let me be heard, and let our whole system and practice be shaken up all at once, and let it be seen clearly, where among us the cause of Joseph’s ruin62 is lurking.”63 The pedagogical question at the center of Geiger’s dispute with Freyer was the extent to which the moral education of children could and should involve an appeal to their natural virtue (honestum naturale) or honnêteté, as opposed to the forcible control of their activities. On one side stood Geiger, who, according to Freyer, had for a long time felt “suffering in his heart” on account of the fact that “because of the weakness and lack of understanding on the part of the youth, a preceptor is obliged to come up with appropriate maxims and benefits that he can use to generate love and fear at the same time,” rather than relying on their natural inclination toward virtue.64 On the other side stood Freyer, who, much like Francke,65 considered natural virtue in many situations hopelessly weak, and who thought that in such situations teachers should have recourse to “authority” [Herrschaft], directing children by means of rewards, punishments, and force. In light of the later disagreement about the “foundation of morality” between Wolff and his critics in Halle, three aspects of this earlier debate stand out. First, Geiger was not the only party to the debate. The general question of how precisely children’s behavior should be controlled – and more particularly how to apply salutary force while avoiding the kind of pedagogically counterproductive brutality that had already threatened the public reputation 60 Cf. Hieronymus Bahr [= Johann Heinrich Feustking?]: Höchstverderbliche Auferziehung der Kinder bey den Pietisten. Leipzig 1709; 21713), ch. 1, presented as a notable document in the history of controversy about Francke’s schools by Johann Georg Walch: Historische und theologische Einleitung in die Religionsstreitigkeiten der evangelisch-lutherischen Kirche. Jena 21733. Bd. 1, 864. My thanks to Kelly Whitmer and Jonathan Strom for information about the authorship of Bahr’s text. 61 [L. Geiger to the faculty of the Paedagogium], 19 May 1714 (AFSt/H A 167 : 2s): „Es ist noch kein Monat, da bey einer vornehmen assemblée in der Stadt gesagt seyn soll: mit dem paedagogio wird es gehen, wie mit einem Marck[t]schreyer der mit seinen patenten Affen und Meer katzen einen Hauffen leute herbey locke, von welchen ein jeder ein pacquet kauffe. Wer aber einmal sehe, daß er betrogen, der käme nicht wieder, und wann der Affe nicht mehr spielte verlähre sich der gantze hauffe. Ein ander soll in eben dieser compagnie gesagt haben: vor dem paedagogio solle mann alle Eltern, als vor einem bösen Thier warnen. Wer sein Kind hinein thäte, der thäte so viel als opforte ers dem Moloch auff: weil an keinem Orte der Welt so böse buben als im paedagogio ausgeheckt würden.“ 62 Amos 6:6. 63 [L. Geiger to the faculty of the Paedagogium], 19 May 1714 (AFSt/H A 167 : 2s). 64 H. Freyer to A. H. Francke, 3 Jun. 1714 (AFSt/H C11 : 15). 65 E. g. Peter Menck: Die Erziehung der Jugend zur Ehre Gottes und zum Nutzen des Nächsten: Die Pädagogik August Hermann Franckes. Tübingen 2001, 28–31, 48–55.
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of Francke’s schools – had in fact occupied Francke and his staff for years. Francke himself had offered his intructors written guidance in these matters in the early 1710s.66 It therefore comes as no surprise that when the question arose again concretely in the conflict between Geiger and Freyer in 1714, Geiger’s fellow instructors joined the debate as well. Freyer reported to Francke that in spite of their general aversion to Geiger’s irritating personality, they in fact took his side on some points. Second, Geiger was taking a position akin to Wolff’s. He advocated the cultivation of natural virtue, asserted the moral capacities of atheists, and denounced the use of force in important areas of moral education. Third, and particularly importantly, Geiger articulated his position without applying a recognizably Wolffian philosophical vocabulary. He spoke and wrote neither of perfection, nor of the causal nexus, nor the final causes of things, nor of other concepts that bear close resemblance to what Wolff would later invoke in his textbooks and was presumably already invoking in his lectures. Cognates of honnêteté, to which Geiger and Freyer turned again and again as a synonym for natural virtue, featured in the works of Christian Thomasius (1655–1728), Francke’s colleague on the university’s law faculty,67 and in fact fifteen years earlier Thomasius and Francke had quarreled publicly about the appropriate role of force and surveillance in the education of children.68 In 1699, Thomasius in fact accused Francke of pedagogical errors much like those identified by Geiger. The instructors’ use of force to control the external behavior of their pupils, Thomasius observed, could only produce hypocrisy: pride and avarice disguised by outward signs of piety.69 This well-documented quarrel between Thomasius and Francke clearly set some of the terms for the debate between Geiger and Freyer. Hints of a quarrel involving Wolff, on the other hand, are conspicuously absent. 66
A. H. Francke: Ermahnung an die Praeceptoren. (1711). (AFSt/M 35a, 325–399), qtd. in Menck, Erziehung [see note 65], 48, 119–137, esp. 127sq.; and A. H. Francke: Instruction für die Praeceptores, was sie bei der Disciplin wohl zu beachten haben. (1713?). In: August Hermann Francke: Pädagogische Schriften. Hg. v. Hermann Lorenzen. Paderborn 21964. 67 E. g. Christian Thomasius: Einleitung zur Sittenlehre. Halle 1692; ders.: Discours, Welcher Gestalt man denen Frantzosen in gemeinem Leben und Wandel nachahmen solle? Leipzig 1687, 7sq.; ders.: Vorschlag, wie er einen Jungen Menschen, der sich ernstlich fürgesetzt, Gott und der Welt dermahleins in vita civili rechtschaffen zu dienen, und als ein honnet und galant homme zu leben [. . .] zu informiren gesonnen sey. Leipzig 1689. For more bibliography, see Simone Zurbuchen: ‘Decorum’ and ‘Politesse’: Thomasius’s Theory of Civilised Society in Comparative Perspective. In: Early Modern Natural Law Theories. Ed. by T. J. Hochstrasser and P. Schröder. Dordrecht 2003, 279–96. 68 August Nebe: Thomasius in seinem Verhältnis zu A. H. Francke. In: Christian Thomasius. Leben und Lebenswerk. Hg. v. Max Fleischmann. (Halle 1931). ND Aalen 1979, 383–420; Hinrichs, Preußentum und Pietismus [see note 1], 352–387; and, largely following Hinrichs, Holloran, Professors of Enlightenment [see note 1], 151–161. 69 Christian Thomasius: Verlangte Erinnerungen über beygefügte Einrichtung des Paedagogii Glauchensis. Halle 1699, qtd. in Nebe, Thomasius in seinem Verhältnis zu A. H. Francke [see note 68], 413sq., 418sq.
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Honnêteté is nowhere to be found in Christian Wolff’s ethics, and although Geiger admitted in his anonymous letter that his repudiation of Freyer would likely be dismissed as “the product of a philosophical Christianity,”70 there is nothing in his verbal formulations from which one could infer that he was conscious of representing a view advocated by Wolff. Geiger’s “philosophical Christianity” must have had its roots elsewhere.71 We find in the sources, therefore, not a shred of evidence either that there was a controversy about Wolff’s ideas in the Paedagogium before 1721, or that Geiger caused trouble for himself by openly espousing such ideas. Instead, we find that by 1715 at the latest, an intellectual fissure had developed in the Paedagogium that followed the contours of the later dispute between Wolff and his critics over the foundation of morality, such that Wolff himself could eventually be represented by his critics as giving systematic philosophical support to an unwelcome position that in some ways had already been asserted by Geiger. It is moreover highly plausible not only that Geiger’s interest in Wolffian philosophy did not lead to his dismissal from the Paedagogium, but also that Geiger only began to take a serious interest in Wolff’s controversial metaphysics and ethics after Wolff’s expulsion from Halle – perhaps even because of Wolff’s expulsion. Shortly after his own dismissal, for example, and still years before Wolff’s, Geiger continued to engage in problems connected with the foundation of morality, and still without reference to Wolff. The evidence can be found in the two satirical texts Geiger wrote in 1717, the poem and the brief play about the Halle garrison’s attempt to impress a student into military service, whose critical mention of August Hermann Francke and Joachim Lange brought Geiger into conflict with the theology faculty. These texts are by no means a major literary achievement, and they display no special talent for satire. In reference to the failure of the university prorector, the jurist Johann Peter von Ludewig, to negotiate effectively with the garrison on behalf of the student body, Geiger declares to the students: The one who should protect you from everything, and is called your leader, lets you, abandoned, simply sit there, while you are robbed of your noble freedom. If you must have such a rector, who treats you so negligently – Oh go with your stupid Swabian, with your Rector Ludewig.72 70
[L. Geiger to the faculty of the Paedagogium], 19 May 1714 (AFSt/H A 167 : 2s). One possibility, suggested to me by Ulrich Barth, is Johann Musaeus (1613–1681), Professor of Theology at Jena, whose influence persisted into the years in which Geiger studied there. 72 Enclosed with J. Lange to Halle theology faculty, May? 1719 [inserted after 12 Aug. 1721] (UniHalleArchiv Rep 27, 1215): „Der euch vor allem soll beschützen / und heißet euer Ober 71
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This stanza, like the poem itself, is hardly a masterpiece. But like Geiger’s play on the same subject, and like the many similar literary self-representations by students in this period, it contains a basic argument: professors at a university are obliged to ensure “academic freedom” by promoting the welfare of the students in their charge, and they neglect this obligation when they fail to protect students from violence inflicted by soldiers – which Geiger describes as, for all practical purposes, the enslavement of the students. The result of this failure, Geiger explains, is that the Muses, who only live happily in free cities, will leave Halle, together with the students themselves, so that what was once the “Athens on the river Saale” will soon be no more.73 An indirect connection between Geiger’s concern with students’ freedom and his aversion to the excessive use of force in moral education is perhaps palpable, but not a single allusion to Wolff can be found. The impact of Wolffian philosophy appeared in Geiger’s writings for the first time only fifteen years later. In 1733, his last year in Halle, Geiger published an announcement for seminars he proposed to hold on Wolff’s logic, Wolff’s physics, and the still-ongoing controversy about Wolff’s metaphysics – presumably in lieu of seminars on Wolff’s metaphysics itself, which were still banned. To this announcement Geiger appended another text: Rational Considerations of the Causes and Consequences of Academic Slavery.74 The first two words of the title, which echo the titles of various German textbooks by Wolff, foreshadow the Wolffian terminology of the tract itself. Geiger once again takes up the concepts of freedom and slavery, but now he applies unmistakably Wolffian definitions. He maintains that freedom, defined as “the reliable use of freedom of the will,” requires certain and distinct perception. Allusions to Wolff and approximate quotations from his works are ubiquitous. The danger to freedom, Geiger explains, comes from the so-called Gelehrtengewaltigen, the “strongmen of learning” who adjudicate truth and virtue only according to their own prejudices and self-interest, who consider rationality per se an evil, and under whose dominion the innocent – and justice itself – necessarily suffer.75 Anyone aware of Geiger’s quarrels with Francke, Freyer, and the Halle Theology Faculty can hardly fail to recognize that they remain Haupt, / der läßt euch gantz verlaßen sitzen, / da man die edle Freyheit raubt. / Müßt ihr so einen Rector haben, / der euch tractirt so liederlich, / ach geht mit eurem dummen Schwaben, / mit eurem Rector Ludewig.” 73 For insights into the generic qualities of Geiger’s poem and play, including the rhetoric of “academic freedom” within student culture in early eighteenth-century German university towns: Holger Zaunstöck: Das Milieu des Verdachts. Berlin 2010, esp. 29sq., 41, 43; and, with more specific relevance to Halle, John Meier: Der hallische Studentenaufstand vom Jahre 1723. In: ZKuG.E 1, 1897, 1–97. 74 Lucas Geiger: Erklärung bey Übernehmung philosophischer Lectionen, nebst einigen vernünftigen Gedancken von den Ursachen und Wirckungen der Gelehrtenknechtschaft. [Halle?] 1733. 75 Geiger, Erklärung [see note 74], 6sq., 13, 18sq.
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the target of this assault. The new bottles, as it were, are full of old wine: Geiger has resumed his old polemic in new Wolffian terms. And yet at the same time, his portrayal of the old adversaries has changed in a fundamental way. Once merely sceptical about the reliability of natural virtue, those adversaries are now, in 1733, enemies of reason itself, and no longer unlike Georg Volckmar Hartmann’s portrayal of them in 1737. Only after the Wolffian controversy broke out, and not before, did a characterization of Wolff’s critics like Hartmann’s begin to seem plausible to Geiger. How, then, can the controversy between Wolff and his critics on the Halle theology faculty be imagined anew? Lucas Geiger’s story presents several building blocks that no reconstruction can ignore. Geiger displayed obvious interest in Wolff’s philosophy, and yet the theologians whom he upset showed no concern with that interest – neither in the formal documents they produced, nor in private communications among themselves. When they protested against Geiger’s various writings, what worried them was the reputation of Francke’s schools and of the university’s theological faculty. When they protested against Geiger’s seminars on Wolffian philosophy, they voiced concern that Geiger would mock them in front of his auditors. In other words, instead of Hartmann’s tale of long-suffering, anti-rational Pietist fanatics, Geiger’s story presents us with critics reacting ad hoc to particular challenges, motivated in the first instance, and probably at least until the late 1710s, by a concern for the honor and reputation of themselves and of the educational institutions they directed and represented. Of course, the presence of this kind of motivation has long been obvious. Hartmann himself never tired of emphasizing its most personal and ostensibly discreditable dimension, pointing out again and again that Wolff’s greater popularity among students injured Lange’s pride.76 It also finds a prominent place in later, less nakedly partisan accounts of the conflict, which draw attention not only to personal rivalry between Lange and Wolff, but also (1) to the pre- and post-1721 power struggles between the various university faculties for control over professorial appointments, (2) to the vigilance with which the theologians sought to prevent Wolff from overstepping the boundaries of his discipline, and (3) to the theologians’ efforts to protect the honor of their faculty in the wake of reports that Wolff was issuing sarcastic attacks in his lectures.77 In addition to confirming and amplifying the importance of these 76
Hartmann, Anleitung [see note 2], e. g. 43sq., 158, 633–666. Most notably, Holloran, Professors of Enlightenment [see note 1], e. g. 273–420, an account of Wolff’s expulsion that to the best of my knowledge exceeds all others in the thoroughness of its documentation, the sophistication with which it establishes the institutional context, and the circumspection with which it ignores Hartmann’s most dubious and otherwise influential claims. Cf. Fehr, Nexus rerum [see note 1], 140–143; Beutel, Causa Wolffiana [see note 1], 128–44; and Barbara Mahlmann-Bauer: Wolffs Hochschulpolitik. Institutionengeschichtliche Hintergründe von Wolffs Vertreibung aus Halle. In: Christian Wolff und die europäische Aufklärung [see note 15] 5, 2010, 319–364. 77
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points of conflict, Geiger’s story suggests that they did not go hand in hand with a deep and longstanding animosity toward philosophy and rationality in general or Wolff’s system in particular long before 1721.78 Whatever such animosity pro-Wolff observers like Hartmann and Thomas Abbt claimed to have witnessed,79 in other words, should not be projected retrospectively back into the first two decades of the century. To extrapolate still further from Geiger’s own intellectual development: Wolff’s critics’ reputation for hostility to rationality was produced largely by the controversy itself. At the same time, Geiger’s story should also ward off the temptation to take this conclusion to its extreme, and to dismiss the great post-1721 war of ideas between Wolffians and Pietists as merely the deployment of rhetorical weapons, dreamed up ex post facto for the sake of winning a contest ultimately motivated by non-ideological, personal animosities and by a rampant thirst for prestige and institutional power within an early modern academic culture fixated on rank and honor. Professional deformation, admittedly, may sometimes lead intellectual historians to assume too readily that behind the ostensibly personal or political conflicts among the highly educated must lie disagreements about theory. But this charge of naiveté is easy to press too hard, and in the case of the Halle theologians’ campaign against Wolff it is difficult to sustain.80 The theologians certainly lacked the crude, anti-philosophical animus attributed to them by Hartmann, but their repudiation of Wolff was clearly rooted in a rejection of his ideas. Geiger’s story helps us see that their principal animus was a scepticism about human beings’ natural capacity for virtue, a pedagogical issue that had been debated within Francke’s Paedagogium for years with indirect reference to Thomasius but without any reference to Wolff. The living debate about this issue must have made the danger of Wolff’s moral philosophy – once it had become known – obvious. But clearly that danger was not obvious for very long. Rather than harboring a conscious, systematic disagreement with Wolff for many years, Francke and most of his colleagues long harbored an admiration for Wolff. They saw the mathematical method, which he had explained and advocated with impressive lucidity, as a powerful tool for ensuring the rigor and solidity of human knowledge in those areas in which rigor and solidity were achievable, and they built it into the pedagogy of Francke’s schools. This admiration persisted even in the 1710s, as Wolff began slowly to expand the repertoire of his university lectures – which from his arrival at Halle in 1706 until his expulsion in 1723 consisted mostly of mathematics, applied mathematics, and natural sciences – into moral philosophy.81 It persisted even as Wolff’s anticler78
Cf. Holloran, Professors of Enlightenment [see note 1], 273, 291. See above, note 10. 80 Cf. Fehr, Nexus rerum [see note 1], 149–151, quoting August Hermann Francke’s published denial that he and his colleagues were retaliating against Wolff solely to defend their own honor. 81 Wolff appears to have begun offering courses in moral philosophy in 1710–1711: Catalogi 79
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ical utterances and occasional objectionable pronouncements on theological subjects began to come to light.82 From the perspective of Francke and his colleagues in the mid-1710s, Wolff occasionally overstepped the boundaries of his discipline, might now and then pose a threat to the theology faculty’s status and reputation, and probably held suspect positions on some theological matters, but these transgressions could be contained, and the irritation they caused – to Joachim Lange perhaps most of all – was tolerable. He was not obviously pedaling a radically erronious and manifestly dangerous philosophical system.83 By 1714, as the quarrel that year between Geiger and Hieronymous Freyer indicates, the faculty of the Paedagogium were clearly divided about a difficult practical issue that Wolff had probably been discussing in theory during his lectures on moral philosophy: the extent to which students’ own natural virtue should be relied upon to keep them out of trouble. But if the contents of Wolff’s lectures were known within Francke’s schools or the university theology faculty, they appear to have made no negative impact. The conceptual link between Geiger’s position and the similar position outlined by Wolff seems to have been remarked by no one. At most, the conflict within the Paedagogium reveals that by 1715, one foundation for later critiques of Wolff was in place. When precisely this foundation began to be recognized for what it was and built upon is not well illuminated by Geiger’s story. By 1717, at any rate, construction had not yet begun: Francke and his colleagues expressed no worries about Lucas Geiger’s promise to disseminate Wolff’s philosophical system in a published handbook. Their only known conflict with Wolff that year concerned once again reports that Wolff had included in his lectures some “harsh words against the ministry.”84 Several months later, Wolff began lecturing on logic and metaphysics, but again the theologians showed no sign of provocation, campaigning for the next three years to suppress Geiger’s seminars on Wolffian philosophy without indicating any misgivings about their philosophical content. Even in 1720, when Wolff’s textbooks on ethics and metaphysics first appeared in print,85 it is not clear whether the theologians immediately became aware of any serious problem. According to Joachim Lange, the theology faculty had been ignorant of the contents of Wolff’s lectures the whole time, and it also ignored these textbooks until after Wolff’s lectionum [. . .] publicati in Academia Fridericiana. Martin-Luther University of Halle-Wittenberg, University Archive reading room, s. v. 1710–11. 82 Notably in Christian Wolff: Vernünfftige Gedancken von den Kräften des menschlichen Verstandes [= German Logic] (Halle 1713), as mentioned in Hartmann, Anleitung [see note 2], 630sq. 83 Cf. Lange, Historischer Vorbericht [see note 15], 7. 84 A. H. Francke, Tagebuch, 10 Apr. 1717 (AFSt/H A 170 : 1): a brief sentence in which Francke refers to sending Wolff a letter about the matter, and the earliest surviving documentary evidence of strain in their relationship. Cited also in Beutel, Causa Wolffiana [see note 1], 132. 85 Contra Beutel, Causa Wolffiana [see note 1], 133. I am not aware of evidence that Wolff’s Metaphysics appeared in print before 1720, the year on the title page.
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provocative 1721 lecture on Chinese practical philosophy. If indeed the faculty harbored no earlier suspicion of Wolff’s philosophical principles, then Lange’s allegation may well deserve credence.86 In any case, what cannot be doubted is that Wolff’s Pietist critics ultimately saw Wolff’s metaphysics and ethics, whatever dangers they or parts of them may have posed, as an aberration from the sound achievements in mathematics with which Wolff had begun his career in Halle. Even after King Frederick William I had banned the sale and teaching of Wolff’s ethics and metaphysics and expelled Wolff from Brandenburg-Prussia, Wolff’s other works remained unscathed; and even as Halle’s Pietist theologians began to be portrayed by Wolff’s defenders as enemies of rationality and of philosophy, Wolff’s mathematics continued to be taught in Francke’s schools.87 The most general lesson to be drawn from Geiger’s story, then, is that this great set-piece in eighteenth-century intellectual history should be invoked with caution. If the story of Wolff’s expulsion is truly an emblem for some longer struggle between Enlightenment and its religious detractors, then that struggle, like the story itself, needs to be re-imagined. Here, at least, Hartmann offers us sound guidance – albeit by negative example. He distorted the story of Wolff’s expulsion by projecting a conflict between biblical fanaticism and the progressive forces of rationality too far into the past. Especially in light of his over-eager misappropriation of the Geiger story, there can be no mistaking that Hartmann’s influential account of Pietist attitudes toward philosophy in general and toward Wolff in particular as simply and statically hostile rather than complex, dynamic, and conflicted is an ex post facto caricature, designed to prejudice its audience. In presenting it, Hartmann substituted a simple scenario with obvious heroes and villains – the classic polemical device – for a genuinely perplexing controversy rooted both in longer-term theoretical disagreements about human psychology and in the perennial practical challenges of designing and implementing a program for the moral education of children. As we reflect more generally upon the relationship between religion and Enlightenment, we must not follow Hartmann’s example. Thinking in terms of religious fanaticism, as Hartmann invites us to do, can easily dull the edge of the scepticism with which we approach the eighteenth-century polemics, such as Hartmann’s, that helped popularize the very category. It can lead us, even as we search for religious Enlightenments free of such fanaticism,88 to continue projecting conflict between progressive, Enlightenment rationality and regressive, anti-Enlightenent fanaticism where it doesn’t
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Contra Hartmann, Anleitung [see note 2], 46, cited in Beutel, Causa Wolffiana [see note 1],
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See above, note 14. As described in e. g. Simon Grote: Review-Article: Religion and Enlightenment. In: Journal of the History of Ideas 75.1, 2014, 137–160. 88
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belong.89 If resisting this temptation, by contrast, allows us to sweep aside Hartmann’s caricature of the conflict between Wolff and his critics and expose a controversy about the foundation of morality, then we may also find such controversy hidden beneath our own projection, no less deceptive than Hartmann’s, of a crusade against anti-rational fanaticism onto the Enlightenment itself.90
89 One segment in the history of that projection can be glimpsed in: Aufklärung um 1900: die klassische Moderne streitet um ihre Herkunftsgeschichte. Hg. v. Georg Neugebauer [u. a.]. Paderborn 2014. 90 For the financial support necessary to carry out the research on which this essay is based, I thank the Francke Foundations, the Interdisciplinary Center for Pietism Research, and the Interdisciplinary Center for European Enlightenment Research in Halle for a four-month Fritz-Thyssen Fellowship in late 2009. For help with the research, I am grateful above all to the archivists, librarians, and administrators of the A. H. Francke Study Center and the Archive of the MartinLuther University Halle-Wittenberg, and particularly to Carmela Keller and Erika Pabst. For a plethora of helpful suggestions and much encouragement along the way, including on the text of this essay, I thank Christian Flow, Anthony Grafton, Joel Lande, Reimar Lindauer-Huber, Yair Mintzker, Jonathan Sheehan, Friedemann Stengel, Kelly Whitmer, Johan van der Zande, several anonymous peer reviewers, and all those in attendance on two occasions on which I have presented the results of this research: a lecture in Winter 2009 at the Interdisciplinary Center for European Enlightenment Research in Halle and a presentation to the Princeton University Early Modern European History Workshop in Spring 2012.
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MARKUS WEGEWITZ
„Alles wie im Waysenhaus“: Johann Ulrich Drießler und der hallische Pietismus in Frederica, Georgia1 1. Einleitung We want here some men fit for School masters, one at Frederica and one at the Darien, Also a Sedate and Sober minister with some experience in the world, whoe’s first heat of Youth is over.2
Die obigen Worte dokumentieren den ersten Schritt in der Berufung eines Pfarrers für eine Gemeinde auf dem nordamerikanischen Kontinent. Präziser gesprochen handelt es sich um die Besetzung einer Stelle in der gerade gegründeten britischen Kolonie Georgia, in deren Verlauf sich James Edward Oglethorpe – der maßgebliche Organisator der Kolonisation – an Johann Martin Boltzius wandte, um sich einen geeigneten Kandidaten für das Pfarramt empfehlen zu lassen. Boltzius, selbst ein pietistischer Pfarrer hallischer Prägung, leitete diese Bitte an Gotthilf August Francke weiter, dem es mit der Person Johann Ulrich Drießlers gelang, in Europa einen geeigneten Bewerber ausfindig zu machen. Drießler trat 1743 seine neue Stelle in der Garnisonsstadt Frederica an. Mit vorherigen Erfahrungen bei der Betreuung einer Gemeinde, einer Frau, passablen Englischkenntnissen und einer theologischen Ausbildung an der Halleschen Universität erfüllte Drießler alle von Oglethorpe geäußerten Kriterien. Seiner neuen Aufgabe konnte Drießler allerdings nur für kurze Zeit nachkommen, da er schon drei Jahre nach seiner Ankunft einem Fieber erlag. 1 Für die Hilfe bei den Recherchen zu diesem Text bin ich den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Studienzentrums August Hermann Francke der Franckeschen Stiftungen zu Halle und insbesondere Jürgen Gröschl zu Dank verpflichtet. Ebenso verdienen Organisatoren und Teilnehmer des Workshops „Beginnende Globalisierung des Luthertums durch pietistische Reformgruppen im 18. Jahrhundert“ im November 2012 sowie die beiden anonymen Gutachter den Dank des Autors für ihre kritischen Anmerkungen, ohne die dieser Text ein anderer wäre. 2 Brief von James Edward Oglethorpe an die Trustees for the Establishment of the Colony of Georgia in America, Frederica, 28.04.1741. In: The Colonial Records of the State of Georgia. Bd. 23: Original Papers, Correspondence, Trustees, General Oglethorpe and Others, 1737–1740. Hg. v. Allen D. Candler. Atlanta 1913, 23 f., hier 24.
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Drastischer ausgedrückt: Gegenstand dieser Untersuchung ist ein Pfarrer, der erst nach langem Warten seine Reise nach Amerika antreten konnte, dort nur eine kleine deutschsprachige Gemeinde vorfand, und schon nach wenigen Jahren verstarb. Die Frage nach der Relevanz des Themas ist also durchaus gerechtfertigt. Im Gegensatz zu den Salzburger Emigranten in der 1736 gegründeten Siedlung Ebenezer und ihren hallischen Pfarrern kann Drießlers Gemeinde in Frederica beispielsweise nicht beanspruchen, in der heutigen amerikanischen Gesellschaft in Gestalt eines Boltzius-Preises oder in Form der Georgia Salzburger Society erinnert zu werden. Auch in der historischen Dimension wirkt der Einfluss der deutschsprachigen Siedler in Frederica gegenüber dem weitaus größeren und wirtschaftlich erfolgreichen Ebenezer marginal. Aus der Sicht des Autors sprechen trotz dieser Einwände vor allem zwei Argumente für eine Beschäftigung mit dem Wirken Drießlers im Kontext des kolonialen Georgia: Zum einem ist die Tätigkeit des Pfarrers in der bisherigen Forschung zwar durchaus zur Kenntnis genommen, aber selten adäquat behandelt und wiedergegeben worden. In den Darstellungen der klassischen amerikanischen Kolonialhistorie spielt der Name Drießler zumeist nur eine Nebenrolle. Die Geschichte der Stadt Frederica schreibt sich über weite Strecken vor allem militär-, politik-, und wirtschaftsgeschichtlich. Während War of Jenkins’ Ear und Battle of Bloody Marsh detailliert untersucht werden, erscheint die Vita eines deutschen Pfarrers leider nicht als das Objekt akademischer Anstrengungen.3 Eine Ausnahme bilden in dieser Hinsicht die Arbeiten von G. F. Jones, der zum Schwerpunkt der deutschsprachigen Einwanderer der Kolonie publiziert und ediert hat.4 Die Beschäftigung mit dem Thema Drießler war in den Arbeiten dieses Historikers unumgänglich, wenngleich auch nicht frei von Fehlern.5 Auch Kurt Aland, einer der Editoren und Übersetzer der Korrespondenz des pietistischen Pfarrers Heinrich Melchior Mühlenberg, bietet keine verlässlichen Auskünfte.6 Weiterhin sei auf zwei Passagen in der Dissertation des Theologen H. Winde verwiesen, die bis zum 3 Inkorrekte Angaben zu Drießler finden sich beispielsweise in einem wesentlichen Überblickswerk zur Geschichte Georgias; vgl. Kenneth Coleman: Colonial Georgia: A History. Nendeln 1989, 158. 4 S. George F. Jones: Colonial Georgia’s Second Language. In: The Georgia Review 21.1, 1967, 87–100; ders.: ’In Frederica the Oysters Grow on Trees’: A 1745 Letter from Its Lutheran Pastor, Johann Ulrich Driesler. In: The Georgia Historical Quarterly 79.4, 1995, 885–903. Der edierte Brief entspricht der Signatur AFSt/M 4 C 1 : 69 im Archiv der Franckeschen Stiftungen zu Halle [im Weiteren AFSt]; ders.: The Germans of Frederica. St. Simons Island 1996. 5 Jones datiert den Besuch des Predigers Hermann Heinrich Lemke bei Drießler in Frederica nach dem Tod des Letzteren; vgl. George F. Jones: The Georgia Dutch: From the Rhine and Danube to the Savannah, 1733–1783. Athens 1992, 126. 6 Zum Beispiel war Drießler nicht „auf eigene Faust“ nach Frederica gereist. Weiterhin ist das Todesdatum des Pfarrers zu vage datiert; vgl. Heinrich Melchior Mühlenberg: Die Korrespondenz Heinrich Melchior Mühlenbergs: Aus der Anfangszeit des deutschen Luthertums in Nordamerika Bd. 1: 1740–1752. Hg. v. Kurt Aland. Berlin 1986, 138 Anm. 2, 294 Anm. 33.
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heutigen Zeitpunkt als maßgeblich für die Beschreibung von Drießlers Biographie gelten können.7 Auch neuere Ansätze in der Erforschung des Pietismus, wie etwa die Analyse der mit ihm verknüpften transnationalen Netzwerke, lassen Drießler und seinen Wirkungsort unberücksichtigt, obwohl sich der Pfarrer zweifelsohne einen Platz im „Ebenezer Communication Network“ verdient hätte.8 Die Forschung mit dem netzwerkorientierten Ansatz widmet sich bisher vor allem jenen Akteuren der pietistischen Gemeinschaften, die an den Schnittstellen der globalen Kommunikation wirkten, die Distribution materieller Güter von Europa aus überwachten oder sich in Indien, Nordamerika und vielen anderen Teilen der Welt prominent an der Mission und dem Aufbau neuer Gemeindestrukturen beteiligten. Im Vergleich mit Friedrich Michael Ziegenhagen, G. A. Francke oder Samuel Urlsperger nimmt die Person Drießler einen Platz in der Peripherie des Beziehungsgeflechts des hallischen Pietismus ein.9 Diese Untersuchung widmet sich dementsprechend nicht vordergründig der systematischen Analyse eines Netzwerks. Ausgehend von einem individuellen Akteur sollen vielmehr die Strukturen und Handlungsregelmäßigkeiten in den Blick genommen werden, nach denen sich in der einem deutschen Pfarrer denkbar fremden Lebenswelt einer nordamerikanische Kolonie fragen lässt. Gerade in diesem Zusammenhang bietet Drießlers Wirken in Frederica eine Chance für die Untersuchung der Persistenz der Institutionen des hallischen Pietismus in einem äußerst volatilen Umfeld, wie sie in der sozial, kulturell und ökonomisch relativ homogenen Gemeinde Ebenezer so nicht möglich gewesen wäre. Es ist das Ziel dieser Untersuchung, die Funktionen dieser Institutionen verständlich zu machen und herauszuarbeiten, ob sie sich im Kontext des kolonialen Georgia behaupten konnten. Aus einer transatlantischen Perspektive heraus kann weiterhin gefragt werden, inwieweit bei der Erschließung der Kolonie versucht wurde, die Werte und Strukturen des hallischen Pietismus institutionell zu verankern. Als Quelle zur Beantwortung dieser Fragestellungen steht zum einen die Korrespondenz zur Verfügung, die im Zuge der Berufung des Pfarrers vor 7 S. Hermann Winde: Die Frühgeschichte der lutherischen Kirche in Georgia: Dargestellt nach den Archivalien der Franckeschen Stiftungen in Halle und der Universitätsbibliothek in Tübingen. Diss. Halle, 1961, 91–94, 174–177. 8 Alexander Pyrges: Religion in the Atlantic World: The Ebenezer Communication Network, 1732–1828. In: Pietism in Germany and North America, 1680–1820. Hg. v. Jonathan Strom [u. a.]. Farnham 2009, 51–67. 9 Zur Analyse von Patronage und Kommunikation im Netzwerk des hallischen Pietismus siehe etwa: Donald F. Durnbaugh: Communication Networks as One Aspect of Pietist Definition. The Example of Radical Pietist Connections between Colonial North America and Europe. In: Pietism in Germany and North America [s. Anm. 8], 33–50; Thomas J. Müller-Bahlke: Atlantische Missionen und religiöse Netzwerke. In: PuN 33, 2007, 166–168; Alexander Pyrges: Network Clusters and Symbolic Communities. In: Communication in the Eighteenth-Century Protestant Atlantic World. Hg. v. Jonathan Strom. Leiden 2010, 199–224.
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und während seines Wirkens in Georgia entstanden ist. Dabei handelt es sich um eine Reihe von Briefen zwischen Drießler, G. A. Francke, Samuel Theodor Albinus, S. Urlsperger und anderen Mitgliedern des pietistischen Netzwerks, die im Archiv der Franckeschen Stiftungen in Form einer Akte zusammengefasst vorliegt.10 Innerhalb der Korrespondenz finden sich der Entwurf von Drießlers Vokationsurkunde11 sowie ein außergewöhnlich detaillierter Bericht über die Amtsführung des Pfarrers, den Drießler im Juli 1744 anfertigte.12 Zu Drießlers Aktivitäten vor der Ankunft in Nordamerika sind weiterhin einige Briefe in der Staatsbibliothek zu Berlin überliefert.13 Obwohl Drießlers Korrespondenz nahezu vollständig erhalten geblieben ist, fehlt das Tagebuch des Pfarrers. Das Führen eines Diariums war für pietistische Pfarrer nicht nur üblich, sondern fester Bestandteil einer intensiven religiösen Selbstbetrachtung,14 wie bei Hermann Heinrich Lemke, J. M. Boltzius und vielen anderen Pietisten außerhalb Europas deutlich wird. Obwohl Drießler explizit das Führen eines Tagebuchs und dessen Versand nach Halle erwähnt,15 wurde das Dokument weder in den von S. Urlsperger herausgegebenen Ausführlichen Nachrichten veröffentlicht, noch lässt es sich in den relevanten Archiven ermitteln.16 Ein Blick auf die Selbstreflexion der religiösen Praxis Drießlers wird damit erschwert. 10 AFSt/M 4 C 1. Einzelne Auszüge und Reproduktionen der Drießler betreffenden Korrespondenz existieren weiterhin in der Library of Congress in Washington, D. C. Dabei handelt es sich um Fotokopien, die 1932 von den Originalen in den Franckeschen Stiftungen angefertigt wurden. 11 Berufung von Gotthilf August Francke für Johann Ulrich Drießler zum Prediger in Frederica, Halle, 07.03.1743 = AFSt/M 4 C 1 : 35. 12 Brief von Johann Ulrich Drießler an Gotthilf August Francke, Frederica, 30.07.1744 = AFSt/M 4 C 1 : 67. 13 S. Staatsbibliothek zu Berlin [im Weiteren Stab]; F 9/5: 1–5; eine Abschrift der beiden Briefe von Johann Ulrich Drießler an Gotthilf August Francke, Gröningen, 14.08.1738 wurde veröffentlicht in: Theodor Wotschke: Neue Urkunden zur Geschichte des Pietismus in Bayern. In: ZBKG 9, 1934, 173–178. 14 Vgl. Horst Weigelt: Geschichte des Pietismus in Bayern: Anfänge, Entwicklung, Bedeutungen. Göttingen 2001, 367. 15 Brief von Johann Ulrich Drießler an Gotthilf August Francke, Frederica, 28.01.1745 = AFSt/M 4 C 1 : 69, Bl. 237, 240, 243. 16 S. Ausführliche Nachricht Von den Saltzburgischen Emigranten, Die sich in America niedergelassen haben: Worin, Nebst einem Historischen Vorbericht von dem ersten und andern Transport derselben, Die Reise-Diaria Des Königlichen Groß-Britannischen Commissarii und Der beyden Saltzburgischen Prediger, wie auch Eine Beschreibung von Georgien imgleichen verschiedene hierzu gehörige Briefe enthalten. Hg. v. Samuel Urlsperger. Halle, 1735–1752. Ergänzend wurden folgende Archive und Bibliotheken überprüft: Landeskirchliches Archiv der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Bayern; Hargrett Rare Book and Manuscript Library (University of Georgia); Archiv der Georgia Historical Society; Archiv der Georgia Salzburger Society; Archiv der Society for Promoting Christian Knowledge (University of Cambridge). Zu den bisherigen Recherchen existiert ein Beitrag auf h-pietism: http://h-net.msu.edu/cgi-bin/logbrowse.pl? trx=vx&list=H-Pietism&month=1301&week=c&msg=KfhsJkUUcApNDfiesnjSDw (letzter Zugriff am 25.04.2015).
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Der Zugriff auf Institutionen und auf die Institutionalisierung über EgoDokumente muss kritisch hinterfragt werden, umso mehr, wenn diese Dokumente aus der Hand einer einzigen Person stammen. So wie sich schon G. A. Francke durchaus skeptisch gegenüber dem Handeln des designierten Pfarrers in Georgia zeigte – beispielsweise wies er Drießlers Bitte um Berufung nach Amerika anfänglich zurück und warnte davor, dass Drießler sich auf unlautere Tätigkeiten einlassen könnte17 – gilt es Drießlers eigene Beobachtungen und Werturteile mit dem Aussagen anderer Quellen, wo dies möglich ist, zu supplementieren. Dabei kann auf Korrespondenz und pragmatische Schriften zurückgegriffen werden, die von den Trustees for the Establishment of the Colony of Georgia in America, lokalen Amtsträgern in Frederica und Offizieren der britischen Armee verfasst wurden.18 Außerdem ist eine rege postalische Beziehung zwischen Drießler und J. M. Boltzius dokumentiert.19 Basierend auf der von Drießler beschriebenen Lebenswirklichkeit in Georgia lassen sich verschiedene Bereiche identifizieren, deren Untersuchung in Hinsicht auf die institutionelle Verstetigung sozialen Verhaltens lohnenswert erscheint. Zunächst wird dabei der Kontext der Kommunikation innerhalb des Netzwerks des hallischen Pietismus analysiert. Mit Blick auf die Prämisse, dass konfessionell geprägte Schulen und Schulmeister oft die einzige Möglichkeit zum Erwerb von Bildung im kolonialen Georgia boten,20 soll auf die pädagogische Arbeit Drießlers und im weiteren Sinne auch auf die Gemeindearbeit des Pfarrers eingegangen werden. Dabei sind Drießlers Bemühungen um die Waisenkinder der Stadt hervorzuheben. Da in Frederica, ebenso wie in Ebenezer, regelmäßig Lieferungen aus den Beständen der Glauchaschen Anstalten eintrafen, soll weiterhin die Distribution von pietistischer Literatur und medizinischen Produkten in Frederica untersucht werden. Nachfolgend soll aber zunächst auf die funktionale Dimension von Institutionen, auf die
17 Vgl. Brief von Gotthilf August Francke an Johann Martin Boltzius, Halle, 19.07.1746 = AFSt/M 5 A 11 : 38, 160. 18 Für die Edition des Materials zeichnet vor allem Allen D. Candler verantwortlich; s. The Colonial Records of the State of Georgia Bd. 22.2: Original Papers, Correspondence, Trustees, General Oglethorpe and Others. 1741–1742. Hg. v. Allen D. Candler. Atlanta 1904; The Colonial Records of the State of Georgia Bd. 23 [s. Anm. 2]; The Colonial Records of the State of Georgia. Bd. 24: Original Papers, Correspondence, Trustees, General Oglethorpe and Others. 1742–1745. Hg. v. Allen D. Candler. Atlanta, 1915; The Colonial Records of the State of Georgia. Bd. 25: Original Papers, Correspondence, Trustees, General Oglethorpe and Others, 1745–1750. Hg. v. Allen D. Candler. Atlanta 1915; Weiteres Material findet sich in den Editionen der Georgia Historical Society; s. Georgia Historical Society. Collections of the Georgia Historical Society. Bd. 3. Savannah 1873. 19 S. Johann Martin Boltzius. The Letters of Johann Martin Boltzius, Lutheran Pastor in Ebenezer, Georgia: German Pietism in Colonial America, 1733–1765. Bd. 2. Hg. v. Russell C. Kleckley in Zus.arb. mit Jürgen Gröschl. Lewiston 2009. 20 Vgl. Linda L. Arthur: A New Look at Schooling and Literacy: The Colony of Georgia. In: The Georgia Historical Quarterly 84.4, 2000, 563–588, hier 564–567.
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Biographie Drießlers sowie auf den historischen Kontext seines Handelns in Frederica eingegangen werden. 2. Funktion von Institutionen in den Sozialwissenschaften Der weitestgehende Konsens in den Sozialwissenschaften zum Begriff der Institution definiert diese analytische Kategorie als stabile, relativ dauerhafte Handlungsregelmäßigkeiten im Verhalten von Menschen, Gruppen und Organisationen.21 Institutionen sind damit integraler Teil der sozialen Wirklichkeit und stellen Muster zur Moderation von Konflikten, Strategien zur Festigung einer Gemeinschaft und Angebote zur Sinnstiftung bereit. In besonderer Weise berührt die funktionale Dimension von Institutionen das Phänomen des Pietismus, dem schon Max Weber die Prägung durch eine äußerst rationale, „methodisch gepflegte und kontrollierte Lebensführung“ zugeschrieben hat.22 Entgegen einer Vorstellung von Institutionen, die diese Strukturen lediglich als Begrenzungen für menschliches Handeln anerkennt, soll hier von einer gezielten, zweckorientierten Etablierung dieser Strukturen durch einen historischen Akteur ausgegangen werden. Bei der akteurzentrierten Betrachtung von Institutionen lassen sich drei verschiedene Aspekte unterscheiden: Erstens sichern Institutionen die Selbsterhaltung eines sozialen Systems und dienen in verschiedenen Maßen regulativ zur Durchsetzung der Normen einer Gemeinschaft. Soziale und kulturelle Rollen werden zugeteilt, Beziehungsmuster und Hierarchien entstehen. Zweitens wird durch Institutionen relational die soziale Kohäsion unter ihren Partizipienten gefördert. Hierzu gehört im engeren Sinne vor allem die Kommunikation der Mitglieder einer Institution untereinander sowie die Allokation von sozialen Belohnungen und Strafen. Drittens stifteten Institutionen Sinn, verstanden als kulturgeschichtliche Kategorie, die Deutungsangebote für die individuelle Wirklichkeit bereitstellt und Identität hervorbringt. Sinnstiftung, beispielsweise durch die Betonung von Alterität gegenüber anderen Gemeinschaften, soll daher als kulturelle Funktion von Institutionen definiert werden.23 Diese drei Funktionen – regulativ, relational, kulturell – dienen als Basis der Untersuchung von Drießlers Wirken in Frederica.
21 Vgl. Karl-Heinz Hillmann u. Günter Hartfiel: Art. „Institution“. In: Wörterbuch der Soziologie. Hg. v. dens. Stuttgart 2007, 381 f. 22 Max Weber: Die protestantische Ethik: Eine Aufsatzsammlung. Hg. v. Johannes Winckelmann. Gütersloh 1991, 135. 23 Vgl. Werner Fuchs-Heinritz: Art. „Institution“. In: Lexikon zur Soziologie. Hg. v. dems. u. Urs Stäheli. Wiesbaden 2011, 308 f.
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3. Zur Person Johann Ulrich Drießlers Drießlers Wissen um die Institutionen des Halleschen Pietismus stammt aus den unmittelbaren Erfahrungen, die er in den Glauchaschen Anstalten sammeln konnte. Anstatt nach dem Ende seines Studium der Theologie direkt in das Pfarramt zu wechseln, begann Drießler zunächst eine Tätigkeit in den Anstalten, „wo [ihm] der liebe göttliche Versorger [. . .] ettliche Jahre den Tisch gedeckt hat“.24 In Halle erwarb Drießler sowohl theologische als auch pädagogische Kompetenzen.25 1716 begann Drießler seine Tätigkeit als Lehrer im Halleschen Waisenhaus, gefolgt von einer Anstellung als Kantor im nahegelegenen Polleben und der Rückkehr nach Halle 1722.26 1731 wurde Drießler als Pastor auf eine Pfarrstelle in Rügland berufen. Schon kurz darauf wechselte er in die Grafschaft Crailsheim, um dort die Gemeinde des Dorfes Gröningen zu betreuen. Aus Drießlers Korrespondenz während seiner Tätigkeit werden die Patronage G. A. Franckes und die Orientierung an seinen Erfahrungen im Halleschen Waisenhaus deutlich sichtbar. 1738 bekundete Drießler beispielsweise: Meiner Gemeinde habe öffentlich einmal gesagt: Mein erstes Wort beim Eintritt in den Himmel soll der Dank sein, daß mich Gott zu den frommen H. Prof. Francken und in sein Waisenhaus geführt hat. Alldorten ist meine geistlichere Geburtsstätte, und er mein geistlicher Vater gewesen.27
In derselben Quelle lässt sich auch das Interesse des Pfarrers an den globalen Aktivitäten Franckes ablesen, für dessen Missionsprojekt in Indien Drießler Spendengelder zusicherte.28 Als Pfarrer, der eine pietistische Prägung gleichermaßen selbst beanspruchte wie von außen zugesprochen bekam, sah sich Drießler mit Gegenspielern aus den Reihen der lokalen Eliten konfrontiert. In seiner Korrespondenz berichtet Drießler von einer missgünstigen Gräfin und dem Bestreben eines Anwalts am Hof, die Entlassung des Pfarrers zu erwirken.29 Mit der Entfernung Drießlers von „Ort und Amt“ durch den kurfürstlichen Magistraten in Crailsheim 24
Wotschke [s. Anm. 13], 174. Eine ähnliche Vermutung äußert H. Winde; vgl. Winde [s. Anm. 7], 174. Leider fehlt Drießlers Eintrag im Informatorenverzeichnis der Franckeschen Stiftungen (AFSt/H D 24a), das erst ab 1727 geführt wurde. In der Matrikel der Universität Halle-Wittenberg ist Drießler als „Johann Ulrich Drießlein“ eingetragen. Der Beginn des Studiums lässt sich auf den 18.04.1712 datieren; vgl. Matrikel der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg: Teil 1. Hg. v. Fritz Juntke. Halle 1960, 126. 26 Vgl. Friedrich W. Kantzenbach: Pietismus in Ansbach. In: Der Pietismus in Gestalten und Wirkungen. FS Martin Schmidt. Hg. v. Heinrich Bornkamm [u. a.]. Bielefeld 1975, 286–299, hier 294. 27 Wotschke [s. Anm. 13], 174. 28 Vgl. Wotschke [s. Anm. 13], 174. 29 Vgl. Wotschke [s. Anm. 13], 177. 25
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1741 war der Widerstand gegen den hallischen Pfarrer letztendlich erfolgreich. Nach diesem Ereignis fanden Drießler und seine Frau in einer Reihe von süddeutschen Städten Obdach und wurden durch zahlreiche Sympathisanten und aktive Mitglieder des pietistischen Netzwerks unterstützt. Drießler hielt sich unter anderem in Schwäbisch Hall auf und predigte erfolgreich in Augsburg – eine Tätigkeit, bei der er beinahe zwangsläufig mit dem Senior des dortigen Predigerseminars S. Urlsperger in Kontakt kam. Während der gesamten Zeitspanne korrespondierte Drießler mit G. A. Francke, der ihm schließlich das Angebot für die Pfarrstelle in Georgia unterbreitete. In den folgenden Monaten verhinderten wahlweise Bedenken um Drießlers Gesundheit, unzuverlässige Informationen über den Ausgang des Konflikts zwischen England und Spanien in Nordamerika, mögliche politische Konsequenzen des Prozesses gegen J. E. Oglethorpe vor dem britischen Parlament oder die fehlende Sicherheit bei der Finanzierung von Reise und Pfarrstelle eine zügige Weiterreise nach Frederica.30 Ein weiterer Grund für die extensive Deliberation der Eignung Drießlers und das anfängliche Zögern Franckes könnte in den Gerüchten um dessen moralische und religiöse Fehltritte begründet liegen. Noch aus seiner Zeit in Halle haftete Drießler der Vorwurf an, unerlaubten Kontakt zu einer Frau gehabt zu haben.31 Weitaus gravierender für Francke dürfte das Gerücht um Drießlers angebliche Zugehörigkeit zu den Kreisen der Herrnhuter Brüdergemeinde gewesen sein, das im Ansbacher Konsistorium kursierte.32 Trotz der sehr geringen Chance, dass es sich dabei um mehr als üble Nachrede handelte, bestand ein in solchen Angelegenheiten rigoroser G. A. Francke vor der Abreise des Pfarrers nach Frederica auf der offiziellen Versicherung Drießlers, nicht der Lehre der Herrnhuter anzuhängen.33 Als Drießler schließlich zum Jahreswechsel 1743/44 in Georgia eintraf, konnte der 51-jährige Pfarrer auf einen langen Zeitraum persönlicher und postalischer Beziehungen mit S. T. Albinus, S. Urlsperger und G. A. Francke zurückblicken.34 Seit dem Beginn seiner theologischen Ausbildung hatte 30 Weitere biographische Details finden sich im Eintrag zu Johann Ulrich Drießler in der Datenbank des Studienzentrums August Hermann Francke: http://192.124.243.55/cgi-bin/ gkdb.pl?t_show=x&reccheck=93626 (letzter Zugriff am 25.04.2015). 31 Vgl. Teil eines Briefes von Johann Ulrich Drießler an Justinus Töllner, Halle 1715 = Stab/F 9/5: 5. 32 „Schon als Präzeptor Kaufmann noch lebte, erzählte man sich viel von seiner und des Schusters Hinneigung zu Zinzendorf und dessen Anhänger Pfarrer Drießler zu Gröningen.“ (Karl Schornbaum: Religiöse Bewegungen im Markgrafentum Brandenburg-Ansbach im 18. Jahrhundert. In: BBKG 15, 1910, 145–168 u. 193–216, hier 200) 33 Vgl. Brief von Samuel Urlsperger an Johann Ulrich Drießler, Augsburg, 29.09.1742 = AFSt/M 4 C 1 : 9, Bl. 32. 34 Drießler war damit deutlich älter als andere pietistische Pfarrer, die von Halle aus nach Nordamerika gesandt wurden. J. M. Boltzius (Jahrgang 1703) und H. M. Mühlenberg (Jahrgang 1711) waren zum Zeitpunkt ihrer Berufung nach Nordamerika erst in ihren 30ern. Inwieweit Drießlers fortgeschrittenes Alter die Entscheidung zu seiner Berufung beeinflusst hat, geht nicht aus den konsultierten Quellen hervor.
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Drießler an der europäischen Dimension der Institutionen des hallischen Pietismus partizipiert. Es ist zu zeigen, inwieweit es ihm gelang, sein erworbenes Wissen auch im Kontext der Gemeinde von Frederica anzuwenden. 4. Das koloniale Frederica Der Bau der Festung Frederica wurde von J. E. Oglethorpe 1735 als Teil eines Programms zur Errichtung von Verteidigungsanlagen an der Ostküste Georgias angeordnet. Festung und dazugehörige Siedlung lagen an der Westseite von St. Simons Island, einer strategisch günstigen Position zur Kontrolle der Wasserwege an der Ostküste Georgias. Der militärische Zweck dieser Siedlung verlieh Frederica das Lokalkolorit einer Garnisonsstadt, deren zivile Einrichtungen in erster Linie den Familien der Soldaten dienten. Die Garnison bestand in der Regel aus zwei Kompanien aus J. E. Oglethropes Regiment und kann auf etwa 250 Soldaten geschätzt werden.35 Neben den Soldaten wurde die Stadt vor allem von Indianerhändlern und Pflanzern bewohnt, die ihre Plantagen auf den umliegenden Inseln bewirtschafteten. Zum Zeitpunkt von Drießlers Ankunft im Dezember 1743 lebten in Frederica 62 deutschsprachige Bewohner – in der Sprache der Zeit „Dutch“ oder „Germans“. Die Mehrzahl dieser Immigranten stammte aus Württemberg, der Pfalz oder der Schweiz und hatte zur Finanzierung der Reise nach Georgia einen Redemptionsvertrag geschlossen.36 Hinsichtlich der Erwerbsstruktur gab es in Frederica neben Einwanderern, die als Dienstboten bei den ansässigen englischen Familien beschäftigt waren, auch deutschsprachige Überseeund Indianerhändler, Ärzte und Plantagenbesitzer, von denen der Branden35
Vgl. Albert C. Manucy: The Fort at Frederica. Tallahassee 1962, 116. Brief von Johann Ulrich Drießler an Gotthilf August Francke, Frederica, 30.07.1744 = AFSt/M 4 C 1 : 67, Bl. 246. Dabei handelte es sich um einen Teil von Thompson’s Redemptioners, deren Dienste J. E. Oglethorpe 1742 für £ 826 erstanden hatte. Ein Irrtum der älteren Forschung ist dabei die Annahme, dass es sich bei der deutschen Bevölkerung in Frederica um Emigranten aus Salzburg gehandelt habe. Im Katalog der Ausstellung „Reformation, Emigration, Protestanten in Salzburg“ findet sich beispielsweise der Verweis auf Salzburger in Frederica; vgl. Horst Kenkel u. Gerhard Florey: Salzburger in Amerika. In: Reformation, Emigration, Protestanten in Salzburg. Hg. v. Friederike Zaisberger. Salzburg 1981, 134–137, hier 135; Weiterhin stellt Florey die Behauptung auf, dass Salzburger unter der Führung Drießlers nach Frederica gekommen seien; vgl. Gerhard Florey: Geschichte der Salzburger Protestanten und ihrer Emigration, 1731/32. Wien 21986, 188; ders. zitiert ebenfalls inkorrekt aus Johann J. Moser: Das Neueste Von denen Saltzburgischen Emigrations-Actis. Bd. 3. Leipzig 1732, hier findet sich verständlicherweise keine Aussage über Frederica; zu diesem Missverständnis haben vermutlich zwei Begebenheiten beigetragen: Zum einem war es die ausdrückliche Intention J. E. Oglethorpes, den dritten Transport der Salzburger in Frederica anzusiedeln. Zum anderen wurden die für diesen Transport bestimmten Werkzeuge und Vorräte nach Frederica versandt, obwohl sich die Salzburger lediglich am Bau der Festung beteiligten und anschließend in Ebenezer siedelten; vgl. Norbert Stein: ‚Kinder, ihr sollets bey mir gut haben!’: Chronik der Marschzüge Salzburger Emigranten 1731 bis 1741. Bielefeld 2011, 620. 36
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burger Chirurg Friedrich Holtzendorf und der Schweizer Pflanzer Samuel Augspurger namentlich bekannt sind.37 Ein Jahr nach seiner Ankunft in Georgia übernahm Drießler zusätzlich die Verantwortung für die Gottesdienste der englischsprachigen Bewohner der Stadt, nachdem sich Thomas Bosomworth, der örtliche anglikanische Pfarrer, für eine Karriere als Pflanzer entschieden hatte.38 Im Ergebnis stellt sich die von Drießler betreute Gemeinde als eine konfessionelle Mischung dar, die im an Pfarrern notorisch knappen kolonialen Georgia als typisch gelten kann. Selbst der deutschsprachige Kern von Drießlers Gemeinde war in dieser Hinsicht keineswegs homogen: Neben württembergischen Lutheranern gab es schweizerisch-reformierte Protestanten, aber dezidiert keine Pietisten hallischer Prägung.39 Die Mehrzahl der Mitglieder des englischsprachigen Teils von Drießlers Gemeinde gehörte einer anglikanischen Konfession an. Sowohl George Whitefield als auch die Wesley-Brüder hatten vor Drießlers Ankunft in Frederica gepredigt. Drießler war ab Mai 1745 ebenfalls als Kaplan für die in der Festung der Stadt stationierten Soldaten verantwortlich, so dass auch einige iro-schottische Presbyterianer in seine Zuständigkeit fielen. Obwohl einige Mitglieder der Herrnhuter Brüdergemeine sich zeitweise an der Indianermission versuchten, berührten ihre Aktivitäten kaum das Umfeld Fredericas, so dass eine Fortsetzung der in Europa wahrnehmbaren Konkurrenz zumindest für Drießlers Gemeinde keine Rolle spielte.40 Sowohl konfessionell als auch sozial und ökonomisch lässt sich das Umfeld, in dem Drießler in Georgia arbeitete, als äußerst heterogen begreifen. Viele andere Fälle der religiös motivierten Migration, beispielsweise das Projekt Ebenezer, sind durch eine homogene soziale Gemeinschaft und deren Bindung an einen festen geographischen Ort bestimmt, durch welche die soziale Kohäsion der Gemeinde sichergestellt wurde.41 In Frederica konnte Drießler im Gegensatz dazu nur eingeschränkt auf solche Mechanismen zur Herstellung sozialer Stabilität zurückgreifen. Die Arbeit der Mitglieder seiner Gemeinde auf den Plantagen beschränkte die Möglichkeiten der sozialen Interaktion zwischen Pfarrer und den deutschsprachigen Bewohnern Fredericas. Die demographische Fluktuation in Folge des militärischen Konflikts zwischen England und Spanien behinderte die Sicherstellung der geographischen Konstanz der Gemeinde. Das Fehlen von Mitgliedern in der eigenen 37
Vgl. Jones, The Georgia Dutch [s. Anm. 5], 64 f. Vgl. Brief von Johann Ulrich Drießler an Friedrich Michael Ziegenhagen, Frederica, 17.02.1746 = AFSt/M 4 C 1 : 76, Bl. 301. 39 Vgl. Brief von Johann Ulrich Drießler an Gotthilf August Francke, Frederica, 30.07.1744 = AFSt/M 4 C 1 : 67, Bl. 243. 40 Vgl. Helene M. Kastinger Riley: ’If you want to be the Lord’s servant, Resign yourself to Confrontation’: The Pietist Challenge in Early Georgia. In: Pietism in Germany and North America [s. Anm. 8], 199–213, hier 203–205. 41 Vgl. Charlotte E. Haver: Von Salzburg nach Amerika: Mobilität und Kultur einer Gruppe religiöser Emigranten. Göttingen 2005, 19 f. 38
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Gemeinde, die mit der Praxis des hallischen Pietismus vertraut waren, erschwerte die Übertragung von theologischen und dogmatischen Überlegungen in die Lebenswelt und alltägliche Praxis der kolonialen Siedlung. Diese Kontexte der Unsicherheit und Volatilität lassen die Notwendigkeit der Etablierung von religiösen Institutionen für seine Gemeinde – aber auch für Drießler selbst – als umso notwendiger erscheinen. 5. Kommunikation im Netzwerk des hallischen Pietismus Bei der Übermittlung von Nachrichten nach Europa blieb Drießler in Frederica, ebenso wie die anderen Bewohner der Stadt, auf die Schiffe angewiesen, die regelmäßig die Route zwischen Großbritannien und der nordamerikanischen Kolonie befuhren. Dieser Modus des Transportes von Korrespondenz war zumindest am Anfang von Drießlers Wirken in Frederica nicht ohne Risiko, da die Kapitäne der Schiffe unter britischer Flagge die Anweisung hatten, bei einer Bedrohung durch spanische Kaperschiffe die gesammelten Dokumente ihrer Passagiere in einem bleiernen Behälter zu versenken.42 In der Regel adressierte Drießler seine Briefe an die Hofkapelle in Kensington bei London, von der aus sie nach Halle und Augsburg weitergeleitet wurden. Selbst ohne die Unwägbarkeiten der Atlantikpassage war die Korrespondenz zwischen Nordamerika und Europa langwierig und vollzog sich oft in einem Turnus von fünf bis acht Monaten zwischen Schreiben und Antwort. Trotzdem (oder gerade deswegen) war Drießler – wie die meisten pietistischen Pastoren in Nordamerika – ein eifriger Korrespondent und nutzte jede Gelegenheit, um seine Erfahrungen und Beobachtungen weiterzugeben. Aus den drei Jahren seines Wirkens in Frederica haben sich sieben umfangreiche Briefe an S. T. Albinus, F. M. Ziegenhagen, S. Urlsperger und G. A. Francke erhalten. Damit partizipierte Drießler an einem Kommunikationsnetzwerk, dass nicht nur den Atlantik überspannte, sondern auch die pietistischen Eliten in Europa mit einem Netz von Korrespondenten, Spendern und Organisationen verband, das von Dänemark bis auf den indischen Subkontinent reichte.43 Daher verwundert es nicht, dass die Berufung Drießlers nach Georgia zusammen mit der Übermittlung von Dokumenten aus dem indischen Madras und Cuddalore diskutiert wurde.44 42
Drießler selbst berichtet von dieser Vorsichtsmaßnahme auf seiner Reise mit der McLane von London nach Georgia; vgl. Brief von Johann Ulrich Drießler an Gotthilf August Francke, Frederica, 30.07.1744 = AFSt/M 4 C 1 : 67, Bl. 237. 43 Prägnant zu diesem Netzwerk: Alexander Pyrges: Wüsten und Weinberge: Religiöse Raumbeschreibungen und Kolonisierungspraxis in einem transatlantischen protestantischen Kommunikationsnetzwerk des 18. Jahrhunderts. In: Topographien des Sakralen. Hg. v. Susanne Rau u. Gerd Schwerhoff. Hamburg 2008, 370–395; ders., Religion in the Atlantic World [s. Anm. 8]. 44 Vgl. Brief von Samuel Theodor Albinus an Gotthilf August Francke, Kensington, 12.04.1743 = AFSt/M 4 C 1 : 44, Bl. 148.
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In ihrer relationalen Dimension versuchte Drießler über die Institution der Kommunikation sein Bedürfnis nach geistlichem Zuspruch und Hinweisen zum Umgang mit seiner Gemeinde zu befriedigen. Vor allem in den frühen Briefen des Pfarrers aus Amerika findet sich die Bitte um „demütige Ermahnungen“ bezüglich seiner Amtsführung in Frederica, die er G. A. Francke wortreich mitzuteilen pflegte.45 Der Direktor des Waisenhauses in Halle war allerdings nur bedingt bereit, Drießlers Bitte zu erfüllen und verwies den Pfarrer stattdessen an J. M. Boltzius in Ebenezer. In der Tat lässt sich aus den überlieferten Briefen zwischen Drießler und Boltzius auf einen regen Austausch und auf ein gutes Verhältnis zwischen den beiden Pastoren hallischer Prägung schließen.46 Der nach einigen Amtsjahren desillusionierte Drießler plante sogar, seinen Lebensabend in Ebenezer zu verbringen.47 Natürlich war Drießler bei der Kommunikation innerhalb der Kolonie nicht allein auf Korrespondenz angewiesen, sondern stattete schon kurz nach seiner Ankunft anderen Gemeinden Besuche ab und hielt im Februar 1744 eine Gastpredigt in Savannah sowie eine Betstunde in Ebenezer.48 Durch die Kommunikation mit den Mitgliedern des pietistischen Netzwerks partizipierte Drießler an einer transatlantischen Öffentlichkeit und an den Nachrichten aus der „alten Welt“. Beispielsweise tauschte er sich mit G. A. Francke über den Tod Kaiser Karls VII. 1745 aus.49 Ebenso bemühte sich der Pfarrer in jedem seiner Schreiben, den verschiedenen Händlern, Bürgern und Wohltätern, die ihn nach seiner Vertreibung aus Gröningen und während seiner Reise nach London beherbergt und unterstützt hatten, Dank und Grüße zu übermitteln. Es ist davon auszugehen, dass Drießler die Inhalte der Briefe aus Europa mit den Mitgliedern seiner Gemeinde geteilt hat. Anekdotenhaft berichtet er über eine Frau, die ihre Dankbarkeit für den geistlichen Zuspruch aus Europa auf ungewöhnliche Weise ausdrücken wollte: Vor etwa 5 Tagen brachte mir eine Frau in einem Gefäß ein paar Hände voll Beeren aus dem Walde. Als sie fortging sagte sie mir [. . .] ich wolle gar den frommen Männern in Europa nochmal so viel lesen, wann ihr sie könntet hinschicken? Da ich ihr die handgreifliche Unmöglichkeit vorstellte u. sie ermahnte anstatt dieses Geschencks für dieselben zu beten u. ihr gutes Herz dem Herrn Jesu zu ergeben.50
45 Brief von Johann Ulrich Drießler an Gotthilf August Francke, Frederica, 30.07.1744 = AFSt/M 4 C 1 : 67, Bl. 217. 46 Vgl. Boltzius [s. Anm. 17], 417. 47 Vgl. Boltzius [s. Anm. 17], 435. 48 Vgl. Brief von Johann Martin Boltzius an Gotthilf August Francke, Ebenezer, 24.02.1744 = AFSt/M 5 A 11 : 24, S. 89. 49 Vgl. Brief von Johann Ulrich Drießler an [Samuel Theodor Albinus], Frederica, 03.05.1745 = AFSt/M 4 C 1 : 74, Bl. 189. 50 Auszug eines Briefs von Johann Ulrich Drießler an [Gotthilf August Francke] und/oder [Samuel Urlsperger], Frederica, 10.04.1745 = AFSt/M 4 C 1 : 71, Bl. 272.
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Im Bewusstsein Drießlers war die Einbindung in die transatlantische pietistische Gemeinschaft ein Akt der Sinnstiftung. Gerade weil die meisten Mitglieder seiner Gemeinde den Begriff des Pietismus ebenso wenig wie den Namen Francke einzuordnen wussten, suchte der Pfarrer über die beschriebenen Kommunikationswege Kontakt zu Gleichgesinnten und versicherte sich ihrer Solidarität. So wie Drießler aktiv den Kontakt zu bestimmten Pfarrern und Autoritäten suchte, so grenzte er sich von anderen ab. Drießlers Missfallen traf unter anderem den 1746 in Frederica eingetroffenen Prediger Bartholomäus Zuberbühler, der die Inhalte der von F. M. Ziegenhagen in Kensington gehaltenen Predigten nicht wiederzugeben vermochte und sich wegen seines offensichtlichen Desinteresses an den Aktivitäten der Pietisten in Europa den Zorn Drießlers zuzog.51 Da Prediger und Pfarrer in der kolonialen Periode Georgias nur in geringer Anzahl zur Verfügung standen, verhinderten pragmatische Zwänge eine übermäßig dogmatische Abgrenzung von dem anglikanischen Prediger Thomas Bosomworth, mit dem zusammen Drießler in der Stadt eingetroffen war und dessen Trauung er 1744 vollzog.52 Während der Ausübung seines Amts in Frederica fand Drießler zwar durchaus lobende Worte für die Liturgie des anglikanischen Book of Common Prayer, bewertete den Ablauf der in Frederica gehaltenen (in Drießlers Worten „sogenannten“) Gottesdienste aber als zu monoton, zeigte sich über das in seinen Augen ungebührliche Verhalten der Gemeinde entsetzt und äußerte sein Missfallen über die Amtsführung von Bosomworths Vorgänger: Er hat ein paar mal von seinem alten Manuskript ein Sermon hergelesen; die Leuthe aber reden recht sünd[ig] u. ärgerlich darum, sagen sie wüssten sie schon auswendig und 3 solcher geschriebenen Predigten könnte man in London um 5 Thaler etc. Wiewohl dieser elendige mann seit unserer Herkunft in allen kaum 3 Monate hier gewesen ist, da ich denn auf schriftliches Ersuchen des Gouverneurs d. Amtlichen Gottesdienst u. auf herzliches Bitten der armen Leute bey 38 Wochen lang alle AmtsVerrichtungen, taufen, begraben, kopulieren [d. h. verheiraten, d. Vf.] musste, ohne Absicht einen Heller zu erwarten.53
Diese harsche Kritik bietet eine Gelegenheit, sich den Adressaten von Drießlers Beurteilung der Vertreter anderer Konfessionen in Erinnerung zu rufen: In nahezu allen Fällen handelte es sich um G. A. Francke. Der Umstand, dass Drießler nicht das uneingeschränkte Vertrauen Franckes besaß,54 und das ersichtliche Bemühen Drießlers, Franckes Vertrauen in seine 51 Vgl. Brief von Johann Ulrich Drießler an Friedrich Michael Ziegenhagen, Frederica, 17.02.1746 = AFSt/M 4 C 1 : 76, Bl. 295. 52 Vgl. Brief von Johann Ulrich Drießler an Gotthilf August Francke, Frederica, 30.07.1744 = AFSt/M 4 C 1 : 67, Bl. 250. 53 Vgl. Brief von Johann Ulrich Drießler an Gotthilf August Francke, Frederica, 28.01.1745 = AFSt/M 4 C 1 : 69, Bl. 258. 54 Trotz des guten Zeugnisses, das J. M. Boltzius Drießler ausstellte, zweifelte Francke unter
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Person und Arbeit zu stärken, lassen den scharfen Kontrast zwischen dem pietistischen Pfarrer und den Angehörigen der anderen protestantischen Kirchen in Frederica in einem weicheren Licht erscheinen. Weiterhin ist beachtenswert, dass Drießler vermutlich sogar mit denkbar radikalen religiösen Akteuren Umgang hatte. Namentlich betrifft diese Beschreibung den in Frederica inhaftierten Sozialutopisten Christian Gottlieb Priber, der sich dem Schutz der Cherokee-Indianer und Sklaven vor der Ausbeutung durch die europäischen Siedler verschrieben hatte.55 G. F. Jones geht davon aus, dass Priber Drießler bei der Übersetzung von Bibelstellen in die Sprache der Cherokee behilflich war. In der Tat erwähnt die Korrespondenz des Pfarrers seit Januar 1745 seine Übersetzungsarbeit, nicht aber den Namen Pribers. Unbestritten bleibt dennoch, dass Priber und Drießler sich 1744 gemeinsam in Frederica aufhielten und dass viele der gebildeten Bewohner der Stadt regelmäßig das Gespräch mit dem Visionär suchten.56 Auch das Verhältnis des deutschen Pfarrers zu den politischen und administrativen Autoritäten in Frederica muss betrachtet werden. Während Drießlers Pfarramt in Europa eng mit den Strukturen des landesherrlichen Kirchenregiments verknüpft war, gestalteten sich die Zustände in Georgia denkbar verschieden. Die Tolerierung diverser evangelischer Konfessionen und die fehlende Bereitschaft der britischen Administration zur Durchsetzung bestimmter religiöser Agenden befremdeten den Pfarrer. Drießler formulierte immer wieder die Erwartung, dass der oft abwesende J. E. Oglethorpe zumindest die schlimmsten der von ihm wahrgenommenen Ärgernisse maßregeln solle. Drießler pflegte ein gutes Verhältnis zu dem Kommandanten Fredericas, William Horton, der seinerseits eine hohe Meinung von dem deutschen Pfarrer hatte und ihn, zu Drießlers maßloser Freude, mit „Doctor“ betitelte.57 Drießler integrierte sich ebenfalls in die zivilgesellschaftlichen Institutionen der Stadt, indem er als Übersetzer für die Jury des örtlichen Gerichts diente und den deutschsprachigen Migranten die Funktionsweise der englischen Justiz nahebrachte.58 Aus den aufgeführten Indizien geht hervor, dass Drießlers Interaktion mit seiner Gemeinde und den Vertretern anderer Denominationen durch die Teilhabe des Pfarrers am pietistischen Kommunikationsnetzwerk geprägt wurden. Vor allem in der Kommunikation innerhalb dieser pietistischen Gemeinschaft ist eine Heuristik erkennbar, welche Drießlers soziale Kontakte anderem an der Amtsführung Drießlers; vgl. Brief von Gotthilf August Francke an Johann Martin Boltzius, Halle, 24.07.1745 = AFSt/M 5 A 11 : 30, 127. 55 Zur Person Pribers s. Ursula Naumann: Pribers Paradies: Ein deutscher Utopist in der amerikanischen Wildnis. Frankfurt/Main 2001. 56 Vgl. Jones, The Georgia Dutch [s. Anm. 5], 65–67. 57 Vgl. Brief von William Horton an Harman Verelst, Frederica, 20.09.1746. In: The Colonial Records of the State of Georgia [s. Anm. 17] 25, 120–122, hier 121 f. 58 Vgl. Brief von Patrick Graham an die Trustees, Josephs Town, 13.09.1746. In: The Colonial Records of the State of Georgia [s. Anm. 17] 25, 108–111, hier 111.
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reguliert und deren Präsentation entscheidend beeinflusst hat. Auf einer abstrakteren Ebene lässt sich ablesen, dass die Briefe aus Europa für Drießler, mit den Worten C. Havers, einen Teil seiner „geistigen Heimat“ ausmachten.59 Für Drießlers Gemeinde manifestierte sich eine solche „geistige Heimat“ in der konkreten Amtsführung ihres Pfarrers, die in Bezug auf Gemeindearbeit und Pädagogik eng an das Vorbild des Halleschen Waisenhauses angelehnt war. 6. Pädagogik und Gemeindearbeit In Drießlers Korrespondenz findet sich eine Beschreibung des Curriculums, das der Pfarrer für die Mitglieder seiner Gemeinde entworfen hatte. Der Unterricht stand prinzipiell allen Bewohnern Fredericas offen, so dass der Pfarrer zwischen verschiedenen Altersklassen unterscheiden musste: Während die kleineren Kinder und Jugendlichen Kenntnisse im Lesen, Schreiben und Rechnen erwarben und vor allem in der Katechese unterwiesen wurden, bot Drießler auch den Erwachsenen eine Möglichkeit zum Erlernen basalen orthographischen Wissens.60 Da Drießlers Unterricht eines der wenigen Angebote zur Schulbildung in Georgia außerhalb Ebenezers und Savannahs darstellte, besuchten auch die Kinder der englischsprachigen Siedler die Schule in Frederica. Drießler war weiterhin bemüht, jene Familien auf den Plantagen außerhalb der Stadt zu erreichen, die zu weit von der Stadt entfernt lebten, um regelmäßig am Unterricht oder am Gemeindeleben teilzunehmen. Insgesamt verwendete Drießler bis zu sieben Stunden seines Tages auf seine pädagogischen Bemühungen, zumindest wenn es seine Gesundheit zuließ. Seine Tätigkeit als Schulmeister machte Drießler beliebt, sodass die Bewertung John Terrys, des örtlichen Berichterstatters für die Trustees der Kolonie, denkbar positiv ausfiel: The Revd. Mr. Drisler [. . .] is Extreamly well Liked by Every body here and Acknouledged to be a Worthey Pastor, but more particularly By the Germans, He takes a Great deal of pains Not only In instructing all their Childrens in Reading, Writing & in The foundamantal Articles of their faith.61
Die Verknüpfung von Katechese und Unterricht, die Auswahl der Lieder aus dem Gesangbüchern und deren Wiedergabe im Gottesdienst sowie die Bibel-Exegese durch umfangreiche Rezitation und Wiederholung waren an den Prinzipien orientiert, die sich Drießler während seiner Tätigkeit in Halle 59
Vgl. Haver [s. Anm. 41], 158. Vgl. Brief von Johann Ulrich Drießler an Gotthilf August Francke, Frederica, 30.07.1744 = AFSt/M 4 C 1 : 67, Bl. 244. 61 Brief von John Terry an die Trustees, Frederica, 27.08.1744. In: The Colonial Records of the State of Georgia [s. Anm. 17] 24, 246–269, hier 266. 60
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angeeignet hatte. Dass seine Kinder alles „wie im Waysenh[aus]“ lernten, formulierte Drießler explizit.62 Als ähnliche Übertragung von europäischen Strukturen in den amerikanischen Kontext kann das Engagement für Waisenkinder beschrieben werden, das in Drießlers Briefen wiederholt thematisiert wird. Das Waisenhaus der Anstalten war innerhalb Europas und auch in Nordamerika eines der bekanntesten Symbole des hallischen Pietismus und diente als direktes Vorbild für die Gründung einer solchen Einrichtung in Ebenezer. Auch das von George Whitefield gegründete Waisenhaus in Savannah kann zum Teil auf das hallesche Beispiel zurückgeführt werden. Drießler hatte in Frederica weder die finanziellen Mittel noch den nötigen Einfluss, um selbst ein mit den anderen Projekten in Georgia vergleichbares Waisenhaus zu errichten. Seine Bemühungen vollzogen sich in einem kleineren Maßstab. Die Waisen von Frederica hatten ihre Eltern in der Regel während der Reise von Europa nach Amerika verloren. Wenn es sich um die Kinder von Passagieren handelte, die sich mit einem Kontrakt zur Abarbeitung ihrer Reisekosten verpflichtet hatte, versuchten die Kapitäne zumeist die Waisen für die Erfüllung des Redemptions-Vertrags verantwortlich zu machen. In einem anderen Fall waren die Eltern von drei Geschwistern, die Drießler unter seine Obhut nahm, kurz nach der Ankunft in Georgia gestorben. Nachdem das elterliche Gepäck zur Bezahlung der Reise eingezogen worden war, hatten die drei Kinder auf einer Plantage zu arbeiten, die in der darauffolgenden Zeit im Zuge des Kriegs zwischen England und Spanien verwüstet wurde. Drießler nahm die Waisen anschließend in seinem Pfarrhaus auf und beteiligte sie am Schulunterricht.63 Später bezog er die Gemeinde in die Betreuung der Waisen mit ein und organisierte den Bau einer separaten Unterkunft, die zugleich als Gästehaus für jene Siedler diente, die einen langen Anreiseweg zum sonntäglichen Gottesdienst in der Stadt hatten. Drießler erläuterte gegenüber Francke fortlaufend die Entwicklung seiner Waisenkinder und deren Fortschritte beim Rezitieren von Bibelversen. Abseits der Dokumentation seines eigenen Erfolges diente Drießler das Beispiel seiner Waisenkinder auch als Mittel zur Kontrastierung der restlichen Gemeinde, über die er sich deutlich kritischer äußerte. Drießler fand zur Beurteilung seiner Gemeindeglieder scharfe Worte: Der größte Theil meiner Herde ist so nichtsnutzig wahrlich, daß ich echt[en] Hertzens Kummer habe u. viele nicht eines Schweine-Hirtens, geschweige ehrlichen Pre-
62 Brief von Johann Ulrich Drießler an Gotthilf August Francke, Frederica 30.07.1744 = AFSt/M 4 C 1 : 67, Bl. 244. Eine ähnliche Formulierung wählte Drießler schon während seiner Tätigkeit in Gröningen: „Ich habe es aber gehalten, wie ichs in den Anstalten des lieben Waisenhauses gelernt habe.“ (Zit. n.: Wotschke [s. Anm. 13], 173) 63 Brief von Johann Ulrich Drießler an Gotthilf August Francke, Frederica, 30.07.1744 = AFSt/M 4 C 1 : 67, Bl. 249.
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digers werth sind, da [. . .] sinds ein Abschaum von allen Unrat u. sie die Erde ihres Vaterlands gleichsam ausgespien hat.64
Auch J. M. Boltzius wusste zu berichten: „[A]n Erwachsenen u. Kindern in s[einer] kleine Gemeine hat er Freude wenn er aber nur zum Fenster heraus sieht, oder hört, was auf der Straße vorgeht, so hat er wegen der großen Sünden u. Unordnungen große Betrübnis.“65 Ob Drießlers Äußerungen die Situation in Frederica korrekt wiedergeben, muss dennoch relativiert werden. Bei den Gottesdiensten waren die deutschsprachigen Glieder der Gemeinde im Gegensatz zu den englischsprachigen nahezu immer anwesend. Flüche und andere Anzeichen für mangelnde Pietät diagnostizierte Drießler dagegen – wenig überraschend – für die gesamte Bevölkerung der mit einer größeren Garnison belegten Stadt. Auch die in Frederica anwesenden Indianer, für die Drießler ein besonderes Interesse hegte, sah der Pfarrer durch diese Zurschaustellung europäischer Verdorbenheit bedroht.66 Andererseits korrespondiert Drießlers Herabsetzung seiner Gemeinde mit der Betonung seiner eigenen Schwäche und Unvollkommenheit gegenüber den Adressaten seiner Briefe, die für viele pietistische Autoren typisch ist und in diesem Fall über die Konventionen der Höflichkeit hinausgeht. Dabei korrespondiert Drießlers Herabsetzung der eigenen Person mit seinem herablassenden Urteil über seine Zeitgenossen. Seiner persönlich geäußerten Bewertung der Gemeinde zum Trotz bemühte sich Drießler um die Organisation von regelmäßigen Betstunden und Konventikeln, wobei ihm seine Krankheit und die Größe seiner Gemeinde physische Grenzen setzten. Die Ausübung von Pädagogik und Seelsorge sowie die Betreuung von Waisenkindern kann als institutionelle Replikation der halleschen Strukturen betrachtet werden. Drießlers Tätigkeiten lassen sich dabei jedoch nicht als rein pietistische Institutionen begreifen, sondern stellten meist das einzige Angebot zur Bereitstellung von Bildung und Betreuung für die marginalisierten Teile der Stadtbevölkerung dar. Insbesondere der konfessionell-gebundene Unterricht kann als beispielhaft für die Verfasstheit des Schulsystems im kolonialen Georgia gelten.67 64 Brief von Johann Ulrich Drießler an Gotthilf August Francke, Frederica, 28.01.1745 = AFSt/M 4 C 1 : 69, Bl. 266. Der letzte Satz bezieht sich auf Lev 18,25. 65 Brief von Johann Martin Boltzius an Gotthilf August Francke, Ebenezer, 29.12.1744. AFSt/ M 5 A 11 : 23, 87. 66 Vgl. Brief von Johann Ulrich Drießler an Gotthilf August Francke, Frederica, 28.01.1745 = AFSt/M 4 C 1 : 69, Bl. 259. Drießler beherbergte Creek- oder Cherokee-Indianer in seinem Pfarrhaus und versuchte sich im Abfassen eines Wörterbuchs ihrer Sprachen. G. A. Francke bestätigte ihn in seinen Versuchen zur Mission der Indianer, die mit dem Tod Drießlers allerdings ein frühes Ende fanden; vgl. Brief von Johann Ulrich Drießler an [Samuel Theodor Albinus], Frederica, 03.05.1745 = AFSt/M 4 C 1 : 74, Bl. 289 f. 67 Vgl. Thomas J. Korčok: Forward to the Past: A Study of the Development of the Liberal Arts in the Context of Confessional Lutheran Education with Special Reference to a Contemporary Application of Liberal Education. Diss. Amsterdam 2009, 107 f.
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7. Distribution von pietistischer Literatur und medizinischen Produkten Bücher aus der Bibliothek der Glauchaschen Anstalten und den Pressen der Cansteinschen Bibelanstalt sowie Arzneimittel wie die bekannte Essentia Dulcis waren innerhalb Europas ein Faktor für den ökonomischen Erfolg des Halleschen Waisenhauses. Auch an Mitglieder des pietistischen Netzwerks wie Drießler und Boltzius wurden diese Produkte verschickt, sodass die ominösen Transportkisten voller Literatur und Medizin beziehungsweise deren Fehlen oder Verlust immer wieder Thema in zahlreichen Briefen waren. Das so entstandene Versandsystem war in der Entstehungszeit europäischer Siedlungen in Georgia eine der wenigen Möglichkeiten des regelmäßigen Bezugs von professionell hergestellten Medikamenten und versprach, neben dem rein humanitären Nutzen, die Erschließung eines neuen Absatzmarktes für die Produkte des Halleschen Waisenhauses.68 Drießler scheint seine „Kisten“ aus Ebenezer erhalten zu haben, wo er sie beispielsweise Anfang 1744 in Empfang nahm und zu Pferde weiter nach Frederica transportierte.69 Über Bedarf und Verbrauch der Halleschen Medikamente in der Stadt lassen sich nur wenige belastbare Aussagen treffen: Es ist gesichert, dass Drießler einige Arzneien für sich und seine Familie nutzte. Drießler versuchte ebenfalls, sein begrenztes medizinisches Wissen den Bedürfnissen im kolonialen Umfeld entsprechend zu erweitern und praktizierte die Techniken des Aderlassens und des Schröpfens – zumeist zum Nachteil seiner Frau Regina, die ihrem Ehemann als Probandin für seine Bemühungen diente.70 Weiterhin kann davon ausgegangen werden, dass der Pfarrer seine Medikamente und sein Wissen innerhalb seiner Gemeinde zur Verfügung stellte. Auch wenn Drießlers häufige Krankheiten eine hohe Nachfrage an medizinischen Produkten gerechtfertigt haben, so lässt sich doch auf einen noch deutlich größeren Bedarf an pietistischer Literatur schließen. Drießler hatte den Großteil seines persönlichen Buchbestandes bei einem Schiffsunglück auf dem Rhein bei Düsseldorf verloren und bat G. A. Francke um die Übersendung einiger essentieller Texte des hallischen Pietismus nach Frederica. Der Pfarrer verfügte sechs Monate nach seiner Ankunft in Georgia über die Schrifftmäßigen Lebens-Regeln, das Collegium Pastorale sowie die Monita Pastoralia Theologica, durchweg aus der Feder August Hermann Franckes. Weiterhin las Drießler A. H. Franckes Erklärung Der Psalmen Davids und konnte eine Canstein-Bibel aus der Bibliothek des Waisenhauses sein Eigen nennen. Abseits 68 Vgl. Renate Wilson: Pious Traders in Medicine: A German Pharmaceutical Network in Eighteenth-Century North America. University Park 2000, 107. 69 Vgl. Brief von Johann Ulrich Drießler an Gotthilf August Francke, Frederica, 30.07.1744 = AFSt/M 4 C 1 : 67, Bl. 243. 70 Brief von Johann Ulrich Drießler an Gotthilf August Francke, Frederica, 28.01.1745 = AFSt/M 4 C 1 : 69, Bl. 267.
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der persönlichen Lektüre pietistischer Literatur verwendete Drießler Johann Anastasius Freylinghausens Geistreiches Gesangbuch in Katechese und Gottesdienst. Für seine ständig wachsende Zahl von Schulkindern sah der Pfarrer sich gezwungen, aus Halle zahlreiche Abc-Bücher und andere Lernmaterialien anzufordern. Der kleine Vorrat an solchen Publikationen, den der Pfarrer noch in Europa angelegt hatte, war in Frederica bald aufgebraucht. Zur weiteren Verbreitung der Literatur des Waisenhauses trug die Verteilung von erbaulichen Texten an deutsche Seeleute bei.71 8. Fazit Die erörterten Aspekte der Kommunikation, Pädagogik und Gemeindearbeit sowie die Distribution materieller Erzeugnisse des Halleschen Waisenhauses erlauben es im Falle Drießlers, ein facettenreiches Bild des Pfarrers innerhalb eines Geflechts pietistischer Institutionen zu zeichnen. Einige Institutionen, wie die Medien der Kommunikation innerhalb des Netzwerks der Anstalten, waren reliabel genug, um von Drießler ohne Einschränkungen übernommen zu werden. Andere Bereiche der Lebenswirklichkeit des Pfarrers im kolonialen Nordamerika machten Modifikationen der Institutionen des hallischen Pietismus erforderlich. Die Nutzung dieser Institutionen in einem neuartigen Umfeld durch den historischen Akteur beinhaltet gleichermaßen Elemente der Replikation wie der Innovation. Auch wenn der Begriff der Institution die Verstetigung von Verhaltensmustern impliziert, muss im vorliegenden Fall ebenso die Prozesshaftigkeit der Institutionalisierung betont werden. Im Gegensatz zu der von Boltzius geleiteten Gemeinde in Ebenezer, deren Zusammensetzung und Abgeschiedenheit günstige Bedingungen für die Replikation pietistischer Strukturen bot, begrenzten die soziale und konfessionelle Pluralität Fredericas den Handlungspielraum Drießlers. Neben einer Geschichte der Institutionen des Pietismus ließe und lässt sich mit Drießlers Vita eine Geschichte der deutschen Einwanderung in die nordamerikanischen Kolonien, eine Geschichte der deutschen Sprache in Georgia und eine Geschichte der Entwicklung des konfessionell gebundenen Schulwesens schreiben.72 Eine der Stärken der in dieser Untersuchung gewählten Betrachtungsweise gegenüber solchen Narrativen ist die Betonung der Einbindung des Pfarrers in transatlantische Netzwerke. Drießler war immer mehr als Schulmeister, Pastor oder Teil der lokalen Eliten Fredericas. In erster Linie
71 Vgl. Auszug eines Briefs von Johann Ulrich Drießler an [Gotthilf August Francke] und/oder [Samuel Urlsperger], Frederica, 10.04.1745 = AFSt/M 4 C 1 : 71, Bl. 274. 72 Einige Versuche: Rita Folse Elliott: Guten Tag Bubba: Germans in the Colonial South. In: Another’s Country. Hg. v. J. W. Joseph. Tuscaloosa 2001, 79–92, hier 84–87; Jones, Colonial Georgia’s Second Language [s. Anm. 4], 97; Arthur [s. Anm. 19], 580.
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war er Mitglied einer globalen pietistischen Gemeinschaft. Die Quellen sprechen dafür, dass diese Feststellung kein nachträgliches Konstrukt ist, sondern auch für Johann Ulrich Drießler unmittelbar handlungsleitend war. Die Einbindung in die Institutionen des hallischen Pietismus wirkte individuell sinnstiftend.73 Wenn man den Einfluss dieser Institutionen auf die Lebenswirklichkeit der pietistischen Pfarrer akzeptiert, verschwimmt die kulturelle Dichotomie zwischen „alter“ und „neuer Welt“. Die Strukturen der Kommunikationsbeziehungen sowie die religiöse und kulturelle Zugehörigkeit bestimmen das Verhältnis zwischen verschiedenen sozialen Gruppen und Akteuren weit mehr, als es das Kriterium der geographischen Entfernung vermag. Abschließend lässt sich feststellen, dass relationale, regulative und kulturelle Funktionen der betrachteten Institutionen nicht nur auf der individuellen Ebene den Zugriff auf das verdichtete Wissen der pietistischen Gemeinschaft erlauben, sondern ebenfalls als Mittel für die Herstellung sozialer Kohäsion dienen. Das Streben Drießlers nach dem Aufbau eines lokalen Schulsystems und seine Bemühungen zur Organisation eines intensiven Gemeindelebens sprechen dafür, dass sich auch der Pfarrer dieser integrativen Dynamik bewusst war. Nicht nur in Bezug auf Drießlers Gemeinde erscheint die Erforschung der Institutionen des Pietismus bei der Analyse von Prozessen der Vergemeinschaftung, Integration und Akkulturation als relevant.74 Der Autor dieses Beitrags gesteht ein, dass die Beurteilung der Wirkung der Institutionen auf die soziale Gemeinschaft jenseits der Grenzen dieser Untersuchung liegt. Zum Teil ist dieser Mangel der Quellenlage geschuldet. Den des Schreibens zum großen Teil nur bedingt mächtigen Menschen, um die Drießler sich bemühte, hat Klio nicht die Chance eingeräumt, ihre Reaktionen auf das Handeln des Pfarrers zu überliefern. Aussagen über den Erfolg bei der Etablierung pietistischer Institutionen in Georgia verlieren weiterhin an Reichweite, wenn man sich das abrupte Ende von Drießlers Wirken in Frederica vor Augen führt: Der Zeit seines Lebens kränkliche Pfarrer erlag im November 1746 einem Fieber und wurde am 12. Dezember in Frederica bestattet. Für kurze Zeit wurde der Gottesdienstbetrieb für seine Gemeinde von Johann Joachim Zübli aufrechterhalten, aber schon im darauffolgenden Jahr verließen die meisten Mitglieder der deutschsprachigen Gemeinde Frederica in Richtung Savannah und Ebenezer. Regina Drießler, die Frau des
73 Die Kriterien des Bewusstseins einer globalen Gemeinschaft und der Solidarität werden auch als Teil einer oft versuchten Definition des Pietismus an sich diskutiert; vgl. z. B. Hartmut Lehmann: The Communities of Pietists as Challenge and as Opportunity in the Old World and the New. In: Pietism and Community in Europe and North America, 1650–1850. Hg. v. Jonathan Strom. Leiden 2010, 351–358, hier 351. 74 Vgl. Alexander Pyrges: Network Clusters and Symbolic Communities: Communication in the Eighteenth-Century Protestant Atlantic World. In: Pietism and Community [s. Anm. 73], 199–224, hier 208.
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verstorbenen Pfarrers, schrieb in diesem Jahr an S. T. Albinus, dass sich nur noch eine deutsche Familie in Frederica aufhielte.75 Nachdem die Stadt ihre deutsche Gemeinde, deren Pfarrer und vor allem ihre militärische Bedeutung verloren hatte, war sie 1751 beinahe verlassen. Einige Jahre später hatte die Wildnis den Ort zurückerobert.
75 Vgl. Brief von Regina Drießler an Samuel Theodor Albinus, Frederica, 02.05.1747 = AFSt/ M 1 E 9: 43, Bl. 165.
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OTTO TEIGELER
„Ich leide hier viel Hohn und Schmach“. Die Biographie des Herrnhuter Bruders Georg Kunz Als die fensterlose Kutsche sich entfernte, dachte ich: „Wie furchtbar einfach ist alles im Leben. Eine neue eigenständige Lebensordnung ins Alltägliche zu verwandeln ist mehr als einfach. Und die Zerstörung dieses neuen, unerhört zerbrechlichen Alltags ist noch einfacher. Das Schicksal eines Menschen und vielleicht das Schicksal der ganzen Welt – wenn man es überhaupt vom menschlichen Schicksal trennen kann – ist nur eine winzige Bewegung im Raum: ein Federstrich, ein lautes Wort, ein Schlüsseldrehen, ein Axtschwingen, ein Kugelflug [. . .].“1
Georg Kunz (1694–1775) war einer von den „kleinen Leuten“. Dass es überhaupt zu einer Abhandlung über ihn kommt, hängt mit drei Gegebenheiten zusammen: Erstens war er einigen „ganz Großen“ seiner Zeit zu Diensten; zweitens ist die Quellenlage für jemanden, der nicht zu den Großen und Wichtigen gehört, erstaunlich gut; und drittens ist die Biographie dieses Mannes denkwürdig, phasenweise dramatisch, insgesamt tragisch. Hinzu kommt ein vierter Beweggrund, sich mit Georg Kunz zu beschäftigen: Sein selbstverfasster Lebenslauf wurde nicht – wie sonst üblich – im Rahmen der Beisetzung verlesen und damit veröffentlicht, sondern auf Anweisung hin ad acta gelegt. Dieses ungewöhnliche Vorgehen weckt Neugier. Im Rahmen meiner Beschäftigung mit den Aktivitäten der Herrnhuter Brüder-Unität in Russland2 stieß ich auf die Spur von Georg Kunz. Was damals nur angedeutet werden konnte,3 soll nun aufgegriffen und aufbereitet werden.
1 Jaan Kross: Der Verrückte des Zaren. München 2007, 64. Estnischer Originaltitel: Keisri hull. Tallin 1978. 2 Otto Teigeler: Die Herrnhuter in Russland. Ziel, Umfang und Ertrag ihrer Aktivitäten. Göttingen 2006. 3 Teigeler, Russland [s. Anm. 2],126–132, 526 f., 546–550.
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1. Quellenlage Primärquellen erster Güte sind sowohl der selbstverfasste, d. h. diktierte, nicht eigenhändig niedergeschriebene Lebenslauf des Georg Kunz4 als auch eine Reihe von Briefen Kunz’ an Einzelpersonen, etwa den Syndikus David Nitschmann wie auch an die Gemeine in Herrnhut. Zudem sind Materialien vorhanden, die direkt auf das Leben von Georg Kunz Bezug nehmen, vorwiegend in Form von Briefen und Bettagsnachrichten. Auch Sekundärquellen sind reichlich vorhanden. Sie sind allerdings je nach Situation und Lebensabschnitt verstreut und müssen zusammengefügt werden. Das Leben der mährischen Exulanten und ihr Weg nach Herrnhut sind seit langem ebenso ausführlich beschrieben und erforscht wie die Anfänge des Lebens und Wirkens der Exulanten in Herrnhut. Auch die politischen Umstände während des Aufenthaltes von Kunz in Russland sind inzwischen längst aus dem Romanhaften und Anekdotischen in den Bereich des historisch Zuverlässigen transferiert worden. Diese insgesamt positive Situation wird durch einen argen Schönheitsfehler geschmälert. Ausgerechnet die wichtigste Primärquelle, der selbstverfasste Lebenslauf von Georg Kunz, wurde von höchster Stelle, nämlich von August Gottlieb Spangenberg, zensiert.5 „Joseph“, so Spangenbergs Wahlrufname, griff redaktionell in Kunz’ Text ein und legte nahe, den Lebenslauf von Kunz insgesamt „nicht zu kommunizieren“, da er mit seinen eigenen Vorstellungen und Wahrnehmungen nicht übereinstimmte:
4 Lebenslauf von Georg Kunz im Unitätsarchiv Herrnhut (im Folgenden: UA) unter R.22.29.11. Nicht eigenhändiger Lebenslauf von Kunz’ Tochter Anna Dorothea unter R.22.87.30, vormals unter R.22.69.II.32; Abschrift mit einigen Korrekturen unter R.22.78.34. Die Quellenangabe bei Moeschler (Felix Moeschler: Alte Herrnhuter Familien. Teil 1. Herrnhut 1922, 66 Anm. 1) ist überholt. Die Dienerblätter des UA erwähnen Georg Kunz nicht (zu recht, da er im organisatorischen Sinne kein „Diener“ war), wohl dessen Tochter. Dagegen berichtet Moeschler vor allem auf der Grundlage des Lebenslaufes von Kunz sehr ausführlich (66 f.). 5 August Gottlieb Spangenberg (1704–1792) studierte an der Universität Jena Theologie und erhielt 1732 an der theologischen Fakultät der Universität Halle eine Anstellung als Adjunkt. Bereits 1733 musste er auf Befehl des Königs Halle verlassen. Er schloss sich der Brüdergemeine in Herrnhut an und wurde Zinzendorfs engster Mitarbeiter. Nach Zinzendorfs Tod (1760) wurde Spangenberg 1764 von der Generalsynode in Marienborn zu dessen Nachfolger in der Leitung der Brüderunität gewählt. Die Literatur zu Leben und Werk Spangenbergs ist sehr umfangreich. Exemplarisch seien genannt: Jeremias Risler: Leben August Gottlieb Spangenbergs, Bischofs der evangelischen Brüderkirche. Barby 1794; Carl F. Ledderhose: Leben August Gottlieb Spangenbergs, Bischof der Brüdergemeine. Heidelberg 1846; Georg C. Knapp: Beiträge zur Lebensgeschichte August Gottlieb Spangenbergs. Halle 1884; Gerhard Reichel: August Gottlieb Spangenberg. Bischof der Brüderkirche. Tübingen 1906. Neuerdings enthält das Themenheft UnFr 61/62, 2009, wichtige Aufsätze zu Leben und Werk Spangenbergs.
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Ich finde den Character des seligen Bruders Kunzens nicht so beschrieben, wie ich ihn habe kennen lernen, und gebe zu überlegen, ob es nicht am besten sey, diese Personalia beyzulegen, und nicht erst zu communiciren. Joseph.
Diese „Überlegung“ Spangenbergs wurde umgesetzt und die „Personalie Kunz“ unveröffentlicht abgeheftet.6 Leider gehen neuere Untersuchungen zu den Herrnhuter Lebensläufen auf solche Korrekturen und Zensuren nicht ein und ignorieren die daraus resultierenden Folgen.7 Das ist insofern merkwürdig, als die Korrekturen in Georg Kunz’ Lebenslauf nicht singulär sind. Auch der Lebenslauf seiner Tochter wurde mit feiner Tendenz bearbeitet (s. u.). Abgesehen von der Generalkritik am Ende des Kunzschen Lebenslaufes finden sich auch im Text einige Korrekturen. Der ursprüngliche Text ist jedoch noch deutlich zu erkennen, so dass die scheinbar harmlosen Durchstreichungen einen interessanten Einblick in interne Auseinandersetzungen bzw. zumindest in Störungen im Kommunikationsverhalten geben. Insofern muss man dem Korrektor dankbar sein für seine Eingriffe. Dennoch wurde der Lebenslauf von Kunz 1856 in den Nachrichten aus der Brüder-Gemeine, also im zeitlichen Abstand von über 70 Jahren, „communicirt“.8 Dieser Abdruck trägt immer noch die Spuren der Insinuation Spangenbergs, d. h. er ist eine Bearbeitung des Originals. So fehlt z. B. die obige Bemerkung Spangenbergs („Joseph“) am Ende des Lebenslaufs, was insofern korrekt ist, als ja dieser Nachtrag nicht genuin zu Kunz’ Lebenslauf gehört, was aber andererseits verschleiert, dass hier Korrekturen vorgenommen und vom üblichen Verfahren abgewichen wurde. 6
Wichtige Sach- und Personalfragen wurden in der Direktion beraten und beschlossen und durch das Los bestätigt bzw. befragt. Bei den alltäglichen Amtsbesorgungen jedoch entfielen diese optionalen Hemmnisse in der Regel. 7 Egle Becchi: Paradigmatische Autobiographien aus pädagogischer Sicht. In: UnFr 57/58, 2006, 1–16; Christine Lost: Die Pädagogik der Lebensläufe. In: UnFr 57/58, 2006, 17–35; dies.: Das Leben als Lehrtext. Lebensläufe aus der Herrnhuter Brüdergemeine. Herrnhut/Baltmannsweiler 2007. Dagegen geht vor allem Christoph Schmidt auf das Phänomen der Zensur in Lebensläufen ein. Vgl. Vom Wir zum Ich. Individuum und Autobiographie im Zarenreich. Hg. v. Julia Herzberg u. Christoph Schmidt. Köln 2007, insbes. 35 f. Insgesamt vgl. Thomas Ruhland: Herrnhuter Missionare in Südindien. Untersuchung zur Thematisierung des Fremden und des kollektiven Selbstverständnisses anhand ihrer Lebensberichte. Magisterarbeit der Philos. Fak. Univ. Potsdam 2004; Susanne Hose: Für die Stunde meines Begräbnisses. Zur kommunikativen Funktion von Lebensgeschichten in der Herrnhuter Brüdergemeine. Ein Beitrag zum Zinzendorf-Jahr. In: Lětopis 47, 2, 2000, 78–94; Ego-Dokumente. Annäherung an den Menschen in der Geschichte. Hg. v. Winfried Schulze. Berlin 1996; Das dargestellte Ich. Studien zu Selbstzeugnissen des späteren Mittelalters und der frühen Neuzeit. Hg. v. Klaus Arnold [u. a.]. Bochum 1999; Sebastian Leutert u. Gudrun Piller: Deutschschweizerische Selbstzeugnisse (1500–1800) als Quellen der Mentalitätsgeschichte. Ein Forschungsbericht. In: Schweizer Zeitschrift für Geschichte 49, 1999, 197–221; Von der dargestellten Person zum erinnerten Ich. Europäische Selbstzeugnisse als historische Quellen (1500–1850). Hg. v. Kaspar von Greyerz [u. a.]. Köln [u. a.] 2001; Gustav Adolf Benrath: Art. „Autobiographie, christliche“. In: TRE 4, 1979, 772–789; Die Autobiographie. Zu Form und Geschichte einer literarischen Gattung. Hg. v. Günter Niggl. Darmstadt 21998; Die Autobiographie, Gestalt und Gehalt. Hg. v. Roy Pascal. Berlin [u. a.] 1965. 8 Nachrichten aus der Brüder-Gemeine („Gemeinnachrichten“), 38, 1856, I, 278–290.
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Es ist daher nötig, eine spezielle Quellenkritik vorzunehmen, d. h. zu untersuchen und zu vermerken, wie weit Kunz in seinem Lebenslauf die Dinge zutreffend beschreibt, um schließlich zu beurteilen, wie es zu dem Dissens mit Spangenberg kam, worauf dieser sich bezieht und vor allem, was dies bedeutet; denn weder die werkimmanente noch die biographisch orientierte Exegese können komplexe Ereignisse zureichend erfassen. Die systemische Komponente muss zwingend hinzukommen.
2. Georg Kunz’ Biographie 2.1 Elternhaus, Kindheit und Jugend Der älteste ermittelbare Vertreter der Familie Kunz(e) ist Hans Kunz, geb. 1654 in Zauchtental (Mähren),9 gest. 1719 in Bodenwalde.10 Er heiratete Anna, geborene Schindler (1658–1714). Der Ehe entstammen zwei Söhne, (Johann) Georg (1694–1775)11 und Hans (geb. in Zauchtental, gest. 1735 in Herrnhut).12 In seinem Lebenslauf erwähnt Georg Kunz noch eine „jüngste Schwester Anna“.13 Hans Kunz, Georgs Vater, war Bauer.14 Offensichtlich wurden auch auf seinem Hof heimlich Versammlungen abgehalten, so dass er „als ein Verfüh9 Waldhufendorf Zauchtel an der Oder/Zauchtental/Suchdol nad Odrou. Die wechselhafte Geschichte dieses Ortes beschreibt Claus Mannsbart: Chronik der Marktgemeinde Zauchtel a. d. Oder. Laupheim 2005. 10 Das im 13. Jhd. gegründete Waldhufendorf Bottenwaldt/Botenwald/Bodenwald/Butovice gehörte zur Herrschaft Fulnek. Durch die 1584 erfolgte Teilung der Herrschaft Fulnek bildeten nun die Dörfer Kunewald, Zauchtental/Zauchtel und Botenwald die neue Herrschaft Kunewald. Diese Dörfer waren drei der größten im „Kuhländchen“. Details zu Botenwald (Bedeutung des Namens, Siegel, wechselhafte Geschichte bis zur Gegenwart) im Internet zusammengestellt „aus alten Unterlagen von Egon Urban und Ferry Roscher“ von „F.S.“ (?). 11 Die Geburtsjahrangabe für Georg Kunz (1697) bei Moeschler [s. Anm. 4] ist falsch. Mannsbart [s. Anm. 9] nennt (160) ein gänzlich falsches Geburtsdatum (29.03.1695), zu Recht mit Fragezeichen. Dies ist zumindest teilweise unverständlich, da er sich auf Moeschler und auf Kunz’ Lebenslauf im UA bezieht. 12 Kunz erwähnt weder in seinem Lebenslauf noch sonst diesen Bruder Hans. Moeschler berichtet, dass dieser Hans Kunz aus Zauchtental stamme und am 28.01.1729 „Anna Helena verw. Neumann geb. Richter“ geheiratet habe und am 07.05.1735 in Herrnhut verstarb. Kurz nach seinem Tode wurde am 06.07.1735 der Sohn Johann Gottfried Kunz geboren (Moeschler [s. Anm. 4] 1, 67). Der in den Herrnhuter Quellen mehrfach erwähnte Zimmermann Melchior Kunz, ein „leichtsinniger und fauler Knecht des Herrn“, der aber einen deutlichen „Durchbruch“ erlebte (Diarium Herrnhut vom 10.02.1731; R.6.A.b.6.c), kam zwar auch aus Zauchtental, stammt aber nicht aus der Familie des Hans Kunz. Melchiors Vater war Matthes Kunz (ebd. 1, 68). 13 Mannsbart [s. Anm. 9] erwähnt diese Schwester nicht, Moeschler als „N. N. (jüngste Tochter), verheiratete sich 1726 in Mähren“ (Moeschler [s. Anm. 4] 1, 68). 14 Beschreibung des ursprünglich bewohnten und bearbeiteten Hofes Nr. 87 (Hausname: Pauer-Schendlersch) bei Mannsbart [s. Anm. 9], 382 f.
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rer ausgeschrieen wurde“ und sich viele Schmachreden anhören musste. Nachdem der letzte evangelische Pfarrer 1623 vertrieben worden war,15 wurden viele Dorfbewohner zu aktiven Anhängern der Mährischen Brüder.16 Über seine Mutter schreibt Georg Kunz: „Sie war eine gottesfürchtige Frau, und hatte einen Umgang mit dem Herrn Jesu gehabt.“ In den Hausversammlungen wurden die alten Brüderlieder gesungen, Brüderpredigten gehalten und die Jugend im Katechismus des Amos Comenius unterrichtet. Dies stand unter Strafe und wurde strengstens geahndet. Die Strafen bestanden u. a. in schwerer Festungshaft und Niederreißen des Hauses. Von Matthias Schindler (1694–1771) wird berichtet, dass er während seiner Kerkerhaft 24 Wochen lang an einen Karren geschmiedet war.17 Dennoch war der evangelische Glaube im Volk fest verwurzelt, zudem war der zuständige katholische Pfarrer in Schönau wegen seiner ausgedehnten Pfarrei nicht in der Lage, Konversionsaktivitäten gezielt und nachhaltig zu fördern bzw. Abweichungen zu unterbinden. So blieb es bei exemplarischen, manchmal eher symbolischen Strafen wie etwa die zwangsweise „Umsetzung“ des Bauern Kunz von Zauchtel nach Botenwald, weil sich dort „viel weniger Überbleibsel der alten Brüder befanden“.18 Die Maßnahme hatte eine Isolation zum Ziel und war trotz der damit verbundenen Beschwernisse eher moderat. Als jedoch die Fürstin Eleonore Barbara von Liechtenstein19 1709 die Herrschaft Kunewalde übernahm, ging sie bald energisch gegen die Anhänger des protestantischen Glaubens vor und erließ 1715 eine entsprechende Verordnung.20 Die Situation verschärfte sich nochmals, als 1721 der bis dahin die heimlichen Hausversammlungen tolerierende Pfarrer Andreas Josef Lambser 15 Am 14.08.1623 wurde die evangelische Kirche in Zauchtel durch einen kaiserlichen Kommissar „gesperrt“. Der lutherische Pfarrer Peter Gschullius musste den Ort verlassen. Für etwa hundert Jahre wurde Zauchtel nun von katholischen Pfarrern „betreut“. Da dies von Schönau aus erfolgte, war einerseits die seelsorgerliche und pfarramtliche Versorgung mangelhaft, andererseits aber auch die Überwachung der Rechtgläubigkeit der Bevölkerung lückenhaft. 16 Die mit der Niederschlagung des Böhmischen Aufstandes am Weißen Berg (08.11.1620) bald auch für das Kuhländchen beginnende Gegenreformation (1621) wurde in Fulnek durch den Kapuzinerpater Bonaventura aus Köln geleitet. Der Fulneker Brüderbischof Comenius musste unter Zurücklassung seiner Familie und all seiner Habe fliehen (Mannsbart [s. Anm. 9], 84). 17 Moeschler [s. Anm. 4] 1, 122, vgl. auch 132 f. zu Martin Schneider. 18 Das Jahr dieser „Umsetzung“ ist bislang nicht feststellbar. 19 Eleonore Barbara von Thun-Hohenstein (1661–1723) heiratete 1679 den Prinzen Anton Florian, den späteren Fürsten von Liechtenstein (1656–1721). Dieser wurde 1691 von Kaiser Leopold I. als Botschafter an den päpstlichen Hof nach Rom gesandt. Die namengebende Burg Liechtenstein befindet sich bei Mödling vor Wien. Der erste Fürst Liechtensteins war Karl von Liechtenstein, der 1608 in den Fürstenstand erhoben wurde und umfangreiche Gebiete in Böhmen, Mähren und Schlesien erwarb. 1709 erbte die Gräfin Eleonore Barbara von Thun-Hohenstein den „Thunhof“ (Jagdschloss in Hetzendorf, im Süden von Wien) und stiftete 1720 eine täglich in der Kapelle des Thunhofes abzuhaltende Messe für alle lebenden und verstorbenen Mitglieder des fürstlichen von Liechtensteinschen und von Thunschen Hauses. 20 Abgedruckt bei Mannsbart [s. Anm. 9], 87 f.
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starb und Josef Rackinger sein Nachfolger in Schönau wurde. Er und der neue Gutsverwalter Leopold Dittrich (seit 1722) übten u. a. in Verhören einen unerbittlichen Druck auf die Gläubigen aus, wobei sie es vor allem auf „verbotene Bücher“ abgesehen hatten, etwa Johann Arndts Wahres Christentum.21 Georg Kunz hatte also schon im Alter von dreizehn Jahren einen ersten und nachhaltigen Eindruck von Repressalien bekommen. Er erlebte den unfreiwilligen Umzug der Eltern von Zauchtel nach Botenwald und die dortigen Anfeindungen. Die mit einem Umzug gewöhnlich verbundenen Hoffnungen auf ein besseres Leben erfüllten sich nicht. Zum ersten Mal musste er erfahren, dass sich die Dinge nicht so befanden, wie er es sich vorgestellt hatte bzw. wie es ihm vorgestellt wurde. Auch ein weiterer Wunsch erfüllte sich nicht: Georg wollte gerne die Schule besuchen. Doch der Vater wehrte ab: „Hier in der Schule lernst du nichts als den Rosenkranz beten, ich will dich aber mit der Zeit nach Teschen in die Schule bringen.“ Ehe dies geschah, starb der Vater. Bemerkenswert ist zunächst die berechtigte Befürchtung des Vaters, dass man in der katholischen Schule von Zauchtel „nichts als den Rosenkranz beten“ lerne. Daher schwebte ihm Teschen als Schulort vor, etwa 60 km von Zauchtel entfernt in Oberschlesien. Dieser Ort hatte eine große Anziehungskraft für die unterdrückten Mähren.22 Aber zu einem Schulbesuch in Teschen kam es nicht, zum einen, weil die neue Fürstin Eleonore Barbara von Liechten-
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Mannsbart [s. Anm. 9], 88, unter Berufung auf Bruno Vejborny: Die Reformation und die Gegenreformation auf den Harrachschen Gütern im Kuhländchen. In: Das Kuhländchen 4/1922, 86–88, 97–101, 110–115, 129–132. 22 Der schwedische König Karl XII. hatte Kaiser Joseph I. in der Altranstädter Konvention von 1707 die eingegrenzte Wiederherstellung der Religionsfreiheit für die Protestanten abringen können. Teil dieser Konvention war die Rückgabe von 125 Kirchen in Mittelschlesien sowie die Erlaubnis zur Errichtung von zusätzlichen sechs „Gnadenkirchen“. Unter diesen war Teschen (heute: Cieszyn) wegen seiner geographischen Lage von besonderer Bedeutung, da sich hier Tschechen, Polen und Slowaken treffen konnten. August Hermann Francke erkannte die strategische Bedeutung dieses Ortes für sein Missionswerk. Daher betraute er einen seiner geschicktesten Vertrauensleute, den weltläufigen Kaufmann Anhard Adelung, mit der delikaten Aufgabe, diesen Ort in seinem Sinne auszugestalten und aufzubauen. Vgl. Eduard Winter: Die Pflege der west- und südslavischen Sprachen in Halle im 18. Jahrhundert. Berlin 1954, 15–21. Dennoch scheiterte dieser erste Versuch, in Teschen 1709/10 ein zweites Halle zu errichten, vor allem am Widerstand der kaiserlichen Behörden und der Jesuiten. Erst als 1719 der in Schlesien geborene und der slawischen Landessprachen kundige 31-jährige Johann Adam Steinmetz Hauptprediger in Teschen wurde, begann der zweite Versuch, den hallischen Pietismus in Schlesien zu etablieren. Der Ruf des Teschener Pfarrers Steinmetz strahlte weit ins Land, so dass viele Zauchtler sich dorthin begaben. Die Teschener Kirche bot 8.000 Plätze, davon 5.000 Sitzplätze. „Wir können davon ausgehen, daß der Besuch der Gnadenkirche in Teschen, der einzigen in erreichbarer Entfernung liegenden evangelischen Kirche, einen entscheidenden Beitrag zur Erhaltung und Wiederbelebung des evangelischen Glaubens in Zauchtel geleistet hat.“ (Mannsbart [s. Anm. 9], 87) Die Altranstädter Konvention vom 01.09.1707 ist abgedruckt in: Gustav Adolf Benrath: Quellenbuch zur Geschichte der evangelischen Kirche in Schlesien. Bd. 1. München 1992, 147–150.
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stein seit 1709 energisch gegen ketzerische Machenschaften vorging,23 zum anderen, weil Georgs Vater 1719 starb. Es wird deutlich, dass der Vater mit Teschen wohl mehr im Sinn hatte als nur einen Schulbesuch seines inzwischen über zwanzigjährigen Sohnes Georg. So kam denn Georg „als Waise“, die Mutter verstarb bereits 1714, auf den Dienst der Herrschaft nach Kunewalde und wurde dort für fünf Jahre Bediensteter ausgerechnet bei dem in Glaubensfragen unerbittlichen Verwalter Leopold Bernhard Dietrich. Er und die Fürstin zitierten mehrfach Männer zum Verhör aufs Schloss, um aus ihnen das Geständnis des Besitzes von ketzerischen Büchern und deren Herausgabe herauszupressen.24 So war die Lage, als der Zimmermann Christian David (1692–1751), einer der bekanntesten Erweckungsprediger der damaligen Zeit, nach Zauchtel kam.25 Zuvor hatte er Gelegenheit, Zinzendorf von den bedrängten Mähren zu erzählen und erhielt die Zusage, dass sich mährische Exulanten auf Zinzendorfs Besitztum ansiedeln durften. 1722 kamen die ersten Mähren in Berthelsdorf an. Als am 2. Mai 1724 die „Fünf Kirchenmänner“,26 die in besonderer Weise mit den mährischen Traditionen vertraut waren, Zauchtel verließen, erfolgte vom 29. November bis 10. Dezember 1724 eine so genannte „Generalinquisition“, in deren Verlauf zahlreiche Bewohner streng verhört und bestraft wurden. Rosina Zeisberger etwa wurde zu acht Wochen Strafarbeit verurteilt. Ein wichtiger Verhörpunkt war, ob man dem als Puschprediger 23 Der Artikel Nr. 13 ihrer Verordnung, wonach sich niemand „auf drei oder mehr Tage weckbegeben und verreisen“ soll, ohne sich bei dem ihr ergebenen Verwalter abzumelden, zielte vornehmlich auf diese Besuche der Gnadenkirche in Teschen. 24 Mannsbart [s. Anm. 9], 88. 25 Die Biographie Christian Davids wurde wegen ihrer Bedeutung für die Ansiedlung Herrnhuts oft geschrieben und ist weithin bekannt. Geradezu symbolhaft für die Bedeutung Davids ist das bekannte Bild, wie er am 17. Juni 1722 den ersten Baum fällte zum Anbau von Herrnhut. Dennoch schwanken die Angaben des Geburtsjahres nicht unerheblich, d. h. zwischen 1690 (Moeschler [s. Anm. 4] 1, 23) und 1692. Er selbst gibt sein Geburtsdatum an mit „ohngefehr [„okolo“] 1692“, Zinzendorf datierte das Geburtsdatum auf den 31. prosince [Dezember] 1690. Erst 1970 wurde im Rahmen der Erstellung eines dänischen biographischen Lexikons das Geburtsregister entdeckt, in dem Christian Davids Geburtsdatum auf dem 17. Februar 1692 verzeichnet ist. Vgl. die detaillierten Angaben bei Ludmila Plecháčová-Mucalíková: Kristián David. 1692–1751. Suchdol 2006, insbes. 6 f., 27 f.; Bildseite 3. Christian Davids nicht eigenhändiger Lebenslauf im UA R. 22. 01. a. 67, gedruckt in den Nachrichten aus der Brüdergemeine 1872, Teil 1, Heft 8. Zu Davids Bedeutung für die Auswanderung der bedrängten Mähren vgl. Moeschler [s. Anm. 4] 1, 22–24; Ernst Wilhelm Croeger: Geschichte der erneuerten Brüderkirche. Bd. 1. Gnadau 1852, 12– 41; Dietrich Meyer: Zinzendorf und die Herrnhuter Brüdergemeine 1700–2000. Göttingen 2000, 19–21; J. Taylor Hamilton u. Kenneth G. Hamilton: Die erneuerte Unitas Fratrum 1722–1957. Bd. 1. Herrnhut 2001, 28–46; Mannsbart [s. Anm. 9], 88 f. Jüngst erschien: Edita Sterik: Christian David 1692–1751. Ein Lebensbild des Gründers von Herrnhut und Mitbegründers der erneuerten Brüderunität. Herrnhut 2012. 26 David Nitschmann (1695–1772; der spätere Bischof); David Nitschmann (1703–1779; der spätere Syndikus); David Nitschmann (1696–1729; der Confessor); Johann Teltschik/Töltschig (1696–1764); Melchior Zeisberger (1701–1781).
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(Buschprediger) verleumdeten Christian David Unterkunft und Gehör geschenkt hatte.27 David Schneider wurde zu 52 Wochen Strafarbeit und 50 Reichstaler Geldstrafe verurteilt, weil er „dem Puschprediger zum mehristen geheget, zum öfftesten Zusammenkunfften gehalten, auch zum öfftesten zue Teschen gewesen, inngleichen von beyden Gemeinden vor der ertzt Radelsführer gehalten wierd.“28 Dabei sind es vor allem zwei Motivstränge, die eine solche harte Verfolgung trotz des in der Altranstädter Konvention von 1707 zugesagten freien und ungehinderten „exercitium religionis“ begründen: Einerseits soll ein Rückfall hinter die blutig durchgeführte Rekatholisierung durch eine neuerliche Ketzerei auf alle Fälle verhindert werden, zum anderen sah man in den „Puschpredigern“ auch Agitatoren, die Unruhe stifteten und politische Umstürze planten.29 Die Gefängnisse füllten sich zusehends. Kunz: In der Zeit kam der liebe Bruder Christian David dahin und predigte das Evangelium. Es wurde bald eine große Erweckung, und nach der Zeit auch eine so große Verfolgung, dass die Gefängnisse mit der Zeit alle voll wurden. Und da ich sahe, dass sie gar sehr hart gehalten wurden, so stellte ich ihnen des Nachts manchmal Brodt und Bier zu. Sie waren gutes Muths, sungen die schönsten alten Brüder-Lieder. Einmal hörte ich den alten Vater David Nitschmann das Vater Unser mit großem Nachdruck beten. Das war die Gelegenheit, dass ich in große Verlegenheit über mein eigen Hertz kam, und viel Thränen vergoß. Ich ging 14 Wochen herum wie ein Schatten. Nach der Zeit waren 4 Gefangene namens Jag, Rieper, Klemisch und Klos, die mit Erlegung einer Geld-Strafe freigelassen worden. Von diesen glaubte der Herr [Gutsherr], dass sie aus dem Lande gehen würden, und wollte, dass ich 2 Tage-Reisen falscher Weise mit ihnen und dann von ihnen weg durch Böhmen nach Wien gehen sollte, und sie bei der Fürstin von Lichtenstein verrathen sollte. Er that mir dabei große Versprechen, wenn ich das thun würde. Als ich mich aber weigerte, dieses zu thun, so meinte er, ich verstünde mein Glück nicht. Ich musste ihm auch einmal mein Gebet-Buch, welches das Habermannische war,30 bringen, das zerschnitt er und gab mir dafür das Bambergische mit der Erinnerung, dass ich von Zauchtenthal her wäre, da alles mit kezerischem Gifte inficiret sey. Endlich schlug er mir etliche mal Heirathen vor, und dass ich auf einem herrschaftlichen Guthe Inspector werden sollte. Es war mir aber immer so, als wenn ich in Mähren nicht bleiben würde, daher ich auch alles ausschlug.
Ohne Zweifel ist Georg Kunz wie sein Vater mit der mährischen Tradition vertraut und den Anhängern verbunden. Aber er konnte die Tiefe und Ernsthaftigkeit dieser Verbundenheit vor seinem Dienstherrn verheimlichen, so 27
Details zu den Verhören bei Mannsbart [s. Anm. 9], 89–91. Zit. n. Mannsbart [s. Anm. 9], 91. 29 Eduard Winter: Die tschechische und slowakische Emigration in Deutschland im 17. und 18. Jahrhundert. Berlin 1955, 97. 30 Johann Habermann (1516–1590) war seit 1540/42 lutherisch gesinnt. Verfasser des weit verbreiteten und unzählige Male nachgedruckten lutherischen Gebetbuches Christliches Gebeth für allerley Noth und Stende der gantzen Christenheit außgetheilet auff alle Tage in der Woche von 1567. 28
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dass dieser sogar glaubte, er könne Georg auf seine Seite ziehen: er konfiszierte und zerschnitt Georgs Gebetbuch („das Habermannische“), überreichte ihm dafür „das Bambergische“. Auch mit einer zukunftsweisenden Heirat und Berufsperspektive versuchte der Verwalter Georg Kunz zu ködern. Der Verwalter wagte es sogar, Georg zum Verrat fluchtwilliger Brüder anzustiften, was dieser jedoch ablehnte. Offenbar ohne Folgen und Strafen. Dennoch wurde Georg Kunz bewusst, dass sein bisher geglücktes taktisches und klügliches Verhalten31 auf der Kippe stand. Er erwog die Flucht. Ein Verrat beschleunigte sein Vorhaben: Anno 1725 kam der liebe Bruder Melchior Nitschmann nach Kunewalde, dem ich meinen Sinn entdeckte, und ihn des nachts mehrmalen besuchte. Am Jacobi-Tag ging er wieder fort, und Quitts mit ihren 2 Töchtern mit ihm. Ich begleitete sie eine Stunde weit, und wusste nicht, dass ich den andern Tag nachgehen würde. Da ich aber zurück kam, merkte ich, dass ich verrathen war; denn in Quitt seinem Hause war ein Zettel gefunden worden, auf dem etliche Namen, worunter auch meiner war, aufgeschrieben waren, von welchen man dachte, dass sie aus dem Lande gehen würden.
2.2 Die Flucht nach Herrnhut Noch in der folgenden Nacht brach Georg Kunz auf. Der Graf, sein Dienstherr, hatte inzwischen selbst „das auffzeumen gelernt“, um mitten in der Nacht „mit vollem Sprung“ die Verfolgung von Entflohenen aufnehmen zu können. Selbst „Jonathans Brüder“ beteiligten sich an der Verfolgung, ließen aber wie abgesprochen „ihre Stimme erschallen“, so dass „die Verfolgten sich salvieren“ konnten und die Verfolger „ohne Beute langsam wiederum zurück reiten mussten“.32 Kunz: Weil der Verwalter nun aber nicht zu Hause war, so ging ich noch in derselben Nacht aus dem Schloße fort, hielte mich aber noch 8 Tage im Dorfe im Verborgenen auf, und ging dann mit dem alten Graßmann, unsers Bischofs Andreas Graßmanns Vaters Bruder, welcher von Hennersdorf aus da gewesen war, und wieder heraus 31 In einer Nachricht von fernerem Ausgange einiger guten Seelen aus Mähren werden mehrere Techniken beschrieben, mit denen „einige redliche Bauern“ zusammen mit des Verwalters Knecht (Randnotiz: J. Georg Kunz) versuchen, die eingeleiteten Verfolgungen des Grafen und des Verwalters zu stören und zu verzögern. Der Schreiber kommentiert: „Mein lieber Knecht, wer heißt dich so kühn und so gut rathen, dass du dich nicht fürchtest, die Bauern könnten untreu und mayneidig werden; gewiß bey den Pferden hastu es nicht gelernt, doch endlich wohl bey der Krippen, darüber geschrieben stehet: stehe auff und flieh in [nach] Ägypten.“ (Hauptbibliothek des Waisenhauses in Halle A.114, Fol. 63–73; B. Fol. 317–320, 330–333, abgeschrieben und im UA auffindbar unter R.6.A.a.7.b.) 32 R.6.A.a.7.b. S. 4 f. „Jonathans Brüder“: eine Anspielung auf 1Makk 9–11, also den Freiheitskampf der Hasmonäer gegen die Seleukiden. Jonathan war der Anführer der Hasmonäer. Aufschlussreich in unserem Kontext ist der in 1Makk 2,5 überlieferte aramäische Beiname Jonathans, nämlich Apphus, der „Täuscher“ oder auch der „Diplomat“.
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gehen wollte, eine ganze Nacht hindurch fort.33 Den folgenden Tag kamen wir nach Rößniz34 und von da nach Neundorf, allwo der Informator Bulde mir eine ReiseKoute [Kutte] gab, mit welcher wir sicher durch Schlesien reisten, und am 16. August 1725 in Herrnhut ankamen.
Kunz erreichte am 16. August 1725 Herrnhut. Zu dieser Zeit war der Ort noch im Aufbau und Ausbau. Henriette Catharina von Gersdorff (1648– 1726) hatte im Mai 1722 das Gut Berthelsdorf in der Lausitz ihrem Enkel Nikolaus Ludwig von Zinzendorf verkauft. Zur selben Zeit erfuhr Zinzendorf erstmals von mährischen Verfolgten, die eine Zuflucht suchten,35 und bereits im Juni desselben Jahres wurde der berühmte „erste Baum“ gefällt, um den Zufluchtsort Herrnhut zu errichten. 1725 war der äußere Aufbau also noch in vollem Gange. Der innere Ausbau, der Aufbau der Ämter, der Statuten sowie die Gestaltung des geistlichen Lebens, bekam erst 1727 entscheidende Anstöße.36 Da aber war Kunz bereits in Petersburg. Insofern ist es korrekt, wenn er später, vermutlich 1745, bei einem Bankett in St. Petersburg die provozierende und tückische Frage, ob er ein Herrnhuter sei, verneinte, allerdings sogleich hinzufügte, „ich wünschte aber, ich wäre einer“. Denn in der kurzen Zeit seines ersten Aufenthalts waren die äußeren Voraussetzungen für eine förmliche Aufnahme noch nicht gegeben.37 In Herrnhut wurde Kunz mit „Zimmer-Arbeit“ betraut, also mit Aufbauarbeiten.38 Im folgenden Winter begab er sich noch einmal zurück nach Mähren, um seine jüngste Schwester Anna nachzuholen.39 Er kehrte unverrichteter Dinge nach Herrnhut zurück, da er feststellen musste, dass seine
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Sterik, Christian David [s. Anm. 25], 29, insbes. Anm. 132. Rößnitz, im heutigen Polen (Rozumice), etwa 15 km nordöstlich von Troppau (Opava). Offensichtlich wurde aus Sicherheitsgründen nicht die „klassische“ Fluchtroute gewählt, sondern eine Variante. Vgl. die Broschüre Via exulantis. Suchdol n. Odrou–Piława–Górna–Herrnhut. Eine Reise auf den Spuren der Exulanten nach Herrnhut. Suchdol n. Odrou 2006, 15. Vgl. auch Deutscher Historischer Städteatlas Nr. 3, Münster 2009, 4. 35 Meyer, Zinzendorf [s. Anm. 25], 20. 36 Meyer, Zinzendorf [s. Anm. 25], 24 ff.; Hanns-Joachim Wollstadt: Geordnetes Dienen in der christlichen Gemeinde. Göttingen 1966, 24 f. 37 Eine Aufnahme in die Gemeine ist auch bei Kunz’ sechswöchigem Besuch in Herrnhut im Frühjahr 1733 nicht erfolgt, obwohl er dort nach seinen eigenen Worten „viel gutes und seliges“ für sein armes Herz genossen hatte. 38 Die entsprechenden Einweisungen und Arbeitsanweisungen gab der Verwalter (Hofmeister, Hausvogt, Wirtschaftsinspektor). Dies war in der allerersten Zeit (bis Oktober 1723) Johann Georg Heitz. Er „wies an“. Vgl. Gottlieb Korschelt: Geschichte von Herrnhut. Berthelsdorf, Leipzig 1853, 11. Die klassische „top-down“-Kommunikationsstruktur. 39 Ein heikles Unterfangen, nicht nur wegen der damit verbundenen Gefahren beim Grenzübertritt und Aufenthalt in der alten Heimat, sondern auch, weil Zinzendorf, „um allen häufigen und tumultarischen Emigrationen vorzubeugen“, 1724 ausdrücklich festgelegt hatte, „dass keiner nach Mähren gehen und andere zum Ausgehen aufreden sollte“ (David Cranz, Brüderhistorie I/2 § 13, 134). Dieses Verbot wurde allerdings nicht strikt eingehalten, sondern unterlaufen, was geduldet wurde, solange solche Besuche „in der Stille“ geschahen. 34
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Schwester inzwischen verheiratet und damit das ganze Unternehmen zu riskant geworden war. 2.3 Der Dienst in St. Petersburg 2.3.1 Die Einladung – ein verlockendes Angebot Kunz’ Bericht von einer Offerte aus St. Petersburg klingt unverfänglich: Anno 1726 wurde einmal nach einer Betstunde ein Brief öffentlich verlesen, welcher vom Herrn Adelung, einem Kaufmann in Breslau war, der hatte Commission vom Admiral Cornelius Creutz aus Petersburg, 4 oder 5 von unsern Brüdern auf seine Kosten ihm zuzuschicken.
Gottesdienstliche Veranstaltungen waren damals wie heute auch Kommunikationsforen, und bei Stellenangeboten war damals wie heute die frühzeitige Regelung der Fahrtkosten ratsam und üblich. Also nichts Außergewöhnliches. Pikant wird die Offerte erst durch die Nennung des Vermittlers und Briefabsenders: ein Herr Adelung, Kaufmann in Breslau. Das ist eine kaum noch zu unterbietende Tiefstapelei; denn dieser „Herr Adelung“ war „einer der rührigsten Mitarbeiter Franckes“40 und unterhielt Geschäftsverbindungen nach Russland, Polen, Ungarn, in die Ukraine und in den Vorderen Orient. Er hatte in Halle Theologie studiert und wurde mit dezidierten missionarischen Aufgaben im Orient betraut.41 Kunz begab sich unbekümmert in die Verbindung mit Halle. Er ließ sich sogar überreden (Zinzendorf: „irre machen“), als Evangeliumsverkünder aufzutreten. Es darf vorausgesetzt werden, dass Kunz diese frühe Phase der noch wenig belasteten Geschichte zwischen Halle und Herrnhut ebenso kannte wie die spätere Phase des Zerwürfnisses, deren Folgen er ja in St. Petersburg hautnah miterleben musste. Wenn er also in seinem späteren Lebenslauf diesen Herrn Adelung lediglich als „Kaufmann aus Breslau“ apostrophiert, kann das als Versuch gedeutet werden, sich aus dem Konflikt Halle-Herrnhut so gut es ging herauszuhalten und so sachlich wie möglich zu berichten. Adelung hatte eine Commission, also einen Geschäftsbesorgungsvertrag, vom Admiral Creuz/Cruys aus St. Petersburg, diesem vier oder fünf Gehilfen zu vermitteln. Der genaue Inhalt der erwarteten Tätigkeit wird nicht genannt. Dennoch war das Angebot verlockend: Zum einen waren die Lebensumstände in Herrnhut um diese Zeit wenig attraktiv. Der Ort war noch im Aufbau. Das bedeutete harte Arbeit.42 Zudem strömten weiterhin 40 Eduard Winter: Halle als Ausgangspunkt der deutschen Russlandkunde im 18. Jahrhundert. Berlin 1953, 61; vgl. auch 34–36. 41 Martin Kriebel: Das pietistische Halle und das orthodoxe Patriarchat von Konstantinopel: 1700–1730. In: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas. NF 3, 1955, 50–70. 42 Otto Uttendörfer: Alt-Herrnhut. Herrnhut 1925, 9. Zur Siedlungskonzeption Herrnhuts als Handwerks- und nicht als Agrarsiedlung vgl. Deutscher Historischer Städteatlas Nr. 3, Münster 2009, 4.
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Flüchtlinge hierhin. Das brachte Unruhe. Und schließlich waren diese Exulanten unterschiedlichster konfessioneller Herkunft: Orthodoxe Lutheraner, pietistisch orientierte Lutheraner, Reformierte, Nachfahren der alten böhmischen Brüderkirche, Eiferer und „Erweckte“. Das brachte Anfeindungen, Missverständnisse und Streit.43 Kunz’ Reisegefährte war David Schulius. Dessen Ruf war nicht der allerbeste.44 Kein Wunder, dass sich auf Adelungs Offerte, nach Breslau und dann weiter nach St. Petersburg zu gehen, niemand mehr meldete, nachdem Schulius vorgeprescht war. Er bedrängte Georg Kunz, mit ihm zu gehen. Dieser lehnte mit einer dreifachen durchaus realistischen Begründung ab: Unwägbarkeit der Seereise, fehlende Sprachkenntnisse und die in Russland fehlende Gewissensfreiheit. Als Kunz erfuhr, dass Schulius dennoch die Mitreise nach Breslau signalisiert hatte, reagierte er empört. Es kam zu einer ernsthaften Auseinandersetzung. Dennoch ließ Kunz sich zur Reise überreden. Ein Brief aus Breslau zerstreute seine Bedenken. Als dann auch die Brüder, nach Kunz’ Aussage in seinem Lebenslauf sogar Zinzendorf selbst (s. u.), ihre Zustimmung gaben, machten sich Schulius und Kunz auf den Weg nach Breslau, von dort mit dem Schiff nach St. Petersburg, wo Kunz bis 1748 blieb,45 Schulius aber bereits 1730 wieder ausreiste.46 2.3.2 Erste Erfahrungen in St. Petersburg Schon wenige Monate nach der Ankunft in St. Petersburg schickte Kunz eindringliche Hilferufe nach Herrnhut.47 Abgesehen von dem stellenweise weinerlichen Ton und den frömmelnden, im gängigen stilisierten Topos gehaltenen Demutsbezeugungen lautet die Kernbotschaft: „Wir haben große Verfolgung“ und „Ich leide viel Hohn und Schmach in diesem Lande“. Von wem und warum er drangsaliert wurde, sagte Kunz nicht. Jedoch lassen sich drei Szenarien eruieren, die Kunz’ Not erklären können: 1. Die von Kunz praktizierte (alt-)brüderische Frömmigkeit harmonierte weder mit der landesüblichen russisch-orthodoxen Praxis noch mit der hallesch geprägten Haltung der pietistischen Prediger und Pfarrer in St. 43
Gerhard Reichel: Die Geschichte des 13. August 1727. Sonderdruck 1927, 1–23. Zu Schulius vgl. Otto Teigeler: David Schulius. In: Lebensbilder aus der Brüdergemeine. Bd. 2. Hg. v. Dietrich Meyer. Herrnhut 2014, 235–243. 45 Mit einer Unterbrechung: 1732/33 machte Kunz einen sechswöchigen Besuch in Herrnhut. UA R. 22. 29. 11. 46 Schulius blieb bei Admiral Creutz/Cruys als Kammerdiener nur zwei Monate und wechselte dann seinen Dienstherren. 1730 wird er auf seinem Rückweg nach Deutschland in Polen aufgegriffen und in die polnische Armee gesteckt und nach Dresden kommandiert. 47 Ältestes Zeugnis ist ein Brief von Kunz aus Petersburg an die „liebwerthesten Brüder und Schwestern“ in Herrnhut vom 23.01.1727 (UA R.12.A.a.2. a.2). Von diesem nicht leicht lesbaren Originalbrief wurde eine besser lesbare Kopie angefertigt (UA R.12.A.a.2.a.1), die jedoch das ursprünglich richtige Abfassungsjahr 1727 verfälscht in 1726. Teigeler (Russland [s. Anm. 2], 526 f.) leider wieder mit falscher Jahreszahl. 44
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Petersburg, erst recht nicht mit der traditionellen Theologie der lutherischen Pfarrer in Russland. Dass ein Leben in Russland insbesondere für Deutsche nicht einfach war, hatten vorher schon manche erfahren müssen. So hielt es etwa der Kaufmann Johann Christian Gründler nicht für ratsam, in Russland zu investieren, „da es hier drinnen in diesem Lande, mein Erkenntnis nach nicht besser sondern schlimmer wird, und man in mancherlei Gefahr schwebt“.48 Zu Beginn des Jahres 1713 zog Gründler die Konsequenzen und reiste nach Halle zurück. Selbst die Geistlichen gingen nicht zimperlich miteinander um. So eiferten die Lutheraner gegen die Pietisten und umgekehrt. Im Mai 1718 entstand sogar in Tobolsk unter den Geistlichen der schwedischen Kriegsgefangenen ein derartiges Gezänk, „dass sie anfingen, gegen einander zu predigen“ und sich gegenseitig als falsche Propheten zu beschimpfen.49 Die [lutherischen] Amtsbrüder mussten vom Konsistorium in Moskau vermahnt werden, sie sollten „einhalten mit allen bitteren und schlimmen Worten gegen das erwähnte Collegium [die Pietisten] und nicht – wie bisher – sie in der Predigt als Enthusiasten, Phantasten, Quäker, skrupellose Gewissen, sonderbares Volk &c.“ hinstellen.50 Sie sollten sich bemühen, die pietistischen Versammlungen „weder als sündig noch verboten“ zu betrachten, sofern sie „in guter Absicht und zu wirklicher Erbauung abgehalten würden“.51 2. Zudem muss Kunz erfahren, dass auch „unsere Herrschaft [. . .] von Gott und seinem Wort nichts weiß, darumb sind wir ein Schauspiel und ein FegOpffer in diesem Land“.52 Mit dieser gottlosen Herrschaft kann nur die regierende Kaiserin, Katharina I. (1725–1727), gemeint sein. Diese Tochter eines litauischen Bauern (Martha Elena Skawronska), arbeitete als Magd bei dem Theologen und Bibelübersetzer Ernst Glück (1654–1705) in Marienburg.53 Glück stand mit Halle in engster Verbindung.54 Weber berichtet, dass Katharina auch später den „Praeposito Glück“ und seine Familie nicht vergessen hatte und ihnen einen „anständigen Unterhalt bis in den Tod“ gewährte.55 Sie 48
Gründler aus Archangelsk an Francke am 30.09.1712. AFSt/BN Kapsel 28/32 Elof Bergelin: Karls des Zwölften Krieger in russischer Gefangenschaft. Kirchengeschichtliche Untersuchungen über das Leben der schwedischen Kriegsgefangenen in Russland und Sibirien während der Jahre 1709–1721. Greifswald 1922, 159. 50 Bergelin [s. Anm. 49], 160. 51 Bergelin [s. Anm. 49], 161. Vgl. auch Theodor Wotschke: Das pietistische Halle und die Auslandsdeutschen. In: Neue kirchliche Zeitschrift. Jg. 43. Leipzig 1932, 429 f. Dem „Gift“ der Hallenser Pietisten, den Phantastereien der „Weigelianer und Böhmisten“ widerstehen die „Hamburger“ (orthodoxe Lutheraner). 52 Wotschke [s. Anm. 51], ebd. 53 Weber dagegen berichtet, Glück habe „Catharinam als eine Wayse an Kindesstatt aufgenommen“ (Friedrich Christian Weber: Das veränderte Russland [. . .]. Teil 3: Die Regierung der Kaiserin Catharina [. . .]. Hannover 1740, 7). Gustav Adolf Wilhelm von Helbig (Russische Günstlinge. [1809]. München, Berlin 1917, 121 f.), nennt sie Glücks Pflegetochter. 54 Winter, Ausgangspunkt [s. Anm. 40], insbes. 203–206, 218 f., 244 f., 285 f., 297 f., 373–378. 55 Weber, Russland [s. Anm. 53] 3, 10. 49
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wurde Mätresse Peters I., konvertierte 1705 zum orthodoxen Glauben und heiratete 1707 insgeheim, im Februar 1712 offiziell Peter I. Nach Peters Tod 1725 kam es bezüglich der Nachfolge sowie der Einschätzung der neuen Regentin zu Irritationen und Debatten. Es waren vor allem drei Vorwürfe, denen sich die Regentin gegenübersah: Erstens wurde diskutiert, ob eine Frau überhaupt Regentin sein kann. Weber bemüht zur Rechtfertigung alttestamentliche Beispiele und verweist auf den „himmlischen Rathschluss“ des Allmächtigen.56 Zweitens bereitete es „Missvergnügen“, dass der Fürst Menšikov eine „offene Treppe“ bei der Kaiserin fand, der es nicht an „Leibes-Schönheit“ mangelte, wohl aber an der Schönheit des Verstandes und des Gemütes.57 Und drittens befürchtete man, dass der wegen seines Hochmuts und „unmäßiger Begierde zu großen Schätzen“ umstrittene Fürst Menšikov diese Grobheiten auf die Kaiserin und ihren Herrschaftsstil übertragen könnte. Zudem stand sie im nicht unbegründeten Ruf, mannstoll und trunksüchtig zu sein. Offensichtlich kannte Kunz diese Diskussionen und nahm dazu auf seine Weise Stellung. Kaum war Kunz also den Verfolgungen in seiner mährischen Heimat entkommen, kaum hatte er die Gefahren der Reise nach Russland überstanden, da musste er erkennen, dass er es auch in Russland nicht so vorfindet, „wie es ist [ihm] vorgeschrieben worden“, d. h. wie es ihm vorher, vermutlich von Schulius, dargestellt wurde. 3. Von dem allen spricht Kunz in seinem Lebenslauf mit keinem Wort. Das ist merkwürdig, da er ja sonst äußerst detailliert berichtet. Und noch merkwürdiger ist, dass Kunz in seinem Lebenslauf darauf beharrt, dass „auch der Papa“, also Zinzendorf, die Zustimmung zur Reise gegeben habe.58 Dies scheint in grobem Widerspruch zu Kunz’ eigener Bemerkung zu stehen, als er zwanzig Jahre später, die Heimreise nach Herrnhut/Marienborn einfädelnd, zugab, dass Zinzendorf ihn gewarnt habe: Wie offte [oft] denck ich an des teueren Herrn Grafen seine letzten Worte, die er zu mir sagt: Es wird euch gereuen.59
Allerdings ist nicht sicher, ob sich diese Notiz und damit die Bemerkung Zinzendorfs generell auf Kunz’ Absicht bezieht, nach Russland zu gehen, oder auf die spezielle „Vocation“, die Kunz meinte erhalten zu haben. Denn eine weitere Differenz besteht darin, ob Kunz in Petersburg als Missionar 56
Weber, Russland [s. Anm. 53] 3, 5 f. Weber, Russland [s. Anm. 53] 3, 9; zu Menšikov 12–20. 58 Nur ein Insider konnte nach so langer Zeit, immerhin fast fünfzig Jahre, noch wissen und darauf insistieren, dass Zinzendorf die spezielle „Vocation“ dieser Reise nicht gebilligt habe. Ein Indiz dafür, dass auch die Korrekturen in Kunz’ Lebenslauf von Spangenberg stammen. Dass Kunz im Rückblick den Grafen „Papa“ nennt, ist ein Anachronismus, da diese vertrauliche Anrede in der frühen Zeit noch nicht üblich war. 59 UA R.12.A.a. Nr. 2.d. 57
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tätig werden sollte. Er selbst möchte dies und hat es wohl auch anfänglich praktiziert, was ihm, dem Laienprediger, Hohn und Spott eintrug. Zinzendorf jedoch hielt dies von vornherein für eine ausgemachte Torheit. Die Reaktion, die Kunz’ Brief vom Januar 1727 in Herrnhut hervorrief, ist entsprechend deutlich und im Diarium von Herrnhut vermerkt:60 Heute erhielten wir Schreiben aus Rußland61 von unsern 2 mährischen Brüdern Melchior62 Kunzen und David Gschulius,63 die durch andere irre gemacht worden, Christum in Rußland verkündigen sollten, welche Schreiben uns sehr erwecklich waren. Der H[err] Gr[af] hatte ihnen bei ihrer Abreise gesagt, ihre Vocation wäre eine Thorheit; sie sollten sich erst bekehren, sie würden sonst von allem Guten vollends herunter kommen.64 Sie sehnten sich wieder zu ihren Brüdern und konnten die Finsternis in Rußland nicht genug beschreiben.
Kein Wunder, dass in dem handgeschriebenen Lebenslauf von Kunz die Wörter „und auch der Papa“ durchgestrichen wurden und auch der 1856 in den Gemeinnachrichten gedruckte Lebenslauf von Kunz diese vier Wörter weglässt.65 Zinzendorf hielt Kunz’ „Vocation“, also dessen Beharren auf eine Berufung, in Russland das Evangelium zu verkünden, für unüberlegt und voreilig, eine „Torheit“. Zinzendorf argumentiert, dass Kunz selbst ja noch gar nicht bekehrt sei. Zumindest formal ist das richtig, weil in der kurzen Zeit, da Kunz sich 1725/26 in Herrnhut aufhielt, nur schwerlich eine tiefe Bindung an die Gemeine erfolgen konnte, abgesehen davon, dass die Regelung des geistlichen Lebens in Herrnhut und die Aufnahmemodalitäten erst in den Anfängen steckten und es die Chöre und damit das spätere Pflege- und Aufsichtssystem noch nicht gab. Nimmt man aber die Bemerkung Zinzendorfs, Kunz sei ja noch nicht bekehrt, inhaltlich und nicht nur formal, so wäre dies eine Anspielung auf den von ihm bekämpften, in Halle aber theologisch durchaus geförderten und geforderten Buß- und Bekehrungszwang zu sehen. Zinzendorf vermutete wohl nicht zu Unrecht in diesen hallisch orientierten Kreisen jene, die Kunz und Schulius „irre“ gemacht hatten, jenseits aller nötigen Vorsicht und abseits vom Dienstauftrag als Prediger aufzutreten. Kunz’ Schreiben aus St. Petersburg mit den Hilferufen waren der Gemeine in Herrnhut „sehr erwecklich“, d. h. wohlwollend interpretiert: lehrreich. 60
Diarium von Herrnhut 1727 zum 13.05. R.6.A.b.6.a. Die Kopie des Diariums erläutert: Moskau. Dies aber ist irreführend. Der Absendeort war St. Petersburg. 62 Die Kopie korrigiert zu recht: Georg. 63 Fußnote: „siehe David Schulius L[ebens-]Lauf in [unleserlich].“ Am Rand fälschlich korrigiert: „Georg Schulius.“ Eine Verwechslung von David Schulius mit seinem älteren Bruder Georg kam des Öfteren vor (vgl. Moeschler [s. Anm. 4] 1, 146). 64 Die Kopie ergänzt: und elende Menschen werden. 65 Lebenslauf von Kunz in den Gemeinnachrichten: GN.A.540, 1856 I, 278–290, hier 282. Das Kirchen-Buch der Evangelischen Brüdergemeine zu Herrnhut ab anno 1758, Register der „Entschlaffenen“ zum Jahr 1775, Reg.-Nr. 1408, erwähnt immerhin, dass Kunz’ Weggang nach St. Petersburg „mit Bewilligung der Gemeine“ geschah. 61
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Kunz gab nach zwanzig Jahren zu, dass er 1733 ernsthaft erwogen hatte, nach seinem Besuch in Herrnhut 1732/33 nicht mehr nach Russland zurückzukehren: Die teuere Gemeine ist mir allezeit groß und wichtig in meinen Augen gewesen. Ich reiste Anno [17]33 in der Absicht hinaus [nach Herrnhut], um dazubleiben. Wie ich aber nach Sorau kam, wurde mir so viel wiederrathen, das[s] die lieben Brüder in vielen Stücken gar zu weit gingen. Ich kehrte den[n] auch wieder um zu der Welt ihren Träbern, wiewohl sie mich niemahls recht leyden konnte. So machten sie doch um ihres Nutzens viel aus mir. Dem alten Adam gefiel es wohl. Ich fühlte aber alle Zeit Widerspruch in meinem Hertzen, das[s] ich nicht da zu berufen wäre.66
Die Brüder in Sorau hatten nach Kunz’ Aussagen ihm so stark zugesetzt, wieder nach Russland zurück zu kehren, dass er wenn auch schweren Herzens nachgab. Ob dies Teil einer apologetischen und nachträglich rationalisierten Sicht ist oder auf Fakten beruht, ist nicht mehr nachprüfbar. Die Widersprüche sind kaum noch auflösbar. 2.3.3 Die Dienstherren Kunz nahm Stellungen bei oft wechselnden Dienstherren an. Der erste Dienstherr von Kunz in St. Petersburg war der mit Anhard Adelung kooperierende Cornelius Cruys.67 Dieser war mit seiner Familie ein „besonderer Verehrer Franckes“68 und allererste Anlaufstelle für Hallenser Studenten, Erzieher und Prediger in St. Petersburg und die Drehscheibe für Halles Engagement in Russland.69 Bereits nach einem Jahr, 1727, verstarb Cruys. Auch der nächste Dienstherr, der „Kayserliche Ambassadeur Graf Raputin“, starb nach kürzester Zeit: „Dem hatte ich nur 2 Monate gedient, als ihn in seinem Sommer-Haus der Schlag traf.“ Und ebenfalls der dritte Dienstherr, den Kunz allerdings nicht mit Namen nennt, stirbt bald: „Dem hatte ich 3 66
UA R.12.A.a. Nr. 2.c. Geboren 1657 in Stavanger/Norwegen unter dem Namen Niels Olsen (Olufsen). Während seines Aufenthalts in den Niederlanden änderte er seinen Namen um in Cornelius Cruys bzw. Kornelius Krøys. Das Clearing-Register in Amsterdam führt ihn als Cornelis Cruijs. Kunz nennt ihn konsequent Creutz. In der einschlägigen Literatur im deutschsprachigen Raum (Winter, Amburger etc.) wird er Cruys geschrieben und entsprechend in den Personenregistern geführt. Die Erik-Amburger-Datenbank führt in der Personentabelle der Ausländer im vorrevolutionären Russland, Datensatz 87884/90021, Stationen des Lebens- und Berufsweges von Cruys auf, leider mit einigen Flüchtigkeitsfehlern (etwa: Sterbejahr 1777. Demnach wäre Cruys 120 Jahre alt geworden. Oder: Ursprüngliche Nationalität: Niederlande statt Norwegen). 68 Winter, Ausgangspunkt [s. Anm. 40], 69. Dieser Generalmajor Freiherr Karl Gustaf Creutz/ Cruys war einer der ranghöchsten von ca. 16.000 Gefangenen, die die russische Armee am Dnjepr machte. Er wurde zum Chef der Verwaltungsorganisation der schwedischen Kriegsgefangenen ernannt und blieb bis zum Schluss der Gefangenschaft der höchste Leiter des Gefangenenstaates. Vgl. Pentti Laasonen: Der Einfluss A. H. Franckes und des hallischen Pietismus auf die schwedischen und finnischen Karolinger im und nach dem Nordischen Krieg. In: Halle und Osteuropa [s. Anm. 40], 5–18; Bergelin [s. Anm. 49], 2, 10, 161. 69 Winter, Ausgangspunkt [s. Anm. 40], 80. 67
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Jahre gedient, als er sitzend auf einem Stuhle in meinen Armen auch verschied. So sturben mir in 5 Jahren 3 Herren ab.“ Darauf kam Kunz als Haushofmeister zum Oberhofmarschall Graf Carl Loewenwolde und war mit ihm „theils in Moscau, theils in Petersburg“. In diese Zeit fällt auch Kunz’ sechswöchiger Besuch in Herrnhut 1732/33, wo er „viel gutes und seliges für [sein] armes Herz genossen“ hat. Im Sommer 1733 war Kunz wieder zurück in St. Petersburg und trat bald „in Dienste als Haushofmeister bei Graf Andre Ivanitz Ostermann“.70 Ostermann war russischer Staatskanzler und gehörte zu den einflussreichsten Männern der „Bironzeit“, die in Russland wegen des Anscheins der Fremdherrschaft in keinem guten Ruf stand. Wie die meisten einflussreichen Männer in der Umgebung der Zarin Anna, an erster Stelle ihr Vertrauter Biron selbst sowie der (seit 1732) Feldmarschall Münnich, war Ostermann lutherisch. Entsprechend wuchs auch der Einfluss des Pietismus in den 30er Jahren.71 In diese Zeit fiel der Besuch David Nitschmanns in St. Petersburg 1735 (s. u.). Wenn Kunz’ Angabe stimmt, dass er beim nächsten Herrn, dem „Preußischen Ministre von Mardefeld“, fünf Jahre diente, dann kann der Dienst bei Ostermann nur kurz, allenfalls zwei Jahre gedauert haben. 2.3.4 Besuche bei Kunz in St. Petersburg Es ist selbstverständlich, dass Kunz für die nach Russland reisenden Herrnhuter eine erste Anlaufadresse und wichtige Hilfsstation darstellte, wie natürlich auch umgekehrt die Anwesenheit von Herrnhutern in Russland für Kunz eine willkommene Gelegenheit zum Nachrichtenaustausch, zu vertrauensvollen und tröstenden Gesprächen bedeuten konnte. Ob die an diese Besuche geknüpften Erwartungen immer erfüllt wurden, wird sich zeigen. Anno 173772 kam der liebe Bruder Grasmann, desgleichen Daniel Schneider und Michael Miksch von Archangel von ihrer Reise zu den Samojeden zurück nach Petersburg. Ich suchte sie balde auf und fand sie im Arrest. Sie kamen aber doch balde aus dem Gefängniß, und reisten nach harter Untersuchung wieder zurück nach Teutschland, und ich leistete ihnen hülfreiche Hand, wo ich konnte.
In der Tat: Die Brüder Andreas Graßmann, Daniel Schneider und Johann Miksch73 wurden auf ihrem Weg zu den Samojeden und Polarvölkern für schwedische Spione gehalten, erlitten fünf Wochen Gefängnishaft und wur70 Heinrich Johann Friedrich Ostermann hatte in Jena Theologie studiert und wurde in St. Petersburg von Vizeadmiral Cruys aufgenommen. Zu den Umständen seines Weggangs nach Russland vgl. Teigeler, Russland [s. Anm. 2], 131 f., insbes. Anm. 146. Im Hause Cruys wurde Ostermann mit Peter I. bekannt und bald dessen Geheimer Kabinettssekretär (Winter, Ausgangspunkt [s. Anm. 40], 87). 71 Winter, Ausgangspunkt [s. Anm. 40], 87 f., 143. 72 Kunz irrt im Datum: 1734 kamen die drei Brüder in Arrest. 73 Letzterer war an die Stelle von Johann Nitschmann „den Jüngeren“ getreten.
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den nur wegen der Bürgschaft des lutherischen Pastors Plaschnig nach Petersburg entlassen, wo ihnen Graf Ostermann, bei dem Kunz in Diensten stand, den Rückreisepass besorgte. Ein Einfluss von Kunz auf diese Maßnahme scheint sehr unwahrscheinlich zu sein, wird auch von keiner Seite, geschweige denn von Kunz selbst, auch nur angedeutet. Immerhin reichte er den Brüdern seine „hülfreiche Hand“, wo er nur konnte. Von den Besuchen, die Kunz in St. Petersburg von Herrnhuter Brüdern und Schwestern bekam, sind zwei bedeutsam: 2.3.4.1 Der Besuch David Nitschmanns (Syndicus) 1735 in St. Petersburg. 74 In der Zeit Anno 35 kam David Nitschmann nach Petersburg, das erfreute mich [Kunz] gar sehr, und es war mir ein Vergnügen, ihm nach Vermögen zu dienen, wie er denn auch alle Tage mit mir speiste.
Plitt erwähnt in seinen Denkwürdigkeiten die Begegnung zwischen Kunz und Nitschmann kurz.75 Daraus ist zu entnehmen, was sowieso schon zu vermuten war, dass Kunz und Nitschmann sich bereits aus Mähren kannten. Aber während David Nitschmann zu den berühmten „Fünf Kirchenmännern“ zählte, die 1724 Zauchtel verließen (s. o.), war Kunz nur der Sohn eines Waldhufenbauern. So kam David Nitschmann sogleich in den engsten Lebensraum des Grafen Zinzendorf als dessen Kammerdiener, während Kunz auf den Bau geschickt wurde. In seinem Tagebuch berichtet Nitschmann unter dem Datum vom 2. August 1735, dass er glücklich in St. Petersburg angekommen sei und sogleich Georg Kunz aufgesucht habe, der beim Grafen Ostermann in Diensten stehe.76 Im Reise-Diarium berichtet Nitschmann etwas ausführlicher, nämlich dass Kunz ein Mährischer Bruder sei, von Herrnhut weggegangen und nun als Haushofmeister bei Graf Ostermann in Diensten stehe, dass er „sehr von seinem Hergen abgekommen“ sei, aber durch Nitschmann wieder „angefasst“ wurde, und ein Verlangen bezeuge, wieder nach Herrnhut zurückzukehren. Dann wird er deutlich: Er habe Kunz „elend angetroffen“, er sei dem „Trunk
74 Zur Biographie David Nitschmanns (Syndikus) vgl. Hellmut Reichel: David Nitschmann. Syndikus und erster Archivarius der Brüdergemeine. Ein lebendiger Zeuge und treuer Bewahrer. In: Alles ist euer, ihr aber seid Christi. FS Dietrich Meyer. Hg. v. Rudolf Mohr. Köln 2000, 857– 896. Über Nitschmann Reise 1735 nach St. Petersburg berichtet ausführlich Teigeler, Russland [s. Anm. 2], 93–158. 75 Zunächst zitiert Plitt aus dem Brief Zinzendorfs an Nitschmann vom 29.08.1735 (UA R.21.A.112.a.III.14; vgl. Teigeler, Russland [s. Anm. 2], 531–533), um dann fortzufahren: „In Lübeck, vorzüglich in Petersburg, wo ein Bekannter aus Mähren, Kunz, einst in Herrnhut, jetzt Haushofmeister des Grafen Ostermann, ihm da Einleitungen machte, wusste er beym Cadettenprediger Plaschnik, dem Professor Beyer usw. Nachrichten zu gewinnen über“ (Johannes Plitt: Denkwürdigkeiten aus der Erneuerten Brüdergeschichte. NB I.R.3.10.a Bd. 3, Buch 6, § 167, 98). 76 Parallel-Tagebuch R.21.A.112.b.2.
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zugetan“ und habe mit Nitschmann nichts zu tun haben wollen und jede Hilfe verweigert.77 Soweit die offizielle, von Nitschmann wesentlich mit beeinflusste, z. T. tendenzielle, zumindest äußerst verkürzte Sicht auf Georg Kunz. Diese ist aus zwei Quellen-Strängen zu ergänzen: Zum einen aus biographischen Angaben, die im Wesentlichen von Georg Kunz selbst stammen,78 zum andern aus den erhaltenen Briefen und Notizen im Zusammenhang der Nitschmann-Reise 1735,79 und zwar einerseits die Korrespondenz zwischen Nitschmann und Zinzendorf sowie zwischen Nitschmann und Kunz, zum andern Kunz’ Briefwechsel mit Zinzendorf bzw. der Brüderunität. Aber auch für Nitschmann war der Besuch bei Kunz eindrücklich gewesen, jedoch berichtete er von verheerenden seelischen und moralischen Zuständen. Nitschmann schilderte Kunz als Faulpelz und Alkoholiker. Am 3. November 1735 traf Nitschmann wieder in Herrnhut ein. Zu dieser Zeit befand sich Zinzendorf noch auf der Rückreise von Zürich und traf am 30./31. Dezember in Herrnhut ein. Nitschmann berichtet am Bettag, 14. Januar 1736, ausführlich von seiner Reise nach St. Petersburg.80 Welche Erfahrungen hat nun David Nitschmann 1735 mit Georg Kunz gemacht bzw. dieser mit Nitschmann? Kunz ist die erste Anlaufstelle für Nitschmann, als er am 2. August 1735 in Petersburg eintrifft. Er ist erstaunt, dass Kunz beim Grafen Ostermann in Diensten steht, da Zinzendorf ihm, Nitschmann, gerade für diesen Grafen Ostermann ein „Recommendationsschreiben“ mitgegeben hat, offenbar ohne die Anwesenheit von Kunz dort zu erwähnen. Nitschmann gibt vor, Kunz wieder „auf den rechten Weg“ gebracht zu haben. In der Tat schreibt Georg Kunz bereits seit Jahren aus Petersburg, dass er sich „verirrt“ habe von dem Weg des Herrn, „die lebendige Quelle verlassen“ habe und in eine „große Wildnis“ geraten sei.81 In Herrnhut war also durchaus bekannt, dass Kunz sich in einer schwierigen Lage befand. Hat Nitschmann ihn deswegen aufgesucht, oder weil er ein Quartier suchte? Hat etwa Kunz sich bezüglich der Quartiersuche stur gestellt und verweigert, weil 77 Protokoll vom Bettag vom 14.01.1736: R.6.A.b. Nr. 1 unter TOP 16. Vgl. auch den Brief Nitschmanns aus St. Petersburg an Zinzendorf vom 03.08.1735 (R.21.A.112.a.III.a.7.b): „Er hat nicht Lust, vieles zu dienen [. . .] Er hat keinen Schritt noch vor [für] mich gethan.“ Von Nitschmanns Bericht nach seiner Rückkehr berichtet das Bettagsprotokoll vom 17.12.1735 (R.6.A.b.12. Nr. 1): „TOP 17: Von Georg Kunze, dem Hausmeister in Moscau [sic!], der halb verlohren geschienen und nun wieder erweckt“. Er sei der Welt ganz überdrüssig, doch könne er „seinen Durst nicht völlig loswerden.“ 78 Insbesondere wird hier zu beachten sein der von Kunz selbst verfasste Lebenslauf sowie die beiden sehr unterschiedlichen dort angefügten Nachträge (im UA Herrnhut erhalten unter R.22.29.11). 79 Im UA Herrnhut vor allem erhalten in der Mappe R.21.A.112.a.III. Nr. 1–14. 80 Protokoll dieses Berichts im UA R.6.A.b.1. Mappe 1736, abgedruckt bei Teigeler, Russland [s. Anm. 2], 553–558. 81 R.12.A.a.2.a.1 und 2. Beide Briefe sind textgleich, jedoch ist 2a.1 die Reinschrift des Originals 2a.2.
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er in seelsorgerlicher Hinsicht von Nitschmann zwar „angefasst“ wurde, was aber nicht unbedingt mit Verständnis gleichzusetzen ist? Jedenfalls scheint es keine Basis für eine vertrauensvolle und vor allem effektive Zusammenarbeit gegeben zu haben. Dies ist umso erstaunlicher, als der Besuch Nitschmanns bei Kunz trotz der Kürze für Kunz einen so hohen Stellenwert gehabt hat, dass er ihn in seinem Lebenslauf vermerkt, und zwar äußerst positiv. Während Kunz jedoch behauptet, Nitschmann habe alle Tage mit ihm gespeist, behauptet Nitschmann mehrfach, Kunz habe keine Hand für ihn gerührt. Aussage steht gegen Aussage. Eine interessante Ehrenrettung für Kunz’ angebliche Passivität versucht Glitsch,82 wenn er fabuliert, dass Kunz angesichts der ungünstigen Verhältnisse in St. Petersburg „es nicht wagte, irgendwie ihm [Nitschmann] behülflich zu sein“. Eine zwar denkbare Motivation, die aber sowohl an den Berichten Kunz’ als auch Nitschmann vorbeigeht und für die es keinerlei Belege gibt, außer der allgemein bekannten Tatsache der „ungünstigen Verhältnisse in St. Petersburg“. Der Gipfel der Merkwürdigkeiten besteht aber darin, dass Nitschmann in seinem Brief vom 3. August 1735 an Zinzendorf berichtet: „Er [Kunz] ist ein elender Pietiste. Er hat keine Ohren zu Herrnhut, ist sehr vor die Hallenser portiret.“83 Ausgerechnet einer der treuesten Brüder Herrnhuts soll ein „elender Pietiste“, so das gängige Schimpfwort für die Hallenser, sein, für Herrnhut verschlossen und „sehr“ für Halle geöffnet? Entweder hat Kunz den ihn mit moralischen Vorhaltungen bedrängenden Nitschmann auf Distanz halten wollen, oder Nitschmann hat unbedachte Äußerungen von Kunz als nicht konform zur Herrnhuter Theologie und Halle nah interpretiert, oder aber Nitschmann hat seinerseits aus Ärger über Kunz’ eigenwilligen Charakter diesen schlichtweg angeschwärzt. Jedenfalls war das Verhältnis zwischen beiden mehr als gestört. Die Beziehung zwischen Nitschmann und Kunz war von vornherein gestört. Es trafen zwei Menschen aufeinander, die beide bei „hohen Herrschaften“ in Diensten standen, sich also im Umgang und mit den Gepflogenheiten „höheren Orts“ auskannten. Der Kammerdiener des Grafen Zinzendorf und der Haushofmeister beim Grafen Ostermann werden sicher im Normalfall von ihrer abgeleiteten Autorität profitiert und entsprechende Erwartungen an eine zuvorkommende Behandlung gehegt haben, die dann in aller Regel auch erfüllt wurden. Und nun soll der „Verwaltungsdirektor“ Kunz dem „Boten“ Nitschmann zu Diensten sein? Offensichtlich hatte Nitschmann dies in völliger Verkennung der Position eines Haushofmeisters84 82
Der Brüderbote, 25, 1887, 286. R.21.A.112.a.7.b. 84 Heinrich Bosse hat in seinem Aufsatz über den Hofmeister in Livland und Estland (in: Aufklärung in den baltischen Provinzen Russlands. Ideologie und soziale Wirklichkeit. Hg. v. OttoHeinrich Elias. Köln [u. a.] 1996, 165–208) plausibel dargelegt, welchen „Stand“ der Hofmeister innehatte: die Nachfrage überstieg bei weitem das Angebot. Entsprechend gut war die Bezahlung. 83
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erwartet und beklagt sich sogleich bei Zinzendorf, dass Kunz keinerlei Anstalten trifft, diesen Erwartungen zu entsprechen. Ob Kunz es sich aus Standesgründen oder gar aus Vorsicht nicht meint leisten zu können, den Erwartungen Nitschmanns zu entsprechen oder ob er schlichtweg menschlich und religiös enttäuscht ist, dass „ein Bruder“ wie selbstverständlich erwartet, bedient zu werden, muss offen bleiben. Umgekehrt ist es auch denkbar, dass Nitschmann mit einem selbstbewussten Auftreten zumindest den Schein erweckt hatte, die üblichen Vorurteile und damit das Heterostereotyp eines Westlers gegenüber den „Muskowithern“ verinnerlicht zu haben85 und nun in Form der Verweigerung die Antwort bekommt. Vielleicht sieht sich Nitschmann auch als ein direkt vom Unitätsgründer Zinzendorf Gesandter dem „einfachen Bruder“ Kunz gegenüber als überlegen und weisungsberechtigt. Jedenfalls ist die Beziehung gestört, ein Konkurrenzverhalten ist nicht auszuschließen, eine Übereinstimmung selbst in alltäglichen Gepflogenheiten nicht festzustellen. Ob dies die Ursache dafür ist, dass auch die theologische Übereinstimmung fehlt, mag dahingestellt bleiben. Auffallend ist, dass Kunz in seinen Briefen insgesamt, also auch vor und nach 1735, einen devoten Eindruck hinterlässt, manchmal auch fast weinerliche Töne anschlägt.86 Demgegenüber tritt Nitschmann als der auf, der verlorene Sünder wieder zurecht bringen kann und will. Er betont mehrfach, den „vom Herrn abgekommenen“ und dem Alkohol verfallenen Sünder Kunz „wieder angefasst“ zu haben.87 Ist das bisher Vermutete noch im Sinne menschlichen Gerangels zu verstehen, so ist Nitschmanns Urteil über Kunz, dieser sei „ein elender PieEine akademische Qualifikation war nicht zwingend nötig, vielmehr entschied der persönliche Eindruck über die Einstellung. Vielfach wurde der Bedarf gedeckt, indem durchreisende Akademiker für ein paar Jahre die Lücke zwischen Studium und Berufspraxis überbrückten („Interimsversorgung“). Wenn der Sprung in eine höhere Laufbahn nicht erfolgen konnte oder fehlschlug, übten qualifizierte Hofmeister ihren Beruf auch über eine längere Zeit hindurch aus, bevor sie in der Regel wieder nach Deutschland zurückkehrten. Für den Haushofmeister, also den hohen bzw. höchsten Verwaltungsbeamten, galt Entsprechendes. Auch sie waren im Einreiseland Russland sehr gefragt und wurden gut dotiert, kehrten aber irgendwann nach Deutschland zurück, um hier ihren Lebensabend zu verbringen. 85 Der Nationalcharakter der Russen wird aus westlicher Sicht in der Regel mit „boßhaft“, „verrätherisch“, „einfältig und ungeschickt“, „gar nichts an Verstand“ umschrieben, wiewohl sich seit Peter I. langsam das Urteil durchsetzt, „nunmehr“ seien auch die Muskowither „der Künsten und Studien fähig“ (vgl. Franz K. Stanzel: Europäer. Ein imagologischer Essay. Heidelberg 21998, hier 53 f.); Wolfgang Eismann: Der barbarische wilde Moskowit. Kontinuität und Wandel eines Stereotyps. In: Europäischer Völkerspiegel. Imagologisch-ethnographische Studien zu den Völkertafeln des frühen 18. Jahrhunderts. Hg. v. Franz K. Stanzel. Heidelberg 1999, 283–297; Eckhard Matthes: Das veränderte Rußland und die unveränderten Züge des Russenbilds. In: Russen und Russland aus deutscher Sicht. 18. Jahrhundert: Aufklärung. Hg. v. Mechthild Keller. München 1987, 109–135. 86 Solche „Zerknirschungen“ und Selbstanklagen scheinen zum Stil der Brüderbriefe zu gehören. Vgl. unten den ursprünglichen Schluss des Berichts Gradins über seine Reise! 87 Sowohl im Bericht Vom Religions-Zustand im Rußischen Reich als auch im Brief an Zinzendorf vom 3. August 1735, vor allem aber im Bericht Nitschmann am 1. Januar 1736 (Punkt 16).
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tiste“, habe „keine Ohren zu Herrnhut“ und sei „sehr vor die Hallenser portiret“,88 kaum nachzuvollziehen, zumal es in der bislang bekannten Biographie von Kunz auch nicht den Schimmer eines Anscheins gibt, der die Behauptung Nitschmanns belegen und damit rechtfertigen könnte. Die Quellen Kunz und Ostermann blieben daher für Nitschmann und damit auch für Zinzendorf verschlossen. 2.3.4.2 Der Besuch der Gräfin von Zinzendorf 1743 in St. Petersburg Im Jahre 1743 versuchte die „Frau Gräfin von Zinzendorf“, der Zarin Elisabeth ein Memorial persönlich zu überreichen, in dem sie um Duldung und völlige Gewissensfreiheit für die Brüdersache, insbesondere in Livland, bat. Die Antwort der Zarin war niederschmetternd: Im Ukas vom 16. April 1743 wurde jedwede „Herrnhuterey“ in Russland untersagt und befohlen, „die zu solchen Zusammenkünften erbauten Gebäude zu schließen.“ Immerhin konnte die Gräfin mit ihrem Gefolge frei ausreisen. Während des Aufenthaltes der Gräfin in St. Petersburg widerfuhr Kunz mehrfach „die Gnade, die Frau Gräfin zu sprechen“. Rätselhaft ist die Bemerkung der Gräfin zu Kunz, sie dächte doch nicht, dass er „aus Mähren ausgegangen wäre, um Hofmann zu werden“. Seine spontane Antwort, „das habe ich nicht gesucht“, wird später von ihm mit Tränen und großer Unruhe quittiert und mit dem Hinweis auf Gottes Willen rationalisiert. Unter seelsorgerlichen Aspekten keine glückliche Begegnung. 2.3.4.3 Die Arrestanten Die 1742 bis 1747 in Petersburg arretierten Herrnhuter Brüder Conrad Lange, Michael Kund und Zacharias Hirschel sowie Arvid Gradin (1743– 1747 in Petersburg arretiert) hatten Gelegenheit, Kunz zu besuchen, und er besuchte sie.89 Die Art des Arrestes wechselte mehrfach von leicht zu schwer und wieder zurück. In einem „leichten“ Arrest waren solche Besuche offensichtlich möglich. Allerdings hatte Kunz keine Chance, auf das Geschick der Arrestanten Einfluss zu nehmen (Visabeschaffung, Rückkehrarrangements), was über den aktuellen Besuchscharakter hinausgehen konnte. Gegen Ende der Arrestzeit richteten die Brüder ihre Arrestkammer, liebevoll „Stübgen“ genannt, als Sing- und Gebetsstätte ein und gaben ihr den Namen „Gnaden-Saal“. Wegen des Verbots von jedweden „Zusammenkünften“ zum Zwecke der Andacht (1743) war dies ein nicht ungefährliches Unterfangen. Es machte aber auf Georg Kunz, der offensichtlich mehrfach wenn nicht sogar regelmäßig den „Gnaden-Saal“ besuchte und an den Andachten teilnahm, einen derart tiefen Eindruck, dass es zu zwei folgenreichen
88 89
Brief Nitschmanns an Zinzendorf vom 03.08.1735. Vgl. Teigeler, Russland [s. Anm. 2], 171–198, 199–203.
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Entscheidungen kam: Zum einen: Als die Brüder endlich (1747) die Erlaubnis zur Ausreise bzw. Rückreise erhielten, stellte Kunz alle Bedenken beiseite (s. u. ) und betrieb bereits nach wenigen Wochen mit Nachdruck seine eigene Ausreise zurück nach Deutschland. Zum anderen: Als Kunz viele Jahre später im Witwern-Chor-Haus in Herrnhut seinen Lebensabend verbringt, richtete er seine Kammer so ein, dass sie ihm als „Kapellgen“ diente (s. u.). Dass er sich damit der brüderischen Gemeinschaft ganz oder zumindest in erheblichem Umfang entzog, konnte nicht verborgen bleiben. 2.3.5 Kunz gibt sich als Herrnhuter zu erkennen Kunz verteidigte die Herrnhuter gegenüber den Hallensern in St. Petersburg und ließ sich nicht durch die eifrig ausgestreuten Verdächtigungen irritieren: Ich war die ganze Zeit meines Hierseyns mit den Luth[e]rischen Predigern sehr wohl bekannt, dass ich auch zu Gevattern bei ihnen gestanden habe. Als sie aber nach der Zeit die Läster-Bücher bekamen, und sie vieles an den Herrn Grafen von Zinzendorf und an den Brüdern aussetzten, wozu ich nicht stille schweigen konnte, so war ihre große Freundschaft bald aus, oder doch sehr unterbrochen. Der Name Herrnhuter wurde sehr verdächtig und schwarz, und man suchte mich von der Liebe zu den Brüdern abzubringen durch Zusendung solcher Läster-Bücher, die ich aber ungelesen zurück sandte.
Selbst in einer heiklen Situation bekannte sich Kunz zu Herrnhut. Als er sich 1745/46 im Dienst beim Englischen Residenten Baron Wolf befand, kam es während eines Banketts zu einer gefährlichen Szene: Dieser Herr [Baron Wolf] war über die Maaßen reich und tractirte viel. Einmal waren wohl 20 Herren beisammen, worunter sich auch der gottesfürchtige General Henning befand.90 Der redte mich über der Tafel also an: Kunz, ich habe gehört, er wäre ein Herrnhuter, ist das wahr? Meine Antwort darauf war: Ihro Excellenz, ich bin noch kein Herrnhuter, ich wünschte aber, ich wäre einer. Frage: Was sind das für Leute? Ich antwortete: Das sind gute Leute, sie bezeugen mit ihrem Leben und 90 Einer der wenigen materialen Irrtümer von Kunz! Es handelt sich um Johann Wilhelm Henning, geboren 1701 in Nordhausen, 1721 Aufnahme in die Lateinische Schule in Halle, 1724 Immatrikulation an der Universität Halle, Theologiestudium. Ab 28.10.1724 Präzeptor am Militärwaisenhaus Potsdam. Dort entlassen, weil er „der Unzucht im Waisenhaus Potsdam überführt“ wurde. Eine Neuanstellung am Waisenhaus in Sorau (1726) scheitert, weil man eine Wiederholung der Vorgänge in Potsdam befürchtet (AFSt / H C 42: 63 und 64 sowie 468 : 5). Insbesondere durch den „Slavenfreund“ Heinrich Milde wurde Henning für Russland interessiert, war Hauslehrer beim Admiral Cruys, sodann Prediger in Kronstadt, 1747 Nachfolger Plaschnigs als Kadettenchor-Prediger in St. Petersburg. Jedenfalls war Henning kein General und auch die Anrede mit „Excellenz“ unangebracht. Vermutlich verwechselte Kunz ihn mit dem General Major de Hannibal, der mit seiner Frau eifriger Teilnehmer der pietistischen Konventikel Hennings war (Winter, Ausgangspunkt [s. Anm. 40], 92). Übrigens wird Henning bei Winter ein „tüchtiger Schulmann“ genannt. Die Vorgänge in Potsdam werden von Winter nicht erwähnt.
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Wandel, was sie glauben. Er fragte weiter: Was haben sie vor eine Religion? Ich sagte: Sie haben die wahre Evangelisch-Lutherische Religion. Damit war er stille und fragte weiter nichts.
Dennoch: Aus Herrnhuter Sicht war die Reise bedenklich. Zum einen, weil Kunz seinen Auftrag auch als einen missionarischen Dienst verstand, was aber von Zinzendorf zurückgewiesen wurde. Zum andern, weil der windige David Schulius als Reisearrangeur nicht gerade eine erste Empfehlung darstellte. Und vor allem, weil die ganze Unternehmung eindeutig auf hallenser Initiative hin erfolgte. Sowohl Adelung als auch Cruys waren intimste Gewährsleute Franckes. Der Streit zwischen Herrnhut und Halle eskalierte zwar erst 1732, aber zumindest aus der späteren Sicht wird es als anrüchig angesehen worden sein, sozusagen mit der Fahrkarte aus Halle nach Russland zu reisen; sich dort im Zentrum des Franckeschen Netzwerkes aufzuhalten und sich auch noch bemüßigt zu fühlen, entgegen der Warnung Zinzendorfs Evangeliumsverkündigung zu betreiben. 2.3.6 Die Katastrophe Im Jahre 1740 heiratete Georg Kunz Anna Dorothea, geborene Cromitz, eine „fromme und wohlerzogene Person“. Ihre Eltern „waren aus Liefland von den Schwedischen Gefangenen“. Der Vater war „Leib-Schuster“ bei Peter I. gewesen. Am 5./16. März 1741 wurde dem Ehepaar eine Tochter geboren, die ebenfalls den Namen Anna Dorothea erhielt.91 Als die Tochter etwas über zwei Monate alt war, wurde die Mutter zur Regentin Anna geholt und dort „zur Säugamme bei ihrer Prinzessin Tochter Catharina behalten“. Dass die junge Mutter als „Säugamme“ an den Hof geholt und nicht etwa auch als Kinderpflegerin oder gar Erzieherin, bedeutete, dass ihr Verbleib am Hofe als zeitlich begrenzt angesehen und eingeplant wurde. Der junge Vater erhielt die Erlaubnis, während dieser Zeit mit seiner Tochter in Begleitung der Schwiegermutter und Schwägerin seine Frau täglich zu besuchen, damit diese auch das eigene Kind stillen konnte.
91 Die Tochter Anna Dorothea wurde am 16.03.1741 in Petersburg geboren und starb am 17.01.1803 in Dresden. Ihr Lebenslauf findet sich im UA unter R.22.87.30, eine Abschrift unter R.22.78.34. In den Dienerblättern des UA Herrnhut sind die Daten ihres Lebens im Detail verzeichnet. Anna Dorothea durchlief die klassischen Stationen innerhalb der Brüdergemeine. Im Jargon der Erbauungsgemeinschaften hieß dies: Von den „Toten“ über die „Erweckten“ zu den „Bekehrten“. „Der Gang durch die Chöre wurde somit zu einer Art Lebensgang innerhalb der Gemeine.“ Irina Modrow: „Wir sind philadelphische Brüder mit einem lutherischen Maul und Mährischen Rock . . .“ Die Lösung der Identitätsfrage der Herrnhuter Brüdergemeine. In: Europa in der Frühen Neuzeit. FS Günter Mühlpfordt. Bd. 1: Vormoderne. Hg. v. Erich Donnert. Weimar [u. a.] 1997, 577–591, hier 578. Moeschler summiert: „Anna Dorothea Kunz, wurde in der Brüdergemeine erzogen und war später Erzieherin im gräflich Hohenthalschen Hause in Teichnitz bei Dresden.“ (Moeschler [s. Anm. 4] 1, 67)
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Die Prinzessin Anna Leopoldovna92 hatte 1739 den Prinzen Anton Ulrich den Jüngeren von Braunschweig-Wolfenbüttel-Bevern geheiratet. Am 13./24. August 1740 wurde der Sohn Ivan/Johann geboren, am 26. Juli 1741 die Tochter Katharina. Bei beiden Kindern wie bei den drei später in der Verbannung geborenen Kindern Elisabeth (geb. 15./26. Oktober 1742), Peter (geb. 19./30. März 1745) und Alexej (geb. 27. Februar/10. März 1746) kann die Vaterschaft des Ehegatten Anton Ulrich nicht als sicher angenommen werden. In diesen Jahren hatte Anna Leopoldovna mehrere „allzu schwärmerische Beziehungen“,93 u. a. zu Moritz Karl Graf zu Lynar, dem zeitweiligen sächsischen Gesandten am Hofe. Aber auch dem Prinzen Peter von Biron, Sohn des Oberkammerherrn (unter Anna Ivanovna) und späteren Regenten (unter Anna Leopoldovna) Ernst Johann Graf von Biron, den sie kurz zuvor noch abgewiesen hatte, schenkte sie „immer mehr Aufmerksamkeit“,94 und er verbrachte öfters „einige Stunden allein bei ihr“. So wie Ehen am Hofe ein Teil der Staatspolitik waren, so auch die Pflicht der „Damen von Stand“, möglichst viele Kinder in kurzer Zeit zu gebären. Um dieser Pflicht nachkommen zu können und um auch nach der Entbindung möglichst bald wieder in gewohnter Schönheit an Bällen und Empfängen teilnehmen zu können, wurden Ammen engagiert. Da es verbreiteter Glaube war, dass nicht nur gesundheitliche Mängel, sondern auch sittliche Verfehlungen der Amme über die Milch an den Säugling weitergegeben würden, wurde die Auswahl der jeweiligen Amme mit größter Sorgfalt getroffen. Es spricht daher für die Lebensführung der Eheleute Kunz, dass die junge Mutter für so einwandfrei befunden wurde, dass sie am Zarenhof als Säugamme engagiert werden konnte. Für die ausgewählte Amme und deren Familie bedeutete dies in der Regel einen enormen sozialen Aufstieg. So wurden auch Georg Kunz verschiedene „Hof-Ämter“ angeboten, die er aber ausschlug. Auf Grund seiner guten „Aufführung“ wurde er jedoch als „Verwahrer“ der Silberkammer vorgeschlagen und erhielt diesen vertrauensvollen Posten, der ihm genügend Zeit ließ zur Lektüre „guter Bücher“ und zur Praktizierung seiner Frömmigkeit, indem er Gemein-Lieder sang, wenn er allein war. 92 Diese „Regentin Anna“ war die Tochter des Herzogs Karl Leopold von MecklenburgSchwerin und der älteren Schwester der Zarin Anna Ivanovna, Katharina Ivanovna. Sie wurde am 07./18.12.1718 in Rostock geboren und auf den Namen Elisabeth Katharina Christine getauft. Vier Jahre später reiste Katharina Ivanovna mit ihrer Tochter nach Russland und blieb dort. Ihre Tochter, also die Nichte der Zarin Anna Ivanovna, wurde von Feofan Prokopovič in der Glaubenslehre der russisch-orthodoxen Lehre unterwiesen. Anfang Juni 1733 erfolgte der Übertritt zur griechischen, d. h. russisch-orthodoxen Kirche. Obwohl Elisabeth Katharina Christine ihren Namen offiziell nie änderte, wurde sie von nun an Anna genannt, korrekt Anna Leopoldovna, oftmals fälschlich Anna Karlovna. 93 Leonid Lewin: Macht, Intrigen und Verbannung. Welfen und Romanows am russischen Zarenhof des 18. Jahrhunderts. Göttingen 22003, 49. 94 Lewin, Macht [s. Anm. 93], 63.
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In der Nacht vom 24. auf den 25. November 1741 (5./6. Dezember 1741) jedoch kam es zur Katastrophe: Elisabeth Petrovna, die jüngste Tochter Peters I., wagte den Staatsstreich. Kleine Kommandos verhafteten die nahe wohnenden Minister. Mit dreihundert Soldaten des Preobrashenskij-Leibgarde-Regiments drang Elisabeth in den Winterpalast ein.95 Die Palastwache, fast dreihundert Mann, wurde verhaftet. Der „Generalissimus“ Anton Ulrich wurde aus dem Bett geholt und in einem Schlitten in das Sommerpalais, der Wohnung Elisabeths, abtransportiert, Anna Leopoldovna im Schlitten Elisabeths ebenfalls dorthin gebracht. Die Kinder Ivan/Johann und dessen Schwester Katharina wurden von zwei Grenadieren herunter getragen und in einem weiteren Schlitten ebenfalls in das Sommerpalais gebracht. Kunz: Nach 3 Monaten geschahe die Regierungs-Veränderung, da denn meine Frau mit der Regentin fortgeschickt wurde. Auf gütliches Zureden und großes Versprechen bewog sie sich endlich, dass sie sich darein gab. Ich blieb aber noch nach wie vor in meinem Amte, auch bei der neuen Kayserin Elisabeth 3 Jahre lang.
Georg Kunz sah seine Frau nie wieder. Er schaffte es jedoch, auf welche Weise auch immer, anfangs in Kontakt mit ihr zu treten und sie durch „gütliches Zureden und großes Versprechen“ zu bewegen, sich in ihr Schicksal zu fügen. Alle Versuche, seine Frau frei zu bekommen, schlugen fehl. Er selbst berichtet detailliert von drei derartigen Versuchen: Der erste Versuch 1744 bestand darin, der Kaiserin Elisabeth eine „Suplic“ zu übergeben und um „Losgebung“ seiner Frau zu bitten. Diese Bitte endete überraschend damit, dass Kunz aus seiner Stellung entlassen wurde, „weil Ihro Majestät keine Leute von der vorigen Regierung bei Hofe haben wollten“. Er hatte die Kaiserin durch seine Supplique auf sich aufmerksam gemacht und konnte froh sein, wenigstens sein Gehalt noch zu bekommen. Meiner Frauen Losgebung zu betreiben konnte ich gleichwohl nicht unterlassen. Ich fand noch etliche Gelegenheiten dazu. Anno 1746, da die Großfürstin Anna in ihrer Gefangenschaft gestorben war, kam der Kammerherr Korf von Archangel nach Petersburg von dem Prinzen Anton Ulrich, bei dessen Prinzessin Tochter meine Frau ist. Er ließ mich zu sich rufen, und versprach, mir zu helfen. Ich müsste aber im Lande bleiben, um meinen Gehalt fort zu bekommen. Anno 48 that ich durch den Geheimen Cabinets Ministre Circassof noch einen Versuch, meine Frau los und frey zu kriegen. Aber vergebens. Die Antwort war, sie wäre nöthig bei den Kindern, weil sie keine Mutter hatten. Wie ich sehen musste, dass alle mein Suchen umsonst wäre, so war ich verlegen um mein Kind, und suchte dasselbe aus der Welt in die Gemeine in Sicherheit zu bringen. 95 „Alle Russen bekennen, dass es bloss des Beistands einer Anzahl Grenadiere, eines Kellers voll Branntwein und einiger Säcke mit Geld bedürfe, um zu machen, was man wolle.“ (Ernst Herrmann: Geschichte des russischen Staats. Bd. 4: Von der Regentschaft der Großfürstin Sophia Alexejewna bis auf die Thronbesteigung der Kaiserin Elisabeth Petrowna (1682–1741). Hamburg 1849, 685 [zit. n. Aleksander Brückner: Die Familie Braunschweig in Russland im achtzehnten Jahrhundert. St. Petersburg 1876, 2).
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Es war Kunz trotz aller Geheimhaltungsvorschriften und entsprechender Maßnahmen auf Grund seiner Beziehungen möglich, den Schicksalsweg seiner Frau in etwa zu verfolgen.96 2.3.7 Rückkehr 2.3.7.1 Die Ausreise aus St. Petersburg Alle Versuche, seine Frau frei zu bekommen, waren fehlgeschlagen. Ihre Spur verlor sich.97 Daher wurde Kunz vor allem von Jeremias Ri(e)sler (sen.), dem reformierten Prediger in St. Petersburg, unermüdlich im Blick „auf das ewige Seelen-Heil“ seiner Tochter zur Ausreise gedrängt.98 Riesler erbot sich sogar, „Vater und Kind heimlich auf ein nach Lübeck destinirtes Schiff zu begleiten, woselbst er schon Plätze für sie beide bestellt hatte“. Mit „starckem Ausdruck“ fügte er hinzu: „Wenn du meinen Rath jetzt nicht folgst, so werde ich an jenem Tage, wenn deiner Tochter Seele von Deiner Hand gefordert wird, wider dich zeugen.“ Dennoch zögerte Kunz. Ein „gewaltsames Wegführen“ erschien ihm „bei der von Jugend auf sich an ihr [seiner Tochter] zeigenden Schwächlichkeit“ zu riskant, zum anderen hätte ein solches heimliches Entweichen bedeutet, die Tochter „des ansehnlichen Vermögens ihrer Großmutter zu berauben und [sie] in die bitterste Armuth zu versetzen“. Es waren zwei Ereignisse, die Kunz bewogen, dennoch die Ausreise aus St. Petersburg zu betreiben: Den ersten Anstoß zur Ausreise erhielt Kunz, als die Brüder Arvid Gradin, Conrad Lange, Zacharias Hirschel und Michael Kund Ende Mai 1747 nach fast vier- bzw. fünfjährigem Arrest, der aber Besuche und brüderische Gemeinschaft erlaubte, aus St. Petersburg abgereist waren.99 Seinen Entschluss zur Ausreise teilte Kunz der „teueren Creutzgemein“ und den „in dem Heyland hertzlich geliebten Brüdern“ bereits drei Wochen nach der Abreise der Brüder am 16. August 1747 in einem versiegelten Brief
96 Lewin, Macht [s. Anm. 93]. Leider ist die erste Auflage miserabel, die zweite immerhin akzeptabel lektoriert. Neuerdings zuverlässig recherchiert und erhaben über die „phantastischen Begebenheiten, geboren aus einer überhitzten Reizbarkeit der Sinne“ (Detlef Jena: Zar Iwan VI. Der Gefangene von Schlüsselburg. München 2004, hier 8). Die Lebensumstände der Gefangenen im russischen Verbannungssystem beschreibt anschaulich und zuverlässig, wenn auch bezogen auf das ausgehende 19. Jahrhundert: George Kennan: . . . und der Zar ist weit. Sibirien 1885. (Ost-)Berlin 31981. Neuerdings erschienen unter dem Titel: Sibirien. . . . und der Zar weiß alles. Reise in das russische Verbannungssystem. Bearb. v. Kurt-Rudolf Stratemann. Göttingen 2003. Die Bearbeitung durch Stratemann besteht vor allem in der Neuübersetzung des englischen Originals und einer nicht unwesentlichen Kürzung. 97 Cholmogory? Horsens? Vielleicht würde eine Überprüfung der Liste der Archangelsker Gouvernementszeitung Nr. 33 des Jg. 1875 weiterhelfen, was aber derzeit nicht möglich war. Ansonsten vgl. Brückner, Die Familie Braunschweig [s. Anm. 95], 144. 98 Dieses und die folgenden Kurzzitate aus dem Lebenslauf von Kunz’ Tochter Anna Dorothea. 99 Vgl. Teigeler, Russland [s. Anm. 2], 174 f. sowie oben den Abschnitt „Besuche“.
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mit.100 Zunächst bittet er um Verzeihung für nicht näher genannte Verfehlungen. Dann kommt er zur Sache: Wie gerne wollt ich balde bey dir, du liebe Creutz-Gemein, in deinem Hause, klein und verachtet, sein, bey dir zu leben und dir zu dienen, dass zu dir Gnade mit euch konnt rinnen, so wäre mir wohl. Ich fühl ein großen Tri[e]b zu der lieben Gemeine, und bin auch überzeugt, dass ich zu der Gemeine gehöre, wie die lieben Brüder schreiben. Aber ich hab es gar zu späth zu Hertzen genommen und bin meinem Heyland zur Schmach und der Gemeine zum Betrübniß in der Welt gewesen. Es wird mir jetzund sehr schwer, das[s] ich so toricht [töricht] gethan habe. Die teuere Gemeine ist mir allezeit groß und wichtig in meinen Augen gewesen. [. . .] Seitdem die lieben Brüder aus Petersburg gereiset, hab ich kein Bleibens hier und denck alle Tage, ja alle Stunden, wer [wäre] ich bey der lieben Gemeine mit meinem Kinde, mein lieber Heyland wollte mir Weg und Stege zeigen.
Bereits am 30. August 1747 schrieb Georg Kunz erneut aus St. Petersburg an die Gemeine, jetzt nach Marienborn.101 Vom Inhalt und bis in viele Formulierungen hinein stimmt der Brief mit dem vom 16. August 1747 überein. Offensichtlich hatte Kunz inzwischen erfahren, dass Unitätsleitung und Gemeine von der Oberlausitz in die Wetterau gewechselt waren. Um sein Anliegen auf jeden Fall vorzutragen, schrieb er erneut. Ein weiteres Ereignis wird den Entschluss, mit seiner Tochter baldmöglichst Russland zu verlassen, beschleunigt haben: Kunz bekam eine ansehnliche Summe Geldes, das er verliehen hatte, zurückerstattet. Dieses Geld hatte er „ohne Interesse“, also ohne Zinsen oder dergleichen zu verlangen, zum Druck des neuen Finnischen Testaments bereit gestellt. Diese wohl als mündelsicher erachtete Geldanlage erhält ihre Brisanz dadurch, dass der Schuldner kein geringerer war als der Pastor Plaschnig, der seit Jahren in St. Petersburg gegen die Herrnhuter agitierte und nicht unwesentlich, ja sogar maßgeblich an den Verleumdungen gegen die Herrnhuter „Sektierer“ beteiligt war, was entsprechende Konsequenzen nach sich zog. Alles in allem jedoch verlief die Ausreise aus Russland schleppend. Erst am 4. Juni 1749 bestieg Georg Kunz mit seiner Tochter ungehindert ein Schiff nach Lübeck. Die Überfahrt war „glücklich“, jedoch mussten sie in Lübeck zwei Wochen warten, bis sie einen Fuhrmann fanden. Man konnte sich einen Wagen leisten, was die „beschwerlicher Landreise“ abfederte. Am 29. Juli 1749 trafen beide in Herrnhaag ein. 2.3.7.2 Herrnhaag Herrnhaag 1749! Das war die Endphase der „Sichtungszeit“. Das bedeutete Verirrungen, Geschmacklosigkeiten, „Seitenhöhlchen“-Mystik, Gründung des „Närrchenordens“, Dichtung von „Creuzluftvögeleinsliedern“, eksta100 101
UA R.12.A.a. Nr. 2.c. UA R.12.A.a. Nr. 2.d.
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tisch-euphorische Gefühlstaumelei, geistliche Liebesspiele.102 Das bedeutete zum anderen ein „Leben als Fest“: das Gefühl inniger Geborgenheit angesichts des Gotteslammes, heitere Fröhlichkeit im unmittelbaren Erleben, selige Kindlichkeit der erlösten Gotteskinder, mehrmals täglich Zusammenkünfte der ganzen Gemeine oder in Gruppen und Chören, Liebesmahle und Chorfeste. „Das Ganze war ein soziales Kunstwerk, in dem eine ungeheure Aktivität entwickelt wurde.“103 Herrnhaag 1749 bedeutete daher fast zwangsläufig auch: Zermürbende Hetzschriften, Streitschriftenkriege, Irritationen, Spaltungen und Abwendung der „Nüchternen“ von den „selig Entrückten“. Im Februar 1749 schrieb Zinzendorf aus London seinen berühmten „Strafbrief“ oder „Donnerbrief“,104 in dem er versuchte, durch Verbote die Dinge wieder zu recht zu rücken. Das war die Bühne, als Georg Kunz mit seiner Tochter am 29. Juli 1749 nach langen Strapazen in Herrnhaag eintraf. Ob er seine Gemeine von 1725/ 26 noch wiedererkannte? Noch in demselben Jahr 1749 wird Kunz in Herrnhaag in die Gemeine aufgenommen.105 Im folgenden Jahr vermerkt die „Accurate Specification von allen jetztmahligen Einwohnern des Herrnhaags“: Zunahme: Kunz. Taufnahme: Georg. Frau nicht hier. Würckl. Stand oder Profession: Haußhofmeister. Jahre alt: 56. Vaterland: Mähren. Jahre lang hier: ¾.106
Eine undatierte, aber höchstwahrscheinlich ebenfalls aus dem Jahr 1750 stammende Liste führt auf:
102 Diese Zeit wurde oft beschrieben und be- bzw. verurteilt. Hier sei vor allem verwiesen auf das Themenheft von Hans-Walter Erbe, UnFr 23/24, 1988, 8–166: Herrnhaag. Eine religiöse Kommunität im 18. Jahrhundert. Vgl. auch Hans-Walter Erbe: Herrnhaag – Tiefpunkt oder Höhepunkt der Brüdergeschichte? In: UnFr 26, 1989, 37–51, sowie auf Paul Martin Peucker: Blut’ auf unsre grünen Bändchen. Die Sichtungszeit in der Herrnhuter Brüdergemeine. In: UnFr 49/50, 2002, 41–94; Hans-Georg Kemper: Geistliche Liebesspiele. Die Herrnhuter in Büdingen. In: Literarisches Leben in Oberhessen. Hg. v. Gerhard R. Kaiser u. Gerhard Kurz. Gießen 1993, 47–72, sowie Meyer, Zinzendorf [s. Anm. 25], 49–56: Die Gemeinden in der Wetterau und der Blut- und Wundenkult. Craig D. Atwood: Interpreting and Misinterpreting the Sichtungszeit. In: Neue Aspekte der Zinzendorfforschung. Hg. v. Martin Brecht u. Paul Peucker. Göttingen 2006, 174– 187; Peter Vogt: „Gloria Pleurae!“ Die Seitenwunde Jesu in der Theologie des Grafen von Zinzendorf. In: PuN 32, 2006, 175–212. 103 Erbe, Herrnhaag – Tiefpunkt [s. Anm. 102], 43. 104 UA R.20.C.24.208. Abgedruckt (gekürzt) in: Zinzendorf und die Herrnhuter Brüder. Quellen zur Geschichte der Brüderunität 1722–1760. Hg. v. Hans-Christoph Hahn u. Hellmut Reichel. Hamburg 1977, 172–176. 105 „Anno 1749 sind in der Gemeine zu Herrnhaag aufgenommen 7 Männer: [. . .]. Georg Kuntz.“ UA R.27.294.47. 106 Accurate Specification, Alphabetische Specification oder Tabelle der eigentlich Herrnhaagischen Verehelichten Einwohner. UA R.27.294.57.
106
Nahme: Georg Kunz. Profession: Haußhofmeister. Vermögen: 1200 fl[orenen] im Diaconat. Kinder: – .107
Eine weitere Liste vom 5. Mai 1750 spezifiziert: Nahmen: Georg Kunz. Frau in Syberien. Alter: 56. Vaterland: Mähren. Ankunft in Herrnhaag: 1749. Gesundheitsumstände: schwächlich. Profession: Herrendiener. Hat nichts zu thun. Vermögen: 1200 fl[orenen] im Diacon[at]. Kinder: 1 Tochter von 9 Jahre im Mädchen Haus.108
Für diesen Lebensabschnitt von Kunz ist vor allem seine Aufnahme in die Gemeine wichtig. Zudem legt er Wert darauf, als Verheirateter angesehen und geführt zu werden und nicht etwa als Witwer. Ebenso legt er Wert darauf, dass seine Profession die eines Haushofmeisters ist und nicht etwa Zimmermann. Er ist nicht unvermögend. Er kann dem Öconomicum der Diakonie 1200 Gulden leihen. Sein Gesundheitszustand ist allerdings „schwächlich“. Die Tochter ist im Mädchenhaus untergebracht. Soviel zu den persönlichen Lebensumständen. Die Situation in Herrnhaag insgesamt war besorgniserregend: Nicht genug mit den liturgischen, theologischen und sozialen innergemeindlichen Problemen, auch von außen wurde die Existenzfrage gestellt. Die gräfliche Regierung in Büdingen kündigte den Pachtvertrag und zwang die Einwohner im Emigrationsedikt vom 12. Februar 1750, innerhalb von drei Jahren die Siedlung zu räumen.109 Bereits am 21. Februar verließ die erste Kolonne von 30 Brüdern den Ort und ging nach Pennsylvanien. Ebenfalls schon 1750 emigrierte Kunz’ Tochter mit dem gesamten „Mädchen-Haus“ zunächst nach Großhennersdorf, im folgenden Jahr nach Herrnhut. Kunz blieb noch in Herrnhaag. Unter der Exodussituation litten natürlich Handel und Gewerbe, das „Commercium“. Kunz ist de facto arbeitslos. Kurzum: Nachdem er den Unbilden in Russland entkommen ist, gerät er sogleich wieder in eine Unruhe- und Aufbruchsituation.
107 UA R.27.294.62. Offensichtlich hat Kunz 1200 Florenen [Gulden] dem Haushalt des Diakonats ausgeliehen. Der Auslassungsstrich in der Rubrik Kinder muss nicht bedeuten „keine“, sondern kann auch heißen: „dem Listenführer nicht bekannt“. 108 UA R.27.294.63. Auf dem Umschlag steht der erläuternde Zusatz: „Weil die Gemeine in procinctu Exilii stehet, liegt auch das Commercium, und die Handwercker haben fast nichts zu thun, daraus ein ziemlicher Schade vor [für] die Familien entstehen würde, wenn nicht balde eine Veränderung gemacht wird, zumahlen wenn vollends noch die Anstalten weg kommen.“ Die Bemerkungen zum Gesundheitszustand der anderen Einwohner lauten oftmals: „gesunde, arbeitsame Leute“ oder „gesunde, frische Leute“. Dass sich Kunz’ Frau in Sibirien aufhalte, geht auf Bemerkungen der Tochter zurück, die auch in ihrem Lebenslauf fälschlich behauptet, dass die Mutter sich in Sibirien aufhalte. Sibirien hier wie so oft Synonym für Verbannung überhaupt. 109 Details etwa bei Erbe, Herrnhaag [s. Anm. 102], 148–152; Erbe, Herrnhaag – Tiefpunkt [s. Anm. 102], 44; Meyer, Zinzendorf [s. Anm. 25], 56.
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2.4 Herrnhut Kunz’ Tochter kehrte 1750 mit den ersten Rückkehrerkolonnen in die Oberlausitz zurück.110 Nach einem Zwischenaufenthalt in Ebersdorf111 machte sich 1753 auch Kunz auf den Weg nach Herrnhut, nachdem ihn Nachrichten von der ernsten Erkrankung seiner Tochter erreicht hatten. Er kümmerte sich „in aller Vater-Treue“ um seine Tochter. Sie gesundete. Sobald Vater und Tochter im Juli 1749 in Herrnhaag angekommen waren, ist es für Kunz selbstverständlich und erstrebenswert, dass seine Tochter im brüderischen Geist erzogen wird. Weil jedoch „ihr unbekehrtes Herz und ihr durch Eitelkeit verdorbener Verstand hier [in Herrnhaag] keine Nahrung“ fanden, fiel ihr „das Eingewohnen außerordentlich schwer“. Auch „waren ihr die tändelhaften Ausdrücke der damaligen Zeit sehr zum Anstoß“.112 Aber „1752 den 6. November kam sie unter die größeren Mädchen und wurde am 13. desselben Monats in die Gemeine aufgenommen. Am 5. Juny 1756 gelangte sie zum erstmaligen Genuß des Heiligen Abendmahls. Im Jahr 1758 den 13. Juny kam sie ins ledige Schwestern-Chor.“113 Hier wurde sie „durch die treue Pflege des Heiligen Geistes in die nötige Selbsterkenntnis geleitet, und ihr war die Gnade geschenkt worden, nicht nur ihr tiefes Grund-Verderben zu erkennen, sondern auch offenhertzig zu bekennen.“ Damit war eine der theologischen Grundbedingungen für ein Leben in der Brüderunität erfüllt, nämlich dass der Eigenwille transformiert wird in das Achten auf den Heiligen Geist. Nach dieser Wandlung nahm der Lebensweg der Tochter den gewünschten Verlauf, so dass der Vater sicher mit Stolz auf seine Tochter geblickt haben wird. Der Lebenslauf der Tochter ist hinsichtlich der Stationen im Rahmen der Brüdergemeine zuverlässig. Über die Kindheit in Russland wird nur in einem Satz berichtet, der aber zwei Fehler enthält:
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Kunz gibt in seinem Lebenslauf das Rückkehrdatum seiner Tochter fälschlich mit 1751 an. Für die hektische Aufbruchszeit aus Herrnhaag fehlen im Archiv alle Personalkataloge der Jahre 1753/54 und die übrigen üblichen Listen (Abendmahlsteilnahme, „Äußere Umstände“ etc.). Die Registraturnummer R.27.294 hat hier eine deutliche Lücke. So ist das genaue „Abgangsdatum“ von Kunz nicht festzumachen. Ebenso liegen keine Daten für den Aufenthalt in Ebersdorf vor. Er wird kurz gewesen sein, da hier zwar die üblichen Kataloge und Listen geführt wurden, die aber an keiner Stelle Georg Kunz erwähnen. 112 Der letzte Halbsatz wurde in der Abschrift des Lebenslaufs gleich von zwei – unterschiedlichen – Redaktoren (schwarze und rote Farbe) eingeklammert. UA R.22.78.34. Da der Umgang mit den Quellen aus der Sichtungszeit insgesamt unterschiedlich war, vom Tolerieren bis zum Totschweigen, lässt sich nicht feststellen, wann und von wem die korrigierenden Hinweise vorgenommen wurden. Die Tendenz jedoch ist deutlich. 113 Einen anschaulichen Eindruck vom Leben im Chor der ledigen Schwestern vermittelt Katharine Faull: ‚Girls Talk‘ – Das „Sprechen“ von Kindern. Herrnhutische Seelsorge an den grossen Mädchen im 18. Jahrhundert. In: UnFr 57/58, 2006, 183–196. Vgl. auch Pia Schmid: Die Entdeckung der Kindheit sub specie religionis. Kindheitsbild und Kindererziehung in der Herrnhuter Brüdergemeine des 18. Jahrhunderts. In: UnFr 57/58, 2006, 37–56. 111
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Ihre Mutter verlor sie schon im 2ten Monat, da selbige bei der bekannten Thronbesteigung der Kayserin Elisabeth als Amme des Printzen Ivan sich mit unter denen nach Siberien Verwiesenen befand.114
Mit Kunz selbst weiß man in Herrnhut nichts rechtes anzufangen. Er gehört nicht zu den Eheleuten, nicht zu den Witwern und auch nicht zu den „Ledigen Mannsleuten“. Als „verehelichter Bruder ohne Frau“ passt er in keines der üblichen Chor-Schemata. Im Katalog der Eheleute wird er mit deutlichem Abstand, sozusagen unter dem Strich, als Letzter aufgeführt.115 In demselben Katalog wird mitgeteilt, dass Kunz zur „Bande“ des Johann (Hans) Heinrich Thiel gehörte.116 Zinzendorf erlaubte Kunz zwar, seine Mahlzeiten am „Tisch bei und mit den herrschaftlichen Bedienten“ einzunehmen, die damit verbundene Hoffnung Kunz’ auf eine ehrenvolle Anstellung erfüllte sich aber nicht. Kunz ist weiterhin arbeitslos und verbringt seine Zeit bis an sein Lebensende mit Gelegenheitsarbeiten, vorwiegend Lackieren. Kunz wurde 1759 ins Witwer-Haus eingewiesen. Die Brüder drängten ihn dazu. Er wehrte sich, da dies aus seiner Sicht einer Toterklärung seiner Frau gleichgekommen wäre. Gegen diese bittere Konsequenz hatte er sich achtzehn Jahre lang gesperrt.117 Immer noch hatte er auf ein Wiedersehen gehofft. Schließlich gab er nach und fügte sich in sein Schicksal: Anno 59 wollten die Brüder, dass ich ins Wittwer-Haus ziehen sollte. Ich sagte ihnen meine Umstände, worauf sie mir antworteten: Das schadet alles nichts. Ich war gehorsam und zog ins Chor-Haus. Da habe ich meine Zeit in der Stille zugebracht und mein treuer Heiland hat mir durch mancherlei Umstände durchgeholfen.
Sechzehn lange Jahre hat Kunz „in der Stille zugebracht“. Diese Zurückgezogenheit führte dazu, dass Kunz weitgehend unbekannt wurde. Er wurde sogar totgesagt und mehrfach mit falschem Vornamen in den Registern 114
Kunz’ Frau war nicht die Amme Ivans, sondern von dessen Schwester Katharina. Und der Verbannungsort war nicht „Siberien“, sondern Cholmogory südlich von Archangelsk am Weißen Meer. 115 Catalogus der Verehlichten Geschwister den 30. Juni 1755. UA R.27.124.73. Diese Erwähnung ist der erste Reflex zu Georg Kunz seit 1750. 116 In den Banden, kleinen nach Geschlechtern getrennten Gruppen, wurde vertraulich über persönliche Glaubensangelegenheiten gesprochen. Sie entstanden 1727 und blieben auch nach der Bildung der „Chöre“ erhalten. In der Bande Nr. 15, zu der Kunz gehörte, werden 1755 außer dem Leiter Thiel noch fünf weitere Männer genannt (UA R.27.124.73). Zum Bandenleiter Johann (Hans) Heinrich Thiel (1718–1774) vgl. die Dienerblätter des UA. 117 So wird Kunz in den Katalogen der Ehe-Chöre der Jahre 1757 und 1758 konsequent im Plural geführt: „Kunzens“: R.27.152.2 (Catalogus vom Ehechor, 21.01.1757, Nr. 92); R.27.125.3 (Seelenregister des Ehechors, Januar 1757, Nr. 47); R.27.125.11 (Herrnhuthsches Ehechor, 01.01.1758, Nr. 45); R.27.125.19 („Classen des Ehe-Chors, wie sie Papa [also Zinzendorf] vor ihrer Abreise Anfang Julii 1758 eingerichtet“, IV. Classe). Kunz wird erstmals 1760 im Witwer-Register aufgeführt (R.27.125.23), allerdings mit falschem Vornamen (Jürgen), aber mit korrektem Geburtsdatum (10.04.1694) und korrektem Geburtsort (Zauchtenthal). Die Spalte „Wittwer von dannen“ bleibt frei, auch in der Folgezeit (Catalogus der Witwer in Herrnhut vom 20. December 1763, R.27.126.8 Nr. 4).
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geführt.118 Daher ist es interessant, dass der letzte ausführliche Personalregistereintrag aus dem Jahre 1771 eine Reihe von Angaben bringt, die bis auf eine korrekt sind, aber bis dahin nirgendwo erwähnt wurden: Namen der Wittwer und ihrer gewesenen Frauen: Johann Georg Kunze, ehemals Kayserl[icher] Silber-Verwahrer am Russischen Hofe. Anna Dor[othea] Krommiz. GeburtsOrt: Zauchtenthal in Mähren den 10. April 1694. Narva.119 Religion: Brr.120 Xarakteres: – .121 Namen der Eltern: Hans Kunze, Bauer. Anna Schindlerin. Kinder: Anna Dorothea, im hiesigen Schwestern-Hause. Kindes-Kinder: – . Zur Gemeine gekommen: 1749 Herrnhuth.122 Wittwerschaft: – .123
Ein absolutes Novum in diesem Katalog ist die Nennung des Geburtsortes von Kunz’ Frau: Narva. Nirgends wurde bisher der Geburtsort genannt. Das konnte nur Kunz selbst wissen. Da fast alle übrigen Angaben in diesem Katalog nachprüfbar sind und zutreffen, liegt nicht der geringste Grund vor, an der Geburtsortsangabe zu zweifeln. Dass Kunz selbst der Informant ist, passt gut zu der Nennung seiner Profession, die ja gar nicht abgefragt wurde: Silber-Verwahrer am Russischen Hof. Aus all seinen Tätigkeiten hat er sich die für ihn ehrenvollste und schmeichelhafteste herausgepickt. Sie trifft zu, wenn auch nur für einige Jahre. Dass die Chorbrüder Kunz nachhaltig beizubringen suchten, dass seine Frau nicht mehr am Leben sei, wird ihm wenig tröstlich gewesen sein. Nur der Rückzug auf seinen Glauben half ihm, die Enttäuschungen zu ertragen.124 Dieser Rückzug fand nicht in die angebotenen sozialen und seelsorgerlichen Einrichtungen und gemeindlichen Strukturen statt, sondern in die Zurückgezogenheit seines Zimmers: „Sein Kämmerchen war sein Capellgen.“ Am Sonntag den 8. Oktober 1775 starb Georg Kunz und wurde am darauffolgenden Mittwoch auf dem Gottesacker zu Herrnhut begraben.125 118 V. Rantzau führt in seinem Alphabetischen Catalogus der heimgegangenen gebohrenen mährischen Geschwister vom April 1769 auch Georg Kunz auf. Dieser Eintrag wurde dann zu recht durchgestrichen und mit Bleistift vermerkt: lebt noch. In den Personalregistern wird Kunz mehrfach mit dem Vornamen Jürgen belegt (1760, aber auch noch im Witwer-Katalog von 1770, in dem die anderen Angaben jedoch richtig sind: R.27.127.1.), obwohl zwischenzeitlich die Angaben korrekt waren (1767: R.27.126.23 und 25). 119 Der Geburtsort der Frau. 120 Das Kürzel „Brr“ ist hier sehr spezifisch gemeint und nicht in der gängigen Bedeutung als „Brüder“. Vielmehr werden in diesem Katalog diejenigen mit der Religionsangabe „Brr“ bedacht, die aus Mähren bzw. Böhmen stammen und damit Angehörige der Alten Brüderunität sind und nicht etwa L[utheraner] oder R[eformierte], sondern eben ein Böhmischer Bruder. 121 Leere Spalte. Bei den übrigen Witwern werden hier ihre Ämter und Ordination etc. genannt. Sehr oft jedoch bleibt diese Spalte leer. 122 Diese Angabe ist falsch. Kunz wurde 1749 in Herrnhaag in die Gemeine aufgenommen. 123 Catalogus des Wittwer-Chors in Herrnhuth A[nno] Julii 1771. R.27.127.4. 124 Vgl. den Eintrag im Kirchen-Buch, Register der „Entschlaffenen“ zum Jahr 1775, Reg.Nr. 1408: „A[nn]o 1759 ins Wittwer Chorhauß, wo er seine Zeit selig und in der Stille verbrachte und entschlief seines Alters 81 J[ahre] 6 Mon[ate].“ 125 Im „Dritten Viertel“ auf der Brüderseite in der dritten Reihe, Grab-Nr. 74. Der Gottesacker zu Herrnhut 1822, 12, Haupt-Reg.Nr. 554.
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3. Noch einmal: Zur Quellenlage Der Schreiber, der die letzten sechs Lebensjahre von Kunz zusammenfasste, beschrieb Kunz als einen bescheidenen und schwächlichen Menschen, der von den Brüdern und seiner Tochter „fleißig“ besucht wurde: Der Gang des seligen Bruders im Chor-Hause war gleichwohl immer etwas sorgl[ich] und schwer, sonderlich da er nicht glauben konnte, dass seine Frau aus der Zeit sey, so viel man es ihm doch versichern konnte. Diese letzten 6 Jahre hat er wegen Leibes-Schwachheit und Kopfschmerzen meist in seinem Kämmerchen in der Stille zugebracht, die große Geduld und Barmherzigkeit seines Heilandes überdacht und vielmals mit zerschmolzenenem Herzen und nassen Augen. Sein Kämmerchen war sein Capellgen, wo er seine Liturgien hielt, und die Nähe des Sünderfreundes fühlbarlich genoß. Er wurde immer schwächlicher, bis er vor 4 Wochen sich ganz legen musste. Konnte auch von der Zeit an auch nicht das Geringste mehr genießen, außer kaltem Wasser. Klagte beständig über Brennen und Stiche im Leib, war sich aber allezeit vollkommen gegenwärtig und nahm von allem Notiz. Er wurde fleißig von den Brüdern besucht, äußerte sein Verlangen, gerne bald beim lieben Heiland zu seyn, und wie er fertig und mit Ihm verstanden wäre. Seine liebe Tochter, die er gar zärtlich liebte, besuchte ihn die Zeither fleißig, mit welcher er sich, so wie mit denen ihn besuchenden Brüdern aufs herzlichste verabschiedete, und da ihm schon vor einigen Tagen der Segen der Gemeine und seines Chors ertheilt worden, so wurden ihm noch immer bis an sein Ende Verse vorgesungen, die er noch gut vernahm, bis ihm am 8. dieses [Monats] um ½5 Uhr nachmittags der Othem stehen blieb und er sanft und selig in die Arme seines Freundes überging, seines Alters 81 Jahr, 6 Monate weniger 2 Tage.
Vermutlich hat sich Spangenbergs Protest vor allem gegen diese brüderische Beschreibung gerichtet. Spangenberg hatte Kunz’ Isolation und Verbitterung mit ziemlicher Sicherheit als aufsässiges, eigenbrötlerisches und rechthaberisches Verhalten gedeutet. Da dies weder zu der Notiz im brüderischen Nachtrag passte noch in das paradigmatische und pädagogische Konzept der Lebensläufe, hat Spangenberg die anfangs genannte Konsequenz gezogen und geraten, den Lebenslauf gar „nicht erst zu communizirn“. Spangenberg hat in Kunz eben nicht nur einen schwächlichen Typ gesehen, sondern im Gegenteil jemanden, der seine Anliegen vorzubringen wusste und der manche Maßnahmen, etwa die Überweisung ins Witwerhaus, nicht unwidersprochen hinnahm. Das bedeutete im Klartext: Spangenberg sah in Kunz einen Querulanten, einen unliebsamen, vielleicht trotz aller Ergebenheitsversicherungen aufmüpfigen, ja eigenwilligen Menschen. Das aber bedeutete Gefahr für das Ganze. Ein Weg zu einer versöhnten Vielfalt ist nicht zu erkennen.
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URSULA CAFLISCH-SCHNETZLER
Fromme Freundschaften: Johann Caspar Lavater, Johann Heinrich Füssli und Felix Hess Quid sumus? et quidnam victuri gignimur?1 Wer sind wir und wozu sind wir (als Menschen) geboren? Das sind zentrale Fragen im Zeitalter der Aufklärung. Johann Joachim Spalding stellte sie sich mit diesem Persius-Zitat gleich zu Beginn seines wohl wichtigsten Werks, der in 13 Auflagen von 1748 bis 1794 erschienenen Betrachtung über die Bestimmung des Menschen, und beantwortete sie dahingehend, dass nicht mehr einzig Verstand und Vernunft für die Glückseligkeit des Menschen bestimmend sind. Der im Sinne der Aufklärung erzogene Mensch soll zwar vernünftig und in klaren Begriffen denken, jedoch auch das in ihm angelegte Wahre und Gute erkennen und Gott als Urbild der Vollkommenheit und Ordnung über ein tugendhaftes Leben anhand einer natürlichen, in ihm angelegten Religion folgen.2 Die wesentlichen Bestandteile von Spaldings vernünftiger Religion sind daher eine individuelle Religiosität, die sich aus dem Korsett der Theologie herausgelöst hat, ein moralisches Bewusstsein und Selbstdenken und eine Verbindung von Vernunft und Religion, in welche sich die christliche Offenbarungslehre und die vom Pietismus herüberwirkende Tendenz zu stiller Innigkeit integriert und das religiös und sittlich Erbauende mit aufnimmt.3 Die Frage nach der Beziehung zwischen Gott und dem Menschen und dessen Stellung innerhalb der göttlichen Schöpfung war auch für die junge Generation der in Zürich aufgewachsenen Theologen Johann Caspar Lavater, Johann Heinrich Füssli und Felix Hess zentral. In ihren Studienjahren am Collegium Carolinum, der Hohen Schule in Zürich,4 wurden sie über ihre Professoren, allen voran Johann Jacob Bodmer und Johann Jacob Breitinger,5 mit dem Gedankengut der Aufklärung vertraut gemacht; ihre Expektanten1
Persius: Satura, III, 67. – Vgl. [Johann Joachim Spalding:] Betrachtung über die Bestimmung des Menschen. 3. u. verm. Aufl. Berlin 1749. 2 Vgl. Wolfgang Gericke: Theologie und Kirche im Zeitalter der Aufklärung. Berlin 1989, 96. 3 Vgl. Gericke, Theologie [s. Anm. 2], 95. 4 Vgl. Reformierte Orthodoxie und Aufklärung. Die Zürcher Hohe Schule im 17. und 18. Jahrhundert. Hg. v. Hanspeter Marti u. Karin Marti-Weissenbach. Wien [u. a.] 2012. 5 Vgl. Wolfgang Bender: Johann Jakob Bodmer und Johann Jakob Breitinger. Stuttgart 1973. Vgl. Hans Wysling: „Die Literatur“. In: Zürich im 18. Jahrhundert. Hg. v. dems. Zürich 1983, 131–188, hier 135–153.
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zeit sollten sie nun – auf Anregung Breitingers6 – beim aufgeklärten Reformtheologen Spalding in Barth in Schwedisch-Vorpommern verbringen.7 Die gut neun Monate Aufenthalt beim „edelste[n] unter den Menschen“8 prägten im besonderen Maße Lavater und Hess.9 Füssli, dessen Weg von Anfang an nicht gleich angelegt war wie jener der beiden andern Theologen,10 richtete sein Augenmerk auf die „reine Freundschaft“11 zu Lavater,12 der in dieser Zeit so war, wie er selbst sein wollte.13 In der Ode Klagen trauert er nach der Trennung von Lavater um den zurückgelassenen Freund und zeigt darin und in seinen Briefen,14 wie stark ihn dieselbe über Lavaters Verständnis von Tugend und Religion selbst mitgeprägt hat. Im Folgenden wird anhand von Lavaters frühen Werken sowie Füsslis Oden aufgezeigt, wie unterschiedlich die jungen Zürcher Theologen in ihrer Ausbildung und durch ihr Umfeld und ihren Charakter von Aufklärung und Religion geprägt wurden. Zudem soll der Frage nachgegangen werden, inwiefern die durch den Pietismus mit ausgelöste Selbstreflexion den Indi6 Lavater an Johann Jacob Breitinger, 06.07.1763. Familienarchiv Lavater, Zentralbibliothek Zürich, Handschriftenabteilung (FA Lav) Ms 553, Brief Nr. 110. – Vgl. Ursula Caflisch-Schnetzler: „Wegzuleuchten die Nacht menschlicher Lehren, die Gottes Wahrheit umwölkt“ – Johann Caspar Lavaters literarische Suche nach dem Göttlichen im Menschen, dargestellt an den Wurzeln der Zürcher Aufklärung. In: Johann Jakob Bodmer und Johann Jakob Breitinger im Netzwerk der europäischen Aufklärung. Hg. v. Anett Lütteken u. Barbara Mahlmann-Bauer. Göttingen 2009, 497–533, hier 506. – Vgl. Ode an Herrn Canonicus Breitinger. Den 10. October 1770. In: Johann Caspar Lavater: Vermischte Schriften. Bd. 1. Winterthur [1774], 299–305, hier 301. – Vgl. Johann Caspar Lavater: Ausgewählte Werke in historisch-kritischer Ausgabe (JCLW). Bd. V: Werke 1772–1781. Hg. v. Ursula Caflisch-Schnetzler [in Vorbereitung]. 7 Spalding war seit Ostern 1757 Pastor und Präpositus in Barth. 8 „Ode an Johann Joachim Spalding“. 21. 04. 1763. Das Autograph findet sich in: Lavater an Heinrich Hess, 08.05.1763. FA Lav Ms 565, Nr. 136. – Gedruckt in Johann Caspar Lavater: Poesieen. Bd. 2: Des zweyten Bandes viertes Buch. Oden und poetische Briefe: I. An Spalding in Barth. Berlin, den ein und zwanzigsten April 1763, 229–233, hier 229. 9 Vgl. Johann Kaspar Lavater: Reisetagebücher. Hg. v. Horst Weigelt. Göttingen 1997, Tl. 1: Tagebuch von der Studien- und Bildungsreise nach Deutschland 1763 und 1764. – Vgl. Constanze Rendtel: Johann Caspar Lavater (1741–1801) / Felix Hess (1742–1768). Exzerpte aus dem Rechenschaftsbericht an den Examinatorenkonvent der Zürcher Kirche über ihre Deutschlandreise vom Jahre 1763/64. In: Zwingliana 30, 2003, 127–169. 10 Vgl. Marlis Stähli: „Wäre es Ihnen gleichgültig ob Füßli in diesem Land oder in England Plaz fände?“ Bodmer und Sulzer als Mentoren des Malers Johann Heinrich Füssli. In: Johann Jakob Bodmer und Johann Jakob Breitinger [s. Anm. 6], 695–734. 11 Johann Heinrich Füssli: Klagen. Barth 1763. In: Johann Heinrich Füssli: Sämtliche Gedichte. Hg. v. Martin Bircher u. Karl S. Guthke. Zürich 1973, 26–33, hier 28. Das Manuskript „Klagen, von meinem Freünd Heinrich Füßli.“ liegt in der Biblioteka Jagiellońska in Krakau unter der Signatur. Slg. Autographa, Lavater. 12 Vgl. dazu auch: Martin Bircher: Johann Heinrich Füsslis Freundschaft mit Johann Kaspar Lavater. In: Zürcher Taschenbuch. 94, 1974. 13 Sämtliche Gedichte („Klagen“) [s. Anm. 11], 30: „Ich will wie du sein!“ 14 Heinrich Füssli: Briefe. Hg. v. Walter Muschg. Basel 1942. – Gert Schiff: Johann Heinrich Füssli 1741–1825. 2 Bde. Zürich 1973.
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vidualisierungsprozess in Freundschaftskult und Religion im 18. Jahrhundert beeinflusste und sich in der Literatur der Sturm- und Drangzeit spiegelt. Lavater, Füssli und Hess pflegten bereits als Studenten in Zürich eine gute Freundschaft zueinander und zu weiteren gleichaltrigen Theologen15 und hatten früh auch erste Kontakte zu wichtigen Literaten16 und Gelehrten.17 Angespornt von den Ideen der Aufklärung, welche ihnen in ihrer Ausbildung vermittelt wurden, suchten sie auf unterschiedlichen Wegen nach einem Menschenbild, das von Vernunft, Liebe und Leidenschaft, Empfindung, Religiosität und Tugend bestimmt war und sich auf die bei Leibniz, Wolff und Spalding vorgegebene Bedeutung des Menschen innerhalb der göttlichen Schöpfung fokussierte. Getragen von den Gedanken der Aufklärung und beeinflusst von pietistischer Frömmigkeit,18 – die sich in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts in Zürich über eine kleine Gruppe einen festen Platz sichern konnte19 und all jenen eine religiöse Heimat bot, deren Frömmigkeitstypus innerhalb der reformierten Staatskirche nicht genügend repräsentiert wurde20 – bestimmte Lavater mit seinem dem Menschen und Gott verpflichteten Werk und Wirken und mit seinem Individualitätsgedanken und christlichanthropologischen Weltbild bereits früh die Strömungen der Zeit. Füssli seinerseits, der die „beyde[n] Schwestern“,21 die Dichtkunst und die Malerei, vorerst gleichrangig in sich vereinte, zeigte in seinem der Antike und der Aufklärung verpflichteten Schaffen eine neue Empfindsamkeit und Selbstbestimmung. Nach der Bildungsreise zu Spalding reiste er nach England und Rom, um sich dann und für immer in London niederzulassen, wo er 1825 als hoch
15 Vgl. dazu: Ursula [Caflisch-]Schnetzler: Johann Caspar Lavaters Tagebuch aus dem Jahre 1761. Pfäffikon/ZH 1989. Anhang: Briefsammlung, 119–292. 16 So finden sich in der ZBZ bereits ab 1764 Briefe von Lavater an Friedrich Gottlieb Klopstock, Christian Fürchtegott Gellert, Albrecht von Haller u. a. m. – Vgl. JCLW, Ergänzungsband Verzeichnisse der Korrespondenz und des Nachlasses in der Zentralbibliothek Zürich. Hg. v. Christoph Eggenberger u. Marlis Stähli. Zürich 2007. 17 Vgl. Lavaters Briefe in der ZBZ an Johann Georg Zimmermann, Martin Crugot, Andreas Cramer, Isaak Iselin, Johann Friedrich Jerusalem u. a. m. 18 Lavater las schon früh Werke pietistischer Provenienz. Vgl. FA Lav Ms 121.1: Bücher, die ich gelesen. NB bis A. 1768. unter einander. Gedruckt in: Caflisch-Schnetzler, Lavaters literarische Suche [s. Anm. 6], 514–527. – Vgl. [Caflisch-]Schnetzler, Lavaters Tagebuch [s. Anm. 15]. 19 In Zürich fanden sich vereinzelt Personen, die die pietistischen Strömungen befürworteten, so auch der seit 1737 als Antistes wirkende Pfarrer Johann Conrad Wirz, der sich wünschte, dass Collegia pietatis im Zürcher Stadtstaat zusammenkämen. Auch Johann Caspar Ulrich, Diakon an der Predigerkirche und ab 1745 bis zu seinem Tod 1768 Pfarrer am Fraumünster in Zürich, war offen für andere religiöse Strömungen. Zu Ulrich vgl. Kurze, zuverlässige Nachricht von der Brüder-Unität. Das Zeremonienbüchlein (1757) von David Cranz. Eingel. u. neu hg. v. Rudolf Dellsperger. Herrnhut 2014. 20 Klaus Martin Sauer: Die Predigttätigkeit Johann Kaspar Lavaters (1741–1801). Darstellung und Quellengrundlage. Zürich 1988, 58. 21 IX. An Heinrich Füßli, den Maler. In: Lavater, Poesieen [s. Anm. 8] 2, 266–272, hier 267.
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geachteter Maler und Professor für Malerei starb.22 Sein literarisches Schaffen ist bisher nur rudimentär erfasst. Die 46 überlieferten Oden und Gedichte sowie seine Briefe zeigen jedoch das Potential seines literarischen Könnens und seinen Schmerz über die verlorene Heimat.23 Felix Hess, der jüngste der drei Zürcher, wurde als Neffe Bodmers dank seiner Fähigkeiten von diesem wie ein Sohn gefördert und mit Literatur versorgt, um seinen Geschmack zu bilden; zudem stellte ihm Bodmer zur Schärfung des Verstandes „moralische, historische und politische Aufgaben“.24 Hess setzte sich während seines Studiums besonders mit Christian Wolffs und Alexander Gottlieb Baumgartens Metaphysik auseinander, danach, unter Spaldings Führung, mit englischen Moralphilosophen und deren Literatur, die er auch ins Deutsche übersetzte.25 Der frühe Tod von Hess und der damit verbundene Verlust des Gesprächspartners und Freundes spiegelt sich in zahlreichen Werken Lavaters.26 Lavater besuchte als Kind aus gut bürgerlichem Haus in Zürich die für ihn vorgesehenen Schulen. Mit fünfzehn Jahren begann er am Collegium Carolinum in Zürich sein Studium, das in drei Lehrgängen à je zwei Jahren Philosophie, Philologie und Theologie anbot.27 Nach Abschluss desselben setzte Lavater zusammen mit seinem Kommilitonen Füssli und dem um ein Jahr jüngeren Hess28 die Gedanken der Aufklärung von Tugend und Gerechtigkeit – die ihnen an der Zürcher Hohen Schule und in den patriotischen Gesellschaften durch ihre Lehrer vermittelt wurden – um und klagten einen über
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Vgl. Arnold Federmann: Johann Heinrich Füssli. Dichter und Maler. Zürich 1927. – Matthias Vogel: Johann Heinrich Füssli – Darsteller der Leidenschaft. Zürich 2001. 23 Vgl. dazu: D. H. Weinglass: „Kann uns zum Vaterland die Fremde werden?“ In: Neue Zürcher Zeitung 273/23 (23./24.11.1991). – Matthias Vogel: „Ist es meine Schuld, dass ich kein Brot in meinem Vaterland finde?“ Gedanken zur „halbfreiwilligen“ Emigration Füsslis. In: Unsere Kunstdenkmäler, 1992/4, Bern 1992, 502–513. – Ursula Caflisch-Schnetzler: „Fortgerissen durch sich . . .“ Johann Caspar Lavater und Johann Heinrich Füssli im Exil. In: Schweizer im Berlin des 18. Jahrhunderts. Hg. v. Martin Fontius u. Helmut Holzhey. Berlin 1996, 69–86. 24 Lavater, Vermischte Schriften [s. Anm. 6] 1, 6. – Vgl. Lavater an Spalding. Juni 1768. FA Lav Ms 122.5. 25 Lavater, Vermischte Schriften [s. Anm. 6] 1, 9. – [Felix Hess:] Predigten von Laurenz Sterne (oder Yorik). Aus dem Englischen übersetzt. 2 Bde. Zürich 1766/1767. 26 So im Denkmal auf Herrn Felix Heß, weiland Diener Göttlichen Wortes in Zürich, das 1774 sowohl als Einzelpublikation als auch in den Vermischten Schriften erschien. – Vgl. Lavater, Vermischte Schriften [s. Anm. 6] 1, 1–196. – Vgl. JCLW, Bd. V [s. Anm. 6]. – Vgl. auch Lavaters in Zürich ab 1768 in vier Bänden erschienene Aussichten in die Ewigkeit (JCLW, Bd. II: Aussichten in die Ewigkeit. Hg. v. Ursula Caflisch-Schnetzler) sowie sein 1771 in Leipzig erschienenes Geheime[s] Tagebuch. Von einem Beobachter seiner Selbst (JCLW, Bd. IV: Werke 1771–1773. Hg. v. Ursula Caflisch-Schnetzler). 27 Vgl. dazu: Hanspeter Marti: Die Schule des richtigen Denkens. Logikunterricht und Disputation an der Züricher Hohen Schule und der Einfluß von Jakob Breitinger. In: Johann Jakob Bodmer und Johann Jakob Breitinger [s. Anm. 6], 149–171. 28 Felix Hess wurde erst nach der Rückkehr aus Deutschland ordiniert. Vgl. Lavater, Vermischte Schriften [s. Anm. 6] 1, 8 f.
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Jahre hinweg fehlbaren Landvogt wegen Amtsmissbrauchs an.29 Dieser sog. „Grebelhandel“ machte die Protagonisten wegen ihres kühnen Vorgehens weit über die Landesgrenzen hinaus bekannt (auch Goethe wollte später mehr darüber von Lavater erfahren30) und ließ in Zürich den „Vater der Jünglinge“31 jubeln.32 Felix Grebel wurde schuldig gesprochen und des Landes verwiesen, doch auch die jungen Kläger mussten vor dem Stadtrat Abbitte leisten.33 Deren Eltern und Erzieher sahen es nun als oportun an, dass die drei die Limmat-Stadt für ihre weitere Ausbildung verließen. Auf Empfehlung ihrer ehemaligen Lehrer Bodmer und Breitinger reisten die jungen Theologen zu Spalding, der wenige Monate zuvor seine Frau verloren hatte.34 Begleitet wurden Lavater, Füssli und Hess auf ihrer Bildungsreise durch Deutschland vom renommierten Philosophen, Pädagogen und Ästhetiker Johann Georg Sulzer.35 Auf ihrem Weg durch Deutschland nach Berlin wurden sie mit zahlreichen Gelehrten persönlich bekannt gemacht;36 mit den meisten von ihnen
29 Der ungerechte Landvogt oder Klagen eines Patrioten. O. O., 29.11.1762. – Vgl. JCLW, Bd. I/1: Jugendschriften 1762–1769. Hg. v. Bettina Volz-Tobler, 77–84 (mit Einführung und Zusatzdokumenten, 38–187). 30 Goethe an Lavater, zweite Hälfte August 1774: „Lieber Lavater, eine Bitte! Beschreibe mir mit der Aufrichtigkeit eines Christen, aber ohne Bescheidenheit – Gerechtigkeit ist gegen die, was Gesundheit gegen Kränklichkeit – deine ganze That wider den Landvogt Grebel, was deine Schrift oder Rede veranlast, was darauf erfolgt ist, plutarchisch – damit ich dich mit deiner That messe, du braver Geistlicher! du theurer Mann! Eine solche That gilt hundert Bücher, und wenn mir die Zeiten wider auflebten, wollt ich mich mit der Welt wieder aussöhnen. Schreib mir’s ganz, ich beschwöre dich – um deinetwillen [. . .].“ (Goethe und Lavater. Briefe und Tagebücher. Hg. v. Heinrich Funck. Weimar 1901, 36) 31 Ode an Bodmer. In: Lavater, Vermischte Schriften [s. Anm. 6] 1, 306–311, hier 306, 309. – Vgl. JCLW, Bd. V [s. Anm. 6]. 32 Vgl. Bodmer an einen jungen Zürcher in Genf. In: Johann Caspar Lavaters ausgewählte Werke. Hg. v. Ernst Staehelin. Bd. I. Zürich 1943, 34: „Wenn Sie diese Tage bei uns gewesen wären, durch was für ein hinreißendes Exempel des Patriotisme wären Sie in volle Flammen gesetzt worden!; [!] wie hätten Sie die Unschuld, die Redlichkeit, die Unerschrockenheit, die Gegenwart des Geistes in ihrer schönsten Gestalt unüberwindlich würken gesehen!; [!] Jünglinge haben alte Männer aus dem politischen Schlafe geweckt!“ 33 Vgl. Staatsarchiv Zürich (STAZ) Ratsmanuale 1763 I, B II 920. 34 Lavater, Vermischte Schriften [s. Anm. 6] 1, 8: „Herr Breitinger und Bodmer waren es, die uns diesen fürtreflichen Rath gaben.“ Vgl. dazu auch den Brief Lavaters an Johann Jacob Bodmer vom 15.04.1763 (Ms Bodmer 4.3, Brief Nr. 1) und an Johann Jacob Breitinger vom 06.07.1763 (FA Lav Ms 553, Brief Nr. 110). Transkribiert finden sich dieselben in: Caflisch-Schnetzler, Lavaters literarische Suche [s. Anm. 6], 503 f. u. 505–507. – Vgl. ZBZ, Graphische Sammlung. Lavierte Federzeichnung. Spalding am Grabmal seiner Frau. In: Stähli, Bodmer und Sulzer [s. Anm. 10], 709. 35 Zu Sulzer als Pädagoge vgl. Ursula Caflisch-Schnetzler: Pädagogik und Kommunikation. In: Kulturaustausch – Baltisches Echo auf Gelehrte in der Schweiz und in Deutschland. FS Arvo Tering. Hg. v. Hanspeter Marti in Zus.arb. mit Ursula Caflisch-Schnetzler u. Karin Marti-Weissenbach. Wien [u. a.] 2014, 143–212. 36 Vgl. Lavater, Vermischte Schriften [s. Anm. 6] 1, 9–11. – Vgl. Horst Weigelt: Johann Kaspar Lavater. Leben, Werk und Wirkung. Göttingen 1991, 8–11.
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begann Lavater danach eine Korrespondenz.37 Von der preußischen Hauptstadt aus ging es am 3. Mai 1763 weiter nach Barth, wo die drei Zürcher ihre intensive und lehrreiche Zeit verbrachten. Spalding vermittelte ihnen in einem Klima „arbeitsamer Ruhe“38 nicht nur die Predigttätigkeit;39 sein Augenmerk lag besonders darauf, sie mit den wichtigsten Werken der deutschen, französischen und englischen Literatur vertraut zu machen. Die Zeit bei Spalding prägte insbesondere Lavater und Hess, wie aus den nachgelassenen Zeugnissen hervorgeht.40 Lavater schreibt denn auch in seiner Ode An Spalding in Barth: „Noch vom Sterbebett her will ich dich seegnen und Gott noch / Preisen, daß er zu dir mich geführt“41 und wünscht sich nichts mehr, „als mein Herz mit ihm zur Tugend zu vereinigen“.42 Spalding seinerseits erkannte Lavaters Fähigkeiten43 und bezog ihn während dessen Aufenthalt in die Überarbeitung zur zweiten Auflage seiner Gedanken über den Werth der Gefühle in dem Christenthum44 ein.45 In der dortigen Auseinandersetzung, vornehmlich mit dem hallischen Pietismus, sieht Spalding anhand psychologischer, biblischer und theologischer Argumente die christliche Religion unter einem aufgeklärten Aspekt. Gefühl wird zu einem Ort, an welchem sich das Evangelium gleichsam verifiziert und sich damit von der Bekehrungsmethode der ehemaligen halleschen Schule unterscheidet. Zudem distanziert sich Spalding darin von der Herrnhutischen Konzentration des Christentums auf die „Beschäftigung mit dem Blute und den Wunden des Lammes“46.47 Wie Lavaters Reisetagbuch und sein Brief an Breitinger deutlich zeigen, rezipierte der junge Theologe die Gedanken Spaldings in kritischer Weise und ergriff auch die Gelegenheit, mit diesem über das Amt des Predigers und die Symbo37
Vgl. JCLW, Ergänzungsband Verzeichnisse [s. Anm. 16]. Füssli, Klagen [s. Anm. 11], 27. 39 Lavater, Vermischte Schriften [s. Anm. 6] 1, 8: „Seine Absicht war vornehmlich diese: Sich bey dem damaligen Herrn Präpositus Spalding, zu Barth in Schwedisch Pommern, eine Zeitlang aufzuhalten, und bey diesem würdigen Manne, auf die künftige Führung seines heiligen Amtes vorzubereiten.“ 40 Vgl. Weigelt, Reisetagebücher [s. Anm. 9]. Vgl. Lavater, Denkmal auf Herrn Felix Heß [s. Anm. 26]. 41 Lavater, An Spalding in Barth. In: Poesieen [s. Anm. 8] 2, 229–236, hier 233. 42 Weigelt, Reisetagebücher („Copia eines Briefs an Spalding“) [s. Anm. 9], 32. 43 Johann Joachim Spalding: Briefe an Gleim/Lebensbeschreibung. Kleinere Schriften 2. Hg. v. Albrecht Beutel u. Tobias Jersak. Tübingen 2002, 153: „Noch nie hatte ich bis dahin, und ich setz mit Zuversicht hinzu, noch nie habe ich bisher besonders an jemand von seinem Alter – er war wenig über 21 Jahre – eine solche Reinheit der Seele, eine solche Lebhaftigkeit und Tätigkeit des moralischen Gefühls [. . .] kennen gelernt.“ 44 Peter Opitz: Der (unge)treue Schüler. Religiöse Selbstthematisierung bei Johann Joachim Spalding und Johann Caspar Lavater. In: Christentum im Übergang. Neue Studien zu Kirche und Religion in der Aufklärungszeit. Hg. v. Albrecht Beutel [u. a.]. Leipzig 2006, 103–118, hier 109, Anm. 48. 45 Opitz, Der (unge)treue Schüler [s. Anm. 44], 109. 46 Johann Joachim Spalding: Gedanken über den Werth der Gefühle in dem Christenthum. Neue, verb. u. verm. Aufl. Leipzig 1764 (Leipzig 11761), 2. 47 Opitz, Der (unge)treue Schüler [s. Anm. 44], 109. 38
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lik des Abendmals zu diskutieren.48 Aus dem Denkmal auf Herrn Felix Heß und dem Reisetagebuch ist zudem ersichtlich, wie intensiv Spalding seine Schützlinge forderte und förderte49 und durch seine Wissensvermittlung deren Charakter stärkte. Zudem vertiefte sich während dieser Zeit ihr Freundschaftsverhältnis, was Lavater in der Ode An Spalding in Barth festhält: „Inniggewärmt durch der Tugend Gefühl, / Kehr’ ich mit klopfender Brust an der Seite meines geliebten / Heßen zurück in des Vaterland Schoos.“50 Im Januar 1764 kehrten Lavater und Hess über Berlin nach Zürich zurück. Füssli war bereits früher in die preußische Hauptstadt gereist, traf die beiden dort nochmals, fuhr dann aber weiter nach England, wo er vorerst als Übersetzer und Hauslehrer tätig war.51 Mit der Aussicht auf die bevorstehende Trennung von Lavater verfasste er noch in Barth 1763 die Ode Klagen (1778 erschien eine weitere Ode An Lavater;52 nach Lavaters Tod 1801 folgten nochmals zwei Oden auf seinen Freund53). Füssli ‚klagt‘ darin in einer Art über die bevorstehende Trennung von seinem geliebten Freund, wie wenn er Lavater für immer verlieren, ja dieser sterben würde. In der gleichen Tonart (jedoch nicht in dem gleichen Dichtungsgenre) verfasste der ‚beklagte‘ Lavater nach dem tatsächlichen Tod seines Freundes und damaligen Wegbegleiters Hess Jahre später die Schrift Denkmal auf Herrn Felix Heß. Beide Schriften verdeutlichen durch ihren Sprachduktus die engen Freundschaftsbande, die zwischen diesen jungen Männern während ihrer Bildungsphase geherrscht hatten. Evident wird dieser Freundschaftskult in den nachfolgend publizierten Werken und in ihren Briefen. Diese Herzensfreundschaft, die hier in einer neuen Form unter den jungen Zürcher Theologen entstand, war für die Entwicklung und Individualisierung einer ganzen Gelehrten-Generation von zentraler Bedeutung, was besonders deutlich Füssli im antiken Genre der Klage54 zum Ausdruck bringt: 48
Lavater an Johann Jacob Breitinger, 06.07.1763, FA Lav Ms 553, Brief Nr. 110. Vgl. Caflisch-Schnetzler, Lavaters literarische Suche [s. Anm. 6], 505 f.: „Es ist wahr, seine lutherische Orthodoxie ist eben so gar schulgerecht nicht; Er ist kein Vertheidiger der Allgegenwart des Leibes Christi; des Genußes seines Fleisches und Blutes im H. Abendmahl; er predigt ohne alle Zweydeutigkeit, daß die guten Werke zum ewigen Leben nothwendig seyen; daß der Mensch an seiner Beßerung arbeiten könne; daß das Wort Gottes und das H. Abendmal keine andere als eine bloß moralische Kraft habe; von denen verwirten Begriffen von dem Zorn, der Strafgerechtigkeit Gottes; der Besänftigung seines Grimms u. s. w. die in seiner Kirche bald von allen Kanzeln ausgebreitet werden, und andern in seiner und unserer Kirche so verstellten Lehren von der Erbsünde einen übelverstandnen Glauben an Jesum, findet sich nichts in seinen christlichen Unterweisungen.“ 49 Lavater, Vermischte Schriften [s. Anm. 6] 1, 14–17. 50 Lavater, An Spalding in Barth [s. Anm. 8], 232. 51 Durch die Mentoren Bodmer und Sulzer war von Anfang geplant, Füssli als Vermittler zur englischen Literatur nach England zu schicken. Vgl. dazu Stähli, Bodmer und Sulzer [s. Anm. 10]. 52 Füssli, An Lavater. Bellinzona 1778. In: Sämtliche Gedichte [s. Anm. 11], 74. 53 Füssli, [Zweite Ode an Lavater/1802/3]. In: Sämtliche Gedichte [s. Anm. 11], 90. – Füssli, [Dritte Ode an Lavater/nach 1803]. In: Ebd., 91. 54 Literarisch orientierte sich Füssli an Eduard Youngs The Complaint or Night Thoughts, die 1751 von Johann Arnold Ebert übersetzt als Klagen oder Nachtgedanken erschienen.
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Nicht mehr! Also seh ich dich nicht mehr, den meine Seele liebet! Ach, warum hast du mich mit deiner Liebe verstrickt und wußtest doch, daß man mich von dir reißen würde? Es ist vorbey – verschwunden[,] was in jener seligen Minuten scheinbaren Unerschöpflichkeit, durch dein Auge, deinen Mund, deine durchgeküßte Wange von deiner Seele, o du[,] den meine Seele liebet! in meine Seele strömte!55
Füssli im Traum von seinen Freunden besucht [1763], 182 × 345 mm, Feder, getönt. Eigentum des Kantons Zürich.
Mit der „Grebelaffäre“ und während der Reise durch Deutschland und dem Aufenthalt bei Spalding war zwischen Lavater und Füssli eine enge und innige Freundschaft entstanden. Liest man heute jene Freundschafts-, ja Liebesbezeugungen von Füssli an Lavater in dessen Briefen und Oden, so erstaunt einen die Häufigkeit, mit der von Küssen, Liebe und Umarmungen 56 die Rede ist. Wichtig zu bemerken ist jedoch, dass diese Jünglingsliebe eine
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Sämtliche Gedichte („Klagen“) [s. Anm. 11], 26. Muschg, Heinrich Füssli [s. Anm. 14], Füssli an Lavater, 16.10.1763, 73: „Geliebter meiner Seele, wie liebe ich dich! Wie küße ich dich! Mein Gott, mein Gott! wann werde ich dich wiedersehen, wann werde ich noch einmal meine Hand in deine Hand, meine Brust an deine Brust, an dieses allertreuste Herz legen und glückselig sein –“ – 13.11.1763, 73: „Ich lege die Feder für einen Augenblick nieder, dein Bild zu umarmen und durch und durch zu küssen.“ 56
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andere Bedeutung hatte als die Liebe zwischen Mann und Frau,57 obwohl das verwendete Vokabular auch andere Schlüsse zulassen könnte. Diese vorwiegend schriftlich formulierten Liebeserklärungen unter jungen Männern zeigt eine neue Stilform, die zum Ausdruck bringt, wie zentral die Seelen-Freundschaft für die jeweilige Entwicklung unter Gleichgesinnten gewesen ist. Lavater hatte bereits vor der Bildungsreise zu Spalding als Herzensfreund Heinrich Hess, den Bruder seines späteren Reisegefährten Felix. Nach Mt 18,20 tauschten sie schon während der Studienzeit Briefe und unterstützten sich so in ihrem Streben nach Tugend und Religion.58 Nach Abschluss des Studiums und während der Reise zu Spalding und danach wieder in Zürich wurde der jüngere, wie Füssli theologisch ausgebildete Bruder Felix dann verstärkt zu Lavaters engstem Freund und Weggenossen, was Füssli in Barth gespürt hatte und in den Klagen ausdrückt: Verzeihe mir – ich liebe dich auch Hess – aber du bist mir zu stark. Gott! Dir ist es nun vergönnet, das Engelsangesicht zu sehn, die unnachahmlich süße Sprache, die allertreuesten Gedanken von dessen Herze kommend zu vernehmen – an seine Brust gedrückt – von dem umarmt zu werden, den meine Seele sich zum Eigentume auserkoren hat! –59
Im Denkmal auf Herrn Felix Heß hält Lavater diese Zuwendung zu Felix Hess nach Füsslis Abschied selbst wie folgt fest: Wir waren also nunmehr allein. Ich gedenke dieses Umstandes nicht ohne Nachdruck. Denn bis dahin hatten uns die beständigen Zerstreuungen[,] das wiederholte Abschiednehmen von so manchem liebenswürdigen Manne, und die bevorstehende Trennung von Herrn Füeßli beynahe nie zu uns selbst kommen lassen. Aber itzt fieng gleichsam eine neue Epoche unsrer Freundschaft an. Denn nunmehr sahe sich mein seeliger Freund allein an der Hand seines Herzensfreundes, mit dem er alle seine Einsichten, seine Angelegenheiten und Absichten bis ans Ende seines Lebens zu theilen gesonnen war.60
Mit Füssli verband Lavater, dass sie zusammen das Theologiestudium in Zürich absolviert hatten und im „Grebelhandel“ gemeinsam politisch aktiv wurden. Jener wuchs jedoch nicht in Zürich auf, sondern verbrachte einen Teil seiner Kindheit und Jugend auf dem Land, wo er sich in Naturgeschichte, besonders Entomologie (Insektenkunde), und Malerei vorwiegend autodidaktisch ausgebildet hatte. Zuerst schloss sich Füssli für sein Studium in Zürich an den etwas älteren Studenten Felix Nüscheler an, der ihn u. a. auch Englisch lehrte und in Shakespeares Dramenwelt einführte. Nach der Anklage gegen 57 Sämtliche Gedichte („Klagen“) [Anm. 11], 28: „so hielten sich, da reine Freundschaft noch/ die Herzen stärker band als Mädchenliebe“. 58 Vgl. [Caflisch-]Schnetzler, Lavaters Tagebuch [s. Anm. 15], 34–39: „Freundschaft als Werkstätte der Tugend“. 59 Sämtliche Gedichte („Klagen“) [s. Anm. 11], 30. 60 Lavater, Vermischte Schriften [s. Anm. 6] 1, 22 f.
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Felix Grebel sah Füssli auf der gemeinsam verbrachten Reise zu Spalding nun aber in Lavater jenen Herzensfreund, mit dem er seine Bildungsjahre verbringen wollte: „Was wollen Sie von mir, das Ihnen mangelte? Wissen gewiß nicht. Die Versicherungen einer brünstigen Liebe, einer ewigen Freundschaft? Da haben Sie die.“61 Mit der Ode Klagen verdeutlichte er die Werbung um Lavater, indem er ihm seine innere Verbundenheit zeigt: „Ich will wie du seyn! Jeder Gedanke jedes Bestreben meiner Seele soll mit dir auf einen großen Endzweck gerichtet seyn – Stückwerk, ich verschmähe dich – wir denken beide gleich vom Leben – es ist eine Reise – warum sollte ich sie nicht mit dem Freunde meiner Seele reisen?“62 In der Ode Klagen thematisierte Füssli jedoch nicht nur die Werbung um den Freund, sondern gleichzeitig die bereits damals erkannte Trennung und den schmerzlichen Abschied von Lavater. Als er am 13. Oktober 1763 aus Barth nach England reiste, war ihm bewusst, dass er mit diesem Schritt nicht nur seinen engsten Freund Lavater zurücklassen werde, sondern für immer auch seine innere und äussere Heimat.63 Was waren die Gründe, die Füssli dazu bewogen hatten, von Barth aus nach England zu gehen? Äusserlich scheint es das von Bodmer, Breitinger und Sulzer vorbereitete Projekt gewesen zu sein, eine literarische Verbindung zwischen dem Land Miltons und Shakespeares und dem deutschsprachigen Raum herzustellen. Man dachte, dass dafür wohl niemand besser qualifiziert sei als Füssli, von dessen Talent und Sprachkenntnissen man sich viel versprach.64 Füssli reiste denn auch nach London, bildete sich dort nun aber nicht zum Literaten, sondern zum Maler aus und ging „seitdem ich mich in den Anfangsgründen des Ölmalens geübt und ein paar Gemälde gesudelt“65 und nachdem seine Wohnung in London völlig ausgebrannt war, für einige Jahre nach Rom. Beim Brand wurden nicht nur zahlreiche Gemälde und Zeichnungen zerstört, sondern auch sein Manuskript über die Geschichte der Poesie im Deutschen. Für Füssli war damit klar, dass er sich fortan der Malerei widmen werde.66 Mit seinem Umzug nach Rom und nach der Zerstörung dieses Manuskriptes schloss Füssli seine Auseinandersetzung mit der Poesie im deutschen Sprachraum ab. Bereits 1765 hatte er in einem Brief an Salomon Dälliker geschrieben, dass für ihn, seit er in England lebe, die deutsche Literatur 61
Muschg, Heinrich Füssli [s. Anm. 14], Füssli an Lavater, 18.06.1762, 55. Sämtliche Gedichte („Klagen“) [s. Anm. 11], 30. 63 Vgl. Ode an seine zurückgelassenen Freunde. Essex 1765. In: Sämtliche Gedichte („Klagen“) [s. Anm. 11], 44. 64 Stähli, Bodmer und Sulzer [s. Anm. 10]. 65 Muschg, Heinrich Füssli [s. Anm. 14], Füssli an Lavater, 23.06.1769, 146. 66 Vgl. Deutsche Biographie: Johann Heinrich Füssli (in England Henry Fuseli): Von Bodmer zum Vermittler zwischen englischem und deutschem Geistesleben bestimmt, übersetzte er 1765 Winckelmanns Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst ins Englische und führte damit die Kunstlehre des Klassizismus in England ein; denn diese Schrift bestimmte Künstler wie B. West, A. Kauffmann, Th. Banks, später Flaxman zur Anlehnung an antike Vorbilder. 62
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gestorben sei.67 Auch mit dem ehemals geschätzten Vorbild Klopstock geht Füssli in einem Brief an Sulzer nun hart ins Gericht, denn durch Klopstocks, „lästerliche Theologie, die er von dem Quacksalber Cramer eingesogen“68 habe, sei dieser nun zum Narren geworden: In seinem Messias setzte er mit dem Geiste Homers aus – Fiktion ist die Seele seines Werkes, und / die erhabenste aller Fiktionen durch Plan, Episode, Figuren, Ausdruck; aber eine Religion – die absurdeste aller Religionen, ein quintessenziertes Schulgeschwätz, die Hofsprache des Pietistenhimmels, das Galimathias [unverständliches, verworrenes Gerede, d.Vf.n] eines in apokalyptischen Weinen besoffenen Gehirns, Blasenkläpfe, die mehr nicht meinen als Platzen, haben die marmorne Pyramide mit Pappe, Zuckerpapier und dem Farbengemische der Garderobe ausgelegt.69
Die Freundschaft zu Lavater flackerte nochmals bei seinem letzten Besuch in Zürich 1778/1779 auf. Als Füssli merkte, dass von Lavaters Seite trotz seiner Werbung um ihn in einer weiteren Ode und obwohl er dessen Briefe bis zum „verfaulen“ in seiner Tasche weiter herumtrug,70 erneut kein Zeichen der Freundschaft kam, verstummte er, um erst nach Lavaters Tod 1801 nochmals die Liebe zu seinem ehemaligen Freund in zwei Oden auszudrücken. 1774 erschien der erste Band von Lavaters Vermischten Schriften. Im Vorwort vermerkt der Zürcher Autor, dass alles, was nützlich und „zur Beförderung der Weisheit und Tugend“71 dienen könne, in die Vermischten Schriften aufgenommen werde. Als Lesepublikum sieht der Autor sowohl Gelehrte als auch „unwissende Menschen“.72 Die ersten 200 Seiten des ersten Bandes sind als Denkmal auf Herrn Felix Heß seinem 1768 verstorbenen Freund gewidmet. Lavater verfasste mit dem Denkmal nicht nur einen Nachruf auf seinen Freund, sondern zeigt im Text über die dort zentral platzierten Brautbriefe von Hess an Barbara Schulthess dessen und damit auch seine eigene Vorstellung vom Leben eines Christen.73 In diesen philosophischen, um ein eigenes 67 Muschg, Heinrich Füssli [s. Anm. 14], Füssli an Salomon Dälliker, 12.11.1765, 111: „Seitdem ich in England bin, ist die deutsche Literatur für mich gestorben.“ 68 Federmann, Johann Heinrich Füssli, Füssli an Johann Georg Sulzer, 17.04.1765 [s. Anm. 22], 113. 69 Muschg, Heinrich Füssli [s. Anm. 14], Füssli an Salomon Dälliker, 12.11.1765, 111 f. 70 Muschg, Heinrich Füssli [s. Anm. 14], Füssli an Lavater, 16.06.1779, 192 f.: „Ich trage deine Briefe / bei mir, bis sie in der Tasche verfaulen, und du wiegest mir deine Worte zu wie der Metzger dem Meitli Fleisch.“ 71 Lavater, Vermischte Schriften [s. Anm. 6] 1, VII. 72 Lavater, Vermischte Schriften [s. Anm. 6] 1, IX. 73 Hess heiratete am 13.10.1767 die um fünf Jahre älterere Maria Barbara Schulthess und bewohnte mit ihr das elterliche Haus „Zum Kindli“ an der Strehlgasse 24 (Ecke Pfalzgasse 1) in Zürich. Die Trauung des Ehepaars am 13.10.1767 wurde durch Lavater in Hausen am Albis vollzogen. Es ist noch nicht nachgewiesen, ob es sich bei diesen Briefen um reale Briefe handelt oder ob Lavater sie fiktiv in den Text des Denkmal eingebaut hat. Auch in der moralischen Wochenschrift Der Erinnerer findet sich ein Brief an die „Verehrungswürdige Jungfer!“, der an eine zukünftige, jedoch noch nicht real existierende Braut geschrieben ist und – wie in diesen Briefen
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Menschenbild kreisenden Brautbriefen hält Hess (und Lavater) nicht nur den Wert der Zeit und die Würde der Natur hoch; wichtig ist das darin entworfene Bild des Menschen, der von Religion und Menschenliebe geprägt ist. Diese wird zur „Tugendschule“74 und zusammen mit Religion und Glauben zu dessen höchstem Gut. Das „Auge Gottes“ und die „eigene Vernunft“75 bestimmen den Menschen, der jedoch nur zu seiner eigentlichen Bestimmung finden kann, wenn er sich selbst in seiner Haltung als Mensch erkennt und sich mit seinem inneren Bild identifiziert: „Nirgends [bin ich, d.Vf.n] lieber, als in mir selbst, denn ich finde da keine Gelegenheit, traurig zu werden“.76 Das „Auge Gottes“ und die „eigene Vernunft“ bestimmten Denken und Handeln der jungen Theologen Hess und Lavater. Beide standen sie in ihren frühen Schriften noch mitten im Spannungsfeld zwischen Pietismus („Auge Gottes“) und Aufklärung („eigene Vernunft“). So unterschiedlich die Strömungen auch sind, so ist ihnen doch als Telos gemeinsam, dass sie das äußere Korsett der Orthodoxie zu sprengen suchen und sich z. T. reziprok Antworten über innere Bewegungen (Verstand, Vernunft, Empfindung, Gefühl und Glaube) verschaffen. Die Orthodoxie blieb in Zürich zwar offizielle Theologie, konnte aber weder der beseelten Pietät noch dem mit Vernunft nach Wissen strebenden Menschen in seiner von Gott getragenen Weltordnung etwas entgegensetzten. Lavater suchte in seinen frühen Werken – wie sein Vorbild Spalding – nach der eigentlichen Bestimmung und Aufgabe des Menschen. Dies tat er über seinen tief verankerten Glauben und mit den Mitteln der Vernunft, in welcher er in seiner Jugend über ausgewählte Lektüre geschult wurde. Dank dieser (Herzens-)Bildung war er von der Entwicklungsfähigkeit und Perfektibilität des Menschen als moralischem und intellektuellem Wesen überzeugt und von der Christologie, die sein Leben und Werk bestimmte. Im familiären und außerfamiliären Umfeld finden sich jedoch auch Hinweise auf pietistische Einflüsse. So war seine Mutter Regula Lavater, geb. Escher, mit Pietisten im Kontakt, und auch der damalige Antistes Johann Conrad Wirz zeigte sich offen gegenüber pietistischen Strömungen.77 Lavater selbst fühlte sich als junger Mensch zum Pietismus hingezogen, da er sehr gläubig war, sich mit der Bibel auseinandersetzte, ein starkes Sündenbewusstsein zeigte und sich für eschatologische Fragen und für Glaubens- und Gebetserhörungen interessierte.78 Evident wurde Lavaters Auseinandersetzung mit dem Pietismus 1773
von Felix Hess – ein Weltbild vorlegt, wie es nach der Jünglingszeit gelebt werden soll. – Vgl. JCLW, Bd. I/2: Jugendschriften 1762–1769. Der Erinnerer. Hg. v. Bettina Volz-Tobler. Zürich 2009, 278–282. 74 Lavater, Vermischte Schriften [s. Anm. 6] 1, 123. 75 Lavater, Vermischte Schriften [s. Anm. 6] 1, 121. 76 Lavater, Vermischte Schriften [s. Anm. 6] 1, 52. 77 Vgl. Anm. 19. 78 Johann Caspar Lavater: Meine Gebetserhörungen [1769]. Manuskript, Privatbesitz Basel.
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bei der Herausgabe seines zweiten Tagebuchs, den Unveränderte[n] Fragmente[n] aus dem Tagebuche eines Beobachters seiner Selbst.79 In diesem Werk wehrt er sich dezidiert gegen die Vereinnahmung seiner Person und seiner Schriften durch Vertreter pietistischer Strömungen, stellt sich jedoch auch klar gegen den aufkommenden Deismus. Im Widmungsschreiben seiner 1773 publizierten Predigten Ueber das Buch Jonas schreibt er an den Pietisten Johann Georg Hasenkamp: Widersetze dich, lieber Bruder, mit Weisheit, Sanftmuth, und leuchtender Stärke des Geists und Herzens, den beyden grossen Feinden der Wahrheit und Tugend, die, so sehr sie verschieden scheinen, einen gemeinschaftlichen Vater, den Stolz, und dieselbe Mutter, die Unwissenheit haben. Ich meyne das emporbrausende Christusleere Christenthum auf der einen, und die vernunftlose Schwärmerey auf der andern Seite.80
Lavater hat noch während seiner Studentenzeit an Felix Hess geschrieben, dass „die Freündschaft nur ein größerer Grad der Liebe“ sei, „da sich gewiße vernünftige Geschöpfe miteinander verbinden“.81 Füssli schließt diesen Gedanken im ersten Teil seiner Klagen mit der ersten Strophe aus Petrarcas Beato in sogno, e die languir contento.82 Die Klagen verdeutlichen die Schwelle, die Füssli 1763 mit „zitterndem Wehe“83 überschritt, als er wegging aus einer hoffnungsvollen Freundschaft, weg von Lehrern und Vorbildern, weg auch aus der Gewissheit eines etablierten und sicheren Lebens. Füssli brauchte, wenn er handelte, „hundert Schritte Raum, sonst würd’ er alles zertreten“, war „Windsturm und Ungewitter“84 und musste deshalb die für ihn beängstigende Enge des zwar „diamantgleich schimmernden“, für ihn aber „schmutzigen“ Erdenflecken Schweiz meiden,85 da die Schweiz und Zürich ihm als Exzentriker nicht den benötigten Raum für seine Arbeit gewährten. Der junge Theologe taugte nicht dazu, „im Kirchenweinberg zu stampfen und eine Pfeife beim Zehntenfaß zu rauchen“.86 Lavater dagegen entwickelte sich in der gemeinsam mit Hess und Füssli verbrachten Zeit zum eigenständigen, 79 Johann Caspar Lavater: Unveränderte Fragmente aus dem Tagebuche eines Beobachters seiner Selbst. Leipzig 1773. – JCLW, Band IV, 743–1051; mit Einleitung, 711–1051. 80 Johann Caspar Lavater: Predigten Ueber das Buch Jonas. Gehalten in der Kirche am Waysenhause. 2 Hälften. Winterthur, Frankfurt 1773. Widmungsschreiben. 81 Lavater an Felix Hess, o.D., FA Lav Ms 565,14. Vgl. [Caflisch-]Schnetzler, Lavaters Tagebuch [s. Anm. 15], 124–126, hier 124. 82 Sämtliche Gedichte („Klagen“) [s. Anm. 11], 31. 83 Sämtliche Gedichte („Klagen“) [s. Anm. 11], Füssli an Lavater und dessen Frau, 10.05.1766, 133: „Dies ist die Hand dessen, der die „Klagen“ schrieb; damals zitterte sie mit Wehe [. . .].“ 84 Sämtliche Gedichte („Klagen“) [s. Anm. 11], Lavater an Herder, 04.11.1773 [Ausschnitt], 168. 85 Sämtliche Gedichte („Klagen“) [s. Anm. 11], Füssli an Lavater, 06.12.1765, 116–120, hier 118. 86 Sämtliche Gedichte („Klagen“) [s. Anm. 11], Füssli an Lavater, 19.02.1766, 126–130, hier 127.
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in seiner Religion erstarkten Autor und Pfarrer. Er löste sich in den Jahren der Freundschaft mit Füssli und den Brüdern Hess von den gegebenen Vorbildern aus Aufklärung und Pietismus und wurde zu einem wachen, die Strömungen der Zeit aufnehmenden und sie selbst mit beeinflussenden Geist, der sich in der ihm vertrauten Gesellschaft von Zürich etablierte. Die gemeinsam verbrachten Freundschaftsjahre gaben Lavater, Hess und Füssli das Selbstvertrauen und die Kraft, ihren je eigenen Weg bewusst selbst zu wählen. Damit wurden sie auf ihrem Gebiet zu wichtigen Exponenten: Hess starb bereits mit 26 Jahren, so dass nur wenige Schriften von ihm vorliegen. Als früh geförderter Student Bodmers und als Freund Lavaters und weiterer Theologen war er jedoch ein wichtiger Gesprächspartner in der Auseinandersetzung von theosophischen und philosophischen Fragen. Füssli wurde neben Anton Graff der bedeutendste Schweizer Maler des 18. Jahrhunderts. Lavater prägte mit seinem individuellen, dem Menschen und Gott verpflichteten Werk und Wirken das neue Menschenbild des Sturm und Drang, das den Menschen als Individuum sieht. In den Unveränderten Fragmenten setzte er sich apologetisch und dezidiert für eine Religion ein, die nicht mehr einzig Spaldings natürliche Religion intendiert, sondern in ihrem Christusmonismus auf eine Deifikation hin tendiert und damit die Person Christi als Vorbild und Ziel eines jeden Menschen ins Zentrum stellt: Eberhards Apologie87 ist ein gut geschriebenes, wahrheitreiches, lichtvolles Werk, welches in mancher Absicht trefflich niederreißt; aber nicht aufbaut – Ein Schriftsteller, der auf den Titel seines Buches setzt: Prediger, sollte sich doch vorstellen, daß der billigste [wohlwollendste, geneigteste, d. Vf.n] Leser von ihm verlangen werde, daß er da, wo er abgeschmackte Schulbegriffe, die doch immer in der Schrift ihre erste Veranlassung, oder nachher ihre Unterstützung gefunden haben mögen, glücklich bestreitet, bessere an die Stelle setze, und die richtigen Schriftbegriffe, nicht ganz und gar ignorire, und als nicht vorhanden ansehe. Ueberhaupt, mein lieber Freund, so sehr ich allen heitern, aufgeklärten und aufklärenden Köpfen in Deutschland gewogen bin, so gefällt es mir dennoch durchaus nicht, daß sie beynahe einmüthig zur Entbehrlichmachung /| und Erniedrigung der heilsvollen Person Christi durch Reden und Schweigen so geschäfftig sind. Er, Er selber, das große Ziel aller Offenbarungen Gottes wird immer mehr ins Dunkle gestoßen! Seine Lehre – d. i. einige Punkte seiner Lehre werden auf Unkosten seiner Person erhöhet! Seine Lehre aber, mein Freund, ist nicht Er selber. Er giebt uns Unsterblichkeit; nicht seine Lehre. Die Auferstehung und das ewige Leben in einem himmlischen Körper ist eine physische Sache, die seine (physische) Schöpferskraft uns giebt, und nicht eine moralische Vorschrift.88
87 88
Johann August Eberhardt: Neue Apologie des Sokrates. 2 Th. Berlin 1772. Lavater, Unveränderte Fragmente, 95 f. – JCLW, Bd. IV, 851 f.
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VERONIKA ALBRECHT-BIRKNER
„Reformation des Lebens“ und „Pietismus“ – ein historiografischer Problemaufriss Ernst Koch zum 85. Geburtstag 1. „Reformation des Lebens“ und „Pietismus“ – eine methodische Reflexion „Reformation des Lebens“ und „Pietismus“ sind unter den zahlreichen Kindern der Idee einer programmatischen Verbesserung in der lutherischen Kirche des 17. Jahrhunderts prima vista zwei ungleiche Geschwister.1 Schon im Ausmaß ihres expliziten Vorkommens – sowohl zeitgenössisch als auch in der Forschung – unterscheiden sie sich erheblich. Programme einer „Reformation des Lebens“ im Luthertum wären vermutlich noch weniger bekannt geworden, als dies der Fall ist, wenn Ernst der Fromme ein solches nicht zu seinem Regierungsprogramm erhoben hätte. Bei näherem Hinsehen ist von einem solchen Programm – mit leicht abweichenden Bezeichnungen, wie z. B. „Lebensreformation in allen Ständen“ – aber gar nicht so selten die Rede.2 Zu nennen sind an dieser Stelle lutherische Theologen wie z. B. Balthasar Meisner (Wittenberg), Johann Saubert d. Ä. (Nürnberg), Johann Müller (Hamburg), Johann Conrad Dannhauer (Straßburg), Johann Jakob Fabricius (zuletzt Amsterdam)3 oder Theophil Großgebauer (Rostock). Das Feld erweitert sich erheblich, wenn man Forderungen nach einer „Reformation der Kir1 Erweiterte Fassung eines im Rahmen der internationalen Tagung „Pietismus in Thüringen – Pietismus aus Thüringen. Interaktionen einer religiösen Reformbewegung im Mitteldeutschland des 17. und 18. Jahrhunderts“, Gotha, 12.-14. März 2015, gehaltenen Referats. Die Überlegungen beziehen sich auf Vorgänge im Luthertum im 17. und 18. Jahrhundert. Weiterführende Diskussionen könnten freilich auch andere Konfessionen und Epochen in die hier gebotenen Strukturierungsvorschläge einbeziehen. Diese Ausweitung ist aber nicht Gegenstand dieses Aufsatzes. – Bibliografische Nachweise beschränken sich aufgrund der Komplexität des Themas im Folgenden auf ausgewählte Belegstellen. 2 Vgl. zum Folgenden Theodor Mahlmann: Art. „Reformation“. In: HWPh 8, 1992, 416–427, v. a. 418 u. 424; Veronika Albrecht-Birkner: Reformation des Lebens. Die Reformen Herzog Ernsts des Frommen von Sachsen-Gotha und ihre Auswirkungen auf Frömmigkeit, Schule und Alltag im ländlichen Raum (1640–1675). Leipzig 2002, 82–84. 3 Zu Fabricius vgl. Harm Klueting: Reformatio vitae. Johann Jakob Fabricius (1618/20–1673). Ein Beitrag zu Konfessionalisierung und Sozialdisziplinierung im Luthertum des 17. Jahrhunderts. Münster 2003.
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che“ (Andreas Kessler, Eisfeld) und vor allem auch nach einer „Reformation der Welt“ im Sinne einer „Allgemeinen“ oder „Generalreformation“ (z. B. Wolfgang Ratke [Erfurt], Johann Valentin Andreae [Stuttgart], Johann Amos Comenius [zuletzt Amsterdam], Balthasar Schupp [Hamburg]) einbezieht. Die mit diesen Personen angesprochenen Programme zu einer „Reformation des Lebens“ im Sinne einer ‚Verbesserung der Welt‘ – wobei „Welt“ alles von lokalen Einheiten wie einer Stadt oder einem Territorium bis zum gesamten Globus meinen konnte – bilden bereits ein ganzes Panorama an konkreten vorgeschlagenen Maßnahmen einschließlich verschiedener theologischer und soziologischer Konnotationen. Was sie strukturell verbindet, ist der selbst erhobene Anspruch auf Legitimität – und zwar eben aufgrund der Verwendung des Begriffs „Reformation“. Denn dieses ‚Etikett‘ implizierte, dass es nicht um beliebig erfundene, illegitime Maßnahmen ging, sondern um Programme zu einer Fortsetzung dessen, was im 16. Jahrhundert zur Entstehung der protestantischen Konfessionen geführt und als „Reformation“ inzwischen gewissermaßen ‚kanonisiert‘ worden war. Programme zu einer „Reformation des Lebens“ stehen in der Frühen Neuzeit für Diskurse, die genau die Realität schaffen sollten, die sie bezeichneten: eine der Reformation tatsächlich gemäße Lebenswirklichkeit. In welchem Maße dieser normierende Anspruch in wie auch immer geartete Maßnahmen umgesetzt wurde, ist freilich eine ganz andere Frage. Dies hing nicht nur vom Stand und den politischen bzw. administrativen Möglichkeiten desjenigen ab, der die Forderungen erhob, sondern auch davon, inwieweit es sich überhaupt um Konzepte handelte, die die Spannung zwischen Utopie und Realität auf letztere hin zu lösen versuchten. „Pietismus“ – zeitgenössisch und in der Forschung wesentlich breiter thematisiert – hingegen steht im 17. und 18. Jahrhundert zunächst einmal nahezu für das Gegenteil einer sich begrifflich selbst legitimierenden „Reformation des Lebens“. Es handelt sich, wie vielfach nachgewiesen wurde, um eine polemisch-pejorative Zuschreibung, die den so Bezeichneten explizit massive Abweichungen von den Lehren der Reformation bescheinigte und sie auf diese Weise zu marginalisieren versuchte.4 So beklagte etwa der Jenaer Theologieprofessor Caspar Sagittarius in seinem Brief vom 25. Juli 1690 an den zu diesem Zeitpunkt in Gotha lebenden Johann Hieronymus Wiegleb, dass diejenigen, die es mit der Frömmigkeit etwas genauer nehmen als andere, gleich „Pietist[en]“ genannt werden würden, als seien sie abergläubische Menschen und als seien ihre Anliegen gleichzusetzen mit Weigelianismus, Quäkerianismus, Quietismus, Böhmismus und Chiliasmus – und dies betreffe Wiegleb ebenso wie Spener, Arndt „& plures alii sincerae pietatis“.5 4 Vgl. grundlegend Martin Gierl: Pietismus und Aufklärung. Theologische Polemik und die Kommunikationsformen der Wissenschaft am Ende des 17. Jahrhunderts. Göttingen 1997, v. a. 206–243. 5 Casparis Sagittarii SS. Theol. D. Historici sax. histor. p. p. Epistola ad Cl. M. Jo. Hier. Wieglebium Thuringum et Petr. Jacob. Langeian Luneburgensem. Jena 1690, zit. n.: Veronika Albrecht-
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Dieser Zuschreibung entsprechend wurde in der 1693 publizierten Außfuehrliche[n] Beschreibung Des Unfugs zum ersten Mal explizit der Sektenvorwurf gegen den Pietismus erhoben. Der Vorwurf implizierte eine Einordnung des „Pietismus“ in Fehlentwicklungen, die mit Thomas Müntzer, dem schlesischen Bauernprediger Antonius und den Münsteraner Täufern eingesetzt hätten.6 Als sein „Urheber“ galt Philipp Jakob Spener.7 In seiner handschriftlichen Abhandlung unter dem Titel Von der übern Pietisten entstandenen Kirchen=Unruhe erklärte der in Erfurt abgesetzte und inzwischen in Wittstock tätige Pfarrer Johann Melchior Stenger im Jahr 1694 „Pietismum“, „Arndianismum“ und „Spenerismum“ zu gleichermaßen pejorativ verwendeten Synonymen.8 Der Titel einer kaiserlichen Ediktesammlung aus dem Jahr 1703 weist schlaglichtartig aus, wie „Pietismus“ zu diesem Zeitpunkt auf reichsrechtlicher Ebene wahrgenommen wurde. Die Edikte, so heißt es, wenden sich „Wider die Rebellischen Wider=Täuffer / neuen einschleichenden Schwärmer / David Joristen / Weigelianer / Rosencreutzer / Pansophisten, Boehmisten, Chiliasten, Enthusiasten, Quacker / Labadisten, Offenbahrungs= und Frey=Geister / Quietisten / Träumer / Scheinheiligen neuen falschen Propheten und anderer Sectirischen Schleicher / wie die nahmen haben und sich selbst nennen die stillen vollkommenen Heiligen oder Pietisten“.9 „Pietist“ wurde hier also zu einer Selbstbezeichnung erklärt, hinter der sich jegliche Art von Irrlehre verbergen konnte. Zu diesem Zeitpunkt war der Ausdruck „Pietist“ auch in den Niederlanden zusätzlich „zu den üblichen für religiöse Randfiguren in Deutschland in Gebrauch“ gekommen.10 So publizierte WilBirkner: Zur Rezeption Johann Arndts in Sachsen-Gotha (1641/42) und in den Auseinandersetzungen um den Pietismus der 1690er Jahre. In: PuN 26, 2000 [2001], 29–49, hier 33. Vgl. zu Sagittarius Johannes Wallmann: Der Pietismus an der Universität Jena. In: PuN 37, 2011, 36–85, hier 53 f. – Ähnlich äußerte sich auch Spener Anfang der 1690er Jahre zum ‚so genannten Pietismus‘ als einer pejorativen Zuschreibung (vgl. z. B. Ph.J. Spener an Jakob Wilhelm Imhoff in Nürnberg, Dresden, 16.7.1690, und an Johann Heinrich Hassel, Dresden, 30.8.1690 [im Druck in: Ph.J. Spener: Briefe aus der Dresdner Zeit. Bd. 4]). 6 Ausführliche Beschreibung / Des Unfugs / Welchen / Die Pietisten / in Halberstadt / im Monat Decembri 1692. / umb die heilige Weihnachts=Zeit / gestifftet. / Dabey zugleich von dem / Pietistischen Wesen / in gemein etwas gründlicher / gehandelt wird. O. O. 1693, 7–12. 7 Ausführliche Beschreibung [s. Anm. 6], 12. 8 Johann Melchior Stenger: Von der übern Pietisten entstandenen Kirchen=Unruhe. O. O. 1694 (SUB Göttingen, Acta pietistica VII, Nr. 5, unpag.). Vgl. hierzu Johannes Wallmann: Erfurt und der Pietismus im 17. Jahrhundert. In: Ders.: Theologie und Frömmigkeit im Zeitalter des Barock. Gesammelte Aufsätze. Tübingen 1995, 325–350, hier 330–332. 9 Der Römischen Kayserlichen Majestät Und Des Heil. Röm. Reichs Geist= und Weltlicher Stände / Reichs=Abschiede Und CONSTITUTIONES Desgleichen Königliche / Chur= und Fürstliche absonderliche EDICTA Wider die Rebellischen Wider=Täuffer [. . . usw., s. o., d. Vf.in]. Anitzo männiglich zur Warnung und Nachricht dargestellet und zum Druck befordert. Im Jahr 1703. 10 Fred van Lieburg: Wege der niederländischen Pietismusforschung. Traditionsaneignung, Identitätspolitik und Erinnerungskultur. In: PuN 37, 2011, 211–253, hier 216.
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helmus à Brakel 1707 eine in den Niederlanden weit verbreitete „Warnung vor den Pietisten, Quietisten und andern Irrgeistern, welche unter dem Schein der Gottesfurcht [zu] einem natürlichen und geistlosen Gottesdienst verfallen“.11 „Pietismus“ stand hier für „falsche Ausartung“ von „pietas“ als wahrer Frömmigkeit im Luthertum und anderer Ausdruck für „allerlei Phantasien und Irrtümer“, wie sie „die Mystische, Quietisten, Irrgeister, Schwärmgeister, Davidjoristen, Böhmisten, Quäker, und dergleichen Gattung Leute“ vertreten würden.12 Angesichts dieser Zuschreibungen verwundert es nicht, dass in der Frühen Neuzeit niemand, dem etwas an seiner Kirchenmitgliedschaft und somit auch an seiner legalen Existenz im Reich lag, freiwillig unter das Label „Pietismus“ fallen wollte. Wie gleich noch etwas genauer zu zeigen ist, haben sich die so Bezeichneten vielmehr in zum 18. Jahrhundert hin eher noch zunehmender Weise gegen dieses Etikett gewehrt. Nach meinem Eindruck war der Ausdruck gerade im 18. Jahrhundert ein absolutes ‚no go‘ – nicht einmal im Württembergischen Reskript von 1743, das „besondere Versammlungen verschiedener Persohnen zu allerhand geistlichen Ubungen“ erlaubte, taucht er auf.13 Ab dem Ende des 18. Jahrhunderts etablierte sich allmählich, zunächst über den neutralen Begriff ‚Pietät‘ oder die Formulierung ‚sogenannter Pietismus‘ ein positiver Begriff von „Pietismus“, der sich zunächst einmal auf August Hermann Francke und die Halleschen Anstalten und von dort aus auf Spener und ggfls. auf Württemberg bezog.14 Hiervon unterschieden waren die Herrnhutische Tradition und nonkonforme religiöse ‚Solisten‘. Dieser Stand der Begriffsentwicklung ist gut ablesbar an Goethes Unterscheidung von Herrnhutern, Pietisten und Separatisten.15 „Pietismus“ als umfassenderes historisches Konstrukt ist ein Produkt des 19. Jahrhunderts, zu dem, wie mehrfach rekonstruiert wurde, neben Max Goebel (1849–1860), August Tholuck (1861/62) und Heinrich Schmid (1863) insbesondere Heinrich Heppe (1879) und Albrecht Ritschl (1880–1886) maßgeblich beigetragen haben.16 Entscheidend an der nun vollzogenen Kon11
Zit. n. van Lieburg, Wege [s. Anm. 10], 216. Van Lieburg, Wege [s. Anm. 10], 217. Hier auch das folgende Zitat. 13 Vgl. Das württembergische Pietisten-Reskript vom Jahr 1743. Hg. v. Evangelischen Oberkirchenrat Stuttgart. [Faksimile]. Stuttgart 1977. Der Ausdruck „Pietisten-Reskript“ ist ein offenbar nachträglich hinzugefügter Titel der das Reskript enthaltenden Akte im Landeskirchlichen Archiv Stuttgart (General-Rescript betr[effend] die Privat-Versammlungen der Pietisten. Vom 10. Oct. 1743 [Landeskirchliches Archiv Stuttgart A 26, Bund 464, 1]). 14 Ich beziehe mich hier auf Forschungen zu meinem in Vorbereitung befindlichen Buchprojekt „Erbe – Norm – Tagesthemen. Hallesche Theologen im Spannungsfeld von Universität, Waisenhaus und Berliner Hof (1750–1794)“. 15 Vgl. Separatisten, Pietisten, Herrnhuter. Goethe und die Stillen im Lande. Ausstellung in den Franckeschen Stiftungen zu Halle, vom 9. Mai bis 3. Oktober 1999. Hg. v. Paul Raabe. [Halle] 1999. 16 Ausführliche Darstellungen finden sich bei Johannes Wallmann: Die Anfänge des Pietismus. In: PuN 4, 1977/78, 11–53, hier 11–24 [Lit.], Wiederabdruck in: Ders.: Gesammelte Aufsätze. 12
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struktion von „Pietismus“ als Sammelbezeichnung war die Subsumierung nicht nur des Herrnhutertums, sondern auch der niederländischen und bei Heppe zudem der englischen reformierten religiösen Erneuerungsbewegungen des 17. Jahrhunderts unter diesen Begriff, wobei die Integration des ‚reformierten Zweiges‘ keineswegs von allen Forschern übernommen wurde. Heppe schrieb über „Pietismus“, den er von der „Mystik“ unterschied, freilich überhaupt fast ausschließlich in reformierten Zusammenhängen und definierte ihn dabei als „das Streben nach Vervollständigung der Kirchenreformation des sechszehnten Jahrhunderts als einer blosen Reform der Lehre durch Erweckung der pietas oder durch eine Reform des Lebens“.17 Mit anderen Worten: Heppe erklärte „Pietismus“ dadurch zu einer positiven historischen Kategorie, dass er ihn in die Denkfigur einer „Reformation des Lebens“ überführte. Daneben war „Mystik“ für ihn aber ebenfalls ein legitimes „Phänomen des religiösen Lebens, welche der Kirche überhaupt, der evangelischen wie der katholischen angehört“. Ritschl hingegen setzte „Pietismus“ bekanntlich mit „Mystik“ gleich und erklärte letztere und somit den „Pietismus“ zu einer bis in seine eigene Gegenwart hineinreichenden Irrlehre im Protestantismus. Mit Hilfe seiner Geschichte des Pietismus versuchte Ritschl also, „Pietismus“ als historisches und gegenwärtiges Phänomen mit der dem Begriff ursprünglich verbundenen konfessionellen Marginalisierung zu behaften und auf diese Weise dessen definitives Ende im 19. Jahrhundert heraufzubeschwören. Dieser in der Vorrede zum dritten Band seiner Publikation explizit benannte Zusammenhang18 verdeutlicht beispielhaft die Rolle der beginnenden Historiografie des „Pietismus“ im Rahmen theologischer Identitätsfindungen des 19. Jahrhunderts. Durchgesetzt haben sich außer dem „Pietismus“ selbst freilich andere Sichtweisen auf diesen, die seit dem beginnenden 20. Jahrhundert – ganz im Gegensatz zu Ritschls Auffassung – das gesellschaftliche Modernisierungspotential des „Pietismus“ in den Vordergrund stellten und stellen.19 Auf der Basis des mit Heppe etablierten Verständnisses von „Pietismus“ als legitimer Fortsetzung der Reformation im Bereich des „Lebens“, die man bis heute in allen einschlägigen Darstellungen zur Geschichte des Pietismus lesen kann, dehnte sich der hierunter subsumierte historische Forschungsgegenstand immer weiter aus. Dass in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts auch etliche Formen marginalisierter Religiosität, mit denen die im 17. und 18.
Bd. 2: Pietismus-Studien. Tübingen 2008, 22–66, hier 24–35; ders.: Einleitung. In: Der Pietismus. Göttingen 2005, 21–27. 17 Heinrich Heppe: Geschichte des Pietismus und der Mystik in der reformirten Kirche, namentlich der Niederlande. (Leiden 1879). ND Goudriaan 1979, 6. Hier auch das folgende Zitat. 18 Vgl. Albrecht Ritschl: Geschichte des Pietismus. Bd. 3. (Bonn 1886). ND Berlin 1966, VVIII. 19 Vgl. hierzu zuletzt Udo Sträter: Art. „Pietismus“. In: Handbuch Europäische Aufklärung. Begriffe – Konzepte – Wirkung. Hg. v. Heinz Thoma. Stuttgart, Weimar 2015, 395–406.
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Jahrhundert als „Pietisten“ Bezeichneten gegen ihre eigene Wahrnehmung gleichgesetzt worden waren, als sog. „Radikaler Pietismus“ unter diesen wieder dezidiert subsumiert wurden, war ein Symptom dieser gewissermaßen hegemonialen Entwicklung des Pietismusbegriffs.20 Gerade an dieser Stelle sind in der jüngeren Pietismusforschung zugleich am deutlichsten inhaltliche und terminologische Anfragen formuliert worden.21 Zur Ausweitung des Pietismusbegriffs gehörte auch die weitergehende Einbeziehung der reformierten religiösen Erneuerungsbewegungen des 17. und 18. Jahrhunderts in England, den Niederlanden und Deutschland.22 Dabei kennzeichnet in merkwürdiger Parallelität zu christlichen Strömungen, die sich bis in die Gegenwart als „Pietisten“ verstehen, auch die sich ausdrücklich auf den „Pietismus“ als historisches Phänomen beschränkende wissenschaftliche Pietismusforschung vielfach ein essentialistisch-identitärer Zuschnitt, dem gemäß nach dem „Wesen“ des Pietismus und nach der für diesen zu veranschlagenden Epoche gefragt wird. Das führt dazu, dass innerhalb des Forschungsfeldes „Pietismus“, der im Kern z. T. als ‚Bewegung‘ definiert wird,23 jeweils zwar vieles erforscht und behauptet wird, nicht aber am Etikett 20 Vgl. v. a. Hans Schneider: Der radikale Pietismus in der neueren Forschung. In: PuN 8, 1982, 15–42 und PuN 9, 1983, 117–152, wiederabgedruckt in: Ders.: Gesammelte Aufsätze I. Der radikale Pietismus. Hg. v. Wolfgang Breul u. Lothar Vogel. Leipzig 2011, 9–80. Freilich darf nicht übersehen werden, dass Schneiders Anliegen seinerzeit v. a. darin bestand, in einer sich zunehmend auf den „Pietismus“ als maßgeblicher ‚Meistererzählung‘ der Frühen Neuzeit fokussierenden Kirchengeschichte auch den religiösen Nonkonformisten Aufmerksamkeit zu sichern. 21 Vgl. Martin Brecht: Der radikale Pietismus. Die Problematik einer historischen Kategorie. In: Der radikale Pietismus. Perspektiven der Forschung. Hg. v. Wolfgang Breul [u. a.]. Göttingen 2010, 451–467; Hans Schneider: Rückblick und Ausblick. In: Der radikale Pietismus [s. Anm. 20], 451–467, wiederabgedruckt in: Ders., Gesammelte Aufsätze I [s. Anm. 20], 405–422. 22 Die hegemoniale Entwicklung des Pietismusbegriffs einschließlich der damit zwangsläufig einhergehenden Unschärfen in den Darstellungen der einzelnen ‚Zweige‘ des „Pietismus“ ist in den von 1993 bis 2004 erschienenen Bänden der Geschichte des Pietismus vorerst gewissermaßen ‚zementiert‘ worden. Vgl., auch zu den in der Folge entstandenen Diskussionen um den Pietismusbegriff, zuletzt summarisch Hans-Jürgen Schrader: Feindliche Geschwister? Der Pietismus als Widersacher und Weggefährte der Aufklärung. Sachverhalte und Forschungslage. In: Epoche und Projekt. Perspektiven der Aufklärungsforschung. Hg. v. Stefanie Stockhorst. Göttingen 2013, 91– 130, hier 97 f. Anm. 11. 23 Diese Definition korrespondiert ebenso wie die theologiegeschichtliche Argumentation mit einem Zusammenfall des Beginns von Pietismus und Neuprotestantismus [vgl. Anm. 31] mit einem ‚engen‘ Pietismusbegriff. Vgl. Hans Schneider: Art. „Soziale Bewegungen, religiöse“. In: Enzyklopädie der Neuzeit 12, 2010, 229–240, hier 237 f. Schneider merkt allerdings zu Recht an, dass der Begriff der „pietistischen B[ewegung]“ „meist ohne definitorische Klärung gebraucht wird, wie denn die Pietismusforschung generell noch einen Nachholbedarf hinsichtlich sozialgeschichtlicher und soziologischer Zugänge hat“ (ebd.). In der Tat ist es aus meiner Sicht fraglich, ob man sozialhistorisch fundiert tatsächlich von einer ‚pietistischen Bewegung‘ sprechen kann. – Der sozialgeschichtliche Aspekt der „Bewegung“ ist zentral auch bei Wolfgang Breul: Art. „Pietismus. 1. Evangelische Kirchen“. In: Enzyklopädie der Neuzeit 10, 2009, 12–17, und bei Douglas H. Shantz: An introduction to German pietism. Protestant renewal at the dawn of modern Europe. Baltimore, Md. 2013, sowie im Konzept des kürzlich erschienenen englischsprachigen
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„Pietismus“ gezweifelt werden darf. Anfragen, ob die aus pejorativen Zuschreibungen geborene Bezeichnung „Pietismus“ als historiografische Kategorie in diesem oder jenem Fall sinnvoll und sachgemäß für das darunter Subsumierte ist, führen in den letzten Jahrzehnten unter diesen Voraussetzungen zu Diskussionen um historiografische ‚Besitzstände‘. Um es im Vergleich mit dem Etikett „Reformation des Lebens“ auf den Punkt zu bringen: Niemand würde auf die Idee kommen, sich im Blick auf historische Personen darum zu streiten, ob jemand ein „Reformator des Lebens“ war – aber an der Frage, ob jemand ein „Pietist“ war oder nicht, oder ob etwas zum historischen Konstrukt „Pietismus“ gehört oder nicht, scheinen sich mitunter ganze wissenschaftliche Bekenntnisse oder auch Existenzen zu entscheiden. Die sich auf diese Weise partiell selbst blockierende deutsche Pietismusforschung hat ein Pendant in der ebenfalls im 19. Jahrhundert geborenen niederländischen Nadere-Reformatie-Forschung, die v. a. seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine essentiell-identitäre Geschichtsschreibung mit einem deutlichen Hang zum „Definitionszwang“ betreibt.24 Fred van Lieburg hat die komplizierten Verflechtungen zwischen den sich im 19. Jahrhundert herausbildenden verschiedenen Flügeln der niederländischen Kirche und deren Identitätskonstruktionen via Geschichtsschreibung aufgearbeitet, einschließlich der mit der Gründung des niederländischen Reformierten Bundes (1906) verbundenen Zielsetzung einer Wiederbelebung der „Nadere Reformatie“ als „Ausarbeitung der theokratischen Ideale Calvins“.25 Das diesem Ziel entsprechende kirchenhistorische Programm verfolgt die Konstruktion einer „kohärenten Bewegung“, der gemäß „Nadere Reformatie“ als „Fortsetzung der calvinistischen Reformation und ein Gegengewicht zu deren Deformation“ ebenso im 17. Jahrhundert wie in der Gegenwart verstanden wird.26 Der Fokus des Interesses liegt folglich zunehmend auf einer Abkehr von „Pietismus“ als Frömmigkeit der ‚Verinnerlichung‘ und ‚Weltvermeidung‘ und einer Rückkehr zu Calvins „ursprünglichen Ziele[n] der Neugestaltung der Kirche, des Staates und der Gesellschaft“ – ebenfalls sowohl in der Geschichtsschreibung als auch in der Gegenwart.27 Aber auch jenseits der identitären Nadere-Reformatie-Forschung ist die Rede von einem „Reformierten Pietismus“ für die niederländischen Frömmigkeitsbewegungen der Frühen Neuzeit in den Niederlanden inzwischen offensichtlich nicht mehr konsensfähig.28 Entsprechend ihrer unterschiedlichen historischen Verortung, Genese und Funktion in der Forschung ist also zu berücksichtigen, dass ein Vergleich der Kompendiums zum deutschen Pietismus (vgl. Douglas H. Shantz: Introduction. In: A companion to German Pietism, 1660–1800. Hg. v. dems. Leiden, Boston 2014, 1–13). 24 Van Lieburg, Wege [s. Anm. 10], passim, hier 234. 25 Van Lieburg, Wege [s. Anm. 10], passim, hier 226. 26 Van Lieburg, Wege [s. Anm. 10], 226 u. 233. 27 Van Lieburg, Wege [s. Anm. 10], 227. 28 Van Lieburg, Wege [s. Anm. 10], 245 f.
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mit „Reformation des Lebens“ und „Pietismus“ bezeichneten Phänomene einer sorgfältigen methodischen Reflexion bedarf. Eine Analyse des Bedeutungsgehaltes von „Reformation des Lebens“ kann als ‚Finder‘ die explizite Verwendung dieses oder vergleichbarer Programmbegriffe nutzen und von hier aus nach den inhaltlichen Konnotationen der damit verbundenen Intentionen sowie nach deren sachgemäßer Einordnung fragen. „Pietismus“ hingegen ist zeitgenössisch eine pejorative und retrospektiv eine identitäre bzw. historiografische Zuschreibung und markiert insofern einen sowohl in der synchronen als auch in der diachronen Perspektive gebrochenen Diskurs. Vermeintliche „Pietisten“ im 17. und 18. Jahrhundert betonten, dass ihre Lebensrealität und die mit „Pietismus“ bezeichnete Realität etwas Grundverschiedenes seien. Als hegemoniale, also ‚sagbare‘ und zudem essentialistischidentitäre historische Konstruktion setzte sich „Pietismus“ ab dem 19. Jahrhundert durch. Dabei spielte die Etablierung eines Pietismusverständnisses, dem gemäß dieser eine nicht nur legitime, sondern auch notwendige Fortsetzung der Reformation im Bereich des ‚Lebens‘, also eine „Reformation des Lebens“ gewesen sei, eine entscheidende Rolle. Es darf nicht übersehen werden, dass die seit dem Ende des 18. Jahrhunderts zu beobachtende Etablierung von „Pietismus“ als kirchenhistorischer „Meistererzählung“ für die Frühe Neuzeit neben derjenigen der „Aufklärung“ im Gegenüber zur „Reformation“ ihr Gegenstück in der Erfindung der ‚toten Orthodoxie‘ hatte.29 Nahezu in Umkehrung der historischen Situation erhielt die kirchliche ‚Normalsituation‘ im Protestantismus des 17. Jahrhunderts somit ein pejoratives Etikett – das des ‚Alten‘, ‚Leblosen‘, das von Pietismus und Aufklärung als dem ‚Neuen‘, Modernen und Besseren im Zuge der Entwicklung zur Neuzeit überwunden wurde. „Orthodoxie“ wurde auf diese Weise zum Inbegriff einer die Aufbrüche der Reformation mehr oder weniger verstellenden Fehlentwicklung im Protestantismus.30 Es war folgerichtig, dass Spener unter den teleologischen Prämissen dieser nach Modernisierung fragenden (Kirchen-) Geschichtssicht zum ‚Vater des Neuprotestantismus‘ im Sinne eines „Wegbereiter[s] auch der deutschen theologischen Aufklärung“ 29 Vgl. hierzu pointiert Stefan Michel u. Andres Straßberger: Einleitung. In: Eruditio – Confessio – Pietas. Kontinuität und Wandel in der lutherischen Konfessionskultur am Ende des 17. Jahrhunderts. Das Beispiel Johann Benedikt Carpzovs (1639–1699). Hg. v. dens. Leipzig 2009, 11–18, hier 12; zum Gegenüber zur „Reformation“ vgl. Thomas Kaufmann: Lutherische Konfessionskultur in Deutschland – eine historiographische Standortbestimmung. In: Ders.: Konfession und Kultur. Lutherischer Protestantismus in der zweiten Hälfte des Reformationsjahrhunderts. Tübingen 2006, 3–26, v. a. 3–7. – Diese Vorstellung von einer im Doppelsinn des Wortes „herrschenden“, vermeintlich monolithischen Orthodoxie spielt auch in allgemeinhistorischen Arbeiten zum konfessionellen Zeitalter weiterhin eine konstitutive Rolle (vgl. z. B. den Band Konfessionelle Ambiguität. Uneindeutigkeit und Verstellung als religiöse Praxis in der Frühen Neuzeit. Hg. v. Andreas Pietsch u. Barbara Stolberg-Rilinger. Heidelberg 2013). 30 Vgl. zum Verhältnis von Pietismus und Orthodoxie zuletzt Markus Matthias: Pietism and Protestant Orthodoxy. In: Companion [s. Anm. 23], 17–49.
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avancierte.31 Überspitzt könnte man formulieren: Was der Reformation das ‚finstere Mittelalter‘ ist, ist Pietismus und Aufklärung die ‚tote Orthodoxie‘. Die ‚positiven‘ Potentiale der „Orthodoxie“, wie z. B. Programme zu einer „Reformation des Lebens“ – v. a. von Hans Leube und Winfried Zeller seinerzeit als „Reformorthodoxie“ profiliert – wurden tendenziell unter „Pietismus“ subsumiert und damit als ihrer Zeit sozusagen vorausweisende Ausnahmen von der Regel vom Mainstream einer „Orthodoxie“ faktisch wieder isoliert.32 Dabei war es bei der Ablehnung des Begriffs „Reformorthodoxie“ ursprünglich im Gegenteil darum gegangen, das ‚Reformpotential‘ der Orthodoxie nicht nur einer von einer ‚herrschenden Lehrorthodoxie‘ zu trennenden Gruppe innerhalb der Orthodoxie, sondern dieser insgesamt zuzuschreiben.33 2. ‚Frühneuzeitlicher Reformprotestantismus‘ als Teil von Konfessionalisierungsprozessen – eine These Vor dem Hintergrund dieser Beobachtungen und methodischen Überlegungen schlage ich vor, vorausgehende Begriffsessentialismen einmal beiseite zu lassen und mit „Reformation des Lebens“ und „Pietismus“ angesprochene programmatische Bemühungen um eine ‚Verbesserung‘ von Kirche und christlicher Gesellschaft im Protestantismus des 17. und frühen 18. Jahrhunderts jenseits scheinbar eindeutiger Etikettierungen und Periodisierungen auf einer strukturierenden Metaebene in den Blick zu nehmen. Damit soll nicht einer ‚Einebnung‘ der sehr wohl zu unterscheidenden historischen Strömungen das Wort geredet werden, wohl aber einer anschlussfähigen wissenschaftlichen Gesprächskultur, die sich mögliche Erkenntnisoptionen durch ‚historiografische Besitzstandskämpfe‘ nicht selbst verstellt. Bei der Suche nach einer sachgemäßen Metaebene scheinen mir folgende Überlegungen entscheidend zu sein: Es ist evident, dass sämtliche protestantischen Programme zu einer ‚Verbesserung‘ der Christen ihre Legitimität über 31 Vgl. Johannes Wallmann: Philipp Jakob Spener, der Vater des Neuprotestantismus. In: Ders., Gesammelte Aufsätze 2 [s. Anm. 16], 132–145, hier 145. Wallmann formulierte weiter: „Aber es bleibt doch Speners Verdienst, das Erbe der Reformation, das eine sich dem neuzeitlichen Erfahrungsdenken verschließende lutherische Orthodoxie zu verspielen drohte, selbständig angeeignet und, wenn auch in veränderter Gestalt, künftigen Generationen weitervermittelt und so für die Zukunft bewahrt zu haben.“ (Ebd.) Vgl. auch ders.: Der Vater des Neuprotestantismus. Der Ertrag des Gedenkens zum 300-jährigen Todestag Philipp Jakob Speners. In: ThLZ 132, 2007, 1033– 1044. Diese Einordnung Speners war erstmalig von Emanuel Hirsch vorgenommen worden (vgl. ebd., 1041 Anm. 17). 32 Vgl. hierzu summarisch Michel u. Straßberger, Einleitung [s. Anm. 29], 12 f. Anm. 9. 33 Vgl. hierzu programmatisch den ersten der im Ergebnis der von 1994 bis 2006 veranstalteten „Wittenberger Symposien zur Erforschung der Lutherischen Orthodoxie“ publizierten Sammelbände: Pietas in der Lutherischen Orthodoxie. Hg. v. Udo Sträter. Wittenberg 1998.
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die Denkfigur einer ‚Vervollständigung‘ der – entsprechend für unvollständig oder in Verfall gekommen erklärten – Reformation bezogen, und zwar nicht erst retrospektiv, sondern bereits auch zeitgenössisch.34 Dabei ist es vor allem für das Luthertum kennzeichnend, dass die in diesem Zusammenhang vorgeschlagenen Maßnahmen alle mit einem mehr oder weniger starken und mehr oder weniger offensichtlichen Zugriff auf nicht der eigenen konfessionellen Tradition entsprechende Glaubens- und Lehrinhalte verbunden waren. Dies konnte sowohl Anleihen bei anderen Konfessionen als auch bei in keiner Hinsicht konfessionell konnotierten, ‚freien‘ religiösen Diskursen betreffen.35 Unter genau diesem Aspekt wurden Erneuerungsprogramme von scharfsinnigen Gegnern entsprechend auch bekämpft.36 Solche ‚Anleihen‘ erhielten ihre Plausibilität aber dadurch, dass sich die postulierte ‚Vervollkommnung‘ der Reformation eben nicht auf die Lehrbildung, sondern auf eine ‚Reformation‘ der Glaubens- und Lebenspraxis (praxis pietatis) bezog,37 was freilich zunächst einmal die Konstruktion einer Divergenz von Theorie und Praxis (‚Lehre‘ und ‚Leben‘) in bzw. seit der Reformation voraussetzte.38 Inzwischen ist aber 34 Hierauf reagierte Valentin Ernst Löscher, indem er zu den „allgemeinen Kennzeichen des pietistischen Übels“ auch den „Reformatismus“ zählte (vgl. Hans Leube: Die Reformideen in der deutschen lutherischen Kirche zur Zeit der Orthodoxie. Leipzig 1924, 36). 35 Vgl. zu Anleihen bei der reformierten Tradition z. B. Johannes Wallmann: Lutherische Konfessionalisierung – ein Überblick. In: Die lutherische Konfessionalisierung in Deutschland. Wissenschaftliches Symposion des Vereins für Reformationsgeschichte 1988. Hg. v. Hans-Christoph Rublack. Gütersloh 1992, 33–53, hier 53. Wallmann formulierte pointiert: „‚Lutherische Konfessionalisierung‘ im Sinne einer religiösen Formierung der Gesellschaft ist im 17. Jahrhundert auf weite Strecken gleichzusetzen mit dem, was Ernst Troeltsch die Calvinisierung des Luthertums nannte.“ (Ebd.) Wallmann hat dies zum damaligen Zeitpunkt aber nicht auf pietistische Reformbestrebungen bezogen. – Thomas Kaufmann hat generell eine „im Zuge des Dreißigjährigen Krieges gesteigerte innere Pluralisierung im Luthertum“ (9; vgl. 140 f.) mit Anleihen bei den verschiedensten Traditionen (144) konstatiert, aufgrund derer er „die Pluralisierung in konfessionskultureller Perspektive als Modus der die frühneuzeitlichen Gesellschaften prägenden lutherischen Konfessionalisierung“ (150; vgl. 142) bezeichnet (Thomas Kaufmann: Dreißigjähriger Krieg und Westfälischer Friede. Kirchengeschichtliche Studien zur lutherischen Konfessionskultur. Tübingen 1998). – Markus Matthias hat bereits im Blick auf Ägidius Hunnius eine „gelebte konfessionelle Kultur“ konstatiert, die keineswegs „immer dieselbe ‚Reinheit‘ wie die Lehre haben“ musste (Markus Matthias: Theologie und Konfession. Der Beitrag von Ägidius Hunnius [1550–1603] zur Entstehung einer lutherischen Religionskultur. Leipzig 2004, v. a. 233–246, hier 246). – Martin Brecht hat auf die generelle „Durchlässigkeit des kirchlichen Pietismus zum Separatismus und zur Heterodoxie“ aufmerksam gemacht (vgl. Brecht, Der radikale Pietismus [s. Anm. 21], 15–18). 36 Vgl. hierzu in reformationsgeschichtlicher Perspektive Thomas Kaufmann: Nahe Fremde – Aspekte der Wahrnehmung der „Schwärmer“ im frühneuzeitlichen Luthertum. In: Interkonfessionalität – Transkonfessionalität – binnenkonfessionelle Pluralität. Neue Forschungen zur Konfessionalisierungsthese. Hg. v. Kaspar von Greyerz [u. a.]. Heidelberg 2003, 179–241. 37 Thomas Kaufmann hat ‚Reformation des Lebens‘ als „das heimliche oder offene Leitthema der protestantischen Kirchengeschichte des 17. Jahrhunderts“ bezeichnet (Kaufmann, Dreißigjähriger Krieg [s. Anm. 35], 151). 38 Auf die historiografische Problematik der Annahme einer solchen Divergenz von Dogmatik und Frömmigkeit im Sinne einer „Frömmigkeitskrise“ im nachreformatorischen Luthertum haben Walter Sparn und Jörg Baur bereits 1992 hingewiesen (vgl. Matthias, Theologie [s. Anm. 35], 23).
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durchaus nicht nur erwogen, sondern exemplarisch auch nachgewiesen worden, dass solche Anleihen bei nichtlutherischen Traditionen, selbst wenn sie in großem Umfang erfolgten, letztlich eben nicht zu einer Relativierung, sondern zu einer Stärkung von Konfessionalität führten.39 Vor diesem Hintergrund schlage ich vor, die protestantischen Reformbemühungen des 17. und frühen 18. Jahrhunderts zunächst einmal zu verstehen als Bestandteil von Konfessionalisierungsprozessen.40 Mit diesem Begriff ist freilich die gesamte, seit den 1980er Jahren intensiv geführte Debatte um das Konfessionalisierungsparadigma einschließlich der mit diesem zunächst verbundenen Verengungen auf eine etatistische Top-down-Perspektive aufgerufen.41 Schon aufgrund der interdisziplinären Anschlussfähigkeit halte ich es für sinnvoll, hier dennoch anzuknüpfen – allerdings nicht unter Übernahme der systemtheoretischen Perspektive, der gemäß „Konfessionalisierung“ lediglich die Funktion von ‚Konfession‘ im Rahmen der Durchsetzung einer für die Staatsbildung notwendigen Sozialdisziplinierung meint und in dieser Hinsicht nach Konfession als Motor von Modernisierung fragt.42 In Anknüpfung an Überlegungen zu inter- und transkonfessionellen Phänomenen, zu binnenkonfessionellen Differenzierungen sowie der Notwendigkeit, mikro-
39 Vgl. u. a. Kaufmann, Dreißigjähriger Krieg [s. Anm. 35], 8 f.; Johannes Wallmann: Philipp Jakob Spener und die Mystik. In: Zur Rezeption mystischer Traditionen im Protestantismus des 16. bis 19. Jahrhunderts. Hg. v. Dietrich Meyer u. Udo Sträter. Köln 2002, 129–147, hier 146; Veronika Albrecht-Birkner: Der Berliner Hof und die Theologische Fakultät Halle. Konfessionelle Aspekte eines spannungsvollen Verhältnisses (1690–1790). In: Kirche, Theologie und Politik im reformierten Protestantismus. Hg. v. Matthias Freudenberg u. Georg Plasger. Neukirchen-Vluyn 2011, 107–127. 40 Vgl. Fred van Lieburg, der für eine Erforschung der „historischen Bemühungen um die praxis pietatis im Kontext der Konfessionalisierung von Kirche, Kultur und Gesellschaft“ plädiert (van Lieburg, Wege [s. Anm. 10], 245). Vgl. auch ders.: Conzeptualizing religious reform movements in early modern Europe. In: Confessionalism and Pietism. Religious reform in early modern Europe. Hg. v. dems. Mainz 2006, 1–10. 41 Einen Überblick hierzu bieten Thomas Brockmann u. Dieter J. Weiß: „Konfessionsbildung“ und „Konfessionalisierung“ – Einleitung. In: Das Konfessionalisierungsparadigma – Leistungen, Probleme, Grenzen. Hg. v. dens. Münster 2013, 1–22 [Lit.]. – Marianne Taatz-Jacobi spricht im Blick auf ihre Studie ausdrücklich von einer von ihr beabsichtigten „Reaktivierung des Konfessionalisierungsparadigmas“ (Marianne Taatz-Jacobi: Erwünschte Harmonie. Die Gründung der Universität Halle als Instrument brandenburgischer Konfessionspolitik [1680–1713]. Berlin 2014, 26). 42 Perspektivenerweiterungen sind in die Konfessionalisierungsdebatte bereits seit den späten 1990er Jahren eingebracht worden (vgl. Brockmann u. Weiß, Konfessionsbildung [s. Anm. 41], 10– 13 [Lit.]). Als jüngere Publikation vgl. v. a. den Band Konfessionelle Ambiguität [s. Anm. 29]. Der Band dokumentiert eine Tagung, die unter der Frage stand, „was es eigentlich über das europäische Zeitalter der Konfessionalisierung verrät, dass der Diskurs um Lüge, Betrug und Verstellung Hochkonjunktur hatte“ (Barbara Stollberg-Rilinger: Einleitung. In: Konfessionelle Ambiguität [s. Anm. 29], 9–26, hier 11).
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und makrohistorische Perspektiven zu berücksichtigen,43 geht es vielmehr um konkrete inhaltliche Entwicklungen von konfessioneller Theologie und Frömmigkeit in eben diesen Spannungsfeldern als Teil gesamtgesellschaftlicher Prozesse.44 Genauer scheint mir der Beitrag, den Untersuchungen zu Inhalten konfessioneller Theologie und Frömmigkeit zur Konfessionalisierungsforschung leisten können, in der Berücksichtigung von Bottom-up-Perspektiven und -Prozessen zu bestehen, wie sie gegenüber der der Konfessionalisierungsthese zunächst einmal inhärenten Top-down-Perspektive gerade ein Korrektiv bilden können. Sozialgeschichtlich impliziert dies den Fokus auf das Verhältnis von Konformisierungs- und Nonkonformisierungsprozessen. Über die Verwendung solcher Begrifflichkeiten kann man sich freilich streiten – ich halte eine Diskussion über eine Rezeption der für historische Prozesse bislang, soweit ich sehe, kaum verwendeten Denkfigur Top-down / Bottom-up auch in der Kirchengeschichte aber durchaus für erkenntnisfördernd. Innerhalb der kirchenhistorischen Forschung knüpfe ich damit insbesondere an die von Udo Sträter im Blick auf Kirchenreformbemühungen in der lutherischen Kirche des 17. Jahrhunderts getroffene strukturelle Unterscheidung regulativ-gesetzlicher von persuasiv-basisorientierten Maßnahmen an.45 Wie exemplarisch zu zeigen sein wird, lassen sich die mit „Reformation des Lebens“ und „Pietismus“ angesprochenen Reformbemühungen im Luthertum des 17. und frühen 18. Jahrhunderts durchgängig unter diesen Strukturmerkmalen erfassen.46 43
Vgl. v. a. Thomas Kaufmann: Einleitung: Transkonfessionalität, Interkonfessionalität, binnenkonfessionelle Pluralität – Neue Forschungen zur Konfessionalisierungsthese. In: Interkonfessionalität – Transkonfessionalität – binnenkonfessionelle Pluralität. Neue Forschungen zur Konfessionalisierungsthese. Hg. v. Kaspar von Greyerz [u. a.]. Heidelberg 2003, 9–15 [Lit.!]; Hartmut Lehmann: Grenzen der Erklärungskraft der Konfessionalisierungsthese. In: Interkonfessionalität – Transkonfessionalität – binnenkonfessionelle Pluralität, s. o., 242–249. 44 Unter diesen Prämissen findet das Denkmodell „Konfessionalisierung“ in der Kirchengeschichte seit Längerem faktisch Anwendung (vgl. u. a. Thomas Kaufmann: Universität und lutherische Konfessionalisierung. Die Rostocker Theologieprofessoren und ihr Beitrag zur theologischen Bildung und kirchlichen Gestaltung im Herzogtum Mecklenburg zwischen 1500 und 1675. Gütersloh 1997; Ernst Koch: Das konfessionelle Zeitalter – Katholizismus, Luthertum, Calvinismus [1563–1675]. Leipzig 2000; Marcel Nieden: Die Erfindung des Theologen. Wittenberger Anweisungen zum Theologiestudium im Zeitalter von Reformation und Konfessionalisierung. Tübingen 2006). 45 Udo Sträter: Meditation und Kirchenreform in der lutherischen Kirche des 17. Jahrhunderts. Tübingen 1995. 46 Vgl. Abschnitt 3. Polina Serkova spricht im Blick auf den deutschen Protestantismus des 17. Jahrhunderts ähnlich strukturierend von „Reformation des Lebens zwischen Sozialdisziplinierung und Verinnerlichung“ (Polina Serkova: Spielräume der Subjektivität. Studien zur Erbauungsliteratur von Heinrich Müller und Christian Scriver. Duisburg 2013, 17 [Zitat], v. a. auch 25–32). Die „cultura animi als Subjektivierungskonzept, das strenge Disziplinierung und Verinnerlichung vereint“, sieht Serkova in besonderer Weise, aber nicht nur, als spezifisch pietistisch an (32–40, Zitat 40). Vgl. auch Martin Gierl, der für das 17. Jahrhundert ein „piety movement“ konstatiert, das „was defined, on the one hand, by the organisation of the laity, and on the other, by the internali-
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Hinsichtlich des Konfessionalisierungsparadigmas unterstütze ich damit die Annahme, dass auch deutlich über das Jahr 1648 hinaus von „Konfessionalisierung“ zu sprechen ist.47 Zu diskutieren ist an dieser Stelle der von Thomas Kaufmann in Relativierung der etatistischen Perspektive in die Konfessionalisierungsdebatte eingebrachte Begriff der „Konfessionskultur“ – zumal Kaufmann in Bezug auf diesen „offenen Begriff“ bereits 1998 vorgeschlagen hat, „Gestalten und Positionen, die im Namen einer ‚Reformation des Lebens‘ gegen den Eifer für die ‚Orthodoxie‘ auftreten, als maßgebliches Moment, vielleicht auch als Richtung innerhalb der lutherischen Konfessionskultur zu verstehen“.48 Allerdings bleibt der Begriff „Konfessionskultur“ bei Kaufmann ambivalent: Einerseits geht es ihm dabei um den Aspekt der Umsetzung konfessioneller Vorgaben in kirchlichen Alltag und insofern um eine Ergänzung makrohistorischer durch mikrohistorische Ansätze – andererseits will er unter dem Label „Konfessionskultur“ generell nach der ‚Innenperspektive‘ von Konfessionen fragen, die sich in Gestalt von Pluralisierungen möglichen Normierungen ja gerade entzog.49 Wegen ihrer Anschlussfähigkeit an die sich seit den 1980er Jahren etablierende neue Kulturgeschichte hat die Eintragung einer kulturgeschichtlichen Perspektive in die kirchenhistorische Forschung zweifellos Vorteile und spricht teils sogar für Tendenzen zu einem generellen cultural turn auch in diesation and control of faith“ (Martin Gierl: Pietism, Enlightenment, and Modernity. In: Companion [s. Anm. 23], 348–392, hier 356 f.). Gierl bezieht dies dezidiert nicht nur auf protestantische Bewegungen. 47 Vgl. zu der bereits auf die 1980er Jahre zurückgehenden These, dass „Ausläufer von Konfessionalisierung bis ins 18. Jahrhundert“ nachweisbar seien, Taatz-Jacobi, Erwünschte Harmonie [s. Anm. 41], 26. 48 Kaufmann, Dreißigjähriger Krieg [s. Anm. 35], 145. Weiter profiliert in Kaufmann, Lutherische Konfessionskultur [s. Anm. 29]. 49 Vgl. Kaufmann, Dreißigjähriger Krieg [s. Anm. 35], v. a. 7–9, 144 f. Vgl. auch Thomas Kaufmann: Religion und Kultur. Überlegungen aus der Sicht eines Kirchenhistorikers. In: Archiv für Reformationsgeschichte 93, 2002, 397–405. – Der von Kaufmann geprägte Begriff der „Konfessionskultur“ ist zunächst von Wolfgang Sommer angefragt worden (vgl. Wolfgang Sommer: Politik, Theologie und Frömmigkeit im Luthertum der Frühen Neuzeit. Rückblick und Ausblick auf die Diskussion in der gegenwärtigen Forschung. In: Ders.: Politik, Theologie und Frömmigkeit im Luthertum der Frühen Neuzeit. Ausgewählte Aufsätze. Göttingen 1999, 286–307, hier 305 f.). – Markus Matthias, der dezidiert „einen Beitrag zu einem kulturwissenschaftlichen Verständnis des konfessionellen Zeitalters“ leisten will, d. h. zu einem Verständnis, „das Religion wie andere ‚symbolische Formen‘ nicht funktional, sondern als sinnstiftende Ausdrucksgestalt menschlichen Lebens wahrnimmt“, hat an Kaufmanns Begriff der „Konfessionskultur“ die „Vorstellung von einer wesentlich bestimmten, statt sich historisch wandelnden Theologie oder Konfession“ kritisiert und diesem deshalb den Begriff der „Religionskultur“, „der die Theologie selbst als eine in jeder Hinsicht historisch gebundene, religiöse Ausdrucksform versteht“, entgegengesetzt (vgl. Matthias, Theologie [s. Anm. 35], 18 u. 21). Letztlich fragt er aber selbst primär in einer Topdown-Perspektive nach der „Bedeutung der wissenschaftlichen Theologie für die Konfessionsbildung“ (25), insofern „die Theologie religiöse Lebensformen (Formen religiöser Praxis) begründet, legitimiert oder kritisiert“ (233).
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ser Disziplin.50 Damit wird allerdings auch das dieser Richtung in der Geschichtswissenschaft inhärente Problem einer sehr fluiden Gegenstandsbestimmung übernommen.51 So hat Hartmut Lehmann mit Blick auf die Pietismusforschung nachdrücklich davor gewarnt, allzu unkritisch auf die „unter dem Label des Cultural turn proklamierte kulturwissenschaftliche Forschung“ zu setzen, da diese eher eine sich weiterhin im Fluss befindliche Sammelbezeichnung für verschiedenste cultural turns als eine klar definierte Methode umschreibe.52 Für die Kirchengeschichte entsteht dann rasch der Eindruck, dass mit „Kultur“ ‚irgendwie alles‘ erfasst werden kann und soll. Dabei wird insbesondere in dieser Disziplin gern auch übersehen, dass gerade die Kulturwissenschaften mit stark differenzierten Theoriediskursen arbeiten, die es zu rezipieren gilt, wenn man explizit Anschluss an diesen relativ jungen Wissenschaftszweig sucht. Die Übernahme des Ausdrucks „Kultur“ allein macht noch keinen Anschluss an die Kulturwissenschaften. Anschließend an Johannes Wallmann, Wolfgang Sommer und Thomas Kaufmann sehe ich es weiterhin als sinnvoll an, für die Kirchenhistoriografie der Frühen Neuzeit am Begriff des Protestantismus festzuhalten.53 Jenseits der Annahme eines mehr oder weniger vollständigen Bruchs, wie die Unterscheidung von Alt- und Neuprotestantismus ihn voraussetzt,54 ginge es dabei meiner Ansicht nach aber um einen „frühneuzeitspezifischen Protestantismusbegriff“. Als einen solchen Begriff schlage ich den eines „frühneuzeitlichen Reformprotestantismus“ vor. „Frühneuzeitlicher Reformprotestantismus“ wäre als eine Richtung in den frühneuzeitlichen Konfessionalisierungsprozessen oder auch im konfessionellen Zeitalter – das dann allerdings bis in das frühe 18. Jahrhundert hinein anzunehmen wäre – zu begreifen. Er wäre einem weniger theologisch-systematischen Blick auf die kirchengeschichtlichen Entwicklungen des 17. und frühen 18. Jahrhunderts verpflichtet und würde es deshalb besser als die Annahme eines Bruchs zwischen einem Alt- und einem Neuprotestantismus ermöglichen, „[n]icht das Nach-, sondern das Ineinander 50 Vgl. z. B. das Projekt „Cultural History of Pietism and Revivalism 1650–1850“ und die in dessen Ergebnis vorgelegten Publikationen (genauere Angaben hierzu bei van Lieburg, Wege [s. Anm. 10], 252 Anm. 140). 51 Thomas Kaufmann spricht davon, dass „dem Begriff der Kultur als denkbar umfassendster Kategorialisierung alles dessen, was Menschen denken und tun“, „Universalität, perspektivische Weite, Elastizität, aber auch operative Unbestimmtheit“ eignen, und will deshalb einen ‚weichen‘ Kulturbegriff mit einem ‚harten‘ Konfessionsbegriff kontrastieren und im Begriff „Konfessionskultur“ gerade auch kombinieren (Kaufmann, Lutherische Konfessionskultur [s. Anm. 29], 9). 52 Hartmut Lehmann: Pietismusforschung nach dem Cultural Turn. In: Geschichtsbewusstsein und Zukunftserwartung in Pietismus und Erweckungsbewegung. Hg. v. Wolfgang Breul u. Jan Carsten Schnurr. Göttingen 2013, 13–26, hier 13. 53 Vgl. Wallmann, Lutherische Konfessionalisierung [s. Anm. 35], 53; Sommer, Politik [s. Anm. 49], 306 Anm. 55; Kaufmann, Nahe Fremde [s. Anm. 36], 191. Bei Kaufmann ebd. das folgende Zitat. 54 Gegen die Annahme eines solchen Bruchs plädiert auch Sommer (vgl. Sommer, Politik [s. Anm. 49], 306 Anm. 55).
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des Verschiedenen“55 oder anders gesagt „die für das 17. Jahrhundert typische Ungleichzeitigkeit der Phänomene“56 wahrzunehmen. Mit einem solchen, gewissermaßen stärker ‚integrativen‘ Blick auf das 17. und frühe 18. Jahrhundert wären die Rede von einem ‚Zeitalter der Orthodoxie‘ und die damit verbundenen unsachgemäßen Klischeebildungen57 überholt und ein Anschluss an den Stand der Orthodoxieforschung geleistet.58 Es wäre sowohl der Tatsache Rechnung getragen, dass dieselben Theologen, die für orthodoxe Lehren eintraten, seit dem frühen 17. Jahrhundert vielfach auch für eine intensivierte Praxis pietatis votierten, als auch der Tatsache, dass die als „Pietisten“ Bezeichneten – sofern sie innerkirchlich agierten – ja keinesfalls eine ‚Orthodoxie‘ angreifen, sondern ganz im Gegenteil diese erst richtig zur Geltung bringen wollten und sich insofern als ‚die eigentlichen Orthodoxen‘ verstanden.59 Nur zu diesem Zweck machten sie auch Anleihen bei anderen Traditionsbeständen. Sachgerechter als mit der Vorstellung von der Ablösung eines ‚Zeitalters der Orthodoxie‘ oder auch eines ‚konfessionellen Zeitalters‘ durch ein ‚Zeitalter von Pietismus und Aufklärung‘ könnte die „Wahrnehmung von Übergängen und langwierigen Transformationsprozessen“ innerhalb der Kirchengeschichte der Frühen Neuzeit erfolgen.60 Um diese These näher zu erläutern und die unter der Denkfigur ‚frühneuzeitlicher Reformprotestantismus als Teil von Konfessionalisierungsprozessen‘ aus meiner Sicht liegenden Potentiale für die kirchenhistorische Erforschung frühneuzeitlicher Reformbestrebungen exemplarisch aufzuzeigen, möchte ich mich im Folgenden wieder dem prima vista ungleichen Geschwisterpaar „Reformation des Lebens“ und „Pietismus“ zuwenden. Ich befrage konkrete, unter dem einen oder anderen der beiden Label fassbare historische 55 Kaufmann, Dreißigjähriger Krieg [s. Anm. 35], 149. Kaufmann sieht im gesamten Pluralisierungsprozess des 17. Jahrhunderts „den Auftakt der neuzeitlichen Protestantismusgeschichte“ – nicht in „einer bloßen Opposition gegenüber einer angeblich monolithisch gefestigten Orthodoxie“ (146). 56 Sträter, Meditation [s. Anm. 45], 73. 57 S. Abschnitt 1. 58 Vgl. hierzu insbesondere Kenneth Appold: Orthodoxie als Konsensbildung. Das theologische Disputationswesen an der Universität Wittenberg zwischen 1570 und 1710. Tübingen 2004, der Orthodoxie als „‚offene Konsensbildung‘“ und insofern als „‚Konfessionsbildung‘“ versteht (312). Appold betont: „Die Alternative hierzu wäre die Vereinheitlichung gewesen, die man diesen Theologen lange zugeschrieben hat. Doch das Disputationswesen enthüllt ein anderes Bild der Zeit. Es ist nicht das einer toten Orthodoxie, sondern das eines lebendigen und offenen Gesprächs.“ (317) Entsprechend seien Universitätstheologen der Lutherischen Orthodoxie auch nicht als Instrumente einer „politisch-etatistisch verstandenen Konfessionalisierung“ verstehbar – dazu sei der „Prozeß der Orthodoxie“ [! ] „einfach zu selbständig“ gewesen (ebd.). 59 Besonders deutlich wird diese Vermischung z. B. bei Veit Ludwig von Seckendorff (vgl. Solveig Strauch: Veit Ludwig von Seckendorff [1626–1692]. Reformationsgeschichtsschreibung – Reformation des Lebens – Selbstbestimmung zwischen lutherischer Orthodoxie, Pietismus und Frühaufklärung. Münster 2005, 163 u. ö.). 60 Kaufmann, Dreißigjähriger Krieg [s. Anm. 35], 144–150, hier 148. Vgl. Kaufmann, Lutherische Konfessionskultur [s. Anm. 29], 7–14.
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Konstellationen jenseits einer begriffsessentialistischen Vorabetikettierung auf die hier jeweils erkennbaren Intentionen und schaue anschließend, wie sich unser Geschwisterpaar im Licht der Ergebnisse dieses Durchgangs ausnimmt.
3. ‚Reformprotestantismus‘ im Luthertum des 17. und frühen 18. Jahrhunderts als Teil von Konfessionalisierungsprozessen – exemplarische Überlegungen Im Blick auf lutherische Kirchenreformbestrebungen bereits im frühen 17. Jahrhundert ist in der kirchenhistorischen Forschung zum einen auf erhebliche reformierte Einflüsse hingewiesen worden. Diese firmierten weitgehend unter dem Label Praxis pietatis und umfassten ebenso die Rezeption von Methoden der Meditation wie disziplinierender Lebensregeln61 – teils verknüpft mit expliziten Forderungen nach einer ‚Reformation des Lebens‘ oder auch einer ‚Reformation der Kirche‘62. Das Briegische Bedenken Herzog Johann Christians von Schlesien-Liegnitz-Brieg aus dem Jahr 1627 ist das markanteste Beispiel des frühen 17. Jahrhunderts für den Versuch einer Durchsetzung reformiert konnotierter Kirchenreformen im Luthertum via obrigkeitliche Maßnahmen.63 Schon Winfried Zeller hat unter Rückgriff auf Paul Althaus d. Ä. zum anderen auf die breite Rezeption mittelalterlicher mystischer Meditationsliteratur im Luthertum bereits seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts hingewiesen.64 Es ist evident, dass diese verschiedenartigen Reformbemühungen teils auf regulative und teils auf persuasive Maßnahmen setzten und – trotz bzw. wegen ihrer Anleihen bei anderen Konfessionen – spezifische Profilierungen im Luthertum selbst förderten. Die unter dem Label „Reformation des Lebens“ firmierenden Maßnahmen Herzog Ernst des Frommen in Sachsen-Gotha ab den frühen 1640er Jahren als 61 Vgl. hierzu v. a. Udo Sträter: Sonthom, Bayly, Dyke and Hall. Studien zur Rezeption der englischen Erbauungsliteratur in Deutschland im 17. Jahrhundert. Tübingen 1987; Sträter, Meditation [s. Anm. 45], v. a. Kap. 3 (zu Johann Arndt, Johann Gerhard, Ludwig Dunte und Johann Schmidt); Johann Anselm Steiger: Meditatio sacra. Zur theologie-, frömmigkeits- und rezeptionsgeschichtlichen Relevanz der „Meditationes Sacrae“ (1606) Johann Gerhards. In: Meditation und Erinnerung in der Frühen Neuzeit. Hg. v. Gerhard Kurz. Göttingen 2000, 37–56; Jan van de Kamp: Die Einführung der christlichen Disziplinierung des Alltags in die deutsche evangelische Erbauungsliteratur durch Lewis Baylys Praxis Pietatis (1628). In: PuN 37, 2011, 11–19. 62 Vgl. u. a. Leube, Reformideen [s. Anm. 34], v. a. 37–39; Albrecht-Birkner, Reformation des Lebens [s. Anm. 39], 78–84; Wolfgang Sommer: Johann Sauberts Eintreten für Johann Arndt im Dienst einer Erneuerung der Frömmigkeit. In: Ders., Politik [s. Anm. 49], 239–262. 63 Vgl. zum Briegischen Bedenken und dessen breiter Rezeption im gesamten 17. Jahrhundert Sträter, Meditation [s. Anm. 45], 76. 64 Vgl. Winfried Zeller: Luthertum und Mystik. In: Ders., Theologie und Frömmigkeit. Gesammelte Aufsätze. Bd. 2. Hg. v. Bernd Jaspert. Marburg 1978, 35–54, hier v. a. 41–49. Vgl. zu konfessionsübergreifenden Traditionslinien u. a. auch Ernst Koch: Studien zur Theologie- und Frömmigkeitsgeschichte des Luthertums im 16. bis 18. Jahrhundert. Waltrop 2005; Zur Rezeption mystischer Traditionen [s. Anm. 39].
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Konfessionalisierungsvorgang zu fassen, liegt schon deshalb nahe, weil die hierfür als konstitutiv geltenden Merkmale – Disziplinierung und Normierung in einem Top-down-Prozess unter konfessionellen Aspekten – unmittelbar gegeben sind.65 Was die Lage allerdings auch hier vielschichtiger macht, ist die Tatsache, dass in Sachsen-Gotha zwar ein lutherischer Fürst agierte und der Bevölkerung auch dezidiert lutherische Lehrinhalte vermittelt werden sollten. Die konkreten Maßnahmen (Bildung und ‚Erziehung‘ aller bei engmaschiger Kontrolle und intensivierten Kirchenzuchtmaßnahmen mithilfe von ‚Disziplininspektoren‘) aber waren eher der reformierten Tradition entlehnt und hatten auch in ihrer tendenziell theokratischen Hauptzielsetzung – der Errichtung einer erneuerten, aus wahren Christen bestehenden Gesamtgesellschaft via Gesetz und in enger Kooperation von Kirche und Obrigkeit – hier ihre Parallelen.66 Das Etikett „Reformation des Lebens“ entsprach dem, suggerierte aber, dass es lediglich um eine Fortsetzung der lutherischen Reformation im Bereich des ‚Lebens‘ und somit um einen in konfessioneller Hinsicht allemal legitimen Vorgang gehe. Dass die Gothaer Maßnahmen zu einer „Reformation des Lebens“ über den Rahmen dessen, was die lutherische Tradition vorsah, hinausgingen, haben konfessionsbewusste Zeitgenossen wie der Weimarer Generalsuperintendent Johannes Kromayer und die Theologische Fakultät Wittenberg bemerkt und benannt.67 Auch ein Pfarrer aus dem Gothaischen – Elias Johannes Heßling aus Günthersleben – meldete sich mit einer umfangreichen, allerdings nur handschriftlich überlieferten Abhandlung zu Wort.68 Darin erhob er jegliche Art von Heterodoxievorwurf gegen die Hoftheologen Christoph Brunchorst und Salomon Glassius. Hinter ihrer „newen arth die leüte [zu] bekehren, und dieselbe from [zu] machen“ und „durch Herrn Johann Arndts wahres Christenthumb die gottseligkeit wider auff [zu] richten“, würden sich „Viel Weigelianische und puritanische Irthumer“ verbergen, schrieb er.69 Man rede zwar viel von Luthers Schriften, würde „in der thatt aber dieselben in Vielen 65 Vgl. zum Folgenden Albrecht-Birkner, Reformation des Lebens [s. Anm. 39]; dies.: Calvinismusrezeption im Luthertum. Eine kirchengeschichtliche Spurenlese zwischen Calvinjahr und ‚Lutherdekade‘. In: Calvins Theologie – für heute und morgen. Hg. v. Georg Plasger. Wuppertal 2010, 283–292. 66 Im Ausschreiben zur Generalkirchen- und Schulvisitation von 1641 hieß es, es seien „gruendliche wahre Busse“ und eine „Reformation [. . .] deß Lebens“ im Sinne einer „Abschaffung deß Boesen / hergegen Anschaffung und Fortpflanzung des Guten und der wahren Gottseligkeit“ notwendig (zit. n. Albrecht-Birkner, Reformation des Lebens [s. Anm. 39], 77). – Die Deutung von Markus Matthias, der gemäß die Vorgänge in Gotha ein Beispiel für die Konkurrenz religiöser und politischer „Sinnentwürfe“ seien, bei der von „mangelnder konfessioneller Konsequenz“ zu reden sei (Matthias, Theologie [s. Anm. 35], 26), setzt die hier nicht sachgemäße Vorstellung von ‚Politik‘ und ‚Religion‘ als funktional getrennten Bereichen voraus. 67 Vgl. Albrecht-Birkner, Reformation des Lebens [s. Anm. 39], 112–131 u. 515 f. 68 Überliefert im Thüringischen Staatsarchiv Gotha, Oberconsistorium Generalia, Loc 29b, No 1. Vgl. hierzu Albrecht-Birkner, Zur Rezeption [s. Anm. 5], hier 37–49. 69 Zit. n. Albrecht-Birkner, Zur Rezeption [s. Anm. 5], 40. Hier auch das folgende Zitat.
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stücken Verleügnen“. Im Kern lag das Problem der Abweichung von der lutherischen Tradition aus Heßlings Sicht darin, dass Glauben als Frucht und Mittel der Erleuchtung und Heiligung verstanden wurde. Auch würden die Teilhabe des Menschen an der göttlichen Natur und die (mystische) Vereinigung mit Christus gelehrt. In diesem Zusammenhang erhob Heßling auch Vorwürfe wie ‚Schwenckfeldianismus‘ und ‚Papismus‘. Jenseits der Top-down-Maßnahmen reformierter Couleur des Herzogs nahm der Kritiker aus der Pfarrerschaft am Gothaer Hof also mystisch-spiritualistische Züge wahr, die er mit einer Rezeption von Johann Arndts Wahrem Christentum in Verbindung brachte – was immerhin voraussetzt, dass er diese Publikation selbst sehr gut kannte. Überhaupt war Heßling – so muss man das jedenfalls seinem späteren Streitschriftenwechsel mit Württembergischen Medizinern entnehmen – nicht der ‚stramme Lutheraner‘, als der er hier erscheint. Neben seinem Theologiestudium hatte er, ausgehend von der Lektüre von „Herrn D. Jacob Boehmen Medicinische[r] Praxin“,70 ein medizinisches Privatstudium absolviert. Zeitlebens war er neben seinem Pfarramt als Arzt tätig und behauptete ab den 1650er Jahren, durch eine besondere Erleuchtung das theophrastische Allheilmittel (wieder-) gefunden zu haben. Heßling beanspruchte für sich also offensichtlich eine handfeste Kryptoheterodoxie, insofern er unterschied zwischen dem, was er als Mediziner tat und glaubte, und seiner offiziellen Existenz als Pfarrer. Es fragt sich, ob ihn an den Gothaer Maßnahmen zu einer Verbesserung nicht vor allem die Tatsache störte, dass sie ‚von oben‘ kamen und ‚wahres Christentum‘ auf regulativem Weg, via Gesetz und Kontrolle, herstellen wollten. Heßling wäre somit zu den Pfarrern zu zählen, die für sich einen religiösen Nonkonformismus bei formaler Erfüllung ihrer Amtspflichten beanspruchten, an einer Reform der Kirche aber kein Interesse hatten und sich in einem christlich normierten Staatswesen zutiefst bedrängt fühlten. Es verwundert nicht, dass Heßling ein Jahr nach Abfassung seiner theologischen Kritik am Gothaer Hof als Pfarrer amtsenthoben wurde. Ein Schlaglicht auf die Selbstwahrnehmung der Gothaer Hoftheologen in diesem Kontext wirft die Vorrede von Salomon Glassius zum Gruendliche[n] Bericht Von allen nothwendigen Artickelen [. . .] der allein seligmachenden Evangelischen Religion aus dem Jahr 1643 des Erfurter Pfarrers Bartholomäus Elsner,71
70 Vgl. Elias Johannes Heßling: Theophrastus Redivivus, Illustratus, Coronatus & Defensus [. . .]. Hamburg 1663, 95. 71 Bartholomäus Elsner: Gruendlicher Bericht Von allen nothwendigen Artickelen oder Stuekken der allein seligmachenden Evangelischen Religion [. . .]. Gotha 1643. Zu Elsner und den Bezügen zwischen Erfurt und Gotha vgl. Wallmann, Erfurt [s. Anm. 8], v. a. 328–333. Wallmann spricht im Blick auf Herzog Ernst von „frühpietistischen Reformideen“ und meint, dass sich in den Auseinandersetzungen um Elsners Reformvorschläge in Erfurt „die Bekämpfung der pietistischen Reformbestrebungen durch die Orthodoxie“ angekündigt habe (329 f.).
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den Spener ein halbes Jahrhundert später ausdrücklich zu denen zählte, die „das werck des Herrn ernstlich getrieben“ hätten.72 Es seien, so Glassius, mitten unter denen unschlechtigen argen Menschen, noch allezeit Christen gewesen, welche ihr Licht durch gute wercke haben leüchten laßen, [. . .] Solche aber haben ihrer Christlichen bekaentniß und wandels wegen, der Satan undt seine werckzeüge zu allen Zeiten gehaßet, verfolget, undt beschuldiget, ob gläubten undt lebten Sie nicht recht, sondern weren Ketzer, Schwärmer, neülinge, Puritaner p[erge] [. . .].73
Es ist durchaus naheliegend, dass Glassius dabei Kritiker wie Heßling im Blick hatte. Folgt man Heßlings theologischer Analyse der Positionen der Gothaer Hoftheologen, bei denen er sich v. a. auf eine am 23. November 1641 von Brunchorst gehaltene Predigt und eine am 15. Juni 1642 in Gotha durchgeführte Disputation De sacra scriptura zwischen Glassius und Martin Wandersleben bezieht,74 entsteht der Eindruck, dass neben und unter Herzog Ernsts reformiert konnotierten Versuchen zu einer Reform von Kirche und Gesellschaft auf dem Weg gesetzlicher Regulierung des Einzelnen als Objekt durchaus Versuche einer Wiederanknüpfung an Johann Arndts Impulse zum Ansatz bei den Möglichkeiten geistlicher Erfahrungen des Gläubigen als Subjekt eine Rolle spielten. Das würde bedeuten, dass sich im Gotha der 1640er Jahre beide für das 17. Jahrhundert maßgeblichen, hinsichtlich ihres Ansatzes entgegengesetzten Versuche zu einer Erneuerung von Kirche und christlicher Gesellschaft finden: der regulative ‚Top-down‘-Zugriff und der persuasive, auf einen ‚Bottom-up‘-Prozess zielende Ansatz bei den Glaubenserfahrungen des einzelnen Christen. Beide Arten des Versuchs, Reformen anzustoßen, fanden im Luthertum ab der Mitte des 17. Jahrhunderts markante Fortsetzungen. Für den Ansatz bei den geistlichen Erfahrungen der Gläubigen sind insbesondere Joachim Lütkemanns (Wolfenbüttel) Vorschmack göttlicher Güte (Wolfenbüttel 1653) und Heinrich Müllers (Rostock) Himmlischer Liebeskuß (Frankfurt, Rostock 1659) zu nennen75 – beide vielfach wieder aufgelegt. Für den Weg, der den Gläubigen „als Objekt umfassender Maßnahmen zu seiner Erziehung und Kontrolle“ 72 Philipp Jakob Spener: Warhafftige Erzehlung / Dessen was wegen des so genannten Pietismi in Teutschland von einiger Zeit vorgegangen. Frankfurt/Main 1697, 137. 73 Zit. n. Albrecht-Birkner, Zur Rezeption [s. Anm. 5], 37. 74 Martin Wandersleben (1608–1668) war seit 1641 Pfarrer und Inspektor in Schönau v. d. W. Er wurde 1648 Pfarrer und Superintendent in Waltershausen (vgl. Thüringer Pfarrerbuch. Bd. 1: Herzogtum Gotha. Hg. v. d. Gesellschaft für Thüringische Kirchengeschichte. Bearb. v. Bernhard Möller [u. a.]. Neustadt a. d. Aisch 1995, 695). Weder die Predigt noch die Disputation ist überliefert. 75 Vgl. v. a. Sträter, Meditation [s. Anm. 45], 114 f.; Serkova, Spielräume [s. Anm. 46]; Wolfgang Sommer: Johann Arndt und Joachim Lütkemann – zwei Klassiker der lutherischen Erbauungsliteratur. In: Ders., Politik [s. Anm. 49], 263–285; Christian Deuper: Theologe – Erbauungsschriftsteller – Hofprediger. Joachim Lütkemann in Rostock und Wolfenbüttel. Wiesbaden 2013.
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durch Obrigkeit und Pfarrer ansah, stand vor allem die 1661 in Frankfurt/ Main erschienene, einflussreiche Reformschrift Wächterstimme aus dem verwüsteten Zion von Theophil Großgebauer.76 In dieser Schrift machte Großgebauer, wie Jan van de Kamp inzwischen nachgewiesen hat, großzügige Anleihen bei dem niederländischen Theologen Willem Teellinck, genauer bei dessen Reformprogrammschrift Noodwendigh vertoogh aus dem Jahr 1627 – allerdings ohne dies dazu zu schreiben.77 Dass sich in den folgenden Jahrzehnten im Luthertum weniger Reformvorschläge wie diejenigen Großgebauers als vielmehr Reformversuche via geistliche Erfahrungen des einzelnen Christen durchsetzten, lag nicht zuletzt daran, dass es Philipp Jakob Spener als Pfarrer in Frankfurt schon bald gelang, diese unter Rückgriff auf Johann Arndt in ein für viele seiner Zeitgenossen offenbar attraktives Reformkonzept umzusetzen.78 Dieses Konzept entwickelte er bekanntlich nicht erst in seinen berühmten Pia Desideria von 1675, sondern bereits als Vorrede zu einer Ausgabe von fünf Traktaten des 1640 verstorbenen Mühlhausener Pfarrers Andreas Cramer79 unter dem Titel Der gläubigen Kinder Gottes Ehrenstand und Pflicht zu Aufferbauung und Ubung deß wahren Christenthumbs, die er erstmals 1668 in Frankfurt/Main publizierte.80 Wenn man 76
Vgl. Sträter, Meditation [s. Anm. 45], 150–156, Zitat 150. Referat von Jan van de Kamp auf dem IV. Internationalen Kongress für Pietismusforschung, Halle/Saale, 25.-28.08.2013 unter dem Thema „Internationale Kommunikation von Reformprogrammen. Die Rezeption von Willem Teelincks ‚Noodwendigh vertoogh‘ in Deutschland im 17. Jahrhundert“ (im Druck in der Tagungsdokumentation in den Halleschen Forschungen). 78 Diese Attraktivität erklärt sich sicher u. a. daraus, dass Spener mit diesem Programm einen ‚Trend zur Individualisierung‘ aufgriff und fruchtbar machte, nicht einfach etwas ‚implantierte‘. Einen solchen ‚Trend‘ kann man beispielsweise auch bei Veit Ludwig von Seckendorff feststellen, der 1664 den Gothaer Hof Ernsts des Frommen nach nur einem Jahr Dienst in höchsten Ämtern verließ (vgl. Albrecht-Birkner, Reformation des Lebens [s. Anm. 39], 43–47). Dabei hatte er in seinem Teutschen Fürstentstaat das Gothaer Modell kurz zuvor (1656) als „Idealfall fürstlicher, von Gott verliehener Macht in geistlichen und weltlichen Dingen“ dargestellt (44 f., Zitat 45). In seinem Christenstaat beklagte Seckendorff später (1685) u. a. „das Fehlen einer ausführlichen ars meditandi in deutscher Sprache“ (Sträter, Meditation [s. Anm. 45], 107). Vgl. zu Seckendorffs Entwicklung insgesamt Strauch, Seckendorff [s. Anm. 59]. – Thomas Kaufmann erklärt die Tatsache, dass die bereits in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts angelegte „Pluralisierung der religiösen Lebensformen im Protestantismus“ zu „einer dynamischen“, „die Formen des sozialen Lebens verändernde[n] Dynamik“ erst nach den mit dem Westfälischen Frieden geschaffenen rechtlichen Rahmenbedingungen kommen konnte (Kaufmann, Dreißigjähriger Krieg [s. Anm. 37], 151 f.). Das „Spezifische der langwierigen Auseinandersetzungen um den Pietismus“ könne, so vermutet Kaufmann, darin gesehen werden, „daß man sich nun der Unausweichlichkeit der Vielfalt bewußt wurde, Strategien zur ‚Veralltäglichung‘ der Differenz einübte [. . .] und zu einer Neubewertung des ja seit der frühen Reformation auch erlittenen Verlustes der Einheit der Kirche, nun auch der Konfessionskirche, gelangte“ (150, Anm. 375). 79 Andreas Cramer (1582–1640), 1631–1640 Pfarrer in Mühlhausen, 1634–1636 aber vom Dienst suspendiert (vgl. Pfarrerbuch der Kirchenprovinz Sachsen. Bd. 2: Biogramme Br-Fa. Leipzig 2004, 221). 80 Vgl. Johannes Wallmann: Philipp Jakob Spener und die Anfänge des Pietismus. Tübingen 2 1986, 241–243; Sträter, Meditation [s. Anm. 45], 150–156. 77
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diese Publikation Speners als seine erste Programmschrift und die Pia Desideria, die dann ja zunächst als Vorrede zu seiner Ausgabe von Arndts Postille erschienen, als zweite sieht, kann man dies so interpretieren, dass er seinen Reformansatz nacheinander in einen kleineren und einen größeren zeitlichen und sachlichen Zusammenhang gestellt wissen wollte: Zunächst in den Kontext von Impulsen, wie sie vor 1640 aus Thüringen gekommen waren, und dann in eine breitere, auf Johann Arndt zurückgehende Tradition.81 Was Speners Reformprogramm so wirksam machte, war freilich nicht nur der Rückgriff auf Arndt an sich, sondern in Gestalt der Etablierung der Collegia pietatis die Schaffung eines institutionellen Rahmens in der Kirche, in dem es nicht um intellektuelles Verstehen von Glaubensinhalten oder um die Kontrolle der Einhaltung ethischer Standards ging, sondern um die Beförderung religiöser Erfahrungen des Einzelnen.82 So sehr Spener dabei mit Luthers ‚Priestertum aller Gläubigen‘ argumentieren konnte, war doch auch klar, dass er mit dieser Aufwertung des cultus privatus neben dem cultus publicus ein Proprium reformierter Konfessionsbildung aufnahm. Den Vorwurf der Beförderung falscher Lehre handelte sich Spener im Blick auf die Collegia pietatis aber vor allem deshalb ein, weil sie unter das Label ‚Konventikel‘ fielen, wie sie gerade auch in Frankfurt schon seit der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts eine große Rolle spielten und ein kirchlich nonkonformes, in hohem Maße von Reformierten getragenes Milieu präsentierten.83 Solche Konventikeltraditionen hat Jonathan Strom auch für Lübeck nachgewiesen.84 Zudem stand in Gestalt des Labadismus sowohl Reformierten als auch Lutheranern die mit der Abhaltung gesonderter Versammlungen im kirchlichen Rahmen grundsätzlich gegebene Gefahr der Separation als abschreckendes Beispiel vor Augen.85 Es waren die von Spener angeregten Collegia pietatis, die im Luthertum einen Bottom-up-Prozess bislang nicht gekannten Ausmaßes auslösten. Entgegen Speners Hoffnung bedeutete dies aber nur bedingt und weitgehend auch 81 Die ‚Thüringer Impulse‘ in Gestalt von Cramers Publikation spielten für Spener allerdings weiterhin eine Rolle. Dies lässt sich der Tatsache entnehmen, dass er weitere Auflagen des Buches (mit leicht abweichenden Titeln) 1669 ebenfalls in Frankfurt und 1688 in Dresden publizierte, wobei er die Dresdner Ausgabe mit „doppelter Vorrede“ versah (postum erneut aufgelegt Dresden 1716 und 1765). 82 Vgl. Sträter, Meditation [s. Anm. 45], 129–144 u. 156–166. 83 Vgl. Andreas Deppermann: Johann Jakob Schütz und die Anfänge des Pietismus. Tübingen 2002. S. auch Werner Bellardis systematisierende Studie zur Vorgeschichte der von Spener eingeführten Collegia pietatis (Werner Bellardi: Die Vorstufen der Collegia Pietatis bei Philipp Jacob Spener. Gießen 1994 [Diss. Breslau 1930]). 84 Vgl. Jonathan Strom: Early Conventicles in Lübeck. In: PuN 27, 2001, 19–52. 85 Referat von Veronika Albrecht-Birkner und Matthias Plaga-Verse auf dem IV. Internationalen Kongress für Pietismusforschung, Halle/Saale, 25.-28.08.2013 unter dem Thema „Erbauungsversammlungen im reformierten Bereich als Parameter und Multiplikatoren von (pietistischen) Reformbestrebungen bis um 1710“ (im Druck in der Tagungsdokumentation in den Halleschen Forschungen).
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nur temporär eine Einbindung von Kreisen, die der Kirche kritisch und distanziert gegenüberstanden.86 Vielmehr breiteten sich neben den Collegia als Teil kirchlichen Lebens, wie Spener sie zu initiieren beabsichtigt hatte, in den folgenden Jahrzehnten im Luthertum zugleich kirchlich nicht mehr integrierbare Lehren und Gemeinschaften in neuer Intensität aus. Hier spielten ebenso mystisch-spiritualistische wie hermetische und theosophische Traditionen eine Rolle und dabei in fast allen Fällen abweichende eschatologische Lehren, wozu Spener mit seinem ‚subtilen‘ Chiliasmus immerhin auch Anstöße geliefert hatte. Die in diesem Zusammenhang in Leipzig, Erfurt und zunächst dann auch Halle entstehenden religiösen Jugendbewegungen mit ihren ekstatischen Erscheinungen und der aktiven Beteiligung von Frauen aller Stände entfalteten eine nicht mehr einholbare Eigendynamik mit langfristigen Wirkungen, z. B. in Gotha, im Harz, im Leipziger Raum oder in Merseburg.87 Auch August Hermann Francke, der in diesen Bewegungen in den späten 1680er und frühen 1690er Jahren eine entscheidende Rolle spielte, wurde dadurch nachhaltig geprägt und verfasste in diesen Kontexten in Erfurt seinen Bericht über eine persönliche Glaubensgewissheitserfahrung.88 Diese nonkonformen Bewegungen erfuhren neuen Aufschwung im zweiten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts durch Konvergenzen mit dem europaweiten Auftreten der Inspirierten. Die Tatsache, dass sich erst mit dem Auftreten der nonkonformen religiösen Jugendbewegungen am Ende der 1680er Jahre, die sich auf Spener beriefen, in größerem Stil und mit pejorativer Bedeutungszuschreibung der Begriff „Pietismus“ verbreitete und faktisch den Sektenvorwurf beinhaltete,89 erklärt das oben benannte Missverhältnis zwischen dieser Zuschreibung und den spenerschen Reformanliegen.90 Gleichwohl sind die 1690er Jahre von Versuchen einer positiven Rezeption der Zuschreibung „Pietismus“ gekennzeichnet. Nach dem Leipziger Rhetorikprofessor Joachim Feller mit seinem berühmt gewordenen Epicedium von 168991 und den schon zitierten Caspar Sagittarius 86
Vgl. Sträter, Art. „Pietismus“ [s. Anm. 19], 398 f. Vgl. u. a. Ryoko Mori: Begeisterung und Ernüchterung in christlicher Vollkommenheit. Pietistische Selbst- und Weltwahrnehmungen im ausgehenden 17. Jahrhundert. Tübingen 2004. 88 Vgl. Lebensläufe August Hermann Franckes. Hg. v. Markus Matthias. Leipzig 1999, 139 f.; Markus Matthias: Bekehrung und Wiedergeburt. In: Geschichte des Pietismus. Bd. 4: Glaubenswelt und Lebenswelten. Hg. v. Hartmut Lehmann. Göttingen 2004, 49–79, hier 58. 89 Vgl. Christian Peters: „Daraus der Lärm des Pietismi entstanden“. Die Leipziger Unruhen von 1689/1690 und ihre Deutung durch Spener und die hallischen Pietisten. In: PuN 23, 1997, 103–130. 90 S. Abschnitt 1. 91 Luctuosa desideria. Wiedergefundene Gedenkschriften auf den Leipziger pietistischen Studenten Martin Born [1666–1689]. Mit Gedichten von Joachim Feller, August Hermann Francke und anderen. Hg. v. Reinhard Breymayer. Teil 1. Luctuosa desideria und Vetterliche und Freundverbundene Letzte Pflicht. Text. Tübingen 2008, 24 f; vgl. hierzu Hans Leube: Die Geschichte der pietistischen Bewegung in Leipzig. Ein Beitrag zur Geschichte und Charakteristik des deutschen Pietismus (1921). In: Ders.: Orthodoxie und Pietismus. Gesammelte Studien. Hg. v. Dietrich Blau87
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und Johann Melchior Stenger92 ist in diesem Zusammenhang Spener selbst mit seiner 1697 erschienenen Warhafftigen Erzehlung93 zu nennen. Ein konstitutiver Aspekt dieses Prozesses war der Rückbezug auf Johann Arndt als Referenz dafür, dass auch der eigene Einsatz für ‚wahres Christentum‘ nichts mit Heterodoxie zu tun habe. Damit diese Argumentation funktionierte, mussten orthodoxe Gegner allerdings zugleich erst einmal von Arndts Rechtgläubigkeit überzeugt werden – insofern hatte die Berufung auf Arndt gerade auch wieder eine Achillesferse. So verwundert es nicht, dass Spener auch schreiben konnte, dass er zwar erkenne, dass „unsere Kirche freylich einer Reformation, nicht zwar in der Lehr [. . .] jedoch in vieler Lehrart und dem Leben bedörffe / nach dero so offt absonderlich und öffentlich seuffze“.94 „Reformation im Leben“ war das allemal sicherere Etikett. Francke hat, nachdem er sich in der ersten Hälfte der 1690er Jahre von der nonkonformistischen Szene abgewandt hatte, im Unterschied zu Spener, so weit ich sehe, nie auf eine positive Rezeption des Etiketts „Pietismus“ für seine Anliegen und Aktivitäten gesetzt – im Gegenteil hat er diese Bezeichnung mit im 18. Jahrhundert noch zunehmender Vehemenz abgelehnt.95 Dies hing offensichtlich damit zusammen, dass der Ausdruck durch das Auftreten der Inspirierten aus Franckes Sicht noch zusätzlich so ‚besetzt‘ war, dass es ihm klüger erschien, ihn nun endgültig aufzugeben. Freilich erklärt sich seine größere Distanz zum Etikett „Pietismus“ auch schon daraus, dass er das mit fuß. Bielefeld 1975, 153–267; Wolfgang Miersemann: „Pietismus“ und „Teutsche Poeterey“. Zu einem Schlüsseltext des Poesieprofessors und „Sängers der Leipziger pietistischen Bewegung“ Joachim Feller (1638–1691). In: Das Echo Halles. Kulturelle Wirkungen des Pietismus. Hg. v. Rainer Lächele. Tübingen 2001, 191–241. 92 S. Abschnitt 1. 93 Spener, Warhafftige Erzehlung [s. Anm. 72]; vgl. Peters, Daraus der Lärm [s. Anm. 89], 109– 113; Albrecht-Birkner, Zur Rezeption [s. Anm. 5], 35–37. 94 Philipp Jakob Spener: Letzte Theologische Bedencken. Teil 1. Halle 1711 (21721) (ND Hildesheim [u. a.] 1987), 434 (undatiert). Zum Argument des wieder verloren gegangenen „guten anfangs der reformation“ bei Spener vgl. auch Claudia Drese: Der „Faden“ der Geschichte. Zur Evaluation der Vergangenheit durch den Halleschen Pietismus. In: Geschichtsbewusstsein und Zukunftserwartung [s. Anm. 52], 115–128, hier 118–120, Zitat 118. 95 Vgl., auch zum Folgenden, Antje Schloms und Holger Trauzettel: Francke, der Lutheraner? Selbst- und Feindbild zu Lebzeiten. In: FranckeBilder und Festkultur. Jubiläen von der Aufklärung bis in die DDR. Hg. v. Andreas Pečar [u. a.]. Halle/Saale 2013, 17–29, v. a. 26; Veronika Albrecht-Birkner: Franckes Krisen. In: Die Welt verändern. August Hermann Francke – Ein Lebenswerk um 1700. Hg. v. Holger Zaunstöck [u. a.]. Halle 2013, 81–99; Holger Zaunstöck: Das „Werck“ und das „publico“ [!]. Franckes Imagepolitik und die Etablierung der Marke Waisenhaus. In: Die Welt verändern, 259–271, hier 260–262; Veronika Albrecht-Birkner: Einleitung. In: August Hermann Francke: Tagebuch 1714. Hg. v. ders. u. Udo Sträter in Zus.arb. mit Carola Wessel (†) u. Viktoria Franke. Halle 2014, XI-XXIX, hier XXV. – Die Zurückweisung des „Pietismus“-Begriffs ist auch bei Joachim Lange: Apologetische Erläuterung der Neuesten Historie Bey der Evangelischen Kirche von 1689 bis 1719 [. . .]. Zur erwünschten Endigung Des sectirischen Fabel-Wesens vom PIETISMO [. . .]. Halle 1719, deutlich greifbar (vgl. Peters, Daraus der Lärm [s. Anm. 89], 114–120). Lange betonte mit Spener die auf Arndt zurückgehende Tradition des ‚sogenannten Pietismus‘ (vgl. ebd., Anm. 53 u. 66).
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dem Begriff bezeichnete Vorwurfsprofil im Gegensatz zu Spener nahezu exemplarisch erfüllt hatte bzw. – andersherum gesagt – sich der pejorative Pietismusbegriff an den zentral von ihm mitgetragenen Entwicklungen der späten 1680er Jahre erst etabliert hatte. Im Verhör in Leipzig hatte Francke 1689 auf die Frage, „Ob er nicht statuire / daß eine andere Reformation, als Lutheri gewesen / zu erwarten?“ geantwortet: „Nein / Reformatio dogmatum nicht / sondern reform[atio] morum wäre zu wünschen“.96 Das, was Francke zunächst in seiner Glauchaer Gemeinde und dann mit der Gründung seiner Schulstadt in der Stadt als Ort, von dem via Erziehung und Disziplinierung eine ‚Reform‘ letztlich der ganzen Welt ausgehen sollte, installierte, implizierte nicht nur umfangreiche Anleihen bei der reformierten Tradition, sondern vor allem auch bei den Konzepten einer „Generalreformation“ Andreaes und Comenius’ mit ihren eindeutig chiliastischen Implikationen.97 Hatte Spener mit den Collegia pietatis den Weg zu Reformen ausgehend von den Glaubenserfahrungen des einzelnen Christen stark gemacht, kehrte Francke in einer spezifizierten Weise nun zum regulativen Top-down-Ansatz zurück.98 Dabei konnte er an manches anknüpfen, was bereits im Gotha Ernsts des Frommen entwickelt worden war, denn hier wie dort sollte die ideale christliche Gesellschaft entstehen.99 Strukturell sind zwischen Halle und Gotha freilich erhebliche Unterschiede festzustellen, denn Francke war im Gegensatz zu Ernst dem Frommen ja kein Landesherr, der tatsächlich auf politischem Wege christliche Reformen hätte initiieren können. Das Besondere bei Francke ist, dass er den Anspruch auf gesellschaftliche Reformen als Pfarrer erhob und über das Label „Waisen96 Gerichtliches Leipziger PROTOCOLL In Sachen die so genannten PIETISTEN betreffend [. . .]. Abgedruckt in: August Hermann Francke: Streitschriften. Hg. v. Erhard Peschke. Berlin, New York 1981, 1–111, Zitat 64. 97 Vgl. Udo Sträter: Der hallische Pietismus zwischen Utopie und Weltgestaltung. In: Interdisziplinäre Pietismusforschungen. Hg. v. dems. [u. a.]. 2 Bde. Tübingen 2005, hier Bd. 1, 19–36; Wolfgang Breul: August Hermann Franckes Konzept einer Generalreform. In: Geschichtsbewusstsein und Zukunftserwartung [s. Anm. 52], 68–83. – In Halle spielte die explizite Anknüpfung an Comenianisches Denken eine erhebliche Rolle. Francke erwog schon 1689, zusammen mit Andreaes Christianopolis auch Comenius’ De bono unitatis zu veröffentlichen (vgl. August Hermann Francke an Philipp Jakob Spener, Leipzig, 12.11.1689. In: Ph.J. Spener: Briefwechsel mit August Hermann Francke. 1689–1704. Hg. v. Johannes Wallmann u. Udo Sträter in Zus.arb. mit Veronika Albrecht-Birkner. Tübingen 2006, 15–17) – letztlich geschah dies 1710 in London durch Anton Wilhelm Böhme. Vor allem aber hatte er Interesse an der Consultatio Catholica (vgl. hierzu das Referat von Brigitte Klosterberg auf dem IV. Internationalen Kongress für Pietismusforschung, Halle/Saale, 25.-28.08.2013 unter dem Thema „Traditionsbildung und Archivierung. Die Anfänge des Archivs der Franckeschen Stiftungen im 18. Jahrhundert“; im Druck in der Tagungsdokumentation in den Halleschen Forschungen), deren erster Teil (Panergesia) 1702 im Waisenhausverlag in Halle tatsächlich erschien (hg. v. Johann Franz Buddeus). 98 Vgl. hierzu auch Shantz, Introduction [s. Anm. 23], 287. 99 Vgl. hierzu auch Claudia Drese: Auf dem Weg ins Universelle. August Hermann Franckes Erfahrungshorizont und die Formung eines Ideals. In: Gebaute Utopien. Franckes Schulstadt in der Geschichte europäischer Stadtentwürfe. Hg. v. Holger Zaunstöck. Halle 2010, 67–76.
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haus“ Interessenkonvergenzen mit politischen Verantwortungsträgern und einflussreichen Adligen erzielen konnte, die ihm die hierfür notwendige Lobby verschafften. Nach innen verdankte das hallesche Modell zur Reform von Kirche und Gesellschaft seine temporäre Durchsetzungskraft dem erfolgreichen Setzen auf die Bereitschaft, vorgegebene religiöse Normen so stark zu internalisieren, dass sie in Gestalt von Selbstkontrollmechanismen funktionierten. Die damit zugleich beanspruchte einzigartige Kongruenz von ‚Innen‘ und ‚Außen‘ des einzelnen Menschen führte allerdings auch bald zum Vorwurf der Heuchelei als zentralem Bestandteil des Vorwurfsprofils gegenüber den Halleschen Anstalten im 18. Jahrhundert. Was das ‚Etikett‘ für seine besonderen Aktivitäten in Halle betraf, so hat Francke sich generell sehr zurückgehalten. In seiner 1697 in Glaucha gehaltenen Predigt unter dem Titel Die höchstnöthige Kirchen- Hauß- und Hertzensreformation100 hat er allerdings die Notwendigkeit betont, „daß auch bey uns, und zwar nicht allein in der Kirchen insgemein, sondern auch in dem Hause eines ieglichen, ia in eines ieglichen Hertzen eine Reformation fürgenommen werde“.101 Hier wird ganz deutlich, dass die Argumentation mit einer Vervollkommnung der Reformation im Bereich des ‚Lebens‘ rasch fließende Übergänge zur Forderung einer neuen Reformation überhaupt und damit gerade eines Verlassens der lutherischen Tradition aufweisen konnte. Um diesem Eindruck wiederum zu entgehen, hat sich Francke ständig und explizit auf Luther bezogen.102 Dies lässt sich z. B. anhand von Franckes ‚Werbemaßnahmen‘ im Zuge seiner ‚Reise ins Reich‘ 1717/18 eindrucksvoll zeigen, was derzeit Gegenstand der Forschungen von Holger Trauzettel ist. Dabei kann man auf der Basis des gegenwärtigen Forschungsstandes davon ausgehen, dass diese jedenfalls in der Öffentlichkeit konfessionell geglättete Selbstdarstellung eine Inszenierung war, die die heterodoxen Kontinuitäten zu den Anfängen in Leipzig und Erfurt überdecken sollte und dies auch tat.103 Die Verlegung konfessionell abweichender Auffassungen in den Bereich des Privaten, die sog. Kryptoheterodoxie, wurde ebenso ein zentrales Merkmal in der einerseits
100
Vgl. August Hermann Francke 1663–1727. Bibliographie seiner Schriften. Bearb. v. Paul Raabe u. Almut Pfeiffer. Tübingen 2001, Nr. E 50.1–3. 101 Vgl. Drese, Der Faden [s. Anm. 94], 120 f., Zitat 120. Zur Selbststilisierung des ‚Halleschen Pietismus‘ als Vollender der in Verfall gekommenen Reformation generell vgl. ebd., 123–128. 102 Vgl. zu dieser Ambivalenz Udo Sträter: August Hermann Francke und Martin Luther. In: PuN 34, 2008, 20–41. 103 Vgl. Veronika Albrecht-Birkner u. Udo Sträter: Die radikale Phase des frühen August Hermann Francke. In: Der radikale Pietismus. Perspektiven der Forschung. Hg. v. Wolfgang Breul [u. a.]. Göttingen 2010, 57–84; Markus Matthias: Rechtfertigung und Routine. Zum Verständnis der Rechtfertigungslehre im lutherischen Pietismus. In: Reformation und Generalreformation – Luther und der Pietismus. Hg. v. Christian Soboth u. Thomas Müller-Bahlke. Halle 2012, 1–19, v. a. 9–19; Albrecht-Birkner, Franckes Krisen [s. Anm. 95]; Klosterberg, Traditionsbildung [s. Anm. 97] (zu umfangreichen Anschaffungen von Handschriften heterodoxer Provenienz in der Frühzeit der Entstehung des Archivs der Franckeschen Anstalten).
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durch Speners Reformkonzept und andererseits durch theosophische und chiliastische Traditionen geprägten Württembergischen Frömmigkeit. Die ab dem 18. Jahrhundert von Herrnhut ausgehenden Impulse wären im Gegensatz zu den halleschen schon wegen ihrer Initiation durch einen Nichttheologen als den spenerschen Ansatz konsequent weiterführendes kirchliches Bottomup-Modell zu verstehen. Hier ging es wieder um die Entfaltung individueller Gottesbeziehung und eigener Glaubenserfahrungen – jenseits vorgegebener Regulative – also, so Zinzendorf, „vom Pietismo [worunter er das Hallesche Reformmodell verstand, d. Vf.n] das oppositum“104. Ergänzend sei erwähnt, dass sich auch in den deutschen reformierten Reformbewegungen des 17. und 18. Jahrhunderts ein Trend von Top-downzu Bottom-up-Prozessen durchsetzte.105 Während Theodor Undereyck in den 1660er Jahren in Mülheim/Ruhr und nach seinem Vorbild mehrere Pfarrer am Niederrhein und im Bergischen ganz auf Reformen via Katechismuslehre und Kirchenzucht setzten, was entsprechend der reformierten Tradition auf den häuslichen Bereich zielende Maßnahmen einschloss, lassen sich ab dem frühen 18. Jahrhundert verstärkt kirchlich nicht normierte Privatversammlungen feststellen. Diese wurden von reformiert-kirchlicher Seite mit dem negativen Einfluss einzelner herumreisender „Pietisten“ wie Hochmann von Hochenau in Zusammenhang gebracht, stellten faktisch aber auch ein Wiederaufleben älterer reformierter Konventikeltraditionen dar. Ein eindrucksvoller literarischer Beleg für den Trend zu einem Neuansatz bei den Glaubenserfahrungen des Einzelnen auch bei den deutschen Reformierten ist die 1706 in Wesel von Philipp Erberfeld (Pseudonym „Deutschlieb“) unter dem Titel Gottseelige Begierden und andächtige Seufzer publizierte Neuausgabe der Pia Desideria des Jesuiten Hermann Hugo.106 Mit Gerhard Tersteegen erreichte die mystische Glaubensindividualisierung bei den deutschen Reformierten ihren vorläufigen Höhepunkt – wobei Tersteegen seine Privatversammlungen dadurch verteidigte, dass er sie auf Theodor Undereyck als deren Stifter und „Mülheimischen Reformator“ zurückführte.107
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Zit. n. Sträter, Art. „Pietismus“ [s. Anm. 19], 401. Vgl. zum Folgenden Albrecht-Birkner u. Plaga-Verse, Erbauungsversammlungen [s. Anm. 85]. 106 Vgl. Jan van de Kamp: „auff bitte und einrahten etzlicher frommen Menschen ins hochteutsche ubersetzet“. Deutsche Übersetzungen englischer und niederländischer reformierter Erbauungsbücher 1667–1697 und die Rolle von Netzwerken. Diss. theol. [masch.]. Amsterdam 2011, Kap. 5.18. 107 Gerhard Tersteegen: Briefe. Bd. 2. Hg. v. Gustav Adolf Benrath unter Mitarb. v. Ulrich Bister u. Klaus vom Orde. Gießen, Göttingen 2008, 162 f., hier 162. 105
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4. Fazit Historische Konstellationen im Luthertum des 17. und frühen 18. Jahrhunderts, die via Selbstbezeichnung bzw. zeitgenössischer oder historiografischer Zuschreibung unter den Labeln „Reformation des Lebens“ bzw. „Pietismus“ gefasst werden können, erweisen sich bei genauerem Hinsehen als weniger ‚ungleiche Geschwister‘, als dies prima vista der Fall ist. Sie lassen sich vielmehr als Facetten eines ‚frühneuzeitlichen Reformprotestantimus‘ begreifen und stehen im Luthertum für einen Teil einer sich zunehmend pluralisierenden Konfessionalisierung. Ihre enge Verwandtschaft erklärt sich schon daher, dass im Zuge der zeitgenössischen Nostrifizierung wie auch der retrospektiven Legitimierung in der Historiografie die pejorative Zuschreibung „Pietismus“ selbst in die Denkfigur einer „Reformation des Lebens“ im Sinne der Fortsetzung der vermeintlich nur in der ‚Lehre‘, also in der Theorie, erfolgten Reformation überführt wurde. Zudem lassen sich innerhalb der kirchlichen Erneuerungsbewegungen im Luthertum des 17. und 18. Jahrhunderts strukturelle Kontinuitäten feststellen, die vor allem die mit „Pietismus“ gegebene Vorabetikettierung zur Abgrenzung ganz bestimmter historischer Phänomene von einer ‚überwundenen‘ „Orthodoxie“ stark relativieren. Es lassen sich vielmehr durchgängig zwei verschiedene Arten von Reformkonzepten unterscheiden: Zum einen Konzepte, die auf eine Erneuerung von Kirche und Gesellschaft mit Hilfe eines regulativen Top-down-Zugriffs via Erziehung und Kontrolle setzten und damit faktisch Anleihen bei zentralen Proprien reformierter Konfessionsbildung machten. Zum anderen Konzepte, die auf einen Bottom-up-Prozess, ausgehend von intensivierten Glaubenserfahrungen des Einzelnen setzten und in Gestalt der Förderung des cultus privatus ebenfalls reformierten Vorbildern folgten. Beide sind im Luthertum seit dem frühen 17. Jahrhundert nachweisbar und konnten sich sowohl auf Johann Arndt als auch auf englische Erbauungsliteratur berufen. Tendenziell war den Bottom-up-Programmen, für die transkonfessionelle Rezeptionen von Meditationsliteratur eine große Rolle spielten, und die durch die Einführung der Collegia Pietatis als kirchlich approbierter Institution zur Förderung der religiösen Mündigkeit der Laien durch Spener einzigartige und nachhaltige Impulse erhielten, auf die Dauer größerer Erfolg beschieden.108 Hier ergaben sich zweifellos Konvergenzen mit neuzeitlichen Individualisierungstendenzen.109 108 Im Grunde hat Johannes Wallmann – nur unter dem übergreifenden Label „pietistisch“ – die Rolle Speners in den lutherischen Erneuerungsbestrebungen des 17. Jahrhunderts ähnlich formuliert. Ausgehend von der Annahme, dass „die Grundlagen pietistischer Frömmigkeit“ bereits in Arndts Wahrem Christentum ‚enthalten‘ gewesen seien, sieht er in Spener denjenigen, der den Pietismus „nicht geschaffen, so doch im Protestantismus durchgesetzt hatte“ (Wallmann, Philipp Jakob Spener [s. Anm. 31], 132 u. 144). Verzichtet man hier zugunsten eines frühneuzeitlichen Reformprotestantismusbegriffes auf die ‚subkutane‘ Ausweitung des Pietismusbegriffs auf das
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Begreift man diese strukturell verschiedenen Reformströmungen im Luthertum als Teil des Konfessionalisierungsprozesses, ließe sich resümieren, dass sich in den Top-down-Prozessen die für die lutherische Konfessionsbildung charakteristische soziale Struktur hier noch einmal verstärkte und dabei in zunehmendem Maße auf Konformisierung setzte. In den Bottom-up-Modellen aber käme die in den Anfängen der lutherischen Reformation betonte, dann aber eher in den Hintergrund getretene Laienkompetenz in neuer Weise zum Zuge und unterstützte nonkonforme Tendenzen. Das heißt, es wurde kurz- und langfristig eine Infragestellung der traditionellen Hegemonie akademischen theologischen Wissens durch religiöses Erfahrungswissen befördert, die kirchlich nicht mehr integrierbar war bzw. auf die Schaffung von Sonderkirchen hinauslief. Pfarrer, die sich nonkonformen Erfahrungswissensdiskursen öffneten, tendierten offenbar vielfach dazu, diese jenseits des zu predigenden ‚gelernten‘ Wissens privat zu pflegen. Theoretisch fundiert und legitimiert war auch dies eben durch die Einführung der Unterscheidung von ‚Theorie‘ und ‚Praxis‘ der Reformation. Indem unter dem Label Praxis pietatis konfessionelle Schranken faktisch stark relativiert wurden, gewann die eigene Konfession – in neuzeitlicher Wahrnehmung – als nun gewissermaßen flexiblere Identität aber vielleicht gerade wieder an Attraktivität.
gesamte 17. Jahrhundert, ist Speners besondere Rolle in den lutherischen Reformbemühungen des 17. Jahrhunderts in gleicher Weise hervorhebbar. – Fred van Lieburg hat Spener ebenfalls eine strukturell herausragende Rolle bei der Einführung protestantischer Reformprogramme in der Frühen Neuzeit zugeschrieben, die nicht – wie calvinistische Programme – via obrigkeitliche Maßnahmen realisiert werden sollten (vgl. Fred van Lieburg: The Dutch Factor in German Pietism. In: Companion [s. Anm. 23], 50–80, hier 69 f.; ders.: Dynamics of Dutch Calvinism. Early Modern Programs for Further Reformation. In: Calvinism and the Making of the European Mind. Hg. v. Gijsbert van den Brink u. Harro M. Höpfl. Leiden, Boston 2014, 43–66, v. a. 61–65). 109 Vgl. Kaufmann, Religion und Kultur [s. Anm. 49], 404: „Dann aber wäre die Individualisierung als Moment der inneren Dynamik der Konfessionalisierungsprozesse selbst zu beschreiben.“
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FRIEDEMANN STENGEL
Was ist Humanismus? 1. Von der Unmöglichkeit eines Begriffs. Frühe und späte Aporien im Humanismus 1.1 Ein lexikalischer Befund Der Begriff Humanismus ist weltweit, in vielen Sprachen und Kulturen, in akademischen und medialen Debatten verbreitet. Doch fallen die Humanismus-Definitionen uneinheitlich, polemisch und widersprüchlich aus. Unauflösbare Differenzen bestehen zwischen dem Humanismus der Renaissance, den christlichen Humanismen des 19. und 20. Jahrhunderts und der Versöhnungs- oder Kampfeskategorie, die in der marxistisch-leninistischen Religionspolitik der SED gegen die Kirchen installiert worden ist1 oder in heutigen humanistischen Verbänden als klar antichristliches oder ganz antireligiöses Menschen- und Weltbild propagiert wird.2 An einem der neuesten Lexikonartikel aus der Enzyklopädie der Neuzeit kann dieses Problem klar gezeigt werden. Hier wird „Humanismus“ in seinen spannungsreichen Facetten als historischer, kultureller und anthropologisch aufgeladener Begriff vorgestellt. Dabei wird die „weltanschauliche“ Identifizierung von Humanismus und Renaissance zurückgewiesen. Es wird klar eingeräumt, dass die Epochenbezeichnung Humanismus überhaupt erst nach der Mitte des 19. Jahrhunderts bekannt und seither für das 15. und 16. Jahrhundert angewendet worden ist. Das steht in merkwürdigem Widerspruch zu der konstatierenden Eingangsbehauptung des Artikels, der Humanismus sei die „wichtigste und wirkungsmächtigste europ. Bildungs-Bewegung“ der Neuzeit vor der Aufklärung gewesen.3 Zugleich wird aber in der Enzyklopädie betont, dass es den Begriff Humanismus im 15./ 1 Die kirchenpolitische Genese des Humanismus-Begriffs in der DDR müsste noch gründlicher untersucht werden. Vgl. einstweilen Florian Baab: Was ist Humanismus? Geschichte des Begriffes, Gegenkonzepte, säkulare Humanismen heute. Regensburg 2013, 129–132; Friedemann Stengel: Die SED und das christliche nationale Erbe. In: Händel-Jahrbuch 59, 2013, 351–359, hier 357 f. 2 Vgl. Baab, Humanismus [s. Anm. 1], 133–147 passim; Andreas Fincke: Freidenker – Freigeister – Freireligiöse. Kirchenkritische Organisationen in Deutschland seit 1989. Berlin 2002; Woran glaubt, wer nicht glaubt? Lebens- und Weltbilder von Freidenkern, Konfessionslosen und Atheisten in Selbstaussagen. Hg. v. Andreas Fincke. Berlin 2004. 3 Vgl. Gerrit Walther: Art. „Humanismus“. In: Enzyklopädie der Neuzeit 5, 2007, 665–692, hier 665 f.
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16. Jahrhundert weder terminologisch noch inhaltlich als klar umrissenes Phänomen überhaupt gab. In Renaissance und Reformation könne lediglich von den studia humanitatis, auf die sich die artes liberales bezogen, und von den humanista als Sammelbezeichnung für die hier Lehrenden und Studierenden gesprochen werden.4 Es könne aber keine Rede davon sein, dass der Humanismus einheitliche anthropologische Implikationen besaß, die irgendetwas mit dem ersten Humanismuskonzept im frühen 19. Jahrhundert zu tun hatten.5 An anderer Stelle wird die Paradoxie benannt, dass der Humanismus als historisch anerkannte Epoche zugleich „normative Autorität“ besitze, auch wenn der Humanismus des 15. und 16. Jahrhunderts weder auf Humanität und Individualität wie oft im 19. Jahrhundert, noch auf Toleranz im Sinne der Aufklärung abgezielt habe.6 Schließlich sei der Humanismus mehr und mehr mit der Konfessionalisierung kollidiert, aber bis zum Ende des 20. Jahrhunderts „tragende Säule“ der europäischen Bildung geblieben.7 Ist „Humanismus“ nun also ein Geist oder ein Wesen, dessen „spirituelle Energie“ sich nicht im Glauben, sondern in der Welt entfalten kann, der die Kirchen „vornehm“8 ignoriert habe? Ist er gegenüber dem Christentum affin oder ein Gegenkonzept? Ist er eine Epoche, die der wichtigste „Indikator für einen epochalen Wandel der abendländischen Mentalität, Kultur und Zivilisation“,9 nämlich für den Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit sei? Dies jedenfalls behauptet der Artikel in der Enzyklopädie. Aber man müsste noch ergänzen: Ist Humanismus lediglich Anthropologie oder ist er ein pädagogisches Konzept aus dem Kontext einer bestimmten Aufklärungskritik, das im Linkshegelianismus und dann wieder in der DDR zur kirchenfeindlichen Alternativreligion avanciert ist? Andere Artikel und Definitionen betonen die Historizität des Humanismusbegriffs mit mehr oder weniger Gewicht, manche sehen mehr Übereinstimmungen, manche mehr Diskrepanzen gegenüber dem Christentum, aber behandeln ihn sowohl als historischen wie auch als übergeschichtlichen Geistesbegriff.10 Diesen Unklarheiten und Widersprüchlichkeiten scheint die Empfehlung des Artikels in der Enzyklopädie, „Humanismus“ dennoch als „ein unentbehrliches heuristisches Werkzeug“ zu verwenden, nicht gerade zu entsprechen.11 4
Vgl. Walther, Art. „Humanismus“ [s. Anm. 3], 667 f. Vgl. Walther, Art. „Humanismus“ [s. Anm. 3], 668. 6 Walther, Art. „Humanismus“ [s. Anm. 3], 666, 668. 7 Vgl. Walther, Art. „Humanismus“ [s. Anm. 3], 666. 8 Walther, Art. „Humanismus“ [s. Anm. 3], 675. 9 Walther, Art. „Humanismus“ [s. Anm. 3], 691. 10 Paradigmatisch ist die einflussreiche Darstellung des Romanisten August Buck, der den Humanismus als von der Antike bis ins 20. Jahrhundert reichende Bildungsbewegung betrachtet, vgl. August Buck: Humanismus. Seine europäische Entwicklung in Dokumenten und Darstellungen. Freiburg i. Br., München 1987, 9 f. 11 Walther, Humanismus [s. Anm. 3], 668. 5
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Die Begriffsverwirrung des Artikels in der Enzyklopädie der Neuzeit scheint mit dem 19. Jahrhundert verbunden zu sein, als der Begriff des Humanismus entstanden und zum Gegenstand von Auseinandersetzungen geworden ist. Diese Schwierigkeiten dürften damit zusammenhängen, dass historischen Begriffen bestimmte ideengeschichtliche Konstruktionen, eben aus dem 19. Jahrhundert, zugrundegelegt wurden, dass diese Konstruktionen aber selbst immer in bestimmten historischen Kontexten entstanden sind. Es stellt sich nun die Frage, ob ein historischer und demzufolge auch zu historisierender Begriff wie der des Humanismus überhaupt so zu bestimmen ist, dass er auch als Bezeichnung eines übergeschichtlichen Phänomens anerkannt werden kann. Dieser Frage wird im Folgenden mit Blick auf das nach derzeitigem Forschungsstand erste ausformulierte Humanismus-Konzept nachgegangen. Es ist unter den Zeitgenossen weit bekannt gewesen und wird bis heute in den Lexika als erstes (prominentes) Auftauchen des Begriffs Humanismus fast überall erwähnt. Dieses Humanismus-Konzept wird mithilfe der Kriterien des Artikels aus der Enzyklopädie der Neuzeit dahin gehend geprüft, wie es sich gegenüber einem heutigen Verständnis von Humanismus verhält. Im Anschluss wird zu fragen sein, ob sich in den weiteren Transformationen des Humanismusbegriffs im 19. Jahrhundert eine Linie feststellen lässt, die eine in sich konsistente Bestimmung von Humanismus zulässt. 1.2 Die Erfindung des Humanismus: Niethammer Mit seinem Streit des Philanthropinismus und Humanismus in der Theorie des Erziehungs-Unterrichts unsrer Zeit von 1808 ist Friedrich Immanuel Niethammer der Erfinder des Begriffs und eines ersten Konzepts Humanismus gewesen, auch über den deutschen Sprachraum hinaus.12 Er ist im 19. Jahrhundert weit rezipiert worden, nicht nur innerhalb der Pädagogik.13 Schon im Titel ist der Humanismus ein pädagogisches Programm, das sich im Konflikt befindet. Bevor der Frage nachgegangen wird, ob es sich bei Niethammers Benennung um die antideskriptivistische Ersttaufe eines bis dahin namenlosen Wesens 12 Friedrich Immanuel Niethammer: Der Streit des Philanthropinismus und Humanismus in der Theorie des Erziehungs-Unterrichts unsrer Zeit. Jena 1808. Dass der Begriff schon 1798 im Reisetagebuch Friedrich Abeggs nachzuweisen ist, lässt sich wegen dieser literarischen Gattung nur schwer weiterverfolgen. Vgl. Frieder Otto Wolf: Art. „Humanismus 1“. In: Historisch-kritisches Wörterbuch des Marxismus 6,1, 2004, 548–553, hier 549. 13 Neben einer singulären Erwähnung von „Humanismus“ in Verbindung mit Moral und Religion als „höchst menschlich[er]“ Praxis im Justizwesen bei Goethe (1814), deren Referenz (vielleicht Zedler, s. u. Anm. 75) nicht aus dem Text hervorgeht, findet sich die direkte Bezugnahme auf Niethammers Darstellung der „höchst thörichten Streitigkeit zwischen Humanismus und Philanthropinismus“ ohne Nennung Niethammers bei dem Pädagogen Johann Friedrich Herbart: Psychologie als Wissenschaft. Bd. 2. Königsberg 1825, 226; Johann Wolfgang von Goethe: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Bd. 3, Tübingen 1814, 290.
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oder lediglich um die Fixierung einer Front und eines Projekts handelt,14 werden zentrale Konnotationen von Niethammers „Humanismus“ skizziert. Eine erste Front ist die Aufklärung. Der „Geist des Humanismus“ ist älter als die Aufklärung, jetzt hat sie ihm Platz machen müssen.15 Und wie macht Niethammer Aufklärung fest? Er bestimmt sie als mechanizistisches und utilitaristisches Weltbild. Es habe den Menschen auf Funktion und auf Körper, auf eine „Maschine“16 reduziert und dieses Menschenbild zum Ziel einer Erziehung erklärt, die nicht die Vernunft bildet, sondern nur auf Berufsbildung17 und „materielle Production“18 hinausläuft. Das ist in Niethammers Augen von dem „große[n] Reformator“ Friedrich II. inspiriert worden.19 Die Pädagogik des Philanthropinismus habe diese utilitaristische Erziehung umgesetzt, wobei Niethammer – aus welchen Gründen auch immer – die schon dreißig Jahre zurückliegende Spaltung der Philanthropinisten in eine „Elsässer“, dem Sturm und Drang nahe stehende Richtung und eine rationalistische Richtung nicht erwähnte. Es wäre noch genauer zu untersuchen, inwieweit Niethammers Attacke auf den Philanthropinismus eine Reaktion oder ein Nachhall dieses Bruchs war, der zum Weggang der „Elsässer“ und zur Krise verschiedener Bildungszweige am Philanthropin führte.20 Niethammers Aufklärungsverständnis und seine antiaufklärerische Position sind aber zeitgenössisch registriert worden. Sie scheinen zur kritischen Abwendung von aufklärerischen Rationalitäts- und Erziehungskonzepten beigetragen zu haben. Friedrich Schelling hat in seiner Rezension 1809 den „moderne[n] Humanismus“21 Niethammers beschrieben und dabei besonders den Kontrast dieses Humanismus gegenüber dem „Düster früherer Zeiten und dem Dünkel einer
14 Zu der Auseinandersetzung zwischen dem performativen Antideskriptivistismus Saul Kripkes und dem Deskriptivismus Slavoj Žižeks vgl. Ernesto Laclau: The ‚People‘ and the Discoursive Production of Emptiness. In: Ders.: On Populist Reason. London, New York 2005, 67–128, besonders 101–104; Judith Butler: Sich mit dem Realen anlegen. In: Dies.: Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts. Frankfurt/Main 1997, 257–303, besonders 285–297. 15 Niethammer, Streit [s. Anm. 12], 33 f. 16 Niethammer, Streit [s. Anm. 12], 43. 17 Niethammer, Streit [s. Anm. 12], 188. 18 Niethammer, Streit [s. Anm. 12], 15. 19 Niethammer, Streit [s. Anm. 12], 15 f. 20 In diese Auseinandersetzungen zwischen den Rationalisten um Johann Bernhard Basedow und Joachim Heinrich Campe und den „Elsässern“ um Johann Friedrich Simon, Johannes Schweighäuser, Johann Ehrmann, Johann Jakob Mochel und Christoph Kaufmann waren beispielsweise auch Goethe, Herder, Hamann, Lavater und Jakob Michael Reinhold Lenz involviert. Vgl. dazu Michael Niedermeier: Das Gartenreich Dessau-Wörlitz als kulturelles und literarisches Zentrum um 1780. Dessau 1995, besonders 55–68. 21 Friedrich Wilhelm Josef von Schelling: Rezension zu: Der Streit des Philanthropinismus und Humanismus in der Theorie des Erziehungsunterrichts unserer Zeit dargestellt von F. I. Niethammer. Jena 1808. In: Jenaische Allgemeine Literaturzeitung 1809, abgedruckt in: Schellings Werke. Dritter Ergänzungsband. München 1984, 457–480, hier 469.
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halben, ihrem ganzen Wesen nach barbarischen, und darum dorthin zurückführenden Aufklärung“22 betont. Im Blick auf spätere Parallelisierungen oder sogar Identifizierungen von Humanismus und Aufklärung bleibt also zunächst festzuhalten, dass beide ganz am Beginn ihres Verhältnisses als Kontrahenten in Stellung gebracht worden sind. Die zweite Front ist nun aber für Niethammer nicht einfach die Rückbesinnung auf einen Geist. Es ist eine anthropologische Akzentuierung, die Manfred Frank als „Rekantianisierung der idealistischen Philosophie“23 bezeichnet hat. Niethammer hatte als Kollege Fichtes und als Mitherausgeber des Philosophischen Journals in Jena Anteil an ihr, auch wenn ihn im Atheismusstreit nicht dasselbe Los wie Fichte traf.24 Ohne sich ausdrücklich auf bestimmte Schriften Kants zu beziehen, macht Niethammer seine Position unter Rückgriff auf die „Doppel-Natur“25 des Menschen geltend, die auch für die kritische Philosophie Kants grundlegend war. Die Animalität26 des äußeren, körperlichen Menschen kann unter bestimmten Bedingungen zur Bestialität27 entarten, es sei denn, so Niethammer, der Mensch werde durch einen „eigene[n] Schutzgeist“ gerettet.28 Die andere Seite des Menschen ist das Wesen, das in reiner Geistigkeit besteht.29 Niethammer kommt es nicht darauf an, dieses geistige Wesen des Menschen von der sichtbaren Sinnenwelt zu isolieren, wie es die ungenannten „Humanitätsphilosophen“, offenbar Idealisten und Subjektivisten, täten.30 Er will die „zweifache Natur und Bestimmung des Menschen“31 zusammenführen: Humanität und Animalität, beide Seiten sollen sich durchdringen.32 Wo die „Aufklärung“ zunehmend auf „Entgeistung“33 hingearbeitet habe, geht es Niethammer um Integration, und hierin bestünde eine dritte Akzentuierung. Zwar liegt das eigentliche Wesen des Menschen nicht einseitig in 22
Schellings Werke [s. Anm. 21], 480. Manfred Frank: „Unendliche Annäherung“. Die Anfänge der philosophischen Frühromantik. Frankfurt/Main 1997, 502; auch zit. bei: Gunther Wenz: Friedrich Immanuel Niethammer (1766–1848). Theologe, Religionsphilosoph, Schulreformer und Kirchenorganisator. Göttingen 2008, 1–114, hier 52. 24 Vgl. dazu Georg Essen, Christian Danz: Philosophisch-theologische Streitsachen. Pantheismusstreit – Atheismusstreit – Theismusstreit. Darmstadt 2012. 25 Niethammer, Streit [s. Anm. 12], 70. 26 Vgl. Niethammer, Streit [s. Anm. 12], 34. 27 Niethammer, Streit [s. Anm. 12], 45 f. 28 Niethammer, Streit [s. Anm. 12], 47. Zu den Schutzgeister-Debatten um 1800, die auch unter Kant-Anhängern geführt worden sind, vgl. Friedemann Stengel: Aufklärung bis zum Himmel. Emanuel Swedenborg im Kontext der Theologie und Philosophie des 18. Jahrhunderts. Tübingen 2011, 704–721. 29 Vgl. Niethammer, Streit [s. Anm. 12], 39. 30 Vgl. Niethammer, Streit [s. Anm. 12], 41. 31 Vgl. Niethammer, Streit [s. Anm. 12], 45. 32 Vgl. Vgl. Niethammer, Streit [s. Anm. 12], 67, 70 passim. 33 Niethammer, Streit [s. Anm. 12], 18 [Hervorh. i.O.]. 23
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„reiner Geistigkeit“, die Vernunft weist den Menschen an die Integration seiner geistigen und animalen Natur. Allerdings gehört er gegenüber dem Tier klar einer „höhern geistigen Ordnung“ an.34 Die menschliche Geistigkeit bewegt sich für Niethammer jedoch nicht nur auf der Ebene bloßer Intelligibilität. Sie weist auf eine andere Realität hin, die über die irdische hinausgeht: auf das Leben nach dem Tod. Das Stichwort „Seele“ fällt bei dem Kantianer Niethammer in diesem Zusammenhang auffälligerweise nicht. Es wäre noch zu untersuchen, ob er die Figur der Unsterblichkeit der Seele ganz gezielt vermieden hatte und ob diese Vermeidung damit zusammenhing, dass Schleiermacher35 nur wenige Jahre vorher die Fortdauer der Persönlichkeit als ganz und gar irreligiöse Ansicht bezeichnet und sich damit von einem zentralen Thema der Aufklärungstheologie und -philosophie verabschiedet hatte. Niethammer sprach jedenfalls nicht von Seelenunsterblichkeit, sondern von der menschlichen Kenntnis einer nicht irdischen Realität und vom Glauben an eine höhere Bestimmung von Welt und persönlichem Leben über den Tod hinaus. Ich werde daher im Folgenden von Jenseitigkeit, Postmortalität oder überirdischer Bestimmung sprechen. Entscheidend für Niethammer war, dass Aufklärung und Philanthropinismus destruiert haben, was diese geistige Seite des Menschen angeht: Zum „Unglauben in Absicht auf das Unsichtbare“36 hätten sie erzogen, alles „Erheben über das Irdische“ sei „unter dem Namen von Aufklärung [. . .] als mystische Gläubelei in übeln Ruf gebracht, alles Leben in Ideen als Enthusiasterei verspottet“ worden.37 Der Philanthropinismus habe den Kindern den Glauben an das Unsichtbare, ja an Gott selbst austreiben wollen, wohl aus Furcht, sie könnten dann auch an Geister, Hexen und an den Teufel glauben.38 Ohne Namensnennung, aber mit scheinbar wörtlicher Anlehnung an Kant wendet sich Niethammer gegen die Forderung, dass man sich nur an den „Beruf der Gegenwart“ halten und nicht darüber „schwärmen“ solle,39 ob hinter der irdischen Daseinsgrenze „das leere Nichts“ oder ein „neues Land der Freude für die Sterblichen in seeliger Unsterblichkeit“ liege. Diese „Grundsätze“ sind ihm „entschieden unvernünftig und verderblich, die Vernunft und Menschheit entehrend“.40 Für Niethammer besitzt nicht nur das „Sichtbare“ Realität. Wer sich dessen bewusst sei und 34
Niethammer, Streit [s. Anm. 12], 69 f. [Hervorh. i.O.]. Vgl. Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher: Über die Religion. Reden an die Gebildeten unter ihren Verächtern. Berlin 1799, 130–133, sowie 96–108; vgl. zu den kontextuellen Hintergründen dieser Zurückweisung Friedemann Stengel: Prophetie? Wahnsinn? Betrug? Swedenborgs Visionen im Diskurs. In: PuN 37, 2011, 136–162, hier 159 f.; Stengel, Aufklärung [s. Anm. 28], 718–721. 36 Niethammer, Streit [s. Anm. 12], 48. 37 Niethammer, Streit [s. Anm. 12], 18 [Hervorh. i.O.]. 38 Vgl. Niethammer, Streit [s. Anm. 12], 58. 39 Vgl. Niethammer, Streit [s. Anm. 12], 50 f.; vgl. den Schluss der Träume eines Geistersehers, AA II, 373, oder KpV, AA V, 57; vgl. dazu Stengel, Aufklärung [s. Anm. 28], 695–700. 40 Niethammer, Streit [s. Anm. 12], 51; diese Formulierung wird den Philanthropinisten in den 35
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wer eine andere Realität, als die der Erde, kennen, und eine höhere Bestimmung dieser Welt und seines Lebens glauben gelernt hat, für einen solchen hat dieses Leben einen ganz andern Ernst, als den der Noth! Der letztere allein macht kleinlich und gemein, der erstere erhebt den Menschen: den letztern aber allein kennt der, der bloß für das Bedingte gebildet wird, und ihm ist alles Spielerei, wo nicht die Noth mit ihrem Ernste ihm entgegentritt. Mit einem weit edleren Sinne nimmt jener das Leben, als dieser. Ein Gemüth, erhoben zum Himmel durch Religion, erblickt selbst die Erde in einem himmlischen Lichte [. . .].41
Die Bildung dieser intelligiblen und jenseitsorientierten Vernunft-Seite des Menschen kommt in manchen Darstellungen Niethammers schlichtweg nicht vor.42 Vielleicht soll der Eindruck vermieden werden, dass sich ein renommierter Kantianer vermeintlich voraufklärerisch oder vorkritisch hervorgetan haben könnte. Immerhin hat Niethammer wie manch andere aufgeklärte Zeitgenossen nach dem Tod seiner Frau berichtet, ihre „geistige Gegenwart“ empfunden zu haben, er hat gegenüber Hegel seine überreichen „Gemüthserfahrungen“ nun sogar als Beweis für die Unsterblichkeit und das jenseitige Wiedersehen ins Feld geführt und sich zugleich gegen die „schwergläubige Spekulation“ darüber klar abgegrenzt.43 Spätestens von da an bezeichnete sich Niethammer selbst als Mystiker – im frühen 19. Jahrhundert ein schillernder Begriff, der weniger mit mittelalterlichen Autoren als mit esoterischen Strömungen zwischen Spiritismus und Okkultismus zu tun hatte.44 Niethammers Humanismus, der so zentral die überirdische Bestimmung des Menschen betont, ist immerhin maßgeblich in sein pädagogisches Programm eingeflossen. Dabei geht es Niethammer auf einer vierten Linie nicht um die Vermittlung eines theologischen Lehrsystems, auch wenn er selbst später Luthertexte45 herausgab, im lutherischen Teil Bayerns als Schulrefor-
Mund gelegt, die das Jenseits zwar nicht bestreiten, es aber nicht als Handlungsmaxime für die Gegenwart betrachten. 41 Niethammer, Streit [s. Anm. 12], 101. 42 Dem entspricht, dass Wenz, Niethammer [s. Anm. 23], 111, es dabei bewenden lässt, Niethammers eigener Aussage zu folgen, er sei „jedwedem erweckten Mystizismus“ abhold gewesen [Hervorh. d.Vf.]. Eine weitere Spurensuche geschieht weder hier noch in: Gunther Wenz: Hegels Freund und Schillers Beistand. Friedrich Immanuel Niethammer (1766–1848). Göttingen 2008. 43 Gerhard Lindner: Friedrich Immanuel Niethammer als Christ und Theologe. Seine Entwicklung vom deutschen Idealismus zum konfessionellen Luthertum. Nürnberg 1971, 291; Brief Niethammers an Hegel vom 14.07.1832, ebd. Bei Wenz wird diese entscheidende Nuance des Kantianers schlicht weggelassen, dafür wird Niethammers Abneigung gegen die Erweckungsbewegung referiert. Vgl. Wenz, Niethammer [s. Anm. 23], 111. 44 Zu den ausgeprägten Wiedersehenserwartungen, die im Gelehrtendiskurs seit dem Ende des 18. Jahrhunderts florierten und etwa in diesem mehrfach aufgelegten und übersetzten Buch aufscheinen: Karl Christian Engel: Wir werden uns wiedersehen. Eine Unterredung nebst einer Elegie. Frankfurt, Leipzig 1787; oben Anm. 28, sowie umfassend: Diethard Sawicki: Leben mit den Toten. Geisterglauben und die Entstehung des Spiritismus in Deutschland 1770–1900. Paderborn [u. a.] 2002. 45 Die Weisheit D. Martin Luthers. Hg. v. Friedrich Immanuel Niethammer. Nürnberg 21817.
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mer wirkte und noch heute zuweilen gern als ein zum Lutheraner gewandelter Kantianer betrachtet wird.46 Mit seinem integrativen Erziehungsprojekt, das auch als „Philanthropinistischer Humanismus“47 bezeichnet wird, hat Niethammer offenbar auch die Integration der Bürgergesellschaft im Blick. Sie geht von der gemeinsamen menschlichen überirdischen Bestimmung aus, dass sich alle „als Glieder Eines Leibes, als Werkzeuge Einer Vernunft, und als Kinder Eines Gottes erkennen lernen“.48 Die gemeinsame überirdische Bestimmung ebnet Konfessionalismen ein. Festzuhalten bleibt fünftens, dass Niethammers Humanismus kein reines Sprachenprogramm ist. Dem (auch) philanthropinistischen Tadel wird Recht gegeben, der den älteren Humanismus „bloßen Wortkrams im Erziehungsunterricht beschuldigt“ und ihm Reduktion auf Philologie und bloßes philologisches „Wort- und Buchstabenstudium“ vorgeworfen hatte.49 Sprachbildung ist nur „Mittel der freien Bildung“.50 In Niethammers Schulutopie geht es um die Vernunft- und Menschenbildung,51 um die geistige Natur,52 die als „Erziehung“ und nicht als bloße „Berufsbildung“53 betrachtet wird. Schließlich geht es aber sechstens nicht um einen Humanismus, der Gegenüber oder Alternative zum Christentum wäre. Niethammer hat 1808 den Neubau der Nation vor Augen. Wo Engländer, Franzosen, Italiener, Spanier mit ihren Klassikern die Grundlage eines nationalen Geistes besäßen, fehle es den „Teutschen“ an solchen „Meisterwerken“.54 Zur „Bildung“ des deutschen „Nationalgeschmacks“ empfiehlt Niethammer nun die „classischen Kunstwerke des Alterthums“; für deren Pflege möge der „gute Genius unserer guten Nation“ sorgen.55 Damit gewinne das Schulsystem „praktischen Einfluss auf die ganze Nationalbildung“.56 Darüber hinaus spielt das griechischrömische Altertum keine Rolle bei Niethammer. Humanismus ist ihm kein Altertumsgeist, der parallel zur Renaissance wiedererweckt oder geschaffen worden wäre, um mit der Reformation ein Verhältnis einzugehen. Das 15. und 16. Jahrhundert und die Renaissance werden bei Niethammer nicht einmal erwähnt. Christentum und Humanismus sind weder Diastase noch Synthese, es gibt das Thema nicht. Niethammer geht es um Nationalgeschmack und die Erziehung der geistigen Natur des Menschen – nur unter anderem – 46 Vgl. hingegen Wenz, Niethammer [s. Anm. 23], 107–110; Wenz, Freund [s. Anm. 42], 299, gegenüber der lutherischen Position von Lindner, Niethammer [s. Anm. 43]. 47 Wenz, Freund [s. Anm. 42], 193–198. 48 Niethammer, Streit [s. Anm. 12], 128. 49 Niethammer, Streit [s. Anm. 12], 166, 164 [Hervorh. i.O.]. 50 Niethammer, Streit [s. Anm. 12], 221 [Hervorh. i.O.]. 51 Vgl. Niethammer, Streit [s. Anm. 12], 189. 52 Vgl. Niethammer, Streit [s. Anm. 12], 167. 53 Vgl. Niethammer, Streit [s. Anm. 12], 188 f. 54 Vgl. Niethammer, Streit [s. Anm. 12], 235 f. 55 Niethammer, Streit [s. Anm. 12], 237. 56 Niethammer, Streit [s. Anm. 12], 311.
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durch Sprachbildung. Die „Wiederauferweckung“ des Geistes des Humanismus ist ihm keine Renaissance klassisch-philosophischen Denkens, sondern „ächten philosopischen Denkens“ und des „Geistes der Humanität“ gegenüber dem „animalen Leben“.57 Gerade diesen Punkt hat Friedrich Schelling in seiner Rezension aus Niethammers Programm herausgegriffen: Griechengeist und Römerkultur sind keine Normen, die wiedererweckt oder erinnert werden sollen; die Griechen sollen nicht einfach imitiert werden.58 Die ewige Schönheit ihrer Werke soll empfunden werden. Auch bei Schelling war nicht von einer Renaissance als Wiederentdeckung eines Geistes der Antike die Rede. Und es war nicht die Rede davon, dass dieser Humanismus in irgendeiner Weise dem Christentum entgegengestanden hätte. Vielmehr stellte auch er den nationalen Zweck dieser Bildung zum „Besten des kräftigen, eigenthümlichen Volkes“ heraus. Nicht die Erfahrungen der anderen Völker sollten wiederholt werden. Nach „dem Kanon freier und schöner Humanität“ solle sich das Volk bilden.59 Das ist im dritten Jahr nach der militärischen Katastrophe von Jena und Auerstedt gesagt, und es trägt unübersehbar patriotische Züge. Mit der intelligiblen und über das irdische Leben hinausreichenden Seite des Menschen und der Menschheit postuliert Niethammer über die genannten Effekte für die Nationbildung hinaus siebtens den höheren Zweck der „Bildung der Menschheit“60 als Ergebnis der Orientierung auf die universale Vernunft. Ein Staat, der diese Bildung vernachlässige und nur „Brod- d. i. BerufsWissenschaften“ fördere, solle seinen Status als Kulturnation verlieren, ja sogar aufhören, „in dem geistigen Weltreiche der Bildung der Menschheit ein actives Mitglied zu seyn“.61 Weltbürgertum ist offenbar in Anlehnung an Kants Vorstellung von Weltbürgerlichkeit für den Kantianer Niethammer virulent. Im Vorgriff auf die folgenden Überlegungen zu den Transformationen des Humanismus seit dem 19. Jahrhundert wäre also zusammenzufassen, dass Niethammers Humanismus ein Gegenkonzept gegen eine diesseits-korporale und utilitaristische Aufklärungserziehung war. Dagegen führte er als ein gleichsam nicht-normatives Normativ die von Kant hergeleitete intelligible, nicht-diskursive Seite des Menschen als Bildungs- und Erziehungsziel ins Feld – nichtnormativ insofern, als sich von dieser intelligiblen Seite her keine konkreten Handlungsanweisungen ableiten. Es bleibt bei der Hervorhebung von zwei wesentlichen Merkmalen dieser Humanität: erstens die universale Vernunftfähigkeit des Menschen. Sie wird nicht weiter erklärt, sondern vor allem gegen den Zweckgedanken und die Animalität vorgebracht; zweitens die Anerken57 58 59 60 61
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Niethammer, Streit [s. Anm. 12], 33 f. Vgl. Schelling, Rezension [s. Anm. 21], 476 f. Niethammer, Streit [s. Anm. 12], 480. Niethammer, Streit [s. Anm. 12], 333 [Hervorh. getilgt]. Niethammer, Streit [s. Anm. 12], 359.
nung der anderen, intelligiblen und überirdischen Realität gegenüber der sinnlich erfassbaren Realität. Nicht-normativ läuft in diesem Sinne zudem auf die Seite des Menschen hinaus, die sich der sinnlich-körperlichen Nutzbarmachung, dem Beruf und der Arbeit, widersetzt. Sie geht sinnlich und zugleich zeitlich über das diesseitige Leben hinaus, macht aber den eigentlichen Kern von Mensch und Menschheit aus. Der „Geist des Humanismus“62 ist allerdings eben Erziehungsprojekt und nicht nur auf eine menschliche Anlage begrenzt, der man sich einfach bedienen müsste. Und er ist auf Sprachlichkeit, auf Bildung als Selbstzweck, als Vergeistigung und in diesem Sinne als universaler Fortschritt hin gedacht. 1.3 Ist Niethammer Humanist? Folgt man der These, Humanismus sei auch heute noch „ein unentbehrliches heuristisches Werkzeug“,63 dann wäre zuerst wohl der Begründer und Sprachschöpfer des Humanismus daraufhin zu prüfen, ob er den in der Enzyklopädie der Neuzeit genannten, auch sonst weit verbreiteten Kriterien von „Humanismus“ genügt. Zuerst fällt ins Auge, dass Niethammer keinerlei Interesse am 15. und 16. Jahrhundert hatte; sein Humanismus versteht sich als kantisch und gleichwohl antiaufklärerisch. Der antike Geist gilt lediglich als basales Supplement zur Herstellung eines Nationalgeschmacks; er ist nicht ein Geist, der von Christentum und Mittelalter unterdrückt und dann in der so genannten Renaissance wiederentdeckt worden wäre. Niethammer betont zwar wie die philosophischen Rationalisten und auch Kant die „Doppelnatur des Menschen“.64 Mit der Bestimmung des Enzyklopädie-Artikels, Humanismus habe, ohne Kirche und Religion in Frage zu stellen, auf „irdische Wirklichkeit, auf sittliches Handeln, säkulare Ethik und elegante Umgangsformen“65 abgezielt, muss Niethammer aus dem Kreis der Humanisten überhaupt ausgesondert werden. Denn er erblickt den Kern des Menschen in einer Intelligibilität, die auf Jenseitigkeit und überirdische Bestimmung angelegt ist – obwohl er auf der notwendigen gleichzeitigen Pflege und Bildung der diesseitigen animalen und der humanen Seite des Menschen insistiert. Weiter wird die von Niethammer gerade bekämpfte Aufklärung in der Enzyklopädie der Neuzeit zu einer Vorstufe seines Humanismus, indem erklärt wird, der Humanismus sei die bedeutendste Bildungsbewegung66 vor der Aufklärung gewesen. Diese Teleologie wird fortgesetzt, wenn Niethammer zum 62 Niethammer, Streit [s. Anm. 12], 34 [Hervorh. getilgt]. Geist des Humanismus und Geist der Humanität sind voneinander unterschieden, sofern ersterer gegen den Philanthropinismus gerichtet ist und als Erziehungskonzept gewissermaßen der Humanität dient (ebd.). 63 Walther, Humanismus [s. Anm. 3], 668. 64 Niethammer, Streit [s. Anm. 12], 58. 65 Walther, Humanismus [s. Anm. 3], 666. 66 Vgl. Walther, Humanismus [s. Anm. 3], 665 f.
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Begründer des 1885 von Friedrich Paulsen so genannten „Neuhumanismus“67 avanciert (obwohl es diesen Terminus bei ihm nirgendwo gibt) und wenn dann in dem erstmals 1921 von Eduard Spranger so genannten „Dritten Humanismus“68 eine weitere Entwicklungsstufe erblickt wird. Denn solche Zuschreibungen implizieren zwangsläufig, dass es den Humanismus als Wesen, das meist als Rückgriff auf antike Anthropologien in der Renaissance gilt, bereits gab und Niethammer ihn nur revitalisiert habe. Dann aber müssten notwendigerweise alle zentralen Kriterien, die dem Humanismus als suprahistorisches Phänomen zugeschrieben werden, auch für Niethammer zutreffen. Schließlich ist auffällig, dass Niethammer ein besonderes Verhältnis des Humanismus zu Christentum und Kirche gar nicht thematisiert. Auch eine besondere Verkoppelung des Humanismus mit Rationalismus geschweige Atheismus ist kein Thema. Diese Inbeziehungsetzungen sind nach Niethammer Bestandteil der europäischen Generalnarrative geworden, von der im Anschluss einige Segmente betrachtet werden. Auch ist Humanismus bei Niethammer dezidiert keine Epoche. Er ist kein ideengeschichtliches Lehrsystem und kein historisch verifizierbarer oder auch nur den Anspruch auf Historizität erhebender Zeitabschnitt, der als suprahistorisches Programm in der Zeit außerdem noch andauerte. Humanismus ist ein Erziehungskonzept, das die intelligible Seite des Menschen gegenüber der bloß sensualistisch gefassten Maschine des Körpers stark macht und die utilitaristische Anthropologie summarisch der Aufklärung zuschreibt. Es hat nationale Implikationen und besitzt – am Ende – weltbürgerliche Absicht69 im Sinne Kants. An diesen Punkten lässt sich keine Übereinstimmung von Niethammers „Humanismus“ mit den Definitionen späterer lexikalischer Einträge feststellen. An zentralen Stellen muss er klar aus den Humanismuskonzepten des 19. und des 20. Jahrhunderts herausgenommen werden. Wenn schon der erste entscheidende Protagonist des Humanismus schwerlich als Humanist gelten kann, obwohl er eine Konzeption vorgelegt hat und der Hinweis auf den heuristischen Nutzen sozusagen unmittelbar nach der Taufe des Humanismus nicht einleuchtet geschweige zu überzeugen vermag – welche Konsequenzen wären aus dieser Beobachtung bis in die heutige Debatte zu ziehen? Angesichts der normativen Macht solcher Signifikanten wie Aufklärung 67 Vgl. Gerrit Walther: Art. „Neuhumanismus“. In: Enzyklopädie der Neuzeit 9, 2009, 136– 139, hier 136; ders.: Art. „Humanität“. In: Enzyklopädie der Neuzeit 5, 2007, 701–703, hier 702; Heinz Liebing: Die Ausgänge des europäischen Humanismus. In: Ders.: Humanismus – Reformation – Konfession. Beiträge zur Kirchengeschichte. Marburg 1986, 147–162, hier 159; Lindner, Niethammer [s. Anm. 43], 224, 244. 68 Vgl. zu dieser uneinheitlichen und kaum zu fassenden Konstruktion umfassend Barbara Stiewe: Der „Dritte Humanismus“. Aspekte deutscher Griechenrezeption vom George-Kreis bis zum Nationalsozialismus. Berlin, New York 2011, hier 4. 69 Vgl. Immanuel Kant: Idee zu einer allgemeinen Weltgeschichte in weltbürgerlicher Absicht (1784).
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oder Humanismus, angesichts ihrer Abgrenzungen gegenüber vermeintlich Unaufgeklärtem, Nicht-, Anti- oder Vorhumanem in heutigen hegemonialen Machtdiskursen überprüfe ich mit der vorliegenden Studie die Operationalisierbarkeit und Validität des „Humanismus“ aus historisch-kritischer Perspektive. Es wird daher zunächst in Augenschein genommen, welche Zuschreibungen der Humanismusbegriff nach seiner Erfindung erfuhr. Diese Bestandsaufnahme geht bis ungefähr 1880 den jeweiligen Konnotationen und Kontexten von Humanismus nach, die noch heute die Debatten mitprägen. In dieser Studie geht es mir jedoch nicht nur um die Überprüfung eines historiographischen Zentralbegriffs. Daher wird zweitens eine sachliche und terminologische Präzisierung des gewöhnlich als Humanismus bezeichneten literarisch-kulturellen Phänomens im 15./16. Jahrhundert vorgenommen. Damit soll eine Alternative für diese historiographisch zementierte Lesart aufgezeigt werden: eine strikte Historisierung, die einen präziseren Blick auf die Quellen und damit zugleich neue Perspektiven eröffnet. Da die Humanismusthematik zutiefst moralisch-normativ aufgeladen ist, werden drittens Überlegungen angestellt, in welcher Weise mit dem Thema Humanismus trotz und sogar mithilfe der nötigen Historisierung produktiv verfahren werden könnte und inwieweit ein kritischer und zugleich ethisch motivierter Beitrag zur aktuellen Diskussion um die Reichweite von „Humanismus“ möglich ist.
2. ‚Humanismus‘ im 19. Jahrhundert: zwischen Bildung, Religion und Geschichte 2.1 Humanismus in der Aufklärung? Doch blicken wir zurück in das 18. Jahrhundert. Hier muss es zunächst bei dem Befund bleiben, dass ein spezielles Menschenbild, das aus dem klassischen Altertum stammen würde und im 15. und 16. Jahrhundert wiederentdeckt worden wäre, nicht mit „Humanismus“ bezeichnet worden ist. Das heißt natürlich nicht, dass es keine Anthropologien gegeben hätte, so etwa den bei Herder zentralen Humanitätsbegriff.70 Hier geht es jedoch im engeren Sinne nicht um die Verbindung der Anthropologie mit dem 15. und 16. Jahrhundert, mit dem Altertum und schließlich um eine Inbeziehungsetzung mit Bildungs-, Religions- und Geschichtsentwürfen. Andere Ableitungen von humanitas weisen weitere Differenzen auf. Die prominente Philosophiegeschichte von Jacob Brucker kennt eine Reformbewegung zwischen den „Mittlern Zeiten“ und der Reformation, die auf die „Verbesserung der Wissenschaft“ mithilfe eines erneuerten Platonismus und Aristotelismus und der wiederherge70 Vgl. vor allem Johann Gottfried Herder: Briefe zur Beförderung der Humanität [1793–1797]. In: Ders.: Gesammelte Werke. Hg. v. Hans Dietrich Irmscher u. Martin Bollacher. Bd. 7. Frankfurt/ Main 1991.
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stellten „Reinigkeit“ der lateinischen oder griechischen Sprache abgezielt habe. Parallelbegriff zur Reformation ist aber die Philosophie,71 verbunden mit Sprachen und Schönen Künsten, die nach dem „abscheulichen Verfall“ der Wissenschaften nun wieder emporgebracht worden seien, wobei dieser Verfall auch die Kirche betroffen und die Reformation nötig gemacht habe.72 Brucker kennt allerdings weder den Begriff des Humanismus, noch verbindet er mit diesen „Restauratoribus Literarum, den Platonicis und andern Gelehrten“73 irgendeine Anthropologie und eine christentums- oder religionskritische oder -distanzierte Strömung, die zudem noch ein paradigmatisches Programm über ihre eigene Zeit hinaus gewesen wäre. Wie Brucker enthält auch der 13. Band des Zedler von 1735 nicht den Begriff des Humanismus, dafür aber die Humaniora oder Humanitatis Studia als historische Begriffe, nämlich als die freien Künste, die man zur Erlernung höherer Fakultäten brauche, also die septem artes.74 Humanistae sind nicht wie in heutigen Lexika Studierende und Lehrer dieser Künste, sondern bei Zedler Rechtsgelehrte, die das geltende Recht aus griechischen und lateinischen „Antiquitäten“ erklärten, also Rechtshistoriker.75 Und Humanität besaß bei Zedler nicht etwa eine anthropologische Aufladung, sondern war ein Begriff bürgerlicher Umgangsformen wie „Höflichkeit und Leutseligkeit. Daher saget man, das ist ein humaner Mann, der allen freundlich und leutselig begegnet.“76 Bemerkenswerterweise verwendete gerade Immanuel Kant, einer der Impulsgeber Niethammers, nicht den Humanismusbegriff, sondern – nicht gerade sehr häufig – „Humanität“ ebenfalls als bürgerliche Umgangsform, als Geselligkeit und Wohlleben, ja als „Communicabilität und Urbanität“.77 In den Reflexionen wird Humanität gelegentlich als Sanftmut78 beschrieben, in der späten Metaphysik der Sitten ebenfalls als Terminus seiner regelmäßig gelesenen empirischen Psychologie als einer „affectirten Humanität“, die er mit dem wohl von ihm selbst geschaffenen Begriff der „compassibilitas“ näher umschreibt.79 Beziehen sich „Compassibilität“ und „Communicabilität“ auf 71 Johann Jacob Brucker: Kurtze Fragen aus der philosophischen Historie, von Christi Geburt biß auf unsere Zeiten. Bd. 6. Ulm 1735, 1, 4. 72 Vgl. Brucker, Kurtze Fragen [s. Anm. 71] 6, 1735, 5. 73 Brucker, Kurtze Fragen [s. Anm. 71] 5, 1734, 1327 f. 74 Vgl. Art. „Humaniora oder Humanitatis Studia“. In: Johann Heinrich Zedler: Großes vollständiges Universallexikon 13, 1735, 1155 f. Brucker nennt ebenfalls „Literas humaniores“, vgl. Brucker, Fragen [s. Anm. 71] 6, 1735, 30. 75 Art. „Humanistae“. In: Zedler [s. Anm. 74], 1156; an diesen Eintrag könnte sich Goethe angelehnt haben, s. o. Anm. 13. 76 Art. „Humanität“. In: Zedler [s. Anm. 74], 1156–1158. 77 Immanuel Kant: Logik. AA IX, 46. 78 Kant, R 1531 (zur Anthropologie, sehr wahrscheinlich 1797). Kant, AA XV, 957. 79 AA VI, 335 (in Bezugnahme auf die Ablehnung der Todesstrafe durch Cesare Bonesano Beccaria in Dei delitti e delle pene. 1764). Compassibilität ist Hapax legomenon bei Kant, ein weiterer Nachweis ist im Moment nicht möglich. Es ist denkbar, dass Kant den Begriff der Humanität
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menschliche Befähigungen, hier des Mitleidens und Mitempfindens sowie der Mitteilungsfähigkeit, so deutet vielleicht noch eine späte Stelle in der Anthropologie auf den Zusammenhang zwischen einer scheinbar eudämonistischen Glückseligkeitslehre im wolffschen Sinne und den Regeln von Sittlichkeit im Sinne des kategorischen Imperativs hin: Humanität ist hier „eine Denkungsart der Vereinigung des Wohllebens mit der Tugend im Umgange“.80 In der Metaphysik der Sitten hatte Kant den Begriff der „Menschlichkeit (humanitas)“ allerdings definiert, und zwar ausdrücklich nicht normativ, geschweige denn historisch oder religiös, sondern deskriptiv als Bestimmung menschlicher Befähigungen auf der Ebene anthropologischer Grundkonstanten: als attributlose humanitas. Der Mensch ist nicht nur einfach vernunftbegabt, er ist vernunftbegabtes Tier – das könnte in Niethammers Differenzierung von Humanität und Animalität eingegangen sein. Kant unterscheidet humanitas practica, das Vermögen und der Wille, sich einander „in Ansehung seiner Gefühle“ mitzuteilen, und humanitas aesthetica, die „Empfänglichkeit für das gemeinsame Gefühl des Vergnügens oder Schmerzens“.81 Diese Deskription erhebt keinen normativ-moralischen Anspruch an die Menschheit, sondern formuliert die menschliche Grundausstattung und -veranlagung. Nicht einmal eine Unterscheidung, die Kant als Vorarbeit für die Metaphysik notiert hatte, scheint darüber hinauszugehen: „Humanitas substantialis Menschheit; accidentalis Menschlichkeit“.82 Der Begriff der Humanität besitzt bei Niethammers einflussreichem Referenzautor keine Bedeutung als geschichtstheoretischer Begriff oder als Bildungskonzept, keine Verbindung zum klassischen Altertum und kein Verhältnis zum Christentum. Er ist nicht einmal ein klar normativer Begriff. Da Kant diese fünffache Konnotation auch nicht unter einem anderen Rubrum beschreibt, müsste er angemessenerweise aus dem derzeit und seit dem 19. Jahrhundert definierten Humanismus herausfallen. Eine unmittelbare Rezeptionsfolie lag Niethammers Humanismus im Humanitätsbegriff aufklärerischer Autoren jedenfalls nicht vor. Dies entspricht Niethammers eigener – und Schellings – scharfer Abgrenzung von Humanismus und Aufklärung.
durch seine Beschäftigung mit Herders Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit gewonnen hat. In Kants Rezension taucht der Begriff achtmal auf, auffälligerweise auch im Verständnis von Religion als höchster Form der Humanität. Kant, AA VIII, 45–52, hier 49. 80 Kant, AA VII, 277. 81 Kant, AA VI, 456. 82 Vorarbeiten zur Vorrede und Einleitung in die Tugendlehre in der Metaphysik der Sitten, AA XIII, 398.
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2.2 Weltgeist statt Pädagogik: Hegel Nach dem Vorstoß Niethammers beschränkte sich die Rezeption ‚seines‘ Humanismus jahrzehntelang auf den semantischen Rahmen, den er beschrieben hatte: als pädagogisches (Gegen-) Konzept. In der philosophisch-theologischen und dann historiographischen Debatte wurde sein Vorschlag zunächst nicht aufgenommen. Hegel verwendet nicht „Humanismus“, sondern selten „Humanität“ in ähnlicher Weise wie Kant humanitas accidentalis und versteht darunter Menschlichkeit auf der einen und das substantielle Menschliche oder die Menschheit im Menschen, die Götter nicht besitzen – im Unterschied zu Kant und unter Bezugnahme auf Vergil und Horaz.83 Wie Kant kennt er die Verbindung von „Humanität und Urbanität“, verlegt diese jedoch nun in die altgriechische Vergangenheit bei Sokrates und Platon.84 In den Jenaer Schriften wird Humanität wie bei Kant (Sanftmut) als Gegensatz zu „Härte“ benannt.85 Der Begriff ist aber wiederum nicht auf eine Epoche, sondern auf eine Haltung oder Eigenschaft bezogen; er wird in einem Dreieck zusammen mit Freiheit und Recht genannt und an anderer Stelle mit einem normativen Anspruch versehen, den Hegel aber abwehrt: Wenn der absolute Werkmeister in der Geschichte, die ewige absolute Idee, die sich in der Menschheit selbst realisiere, nicht als „verborgen fortwirkende Notwendigkeit“, sondern als aktives Individuum zum Vorschein kommen würde, dann müsse entweder die Individualität zerspringen oder die Idee der „Bestimmung des Menschengeschlechts und seiner Erziehung, über das Ziel der Humanität, moralischen Vollkommenheit, oder wie sonst der Zweck der Weltgeschichte [. . .] heruntersinken“.86 Sollte Hegel hier die oben genannte Verbindung des höheren Zwecks der Menschheitsbildung mit dem Humanismusgedanken bei Niethammer in den Blick genommen haben, dann hat er ihn strikt zurückgewiesen. Ein pädagogischer Idealismus im Sinne Niethammers steht der historisch notwendigen Weltgeistentfaltung entgegen. Darüber hinaus findet sich auch bei Hegel der Humanitätsgedanke nur bruchstückhaft. Ein „Geist der Humanität“ im Sinne Niethammers wird – aus der Warte der Weltgeistfigur – abgewiesen.
83 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Religion. In: Ders.: Werke in zwanzig Bänden. Red.: Eva Moldenhauer u. Karl Markus Michel. Frankfurt/Main. Bd. 17, 1969, 166. 84 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Rechts-, Pflichten- und Religionslehre für die Unterklasse. In: Nürnberger und Heidelberger Schriften. Hegel, Werke [s. Anm. 83] 4, 1970, 272. 85 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Über die wissenschaftlichen Behandlungsarten des Naturrechts, seine Stelle in der praktischen Philosophie und sein Verhältnis zu den positiven Rechtswissenschaften. In: Jenaer Schriften. Hegel, Werke [s. Anm. 83] 2, 1970, 498. 86 Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik. In: Hegel, Werke [s. Anm. 83] 15, 1970, 356 f.
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2.3 Humanismus: zwischen Realismus, Christianismus und Nation Bei den Rezeptionen im pädagogischen Bereich wird die Gegenbewegung des Philanthropinismus bald durch den Begriff des Realismus oder der Realienbildung ersetzt. Diese Linie ist deutlich sichtbar. Als ein Professor der Meißener Landesschule Sankt Afra in einer Gedenkschrift zu Lessings 100. Geburtstag eine Verteidigung „zum Schutz des Humanismus“ herausgab, bezog er sich in erster Linie auf das Miteinander von humanistischer und Realienbildung,87 aber wie Niethammer auch auf das Studium des klassischen Altertums.88 Schon 1829 hatte sich der Philosoph, Gießener Schuldirektor und Pestalozzi-Schüler Wilhelm Braubach für die Versöhnung von Realismus und Humanismus eingesetzt,89 den er ähnlich wie Niethammer lediglich als formales Prinzip des Sprachunterrichts betrachtete, um dadurch die „Schätze des Altherthums in den Reliquien ihrer großen Geister aufgeschlossen zu sehen“.90 Im selben Jahr 1829, immerhin zwanzig Jahre nach Niethammer, knüpfte der Stuttgarter Oberstudienrat Friedrich Wilhelm Klumpp, der durch die württembergische Missions- und Erweckungsbewegung91 geprägt war, an Niethammers Konzeption an. Er setzte dem pädagogischen Humanismus, der durch Sprachstudien und das klassische Altertum den „Geist für das ideale Leben“ erziehen wolle, ebenfalls den auf Sachbildung angelegten Realismus entgegen.92 Klumpp kannte aber auch den Philanthropinismus noch.93 Er vollzog jedoch eine bemerkenswerte Erweiterung des Bildungsbegriffs. Niethammer hatte dem Humanismus noch eine nationale und universale Schlüsselfunktion zugewiesen. Klumpp erweiterte dies nun in „Humanismus mit christlicher und nationaler Richtung“94 und ergänzte den religiösen Akzent des Christentums. Kultur beruhe auf dem Fortschreiten des menschlichen Geistes, hatte Klumpp zuvor wie Niethammer betont. Aber er hatte hinzugesetzt, sie beruhe auch auf dem „Christenthum und dem germanischen Grund-
87 Vgl. Eduard August Diller: Erinnerungen an Gotthold Ephraim Lessing, Zögling der Landesschule zu Meissen in den Jahren 1741–1746. Ein Wort zum Schutz des Humanismus und zur Erhaltung aller Zucht und Lehre. Meissen 1841, 79. 88 Vgl. Diller, Erinnerungen an Gotthold Ephraim Lessing [s. Anm. 87], 76. 89 Vgl. Wilhelm Braubach: Das Recht der Zeit und die Pflicht des Staates in Bezug auf die wichtigste Reform in der innern Organisation der Schule. Gießen 1833, 30. 90 Braubach, Das Recht der Zeit [s. Anm. 89], 4. 91 Vgl. Friedrich Wilhelm Klumpp: Das evangelische Missionswesen. Ein Ueberblick über seine Wirksamkeit und seine weltgeschichtliche und nationale Bedeutung. Stuttgart, Tübingen 21844 [1841]. 92 Vgl. Friedrich Wilhelm Klumpp: Die gelehrten Schulen nach den Grundsätzen des wahren Humanismus und den Anforderungen der Zeit. Ein Versuch. 2 Bde. Stuttgart 1829 f., hier Bd. 1, 2. 93 Vgl. Klumpp, Die gelehrten Schulen [s. Anm. 92] 2, 4. 94 Klumpp, Die gelehrten Schulen [s. Anm. 92] 1, 13.
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charakter“.95 Durch diese Verkettung traten nun anstelle der klassischen Bildung der germanische (National-) Charakter und die christliche Richtung in das semantische Feld des pädagogischen, aber auf Nationalität und Universalität abzielenden Humanismuskonzepts Niethammers. Mit Christentum, Realismus und Germanismus waren klare Erweiterungen und Verschiebungen hinzugekommen. Ebenfalls 1829 erschien in Leipzig eine Schrift Humanismus. Eine vorläufige Schrift. Natur, Thier, Mensch, Engel, Gott mit deutlichen Referenzen auf Niethammer, aber ohne Namensnennung. Das Buch solle „nur natürliche Philosophie des natürlichen Menschen“96 enthalten und zwar in seiner Stellung zwischen den genannten Geistgattungen. Der Mensch wurde als Doppelwesen aus Geist und Sinnlichkeit gegenüber dem Tier gezeichnet.97 Und die eigentliche Wissenschaft sei „Theoria, Idea“. Sie liege „einzig im Schauen Gottes“.98 Seinen Religionsbegriff entfaltete der Verfasser unter ausdrücklicher Aufnahme Schleiermachers in Verbindung mit einem ausgeprägten Individualitätsbewusstsein,99 mit einer klaren Christusorientierung, der menschlichen Schuldbeladenheit, einer unendlichen Differenz gegenüber Gott100 und zugleich im Zusammenhang mit dem Glauben an die „freie Gnade Gottes in Christo“.101 Diese an nur wenigen Stellen als Humanismus bezeichnete Anthropologie war klar soteriologisch bestimmt. Aus der Schrift geht nicht hervor, ob der Autor einen bereits bestehenden Gegensatz von Christentum und Humanismus überbrücken oder überwinden wollte und auf welche Konzeption er sich bezog. Nach momentanem Kenntnisstand liegen weitere Titel zum Humanismusthema nach Niethammer bis zu diesem Zeitpunkt nicht vor. Festzuhalten bleibt aber, dass um 1830 die Verbindung von Humanismus und Christentum als zwei eigenständigen, aber versöhnten oder symbiotisch verbundenen Kategorien vorhanden war.
95 Klumpp, Die gelehrten Schulen [s. Anm. 92] 1, 11. Vgl. die anonymen Bemerkungen zu Herrn Prof. Klumpp’s Schrift: Die gelehrten Schulen nach den Grundsätzen des wahren Humanismus und den Anforderungen der Zeit. Von einem Freunde der vaterländischen Schulen. Tübingen 1829. 96 Vgl. C.Fr.Chr. Schüler: Humanismus. Eine vorläufige Schrift. Natur, Thier, Mensch, Engel, Gott. Philosophisch betrachtet. Leipzig 1829, xi. 97 Vgl. Schüler, Humanismus [s. Anm. 96], xxi. Engel werden trotz der Titelangabe nicht thematisiert. 98 Schüler, Humanismus [s. Anm. 96], xvii. 99 Vgl. Schüler, Humanismus [s. Anm. 96], 39, 114. 100 Vgl. Schüler, Humanismus [s. Anm. 96], 44–46. 101 Schüler, Humanismus [s. Anm. 96], 180.
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2.4 Der Beginn einer Beziehung: Humanismus und Reformation Schon102 1831 liegt mit dem in Leipzig publizierten Werk des Thüringer Pfarrers Wilhelm Schröter, Christianismus, Humanismus und Rationalismus in ihrer Identität. Ideen zur Beurtheilung der Reformation Luthers und des in ihr wahrhaft Symbolischen, erstmals ein Wortfeld vor, in dem später zentrale Segmente des Humanismusbegriffs in historischer und theologisch-philosophischer Hinsicht zusammengeführt sind. Nicht nur die Differenzierung zwischen Christianismus, Humanismus und Rationalismus ist hier entscheidend, nach derzeitigem Kenntnisstand findet sich hier erstmals auch die Verknüpfung mit dem Namen Luthers und damit der historische Zusammenhang zur Reformation. Die Schrift geht von einer Spaltung der drei genannten Strömungen aus und möchte sie in Gestalt eines lutherischen Christentums überwinden. Sie möchte das „Wesen des Christenthums“ und das „Wesen des Menschen“ miteinander versöhnen – zeitgenössisch hieß das: den „unedlen“ Streit zwischen „Supernaturalisten und Rationalisten“.103 Schröter bezog „Christianismus“ klar auf Jesus Christus als den „reale[n] Idealmensch[en]“ und das in ihm „reell gewordene Menschenideal“.104 Dieser offensichtliche Versuch der Christianisierung eines bereits gegen ein bestimmtes konfessionelles Christentum gerichteten Humanismusverständnisses besaß zudem eine antikatholische Flanke: Während der Humanismus in der katholischen Kirche als ein „Nichts“ erscheine, habe das „Göttliche“ und der „Geist Gottes in der Reformation, als der herrlichsten Offenbarung des inneren Lebens Luthers“, gewirkt.105 Zwischen diesem reformatorischen „Christianismus“ und dem „Wesen des Humanismus“ besteht für Schröter kein Unterschied: „Der Humanismus in seiner Identität mit dem Christianismus“, lautet seine Definition.106 Wer vom Humanismus den Christianismus abtrenne, gelange zwangsläufig zu einem „falsche[n] Begriff von Humanismus“.107 Seine Angriffe auf die damaligen Parteigänger des theologischen Rationalismus Karl von Hase und Philipp Konrad Marheineke108 verdeutlichen, was Schröter darunter verstand. Auf dieser Linie liegt auch seine Begründung des aus der Logos-spermatikos102 In bisherigen Studien wird das Gegenüber eines epochal verstandenen Humanismus zum Christentum in Gestalt der Reformation erst 1841/43 (Spitz) oder gar erst 1859/80 (Walther) angesetzt. Dem wird weiter unten nachzugehen sein. Vgl. Lewis W. Spitz: Art. „Humanismus/ Humanismusforschung“. In: TRE 15, 1986, 639–661, hier 639; Walther, Humanismus [s. Anm. 3], 666. Vgl. hingegen unten Anm. 119. 103 Wilhelm Schröter: Christianismus, Humanismus und Rationalismus in ihrer Identität. Ideen zur Beurtheilung der Reformation Luthers und des in ihr wahrhaft Symbolischen. Leipzig 1831, ivf. 104 Schröter, Christianismus [s. Anm. 103], 11–13. 105 Schröter, Christianismus [s. Anm. 103], 26, 3. 106 Schröter, Christianismus [s. Anm. 103], 31. 107 Schröter, Christianismus [s. Anm. 103], 23. 108 Vgl. Schröter, Christianismus [s. Anm. 103], 42 ff.
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Spekulation bis hin zum Hermetismus seit dem 15. Jahrhundert bekannten Arguments, dass Sokrates ein vollkommenerer Christ gewesen sei als manche Römer und Protestanten: Sokrates habe sein Heidentum durch die Vernunft „humanisirt, oder christianisirt“.109 Diese Gleichsetzung nahm Schröter auch für Luther vor, dem er schlichtweg „reformatorischen Rationalismus“, wegen der Identität von Christentum und Humanismus, aber eben auch einen von Christus befruchteten Geist ausgerechnet dort bescheinigte, wo er sich von der augustinischen Religionsphilosophie unabhängig gemacht habe.110 Entscheidend für Schröter ist offenbar die Front gegen diesen Augustinismus, die durch die Identität zwischen (nichtkatholisch-evangelischem) Christentum und Rationalismus generiert wird. 2.5 Humanismus im Lutherkanon? Luther und Erasmus nach Niethammer Wilhelm Schröter hatte trotz der behaupteten engen Relation zwischen Christianismus, Rationalismus und Humanismus auch die Schrift Luthers erwähnt, die später am stärksten als ‚antihumanistisch‘ betrachtet wurde: De servo arbitrio.111 Das war in der zeitgenössischen Forschung keinesfalls selbstverständlich, vielmehr hatte die Reformations- und Lutherforschung offenbar große Probleme mit diesem Text. Leopold von Ranke ließ ihn in seiner monumentalen Deutschen Geschichte im Zeitalter der Reformation schlicht unerwähnt, auch einen Konflikt zwischen Luther und Erasmus gab es hier nicht.112 Niethammer selbst, der 1817, zum 300. Jubiläum des Thesenanschlags, eine Textsammlung von Luther-Schriften herausgab, nannte zwar Reuchlin, Melanchthon und Erasmus, ohne sie allerdings unter den Begriff des Humanismus zu rubrizieren. Dass es Konflikte zwischen Erasmus und Luther in der Anthropologie gegeben hätte, kam bei Niethammer ebensowenig vor wie De servo arbitrio.113 Auch Johann Georg Plochmann, der 1826 die Vorrede und einen recht ausführlichen Überblick über Luthers Leben für die 65-bändige Erlanger Werkausgabe Luthers schrieb, kannte den Humanismusbegriff nicht und würdigte hier Erasmus mit keinem Wort.114 Das Sachregister dieser Aus109 Schröter, Christianismus [s. Anm. 103], 107. Dadurch sei das Heidnische bei Sokrates zur toten Hülle geworden. 110 Schröter, Christianismus [s. Anm. 103], 144, 151. 111 Vgl. Schröter, Christianismus [s. Anm. 103], 152–157, mit ausführlichen Zitaten, auch der berühmten Reittier-Passage. 112 Vgl. Leopold von Ranke: Deutsche Geschichte im Zeitalter der Reformation. 6 Bde. Berlin 1839–1847. Erasmus erscheint zwar als „der erste große Autor der Opposition in modernem Sinne“ (ebd., Bd. 1, 1839, 264), eine Kontroverse mit Luther kommt hier aber nicht vor. 113 Vgl. Die Weisheit D. Martin Luthers. Hg. v. Friedrich Immanuel Niethammer. 2 Bde. Nürnberg 21817. 114 Vgl. Johann Georg Plochmann: Vorrede. In: Dr. Martin Luther’s sämmtliche Werke. Erster Band. Erste Abtheilung. Homiletische und katechetische Schriften. Hg. v. Johann Georg Plochmann. Erlangen 1826, v-xii; ders.: Das Leben D. Martin Luthers. In: Ebd., 1–66.
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gabe von 1857 enthält immer noch nicht den Eintrag Humanismus, erwähnt dafür aber jetzt Luthers Schrift Vom knechtischen Willen, die Erasmus nicht habe widerlegen können.115 In der riesigen Werkedition ist De servo arbitrio aber gar nicht enthalten. Diese Nichterwähnung traf auch auf Hans Lorenz Andreas Vent zu, der das Vorwort für die Hamburger Lutherausgabe verfasste.116 Erst die 1840 von Gustav Pfitzer herausgebene populäre einbändige und mehr als 1500 Seiten umfassende Lutherausgabe enthielt De servo arbitrio – allerdings ohne den Humanismusbegriff.117 Steht diese merkwürdige Ausblendung des Erasmus-Streits aus der konfessionellen Lutherforschung der ersten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts im Zusammenhang mit den „Humanitäts“-Vorstellungen118 bei Erasmus und mit Niethammers Konzept, in dem der Humanismus-Begriff auf einen dezidiert freien und vernunftfähigen Menschen festgelegt worden war, der nur schwerlich mit Luthers De servo arbitrio harmonisiert werden konnte? Wie und in welchem Kontext begannen diese Referenzen zu kollidieren? Wann genau kann man davon sprechen, dass „Humanismus“ überhaupt mit der Renaissancephilosophie, besonders der erasmischen, zu einem anthropologischen Paradigma verschmolz, das entweder Antipode oder identisch war mit dem reformatorischen Christentum? 2.6 Humanismus als Wissenschaft, Geist und Epoche neben der Reformation: Hagen Dass es bis zum Vormärz keine klaren Zuschreibungen gab, ist gezeigt worden: Humanismus changiert zwischen Bildung und Anthropologie, aber nicht als Epoche und nicht als Geist, der aus dem Altertum stammen würde und danach in der Geschichte wirksam geworden sei – in einem wie auch immer gearteten Verhältnis zum Christentum. Spätestens im Falle Schröters scheint aber bereits deutlich zu werden, dass es offenbar einen bestimmten Bruch zwischen Christentum und Humanismus in den Debatten gegeben hatte, den Schröter zu kitten versuchte. Dies trifft nicht auf die nach derzeitigem Kenntnisstand erste Erwähnung des Humanismus als Bewegung in der Frühen Neuzeit zu. In der Literaturgeschichte Ludwig Wachlers von 1823 werden an wenigen 115
Dr. Martin Luther’s sämmtliche Werke [s. Anm. 114], 66, 217. Vgl. Hans Lorenz Andreas Vent: Vorwort. In: Martin Luther: Werke. In einer das Bedürfniß der Zeit berücksichtigenden Auswahl. Erster Theil. Hg. v. Hans Lorenz Andreas Vent. Hamburg 2 1827, iii-xvi. 117 Vgl. Die Werke Martin Luthers. Hg. v. Gustav Pfitzer. Frankfurt/Main 1840, 645–751. 118 Vgl. z. B. Desiderius Erasmus von Rotterdam: Querela Pacis undique Gentium ejectae profligataeque. Die Klage des Friedens, der von allen Völkern verstoßen und vernichtet wurde. In: Ders.: Ausgewählte Schriften. Hg. v. Werner Welzig. Bd. 5. Darmstadt 1995, 360–451, hier 367, 447 passim und im Gesamtwerk. Vgl. nach wie vor: Kurt von Raumer: Erasmus von Rotterdam. Der Humanist und der Friede. In: Ders.: Ewiger Friede. Friedensrufe und Friedenspläne seit der Renaissance. Freiburg i. Br., München 1953, 1–21. 116
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Stellen Humanismus und Mystizismus parallelisiert, die von der zweiten Hälfte des 15. bis ins 16. Jahrhundert hinein den „scholastischen Dogmatismus“ bekämpft hätten. Humanismus ist mit den klassischen Sprachen, Ästhetik, Einbildungskraft, aber auch mit der Behauptung der „heiligsten Rechte und Ansprüche des mündigeren Menschengeschlechtes gegen den engherzigen Starrsinn der für ihre Alleinherrschaft über Geist und Wissenschaft streitenden Zunftgenossen“ verbunden.119 Mit Erasmus und Reuchlin werden auch Vertreter der „Morgenröthe humanistischer Geistesbildung“120 benannt. Dies bezieht sich aber nur auf die humanistischen Sprachstudien im engeren Sinne,121 und zwar zuweilen im Unterschied zur „realistische[n] Richtung“.122 Es scheint so, dass Wachler sich dem auf den klassischen Sprachen liegenden Akzent von Niethammers Humanismusbegriff123 angeschlossen hat. Der genauere Weg muss zunächst unbeleuchtet bleiben, der zwischen Wachler, Schröter (1831) und demjenigen Autor liegt, der als erster und klar über Wachlers Erwähnungen hinaus den Humanismus umfassend124 als eine Bewegung seit dem 15./16. Jahrhundert und als eigene Strömung neben der Reformation konzipiert hat: Karl Hagen, wie auch der Theologe und Reformationshistoriker Wilhelm Zimmermann125 ein „progressiver Historiker im Vormärz“, 1848 zur Nationalversammlung entsandt von der Stadt Heidelberg, wo er von 1838 und 1849 als Dozent und Professor wirkte. Er gilt als „radikaler Demokrat und politischer Erzieher“.126 Sein reformationsgeschichtlicher Ansatz ist in drei Bänden und in einer auffälligen und von ihm selbst127 eingeräumten Gleichzeitigkeit zu Rankes Opus magnum sowie zu 119 Ludwig Wachler: Handbuch der Geschichte der Litteratur. Bd. 2: Geschichte der Litteratur im Mittelalter. Frankfurt/Main 21823, 246, 259, 262 f. Vom Platonismus, Hermetismus und der Kabbala Ficinos, Plethons und Pico della Mirandolas ist der Humanismus aber unterschieden, ebd., 263. In den späteren Bänden werden die humanistischen Studien als Sprachenunterricht bis ins 18. Jahrhundert verfolgt, vgl. Bd. 4, 1824, 56, 62 passim. Es ist das Verdienst Baabs, Humanismus [s. Anm. 1], 33 f., als erster die Verwendung des Humanismusbegriffs bei Wachler nachgewiesen zu haben. 120 Wachler, Handbuch [s. Anm. 119] 4, 1824, 30. 121 Vgl. Wachler, Handbuch [s. Anm. 119] 4, 1824, 9–11, 17 f. 122 Wachler, Handbuch [s. Anm. 119] 4, 1824, 25. 123 Niethammers Streit des Philanthropinismus und Humanismus wird ausdrücklich genannt, vgl. Wachler, Handbuch [s. Anm. 119] 4, 1824, 197. 124 Das explizite konzeptionelle Gewicht des Humanismusbegriffs bei Hagen wird bei Baab, Humanismus [s. Anm. 1], 34 f. unterschätzt, da er offenbar nicht Bd. 3 zur Kenntnis genommen hat. 125 Wilhelm Zimmermann: Allgemeine Geschichte des grossen Bauernkrieges: nach handschriftlichen und gedruckten Quellen. 3 Bde. Stuttgart 1841–1843 [viele Aufl., zuletzt (11. Aufl.) Berlin (Ost) 1989]. 126 Vgl. Günther Mühlpfordt: Karl Hagen. Ein progressiver Historiker im Vormärz über die radikale Reformation. In: Jahrbuch für Geschichte 21, 1980, 63–101; Eike Wolgast: Karl Hagen in der Revolution von 1848/49. Ein Heidelberger Historiker als radikaler Demokrat und politischer Erzieher. In: ZGO, N. F. 94 = 133, 1985, 279–299. 127 Karl Hagen: Deutschlands literarische und religiöse Verhältnisse im Reformationszeitalter.
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Zimmermanns monumentaler Bauernkriegsgeschichte entstanden. Hagen erblickt drei Richtungen der „Opposition“128 oder „entgegengesetzte Richtungen“129 vor allem gegenüber den kirchlichen Zuständen,130 gegenüber Rom131 und gegenüber der Scholastik:132 eine volksmäßige, eine religiöse und eine humanistische Richtung,133 die sich zunehmend miteinander verbanden. Die Vertreter der humanistischen Richtung fungieren hier – wie in Niethammers Konzept – als Repräsentanten des Studiums der klassischen Sprachen, aber sie sind zugleich auch Kirchenkritiker.134 Humanismus wird dann mit den „Keime[n] der neueren wissenschaftlichen Richtung“, an anderer Stelle mit der wissenschaftlichen Richtung der Opposition insgesamt identifiziert.135 Und dazu gehört neben Erasmus, Reuchlin, Pico della Mirandola und anderen nun auch Luther.136 In der Reformation kommt eine „Vereinigung der volksmässigen, humanistischen, religiösen Opposition“ zustande.137 Humanismus ist hier also eine Bildungsbewegung – denn über die reine Sprachenbildung geht es wie in Niethammers Konzept auch bei Hagen klar hinaus. Es geht um „Bildung des Geistes und des Herzens“.138 Humanismus besitzt aber als Wissenschaft mit Bildungsprogramm zugleich erstmals einen eigenen Stellenwert gegenüber der Religion. Denn bei Hagen findet sich, soweit ich sehe, erstmals die Behauptung, der italienische „Humanismus“ habe sich gegenüber Christentum und Kirche indifferent verhalten, anders als in Deutschland. Erasmus etwa sei Vertreter der „freieren Richtung der christlichen Theologie“ gewesen.139 Zwischen Humanismus als Wissenschaft und Bildung und Christentum und Theologie wird also für das eine Land eine synthetische, für das andere Land eine zunächst lediglich differente Beziehung behauptet. Damit ist der „Humanismus“ erstmals als Geschichtsmacht in die Deutehorizonte eingezogen. Im Vorwort zum zweiten Band seiner Reformationsgeschichte unterstrich Hagen sein Bemühen, die verschiedenen oppositionellen Strömungen historisch unter einem Dach zu vereinen. Er wies alle früheren Versuche zurück, Reformation lediglich aus dem Blickwinkel einer protestantischen Kirchen-
Mit besonderer Rücksicht auf Wilibald [sic!] Pirckheimer. 3 Bde. Erlangen 1841–1844, hier Bd. 1, 1841, vi. 128 Hagen, Verhältnisse [s. Anm. 127] 1, 377. 129 Hagen, Verhältnisse [s. Anm. 127] 1, 32. 130 Vgl. Hagen, Verhältnisse [s. Anm. 127] 1, 364. 131 Vgl. Hagen, Verhältnisse [s. Anm. 127] 1, 475. 132 Vgl. Hagen, Verhältnisse [s. Anm. 127] 1, 278. 133 Vgl. Hagen, Verhältnisse [s. Anm. 127] 1, 32. 134 Vgl. Hagen, Verhältnisse [s. Anm. 127] 1, 39, 79. 135 Hagen, Verhältnisse [s. Anm. 127] 1, 99, 208. 136 Hagen, Verhältnisse [s. Anm. 127] 1, 232 f., 256, 464. 137 Hagen, Verhältnisse [s. Anm. 127] 1, 377. 138 Hagen, Verhältnisse [s. Anm. 127] 1, 279. 139 Vgl. Hagen, Verhältnisse [s. Anm. 127] 1, 323.
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lehre zu betrachten und die anderen, nicht mit der protestantischen Kirchenlehre konform gehenden oder ihr gegenüber in entschiedener Opposition stehenden „Bestrebungen“ nicht zu beachten oder „doch schief“ zu beurteilen.140 Dann unterschied Hagen zwischen dem Protestantismus in den Kirchen seit dem 16. Jahrhundert und der über den Protestantismus hinausgehenden, viel großartigeren, bedeutenderen und umfassenderen „ursprüngliche[n] Tendenz der Reformation“.141 Anstelle der drei im ersten Band genannten Strömungen kannte er nun eine nationale Opposition und die „Opposition der Humanisten“ neben Luther und seiner Leipziger Opposition.142 Es scheint so, dass Hagen die zeitgenössischen Linien der 1840er Jahre in diese Bestimmung übertrug, um sie im republikanischen Sinne zu einer gemeinsamen Frontstellung zu bringen. 1843 und im dritten Band 1844 verschärfte Hagen seine Reformationsgeschichte aber zu einer generellen Protestantismuskritik. Denn jetzt betrachtete er den Protestantismus als „Abart“ des eigentlichen und ursprünglichen Wesens der Reformation, deren Fortbestand ihm gleichgültig sei und die er genauso „rücksichtslos“ schildern wolle, wie er das im Falle der katholischen Kirche getan habe.143 Nun werden die in den Bänden zuvor synthetisierten oppositionellen Bewegungen zu „Gegensätze[n] innerhalb der reformatorischen Bewegung“.144 Neben einer ganzen Palette von Konflikten wird nun der Streit zwischen Erasmus und Luther thematisiert – zeitlich auffällig parallel zur Aufnahme dieser Debatte in den populären Lutherkanon. Vor allem aber wird das Gewicht auf eine „freiere Richtung der Opposition“145 gelegt, deren Vertreter den echten „reformatorischen Geist“146 repräsentierten. Hier seien die drei Faktoren volksmäßig, religiös und humanistisch noch zusammen gekommen, in einer schillernden Gruppe, die bis in die Historiographien des 21. Jahrhunderts zwischen „Humanisten“, Hermetikern, Spiritualisten und vor allem Täufern changiert und die der demokratische Opponent Hagen offenbar als seine geistigen Ahnherrn betrachtete. Die drei Bände laufen auf die Krone und den Abschluss der Reformation hinaus: „Sebastian Franck, der Vorläufer der neueren deutschen Philosophie“.147 Franck habe die freiere Richtung der Opposition vertreten und sei zugleich „Repräsentant der reformatorischen Richtung“ gewesen. Franck war damit
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Vgl. Hagen, Verhältnisse [s. Anm. 127] 2, 1843, ix. Hagen, Verhältnisse [s. Anm. 127] 2, 1843, x. 142 Hagen, Verhältnisse [s. Anm. 127] 2, 1843, 27, 47. 143 Hagen, Verhältnisse [s. Anm. 127] 3, 1844, vii. 144 So der Titel des gesamten 1. Kapitels in Hagen, Verhältnisse [s. Anm. 127] 3, 1844, 1–141. 145 Hagen, Verhältnisse [s. Anm. 127] 3, 1844, 314. 146 Hagen, Verhältnisse [s. Anm. 127] 3, 1844, 246 f. Hagen nennt u. a. Erasmus, Agrippa von Nettesheim, Christoph Fürer, Hans Denck, Ludwig Hätzer, Johann Bünderlin, Johann Campanus, Michael Servet, vgl. ebd. 3, 1844, 246 f., sowie an vielen Stellen die Täufer. 147 Hagen, Verhältnisse [s. Anm. 127] 3, 1844, 314–396. 141
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auch „Vorläufer einer neuen Entwicklung des menschlichen Geistes“.148 Entscheidend ist nun, dass Hagen ein spannungsreiches Verhältnis zwischen der „neuen Orthodoxie“149 und den übrigen reformatorischen Strömungen und insbesondere zum Humanismus diagnostizierte. Damit sind reformatorische Orthodoxie und Humanismus verschiedene Strömungen, die zum reformatorischen Geist zusammengeflossen, aber durch die Erstarrung einer neuen Orthodoxie wieder auseinandergefallen seien, obwohl das „humanistische Element“ trotz Bekämpfung und dann Vernachlässigung durch die Reformatoren150 überlebt habe. Die biblische, „minder“ freie Richtung sei als mystische Richtung etwa von Jakob Böhme weitergeführt worden. Die unfreie Richtung habe hingegen den „Namen der Reformation oder des Protestantismus für sich vorzugsweise in Anspruch“ genommen.151 Im 18. Jahrhundert seien diese drei Richtungen erneut vereinigt worden: die freie mystische oder rationalistische (!), die humanistische und die „nationale volksmäßige“ Richtung hätten den „gewaltigen Aufschwung in dem Geiste und in der Literatur unseres Volkes“ hervorgebracht, „an welchem wir jetzt noch zehren“.152 Ob Karl Hagen mit seiner Konzeption auch Niethammers Humanismusbegriff rezipiert hat, muss derzeit ungeklärt bleiben. Die gemeinsame Opposition von Humanismus und Mystizismus gegen die Scholastik, die Verbindung des Humanismus mit Antike und dem Ideal eines „mündigeren“153 Menschen könnte Hagen von Wachler übernommen haben. Beide kennen aber keine grundsätzliche Distanz oder Entgegensetzung von Humanismus und Christentum. Bei Hagen fehlt nun jedoch der Bezug auf bloße Sprachbildung und auf die humanistas der Frühen Neuzeit. Eine neue Verhältnisbestimmung des Beziehungsgeflechts Humanismus – Bildung – Geschichte – Religion war aber: dass Humanismus mit dem Wesen der Reformation klar kollidiert sei; dass er in der anthropologischen Auseinandersetzung zwischen Erasmus und Luther zum Ausdruck gekommen sei; dass er als wissenschaftliche und gleichzeitig freigeistige Richtung den wahren reformatorischen Geist gegenüber dem (Staats-) Protestantismus und dem Pietismus als Orthodoxie154 zu Hagens transportiert habe. Bei Hagen wurde Humanismus ein Geschichte gewordener Geist, der mit anderen Geistern vorübergehend föderieren konnte, aber letztlich „Ideen von Freiheit und Humanität“155 transportierte, die Hagen in der politischen Lage 148 149
Hagen, Verhältnisse [s. Anm. 127] 3, 1844, 314. So der Titel des gesamten 2. Kapitels in Hagen, Verhältnisse [s. Anm. 127] 3, 1844, 142–
200. 150
Vgl. Hagen, Verhältnisse [s. Anm. 127] 3, 1844, 459–461. Hagen, Verhältnisse [s. Anm. 127] 3, 1844, 459. 152 Hagen, Verhältnisse [s. Anm. 127] 3, 1844, 461. Hier fällt allerdings nicht das Stichwort Aufklärung. 153 Wachler, Handbuch [s. Anm. 119] 2, 1823, 263. 154 Hagen, Verhältnisse [s. Anm. 127] 3, 1844, 462. 155 Hagen, Verhältnisse [s. Anm. 127] 3, 1844, 458. 151
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des Vormärz verloren gegangen glaubte. Humanismus ist bei Hagen christlich, pädagogisch, ein Geschichte gewordenes und durch die Geschichte stets wirkendes Wesen, das vor allem im Gegenüber zur Reformation arbeitet, zuerst symbiotisch und dann im Konflikt. Über seine Verbindung mit Friedrich Fröbel und Johann Heinrich Pestalozzi156 wirkte Hagen auch im reformpädagogischen Bereich. Er warb für freie Schulen und brachte „Humanismus“ als pädagogisches und zugleich politisch-oppositionelles Programm ein. Humanismus war aber nicht gegen das Christentum gerichtet geschweige denn irreligiös. Er stand in spiritualistisch-humanistischer Tradition und dabei im Gegensatz zur zeitgenössischen, staatgewordenen Orthodoxie. In einem 1845 veröffentlichten Text Über Nationale Erziehung bezeichnete er den Humanismus ganz offen als Bewegung seit dem 14. Jahrhundert, die durch das Studium der alten Sprachen und durch Profanierung den Geschmack ausgebildet hätte und nach anfänglicher Unterstützung durch die Reformatoren mit diesen in Konflikt geraten sei.157 Ohne seinen Namen zu nennen, dürfte Hagen dann Niethammer referiert haben, wenn er als Beispiel für die Reduktion der Pädagogik auf „Brauchbarkeit“ und „Nützlichkeit“ Basedow nannte, dessen „Realismus“ er vom Humanismus und Pietismus unterschied. Erst Ende des 18. Jahrhunderts sei zum Humanismus Kants Philosophie dazugekommen. Seine Erfüllung habe diese Integration bei Pestalozzi und dem Konzept der „Bildung des ganzen Menschen“ erlangt. Erneut verschärfte Hagen jetzt die antikirchliche und nun auch antidogmatische Schlagseite seines wissenschaftlichen Humanismus, indem er sich mit dem Hinweis auf die USA unter anderem gegen einen obligatorischen Religionsunterricht insgesamt aussprach, weil Religionsunterricht „Haß“ erzeuge.158 Man könnte sagen, dass Hagen damit einen ersten Kreis schloss, indem er den Humanismus als historische Bewegung parallel zur Reformation nun mit dem pädagogischen Konzept Niethammers zusammenführte, das er in Fröbel und Pestalozzi erfüllt sah. Es wäre in diesem Zusammenhang auch noch einmal auf Hagens Differenz gegenüber Ranke hinzuweisen. Denn anders als bei Hagen kam bei Ranke der Luther-Erasmus-Konflikt nicht vor. Humanismus ist als Begriff bei ihm nicht vorhanden, auch wenn er die „Bekanntschaft“ mit dem klassischen Altertums als den „mächtigsten inneren Antrieb“ für den „deutsche[n] Geist“159 am Anfang des 16. Jahrhunderts betrachtete. Allerdings existieren zwischen dem Altertum und der Reformation bei Ranke keine Gegensätze,
156 Vgl. Karl Hagen: Über Nationale Erziehung. Mit besonderer Rücksicht auf das System Friedrich Fröbels [1845]. In: Friedrich Fröbel und Karl Hagen. Ein Briefwechsel aus den Jahren 1844–1848. Hg. v. Erika Hoffmann. Weimar 1948, 97–136, hier 99 f. 157 Hagen, Erziehung [s. Anm. 156], 101–103. 158 Hagen, Erziehung [s. Anm. 156], 124–126. 159 Ranke, Reformation [s. Anm. 112] 5, 1843, 465.
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sondern Harmonie. Bei Hagen war Humanismus demgegenüber in Opposition zur Kirche – nicht zum Christentum – geraten. 2.7 Humanismus als Interludium: Marx, Engels, Marxismus Erst mit Karl Hagen war der „Humanismus“ im Vormärz als politisch affizierter, alternativreligiöser, kirchenkritischer und zugleich pädagogischer Begriff verankert. Er projizierte zugleich die zeitgenössischen Frontstellungen ins 15./16. Jahrhundert zurück. Bei mehreren linkshegelianischen Autoren geriet er nun auch zu einem Komplement für sozialistische Theorien. Nach Hagens Neuverortung und im Zusammenhang mit anderen Debatten am Anfang der 1840er Jahre wird 1844 in der Heiligen Familie von Marx und Engels ein materialistischer Humanismusbegriff angedeutet: Der reale Humanismus hat in Deutschland keinen gefährlicheren Feind als den Spiritualismus oder den spekulativen Idealismus, der an die Stelle des wirklichen individuellen Menschen das ‚Selbstbewußtsein‘ oder den ‚Geist‘ setzt und mit dem Evangelisten lehrt: ‚Der Geist ist es, der da lebendig macht, das Fleisch ist kein Nütze.‘ Es versteht sich, daß dieser fleischlose Geist nur in seiner Einbildung Geist hat.160
Was Humanismus genau ist, wird hier nicht definiert, genannt wird lediglich die Abgrenzung gegen den Spiritualismus – damit dürfte die zeitgenössische Debatte um den Spiritismus gemeint sein161 – und gegen den Idealismus offenbar in Anknüpfung an Fichte und an idealistische Gegner aus dem Umfeld der Hegelianer. Genauer wurde Marx im selben Jahr in den Ökonomisch-philosophischen Manuskripten. Denn hier erscheint der Humanismus mehrfach, unterschieden von Idealismus und Materialismus, zuweilen gleichgesetzt mit Naturalismus.162 Nun wird Humanismus aber an Atheismus und Kommunismus gekoppelt: Der Atheismus sei als Aufhebung Gottes das „Werden des theoretischen Humanismus“, während der Kommunismus das „Werden des praktischen Humanismus“ sei.163 An dieser Stelle ist Humanismus der Oberbegriff 160 Joh 6,63; Karl Marx u. Friedrich Engels: Die heilige Familie (September 1844). In: Dies.: Werke (MEW). Bd. 2. Berlin (Ost) 1967, 3–223, hier 7 (Vorrede). 161 Vgl. zur erst im Umfeld von Alan Kardecs Buch der Geister vollzogenen Unterscheidung zwischen Spiritismus und Spiritualismus sowie insgesamt Sawicki, Leben [s. Anm. 44], 267–296, passim; Daniel Cyranka: Wofür steht das Jahr 1848? Religionsgeschichtliche Erkundungen im Kontext von Religion, Wissenschaft und Politik. In: BThZ 32, 2015, 2, 289–318; sowie zum Referenzrahmen des Spiritismus Friedemann Stengel: Lebensgeister – Nervensaft. Cartesianer, Mediziner, Spiritisten. In: Aufklärung und Esoterik: Wege in die Moderne. Hg. v. Monika Neugebauer-Wölk [u. a.]. Berlin, Boston 2013, 340–377. 162 Vgl. Karl Marx: Ökonomisch-philosophische Manuskripte (Erste Wiedergabe). In: Ders. u. Friedrich Engels: Gesamtausgabe (MEGA). Berlin (Ost), Bd. I.2, 1982, 187–322, hier 295; Zweite Wiedergabe, 323–438, hier 389, 408. 163 Marx, Manuskripte [s. Anm. 162], 301 (Erste Wiedergabe).
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für Theorie und Praxis des marxistischen geschichtsphilosophischen Projekts, im Sinne einer menschzentrierten Philosophie, die auf Realisierung drängt. Diese Konnotation war radikal neu: Humanismus galt nicht mehr als nur kirchenkritisches, sondern als atheistisches Konzept. Damit war die von allen Autoren seither behauptete religiöse und alternativchristliche Füllung des Begriffs nicht nur ergänzt, sondern liquidiert worden. Der Signifikant wurde durch einen anderen Deutungszusammenhang umgeschrieben, der mit den bisherigen, teilweise komplementären Konnotationen an entscheidender Stelle brach. Die Behauptung einiger Autoren, unter anderem von Michael Schmidt-Salomon, Marx habe einen „kategorischen Imperativ des Humanismus“ gefordert, ist als irrtümliche Verbindung von Kants Moralphilosophie mit Marx’ kurzzeitigem Humanismuskonzept gründlich widerlegt worden.164 Aber zunächst ist innezuhalten: Es blieb nicht bei der atheistischen Begriffsfüllung in der kommunistischen Literatur, denn schon 1848 war im Manifest der Kommunistischen Partei der kurz zuvor so zentrale Begriff nicht nur einfach verschwunden. Zusammen mit den Philanthropen wurden nun die Humanisten ausdrücklich zu den Strömungen gezählt, die „den sozialen Mißständen“ lediglich abhelfen wollten, um den Bestand der bürgerlichen Gesellschaft zu sichern.165 Diese Abwendung von „revisionistischen“ oder kleinbürgerlichen Reformern war fortan geradezu typisch für die kommunistische Bewegung. Im Manifest umfasste sie im Rundumschlag die seit Niethammer voneinander getrennten reformpädagogischen Gruppierungen der Humanisten und der Philanthropen, die den Menschen bilden wollten, aber nicht die Veränderung der gesellschaftlichen Verhältnisse, vor allem der Macht- und der Eigentumsverhältnisse, anstrebten. Vier Jahre später lieferten Marx und Engels die Erklärung für dieses humanistische Interludium der frühen kommunistischen Bewegung. In ihrem Buch über Die großen Männer des Exils rechneten sie mit dem früheren linkshegelianischen Parteigänger Arnold Ruge ab, der sich einige Jahre zuvor „hinter den Humanismus“ gerettet habe, „jener Phrase, womit alle Konfusionarier in Deutschland von Reuchlin bis Herder ihre Verlegenheit bemäntelt haben“. Ruge habe sich bis heute mit „Verzweiflung an sie“ geklammert und behauptet, nun sei in Deutschland der Humanismus an der Tagesordnung.166 Offenbar hatte Ruge den Humanismusbegriff derartig zentral besetzt, dass die „Klassiker“ des Marxismus ihn fallen ließen, denn Ruge nahm ihn als eine idealistische und alternativ-religiöse, vor allem aber als nicht-materialistische Gesellschaftsalternative in Anspruch und verband sie mit pädagogischen und sozialistischen Aspekten. Ob Marx und Engels nur wegen Ruges Texten ganz 164
Von Baab, Humanismus [s. Anm. 1], 159, 191. Karl Marx u. Friedrich Engels: Manifest der Kommunistischen Partei. Grundsätze des Kommunismus. In: MEW [s. Anm. 160] 4 (81977), 461–493, hier 488. 166 Karl Marx u. Friedrich Engels: Die großen Männer des Exils (1852). In: MEW [s. Anm. 160] 8, 1960, 233–335, hier 278 [Hervorh. i.O.]; vgl. Baab, Humanismus [s. Anm. 1], 45. 165
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vom Humanismus abrückten, lässt sich nicht mit Sicherheit sagen, denn der Konflikt zwischen Marx und Ruge hatte sich schon 1843/44 angekündigt.167 Entscheidender linkshegelianischer Autor für die Humanismusdebatte dürfte Ruges und Marx’ zeitweiliger Weggefährte Moses Hess gewesen sein. Hess hatte den Humanismus 1844 als das „wesentlich deutsche Element“, ja als „Wesen“168 der deutschen Philosophie überhaupt bezeichnet, das dem „Sozialismus“ in Deutschland seit 1843 [!] „zugewachsen“ sei, während der praktische Humanismus aus dem französischen Sozialismus stamme. Seither seien die „besten Geister Deutschlands für den Sozialismus gewonnen“ worden.169 Wahren Humanismus hatte Hess als Theorie und Praxis übergreifende „Lehre vom Menschen“ und von der menschlichen Gesellschaft betrachtet. In Anknüpfung an Feuerbach betrachtete er die Theologie als Anthropologie. Aber über Feuerbach hinaus betonte er „das gesellschaftliche Wesen“ und den gemeinsamen Zweck verschiedener Individuen, daher sei der wahre Humanismus die „Lehre von der menschlichen Gesellschaftsordnung, d. h. Anthropologie ist Sozialismus“.170 Wie bei Marx werden die Prinzipien des Humanismus und der sozialen Gerechtigkeit im Kommunismus erfüllt.171 Inwiefern sich hierin Karl Hagens gleichzeitige Konzeption niedergeschlagen hat, wäre noch zu erforschen. Marx und Engels hatten Humanismus 1848 nicht nur als idealistisches Konzept zurückgewiesen. Sie hatten mit ihrer Abwendung die Bestimmung des Begriffs als historische Bewegung von der Reformationszeit bis zur Aufklärung und durch Ruge in die Zeitgenossenschaft zugleich anerkannt. Damit war die historiographische Konnotation, die Hagen vorgenommen hatte, mit der Abweisung durch Marx und Engels dennoch fortgeschrieben worden. Zugleich war die von Marx 1844 hergestellte Verbindung Atheismus-Kommunismus-Humanismus wieder fallen gelassen worden. Durch die Nennung von Reuchlin und Herder war hingegen klar gemacht, dass Humanismus mit klassischen Sprachen und mit Religion zu tun hatte und nichts anderes als eine 167 Vgl. Hubert Kiesewetter: Karl Marx und die Menschlichkeit. Berlin 2011, 33. Um 1845 verwendete auch Max Stirner an wenigen Stellen „Humanismus“ als Gegenbegriff zum Egoismus, als Komplementärbegriff zum Kommunismus, als Ersatzbegriff für die altgriechische Sophistik und als Gegenbegriff zu Reformation und Christentum (!). Vgl. Max Stirner: Der Einzige und sein Eigenthum. Leipzig 1845, 34, 413. 168 Vgl. Moses Hess: Über die sozialistische Bewegung in Deutschland (1844). In: Ders.: Philosophische und sozialistische Schriften 1837–1850. Hg. v. Auguste Cornu u. Wolfgang Mönke. Berlin (Ost) 1961, 284–307, hier 286. 169 Hess, Über die sozialistische Bewegung [s. Anm. 168], 304. 170 Hess, Über die sozialistische Bewegung [s. Anm. 168], 293; Zwi Rosen: Moses Hess (1812– 1875). In: Klassiker des Sozialismus. Bd. 1. Hg. v. Walter Euchner. München 1991, 121–138, hier 129. 171 Vgl. Hess, Über die sozialistische Bewegung [s. Anm. 168], 137. Hochkonjunktur hatte der Humanismus-Begriff bei Hess Mitte der 1840er Jahre. Vgl. auch Wolfgang Mönke: Neue Quellen zur Hess-Forschung. Mit Auszügen aus einem Tagebuch, aus Manuskripten und Briefen aus der Korrespondenz mit Marx, Engels, Weitling, Ewerbeck u. a. Berlin (Ost) 1964, 55 f. passim.
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religiöse Bewegung war, unter die für Marx und Engels letztlich der Idealismus fiel. Dies war nach derzeitigem Kenntnisstand nachhaltig. Der Humanismusbegriff verschwand 1848 für lange Zeit als gleichsam ‚feindlich‘ annektierter Begriff aus dem Wortschatz der sozialistisch-kommunistischen Literatur. Erst in der Volksfrontbewegung der 1930er Jahre scheint er wieder positiv konnotiert aufgetaucht zu sein,172 bevor er in der DDR im schillernden Vokabularium des „Kirchenkampfes“ – also dem christlichen Humanismus entgegengesetzt – oder als Kompromissterminus zur hegemonialen Beanspruchung eines gemeinsamen Nenners zwischen Marxisten und Christen eingesetzt wurde.173 2.8 Humanismus als Loge, Religion und unsichtbare Kirche: Ruge Im 19. Jahrhundert spielte der Humanismus terminologisch und inhaltlich bei den marxistischen Autoren keine Rolle mehr, anders als später etwa in der DDR. Aber die Spur, die sich seit der paradigmatischen Verfestigung des Humanismus in der Pädagogik, in der Historiographie, Philosophie, Theologie, mithin: in der Kulturgeschichte verfolgen lässt, kommt weder an Karl Hagen vorbei noch an Arnold Ruge, einem weiteren Junghegelianer, der wie Hagen als Abgeordneter in der Frankfurter Nationalversammlung saß, als Vertreter der radikaldemokratischen Reformpartei Deutschlands und Gesandter Breslaus. Er war schon seit 1826 von Festungshaft betroffen gewesen und hatte in den 1840er Jahren längere Zeit im Exil verbracht. Der habilitierte Philosoph Ruge hatte auch bei Schleiermacher studiert. Diese Prägung ist in seinen Schriften unübersehbar. Er war in Halle Lehrer am Pädagogium der Franckeschen Stiftungen, er pflegte einen langjährigen Briefwechsel mit Feuerbach und war zusammen mit Marx Herausgeber in Paris. In Halle und, als sie verboten wurden, in Dresden brachte er die Hallischen Jahrbücher für deutsche Wissenschaft und Kunst heraus, an denen neben Bruno Bauer auch David Friedrich Strauß mitarbeitete.174 172
Vgl. Walter Rüegg: Art. „Humanismus II. Philosophisch“. In: RGG3 3, 1959, 479–482, hier
480. 173 Hartmut von Hentig berichtet von einer Humanismustagung in Wittenberg 1961, bei der Humanismus „nicht ein einziges Mal definiert und der Humanismus des jungen Marx“ von den anwesenden DDR-Wissenschaftlern nicht erwähnt worden sei, obwohl er offizieller Parallelbegriff der SED zum Sozialismus war. Ausgerechnet ein Westdeutscher habe auf den Humanismus bei Marx hingewiesen, vgl. Hartmut von Hentig: Humanismus und die DDR – Von der Ohnmacht des Namens. In: FH 16, 1961, 81–92, hier 85. Das ist eine bemerkenswerte Feststellung angesichts der seit Oktober 1960 hochkonjunkturellen Benutzung des Humanismusbegriffs durch die Staatsund Parteiführung der DDR. Am 04.10.1960 hatte Walter Ulbricht in einer Programmatischen Erklärung behauptet: „Das Christentum und die humanistischen Ziele des Sozialismus sind keine Gegensätze“. Vgl. Marxisten und Christen wirken gemeinsam für Frieden und Humanismus. Hg. v. Staatsrat der Deutschen Demokratischen Republik. Berlin (Ost) 1964, 85 f. 174 Zu Ruge vgl. die ältere Arbeit von Margarete Pohlmann: Der Humanismus im 19. Jahrhun-
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Der Humanismus gewann durch Ruge erneut eine pointierte Gewichtung, die neue Fronten schuf. In den Hallischen Jahrbüchern, die zwischen 1838 und 1841 erschienen, taucht der Begriff „Humanismus“ noch nicht prominent auf.175 In Ruges eigenen umfangreichen Texten176 und in den Kritiken an Rankes Reformationsgeschichte177 ist der Humanismusbegriff in den Jahrbüchern nicht vorhanden. Selbst in einem umfangreichen Aufsatz über die nationale Aufgabe der Übersetzung italienischer Klassiker war keine Rede vom Humanismus.178 Vielleicht haben erst das zwischen 1841 und 1844 dargelegte Humanismuskonzept Karl Hagens und seine Lektüre in Vormärzkreisen zur Rezeption durch Ruge geführt. Denn bereits 1846 verteidigte Ruge seine Verbindung von feuerbachscher Christentumskritik mit sozialistischer Programmatik als „Humanismus“, nachdem eine entsprechende Schrift vom Preußischen Zensurgericht verboten worden war.179 Ruges programmatischer Text von 1849 Die Religion unserer Zeit war vor allem von Kirchenkritik und feuerbachscher Religionskritik geprägt und zugleich gegen Enthusiasten, Fanatiker und Atheisten gerichtet. Er hielt jedoch streng am Religionsbegriff fest, weil er in der Religion den „Herzschlag der sittlichen Welt“ erblickte.180 Allerdings bezeichnete er diese Religion hier nicht als Humanismus. Ruge unterschied wie Hagen zwischen Protestantismus und Geist der Reformation, er attackierte das „Papstthum“ und die „luthersche Dogmatik“, die beide zugleich die „Idee des Christenthums“ verdorben hätten. Dagegen entwarf er eine Linie von der „Religiosität der Reformation“ über den „ethische[n] Socialismus der Revolution“, den „Ernst der Aufklärung“ und Philosophie bis zum Sozialismus. Sie seien „wirkliche Fortbildungen des christlichen Humanitätsprincips“,181 in dessen Zentrum der „Gottmensch“182 stehe. Diese „humane Religion“,183 die den Gottesgedanken
dert – Eine neue Religion? Arnold Ruges Auseinandersetzung mit dem Christentum. Frankfurt/ Main [u. a.] 1979, sowie Stephan Walter: Demokratisches Denken zwischen Hegel und Marx. Die politische Philosophie Arnold Ruges. Eine Studie zur Geschichte der Demokratie in Deutschland. Düsseldorf 1995; Baab, Humanismus [s. Anm. 1], 38–42. 175 Anders Baab, Humanismus [vgl. Anm. 1], 39, aber ohne Stellenangabe. 176 Vgl. z. B. Arnold Ruge: Der protestantische Absolutismus und seine Entwicklung. In: Hallische Jahrbücher für deutsche Wissenschaft und Kunst 4, 1841, 481 f., 485–487, 489 f., 493–495, 509–511, 513–515, 517–519, 521 f., 525 f. 177 Vgl. Hallische Jahrbücher für deutsche Wissenschaft und Kunst 3, 1840, 144 (von . . .r); 1697–1704 (von Klüpfel), 1945–1966. 178 Vgl. Karl Stahr in: Hallische Jahrbücher für deutsche Wissenschaft und Kunst 4, 1841, 11 f., 14–16, 19 f., 23 f., 27 f. 179 Arnold Ruge: Offene Briefe zur Verteidigung des Humanismus. In: Die Epigonen 3, 1846, 244–276. Es ging um Ruges zweibändige Schrift: Zwei Jahre in Paris. Studien und Erinnerungen. Leipzig 1846. 180 Arnold Ruge: Die Religion unserer Zeit. Leipzig 1849, 10. 181 Ruge, Religion [s. Anm. 180], 13 f. 182 Ruge, Religion [s. Anm. 180], 55. 183 Ruge, Religion [s. Anm. 180], 65, 74.
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im Menschen erfüllt, aber zugleich auch aufgehoben sah, könnte man als einen konsequent anthropozentrierten Protestantismus oder als eine säkularisierte Inkarnationschristologie bezeichnen, sofern die Transzendenz des Gottesgedankens für Ruge im Wesen des Menschen erfüllt und vollendet ist. Sein Ziel, ein „völlig verweltlichter Protestantismus“, „Cultus der ‚Theophilanthropen‘“ oder der „Göttin der Vernunft“, sei aber in der Revolution am „Deismus der Terroristen“ gescheitert.184 Ruge konstatierte zwar einen Bruch zwischen Aufklärung und Christentum, der wegen des Gegensatzes zwischen dem Wesen der geoffenbarten Religion und dem Wesen des Menschen entstanden sei.185 Nirgendwo knüpfte er jedoch an die Renaissance an. Er sah keine Differenz zwischen Reformation und „Humanismus“, sondern differenzierte zwischen Reformation und Protestantismus, indem er die Religion seiner Zeit als Weiterführung des christlichen Humanitätsgedankens proklamierte. Offensichtlich erst nach der Erfahrung der Restauration in Deutschland und des Falls der französischen Republik erkannte Ruge einen tiefergehenden Bruch. Seine Programmschrift Die Loge des Humanismus von 1852 ging von der gesamteuropäischen Tyrannei, der Unterjochung Europas, ja vom Reich des Bösen und vom asiatischen Despotismus aus.186 In dieser Situation proklamierte Ruge die „Loge des Humanismus“ als „unsichtbare Kirche des Menschenthums“, die er durchaus als nationale Aufgabe verstand, nämlich als Aufgabe der „Rettung aller Eroberungen des deutschen Geistes“ und als missionarische Pflicht der Deutschen als „Retter des heiligen Feuers der geistigen Freiheit“.187 Ziel dieser offenen Verschwörung zu einer „freien unsichtbaren unzerstörbaren Gemeinde des Menschenthums“ ist für Ruge die „Verwirklichung des Christenthums“,188 als deren Bestandteil er nun nach einem Dreischritt (Kant, Fichte, Hegel) den Humanismus als Verwirklichung der hegelschen Philosophie durch „practische Freiheit“ ansah: in der Aufhebung der Widersprüche zwischen dem (von Kant erkannten) freien Denken und der unfreien Menschenwelt bis zur vollen Verwirklichung der Freiheit. Diese Revolution geschehe in der „social-demokratischen Republik und in der freien Gemeinde“.189 Sozialismus und Humanismus sind für Ruge in ihrer konsequenten Immanenzbezogenheit aber religiös und nicht bloß philosophische Spekulation; er verstand sie als „Gemüthsbewegung, sich dem höchsten Wesen, dem wahren Wesen zu nähern“.190 Insoweit folgte Ruge Schleiermacher. Hier blieb er für 184 185 186 187 188 189 190
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Ruge, Religion [s. Anm. 180], 71. Ruge, Religion [s. Anm. 180], 69. Vgl. Arnold Ruge: Die Loge des Humanismus. O. O. 1852, 3–5. Ruge, Loge [s. Anm. 186], 9. Ruge, Loge [s. Anm. 186], 10. Ruge, Loge [s. Anm. 186], 13–19, Zitate 18. Ruge, Loge [s. Anm. 186], 19.
Marx und die Materialisten Theologe, obwohl das höchste Wesen für Ruge keine transzendente Dimension besitzt.191 Denn je menschlicher der Gott einer Religion sei, desto wahrer sei er.192 Im Zentrum des Christentums stehe der Gottmensch Christus. Aber sobald man das Wesen des Christentums recht erkannt habe, falle der ganze christliche Himmel auf die Erde. Dann entstehe eine neue „Religion, die humane“, in der es nicht mehr jenseitige Götter, sondern nur noch den lebendigen Menschen gebe.193 Der transzendente Gott wird selbst zum Diesseits, allerdings nicht im Sinne einer Inkarnation, sondern gewissermaßen religionsgeschichtlich aufgefasst, sofern Ruge die neue Religion als Ergebnis der Interpretation des ‚alten‘ Christentums auffasst und in diesem Sinne als Weltgeisttätigkeit, aber nicht als Christologie. Ruges Humanismus war damit erstmals ein eigenes gesellschaftspolitisches Programm. Er verstand es als Fortführung, Vollendung und Erfüllung des christlichen Humanitätsgedankens, der mit dem Gottmenschen Christus den Menschen ins Zentrum gerückt hatte. Damit hatte Ruge seinen Humanismus gegen die Kirche, nicht aber gegen das Christentum an sich gerichtet; Humanismus erscheint als antikirchliches, aber nicht als antichristliches Programm. Zweitens integrierte Ruge bisherige pädagogische Humanismuskonzepte scheinbar neu, offensichtlich unter Bezugnahme auf Hagens Bestimmungen. Neben der Lösung der sozialen Frage forderte er vor allem die Errichtung von Schulen und Akademien des Humanismus, um die „wahre Entwicklung“ des Menschen zu konstituieren.194 Dies solle aber nicht durch das Sprachstudium geschehen, sondern durch die „Philosophie und die Religion unserer Zeit“, die ein Humanist durcharbeiten müsse.195 Die Jugend solle zur Selbstbestimmung196 erzogen werden, denn der freie Geist ist „nothwendig anarchisch“197 – eine solche Abkoppelung der Potenzen des Bewusstseins vom Sein und die Erziehungsfähigkeit des Menschen zur Selbstbestimmung war für Marx und Engels unvorstellbar. Ruge wollte zwar die soziale Frage lösen, aber nicht das Eigentum und nicht die Familie aufgeben, wie Marx und Engels es gefordert hatten.198 In seiner Logenschrift, die sich streckenweise wie eine Entgegnung auf das Kommunistische Manifest liest,199 meinte Ruge, Arbeit, 191 Vgl. dazu auch Ruges Verteidigung u. a. gegenüber Karl Heinzen als Spätfolge des sogenannten Zürcher Atheismusstreits 1845. In: Arnold Ruge: Reden über Religion ihr Entstehen und Vergehen an die Gebildeten unter ihren Verehrern. Berlin 21869 [1869], 89–119. 192 Vgl. Ruge, Loge [s. Anm. 186], 19. 193 Vgl. Ruge, Loge [s. Anm. 186], 25. 194 Vgl. Ruge, Loge [s. Anm. 186], 30 f. 195 Ruge, Loge [s. Anm. 186], 10. 196 Vgl. Ruge, Loge [s. Anm. 186], 33. 197 Ruge, Loge [s. Anm. 186], 31. 198 Vgl. Ruge, Loge [s. Anm. 186], 40–45; Marx/Engels, Manifest [s. Anm. 165], 34 f., 38 f., 42, 70. 199 Vgl. etwa die Schlusspassage, die sich gegen Marx’ und Engels Eröffnungsmetapher vom „Gespenst“, das umgeht in Europa, zu richten scheint. Bei Ruge hat das Volk eine Freiheit kennen-
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Eigentum und Unternehmung in eine Einheit bringen zu können, um eine Einheit von Kommunismus und Egoismus herbeizuführen.200 Sozialismus war für ihn „Idealisierung der ganzen Verkehrswelt“, er entsprach der demokratischen Republik und der „Religion des Humanismus“.201 Ruges Humanismus war demnach ein gesellschaftliches Programm, das durch seine Verbindung mit Christentum und Religion gekennzeichnet ist. Es fällt jedoch ins Auge, dass er zwar an manchen Stellen auf den antiken Geist und vor allem auf das Griechentum Bezug nahm, nirgendwo aber auf einen vermeintlichen Humanismus in der Frühen Neuzeit. Ferner knüpfte er ausdrücklich immer wieder an die Aufklärung als eine theologiekritische Bewegung und Philosophie an,202 nirgendwo jedoch an einen eigenen Geist, der sich mit dem reformatorischen Geist verbunden und ihm dann konträr gegenüber gestanden hätte. In seinen Reden über Religion ihr Entstehen und Vergehen an die Gebildeten unter ihren Verehrern vollzog Ruge 1869 einen Bruch mit Schleiermacher und jeder traditionellen Theologie unter dem Motto: „Statt den Schleiermacher wollen wir lieber den Schleierlüfter spielen.“203 Schon in der Loge des Humanismus hatte er Theologie als Mythologie qualifiziert,204 nun rangierte sie als höchste und letzte Form des Aberglaubens.205 Aber an seinem Kernthema, der Humanisierung von Religion als einem Projekt der Verwirklichung des Christentums, hielt er auch hier fest. Deutlicher wies er die Himmelfahrten Christi und Buddhas als Rückfälle hinter die Humanisierungsleistung beider Religionen gegenüber der anthropomorphen Götterwelt des Olymp zurück.206 Dass Christus auch Vater gewesen sein solle, war für Ruge Erweis eines nur halben Humanismus.207 So trennte er sich von der Figur des Gottmenschen, die er 1849 und 1852 noch positiv als Basis für einen religiösen Anthropozentrismus gesehen hatte. Aber er erkannte eine Tradition im Christentum, die sich von dieser Priesterspekulation befreit und seit 300 Jahren allerdings nur unvollkommen gewirkt habe208 – das ist übrigens der einzige, sehr indirekte Hinweis auf einen seit der Reformationszeit über die Aufklärung wirkenden Geist des ‚Humanismus‘. Mit seiner Forderung, an die französische Revolution anzu-
gelernt, deren Geist keine Sklaverei erbauen könne; dieser Geist sei „früher ein verkleideter Gast“ gewesen. „Und wer ihn beherbergte, war geächtet. Er ist jetzt wie ein Gewitter durch Europa gegangen, er war der Herr der ganzen Athmosphäre und seine Blitze fielen bändigend auf die Sclavenhalter.“ (Ruge, Loge [s. Anm. 186], 46) 200 Vgl. Ruge, Loge [s. Anm. 186], 42. 201 Ruge, Loge [s. Anm. 186], 45 f. 202 Vgl. Ruge, Loge [s. Anm. 186], 9, 11 f., 17. 203 Ruge, Reden [s. Anm. 191], Titelblatt [Hervorhebung im Original]. 204 Vgl. Ruge, Loge [s. Anm. 186], 34. 205 Vgl. Ruge, Reden [s. Anm. 191], 3. 206 Vgl. Ruge, Reden [s. Anm. 191], 29. 207 Vgl. Ruge, Reden [s. Anm. 191], 31. 208 Vgl. Ruge, Reden [s. Anm. 191], 36.
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knüpfen, die durch ihr Motto Egalité, Fraternité und Liberté mit dem ethischen Humanismus des Christentums Ernst gemacht hätte,209 war erneut nur die Feststellung verbunden, dem Christentum wohnten der „Humanismus und die Philosophie der Griechen“ inne.210 Es kann daher nur bei einem rein phänomenologischen Vergleich zwischen Ruges Humanismus und dem Renaissancehumanismus bleiben.211 Für eine historische Untersuchung ist ein solcher Vergleich jedoch nicht relevant. Beispielsweise ist Ruges These, dass das höchste Wesen der denkende Mensch sei,212 von Erasmus oder Marsilio Ficino nicht einmal ansatzweise vertreten worden. Das trifft auch auf seine Zurückweisung von Schleiermachers Verortung des religiösen Gefühls im Gemüt zu. Denn der vermeintliche Trost der Religion ist ihm lediglich die Vermeidung von Wirklichkeit und die Erzeugung von Wahn.213 Durch die Abhängigkeit von der Natur sei dem Menschen ein „Naturgott“ gelehrt worden. Schleiermacher mache aus der Abhängigkeit von der Natur aber den „Schleier ‚Abhängigkeitsgefühl‘ – von irgend Etwas, denn sonst hätte ja unser romantischer Freund den Naturgott herausgebracht, den er aber auf der Kanzel unverschleiert nicht brauchen kann“.214 Aus diesem Grund betrachtet Ruge Humanismus nicht mehr als im Gemüt empfundene Bewegung, er fordert dessen Vereinigung mit dem Naturalismus.215 Darin erblickt er nun das Ziel von Religion. Religion wird nicht liquidiert, wie es seine materialistischen Kombattanten fordern. Religion soll den Himmel auf die Erde zurückholen und dem Menschen zu seinem wahren Wesen helfen.216 Der „Cultus des Himmlischen“ müsse ersetzt werden durch eine „Cultur der höchsten Güter“: des denkenden Geistes, der Freiheit, des Prinzips des Guten. Gegen den möglichen Einwand, dies sei nicht Religion und ersetze auch nicht das religiöse Gefühl, konstatierte Ruge lapidar, dies sei längst „unsere gegenwärtige Religion“.217 Ruge hat sein Humanismusverständnis als idealistische, sozialistische und zugleich demokratische, wie er selbst mehrfach sagt „social-demokratische“218 Alternative zum marxistischen Programm konzipiert. Er versteht sich selbst als religiöser Vollender des Christentums und als Gegner des Staatsprotestan209
Vgl. Ruge, Reden [s. Anm. 191], 39. Ruge, Reden [s. Anm. 191], 50. 211 Einen solchen rein phänomenologischen Vergleich ohne den Versuch rezeptioneller Absicherung, aber unter der Überschrift „Berührungspunkte und Unterschiede zwischen dem Renaissancehumanismus, dem ‚Neuhumanismus‘ und dem Denken Ruges“, nimmt vor: Pohlmann, Humanismus [s. Anm. 174], 141–144. 212 Vgl. Ruge, Reden [s. Anm. 191], 147. 213 Vgl. Ruge, Reden [s. Anm. 191], 68 f., 65. 214 Ruge, Reden [s. Anm. 191], 80. 215 Vgl. Ruge, Reden [s. Anm. 191], 91. 216 Ruge, Reden [s. Anm. 191], 92–94. 217 Ruge, Reden [s. Anm. 191], 100. 218 Ruge, Loge [s. Anm. 186], 19 passim. 210
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tismus, dessen „Cultusminister“ ihm „reges sacrificuli“ waren.219 Humanismus ist bei Ruge aber nicht ein von jeher entweder der Reformation oder dem Christentum entgegen- oder gegenüberstehender Geist, der historiographisch greifbar wäre. Sein Humanismus ist der Gipfel eines teleologischen Weltprozesses, in dem Religion, auch und besonders die theophilanthropische christliche Religion, ein notwendiges und weiter zu transformierendes Segment ist. Ob und wenn ja: wie Arnold Ruge das Konzept Niethammers220 und seiner pädagogischen Nachfolger überhaupt rezipiert hat, wäre noch zu untersuchen. Zwar hat er mit einiger Sicherheit den Humanismusbegriff schon 1842 namentlich in Verbindung mit Feuerbach verwendet, aber mit erheblichen Modifikationen. Weder das Thema Sprach- und Sprachenbildung taucht in Ruges Logenschrift auf, noch die von Niethammer hervorgehobene, mit Jenseitigkeit verbundene Intelligibilität des Menschen; ein Jenseits spielt für Ruge in der Hochzeit des internationalen Spiritismus221 keine Rolle: Der Himmel muss zur Erde herab,222 unsterblich ist nicht mehr der Mensch, sondern der „edle Geist“, der der Menschheit innewohnt.223 Das könnte man als Hegelianisierung und Universalisierung der Unsterblichkeitsfigur betrachten. Der progressus infinitus vollzieht sich bei Kant und vielen Aufklärern post mortem und wird durch die Grenze der Sterblichkeit des Körpers nicht unterbrochen.224 Dieser progressus ist bei Ruge ein immanenter Prozess geworden, an dessen Ende gleichsam die Inkarnation des gesamten Gedankens von der Inkarnation Gottes in das einzige denkende Wesen steht. Und damit wäre auch Religion zu ihrem Ziel gekommen: in einem säkularisierten, einstmals christlichen Humanismus als gesellschaftliches Reformprogramm. Ruges Position in den Debatten des 19. Jahrhunderts erscheint auf den ersten Blick peripher. Als Negativfolie für die Abwendung des marxistischen Sozialismus vom Humanismus dürfte er eine auslösende Rolle gespielt haben. 2.9 Unterschobener Humanismus: Feuerbach Angesichts der unübersehbaren und vielfältigen Bezugnahmen Ruges auf Ludwig Feuerbach ist es auffällig, dass Feuerbach im Gegensatz zu seinem Briefpartner Ruge den Begriff des Humanismus zunächst nicht, dafür aber 219
Ruge, Reden [s. Anm. 191], 36. Wolf, Art. „Humanismus“ [s. Anm. 12], 552, bringt allerdings keinen Beleg für die Lektüre Niethammers. Ruge notierte jedoch bereits 1842, dass „zu unserer Zeit selbst der ungeberdigste Christ so sehr von Humanismus infiziert“ sei, „daß wir nicht umhin können, dies anzuerkennen“ (Arnold Ruge: Eine Wendung der deutschen Philosophie (1842). In: Saemmtliche Werke. Bd. 10. Mannheim 21848, 434). 221 Vgl. insgesamt Sawicki, Leben [s. Anm. 44]. 222 Vgl. Ruge, Loge [s. Anm. 186], 25. 223 Vgl. Ruge, Loge [s. Anm. 186], 8. 224 Vgl. Stengel, Aufklärung [s. Anm. 28], 666–673, 685 f., 689–695, 704–706, 712. 220
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den der Humanität verwendete, und zwar vorwiegend zusammen mit gleichen Referenten wie Kant und Niethammer: als Gegensatz zur Bestialität,225 als abstrakten Gegensatz zur körperlichen Seite des Menschen,226 als Humanität gegenüber den griechischen Göttern,227 als menschliches Mitgefühl und als Zartheit228 sowie als Differenzmerkmal gegenüber dem Tier und gleichgesetzt mit dem religiösen Glauben, zu dem das Tier nicht imstande sei.229 Auch während der Debatten um Ruge und die Neuformung des Humanismus-Begriffs im Vormärz nimmt „Humanismus“ erstaunlicherweise keinen zentralen Platz bei Feuerbach ein – im Gegensatz zu manchen Behauptungen in der Forschungsliteratur.230 In den Ergänzungen zum Wesen des Christentums wird Humanismus mit „Rationalismus“ parallelisiert und zur Bezeichnung einer kritischen und liberalen Bibelauslegung231 verwendet. In den Grundsätzen der Philosophie der Zukunft (1843) erscheint er neben „Materialismus, Empirismus, Realismus“ als „Vergötterung des Wirklichen, des materiell Existirenden“, als „Negation der Theologie“ im klassischen Sinne und wird als „Verwirklichung Gottes“ und unter dem Pantheismus als „theologische[r] Atheismus“ oder „Materialismus“ rubriziert.232 Es scheint so, als sei Feuerbachs Umdeutung der Theologie zur Anthropologie nicht von ihm selbst, sondern in seinem Umfeld und dann von Arnold Ruge mit dem Terminus Humanismus versehen worden. Damit wäre Feuerbachs Beitrag zur Humanismusdebatte lediglich die Wirkungsgeschichte seiner Rezipienten. 2.10 Noch einmal Reformpädagogik und Unsterblichkeit: Von Feuchtersleben Nicht nur als politisches und antikirchliches Programm wurde „Humanismus“ von den Zeitgenossen rezipiert. Humanismen wurden in bloßer Abgrenzung und Aufnahme anderer Besetzungen des Signifikanten Humanismus generiert. Humanismus kann deshalb mit gutem Grund als „leerer Signifikant“ bezeichnet werden. Denn in der Frage seiner Grundfüllung bestand 225 Vgl. Ludwig Feuerbach: Vorlesungen über das Wesen der Religion. In: Ders.: Sämtliche Werke. Bd. 8. Stuttgart 21960, 268. 226 Vgl. Ludwig Feuerbach: Geschichte der Neueren Philosophie von Bacon von Verulam bis Spinoza. In: Ders., Werke [s. Anm. 225] 3, 1959, 125 f. 227 Vgl. Ludwig Feuerbach: Theogonie nach den Quellen des classischen, hebräischen und christlichen Alterthums. In: Ders., Werke [s. Anm. 225] 9, 1960, 117 f. 228 Vgl. Ludwig Feuerbach: Der Eudämonismus. In: Ders., Werke [s. Anm. 225] 10, 1960, 286. 229 Vgl. Ludwig Feuerbach: Das Wesen des Christentums. In: Ders., Werke [s. Anm. 225] 6, 1960, 306. 230 Vgl. z. B. Wolf, Art. „Humanismus“ [s. Anm. 12], 552. Der Begriff taucht im Gesamtwerk fünfmal auf, das wäre Baab, Humanismus [s. Anm. 1], 44, hinzuzufügen. 231 Vgl. Ludwig Feuerbach: E. C. J. Lützelbergers Schriften zur Bibelkritik [1840]. In: Ders.: Sämmtliche Werke. Hg. v. Wilhelm Bolin u. Friedrich Jodl. Bd. 7. Stuttgart 1903, 182. 232 Vgl. Ludwig Feuerbach: Grundsätze der Philosophie der Zukunft. In: Ders., Sämmtliche Werke [s. Anm. 231] 2, 1904, 264 f. Daneben taucht „Humanismus“ nur noch in den nachgelassenen Aphorismen auf, vgl. ebd., Bd. 10, 1911, 300.
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kein Konsens, seine Bedeutung war gerade Gegenstand der Debatten. Und die jeweilige Füllung des Signifikanten Humanismus hatte unübersehbare performative Folgen, insbesondere natürlich aufgrund der politischen Dimensionen dieser Füllungsvorgänge.233 In die Wiener Akademie der Wissenschaften war jedenfalls Mitte des 19. Jahrhunderts ein Humanismusbegriff eingebracht worden, der noch vierzig Jahre nach Niethammer eng an einen pädagogisch affizierten Humanismus anknüpfte, ohne auf den ersten Blick auf irgendeine Weise von den aktuellen Debatten berührt zu sein. Der renommierte Philosoph, Psychiater und Psychologe, Autor des Bestsellers Diätetik der Seele,234 Ernst von Feuchtersleben, brachte den Humanismus 1849 erneut gegenüber dem Realismus als „Bildungsprincip“ vor und bezog nun – das war aber neu gegenüber allen anderen im engeren Sinne pädagogischen Ansätzen – erstmals die von Karl Hagen eingebrachte römische Kultur der literae humaniores mit ein, die unter den Medicis wiedergeboren worden sei, als Plato und Aristoteles ihre „Gräber“ verließen.235 Zugleich nannte von Feuchtersleben wie Niethammer den Philanthropinismus Basedows und anderer, die unter englischem Einfluss die Abwendung von der toten Vergangenheit zur modernen Zukunft betrieben hätten.236 Humanismus zielt wie bei Niethammer ferner auf die Vergeistigung des inneren Lebens des Menschen ab,237 der Mitglied zweier Welten sei. Angesichts seines Doppelbedürfnisses müsse es auch eine Doppelrichtung der Bildung geben: ihn für seine „irdische Brauchbarkeit“ und zugleich für seine „ewige Bestimmung zu befähigen“.238 Der Unsterblichkeitsaspekt war explizit unterstrichen worden, auch gegenüber dem englisch geprägten Materialismus und dem französischen Spiritualismus239 – eine deutliche Anspielung auf die aktuellen spiritistisch-okkultistischen Debatten um 1848.240 Und Humanismus und Realismus müssten vereinigt und versöhnt werden.241 Mit dieser anthropologisch fundierten Pädagogik führte von Feuchtersleben nun aber die historische Epochenbezeichnung klar zusammen: die im Florenz der Medici wiedergeborene römische und griechische Philosophie, die
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Vgl. zu dieser Theorie knapp: Ernesto Laclau: Was haben leere Signifikanten mit Politik zu tun? In: Mesotes 4, 1994, 157–165. 234 Vgl. Ernst von Feuchtersleben: Zur Diätetik der Seele. Wien 1838 [viele Aufl. bis 2012]. 235 Ernst von Feuchtersleben: Über die Frage vom Humanismus und Realismus als Bildungsprincip. In: Sitzungsberichte der Wiener Akademie der Wissenschaften. Sitzungsbericht der philosophischen historischen Classe, 1849, 3. Heft, 222–244, hier 225 (ND in: Ernst von Feuchtersleben: Sämtliche Werke und Briefe. Kritische Ausgabe. Bd. 3. Bearb. v. Horst Pfeiffle, hg. v. Hedwig Heger. Wien 2006, 93–110). 236 Vgl. Feuchtersleben, Frage [s. Anm. 235], 226 f. 237 Vgl. Feuchtersleben, Frage [s. Anm. 235], 232. 238 Feuchtersleben, Frage [s. Anm. 235], 241. 239 Vgl. Feuchtersleben, Frage [s. Anm. 235], 233. 240 Vgl. Cyranka, 1848 [s. Anm. 161]. 241 Vgl. Feuchtersleben, Frage [s. Anm. 235], 242.
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sich im Mittelalter nur in den Bibliotheken versteckt gehalten habe.242 Deren Verhältnis zu Religion und Christentum ist – wie bei Niethammer – kein eigenes Thema. Intelligibilität und Jenseitsbestimmung machen die geistige, zu bildende Seite des Menschen aus, die seiner irdischen Brauchbarkeit – dem Beruf gegenübersteht. Von Feuchtersleben scheint damit der erste Autor zu sein, der als Pädagoge Wachlers und Hagens historiographische Epochenbezeichnung mit dem Humanismusbegriff zusammenführte. Gegenüber Ruge und anderen sozialismusaffinen Zeitgenossen verstand er unter Humanismus aber gerade nicht die Überwindung des Christentums. Dafür machte er Niethammers Jenseitsvorstellungen im Blick auf die spiritistischen Debatten seiner Zeit stark. Von Feuchterslebens Inanspruchnahme des Signifikanten Humanismus dürfte gegen die junghegelianischen Okkupationen in den 1840er Jahren gerichtet gewesen sein. 2.11 Antikatholischer Humanismus Offensichtlich gab es nur vereinzelte Versuche, eine Synthese von römischkatholischem Christentum und Humanismus herzustellen. Der an einer Synthese von Katholizismus und Moderne arbeitende katholische Theologe Martin Deutinger243 legte parallel zu Marx’ und Engels Abweisung und zu Ruges Okkupation des Humanismus einen solchen bildungstheoretischen Entwurf vor. Der eigentliche innere Mensch sei von Gott als dem Urbild geschaffen worden, sein inneres Leben sei der Stoff seiner wahren Bildung.244 Die von Niethammer und dann auch von von Feuchtersleben betonte intelligible Seite des Menschen wird über deren Ausführungen hinaus deutlich christianisiert. Denn das höhere Ziel des Menschen wird in einer Wesenheit jenseits seiner selbst und jenseits der Natur gesehen. Die Entwicklung der menschlichen Kräfte sei durch die Synergie der göttlichen Liebe bedingt.245 Durch den Heiligen Geist wollten Vater und Sohn ihr Ebenbild im Menschen vollenden.246 Natürliche Bildung und Religion werden von Deutinger zusammengeschaut, wahre Bildung wird nur dort erkannt, wo Religion und natürliche Entwick-
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Feuchtersleben, Frage [s. Anm. 235], 225. Vgl. etwa Martin Deutinger: Das Princip der neuern Philosophie und die christliche Wissenschaft. Regensburg 1857 (ND Frankfurt/Main 1967). Zu Deutinger vgl. zuletzt Dominik BertrandPfaff: Martin Deutinger – Denken zwischen Kunst und Ethos. Ethisch-ästhetische Studien zu seinem Werk. Wien [u. a.] 2013. 244 Martin Deutinger: Christenthum und Humanismus. Erster Artikel. Schein und Wesen der menschlichen Bildung. In: Historisch-politische Blätter für das katholische Deutschland 31, 1853, 133–152, hier 145. 245 Vgl. Deutinger, Christenthum [s. Anm. 243], 147 f. 246 Vgl. Deutinger, Christenthum [s. Anm. 243], 151. 243
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lung harmonieren. Die Bildung des Menschen geschieht nach göttlicher und natürlicher Ordnung.247 Eine solche römisch-katholische Christianisierung des Humanismus scheint aber eine Ausnahme gewesen zu sein, denn genau die umgekehrte Frontziehung fällt eher ins Auge. Möglicherweise lag es an Ruges und Karl Hagens Humanismus-Deutungen, dass Herders Conversationslexicon nur wenige Jahre später einen klar antikirchlichen und antichristlichen Humanismusbegriff präsentierte. Reuchlin figuriert hier als Held des „kirchenfeindlichen Humanismus und der demselben anhängenden revolutionären Elemente“ – wenn auch wider Willen.248 „Humanität“ sei nichts anderes als der „Wahn, als ob der Mensch mit Hilfe der Philosophie sich von allen Unterschieden der Nationalität u. besonders der Religion zu emancipiren und alsdann im Menschen den Menschen zu lieben vermöge“.249 Nach der Eroberung Lateinamerikas hätten die Spanier durch den Einfluss der [römisch-katholischen, d.Vf.] Kirche die Indianer „am menschlichsten behandelt und am meisten civilisirt“ – im Gegensatz zu den [protestantischen, d.Vf.] Holländern und Angelsachsen aus Nordamerika und Europa, die die Indianer vernichtet hätten und immer noch vernichteten – „trotz alles Humanismus u. Methodismus“.250 In diesem wohl wichtigsten deutschen römisch-katholisch geprägten Lexikon wird Humanismus als eine mit den Protestanten verbundene antikatholische Bewegung positioniert, die seit dem 16. Jahrhundert aktiv ist und das Altertum mit Sprachstudium wiederentdeckt hat. Möglicherweise leuchten hier Hagens Definition der humanistischen und mit der Reformation partiell zusammengehenden „Opposition“ gegen Rom und Ruges immerhin reformatorisches Humanismusderivat auf. 2.12 Humanismus als Geist des Altertums gegen Reformation und Christentum: Voigt Die antikatholisch-antikirchliche und historiographische Füllung des Humanismus fand für das 19. Jahrhundert bei dem von Theodor Mommsen beeinflussten Münchener, Rostocker und Leipziger Historiker Georg Voigt ihren Höhepunkt. Voigt wird allerdings in der Literatur oft fälschlicherweise auch als der erste betrachtet, der Humanismus in der Kombination von Geschichts-, Geistes- und Religionsbegriff bestimmt habe.251 Seine 1859 in erster, 1880 und 1881 in zweiter und 1893 postum in dritter Auflage erschienene Wiederbelebung des classischen Alterthums oder das erste Jahrhundert des Huma247
Vgl. Deutinger, Christenthum [s. Anm. 243], 152. Art. „Reuchlin“. In: Herders Conversationslexicon 4, 1856, 714. 249 Art. „Humanität“. In: Herders Conversationslexicon 3, 1855, 365. 250 Art. „Amerika“. In: Herders Conversationslexicon 1, 1854, 151–158, hier 157. 251 So etwa bei Walther, Humanismus [s. Anm. 3], 666. Zu Voigt vgl. Paul F. Grendler: Georg Voigt. Historian of Humanism. In: Humanism and Creativity in the Renaissance. Essays in Honor of Ronald G. Witt. Ed. by Christopher S. Celenza and Kenneth Gouwens. Leiden 2006, 295–326. 248
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nismus252 gilt als Standardwerk wie die 1860 erstmals erschienene Kultur der Renaissance in Italien von Jacob Burckhardt, zu dem ein paar Worte nötig sind, um Voigt einordnen zu können. Jacob Burckhardt hatte den Humanismus im Grunde recht beiläufig behandelt, keine Definition vorgenommen und den Begriff ausgerechnet anlässlich der Besprechung von Pico della Mirandola eingeführt.253 Er hatte zweitens die kirchenkritische Ausrichtung des Humanismus ins Feld geführt,254 drittens ihn als Bildungsbewegung255 bezeichnet und viertens behauptet, Cosimo di Medici habe mithilfe der platonischen Philosophie „innerhalb des Humanismus“ eine höhere Stufe der „Neugeburt“ der Antike repräsentiert und eine idealistische Philosophie vertreten; Marsilio Ficino sei dessen geistiger Sohn.256 In Verbindung mit Pico ist das ein Vorausblick auf den noch zu erläuternden Zusammenhang des so genannten Humanismus mit Hermetismus und Kabbala. Der Humanismus sei, so Burckhardt, erst im 14. Jahrhundert aufgetaucht und dann im 16. Jahrhundert wieder gestürzt worden.257 So peripher das Thema in Burckhardts Renaissancekonstruktion erscheint, der Humanismus ist damit als eine kirchenkritische und auf das Altertum bezogene WiedergeburtsBewegung des 14. bis 16. Jahrhunderts historisiert, die im Gegensatz zu Ruge und anderen aber keine Kontinuität in das 19. Jahrhundert besitzt. Demgegenüber ist der Humanismus in Georg Voigts groß angelegtem historischen Abriss schon Titelgeber. Im Gegensatz zu allen anderen Entwürfen vorher weitet Voigt die These von der historischen Epochalität des Humanismus zudem noch an einer entscheidenden Stelle aus. Es handelt sich nicht mehr um eine nur kirchen- oder speziell romkritische, sondern um eine schon im Grundsatz christentumsfeindliche Bewegung. Diesen Schnitt hat Voigt allerdings nicht in der ersten Auflage 1859, sondern erst in der zweiten 1880 vollzogen.258 Für Voigt, einen ausgewiesenen Experten für das 15. und 16. Jahrhundert,259 war Humanismus zunächst eine kirchenkritische, in Glaubensfragen oszillierende Bewegung, die ganz Europa überzog, aber in der ersten Auflage
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Georg Voigt: Die Wiederbelebung des classischen Alterthums oder das erste Jahrhundert des Humanismus. Berlin 1859, 2 Bde, 21880 f., 31893. 253 Vgl. Jacob Burckhardt: Die Kultur der Renaissance in Italien. Ein Versuch. Frankfurt/Main 2009 [nach der 2. Aufl. 1869], 191–215. 254 Vgl. Burckhardt, Kultur [s. Anm. 253], 196, auch 461 f. 255 Vgl. Burckhardt, Kultur [s. Anm. 253], 196. 256 Vgl. Burckhardt, Kultur [s. Anm. 253], 207. 257 Vgl. Burckhardt, Kultur [s. Anm. 253], 254–265. 258 Walther, Humanismus [s. Anm. 3], 666 gibt vor, aus der Ausgabe von 1859 zu zitieren, bezieht sich aber in Wirklichkeit auf die zweite Auflage von 1880/81. 259 Seine Arbeiten galten dem Deutschen Orden, Reichstagsakten, Moritz von Sachsen, Albrecht von Alkibiades, Petrarca u. a. Eines seiner Hauptwerke dürfte aber sein: Enea Silvio de’ Piccolomini als Papst Pius der Zweite und sein Zeitalter. 3 Bde. Berlin 1856; 1862 (insgesamt 1551 S.).
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von 1859 bezeichnenderweise noch nicht im Gegensatz zum Christentum stand. Er ist „Wiedergeburt des klassischen Alterthums“.260 Erst 1880 ergänzte Voigt die Wiedergeburt mit der „Aufnahme des Rein-Menschlichen in Geist und Gemüth, wie es die Hellenen und Römer der alten Zeit gepflegt, der Humanität, im Gegensatze zu den Anschauungen des Christenthums und der Kirche“.261 Kein Humanist habe sich „principiell gegen Christenthum und Kirche zu erklären gewagt“, obwohl doch der Humanismus „zweifellos“ ein geborener „Feind der Kirche“ gewesen sei, der ihre „Grundlagen unterhöhlte“. Voigts Humanismus war erst 1880 nicht nur antikirchlich, sondern auch antichristlich.262 1859 war es Ziel der Humanisten, das „Alterthum und die Blüthe des christlich-romantischen Lebens zu recapituliren“.263 Es bestand keine Feindschaft (1880). Beide konfligieren hier nicht miteinander und brauchen offenbar bloß zusammengefasst und wiederholt zu werden. Diese Passage fehlt 1880. Dafür soll das versunkene Altertum der Hellenen und Griechen der „christlichen Welt wieder“ zugeführt und ihr „zu Eigen“ gemacht werden. Beide miteinander zu „vermählen“ und die christliche Welt durch die Antike zu verändern, ist Ziel der Humanisten 1880.264 Damit ist der Hiatus zweier Strömungen des Christentums und des klassischen Altertums griechisch-römischer Manier für die Gesamtgeschichte aufgemacht. Und Humanismus ist fortan eine eigenständige Kraft. Voigt beschränkt sich damit zunächst auf die historische Perspektive und geht auf mögliche Neuhumanismen, Antihumanismen oder pädagogische Humanismen gar nicht ein. Allerdings wird der Kettenschluss zwischen Humanismus und Aufklärung dann 1880 vollzogen: die Humanisten seien die „ersten Apostel der Aufklärung“ gewesen.265 Und eine weitere Front wird aufgemacht: Voigt kennt und zitiert Burckhardt und damit auch dessen Hervorhebung von Pico und Ficino. Er selbst erwähnt Pico hingegen gar nicht und streift Ficino nur zweimal. Dafür schreibt Voigt dem Humanismus gleichsam eine aufklärerische, hier einmal antiesoterische Schlagseite zu. Schon Petrarca sei Initiator eines „rücksichtslosen Krieges [. . .] gegen Astrologen und Alchymisten, gegen Traumdeutung und den Aberglauben in allen seine Formen“ gewesen. „Wir“, meint Voigt, „wüssten keinen der Humanisten, der jener superstitiösen Afterweisheit je ein Zugeständniss gemacht hätte“.266 Diese antihermetische Schlagseite trägt die 260
Voigt, Wiederbelebung [s. Anm. 252] 4, 1859 = 3 (1, 1880). Voigt, Wiederbelebung [s. Anm. 252] 4 (1, 1880). Walther, Humanismus [s. Anm. 3], 666 erwähnt 1859 als Zitatjahr, nennt hinten aber die dritte Auflage von 1893. Er zitiert nur die „Aufnahme des Rein-Menschlichen in Geist und Gemüth“ und erwähnt Voigts Entgegensetzung von Christentum und Kirche nicht. 262 Bei Baab, Humanismus [s. Anm. 1], 36 f., fehlt die Differenzierung zwischen Kirche und Christentum. 263 Voigt, Wiederbelebung [s. Anm. 252] 3, 1859 [Hervorh. d. Vf.]. 264 Voigt, Wiederbelebung [s. Anm. 252] 3 (1, 1880), 3. 265 Voigt, Wiederbelebung [s. Anm. 252], 486 (2, 1893). 261
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Debatten des 19. Jahrhunderts in die Frühe Neuzeit zurück. Im Gegensatz zu Hagens Konzeption werden die magischen und kabbalistischen Philosophen Pico, Ficino oder Agrippa von Nettesheim von Voigt nicht erwähnt, sonst hätte diese antisuperstitiöse Schlagseite wohl kaum behauptet werden können. Als entscheidende Neupositionierung bleibt festzuhalten: Humanismus, Kirche und Christentum sind für Voigt seit 1880 klare Gegensätze. Eine Linie führt vom Altertum über den Humanismus zur Aufklärung, ohne dass die Aufklärung mit dem Humanismus identisch wäre. Schließlich ist Humanismus auch kein bloßer Bildungsbegriff mehr; es ist ein „humanistischer Geist“,267 der durch die Weltgeschichte schreitet, in die Kirche implementiert und von dieser bekämpft wird. Dieser neue Geist des Humanismus ist streng antisuperstitiös – also eine Aufklärungsbewegung, die Voigt auf das 18. (Aufklärung) und auf das 14. bis 16. Jahrhundert überträgt. Dadurch werden zugleich Hermetiker, Magier, Kabbalisten, „Mystiker“ aus dem Humanismus ausgrenzt, die von Wachler bis Ranke noch klar dazu gehört hatten. Der Humanismus ist für Voigt – von der Wurzel her – ein nichtchristlicher Wissenschafts-, Bildungs- und Fortschrittsträger. Das Humanismusverständnis Voigts, das über Burckhardts Komplementärbegriff zur „Renaissance“ weit hinaus geht, wurde schnell lexikalisch. Neben weiteren Titeln268 bestimmt es den Duktus des Humanismus-Artikels im Reallexicon der Deutschen Altertümer 1885. Die entscheidenden Akzente Voigts sind hier festgehalten. Humanismus ist eine literarische „Bewegung“, die sich auf die Antike bezieht. Aber er ist auch „Lebensprinzip“ der „Menschlichkeit“, das dem klassischen Altertum entstammt und dem „christlich-kirchlichen Lebensprinzipe des Mittelalters gegenüber“ gestellt worden ist.269 Damit wird Voigts prinzipielle Entgegensetzung von Christentum/Kirche und Humanismus allerdings wieder auf das Mittelalter reduziert und diese Einschränkung wird für die deutschen Humanisten fortgeführt. Schließlich ist Humanismus eine Mittelstufe in der Entwicklung zwischen dem antiken Lebensprinzip der „humanitas“ und dem „Humanitätsideale des 18. Jahrhunderts“270 – ohne dass hier der Begriff ‚Aufklärung‘ fallen würde. Kern ist wie bei Voigt die „Wie-
266
Voigt, Wiederbelebung [s. Anm. 252], 486 (2, 1893). Voigt, Wiederbelebung [s. Anm. 252], 456 f. (1859); 6 (1, 1893). Damit wäre der Behauptung widersprochen, bei Voigt wandele kein hegelscher Weltgeist durch die Geschichte, so Grendler, Voigt [s. Anm. 251], 308, zit. bei Baab, Humanismus [s. Anm. 1], 36. 268 Vgl. z. B. Ludwig Geiger: Renaissance und Humanismus in Italien und Deutschland. Berlin 1882. 269 Ernst Götzinger: Art. „Humanismus“. In: Reallexicon der Deutschen Altertümer. Leipzig 2 1885, 435–440, hier 435. 270 Götzinger, Art. „Humanismus“ [s. Anm. 269], 435. 267
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dergeburt der antiken Weltanschauung“271 – eine Reminiszenz auf die Wiedergeburtsfähigkeit – Reinkarnation – von geistigen Wesen innerhalb des zeitgenössischen Reinkarnationsdiskurses und auf die Weltanschauungsdiktion der philosophischen Zeitgenossen.272
3. Auswege 3.1 Humanismus – kein tragfähiger historiographischer und heuristischer Begriff! Mit Georg Voigt war die Diskussion keinesfalls abgeschlossen, Humanismus bleibt kontextuell bestimmt.273 Vor ihm und gleichermaßen nach ihm gilt: Weder lässt sich die Entgegensetzung oder wenigstens Differenz gegenüber Religion, Kirche und Christentum274 für alle Humanismen aufrecht erhalten, noch sind die Bezugnahmen zur Antike, zur Philosophie, zur Sprache, zur Unsterblichkeit der (humanen) Seele klar und einheitlich. Humanismus schillert zwischen den Fronten als pädagogischer, philologischer, als (alternativ-) religiöser, materialistischer oder antireligiöser, als gesellschaftspolitischer Begriff und als Bezeichnung eines suprahistorischen Wesens oder Geistes, der nicht auf einen einzigen gemeinsamen Nenner gebracht werden kann, ohne die historischen Kontexte einzuebnen. Die historischen Orte, an denen diese Humanismen konstruiert werden, verlaufen zwischen konkreten Fronten. Aber die Referenzen und historischen Legitimationen, die seit den geschilderten Debatten im 19. Jahrhundert über den so genannten Humanismus am Beginn der Frühen Neuzeit und über den humanistischen Geist der Aufklärung geführt werden, zielen stets auf den eigenen Ort der jeweiligen Autoren hin, die über diese Humanismen sprechen; sie selektieren die Fülle der Humanismusdeutungen so, dass die jeweilige „wahre“ „humanistische“ Position zementiert wird. Dieser Befund wirft nachhaltig die Frage auf, ob es erstens überhaupt möglich ist, den Humanismus-Begriff als ein „unentbehrliches heuristisches Werkzeug“275 zu verwenden, wenn er als ein einigermaßen einheitlicher Begriff nicht bestimmt werden kann, und ob es zweitens angemessen oder überhaupt hilfreich und nicht vielmehr irreführend ist, ihn weiterhin als heuristischhistoriographisches Instrument im engeren Sinne zu handhaben, weil er von 271
Götzinger, Humanismus [s. Anm. 269], 439. Vor Burckhardt, Kultur [s. Anm. 254], spricht 1853 schon von Feuchtersleben, Frage [s. Anm. 235], von Wiedergeburt. 272 Vgl. zu den Debatten um Alan Kardecs Buch der Geister (1857) und zum Beispiel den Frühsozialisten Charles Fourier kurz Sawicki, Leben [s. Anm. 44], 283, 287–296; Daniel Cyranka: Lessing im Reinkarnationsdiskurs. Eine Untersuchung zu Kontext und Wirkung von G. E. Lessings Texten zur Seelenwanderung. Göttingen 2005, passim. 273 Weitere Entwürfe bis ins das 21. Jahrhundert bietet Baab, Humanismus [s. Anm. 1]. 274 Vgl. Walther, Humanismus [s. Anm. 3], 666. 275 Walther, Humanismus [s. Anm. 3], 668.
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keinem der Kontexte, in dem er positioniert wird, freizumachen ist und jede Anwendung inkompatible Kontexte zwangsläufig miteinander vermischen muss. Der einfachste Einwand wäre, dass die humanista des 14.-16. Jahrhundert ja in der Tat „nur“ Sprachlehrer und -schüler der humaniora waren, ohne dass diesen eine anthropologische Agenda im Sinne der Zuschreibungen seit dem 19. Jahrhundert gemeinsam gewesen wäre. Behauptet man schließlich eine distanzierte oder gar gegensätzliche Haltung dieser Personengruppe gegenüber Kirche und Christentum oder gegenüber Religion insgesamt, dann ist man gezwungen, genauer zu sagen, wer oder welche Autorengruppe in diesem Fall die gegnerische kirchlich-christlich-religiöse Front repräsentieren soll. Bei einem phänomenologisch reduktiven Vorgehen müsste zugleich das Wesen von Kirche oder Christentum definiert werden, um von diesem ein anderes Wesen – das des Humanismus – zu unterscheiden. Es wäre kaum zu umgehen, dann moderne Grenzziehungen in historische, hier frühneuzeitliche Debatten zu übertragen. Gibt es aus diesem Dilemma einen Ausweg? In zwei Stufen möchte ich nun Alternativen vorschlagen, die erstens dem konsequenten historisch-kritischen Anspruch genügen und zweitens auf der philosophisch-ethischen Ebene einen produktiven Umgang mit der Humanismusthematik ermöglichen. Das Interesse der 2013 publizierten, wegen ihres begriffskritischen Charakters verdienstvollen und innovativen Dissertation von Florian Baab bewegt sich in der Systematischen Theologie. Sie zielt vor allem auf die kritisch-dialogische Auseinandersetzung mit den Anthropologien moderner Humanismen ab, bietet zugleich aber einen historischen Abriss, der insofern hervorsticht, als er darauf verzichtet, einen vermeintlichen Humanismus in Renaissance und Altertum zu beschreiben. Humanismus erscheint damit von Vornherein nicht als übergeschichtliche Bewegung seit Antike und Renaissance. Als fruchtbar erweist sich der Ansatz, die historische Semantik von „Humanismus“ als Geschichte der Parallelbegriffe, Gegenbegriffe und Gegenkonzepte in Augenschein zu nehmen.276 Zu Beginn seiner Arbeit legt Baab trotz seiner Kenntnis der irreduziblen Polyvalenz des Humanismusbegriffs jedoch eine „formale Definition“ vor, und am Ende gelangt er zu dem Gegenüber von Humanismus und Theismus,277 also zu einem durch ein neues Gegenkonzept gewonnenen Humanismusbegriff, der sich der Privilegierung bestimmter Humanismusentwürfe verdankt, die wie etwa Michael SchmidtSalomons „Evolutionärer Humanismus“ eine explizit atheistische Note tragen.278 Mit diesem Modell werden die aus der Historisierung gewonnenen
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Vgl. Baab, Humanismus [s. Anm. 1], 23 f. Vgl. Baab, Humanismus [s. Anm. 1], 25–27, 279–285. 278 Vgl. Michael Schmidt-Salomon: Manifest des evolutionären Humanismus. Plädoyer für eine zeitgemäße Leitkultur. Aschaffenburg 22006; Baab, Humanismus [s. Anm. 1], 189–217, passim. 277
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Einsichten durch Errichtung einer neuen Frontstellung wieder ein Stück weit beiseitegeschoben. 3.2 Humanismus als Verhüllungsbegriff Aus der dargestellten Diskursgeschichte des Humanismus im 19. Jahrhundert ist deutlich geworden, dass Humanismus als Konfrontations- und Alternativbegriff eingesetzt wird. Für die These, dass er darüber hinaus ein Verdeckungs- oder Verhüllungsbegriff ist, auch wenn er vermeintlich nur heuristisch-historiographischen Zwecken dient, wird der Blick auf die Anthropologie des 15./16. Jahrhunderts geworfen. In ihr erblicken die meisten Autoren einen der Kulminationspunkte oder sogar die Begründung des neuzeitlichen Humanismus. Daher bietet sich dieses Beispiel besonders an, um zu zeigen, welche verzerrenden und verwirrenden Konsequenzen die Verwendung des Humanismusbegriffs hier hat. Ich möchte daher ausdrücklich eine Alternative zum „Humanismus“ vorschlagen, die dem frühneuzeitlichen Kontext gerecht wird und diesen Kontext nicht mit den Begriffskontexten des 19. und 20. Jahrhunderts vermischt. In diesem ersten Schritt geht es mir also darum, die Chancen zu zeigen, die eine konsequente Historisierung für die Erhellung der Humanismusthematik und des hier geschilderten Problems eröffnet. Es ist darauf hingewiesen worden, dass von einigen Autoren Pico della Mirandola und Ficino als wichtige Referenzautoren für den Humanismus genannt werden. Fragt man bei diesen Autoren nach dem für die Frühe Neuzeit innovativen, anthropozentrischen Menschenbild, so stößt man schnell auf den wohl nicht ersten, aber zweifellos am meisten rezipierten Text zur Menschenwürde von Giovanni Pico della Mirandola.279 Sieht man sich Picos und Ficinos Texte genauer an, dann wird man zuerst feststellen, dass es nicht möglich ist, in ihnen einen antikirchlichen oder am Christentum überhaupt desinteressierten Impetus zu finden. Denn es handelt sich um eine neuartige christliche Theologie und Philosophie, die sich der Entdeckung, Übersetzung und Auseinandersetzung mit verschollen geglaubten Texten aus dem griechischen, arabischen und hebräischen Sprachraum verdankt. Sie haben zur Entstehung der christlichen Hermetik und der christlichen Kabbala im 15./16. Jahrhundert beigetragen, die beide von einer Neulektüre neuplatonischer und auch magischer Literatur stark beeinflusst waren. Diese Strömung zunächst italienischer Gelehrter ist von den seit dem 19. Jahrhundert sonst als Humanisten bezeichneten John Colet, Thomas More, Erasmus von Rotterdam, Johannes 279 Giovanni Pico della Mirandola: De hominis dignitate. Über die Würde des Menschen (1486). Hamburg 1990. Zu den weniger erwähnten Vorläufern zählt Giannozzo Manetti: Über die Würde und Erhabenheit des Menschen. De dignitate et excellentia hominis (1452). Hamburg 1990, vgl. dazu Charles Trinkaus: In Our Image and Likeness. Humanity and Divinity in Italian Humanist Thought. Notre Dame 2012 [Chicacgo 1970], 230–270, 578–601.
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Reuchlin, Agrippa von Nettesheim, Andreas Osiander bis zu Sebastian Franck, aber auch von prominenten frühen Luthergegnern wie Johann Eck und Hieronymus Emser rezipiert worden. Mit der Verbindung hermetischer, magischer und kabbalistischer Rezeptionen war ein Aufschwung der Naturphilosophie, der Alchemie, der Astronomie und anderer naturmagischer Künste verbunden.280 Es kann von einer wissenschaftlichen Revolution am Beginn der Frühen Neuzeit gesprochen werden, die aber gerade nicht mit dem Ende der Naturphilosophie verbunden gewesen ist.281 Für die religiöse Seite des Diskurses ist entscheidend, dass es den Florentiner Theologen und ihren Nachfolgern darum ging, durch den Rückbezug auf vermeintlich vorbiblische und auf kabbalistische Schriften eine prisca theologia und eine von allen Gottesverehrern gemeinsam anerkannte und anerkennbare philosophia catholica282 zu konstruieren. Sie sollte zu einer im Kern und in ihrer Zuspitzung christlichen Superreligion führen, die alle theologischen und philosophischen Gräben zwischen Juden, Griechen, Türken und Christen überbrückte.283 Schon für Nikolaus von Kues galt: „religio una in rituum varietate“.284 Mit diesem Projekt war eine Anthropologie verbunden, die ihren zeitgenössisch bekanntesten Ausdruck in Picos Oratio de hominis dignitate gefunden hat, jenem Vorwort zu den 900 Thesen, die nie auf einer Konferenz diskutiert, aber durch Picos ausführliche Apologia der Thesen inhaltlich dennoch bekannt wurden. Wenn der „Anthropozentrismus des humanistischen Menschenbildes“ als negative Voraussetzung für Luthers Reformation betrachtet wird,285 dann ist dieses Menschenbild am deutlichsten und am einflussreichsten in der Oratio vertreten. Aber worin sind seine Wurzeln zu sehen, die nicht in der Vorrede selbst, sondern erst in den 900 Thesen ausführlich offengelegt sind? Es ist die kosmische Anthropologie und Ficinos aus der Himmelslehre Algazels und anderer abgeleitete Engelwelt, ein aus Hermes Trismegistos und kabbalistischen Quellen kompilierter Anthropozentrismus, der im Adam kadmon den gottgleichen Urmenschen und das Zentrum des Alls
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Diese Zusammenhänge habe ich dargestellt in Friedemann Stengel: Reformation, Renaissance und Hermetismus. Kontexte und Schnittstellen der frühen reformatorischen Bewegung. In: ARG 104, 2013, 35–81. 281 Vgl. die Beiträge in: The Science of Nature in the Seventeenth Century. Patterns of Change in Early Modern Natural Philosophy. Ed. by Peter R. Anstey and John A. Schuster. Dordrecht 2005; Friedemann Stengel: Art. „Naturphilosophie 2. Vom Neuplatonismus zur Naturmystik“. In: Enzyklopädie der Neuzeit 9, 2009, 33–35. 282 Vgl. Stephan Alan Farmer: Syncretism in the West. Pico’s 900 Theses (1486). The Evolution of Traditional Religious and Philosophical Systems. With Text, Translation, and Commentary. Tempe 22008, 520 f. (These 30). 283 Vgl. Stengel, Reformation [s. Anm. 280], 38–42. 284 Nikolaus von Kues: De pace fidei. Der Friede im Glauben. Hg. u. übers. v. Rudolf Haubst. Trier 32003, 6. 285 Vgl. Thomas Kaufmann: Geschichte der Reformation. Frankfurt/Main, Leipzig 2009, 123.
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erblickt, ausgestattet mit Willens- und Handlungsfreiheit, Exemplar einer Menschheit, die selbst entscheiden kann, über den vielgegliederten Engelshimmel hinaus in die göttliche Sphäre zu gelangen – oder Vieh zu sein.286 Der Mensch, ein Chamäleon, ist für Pico in der Lage, sich seiner Körperlichkeit zu entledigen. Er gilt Pico nicht als irdisch und nicht als himmlisch, sondern als ein göttliches Wesen in Menschengestalt, das mit menschlichem Fleisch nur umkleidet ist.287 Picos Mensch steht in der „Mitte der Welt“ und besitzt Potenzen, die über die Kapazitäten der höchsten Geister hinausgehen, weil diese Geister von Anfang an das waren, was sie „in alle Ewigkeit“ sein würden,288 gleichsam spirituelle Automaten ohne Entwicklungsfähigkeit. Auch für Ficino besitzt der Mensch durch die divinitas seiner Seele dignitas, weil sie der materiellen Sphäre überlegen ist und eine innere Neigung zu Gott besitzt, zu dem sie als dem summum bonum strebt, aus dem sie nicht emanativ wie bei Plotin, sondern von dem sie, allerdings direkt, in einem Akt ex nihilo, geschaffen ist.289 Bereits die Ebenbildlichkeit (imago Dei) der menschlichen Seele ist eine übernatürliche Gottesgabe, es bedarf keiner zusätzlichen Gottähnlichkeit (similitudo). Die Ausrichtung der Seele auf Gott ist natürlicher Trieb und in diesem Sinne eine Begabung, die den Menschen von allen anderen Wesen grundsätzlich unterscheidet.290 In Ficinos Theologia Platonica sind Menschen „Dei vicarii in terra“; nach seiner innersten, der gottebenbildlichen Seelenqualität ist der Mensch „Deus in terris“.291 Diese Anthropozentrik ist zutiefst theologisch: Der geschaffene Mensch wird zuerst in seiner Gottebenbildlichkeit gesehen, die Verbindungen, nicht das Trennende rückt in den Vordergrund. Diese hermetisch-kabbalistisch-neuplatonisch beeinflusste Anthropologie hat bei Pico und Ficino wie dann auch bei Erasmus und schon bei Cusanus erhebliche Konsequenzen für die Rolle Jesu Christi im Rechtfertigungsgeschehen. Denn die Anlagen des gottebenbildlichen Menschen stellen die Notwendigkeit der Zurechnung des fremden, durch Christus erworbenen Verdienstes in Frage. Allerdings wird die Rolle Christi nicht aufgegeben, sondern signifikant verschoben.292 Ohne Namensnennung des kirchenamtlich verfolgten Pico notiert Erasmus in geradezu wörtlicher Anlehnung an Picos De homi286 Pico, Würde [s. Anm. 279], 6 f. Dazu Walter Andreas Euler: „Pia philosophia“ et „docta religio“. Theologie und Religion bei Marsilio Ficino und Giovanni Pico della Mirandola. München 1998, besonders 99–122, zu Ficino passim; sowie zu Ficino ebd., 259–268. 287 Pico, Würde [s. Anm. 279], 6–9. 288 Pico, Würde [s. Anm. 279], 5–7. 289 Vgl. Jörg Lauster: Die Erlösungslehre Marsilio Ficinos. Theologiegeschichtliche Aspekte des Renaissanceplatonismus. Berlin, New York 1998, 48 f.; Hanns-Peter Neumann: Natura sagax – Die geistige Natur. Zum Zusammenhang von Naturphilosophie und Mystik in der frühen Neuzeit am Beispiel Johann Arndts. Tübingen 2004, 97–99. 290 Vgl. Lauster, Ficino [s. Anm. 289], 51 f.; Neumann, Natura sagax [s. Anm. 289], 116. 291 Ficino, Theologia Platonica XVI 6–7, zit. n. Lauster, Ficino [s. Anm. 289], 58, sowie 62. 292 Vgl. Stengel, Reformation [s. Anm. 280], 42–44, 69–71, 79 f.
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nis dignitate im Enchiridion militis christiani 1503, neun Jahre nach Picos frühem Tod: Zwischen Geist und Fleisch stehe der Mensch, dank seiner göttlichen Seele besitze er Freiheit, auf die Seite des Geistes zu wechseln und zum Himmlischen aufzusteigen – oder auch zum Niederen herab. „Der Geist läßt uns also zu Göttern werden, das Fleisch zu Tieren“;293 der Mensch sei der Seele nach göttlich, dem Körper nach wie ein stummes Vieh. Dem Leibe nach übertreffen wir das Geschlecht der Tiere keineswegs, wir sind ihm vielmehr an allen seinen Gaben unterlegen. Der Seele nach sind wir aber sogar der Gottheit fähig, so daß wir uns selbst über die Engel erheben und mit Gott eins werden dürfen.294
Für einen stellvertretenden Sühnetod Christi ist in diesem Menschenbild kein Platz. Hier spielt Christus allerdings eine andere Rolle. Schon in Cusanus’ De pace fidei steht nicht das Kreuz im Vordergrund. Cusanus verschiebt das Verdienst Christi in die Auferstehung: Durch seinen Tod ist überhaupt erst die Auferstehung möglich, aber nur solo Christo und sola fide wird man seiner teilhaftig.295 Die Wiedergeburt führt zur Wiederherstellung der innocentia mentis und excellentia der Seele, zur Restitution der ursprünglichen amicitia Dei, aber die soteriologische Besonderheit Christi liegt nicht in seiner Ermordung, sondern im Übermaß seiner Liebe und Tugend.296 Dass der synergetische Aufstieg der Seele dennoch nur sola gratia geschehe, also gerade nicht als Selbsterlösung, ist für Ficino ebenso klar wie für seinen Anhänger Erasmus.297 Aber Kreuz, Leiden und Stellvertretung auf der Basis eines anselmisch geprägten, satisfaktorisch zu heilenden Rechtsverhältnisses zwischen Gott und Mensch spielen in diesen Entwürfen keine Rolle. Wenn das von Pico, Ficino, Erasmus, Reuchlin und anderen vertretene Menschenbild unter dem Schlagwort des ‚Humanismus‘ verbucht wird, wie es weithin geschieht, droht eine Begriffsverwirrung, weil erstens die Kirchen-, Christentums- und vielleicht auch Religionsdistanziertheit oder -feindschaft des Humanismus aus dem 19. und 20. Jahrhundert kaum abzutrennen ist, diese Verhältnisbeschreibung aber im klaren Widerspruch zu den wichtigsten 293 Erasmus von Rotterdam: Enchiridion militis christiani. Handbüchlein eines christlichen Streiters. In: Ders., Schriften [s. Anm. 118] 1, 143. 294 Erasmus von Rotterdam, Enchiridion [s. Anm. 293], 109. 295 Vgl. Nikolaus von Kues: Cribratio Alkorani. Sichtung des Korans. Lateinisch-deutsch. Hg. v. Ludwig Hagemann u. Reinhold Glei. Bd. 2. Hamburg 1990, (Buch 2), 53–71 (XVI-XVII); Bd. 3, Hamburg 1993, (Buch 3), 89–93 (XX); Kues, De pace [s. Anm. 284], 13, 42 f., 48 f., 50–53. Zu Erasmus’ und Nikolaus’ von Kues Christologie, Anthropologie und Theologie vgl. jetzt Friedemann Stengel: Reformation und Krieg. In: Kirche und Krieg. Ambivalenzen in der Theologie. Hg. v. dems. u. Jörg Ulrich. Leipzig 2015, 49–105, ab 72 passim. 296 Vgl. Lauster, Ficino [s. Anm. 289], 100, 115 f. 297 Vgl. Lauster, Ficino [s. Anm. 289], 82–84, 110–112, 121 f., 124–156 u. ö. Die generalisierenden Aussagen über die angeblich ganz un- oder antisoteriologischen Perfektibilitätstheorien und die Anthropozentriertheit des ‚Humanismus‘ sind für Ficino und Pico in Frage zu stellen. Vgl. etwa Harm Klueting: Das Konfessionelle Zeitalter. Europa zwischen Mittelalter und Moderne. Kirchengeschichte und Allgemeine Geschichte. Darmstadt 2007, 101.
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Referenzautoren des Humanismus der Frühen Neuzeit steht – die außerdem den Begriff Humanismus gar nicht kennen. Zweitens haben die Anthropologien Picos, Ficinos und ihrer Rezipienten mit studia humanitatis als akademischer Ausbildungsbezeichnung kaum etwas zu tun. Drittens aber ist die Antikeaneignung bei diesen Autoren nicht einfach die der römischen und griechischen Klassiker, sie bildet nicht einen abrufbaren Kanon mit Lukrez, Vergil, Ovid oder Cicero aus. Das wird schnell deutlich, wenn man den Umfang von Ficinos um und nach 1500 in Straßburg herausgebrachten Übersetzungen hermetischer, magischer, neuplatonischer und dämonologischer Literatur betrachtet. Mit Widmung an Leo X. war eine zwanzig dämonologisch-hermetische Schriften umfassende Sammlung von Ficino 1516 in Venedig schon zum zweiten Mal aufgelegt worden.298 Schließlich ist zu ergänzen, dass die Florentiner und ihre Nachfolger die antiken, christlichen, jüdischen, arabischen und anderen Texte ja nicht einfach übersetzten, sondern sie in ihr System einer Theologia platonica oder einer philosophia christiana kompilierten und transformierten.299 Die Rubrizierung Picos, Ficinos und ihrer Rezipienten als Humanisten würde den Eindruck erwecken, diese Autoren hätten lediglich Platon und andere Schriften des griechisch-römischen Altertums rezipiert, nicht aber hermetisches und kabbalistisches, teilweise klandestines Schrifttum, das aus bestimmten, sich für aufgeklärt haltenden Perspektiven des 19. und 20. Jahrhunderts ebenso unaufgeklärt, mystisch oder superstitiös erschien wie dem genannten Georg Voigt,300 der Pico und Ficino kurzerhand aus dem humanistischen Kanon ausklammerte und behauptete, es habe keine magischen Humanisten gegeben. Als superstitiös oder esoterisch qualifizierte Quellen werden auf diese Weise aus der Geneaologie der Moderne herausgeschrieben. Der Humanismusbegriff ist an den genannten Punkten als Sammelbezeichnung irreführend, weil sich Autoren wie Pico und Ficino nicht gegenüber dem Christlichen an sich abgegrenzt haben, sondern gegenüber einem bestimmten, nämlich augustinischen und dann von Luther vehement aktuali-
298 Vgl. das intensiv durchgearbeitete, mit zahlreichen Unterstreichungen und Besitzvermerk eines Magdeburger Gymnasiums versehene Exemplar in der Halleschen Universitätsbibliothek: Iamblichus de mysteriis Aegyptiorum. Chaldeorum. Assyriorum. Proclus Platonicum Alcibiadem de anima, atq. daemone. Proclus de sacrificio & magia. Porphyrius de divinis atq. daemonibus. Synesis Platonicus de somnis. Psellus de daemonibus. Expositio Prisciani & Marsilii in Theophrastum de sensu, phantasia & intellectu. Alcinoi Platonici philosophi liber de doctrina Platonis. Speusippi Platonis discipuli liber de platonis definitionibus. Pythagorae philosophi aurea verba. Symbola Pithagorae philosophi. Xenocratis philosophi platonici liber de morte. Mercurii Trismegisti Pimander. Eiusdem Asclepius. Marsilii Ficini de triplici vita Lib. II. [. . .]. [2. Aufl.] Venetiis (1516). 299 Vgl. dazu nach wie vor Paul Oskar Kristeller: Die Philosophie des Marsilio Ficino. Frankfurt/Main 1972. Für Pico vgl. vor allem Farmer [s. Anm. 282]. 300 Vgl. oben Anm. 266.
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sierten Verständnis von Christentum mit einer klar antipelagianischen, satisfaktorischen und imputatorischen Soteriologie und Anthropologie.301 Wenn ‚Humanismus‘ auf solche Autoren angewendet wird, ist damit zwangsläufig die Behauptung und Verteidigung des ‚eigentlichen‘ und ‚wahren‘ Christlichen verbunden. Darunter verbergen sich aber bestimmte theologisch-anthropologische Konzepte: gegenüber dem „Anderen“, das in diesem Fall unter dem kaum klar bestimmbaren modernen Begriff des Humanismus subsumiert wird. Meint man etwa, wer die augustinisch-lutherische Soteriologie nicht konsequent vertrete, sei kein Christ,302 dann wird nolens volens ein bestimmtes, heutiges Verständnis dessen, was orthodox sei, in die Frühe Neuzeit verschoben und zugleich universalisiert, wo es gerade um die Validität des Christlichen und um die Behauptung der eigenen Orthodoxie ging – ob man sich selbst nun in die Tradition der Christen augustinischer oder hermetischer Prägung einordnete. 3.3 Lösungsvorschlag I: Konsequente Historisierung Wie sollten Pico und Erasmus, die den Humanismus gar nicht kennen, sondern eine angelologisch-dämonologische und magisch konnotierte Anthropologie vertreten, mit dem pädagogischen Zugang Niethammers, mit dem Marxismus, der metaphysische Menschenbilderklärungen und ein Freiheitspathos, das Pico und Ficino vorbringen, brüsk zurückweist, oder mit Ruges modifiziertem Inkarnationshumanismus geschweige mit dem sozialistischen und nichtchristlichen Humanismus in der DDR oder mit dem (re-theologisierten) Humanismusbegriff der Menschlichkeit Gottes bei Karl Barth303 in Einklang gebracht werden? Um der sowohl klar theologischen Akzentuierung und der speziellen Art der sogenannten Antikeaneignung gerecht zu werden, halte ich es für angemessen, bei den sonst als Humanisten betrachteten Autoren der Frühen Neuzeit wie Pico, Ficino, Reuchlin oder Erasmus nicht von Humanismus, sondern von „christlichem Hermetismus“ oder eben von „christlicher Kabbala“ zu sprechen.304 Christlicher Neuplatonismus wäre gegenüber dem Profil der rezipierten Literatur eine Verengung, auch wenn neuplatonische Texte von 301
Vgl. Stengel, Reformation [s. Anm. 280]. Gegen diesen Vorwurf Luthers wehrte sich bereits Erasmus, der das Christsein umgekehrt selbst in Anspruch nahm, vgl. Erasmus von Rotterdam: Hyperaspistes diatribae adversus servum arbitrium Martini Lutheri. Liber primus. Erstes Buch der Unterredung „Hyperaspistes“ gegen den „unfreien Willen“ Martin Luthers. In: Ders.: Ausgewählte Schriften. Hg. v. Werner Welzig. Bd. 4. Darmstadt 1995, 327, sowie 138. 303 Vgl. Karl Barth: Humanismus. Zürich 1950; dazu Baab, Humanismus [s. Anm. 1], 88–91. 304 „Hermetismus“ geht dabei über die Rezeption des Corpus Hermeticum im engeren Sinne hinaus, vgl. dazu meine Rezension zu Konzepte des Hermetismus in der Literatur der Frühen Neuzeit. Hg. v. Peter-André Alt u. Volkhard Wels. Göttingen 2010. In: PuN 40, 2014, 243–255, hier 243–247. 302
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den genannten Autoren ebenfalls produktiv verarbeitet worden sind. Daher wäre auch die Rede von hermetisch-neuplatonisch-kabbalistischen Rezeptionen in der Renaissance angemessen und streng auf den historischen Kontext bezogen – im Gegensatz zu dem uneindeutigen und irreführenden Begriff ‚Humanismus‘, dessen auch nur heuristische Verwendung auf scheinbar unüberwindbare epistemologische und historiographische Hindernisse stößt. Mit den hermetisch-neuplatonisch-kabbalistischen Rezeptionen kann hingegen die hybride Aneignung und produktiv kombinierende Neugestaltung von christlichen und hermetischen Literaturen in den modernen Lehrgebäuden und Debatten des philosophisch-theologischen Diskurses um 1500 treffend beschrieben werden. Der von manchen Esoterikforschern vorgeschlagenen Anwendung des Esoterikbegriffs schließe ich mich nicht an, unter anderem, weil der aus dem 19. Jahrhundert stammende und schon vorher vereinzelt gebrauchte Esoterikbegriff hier auf Autoren der Frühen Neuzeit übertragen würde und dabei ganz ähnliche Probleme mit sicher brächte wie ‚Humanismus‘.305 Dadurch würde beispielsweise eine religiös (und wissenschaftlich) gegenüber und auch entgegen dem verfassten Christentum deviante Strömung auf Ficino und Pico gespiegelt, obwohl diese Autoren sich klar als Christen bezeichnet und betrachtet haben.306 Sie haben vielmehr eine gegenüber einem bestimmten, nämlich gegenüber dem antipelagianisch-augustinischen Christentum abweichende, aber eben in ihrem Kern christliche Theologie mit den genannten Verschiebungen in Soteriologie und Anthropologie vertreten. Im Falle von Erasmus kann man ohne Weiteres sogar von einer kräftigen Christozentrik sprechen. Aus der historischen Perspektive sollte gerade nicht post res festgelegt werden, welche Gestalt des Christentums denn die ‚wahre‘, ‚orthodoxe‘ oder auch jetzt für ‚eigentlich‘ zu haltende sei, damit davon dann Esoteriken, Heterodoxien oder eben Humanismen abgetrennt werden können. Was als ‚orthodox‘, ‚wahr‘ oder rechtmäßig gilt, ist Gegenstand der jeweiligen Debatten, aber keine heuristische Voraussetzung einer historischen Perspektive. Historisch angemessen wäre es, auf der entsprechenden kontextuellen Ebene 305 Dass der Begriff „Esoterik“ im deutschsprachigen Raum seit dem 18. Jahrhundert in der Konnotation mit masonischen und pythagoreischen Strömungen gebraucht wird, erleichtert es aus meiner Sicht nicht, ihn über diese konkreten Kontexte hinaus als suprahistorische Bewegung seit der Frühen Neuzeit anzusehen. Vgl. dazu Monika Neugebauer-Wölk: Historische Esoterikforschung, oder: Der lange Weg der Esoterik zur Moderne. In: Aufklärung und Esoterik [s. Anm. 161], 37–72; Stengel, Lebensgeister [s. Anm. 161], 345–348; Stengel, Aufklärung [s. Anm. 28], 724–728; Michael Bergunder: Was ist Esoterik? Religionswissenschaftliche Überlegungen zum Gegenstand der Esoterikforschung. In: Aufklärung und Esoterik. Rezeption – Integration – Konfrontation. Hg. v. Monika Neugebauer-Wölk unter Mitarbeit von Andre Rudolph. Tübingen 2008, 477–507. 306 Vgl. im Falle Ficinos seine in späteren Werkausgaben stets enthaltene Schrift De christiana religione (z. B. in Marsilii Ficini florentini, insignis philosophi. Platonici, Medici, atque theologi clarissimi, Opera [. . .]. 2 Bde. Parisiis 1649, hier Bd. 1, 1–73).
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zu verbleiben – wissend, dass sich Kabbala- und Hermetismuskonzepte und -rezeptionen ebenso wie theosophische Entwürfe und alchemische Praktiken bei den Autoren der Frühen Neuzeit vielfach überschneiden. Das macht es aber nicht plausibel, diese Strömungen Formationsbegriffen aus dem 19. Jahrhundert zu subsumieren. Eine präzise historische Perspektive verhindert es demgegenüber, die frühneuzeitlichen Debatten bestimmten Paradigmen aus dem 19. oder 20. Jahrhundert anzupassen, die zudem noch durch heutige Horizonte überschrieben worden sind. Schließlich möchte ich in diesem Zusammenhang an die Warnung des prominenten Renaissanceforschers und Ficino-Experten Paul Oskar Kristeller erinnern, gerade den Florentiner Platonismus – der aus meiner Sicht deutlicher als Hermetismus zu bezeichnen ist – überhaupt als „Humanismus“ im Sinne der reinen studia humanitatis als philologischer Antikerezeption anzusehen.307 Um zu vermeiden, dass durch moderne Humanismuskonzepte anthropologisch-theologische Projekte wie das der Florentiner überschrieben und deren religiöse Akzentuierung verhüllt werden – wäre nicht zu überlegen, über Kristeller noch hinauszugehen und „Humanismus“ nur noch dort zu verwenden, wo er historisch auch vorhanden ist? Eine solche Historisierung hätte auch zur Folge, dass die studia humanitatis eben nur noch als Universitätsund Schulbewegung der Frühen Neuzeit gelten würden und gerade nicht mehr als Humanismus, sei es mit oder ohne anthropologische oder religiöse Implikationen. Wenn von einer anthropologisch alternativen Christentumsauffassung gesprochen wird, dann sollten nicht Fronten aus dem 19. und 20. Jahrhundert in die Frühe Neuzeit transportiert werden, um eigene Positionen historisch abzusichern oder gegnerische Positionen mit historischer Reichweite und vor allem historisch-wissenschaftlichem Anspruch zu diskreditieren.308 Es sollte von den Kontexten gesprochen werden, in denen diese neuartigen Anthropologien standen: dem christlichen Hermetismus, der christlichen Kabbala, und dem aktuellen christlichen Neuplatonismus am Beginn der Frühen Neuzeit.
3.4 Lösungsvorschlag II: Aufklärung als Kritik – auch am ‚Humanismus‘! Als historiographische und als heuristische Kategorie ist der Humanismusbegriff, weil er selbst nur im historischen Kontext betrachtet werden kann, aus meiner Sicht irreführend und daher untauglich. Er steht seit den Syntheseversuchen zwischen Niethammer, Hagen, Ruge und Voigt für den Versuch, eine in einem ganz bestimmten Kontext mit ganz bestimmten Fronten entwickelte kategoriale Bestimmung zu universalisieren und als übergeschichtliches 307 Vgl. Paul Oskar Kristeller: Humanismus und Renaissance. 2 Bde. München 1980, hier Bd. 1, 58–61, auch Bd. 2, 249, sowie 11–29, Bd. 2, 244–264. 308 Vgl. etwa das oben stehende Beispiel des antikatholischen Humanismusbegriffs, Kap. 2.11.
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Wesen festzuschreiben, das man „entdeckt“ habe und nun lediglich in anderen historischen Epochen wiederfinden müsse, um eine in der Geschichte zu sich selbst kommende Wahrheit als Zukunftsprojekt zu erweisen. Dabei muss zwangsläufig von einem oder mehreren „Geistern“ oder Wesen ausgegangen werden. Dieses Vorgehen ist einem historischen Verfahren diametral entgegengesetzt, denn rezeptionelle Zusammenhänge müssen dabei gar nicht nachgewiesen werden. Es läuft letztlich auf eine Verflüssigung des Historischen in Ideen, Wesen, „Geister“ hinaus, die in der Geschichte körperlich werden und auf diese Weise die Historie auch determinieren. Zugleich wird das historische Ereignis in eine „ideale Kontinuität“, in eine „teleologische Bewegung oder in eine natürliche Verkettung“ aufgelöst. Das Historische wird eben gerade nicht in seiner „einschneidenden Einzigartigkeit“ beschrieben.309 Dass ein solches Vorgehen in Wirklichkeit jedoch lediglich der Legitimierung und Fixierung zeitgenössischer Positionen mit historischen Mitteln dient, lässt sich nicht mehr ausschließen. Geschichte verliert so ihr eigenes Gewicht und zugleich ihr kritisches Potential, das sich in einer Historisierung zu entfalten vermag, die als konsequente Kontextualisierung verstanden wird und sich der Konstruktion teleologischer Fortschrittslinien und ewiger Wertbegriffe widersetzt. Die Beantwortung der Frage, was Humanismus sei, hängt nicht anders als die gleichlautende Frage nach der Aufklärung außerdem zuerst mit dem historischen Ort dessen zusammen, der sie ausformuliert. Es ist nicht die persönliche Sicht, sondern ein Interesse leitendes, Fragen und Antworten ermöglichendes und erzwingendes Geflecht, das diese Formulierungen hervorbringt. Ist es überhaupt plausibel zu rechtfertigen, „Aufklärung“ und „Humanismus“ trotz ihrer kontextuell bedingten Unbestimmbarkeit als normative Denkinhalte oder teleologische Prozesse zu verstehen, die an bestimmten Punkten beginnen, wie übergeschichtliche, Geschichte aber strukturierende Wesen wirken und, sich dialektisch als Geist entfaltend, auf ihre eigene Selbstverwirklichung hinstreben? Dass solche unsichtbaren (Welt-) Geistentfaltungen als literarische Produkte letztlich über den Status einer Chimäre hinausgelangen, lässt sich kaum garantieren oder historisch absichern. Wenn wir jedoch nicht der Spur eines Kunstprodukts folgen, deren Erkenntnis unsere Handlungsnormen leiten soll – auf welche Spur begeben wir uns dann? Wem und was folgen wir, wenn es nicht Projekte sein sollen, die in die Zukunft weisen? Solche Projekte gesellschaftlich-geistesgeschichtlicher Manier müssen unausweichlich in den Blick geraten, weil „Humanismus“ sich seit seiner Begründung zwischen Zuschreibung, Programm und Ideal bewegt. Humanismus ist nicht nur ein Begriff mit historischen Ansprüchen, er ist in erheblichem Maße ideologieaffin, vor allem gegenüber vermeintlichen Nicht- oder Anti-Huma-
309 Michel Foucault: Nietzsche, die Genealogie, die Historie. In: Ders.: Von der Subversion des Wissens. Hg. v. Walter Seitter. Frankfurt/Main 1996, 69–90, hier 80.
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nismen, von denen sich, wie beschrieben, Humanisten stets abgegrenzt haben und abgrenzen und die sie bei ihrer Selbstkonstituierung zugleich konstruieren müssen. Wer sich von weltgeistgeleiteten Zukunftsprojekten nicht führen lassen will, sondern in solchen normierenden Projekten die Gefahr eines erneuten Dogmatismus erblickt, wird zunächst aber auf der Ebene historisch-kritischen Denkens verbleiben und nach den Bedingungen fragen können, unter denen „Humanismus“ generiert worden ist und wird. Im ersten Lösungsvorschlag war die strikte Historisierung des Humanismusbegriffs gefordert worden. In diesem zweiten Vorschlag, aus dem Dilemma des Humanismusbegriffs einen Ausweg zu finden, geht es nicht um die Historisierungsforderung. Es geht um die Frage, wie dem Dilemma entronnen werden kann, dass „Humanismus“ eine ideologieaffine Kategorie ist, die stets ganz bestimmte, normative Ansprüche auf die Definition des Menschlichen und Unmenschlichen erhebt. Die historische Kritik kann nur die Polyvalenzen des Begriffs herausarbeiten, die mit den konkreten Grenzen der jeweiligen Kontexte eng zusammenhängen. Sie wird die Singularität der Bestimmungen von Humanismus aufzeigen und Kritik an Generalisierungen und Universalitätsansprüchen anmelden, die über die epistemologischen Möglichkeiten der historischen Kritik hinausstreben. Das hat vor allem die nicht völlig gegensätzliche Verhältnisbestimmung der verschiedenen Humanismen zum Religiösen oder Christlichen gezeigt. Ist der „Humanimus“ dann überhaupt noch ein Thema, das auch als normatives Projekt zu gelten vermag, obwohl es seiner kontexuellen Limitierung offenbar nicht entrinnen kann? Zunächst führe ich einige Beispiele für die Kritik an, der ein politisch und ideologisch folgenreicher Humanismusbegriff in der aktuellen Debatte ausgesetzt worden ist. In einem zweiten Schritt wird ein Vorschlag gemacht, wie Humanismus als kritisches Projekt seine eigene Kontextualität kritisch reflektieren und dabei dennoch ein ethisches Projekt sein kann. Michel Foucault, der seit den 1970er Jahren besonders seitens deutscher Historiker und Philosophen im Gefolge von Jürgen Habermas als Gegenaufklärer und Anti-Humanist bezeichnet worden ist,310 hat die nach und mit ihm anhebenden Auseinandersetzungen um die Validität und Normativität eines hegemonialen und in der Regel westlichen Humanismusbegriffs beflügelt. Ernesto Laclau und Chantal Mouffe sind Zweifeln oder vielleicht besser gesagt: Ängsten entgegengetreten, man würde den Humanismus verlassen, 310 Vgl. dazu Michael Maset: Diskurs, Macht und Geschichte. Foucaults Analysetechniken und die historische Forschung. Frankfurt/Main 2002, 12–19 u. ö.; Thomas Biebricher: Selbstkritik der Moderne. Foucault und Habermas im Vergleich. Frankfurt/Main, New York 2005; Georg Kneer: Rationalisierung, Disziplinierung und Differenzierung. Zum Zusammenhang von Sozialtheorie und Zeitdiagnose bei Jürgen Habermas, Michel Foucault und Niklas Luhmann. Opladen 1996, Friedemann Stengel: Discourse Theory and Enlightenment. In: Aries 16, 2016 [im Druck].
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wenn man den humanistischen Werten einen wesenhaften, also überhistorischen und daher universalgültigen Status abspreche. Es gehe aber gar nicht um den Humanismus, meinen sie. Es gehe darum aufzuzeigen, wie der Mensch in der Moderne produziert worden ist. Das Stichwort Produkt ist hier aus meiner Sicht besonders zu betonen, um die Diskursivität und eben auch Performativität des Menschenbegriffs und die Genese der Identitäts- und Subjektkonstruktionen herauszuarbeiten. Erst durch diese Arbeit, so Laclau und Mouffe, könne die Befähigung entstehen, sich wirksamer und ohne Illusionen „für die Verteidigung humanistischer Werte“ einzusetzen.311 Demgegenüber hat Edward Said besonderes Gewicht auf den westlichhegemonialen Charakter der Humanismusthematik gelegt, dessen vermeintlich transzendenter humanistischer Standard letztlich eine Erfindung des westlichen Liberalismus sei. Zugleich hat Said sich von Foucault abgesetzt und den Humanismusbegriff für sich selbst in Anspruch genommen.312 Dem ist Homi K. Bhabha nicht gefolgt, als er den Zusammenhang zwischen dem Rassismus und dem – hier bürgerlichen und liberalen – Humanismus dargelegt hat.313 Die Anwendung von militärischer Gewalt mit der Begründung, es handele sich um Nothilfe und um die Universalisierung des Humanismus, ist von Thomas Biebricher nachhaltig kritisiert worden. Die von Jürgen Habermas im Zusammenhang mit dem Kosovo-Krieg vorgelegte Argumentationsreihe, es gehe um die Verrechtlichung internationaler Beziehungen, man müsse einen weltbürgerlichen Zustand herstellen und für völkerrechtliche Nothilfe auch eine (militärische) humanitäre Intervention leisten, habe außerdem die problematische Situation geschaffen, in der der „mutmaßliche Verbrecher“ (hier Serbien) letztlich über die „Legalität einer Polizeiaktion“ entscheide.314 Auf diese Weise wende sich Habermas gegen die „Rigidität der kantischen Pflichtethik“, indem er die Gültigkeit moralischer Gesetze daran knüpfe, ob sie auch eingehalten werden, dass sie also unter Umständen durch strategische Interventionen außer Kraft gesetzt werden können.315 Damit scheint der Versuch auf, ein sozusagen postsozialistisches Fortschrittsdenken historisch abzusichern, das sich zugleich als humanitär betrachtet und militärische Mittel zur Durchsetzung von Humanismus gestattet. Damit sind nur einige Bezüge genannt worden, in denen Humanismus über 311 Vgl. Ernesto Laclau u. Chantal Mouffe: Hegemonie und radikale Demokratie. Zur Dekonstruktion des Marxismus. Wien 1991, 154 f. 312 Das kritisiert James Clifford: Über Orientalismus. In: The Predicament of Culture: Twentieth-century Ethnography, Literature, and Art. Ed. by idem. Cambridge, London 1988, 255–276, hier 263 f., 270. 313 Vgl. Homi K. Bhabha: Die Frage der Identität: Frantz Fanon und das postkoloniale Privileg. In: Ders.: Die Verortung der Kultur. Tübingen 2000, 59–96, hier 90 f.; ders.: „Rasse“, Zeit und die Revision der Moderne. In: Ebd., 353–384, hier 376. 314 Vgl. Biebricher, Selbstkritik [s. Anm. 310], 236–243, hier 238. 315 Vgl. Biebricher, Selbstkritik [s. Anm. 310], 240.
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die im engeren Sinne historische Dimension hinaus als ethisches Normativ zur Disposition gestellt wird. Dennoch sichern sich auch diese Humanismen nicht nur moralisch, sondern auch historisch, nämlich meist mit Bezug auf die Aufklärung und die Werte der (westlich) verstandenen Humanismen ab. Was hat der historische Durchgang durch die äußerst heterogene Humanismusdebatte nun aber für solche problematischen Absicherungen politischen Handelns zur Folge? Im Anschluss an Michel Foucaults späte Forderung nach einer konsequenten Historisierung des „Humanismus“ möchte ich den Bogen zum Anfang meiner Ausführungen schlagen und die Frage nach dem Verhältnis von Aufklärung und Humanismus aufwerfen, die eine der Hauptperspektiven für Niethammers Humanismus und deren Rezeption durch Schelling gewesen ist. Für Foucault sind Aufklärung und Humanismus keine in sich geschlossenen Systeme, die man nur rekonstruieren müsste, um sie als Handlungsnormativ anzuwenden, als bräuchte man einen historischen Vorgang nur ‚richtig‘ zu verstehen, um für die Zukunft daraus zu ‚lernen‘. Aufklärung unterliegt als konkretes historisches Ereignis der historischen Kritik. Und der Humanismus unterliegt der historischen Kritik, weil er eine in konkrete Diskurse eingebundene Thematik sei, die wegen ihrer Elastizität, Verschiedenartigkeit und Inkonsistenz nicht selbst Reflexionsachse sein kann, sondern eben Gegenstand der Debatten. Schließlich beschreibt und rechtfertigt Humanismus die Vorstellungen des Menschen, auf die dieser selbst angewiesen ist.316 Dem steht das Prinzip der Kritik und der autonomen „permanenten Kreation unserer selbst“ geradezu entgegen,317 nicht als Selbstentdeckung im Sinne eines zum vermeintlichen Ursprung zurückgehenden metaphysischen Projekts, sondern als „asketische Selbsterfindung“,318 als „unbestimmte Arbeit der Freiheit“.319 Es ist nicht ein bestimmtes, sei es humanistisches, Menschenbild, sondern das Prinzip der Kritik, das Foucault im „Herzen des historischen Bewußtseins“320 eines aufklärerischen Ansatzes erblickt: in der Philosophie Kants. Im Anspruch, die eigene Vernunft zu gebrauchen, auch um die Grenzen 316 Vgl. Michel Foucault: Was ist Aufklärung? In: Ders.: Ethos der Moderne. Foucaults Kritik der Aufklärung. Hg. v. Eva Erdmann [u. a.]. Frankfurt/Main, New York 1990, 35–54, hier 46 f.; vgl. dazu Andrea Hemminger: Kritik und Geschichte: Foucault – ein Erbe Kants? Berlin, Wien 2004, 186–211; Ulrich Brieler: Die Unerbittlichkeit der Historizität. Foucault als Historiker. Köln [u. a.] 1998, 605–628. Foucault weist ausdrücklich auf die genannte Ambivalenz von „Humanismus“ hin. Er nennt einen religions- und christentumskritischen, einen christlichen, einen theozentrischen, einen wissenschaftsfeindlichen, einen wissenschaftsfreundlichen, einen existentialistischen, personalistischen, marxistischen, nationalsozialistischen und stalinistischen Humanismus, vgl. ebd., 47. 317 Foucault, Aufklärung [s. Anm. 316], 47. 318 Foucault, Aufklärung [s. Anm. 316], 45. 319 Foucault, Aufklärung [s. Anm. 316], 49. 320 Foucault, Aufklärung [s. Anm. 316], 47. Vgl. auch Michel Foucault: Was ist Kritik? Berlin 1992; Judith Butler: Was ist Kritik? Ein Essay über Foucaults Tugend. In: DZPh 50, 2002, 249– 265.
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der eigenen Existenz und der herrschenden Normen in Frage zu stellen, liegt ein ethischer Anspruch, den Foucault aus der Überordnung der praktischen Vernunft über die theoretische Vernunft und Erkenntnis bei Kant ableitet.321 Die Epistemologie wird mit der Aktualität im Rahmen einer ethischen Grundhaltung zur Veränderung der Gegenwart verknüpft. Aufklärung ist als Ausgang sowohl ein Prozess, an dem Menschen teilhaben, als auch ein „Akt des Mutes“ – das ist es, was sich Foucault aus Kants berühmter Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung? in seinem letzten großen Text besonders notiert.322 Dieser „Akt des Mutes“ führt in einen aus der Gegenwart heraus anhebenden Prozess, der das Verhältnis zwischen öffentlichem und privatem autonomen Vernunftgebrauch neu klären will.323 Es ist ein Moment, ein Akt, den der Einzelne, man könnte für das Anliegen dieses Aufsatzes präzisieren: der einzelne Historiker, jeweils vollzieht, ein Moment, der aus sich selbst heraus jeweils neu zu vollziehen ist und nicht zu einem geschichtlichen Abschluss kommt, indem er eine Formulierung ewig geltender Wahrheiten erlaubt. Aufklärung geschieht unabhängig von politischen und geistigen Autoritäten, unabhängig von Illusionen, Dogmatismus und Heteronomie,324 aber eben auch, so wäre Foucault zu ergänzen, unabhängig von einem ewigen, universale Ansprüche erhebenden Menschenbild. Denn solche normativen Behauptungen des Humanum sind stets historisch-kontextuell generiert. Das gilt auch für (jeweils) bestimmte christliche Auffassungen darüber, wie der Mensch sei und wie er sein solle. Zwischen einer Aufklärung, die Foucault als kritisches Prinzip betrachtet, und dem Humanismus als einem handlungsbestimmenden Normativ besteht demnach „eher eine Spannung als eine Identität“.325 Denn eine Instanz, die der Kritik vorgeordnet wäre oder ihr Regeln vorschreiben würde, wäre vorkritisch, ‚heilig‘, unantastbar. Umgekehrt muss jede dieser Instanzen dem historisch-kritischen Projekt unterworfen werden. Weder Aufklärung noch Humanismus dürfen als außerdiskursive Bedingungen des Diskurses betrachtet werden, weil sie dessen Analyse sonst verhindern. Auf dieser Linie liegt auch Foucaults Insistieren auf einem gewissermaßen zweifachen Verständnis von Aufklärung. Aus der historischen Perspektive ist Aufklärung als Ereignis Gegenstand der historischen Kritik. Aufklärung hinterfragt aber zugleich das Historischwerden auch der menschlichen, auch der eigenen Existenz und arbeitet ihre Regeln heraus. Damit überschreitet Aufklärung, verstanden als kantische Philosophie und als kantischer Begriff des „Ausgangs“, erstmals die Grenze zwischen Geschichte und Philosophie mit dem Ziel, die Gegenwart durch Erkenntniskritik – nicht durch totalitäre Pro321 322 323 324 325
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Vgl. Hemminger, Kritik [s. Anm. 316], 178. Vgl. Foucault, Aufklärung [s. Anm. 316], 37 f. Vgl. Foucault, Aufklärung [s. Anm. 316], 39 f. Vgl. Foucault, Aufklärung [s. Anm. 316], 41. Foucault, Aufklärung [s. Anm. 316], 47.
jekte326 – zu verändern. Die Kritik ist das „Handbuch“ der in der Aufklärung mündig gewordenen Vernunft, und die Aufklärung ist das „Zeitalter der Kritik“. In der strikten Abkehr von jedweder Teleologie und jedwedem Ursprungsdenken und in seiner Hinwendung zur Aktualität erkennt Foucault den Schnittpunkt zwischen „kritischer Reflexion“ und der Reflexion über Geschichte;327 mit dieser Reflexion wird die kantische Kritik an den menschlichen Erkenntnisgrenzen ins Historische gewendet. Damit ist das Humanum als jeweils Historisches selbst der historisch-kritischen Reflexion ausgesetzt. Zugleich besteht in dieser Kritik eine entscheidende Potenz menschlichen Agierens. Dies zu beginnen ist nicht eine logische Folge, Selbstverständlichkeit oder Notwendigkeit. Es ist Ethos, ein „Akt des Mutes“. Judith Butler hat in Anknüpfung an Foucault und Kant die Kritik an den Humanismen als handlungseinschränkenden und Heteronomie bewirkenden Normativen an manchen Stellen wiederholt. Sie hat betont, dass die von Foucault postulierte Kritik zugleich und vor allem ein Ethos sei, eine Haltung,328 wie Foucault selbst es beschreibt: ein philosophisches Ethos, das nichts anderes ist als die „permanente Kritik unseres historischen Seins“, die nicht in eine Theorie, Doktrin oder in einen bloßen Wissenskorpus münden dürfe.329 Dass diese Kritik vor dem Historischen nicht haltmacht, wäre nicht nur eine Aufgabe des Historikers; es wäre die Haltung, unsere eigene Historizität ebenso anzuerkennen wie die Historizität der Narrative und der Normen – eben auch des Humanismus –, die in Diskursen konstruiert werden, die die Gegenwart ordnen, normieren, reglementieren, unterwerfen. Historisierung wäre in diesem Sinne nichts weniger als ein kritisches Projekt der Freiheit.
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Vgl. Foucault, Aufklärung [s. Anm. 316], 49 f. Foucault, Aufklärung [s. Anm. 316], 41 [Hervorh. getilgt]. 328 Vgl. Judith Butler: Kritik, Dissens, Disziplinarität. Zürich 2011 [engl. 2009], 38 f., 41, sowie Butler, Was ist Kritik? [s. Anm. 320]. 329 Foucault, Aufklärung [s. Anm. 316], 45, 53. 327
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REZENSIONEN
Douglas H. Shantz: An Introduction to German Pietism: Protestant Renewal at the Dawn of Modern Europe. Baltimore: Johns Hopkins University Press 2013. – 490 S.; Ill., Kt. Douglas Shantz’ An Introduction to German Pietism ist die erste Gesamtdarstellung zur Geschichte des Pietismus in englischer Sprache seit Fred Ernest Stoefflers Doppelwerk The Rise of Evangelical Pietism (1965) und seiner Fortsetzung German Pietism in the Eighteenth Century (1973). Es ist das jüngste Werk von einer Anzahl neuerer englischsprachiger Werke, die die – meist deutschsprachige – Forschung seit Stoeffler (z. B.: AGP seit 1967, PuN seit 1974) rezipieren und mitgestalten. Das Werk umfasst 490 Seiten und hat den folgenden Aufbau: Der Hauptteil ist in vier Abschnitte aufgeteilt: Teil I stellt das sozialhistorische und das kirchenhistorische Umfeld dar, in dem der deutsche Pietismus entstanden ist. Teil II erzählt die Geschichte des Pietismus in drei Zentren: in Frankfurt, Leipzig und Halle. Teil III ist eine sozial- und kulturgeschichtliche Behandlung des Pietismus in Europa und seiner Ausstrahlung nach Nordamerika und Südindien. Teil IV bietet einen Blick auf die Wirkungsgeschichte des Pietismus über das 18. Jahrhundert hinaus. Zum Schluss sind vier Anhänge angefügt. Anhang A besteht aus Quellen (47 Seiten), die nach dem jeweiligen Kapitel geordnet sind, in dem sie behandelt werden. Anhang B ist eine Übersetzung von den 183 Fragen, die Georg Heinrich Neubauer für die Planung des Halleschen Waisenhauses auf seiner Reise in die Niederlande 1697 an die dortigen Waisenhausleiter gestellt hat. Anhang C besteht aus Diskussionsfragen zum Buch für den Gebrauch an Universitäten. Anhang D ist eine Liste der Mitglieder des pietistischen Studentenkreises in Leipzig Ende der 1680er Jahren. Die Liste macht neben dem Herkunftsort der Studenten auch Angaben zu ihren Aktivitäten nach der Studienzeit. Die Anmerkungen für das ganze Buch finden sich am Ende als Endnoten. Am Schluss stehen Bibliographien, die nach Thema organisiert und dem jeweiligen Kapitel zugeordnet sind. Das Werk hat auch ein Namens- und ein Ortsregister. Das Ziel des Buchs ist Aufklärung: „German Pietism represents a key, but forgotten, strand of the religious DNA of North American Christianity.“ Der Verfasser will den nordamerikanischen Protestanten zeigen, dass ihre religiösen Wurzeln nicht nur in England, sondern auch auf dem europäischen Kontinent und vor allem im deutschen Pietismus zu finden sind. Der Verfasser schreibt es William Reginald Ward zu, als erster diese Erkenntnis gehabt zu haben (42, 279). Zum Inhalt: In der Einführung wird die Diskussion um den Pietismusbegriff in seinem engeren (Wallmann) und weiteren Sinn zusammengefasst, wobei der Verfasser sich klar auf die Seite eines breiteren Verständnisses des Phänomens „Pietismus“ stellt, vor allem in seinem Bezug zu Reformbewegungen im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert. Andere Pietismusbegriffe (Lehmann, van Lieburg, Gierl) werden auch kurz eingeführt. 215
In Teil I werden als die geistigen Vorläufer des Pietismus einerseits die Dissidenten der Reformationszeit und wird andererseits die „Reformorthodoxie“ der Lutherischen Kirche genannt. Unter den Dissidenten werden insbesondere die Anabaptisten, die Spiritualisten und die Einzelpersonen Caspar Schwenckfeld, Paracelsus, Jakob Böhme und Johann Arndt hervorgehoben. Als Reformer innerhalb der Lutherischen Orthodoxie werden Heinrich Müller, Theophil Großgebauer, Christian Scriver und Nicolaus Hunnius kurz erwähnt, aber das Gewicht der Darstellung liegt erstaunlicherweise auf der Rolle von Johann Gerhard (als Reformer) und Valentin Ernst Löscher (als Vermittler zwischen Lutherischer Orthodoxie und Pietismus). Die sozialund politik- sowie kulturhistorischen Hintergründe werden als nächstes skizziert. Dazu gehören der Dreißigjährige Krieg, der reformierte Pietismus (Undereyck, Tersteegen) in Deutschland sowie Einflüsse aus dem Ausland, wie der Labadismus, die Nadere Reformatie und die Erbauungsbücher des Puritanismus. Teil II erzählt die Geschichte von den Anfängen des Pietismus in Frankfurt, Leipzig und Halle. In dem Kapitel über Frankfurt werden die Rolle der Hauptfiguren (Johann Jakob Schütz, Philipp Jakob Spener, Johanna Eleonora Petersen) beim Aufkommen des Pietismus in der Stadt sowie deren literarisches Vermächtnis erörtert. Insbesondere werden Speners Pia Desideria und die Reaktion darauf kurz dargestellt. Die große Rolle der Saalhofpietisten bei der Entstehung des radikalen Pietismus wird ausführlich behandelt. Das Kapitel über Leipzig beginnt mit einer Skizze der wirtschaftlichen Lage in der Stadt und der Atmosphäre während der Gottesdienste Ende des 17. Jahrhunderts. Dann werden das Aufkommen des Collegium philobiblicum und die herausragende Rolle August Hermann Franckes dabei eingeführt. Ein Höhepunkt des Kapitels bildet die Wiedergabe von Franckes Bekehrung in seinen eigenen Worten. Das letzte Kapitel in Teil II erzählt die Geschichte von Franckes Wirken in Halle an der Saale. Es beginnt mit einem Abschnitt über Franckes Anfang in Glaucha und die Gründung des Waisenhauses dort im Jahre 1698. Der Verfasser bietet in diesem Zusammenhang einen besonders ausführlichen Bericht von Georg Heinrich Neubauers Erkundungsreise in die Niederlande um Informationen über die Organisation und Führung eines Waisenhauses einzuholen. Die Entstehung von Franckes Universalreformplänen und ein Exkurs über Christian Friedrich Richter bilden die Mitte des Kapitels, und am Schluss werden Franckes Beziehung zum preußischen Staat und die Ausstrahlung der Franckeschen Stiftungen ins Ausland geschildert. Teil III behandelt die sozialen und kulturellen „Welten“ des deutschen Pietismus. Die Pluralform soll die Vielfalt des Pietismus andeuten, wie man gleich im ersten Abschnitt über den radikalen Pietismus vor Augen geführt bekommt. Dort werden der Ursprung des Begriffs „Radikaler Pietismus“ auf Albrecht Ritschl zurückverfolgt und die seitherige Gegenüberstellung des Pietismus eines Spener oder Francke mit dem eines Arnold, Dippel, beider Petersen, Horch, u. a. angesprochen. Ein Radikaler ist entweder Separa216
tist, heterodox oder beides. Nach einem Resümee der Forschungsgeschichte zum radikalen Pietismus bietet der Verfasser in Anlehnung an Ernst Troeltsch eine vierfache Typologie für den radikalen Pietismus: spiritualistisch-alchimistisch, chiliastisch, konventikelbildend und sektiererisch. Dieser Abschnitt ist der originellste Teil des gesamten Buchs und bietet reichlich Gesprächsstoff für die Pietismusforschung. Die Hauptfiguren des radikalen Pietismus werden vom Verfasser dem zutreffenden Typus zugeordnet. Eine Tabelle ist hier auch eingefügt. Drei Figuren werden porträtiert: Johann Wilhelm Petersen (chiliastisch), Johann Friedrich Rock (konventikelbildend) und Georg Conrad Beissel (sektiererisch). Eine kleine Ungenauigkeit hat sich bei der Beschreibung der Reise von Rock von Schwarzenau nach Memmingen eingeschlichen. Dort ist die Rede von einer Reisedistanz von 40 bis 50 Meilen. Die Entfernung von Wittgenstein ins Allgäu beträgt eher 400 bis 500 Kilometer. Im Kapitel „Pietism and Gender“ werden drei Leitfragen für die Vorgehensweise der Genderforschung empfohlen: Was ist Weiblichkeit und was ist der Beitrag von Frauen in einer Gesellschaft? Was ist Männlichkeit und was bedeutet das für die Gesellschaft? Wie fungiert die Rangordnung von Gender in einer Gesellschaft als Machtinstrument? Es folgt ein Exkurs über (homo-) erotische Sprache und Praktiken der Herrnhuter Brüdergemeine in den 1740er Jahren. Die Saalhofpietisten werden noch einmal behandelt, aber diesmal mit einer Perspektive, die den Genderaspekt expliziert. Neben Johanna Eleonora von Merlau, spätere Petersen, treten Maria Juliana Baur von Eyseneck und Katharina Elisabeth (Bartels) Schütz in den Vordergrund. Frauen als Anführerinnen von pietistischen Netzwerken und Konventikeln (Anna Maria van Schurman, Antoinette Bourignon) bringt der nächste Abschnitt. Anschließend werden die „begeisterten Mägde“ der 1690er Jahre vorgestellt. Am Ende des Kapitels wird das Frauenbild von männlichen Zeitgenossen (Spener, Reitz, Arnold, Henckel, Feustking) diskutiert. Dem Pietismus als Bibelbewegung wird ein ganzes Kapitel gewidmet. Die Fülle an Bibelübersetzungen in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts wird in einer Tabelle anschaulich gemacht. Besonders hervorgehoben werden das Cansteinsche Bibelwerk, die Biblia Pentapla, die Berleburger Bibel und die Übersetzung des Neuen Testaments durch Johann Albrecht Bengel. Teil III schließt mit einem Kapitel über die Missionsbestrebungen und die globale Ausstrahlung des Pietismus ab. Hier werden die Aktivitäten der Hallenser in Indien und die der Herrnhuter in Labrador dargestellt. Teil IV ist das kürzeste Teil des Buchs und untersucht die Frage nach dem Beitrag des Pietismus zur modernen Welt. Hier zitiert der Autor die fünf von Albrecht Beutel vorgeschlagenen Kategorien, die unmittelbar in die Aufklärung führten: 1) die Erschaffung von neuen Strategien der Kommunikation und 2) alternative Sozialnetzwerke; 3) die Unterminierung von zeitgenössischen theologischen und philosophischen Systemen; 4) den Individualismus; 5) das Engagement in der Welt oder die Besserung der Welt. Zum Schluss des 217
Kapitels wird der Einfluss des Pietismus auf den anglo-amerikanischen „Evangelikalismus“ nochmal zum Thema, was schon in der Einführung erwähnt wurde. Das Schlusskapitel des Buchs ist eine Rückschau auf das kulturelle und religiöse Erbe des deutschen Pietismus. Dort wird neben „cultural achievements“ des Pietismus auch über dessen „dark side“ reflektiert. Zur letzteren gehören Entzweiung (die Saalhofpietisten und Spener), Konflikte (Francke in Glaucha, Mack und von Hochenau, Mack und Beissel, Halle und Herrnhut) und Selbsttäuschung (vermeintliche Prophezeiungen). Die Heldenverehrung seitens kirchlicher und radikaler Pietisten sowie der Antiintellektualismus beider Gruppen werden auch als negative Aspekte des Pietismus dargestellt. Das Werk schließt mit einem Plädoyer an die „heirs of the Pietists“ ab, die Geschichte des Pietismus nicht zu beschönigen, sondern sich mit „significant failings“ auseinanderzusetzen. Obwohl das besprochene Werk insgesamt eine gelungene Darstellung ist, gibt es dennoch einiges kritisch anzumerken: So ist beispielsweise das Zitat von Carl Hinrichs auf einem Vorsatzblatt falsch übersetzt. Hinrichs schreibt: „Pietismus und Kirchenmusik sind als die beiden letzten großen Schöpfungen des deutschen Protestantismus bezeichnet worden.“ Die Übersetzung von Shantz lautet: „Pietism and church music have been characterized as ultimately the two great creations of German Protestantism“. Hinrichs meint, dass außer der Kirchenmusik und nach dem Zeitalter des Pietismus, der deutsche Protestantismus nichts Großartiges mehr hervorgebracht habe. Hinrichs macht hier eine chronologische Bemerkung. Shantz’ Übersetzung nennt die Kirchenmusik und den Pietismus als schlechthin die zwei großen Schöpfungen des deutschen Protestantismus. Das impliziert, dass es neben ihnen keine bedeutenden Neuerungen gab, und das sagt Hinrichs nicht! Der Abschnitt im Teil III über die Saalhofpietistinnen wäre m.E. besser in den Abschnitt über die Anfänge des Pietismus in Frankfurt in Teil II integriert worden. Es ist überhaupt ein Problem der Genderforschung, dass sie oft in einer Parallelwelt neben der allgemeinen historischen Forschung lebt, welche leider oft zu zwei sehr verschiedenen Interpretationen eines Forschungsgegenstandes führen kann. Im konkreten Fall der Saalhofpietisten gehören Genderaspekte gerade zum Herz der Sache und sollten nicht künstlich abgetrennt werden, sondern sind ein wesentlicher Teil der Geschichte. In einem Buch, das sich als Gesamtdarstellung des Pietismus versteht, kommen Zinzendorf und die Herrnhuter Brüdergemeine viel zu kurz. Nur die herrnhutische Mission in Labrador findet Beachtung. Die äußerst innovativen sozialen Institutionen der Herrnhuter kommen nicht zur Sprache. Eine Diskussion der herrnhutischen Banden und Chöre fehlt. Im Kapitel „Pietismus und Gender“ werden beispielsweise die herrnhutischen Chöre nur im Zusammenhang mit der Diskussion über die (Homo)-Erotik der Herrnhuter in der 1740er Jahre beiläufig erwähnt. Die „Sichtungszeit“ wird überhaupt nicht erwähnt. Außer der Mission nach Labrador wird das herrnhutische Engage218
ment in Nordamerika, etwa in Georgia oder Pennsylvania, nicht weiter erörtert. Zinzendorfs Konflikte in Pennsylvanien 1741/42 mit Beissel, Mühlenberg u. a. waren maßgeblich für die Weiterentwicklung des Protestantismus in Nordamerika verantwortlich. Gerade für nordamerikanische Leserinnen und Leser ist dies von großem Belang: Heinrich Melchior Mühlenberg, der Vater des amerikanischen Luthertums, kommt im Buch gar nicht vor. Außer in beiläufigen Bemerkungen (238, 242) über die dortige Hallesche und Herrnhuter Mission wird die Karibik lediglich in einem Satz (253) angesprochen. Hingegen wird den Missionsbestrebungen der Hallenser in Indien und denen der Herrnhuter in Labrador ein ganzes Kapitel (32 Seiten) gewidmet. Da die Mission der Herrnhuter in der Karibik vor allem den Sklaven galt, ist die Geschichte der Mission dort ein wichtiges Kapitel in der Christianisierung der Afro-Amerikaner. Gerade am Beispiel Herrnhut hätte der Verfasser sein Anliegen überzeugend realisieren können, die positiven Beiträge und die „dunkle Seite“ des Pietismus aufzuzeigen. Mit der Ausnahme von Gerhard Tersteegen (62–66), Johann Jakob Schütz (85 f.), Christian Friedrich Richter (136 f.) und der zweimaligen Nennung von Conrad Beissel als Liederdichter (172, 176) wird das musikalische Schaffen des Pietismus zwar öfters erwähnt, dennoch bekommt es keine systematische Erörterung. Neben den erwähnten Stellen gibt es nur noch einen Absatz über das pietistische Liedgut als Ganzes im Zusammenhang mit seiner Rezeption im modernen „Evangelikalismus“ (280). Eine Würdigung der Hymnologie von Halle und Herrnhut fällt völlig aus. Weder das Freylinghausensche Gesangbuch noch das Herrnhuter Gesangbuch werden im ganzen Buch erwähnt. Über die Lieder anderer bedeutsamer Liederdichter des Pietismus wie beispielsweise Johann Jakob Rambachs, wie über Rambach selbst, erfahren wir nichts. Außer einer einzigen Erwähnung eines „evening song service“ (209) wird die Herrnhuter Singestunde, die aus Liedersingen eine Institution gemacht hat, auch nicht erwähnt. Insgesamt ist An Introduction to German Pietism ein empfehlenswertes Werk. Ein Hauptverdienst des Werkes ist die Übersetzung der deutschsprachigen Forschung der letzten vierzig Jahre in die englische Sprache, die die Forschungsergebnisse einem größeren Publikum zugänglich macht. Es ist dem Autor gelungen, die komplexe Geschichte des deutschen Pietismus für eine neue Leserschaft begreifbar zu machen. Trotz mancherlei Lücken ist es die umfangreichste Darstellung des deutschen Pietismus in englischer Sprache. Gerald MacDonald
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„Aus Gottes Wort und eigener Erfahrung gezeiget“. Erfahrung – Glauben, Erkennen und Handeln im Pietismus. Beiträge zum III. Internationalen Kongress für Pietismusforschung 2009. 2 Bde. Hg. v. Christian Soboth u. Udo Sträter [u. a.]. Halle: Verlag der Franckeschen Stiftungen 2012 (Hallesche Forschungen, 33/1 u. 33/2). – XXV, 491 S.; Ill. – 437 S.; Ill., Notenbsp. Der III. Internationale Pietismuskongress 2009 in Halle befasste sich mit der Kategorie der Erfahrung in interdisziplinärer Perspektive und nahm damit eine dezidiert kulturwissenschaftlich bestimmte Perspektive ein. Der Titel der inzwischen vorliegenden zweibändigen Dokumentation verweist demzufolge auf das breite Spektrum der Beiträge, indem der Erfahrungsbegriff in die Trias Glaubenserfahrung, epistemische Erfahrung und praxeologische Erfahrung aufgefächert wird. Das Anliegen des Bandes formuliert Christian Soboth im Namen der Herausgeber im Vorwort. So sei es das Ziel der Tagungskonzeption gewesen, einen Tunnelblick auf den einen Pietismus zu vermeiden. Vielmehr sollte durch eine offenere thematische Formulierung der Dialog der Pietismusforschung mit der Orthodoxie- und der Aufklärungsforschung forciert werden (XIII). Die besondere Eignung des Erfahrungsbegriffs für dieses Vorhaben wird mit seiner Funktion der „Relais- und Weichenstellung“ (XVII) auf dem Feld der Praxeologie, Performanz und Emergenz begründet: „Erfahrung scheint in unterschiedlichen Verwendungszusammenhängen, Darstellungsund Argumentationskontexten ubiquitär und omnipräsent gewesen zu sein“. (XIX) Dem tragen die 63 Beiträge des Bandes in sieben Sektionen, zumeist in deutscher, manche in englischer Sprache verfasst, Rechnung. Den zeitlichen Schwerpunkt bildet das für die Pietismusforschung klassische 18. Jahrhundert, doch beschäftigen sich etliche Beiträge mit Themen zwischen dem 16. und dem 20. Jahrhundert, so dass Ursprünge, Einflüsse und Wirkungen pietistischer Erfahrungskonzepte über die Kernzeit hinaus deutlich werden, ohne dass sich an dieser Stelle in ideologischen Auseinandersetzungen um die Reichweite und die Inhalte des Pietismusbegriffs verloren wird. Die pietistischen Vertreter und Institutionen stehen genauso im Mittelpunkt der Beiträge wie eine Relektüre ihrer Texte, aber auch Archive, Bibliotheken, Kirchbauten und Landschaftsparks sind Gegenstände der Beiträge. Sie alle werden aus kirchen- und allgemeinhistorischer, literatur-, musik- und kunstwissenschaftlicher Perspektive auf den Erfahrungsbegriff hin untersucht. Insofern bildet der Band das Anliegen des Kongresses, Pietismusforschung interdisziplinär und international zu betreiben, bestens ab. Die erste Sektion Theologische und philosophische Erfahrungskonzepte und ihre Kritik umfasst neun Aufsätze, die das Thema in klassisch personengeschichtlich ausgerichteter Perspektive untersuchen. Zwischen Martin Luther und Immanuel Kant bietet diese sehr homogene Sektion vor allem einen Durch220
gang durch das 18. Jahrhundert und illustriert die Breite und Weiterentwicklung des pietistisch geprägten theologischen und philosophischen Denkens. Ernst Koch untersucht akademische Diskurse um 1700 in Leipzig, Halle und Wittenberg auf das Verhältnis von Erkenntnis und Erfahrung hin: Der Leipziger Theologe Georg Pritius vertrat eine Mittelposition und folgte einer bibelexegetisch-induktiven Methode, nach der die Heilige Schrift für die Deutung geistlicher Erfahrung unabdingbar ist. Joachim Lange als pietistischer Vertreter Halles unterschied zwischen wissenschaftlich experimenteller und sensualistischer geistlicher Erfahrung. Zu theologischer Erkenntnis aber waren nach Lange nur Wiedergeborene fähig, womit er sich im System Hallescher Theologie verortete. Gottlieb Wernsdorf aus Wittenberg als anti-pietistischer Vertreter ordnete die Erkenntnis der Erfahrung vor, wobei die theologische Erkenntnis sich aus der Heiligen Schrift als Quelle von Erfahrung speist. Die Rolle von Trost und Anfechtung spielte in den Argumentationen eine besondere Rolle: Bei Wernsdorf und Pritius erscheint Anfechtung als eine Gestalt von geistlicher Erfahrung, während sie für Lange vor allem ein Durchgangsstadium auf dem Weg zur Wiedergeburt zu sein scheint und ein Merkmal einer geistlichen Biographie darstellt (3–18). Der geistlichen Übungspraxis und der von Martin Luther geprägten Oratio, Meditatio und Tentatio widmet sich Tanja Täubner in ihrem Beitrag zur Theologie als Übungspraxis im Vergleich bei Luther und Francke. Die von Luther im Sinne seine theologia crucis geforderte Übung an der Schrift wird von Francke aufgegriffen und weiterentwickelt. So geht er über Luther hinaus, indem er sich bei der oratio nicht nur auf das Vaterunser und den Psalter beschränkt, sondern auch ein frei formuliertes Dankgebet an Gott vorschlägt. Individualisierung und Spiritualisierung, weil das Gebet aus dem Geist Gottes fließen soll, gehen hier Hand in Hand. Die Problematik der Sündenerkenntnis hingegen rückt bei Francke in den Hintergrund, vielmehr sollen Gebet und Betrachtung erbaulich wirken, sie werden aber nicht auf Christi Leiden ausgerichtet (19–32). Auch für Gottfried Arnold ist Martin Luther der Bezugspunkt seiner eigenen Erfahrungstheologie, wie Sang-Jo Lee herausstellt. Indem die Lutherrezeption mit der äußeren und inneren Lebenssituation Arnolds kontextualisiert wird, kann nachgewiesen werden, das Arnold im Zuge seiner Deradikalisierung seine extremen Äußerungen über den späten Luther und dessen Verhältnis zur Obrigkeit abmilderte und zugleich deutlich zwischen einem äußeren und einem inneren, mystischen Luther unterschied (33–40). Für Peter Vogt deckt sich die Entdeckung der Erfahrung im Pietismus bei Zinzendorf mit der Entdeckung des Herzens: Das Herz ist anthropologische Kategorie als innere Dimension des Menschen; es ist Zentrum der Wahrnehmung und Erkenntnis. Dort wird die Wahrheit des Glaubens individuell empfunden und damit erkannt. Weil der Glauben an Jesus Christus für Zinzendorf zu einer Sache des Herzens wurde, kann das Herz auch als soteriologische Kategorie bezeichnet werden (41–54). 221
Das Verhältnis der Hermeneutik Johann Albrecht Bengels zu der Zinzendorfs untersucht Dieter Ising. Wo Zinzendorf eine subjektivistische Hermeneutik beförderte, indem die Bibel mit Herz und Seele gelesen und damit erfahren werden sollte, kritisierte Bengel diese Zentrierung der Erfahrung und ihre thematische Engführung auf die Rührung am Leiden Christi (55– 60). Gerald T. MacDonald befasst sich mit dem Verhältnis von geistlichen und weltlichen Erfahrungen bei Johann Georg Walch. Während Walch in seinen theologischen Werken von geistlichen Erfahrungen sprach, redete er in den philosophischen Schriften von weltlichen Erfahrungen. Geistliche Erfahrungen resultieren bei Walch dabei aus den Erkenntnissen, die man aus der Bibel als Wort Gottes gewinnt. Damit setzte er die Bibel als letzte Autorität für Erfahrung gegen eine subjektivistische Offenbarungserfahrung (61–68). Auf Johann Salomo Semlers Kritik am pietistischen Erfahrungsbegriff geht Marianne Schröter ein. Semler reihte sich in die Tradition der paränetischen Vorlesungen in Halle ein und bildete sie zugleich um: Auch bei ihm wurden die Übungen mit einem Choral und einem Gebet begonnen, bei der Meditation aber ging es ihm nicht um die Nachahmung und Nutzung bestimmter Schemata, sondern um die Entwicklung eines eigenen inneren religiösen Zustands. Diesen zu erreichen, war bei Semler das Ziel der der Erbauung dienenden Beschäftigung. Da die göttlichen Wahrheiten, wie sie in der Bibel bezeugt sind, nicht bewiesen werden können, kann ihre Wahrheit nach Semler also nur durch Glaubenserfahrung in selbstständiger hermeneutischer Arbeit evident werden (69–80). Kristine Hannak analysiert den Zusammenhang von eigener Erfahrung und der Kritik an traditioneller Wissenslegitimation durch Schrift und Autorität bei Johann Conrad Dippel und Johann Christian Edelmann. Dippels Schriften formulierten eine Kritik gegenüber rein theoretisch begründetem Wissen ohne experimentelle Verifizierung oder praktische Erfahrungen und setzten das lebendige Gefühl als Ort der Welt- und Gotteserfahrung dagegen. Edelmann ging von der Vernunft als innerer Überzeugung von der Wahrheit aus, die Gott selbst ist, so dass die subjektiven Empfindungen als Medium der Gotteserfahrung gelten konnten (81–96). Anna Szyrwińska erörtert Ähnlichkeiten zwischen der Konzeption der moralischen Motivation bei Immanuel Kant und der Theorie der Wiedergeburt bei Philipp Jakob Spener. Beiden gilt die Vernunft als die Grundlage der Moral, bei Kant ist sie ein natürliches Merkmal, bei Spener ein Ergebnis der Gnade. Der Beitrag ist auch als ernstzunehmendes Plädoyer an die Kantforschung (103 f.) zu verstehen, die pietistische Prägung der Universität Königsberg mit zu bedenken und ähnliche intellektuelle Konstellationen zwischen Kant und Vertretern des Pietismus zu beachten (97–104). In der zweiten Sektion befassen sich sechs Aufsätze mit den Phänomenen religiöser Erfahrung. Die Bandbreite reicht von Bekehrungsberichten über das Kinderbeten in Schlesien bis zu den sozialen Erfahrungen pietistischer Handwer222
ker. Auch einzelne Beiträge anderer Sektionen hätten hier subsumiert werden können, da sich in dieser Sektion die teilweise sehr differente Deutung des Erfahrungsbegriffs durch die Autoren besonders zeigt. Jonathan Strom geht auf die Rolle und die Weiterentwicklung von Bekehrungsberichten und den darin verwendeten Narrativen im Halleschen Pietismus ein. Er belegt, dass das gemeinhin mit August Hermann Francke verbundene, für den Halleschen Pietismus prägende Narrativ des Bußkampfs oder der Anfechtung sich zum einen stark aus anderen Quellen speiste und zum anderen der spezielle Francke-Bezug erst nach dessen Tod in Halle und darüber hinaus bekannt wurde (107–130). Mit der schlesischen Kindererweckung beschäftigt sich Eric Jonas Swenssons Beitrag. Das Kinderbeten von 1707 und die Reaktionen innerhalb der pietistischen Bewegung müssen dabei mit der interkonfessionell angespannten Situation in Schlesien als auch mit der innerkonfessionell schwierigen Phase des Pietismus Anfang des 18. Jahrhunderts in der Auseinandersetzung mit der Lutherischen Orthodoxie kontextualisiert werden (131–144). In seinem Beitrag befragt Rudolf Dellsperger verschiedene konfessorische Texte des 18. Jahrhunderts, darunter Autobiographien und Erbauungsbücher, auf das Verhältnis von Erfahrung und Glauben hin und lotet das Spannungsfeld zwischen individuellem Herzensglauben und der auf theologischem Wissen beruhenden religiösen Erfahrung aus (163–184). Hans-Jürgen Schrader verfolgt in seinem literaturwissenschaftlichen Beitrag das neutestamentliche Motiv der Sünde wider den Heiligen Geist in literarischen Reflexen von Georg Büchner über Friedrich von Schiller bis hin zu Thomas Mann (185–208). Lucinda Martin untersucht die Phänomene der Besessenheit und der Ergriffenheit am bekannten Beispiel der sogenannten begeisterten Mägde in Mitteldeutschland. Martin weist zu Recht darauf hin, dass die Pietismusforschung bisher die frühneuzeitliche Traditionslinie solcher enthusiastischer Ereignisse und deren Einordnung vernachlässigt hat. Dazu gehört insbesondere die Genderperspektive: Die pietistischen Enthusiasmen traten bei Frauen auf, Männer aber deuteten sie und fungierten als Mentoren. Zugleich besaßen die pietistischen Ekstasen in der Anfangszeit, die in den Konventikeln auftraten, festigende Effekte für die Gruppenidentität und den theologischen Anspruch der Pietisten. Mit dem zunehmenden Verkirchlichungsprozess und unter dem Druck der Behörden änderte sich diese zunächst positive Bewertung des Enthusiasmus jedoch zu einer ablehnenden Haltung (145–162). Um religiöse Selbstständigkeit und Autonomieerklärungen sowie ihre Einhegung geht es auch im Beitrag von Daniel Eißner über die soziale Erfahrung pietistischer Handwerker. Er beschreibt die normativen und sozialen Abhängigkeitsverhältnisse zwischen Pfarrern und Laien in der Konstellation nichtpietistischer Pfarrer / pietistischer Laie. Für pietistische Handwerker bedeutete die individuelle Separation im Anschluss an ihre Kritik am sittlichen Zustand der Gemeinde und an den Lebensverhältnissen des Pfarrers den Ver223
lust sozialer Gesellschaftsfähigkeit. Das brachte teilweise gravierende ökonomische Probleme für die Handwerker mit sich, waren sie doch auf Geschäfte mit der Gemeinschaft angewiesen (209–223). Die dritte Sektion widmet sich der angewandten Erfahrung in Homiletik, Pädagogik und Medizin. Indem der Praxisbezug des Glaubens im Pietismus besonders betont wird, scheint die Pädagogik das Handlungsfeld zu sein, auf dem die Rolle von Erfahrung besonders greifbar wird. Fünf Aufsätze widmen sich dieser Thematik: Fritz Osterwalder geht der Rolle von Erfahrung in französischen, englischen und deutschen pietistischen pädagogischen Konzepten nach und arbeitet den Siegeszug der Erfahrung in der Erziehung im 17. Jahrhundert heraus (289– 314). Diesen Bedeutungszuwachs weist auch John Exalto für die niederländische pietistische Pädagogik nach. Die pflichtethisch geprägte puritanische Pädagogik wurde dabei um die auf Verinnerlichung zielende emotional-empfindliche Dimension im Sinne der Herzensreligion ergänzt. Die Kinder sollten nicht nur in den Pflichten unterrichtet werden, sondern angeleitet werden, diese von Herzen zu erfüllen, indem sie empfänglich für den Sinngehalt von Begriffen wie Gott, Sünde, Seligkeit wurden (323–332). Mit einem Klassiker pietistischer Pädagogik beschäftigt sich Klaus Zierer, der den pädagogischen Erfahrungsbegriff August Hermann Niemeyers untersucht. Der Begriff gewinnt bei Niemeyer auf der wissenschaftstheoretischen Ebene – Erfahrung der Erziehungsbedürftigkeit und -fähigkeit des Menschen – und auf der wissenschaftsmethodischen Ebene – Erfahrung als wesentliches Element der Wissenserschließung – Bedeutung. Damit wurde Erfahrung für Niemeyer auch im konkreten Lehrprozess relevant und zur methodischdidaktischen Grundkategorie im Sinne eines Erfahrungsprozesse. Der Ausgangspunkt des Lernens waren die Vorerfahrungen der Kinder, gestaltet wurde der Unterricht anhand von Gegenständen aus der Lebens- und Erfahrungswelt der Kinder. Immer sollte der Nutzen des Gelernten für das Leben aufgezeigt werden (347–360). Rita Wöbkemeier verfolgt die Gehörlosenpädagogik im 18. Jahrhundert anhand der Beiträge von Siegmund Jakob Baumgarten und Johann Peter Süßmilch sowie Johann Gottfried Herder die Frage, inwieweit Hörsinn, Gebrauch der Lautsprache und Verstand zusammengehören (271–288). Richard Gawthrop ordnet Herders Denken in frühneuzeitliche Traditionslinien ein, wobei er besonders den Bezug auf ein von Luther und Francke geprägtes protestantisches Bildungskonzept herausarbeitet (333–346). Joseph S. Freedman und Andres Straßberger befassen sich mit der Predigttheorie und der Entwicklung der Predigtpraxis. Während Freedman verschiedene pietistische und nicht-pietistische homiletische Konzeptionen synoptisch vergleicht (227–256), konzentriert sich Straßberger auf die Entstehung einer spezifisch halleschen Predigtlehre. In deren Mittelpunkt stand die Vorstellung von 224
der Bekehrung des Predigers und seiner Erfüllung durch den Heiligen Geist. Der Prediger sollte sodann den geistlichen Affekten des Predigttextes nachgehen und diese dem Predigthörer mit dem Ziel der Bekehrung vermitteln (257–270). Wie Jürgen Helm darlegt, erfuhr die Kategorie Erfahrung in der Medizin des 18. Jahrhunderts eine Aufwertung durch die Sammlung und Publikation von Fallgeschichten. Die Fallsammlungen des halleschen Arztes Christian Friedrich Richter dienten dem Erfahrungsgewinn über die Wirkung von Medikamenten – und damit auch der Werbung für die Produkte. Friedrich Hoffmanns Medicina consultatoria hatte das Ziel, aus Einzelfallbeobachtungen verallgemeinerbare Aussagen abzuleiten und der Medizin durch empirische Funde eine stärkere theoretische und praktische Basis schaffen. Den Bezug zur Aufklärungsforschung stellt Helm her, indem er Hoffmanns Fallsammlung aufgrund ihres konkreten wissenschaftlichen Ziels und der damit verbundenen methodologischen Reaktion auf die sich verändernden sozialen und geistigen Umstände der Epoche, als ein „Kulturmuster der Aufklärung“ (373) bezeichnet (361–375). Schreiben und Geschriebenes aus und mit Erfahrung lautet das Thema der vierten Sektion. In neun Aufsätzen werden die Medien Brief, Gebetsbuch, Tagebuch, Lebenslauf, Gutachten und Missionszeitschrift analysiert. Tünde Beatrix Karnitscher untersucht die Trostbriefe Jakob Böhmes auf ihre Leistung bei spiritualistischen Themen. Böhmes Wahl dieses handschriftlichen, zwischen mündlicher Kommunikation und gedruckten Schriften angesiedelten Mediums diente dem Distanzgewinn innerhalb der Kommunikationsgemeinschaft, der Kontrolle seiner Leserschaft und der Bewahrung seiner Autorität durch Authentizität. Durch den eingeschränkten Rezipientenkreis wurde zudem ein Gefühl von Exklusivität und Individualität bei seinen Anhängern erzeugt (379–394). Über spezifisch weibliche Briefpraktiken arbeitet Katja Lißmann und legt anhand von Beispielen aus dem frühen Quedlinburger Pietismus dar, dass Trost und Erbauung im Mittelpunkt solcher Briefe standen (419–432). Weibliche Erfahrungen stehen auch im Zentrum der Analyse des Trostund Gebetsbuchs Geistliche Weiber=Aqua=Vit von Aemilie Juliane von Schwarzburg-Rudolstadt, die Susanne Schuster vornimmt. Die weiblichen Erfahrungen von Schwangerschaft und Geburt, Ehesegen und Kindsnöten wurden in diesem Gebetbuch im christlichen Kontext gedeutet und Texte und Gebete für diese spezifischen Lebenssituationen entwickelt (395–404). Miriam Rieger kann anhand der verschiedenen untersuchten theologischen Gespenster-Gutachten die Funktionalisierung solcher Texte aufzeigen, um bestimmte positive oder negative Ergebnisse zu erreichen, sei es, um einen unliebsamen theologischen Gegner zu entfernen oder einen Beitrag in der Teufelsdebatte zu leisten. Zu Beginn des 18. Jahrhunderts verschob sich die Kompetenz in Gespensterfragen jedoch von den Theologen auf die Mediziner und Juristen (405–418). 225
Herrnhutische Themen liegen den Aufsätzen von Christine Lost, Elisabeth Schneider-Böklen und Thilo Daniel zugrunde: Lost setzt sich mit Herrnhuter Lebensläufen auseinander und fragte nach den misslungenen oder problematischen Lebensläufen und dem Umgang damit. Diese wurden regulierend eingesetzt, besaßen doch auch sie einen Lehrwert für ihre Leserschaft: Trotz aller Lebensbrüche konnte auf die Leitung durch Jesus Christus und die Heimat in der Gemeinschaft als leitende Topoi verwiesen werden (433–446). Schneider-Böklen untersucht einen Konflikt um die Kontrolle religiöser Erfahrung und die Rollenzuweisung für ledige Frauen in Herrnhut. Als nach dem Tod Zinzendorfs Ordnungsversuche innerhalb der Brüderunität vorgenommen werden sollten, verweigerte sich 1771 der Chor der ledigen Schwestern, eine Frauengemeinschaft von ca. 400 ledigen Frauen, dem Einzelsprechen der Frauen vor den Brüdern und ohne ihre Chorhelferin und Seelsorgerin, obwohl es per Losentscheid nach herrnhutischem Verständnis durch den Heiland selbst befohlen worden war. Diesen Konflikt um geistliche Autorität und seelsorgliche Kontrolle entschied die Unitätsältestenkonferenz nach harter Zurechtweisung der Frauen für sich. Er steht damit beispielhaft für die Zurückdrängung der Schwestern aus den wichtigsten Leitungsgremien in Herrnhut nach Zinzendorfs Tod (473–480). Zinzendorfs Ringen um Theologie und die Praxis der Beichte und Buße steht im Mittelpunkt des Beitrags von Daniel. Die Methode, über das Gefühl von der äußeren auf die innere Erfahrung zu schließen und damit zu Urteilen in Glaubensdingen zu kommen, ließ Zinzendorf die biblische Erzählung und die Person von Nikodemus als wahrem Schriftgelehrten zum Sinnbild für sein eigenes Handeln werden (459–472). Ulf Lückel untersucht mit dem Tagebuch des Grafen Casimir zu Sayn-Wittgenstein-Berleburg ein weniger bekanntes Medium. Dessen Hof als Probierfeld radikalpietistischer Lebens- und Glaubenspraxis wird darin als Umsetzung des Reichs Gottes in der Welt erfahren und beschrieben (447–458). Die Vermittlung von Fremdheitserfahrungen durch Menschenbilder in Missionszeitschriften, ist das Thema von Julia Mack. Einerseits befeuerte die Exotik des Beschriebenen den Fremdheitscharakter, andererseits wurde er auch überwunden, indem durch das Medium selbst die Distanz überschritten wurde. Leser sollten sich mit der Mission identifizieren und zu Unterstützern und Spendern der Missionsprojekte werden (481–491). In der fünften Sektion werden ästhetische und künstlerische Formulierungen von Erfahrung von zwölf Beiträgen untersucht. Joachim Jacob beschäftigt sich mit pietistischer Sprachästhetik bei Francke und Zinzendorf. Während bei Francke das Verhältnis von Wort und Tat und dabei die Bewährung im tätigen Werk im Mittelpunkt stehen, wurde bei Zinzendorf die Sprachhandlung zur Bekräftigung der Erfahrung des eigenen Herzens und damit der Heilandserfahrung bedeutsam (495–504). Nach Lothar van Laak wird ästhetische Erfahrung bei Alexander Gottlieb 226
Baumgarten als Erhebung und Vergegenwärtigung und als Wirkung des Selbstgefühls in der Zeit begriffen. Entfaltet werden die Bilder und Wirkungen dieser Erfahrung in der Einbildungskraft (504–512). Überlegungen zu Christian Fürchtegott Gellert und der Transformation einer pietistisch geprägten Erfahrungskategorie im Roman stellt Katja Barthel an. Anhand von Gellerts Moralischen Vorlesungen und des Romans Leben der schwedischen Gräfin von G*** arbeitet sie die Korrelation zwischen Wahrnehmung, Erkenntnis, Glauben und Handlung als Reflektion pietistischer Idealvorstellungen heraus (513–526). Zwei Beiträge befassen sich mit Friedrich Gottlieb Klopstock: Laura Benzi untersucht, wie Klopstock seine Poetik in Anlehnung an religiöse und besonders pietistische Muster entwickelte (527–542). Klopstocks Epos Messias wird von Frauke Berndt als Andachtsmedium begriffen, in dem Gott erfahrbar werden sollte (543–560). Der Theologe Adam Bernd steht ebenfalls im Mittelpunkt von zwei Aufsätzen: Cornelia Bogen untersucht Suizidvorstellungen im Rahmen des Diskurses um Melancholie (561–572). Katrin Löffler fragt nach Bernds Anthropologie zwischen Pietismus und Frühaufklärung anhand von dessen Lebens-Beschreibung. Das autobiographische Werk versteht sich zugleich als medizinische Kasusschilderung, pietistisch inspirierte Konfessionsliteratur und Traktat über den Selbstmord und verfolgt insofern einen ganzheitlichen anthropologischen Ansatz (573–586). Ferdinand van Ingen untersucht Karl Philipp Moritz’ Roman Anton Reiser und deutet ihn anders als Teile der Forschung nicht als einen der Säkularisierung das Wort redenden Text (596 f.), sondern als ein Dokument des aufkommenden (theologischen) Rationalismus (587–598). Jan Harasimowicz stellt mit dem Gelehrten Leonhard Christoph Sturm und dem Umbauprojekt der Schelfkirche in Schwerin ein architekturhistorisches und zugleich konfessionspolitisch konnotiertes Thema in das Zentrum seines Beitrages. Die Erfahrung des Glaubens und die Vorstellung einer Mathesis universalis leiteten Sturm zur Notwendigkeit neuer Kirchentypen für die protestantischen Konfessionen, die dem lutherischen oder reformierten Glauben Ausdruck verleihen sollten. Er schuf die Grundlagen des protestantischen Kirchenbaus mit den Grundrissen des Ovals, des quergelegten Rechtecks oder des Winkelhakens. Der Umbau der Schelfkirche in Schwerin wird Harasimowicz nach zum Musterbeispiel dieses Konzepts (599–620). Die Emblematik Christian Hoburgs in der Lebendigen Hertzens-Theologie untersucht Magdolna Veres. Durch den Vergleich mit Emblemkonzeptionen jesuitischer Provenienz begreift sie Hoburgs Emblembuch als Rezeption und Transformation der Herz-Jesu-Theologie und damit als Ausdruck des interkonfessionellen Dialogs (621–634). Suvi-Päivi Koski befasst sich mit Johann Anastasius Freylinghausens Gesangbüchern und der Gesangbuchdebatte mit lutherisch orthodoxen Theologen um die pietistisch geprägten Inhalte der Texte (635–648). 227
Dianne M. McMullen berichtet von der Arbeit an der kritischen Freylinghausen-Ausgabe, die in Halle erarbeitet wird. Anhand von Beispielen aus verschiedenen Ausgaben wird erläutert, wie die Varianten einzelner Lieder den Wandel des musikalischen Geschmacks im 18. Jahrhundert widerspiegeln (649–655). In der sechsten Sektion werden Erfahrungen in und mit Gemeinschaften und Institutionen von acht Beiträgen behandelt. Dabei wird stärker noch als in den vorausgegangen Sektionen deutlich, welche Prägekraft und Dominanz die beiden wichtigsten Zentren des Pietismus im 18. Jahrhundert Halle und Herrnhut für die pietistische Bewegung besaßen. Benjamin Marschke untersucht die Beziehungen zwischen Halle und dem Hof des preußischen Königs Friedrich Wilhelms I., der gemeinhin als Förderer des Halleschen Pietismus gilt. Marschke arbeitet heraus, wie die politische Erfahrung der Pietisten in Halle im Umgang mit König und Hof immer wieder reflektiert und sich der Beziehung versichert wurde. Marschke kann belegen, dass bereits 1730 mit der Öffnung des Königs für die Philosophie der Aufklärung und nicht erst mit dem Thronwechsel 1740 der Niedergang der guten Beziehung begann (659–680). Die Privatbibliothek Carl Hildebrand von Cansteins steht im Zentrum des Beitrags von Brigitte Klosterberg und Anke Fiebiger. Er ist Erfahrungsbericht und zugleich eindrucksvolle Leistungsschau der bibliothekswissenschaftlichen Erschließungsarbeit des Studienzentrums August Hermann Francke in Halle und verdeutlicht, welcher Quellenreichtum in Halle noch auf seine weitere Entdeckung durch die Forschung wartet (681–694). Gleiches gilt für die Herrnhuter Archive, deren Inhalte und insbesondere die Gemeindediarien Aufbewahrungsorte pietistischer Erfahrungen sind, wie Paul Peucker herausstellt (695–706). Der Erfahrungskonservierung diente die Fühlbarmachung des Glaubens im Herrnhuter Pietismus bspw. durch den Kult der Seitenhöhle. Ute Gause und Patrick Wulfleff führen aus, wie bei der Wahrnehmung der sinnlichen Elemente die Innenperspektive der Erfahrung von Geborgenheit, Zuwendung und Herzensfrömmigkeit des Gläubigen und die Außenperspektive, die den Herrnhutern Einbildung, Herabsetzung der Schrift und Betrug des Herzens vorwarf, auseinanderklafften (707–716). Identifikation mit der Gruppe und Inklusion liegen auch den Berichten jüdischer Konvertiten im akademischen Umfeld Mitteldeutschlands zugrunde, die Anke Költsch untersucht. In einer Zeit des gestiegenen Interesses an der hebräischen Sprache und der jüdischen Kultur und Religion – nicht zuletzt in Halle durch die Gründung des Institutum Judaicum im Jahr 1728 – konnten Konvertiten ihre Erfahrungen und ihr Wissen oftmals im akademischen Bereich einbringen und nutzen (767–780). Alexander Pyrges verdeutlicht, wie die Franckeschen Stiftungen Kompetenzen der Expansion entwickeln. Keine kohärente Strategie, sondern das weite personelle Netzwerk und die Verschickung von Büchern und Medikamenten, 228
mithin der Export von Wissen, stellten die stetig wachsende transatlantische Kommunikation her. Die im Ausland gewonnenen Erfahrungen mit der Mission, die Rezeption von Büchern aus Halle, aber auch die Beobachtungen bei der Anwendung von Medikamenten wirkten wiederum zurück in die Ausbildung von Theologen in Halle, das Angebot der Waisenhausdruckerei oder die Medikamentenentwicklung (717–734). Konflikte um einen Mitarbeiter der zweiten Reihe in den Franckeschen Stiftungen, den Chemiker und Arzt Johann Wolfgang Künstel, untersucht Elisabeth Quast. Deutlich wird, dass die Mitarbeiter der Waisenhausapotheke und der Labore eine eigene Gruppe innerhalb der Stiftungen bildeten, die einerseits eigenständig agieren sollte, um der Medikamentenproduktion nachzukommen, andererseits aber wegen dieser Eigenständigkeit und der damit verbundenen Kenntnis von ‚Betriebsgeheimnissen‘ besonders kontrolliert werden musste (735–752). Klaus vom Orde geht am Beispiel von unternehmerischem Denken und Handeln bei Francke und dem im Umfeld der Basler Mission tätigen Freiburger Unternehmer Carl Mez der Frage nach, inwieweit man den sachlichen Zusammenhang zwischen Pietismus und Erweckungsbewegung an konkreten Beispielen vergleichend plausibel machen kann (753–766). Erfahrene Räume und Zeiten sind das Thema der neun Beiträge der siebten und letzten Sektion. Gerade die Verschiedenheit und der Facettenreichtum der untersuchten Räume (und Zeiten) untermauert, wie notwendig und gewinnbringend der Vollzug des spatial turn in der Pietismusforschung ist. Die Öffnung zur Raumforschung fordert Stefan Michel mit seiner Analyse der Vorstellung und Metaphorik vom Real- und vom Idealraum, nämlich dem Welt-Raum und dem Himmel-Raum, im Erbauungsbuch Das gewaltige Eindringen ins Reich Gottes von Friedrich Eberhard Collin (783–794). Den Landschaftspark der Gräfin Friederike von Reden im schlesischen Buchwald mitsamt seinen Bauten beschreibt Urszula Bończuk-Dawidziuk als Ort und Ausdruck der religiösen Praxis, in dem durch Naturkontemplation der Weg zu Gott gebahnt und erfahren werden sollte, der Park also gleichzeitig realer und transzendenter Raum war (795–808). Unterschiedliche geographische Räume sind die Themen der Beiträge von Ondřej Macek, Alexander Schunka und Christina Jetter-Staib, deren Klammer jeweils der Bezug auf den Halleschen Pietismus ist. Macek beschäftigt sich mit der Wirkung der Teschener Pietisten, die ihrerseits durch Halle geprägt waren, auf die geheimprotestantischen Gemeinden in Böhmen und Mähren (809–822). Schunka untersucht in Erweiterung des koselleckschen Begriffs vom Erfahrungsraum (824) die Erfahrungen und die Erwartungen über England im Halleschen Pietismus und ihre Abbildung im Alltag und in der Arbeit in den Stiftungen, die eine zunehmende Englandkompetenz entwickelten und förderten. Das zeigte sich in Gestalt der Annahme englischer Schüler in Halle, der Förderung der englischen Sprache, der Einrichtung der Englischen Biblio229
thek und des Englischen Tisches. Die konkrete Englanderfahrung und ihr Nutzen wirkten solcherart nach Halle zurück und führten zu Veränderungen und Anpassungen im Raum der Stiftungen (823–836). An Friedrich Michael Ziegenhagen macht Jetter-Staib deutlich, welches enorme Netz die Repräsentanten des Halleschen Pietismus geknüpft hatten, durch das europäischer, atlantischer und indischer Raum miteinander in Verbindung traten (837–850). Anhand der Indienmission zeigt Ulrike Gleixner Aspekte von Raum und Erfahrung für das unterstützende Netzwerk im Alten Reich auf. Indem die Unterstützer die chiliastische Grundhoffnung des Halleschen Pietismus hinsichtlich des Reichs Gottes teilten, kann von einem eschatologischen Handlungsraum gesprochen werden, der mit dem vergesellschaftenden Raum, dem Raum des sozialen und pädagogischen Handelns und dem durch die Halleschen Berichte konturierten medialen Raum korrespondierte (851–862). Die Erfahrung fremder Räume bringt die Erfahrung mit ihren fremden Bewohnern und mit deren Religion und Kultur mit sich. Am Beispiel des Herrnhuter Missionars John Heckewelder und dessen Bericht über die Delaware-Indianer zeigt Pia Schmid, wo die Grenzen der Verstehensmöglichkeiten für den weißen bürgerlichen, christlichen Missionar lagen (863–878). Den Veränderungsprozess des württembergischen Pietismus im 19. Jahrhundert hin zu Verbürgerlichung, Integration in die Landeskirche und die Einhegungsversuche radikalpietistischer Gedanken und Lebensweisen stellt Eberhard Fritz dar. Deutlich wird, wie viele kulturelle, soziale und karitative Entwicklungen des 20. Jahrhunderts auf pietistische Anstöße zurückzuführen sind, wodurch Württemberg sicherlich einen besonderen Raum für die Pietismusforschung darstellt (879–892). Die Konstruktion von Geschichte und von Wirklichkeit untersuchen die beiden letzten Beiträge des Tagungsbandes und der Sektion: Jan Carsten Schnurr analysiert den Zusammenhang von Erfahrung und Geschichtsschreibung in der deutschen Erweckungsbewegung. Die entstehenden christlichen Universalgeschichten, Kirchengeschichten, Weltgeschichten, Missionsgeschichten, Biographien usw. hatten alle das Ziel, eine dezidiert christliche Geschichtsschreibung zu begründen. Aktueller Stand der Wissenschaften und eigene Glaubenserfahrung wurden biblisch gedeutet. Zentrale Kategorie und Leitmotiv des Geschichtsdenkens war dabei die Vorstellung vom Reich Gottes als zu verwirklichender und sich verwirklichender Raum (893–902). Stephan Mühr verfolgt die Frage nach der Bestimmung der Wirklichkeit, dessen, was wirklich ist, in Reflexionen über Martin Luther, Gottfried Arnold, Barthold Heinrich Brockes, Johann Wolfgang von Goethe bis hin zu Werner Heisenberg. Damit schließt sich der thematische Kreis zur Eingangssektion über die Kategorie der Erfahrung in philosophischen und theologischen Texten (903–913). Ergänzt werden die beiden Tagungsbände durch ein Personen- und Ortsre230
gister. Angesichts der großen Zahl der Beiträge und der interdisziplinären Herkunft der Autorinnen und Autoren hätte sich dazu noch ein Autorenund Autorinnenverzeichnis angeboten. Der vorliegende Sammelband legt die Pluralität von Erfahrung im Pietismus anschaulich dar. In der Fülle, die sich aus der im Vorort begründeten thematischen Offenheit ergibt, liegt jedoch zugleich ein Problem des Tagungsbandes: Indem auf Definitionen und Theoriediskurse verzichtet wurde, bleibt der Erfahrungsbegriff insgesamt unscharf. Die Beiträge leisten zweifelsohne einen wichtigen und neuen Beitrag in der Pietismusforschung, indem sie den Erfahrungsbegriff für verschiedene Zusammenhänge herausarbeiten. Weil ihnen aber ein gemeinsames Konzept oder zumindest eine Diskussion darüber fehlt, stehen sie gelegentlich als Solitäre ohne Korrespondenz nebeneinander. Die Veranstalter und Herausgeber waren sich dieser Problematik jedoch bewusst: „Erfahrung hatte im 18. Jahrhundert ebenso Konjunktur wie sie – auch deshalb – als Begriff schwer auf den Punkt zu bringen und als Phänomen schwer zu durchschauen ist.“ (XIX) Der sich gelegentlich einstellende Eindruck von Inhomogenität der Beiträge durch den Verzicht auf eine Begrenzung des Erfahrungsbegriffs wird jedoch aufgefangen, indem jederzeit deutlich wird, dass die Bezüge auf den Pietismus, seine Vertreter, Theologien, Medien, Räume, Netzwerke und Artefakte die gemeinsame große Klammer der Beiträge bilden. Insofern liegt die wichtige Leistung der Dokumentation in der Eröffnung eines vielfältigen Blicks auf das Panorama frühneuzeitlicher, pietistisch geprägter Erfahrung im 18. Jahrhundert und darüber hinaus in der breiten Anschlussfähigkeit für weitere Forschungsdebatten. So regt die Dokumentation sicherlich auch dazu an, die Diskussion über den Erfahrungsbegriff im Pietismus fortzusetzen und ihn weiter zu schärfen. Marianne Taatz-Jacobi
Berlin
Geschichte des Pietismus. Band 3: Der Pietismus im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert. Hg. v. Ulrich Gäbler. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2000. – XII, 605 S.; Ill. Vor 15 Jahren erschien der dritte Band der Geschichte des Pietismus (im Folgenden GdP), der zum ersten Mal einen Gesamtüberblick über die Geschichte des Pietismus im 19. und 20. Jahrhunderts geboten hat und dessen Autoren in einigen Fällen forschungsgeschichtliches Neuland betreten haben. Drei Monenda seien eingangs angezeigt. Erstens: In einigen Beiträgen erweist sich, dass Frontenbildungen, die zur Zeit der Erweckungsbewegung im 19. Jahrhundert das Selbstverständnis prägten, von einigen Autoren unkritisch übernommen worden sind und implizit ihren Beiträgen zu Grunde liegen. 231
Zweitens: Viele Autoren wählen einen stark personenzentrierten Zugang, der zum Teil problematisch ist. Denn in der Folge sind einige Beiträge eher eine additive Aneinanderreihung von Namen, die zum verhandelten Oberthema zwar passen, ohne dass jedoch tiefere Einsichten gewonnen werden können. Drittens: Der Band hätte sorgfältiger redigiert werden sollen. Einige Namen fehlen im Register, obwohl sie mehrfach im Text vorkommen (z. B. Falk, Hardenberg), manchmal werden Sterbedaten mit angeführt, manchmal nicht – sogar auf ein- und derselben Seite (322), mal werden Namen mit Vornamen genannt, mal die Vornamen später ergänzt (vgl. Spittler 313). Eingangs skizziert Hartmut Lehmann gewohnt souverän Die neue Lage (2– 26). Dass die dabei angesprochenen Forschungsprobleme (2), die Forschung zum Teil 15 Jahre später noch beschäftigen, indiziert eine dem Untersuchungsgegenstand als breitenwirksame Bewegung inhärente Problematik. L. benennt neue Zentren des Pietismus wie London und Basel, geht kurz auf den gegenüber den Missionaren gewachsenen Stellenwert theologisch konservativer Pastoren näher ein sowie ausführlicher auf politische und wirtschaftliche Aspekte. Interessant ist m.E. das nur sehr knapp angerissene Thema der pietistischen Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts, deren Träger sich der durch die Aufklärung bereitgestellten neuen Medien wie selbstverständlich bedient haben. Jüngste Forschungen zum pietistischen Geschichtsbewusstsein haben in der Zwischenzeit die 2000 von Lehmann gegebenen Impulse aufgenommen und weitergedacht. Mehrere kurze Einzelkapitel, die Fragen der Integration und Distanzierung in Kultur, Wissenschaft und Kirche anreißen, runden diesen einführenden Beitrag ab, der ganz im Gegensatz zu allen anderen Artikeln komplett ohne Fußnoten auskommt. Darin zeigt sich das avisierte Leserpublikum dieses einführenden Beitrags, der zu den besten des Bandes gehört. Als Zweites thematisiert Ulrich Gäbler Evangelikalismus und Réveil (27–84), wofür er parallel ablaufende Entwicklungen in ausgewählten europäischen Territorien in den Blick nimmt. Wichtig ist G.s Hinweis auf die Korrespondenz zwischen britischen „Evangelicals“ mit Francke und seinem Sohn (29), wozu man noch einen Hinweis auf Seite 466 ergänzen sollte, wo die Korrespondenz zwischen letztgenannten und US-Amerikanern angesprochen wird. Wie wichtig England in der Tat für Francke war, hat ein 2014 erschienener Sammelband eindrücklich gezeigt. In kurzen Kapiteln, die u. a. die Sozialarbeit, das Phänomen der Entchristlichung sowie das Schriftverständnis der „Evangelicals“ ansprechen, bietet G. zunächst einen Überblick über die Entwicklung in Großbritannien (28–39), um im Anschluss ausführlicher auf diejenige in Genf einzugehen (39–56). Da G. selbst auf den entscheidenden, initiierenden Einfluss des britischen Evangelikalismus hinweist (44), hätte man diesbezüglich allerdings ausführlichere Erläuterungen erwartet. Spezifisch für das Genfer Réveil ist der ungewöhnlich hohe Missionseifer, den G. mit der „Einschätzung, Vernunftglaube und Französische Revolution hätten zu einem verheerenden Rückgang des Christentums geführt“ (55), 232
erklärt. Hier besteht auch 15 Jahre nach der Publikation noch die spannende Forschungsaufgabe, die vorhergehende pietistische Missionstätigkeit, zumal die von Halle unter Gotthilf August Francke ausgehende, zu der Missionstätigkeit Genfer Provenienz in Beziehung zu setzen und nach ähnlichen Motiven und gemeinsamen Traditionen zu fragen. Ein im Vergleich zu Genf deutlich kürzerer Abschnitt ist der Entwicklung in Frankreich gewidmet, die wiederum von britischen und Genfer Einflüssen entscheidend stimuliert worden ist. Anhand der Biographie von Adolphe Monod (1802–1856) zeigt G. die charakteristischen Kennzeichen der französischen Entwicklung und fasst zusammen: „Diese wird gespeist aus der calvinistischen Tradition sowie Einflüssen des Genfer Réveil und des britischen Evangelikalismus. Es gibt keine einheitliche Lehre. Grundlegende Unterschiede sind etwa in der Ekklesiologie erkennbar. Eschatologische oder sozialkritische Konzepte fehlen. Besondere theologische Leistungen hat der französische Réveil nicht hervorgebracht.“ (64) Angesichts dieses Ergebnisses stellt sich doch die Frage, ob in Überblicksdarstellungen zum 19. Jahrhundert überhaupt die Notwendigkeit besteht, die Entwicklung in Frankreich gesondert in den Blick zu nehmen oder nicht vielmehr als einen Unterpunkt zum Genfer Réveil und dessen Missionstätigkeit abzuhandeln. Der Einfluss der Herrnhuter auf die europäischen Erweckungsbewegungen zeigt sich deutlich in den Niederlanden, die abschließend betrachtet werden (66–74), wobei zeitweise um 1800 in Amsterdam parallel auf Deutsch und Niederländisch gepredigt wurde. Isaac da Costas Einreden wider den Zeitgeist von 1823 sollte die Niederlande als „‚Israel des Westens‘“ (69) darstellen, zu dem wesensmäßig der Calvinismus gehöre und dessen Aufgabe darin liege, die von Frankreich ausgehende Gottlosigkeit zu bekämpfen. Diese Schrift bildet ein besonders eindrückliches, wenn auch in ihrer Wirkung beschränktes Beispiel für das Selbstverständnis niederländischer Erweckter. Zu den im Anschluss beschriebenen drei Richtungen des niederländischen Protestantismus, die sich um die Mitte des 19. Jahrhunderts entwickelten, hätte man sich allerdings noch namentliche Vertreter gewünscht (70 f.), zumal die Entwicklung der Erweckungsbewegungen in den Niederlanden trotz einiger Parallelen und Kontinuitäten für die erste Hälfte des 19. Jahrhundert immer noch einer vertieften Analyse bedarf. Inzwischen kann diesbezüglich auf die 2011 erschienene Niederländische Religionsgeschichte zurückgegriffen werden. Den dritten Beitrag liefert Horst Weigelt über „[d]ie Allgäuer katholische Erweckungsbewegung“ (87–111) und eröffnet damit einen größeren Block zur Erweckungsbewegung in Deutschland. Diese allerdings mit der „Allgäuer katholische[n] Erweckungsbewegung“, die ihre Hauptwirkung in den ersten zwei Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts hatte, zu eröffnen, vermag kaum zu überzeugen. Bereits durch die Charakterisierung dieser Bewegung als „innerkatholische“ – auch wenn alternative Kategorisierungen angeführt werden (86) – wird das konfessionssprengende Potential, welches m.E. das eigentlich 233
Interessante dieser Bewegung ist, in Frage gestellt. Das dabei angesprochene Engagement des Ministers Maximilian Graf von Montgelas, der diese Bewegung tolerierte, um zu zeigen, „daß der neue bayerische Staat willens war, jede Form religiöser Intoleranz abzulehnen, alle klerikalen Einflüsse zurückzudrängen und die Macht der kirchlichen Hierarchie zu brechen“ (96), hätte ausführlicher dargestellt werden sollen, da exemplarisch verdeutlicht wird, wie einzelne religiöse Gruppierungen staatlicherseits als Mittel gegen die katholische Kirche funktionalisiert werden sollten. Die eigentliche Pointe der Allgäuer Erweckungsbewegung als Instrument, um sich dem Einfluss der römischen Kirche zu widersetzen, kommt somit im Ganzen zu wenig zum Ausdruck. Die „bedeutende[n] Wirkungen“ der Allgäuer Erweckungsbewegung außerhalb Bayerns sind m.E. nicht ausreichend herausgearbeitet, ebenso wie ihr Einfluss auf Russland zu knapp beschrieben wird (101–103). Ob überdies ihre Frontstellung tatsächlich „gegen die radikale Aufklärung“ (104) gerichtet war, erscheint insofern fraglich, als ihr Hauptgegner eher in Rom zu lokalisieren war. Weigelts zweiter Beitrag trägt den leicht umständlichen Titel Die Diasporaarbeit der Herrnhuter Brüdergemeine und die Wirksamkeit der Deutschen Christentumsgesellschaft im 19. Jahrhundert (113–149). Die hier eingangs beschriebene Frontstellung, laut der die Brüdergemeine Gemeinorte gegründet habe, „[u] m der radikalen Spätaufklärung Bollwerke und Glaubensstätten entgegenzusetzen“ (114), vermag nicht zu überzeugen und illustriert stellvertretend die von einigen Autoren implizit zu Grunde gelegten theologiegeschichtlichen Frontlinien. Im Folgenden skizziert W. die Arbeit der Herrnhuter, benennt umsichtig abwägend Gründe für ihren nachlassenden Einfluss, der auch wirtschaftlichen Entwicklungen geschuldet war (121–123) und leitet anschließend zur Arbeit der Deutschen Christentumsgesellschaft über. Einige der folgenden Abschnitte sind allerdings sehr zitatlastig (siehe 2.2. [129]) oder beschränken sich auf Namedropping und einige kurze Erklärungen. Dies ist allerdings eine Schwäche des Bandes im Ganzen, die hier nur besonders deutlich wird. Namen werden angesprochen, kurz in Beziehung zum Hauptthema des Beitrags gesetzt, und dann wird schon der nächste Name genannt (z. B. 131). Dies erschwert es, einen prägnanten Einblick in das jeweils verhandelte Thema zu erhalten. Die beigefügten Abbildungen sind passend ausgewählt und umfassen neben Porträts, Kirchenabbildungen auch zeitgenössische Karten. Auch die hier wiederum angesprochenen Frontstellungen („Einig waren sie sich in der Ablehnung der radikalen Aufklärung und der von ihr beeinflußten theologischen Strömungen“ [139]) hängen einer Sicht an, die möglicherweise für das Selbstverständnis der Herrnhuter wie der Christentumsgesellschaft zutreffend war, aber heute überholt wirkt, zumal man damit die abschließend angesprochene „religiöse[] Pluralität“ (140) wieder in Abrede stellen müsste. Zu Beginn seines Beitrags über Erweckung innerhalb der deutschen Landeskirchen 1815–1888. Ein Überblick (150–271), der mit über 120 Seiten (und 593 Fußnoten!) die Dimensionen eines Handbuchbeitrags m.E. schlicht sprengt, 234
thematisiert Gustav Adolf Benrath prägnant „Eingrenzung, Epochen“ und den „Forschungsstand“ (150–156), um anschließend einen nach geographischen Regionen differenzierenden Überblick zu geben. Eine sich an diesem Aufbau orientierende Rezension würde ihrerseits den Rahmen einer Rezension sprengen, sodass im Folgenden lediglich einige Streiflichter geworfen werden können. Klug ist die Entscheidung, eingangs einige allgemeine Bemerkungen vorzuschalten, die unter anderem fünf Phasen für die Entwicklung der Erweckungsbewegungen benennen (151 f.). Ausführlich werden Entwicklungen und Personen im Rheinland angesprochen, zum Teil wird auf spezielle Städte wie Hannover oder Hamburg näher eingegangen (202–209) wie auf die Verhältnisse in Thüringen. Johann Gottfried Scheibels Kritik an der Neologie, die er während seines Studiums in Halle kennengelernt hatte (179), scheint durchaus exemplarisch für eine stattliche Anzahl der deutschen Erweckten gewesen zu sein. Misslich ist allerdings, dass z. B. wichtige Personen, wie Johannes Daniel Falk, angesprochen werden, aber nicht ins Register aufgenommen worden sind (217). Die Entwicklung in den süddeutschen Territorien wie Württemberg und Bayern folgen, bevor abschließend u. a. auf Frankfurt am Main näher eingegangen wird. Der Materialreichtum dieses Beitrags ist zwar hoch, aber man hätte sich als Leser doch einige resümierende Zeilen gewünscht bezüglich Ähnlichkeiten und Unterschieden, die an die einführenden Ausführungen angeschlossen hätten. So bleibt zum Schluss der zwiespältige Eindruck, als Leser zwar viele neue Einzelinformationen erhalten zu haben, aber trotzdem noch über kein verallgemeinerbares Wissen zur Erweckung innerhalb der deutschen Landeskirchen zu verfügen. Arnd Götzelmann widmet sich im Anschluss der Soziale[n] Frage (272– 307). Einige Uneinheitlichkeiten irritieren den Leser bei diesem Aufsatz. Namen wie Hardenberg werden angeführt, ohne dass sie im Register wieder auftauchen (273), Literatur wird ohne aaO. oder ebd. zitiert (274), mal werden Lebensdaten angeführt, wie bei A. H. Francke, mal nicht wie beim Freiherrn vom Stein (273 f.) oder sind offensichtlich falsch (vgl. die angegebenen Lebensdaten zu Christian Gottlieb Blumenberg (276). Johannes Daniel Falk wurde wieder nicht ins Register aufgenommen (279) und wird wahlweise mit J. oder J. D. innerhalb weniger Seiten (280 u. 284) abgekürzt. G.s Aussage, laut der Francke, die „gesellschaftlich-sozialen Ursachen der Not [. . .] weder erkannt noch bekämpft“ habe (274), befremdet allerdings. Der Aufbau des Beitrags, der nach kurzen, allgemeinen Vorbemerkungen zunächst „[e]rste soziale Initiativen im Kontext der Erweckungsbewegung“ nachzeichnet (275–280), dann die „ältere Rettungshausbewegung“ untersucht (280–284), um anschließend auf die „jüngere Rettungshausbewegung und die ‚männliche Diakonie‘“ näher einzugehen (284–289) ist überzeugend. Ebenso sinnvoll ist es, Ausführungen zur „‚weiblichen Diakonie‘“ (289–295) in einem eigenen Unterpunkt zu bündeln. Ob allerdings dieser Aspekt nicht eine ausführlichere Würdigung verdient hätte als die nachfolgende „[c]hristliche Industrie bei Gustav Werner“, sei einerseits kritisch gefragt wie andererseits, 235
ob die Kurzdarstellung der Bodelschwinghschen Anstalten auf zwei Seiten (299 f.) dem Gegenstand angemessen ist. Karl Rennstich geht anschließend auf die Geschichte der protestantischen Mission in Deutschland (308–319) in einem Kurzbeitrag ein. Seine Kategorisierung der die Mission tragenden Gruppen in „Pietisten, Konfessionelle, Liberale“ (308) müsste freilich ausführlicher begründet werden, zumal wenn, wie hier von R. den Pietisten zugesprochen wird, dass sie „den weitaus wirkungsvollsten Einsatz auf den Missionsfeldern und in der Heimat geleistet“ (ebd.) hätten. Auch ist kritisch zu fragen, ob die Aussage des Autors, die von „bescheidenen Anfängen einer pietistischen Mission im 18. Jahrhundert“ (ebd.) spricht, seit den Forschungen zu H. M. Mühlenberg noch berechtigt ist. Auch zwei Drittel einer Seite nur mit Zitaten zu bestreiten (vgl. 310), erscheint gerade angesichts der Knappheit des Beitrags unzweckmäßig. Mehr als ein bloßes Kleinod sind die knapp angesprochenen Missionslieder (312 f.), die immer noch ein aufzuarbeitendes Forschungsfeld darstellen. Leider fehlt ein Resümee, und so bleibt ein insgesamt disparater Eindruck. Im Anschluss werden die Erweckungsbewegungen im Norden im 19. und 20. Jahrhundert von Pentti Laasonen thematisiert (321–357), wobei dieser Beitrag mit gerade einmal 27 Anmerkungen auskommt. Der Autor untersucht in einem ersten größeren Abschnitt die Entwicklung in den vier nordischen Ländern (321–347). Die als allgemeine Frontstellungen am Beispiel Dänemark beschriebenen Konstellationen des Pietismus gegenüber „Orthodoxie“ (321) bzw. dem „Kirche und Christentum gegenüber feindlich eingestellte[n] Aufklärungsrationalismus“ (322) hätten allerdings einer begrifflichen Erläuterung bedurft, in der u. a. geklärt wird, wer aus Sicht des Autors zur „Orthodoxie“ bzw. dem „Aufklärungsrationalismus“ jeweils zu zählen wäre. Die Konzentration auf F. S. Grundtvig ist plausibel, selbst wenn nicht immer ausreichend deutlich wird, was genau gemeint ist, wenn z. B. von dessen „frühere[r] Bibelphase“ (324) die Rede ist. Die enge Verbindung zur allgemeinen Volksbildung wird aufgezeigt, bevor näher auf die „Indre Mission“ eingegangen wird. Anschließend wird auch die Entwicklung in Norwegen personenkonzentriert, diesmal an H. N. Hauge orientiert, dargestellt. Anders verlief die Entwicklung in Schweden insofern, als hier die Pfarrer eine führende Rolle innerhalb der Erweckungsbewegung beanspruchten. Zu den angesprochenen Einflüssen Franckes, Speners oder auch Rambachs hätte man sich allerdings weitergehende Ausführungen gewünscht (333). Auch erscheinen die Unterschiede zwischen der hier beschriebenen Erweckungsbewegung und der „neuevangelische[n] Erweckungsbewegung“ (335), die sich gegen die „Gesetzesfrömmigkeit des Altpietismus ebenso wie den Rationalismus der ‚unbekehrten‘ Pfarrer“ (336) aussprach und ihrerseits Bekehrung einforderte, nicht hinreichend klar. Für die im Anschluss geschilderte Entwicklung in Finnland ist ihre „bewußte Kirchlichkeit“ (338) vom Autor als charakteristisch benannt. Dieser Abschnitt ist lehr- und inhaltsreich und wird zudem durch illustrative Abbildungen (340 f.) bereichert. Umfassendere Überlegungen schließen sich in zwei 236
weiteren Abschnitten an, in denen das Verhältnis der Erweckungsbewegungen zu Gesellschaft und Kultur (347–351) sowie Staat und Kirche (351–356) diskutiert werden. Hier werden auch Vergleichspunkte zur Entwicklung in Deutschland deutlich. Theologische Charakterisierungen wie die des Erzbischofs von Turku, Jakob Tengström (1755–1832), als „gemäßigter Neolog“ (349) werfen freilich die Frage nach der Dauer der Neologie in Finnland auf. Wichtig ist der vom Autor plausibel herausgearbeitete Einfluss, den die Erweckungsbewegungen insgesamt auf die Aktivierung gesellschaftlicher Partizipation in demokratiepropädeutischer Abzweckung ausübten, indem man innerhalb der Bewegungen die Wertigkeit des eigenen Stimmrechts begreifen lernte. Inwiefern sie infolge ihrer Lektüre der Schriften Luthers und Arndts tatsächlich „hinter den Rationalismus und die Neologie zur Orthodoxie zurück“ (352) gingen, erscheint noch als zu wenig differenziert beantwortete Fragestellung. Die europäische Perspektive verlängert Pavel Filipi mit seinen Ausführungen über die Erweckungsbewegung in Ostmitteleuropa (359–369), dessen Beitrag allerdings angesichts seines Betrachtungsraumes präziser „im bömisch-mährischen“ oder „tschechischen“ Raum betitelt wäre. Anders als vorige Beiträge konzentriert sich F. auf das Scheitern der Erweckungsbewegung im von ihm untersuchten Gebiet und gelangt zu dem Urteil: „Die Evangelisationsaufgabe der tschechischen Erweckung blieb unerfüllt, und der böhmisch-mährische Raum wurde zu einem der weitestsäkularisierten Länder Europas.“ (368) Dabei hätte man sich eine Erläuterung zum vom Autor verwendeten Begriff des „wilde[n] Pietismus“ (361) gewünscht. Auch in diesem Kurzbeitrag fällt die starre theologiegeschichtliche Frontenbildung auf, die von vielen Autoren „automatisch“ zu Grunde gelegt wird auf, z. B. wenn es heißt: „Die Aufklärungskritik, wie sie unter den Anhängern der Erweckung betrieben wurde, konnte unter den tschechischen Protestanten nur wenig Widerhall finden. Die negativen Auswirkungen der Aufklärung auf Frömmigkeit, Theologie und Kirche machten sich über lange Zeit nicht bemerkbar.“ (360) Solche Pauschalurteile, die offenbar dazu dienen, die nachfolgende Erweckungsbewegung von einer einseitig als „negativ“ wahrgenommenen Aufklärungstheologie abzusetzen, sollten spätestens 2015, aber eigentlich doch auch schon 2000, überholt gewesen sein. Einen neuen Hauptabschnitt eröffnet Jörg Ohlemacher mit seinen überzeugenden und plausibel strukturierten Ausführungen über Evangelikalismus und Heiligungsbewegung im 19. Jahrhundert (371–391). Nach einer Begriffsklärung und einem kurzen Überblick zur Forschungslage zeichnet er die historische Entwicklung nach und geht dabei auf den europäischen Einfluss auf die Heiligungsbewegung in den USA näher ein, die insbesondere nach dem Sezessionskrieg zu einer Massenbewegung avancierte. O. fasst zusammen: „So reicht das Spektrum der angelsächsischen Heiligungs- und Evangelisationsbewegung von optimistischem Aktivismus mit gesellschaftsveränderndem Anspruch bis zu einem eher resignativen, quietistischen Denkrahmen.“ (376 f.) Die Glau237
benskonferenzen von Oxford und Brighton 1874 und 1875 werden genauer betrachtet, weil sie die Rückwirkung der us-amerikanischen Heiligungsbewegung auf Kontinentaleuropa widerspiegeln. In diesem Kontext verweist O. auf deren partielle theologische Rückständigkeit: „[D]och zeigte sich bei einem großen Teil dieser ‚Reichgottesarbeiter‘, Evangelisten und Gemeinschaftspfleger, daß sie nicht genügend theologische Kriterien besaßen, um die Lehren der Heiligungsbewegung an den Grundüberzeugungen der evangelischen Glaubenslehre zu messen. An die Stelle theologischer Urteilsbildung traten Erfahrung und eine funktionale Verwendung der biblischen Überlieferungen (Biblizismus).“ (386) Abschließend verweist der Autor auf die partielle Veränderung der Rolle der Frauen, für die exemplarisch Adeline Gräfin Schimmelmann angeführt wird. Eine Publikation von 2010 hat in der Zwischenzeit gezeigt, wie umfangreich das Engagement dieser wichtigen Protagonistin der deutschen Heiligungsbewegung gewesen ist. Auch der zweite Beitrag von Ohlemacher, diesmal über Gemeinschaftschristentum in Deutschland im 19. und 20. Jahrhundert hält das hohe Niveau (393– 464). Eingangs wird die „Uneinheitlichkeit des Forschungsstandes“ angezeigt (393–396). Nach einem Blick auf vorhergehende Entwicklungen zwischen 1875 und 1887 wird die erste Gnadauer Konferenz 1888 näher betrachtet, deren Leitthemen den Gang des Gemeinschaftschristentums bis 1914 prägen sollten. O. verweist auf das leitende Grundanliegen: „Nicht Lehrkonsens stand im Vordergrund des Interesses sondern die gemeinsame Praxis zur Heraufführung des Reiches Gottes.“ (403) Anschließend werden anhand einzelner deutscher Territorien die regionalen Entwicklungen bis zum Jahrhundertbeginn knapp dargestellt, bevor O. eine „Zwischenbilanz“ zieht, die kritisch abwägend die insgesamt erfolgreiche Entwicklung der Gemeinschaftsbewegung auch im Hinblick ihrer Partizipation an der protestantischen Milieubildung betont, dabei aber auch kritische Hinweise gibt. Die Entwicklung nach 1902 wird sodann u. a. anhand eines Überblicks über einschlägige Ausbildungsinstitutionen nachgezeichnet, um schließlich ausführlicher auf die Kritischen Jahre 1903 bis 1914 vertieft einzugehen (426–433). Die transatlantischen Verbindungen werden im Anschluss skizziert und dabei auf die „Geburtsstunde der weltweiten Pfingstbewegung“ (433) im April 1906 verwiesen. Trotz dieser zwischenzeitlich intensiven Beziehungen zwischen den USA und Europa kam es schließlich, v. a. wegen den von der deutschen Gemeinschaftsbewegung kritisierten Geistbegabten, zur Trennung von der deutschen Gemeinschaftsbewegung, deren Gang sodann für die Jahre 1914 bis 1933 nachgezeichnet wird (443–455). Der 1. Weltkrieg wurde weniger begrüßt als vielmehr als „große[ ] Mahnung“ (444) verstanden, wobei insbesondere das Selbstverständnis der Gemeinschaftsbewegung als ihrem Anspruch nach weltweit agierende Bewegung sie zu einem gewissen Grad gegenüber nationalem Chauvinismus immunisiert haben soll (vgl. 443 f.). Die abschließenden Ausführungen zur Geschichte der Gemeinschaftsbewegung im Zeitalter des Nationalsozialismus zeigen, dass auch die Gemeinschaftsbewegung überwie238
gend Hitler folgte und gegenüber ihren jüdischen Mitbürgern eklatant versagte. Der Entwicklung in den USA widmet sich Mark A. Noll in Evangelikalismus und Fundamentalismus in Nordamerika (465–531). Beginnend bei George Whitefield und dem Great Awakening beschreibt N. den Übergang vom Puritanismus zum Evangelikalismus. Relevanz gewann Letzterer insbesondere durch seine Verbindung mit der amerikanischen Revolution, die als Prozess gedeutet wurde, in dessen Verlauf „Gottes Volk“, als das man sich selbstverständlich selbst sah, neue Freiheit errang. N. erklärt den Erfolg des Evangelikalismus vor allem mit seiner Kompatibilität zum „demokratischen Geist des Landes“ (472). Die Synthese von Evangelikalismus und junger Demokratie war für beide Seiten ein Erfolgsmodell. Der Evangelikalismus entwickelte sich im 19. Jahrhundert zur dominierenden Religionsgemeinschaft in den USA und nicht zuletzt Teilen Kanadas und gewann durch die zweite Great Awakening, die circa bis 1810 andauerte, zusätzliche Antriebskraft. Unter den Evangelikalen wuchs die Zahl der Baptisten, die schließlich im 20. Jahrhundert eine Mehrheit bilden sollten. Die Gründung der Southern Baptists Convention 1845 verdeutlichte einen bis dato innerhalb baptistischer Gemeinden unbekannten Grad an Zentralisation, auch wenn sich viele baptistische Gemeinden dieser Dachorganisation nicht anschließen sollten. Die Missionstätigkeit der Erweckungsprediger auf dem europäischen Kontinent wird anschließend ausführlicher thematisiert (482–487). Kritisch weist N. darauf hin, dass die Missionstätigkeit oftmals dazu genutzt wurde, den „American Way of Life“ zu propagieren, dabei freilich auch für eine globale Verbreitung christlicher Lehrvorstellungen sorgte (486 f.). Die Durchdringung der us-amerikanischen Gesellschaft mit evangelikalem Gedankengut vollzog sich derart umfassend, wie es heute kaum mehr vorstellbar erscheint. Allein zwischen 1790 und 1830 wurden knapp 600 religiöse Zeitschriften gegründet, Organisationen wie die American Bible Society überschwemmten den Kontinent mit Bibeln, das Schul- und Erziehungswesen geriet maßgeblich unter evangelikalen Einfluss, die Zahl der Sonntagsschulen wuchs beinahe exponentiell. Die im Gegensatz zu Europa stärkere Unabhängigkeit der Evangelikalen von der universitären Ausbildung sicherte zunächst einen gewissen Grad an Autonomie, führte allerdings zu einer weitreichenden Entkoppelung von den auf den Universitäten erzielten theologischen Fortschritten. (490) Politisch-gesellschaftliches Potential entfaltete der Evangelikalismus, indem er sich gegen Sklaverei und für Abstinenz einsetzte und damit die Politik zunehmend beeinflusste. Dieser Einfluß ließ freilich gegen Ende des 19. Jahrhundert nach, als infolge der großen Einwanderung und Industrialisierung neue soziale Verhältnisse entstanden. Die Reaktion der Evangelikalen auf diese neuen Entwicklungen führte zu einer Spaltung in vom Autor „modernistisch“ bzw. „fundamentalistisch“ (496) genannte Richtungen, in deren Folge der Evangelikalismus als prägende Kraft zunehmend an Gewicht verlor. Dafür sorgte auch die bekannte Kontroverse um die Evolutionslehre 239
als Schulstoff, die in dem berühmten Scopes-Prozess kulminierte (509). Nachdem der Autor kurz auf die Social Gospel Bewegung wie die Pfingstbewegung eingegangen ist, konzentriert er sich plausiblerweise zum Abschluss seines Beitrags auf das Wirken Billy Grahams, der entscheidend für die Ausstrahlungskraft eines neuen Evangelikalismus wurde. Seine hohe Integrationskraft, sein strikter Antikommunismus und die persönliche Ausstrahlung Grahams erklären laut N. zu einem Gutteil seinen Erfolg. Der dabei zunehmende pluralistische Charakter des Evangelikalismus sorgte freilich dafür, dass sich allmählich neue Untergruppen bilden konnten, wie die New Religious Right, die zunehmend Politik mit gestalteten. N.s Beitrag, der im Übrigen überaus gelungen übersetzt worden ist, verlängert anders als die meisten anderen Autoren die Perspektive bis in die unmittelbare Gegenwart und besitzt somit auch 15 Jahre nach seiner Publikation noch eine hohe Aktualität. Den Abschluss bildet Eberhard Busch über den Pietismus in Deutschland seit 1945 (533–567). B. zeigt, wie man an das „‚Erbe der Väter‘“ (536) anzuknüpfen suchte und insbesondere in die Auseinandersetzung um Bultmanns Entmythologisierungsprogramm eingriff. Seit Ende der 1960er Jahre verbanden sich pietistische und evangelikale Anliegen, insbesondere ausgelöst durch den Einfluss Billy Grahams. Medial wählte man nunmehr Ton- und Bildträger anstelle der älteren Traktate, nahm am Internationalen Kongress für Weltevangelisation 1974 in Lausanne teil und hielt in der Folge an einem Ehe- und Frauenbild fest, welches zunehmend quer zum Zeitgeist stand. Besondere Bedeutung kam dem Pietismus im Bereich der Diakonie zu, sodass B. sinnvollerweise diesem Aspekt einen abschließenden, eigenen Abschnitt widmet (549–552), in dem gezeigt wird, dass Diakonie und Evangelisation sich partiell produktiv miteinander verbinden ließen. Eigentlich hätte man in diesem Beitrag als interessierter Leser noch einige Zeilen über die Arbeit der Historischen Kommission zur Erforschung des Pietismus erwartet, womit man sich möglicherweise die ein oder andere aktuelle Kontroverse erspart hätte. Malte van Spankeren
Halle/Saale
Anton Grabner-Haider, Klaus S. Davidowicz u. Karl Prenner: Kulturgeschichte der frühen Neuzeit. Von 1500 bis 1800. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2014. – 287 S. Mit großen Erwartungen nimmt man diese Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit in die Hand. Ganz Europa wollen die Autoren behandeln, dazu neben dem Katholizismus und dem Protestantismus auch die Kultur des Judentums und die Kulturgeschichte des Islam, neben Philosophie und Naturwissenschaften auch Literatur, Musik und Kunst. Selten werden die Erwartungen der Leser aber so sehr enttäuscht wie bei der Lektüre dieser Kulturgeschichte der 240
Frühen Neuzeit. Ich beschränke mich hier auf die wichtigsten Gründe für dieses wenig freundliche Urteil. Die Autoren haben, was auf den ersten Blick sinnvoll erscheint, die einzelnen Themenbereiche konsequent voneinander getrennt. Dadurch kommen aber, wie es sich herausstellt, mögliche Querverbindungen und wechselseitige Beziehungen (etwa zwischen Religion und Literatur) nur selten und häufig überhaupt nicht in den Blick. Das gilt auch für den kurzen Abschnitt über den Pietismus, wo wir zwar etwas über Theologie und Frömmigkeit erfahren, aber nichts über die Gebiete, die in der neuesten Pietismusforschung besonders lebhaft diskutiert werden, so etwa Pietismus und Medizin, Pietismus und Literatur, Pietismus und Musik. Auch der Kultur des Judentums und der Kultur des Islam gelten separate Abschnitte. Diese Abschnitte sind, das sei ausdrücklich betont, nicht zu beanstanden. Durch die Art des Aufbaus werden aber die gewiss nicht immer einfachen Beziehungen zwischen Juden und Muslimen und der in sich selbst gespaltenen christlichen Mehrheitsgesellschaft nicht so deutlich, wie das möglich wäre und wie man sich das wünschen würde. Dazu kommt, dass die meisten Abschnitte in einer geradezu kindlich einfachen Sprache geschrieben sind. Nur ein Beispiel aus dem Teil über „Lebensformen und Lebenswelten“. Dort heißt es: „Ein großes Problem der Städte waren die vielen Obdachlosen, die im Sommer auf freien Flächen schliefen und im Winter Notunterkünfte in Schuppen und Scheunen bekamen; viele von ihnen dürften erfroren sein“ (19). Solche Sätze sind nicht einmal falsch, aber doch auf irritierende Weise harmlos und verharmlosend. Anton Grabner-Haider, von dem der Hauptteil des Texts stammt, hat sich auch nicht konsequent darum bemüht, die neuere Forschung zu konsultieren. Wie aus seinen Anmerkungen hervorgeht, stützt er sich zum Beispiel in dem Abschnitt über „Protestantische Lebenswelten“ vor allem auf zwei Überblicksdarstellungen von Friedrich Wilhelm Graf (von 2006) und von Martin Greschat (von 2005). Nichts gegen diese beiden Werke. Vieles, was diese beiden Autoren nicht erwähnen und was doch wichtig wäre, kommt deshalb auch in dem vorliegenden Buch nicht vor. Es würde zu weit führen, hier auch die einzelnen Fehler im Text anzuführen. Nur einige wenige Beispiele: Carl von Linnee im Text Seite 151, C. v. Linne im Register Seite 286, richtig wäre: Carl von Linné; Emanuel Swedenborg im Text Seite 151, E. Sewedenborg im Register Seite 287; John Weseley Seite 40 im Text und Seite 287 im Register, richtig wäre: John Wesley. Auf insgesamt drei Seiten (37–39) wird unter dem Titel „Erweckungsbewegungen des Glaubens“ der Pietismus abgehandelt. Hier erfahren wir etwas von dem „Prediger Jacob Spener“ und von „Albrecht Bengel“. Nur August Hermann Francke behält seine beiden Vornamen. In der neuen Form der Frömmigkeit, die später „Pietismus“ genannt wurde, war, so wörtlich, „die Hoffnung ausgedrückt, der Heilige Geist werde die lutherische Kirche von innen her erneuern und umgestalten. Dann würden sich ihr die Katholiken, 241
die Juden und die Moslems freiwillig anschließen“ (in der Anmerkung wird verwiesen auf Graf und Greschat). Weiter: „Die Stadt Halle an der Saale war das Zentrum der Franckeschen Anstalten, dort wurden in der Folgezeit die Führungsschichten des ganzen Landes ausgebildet. Durch Leistung, Kontrolle und Motivation sollten zum einen selbstbewußte Bürger, zum anderen aber angepasste Untertanen ausgebildet werden“. Letztes Beispiel: „Der Pädagoge Nikolaus Graf von Zinzendorf (gest. 1760) gründete in Ebersdorf eine überkonfessionelle Erweckungsgemeinschaft, die Katholiken und Protestanten vereinigte. [. . .] Von dort aus wurde die religiöse Kolonie Herrenhut gegründet [. . .] In Brandenburg-Preußen wurden die Herrenhuter als eigene Religionsgemeinschaft anerkannt“ (alle Zitate 38). Ich denke, das genügt. Meine Kritik richtet sich nicht nur an die Autoren, sondern auch an den Verlag, an Vandenhoeck & Ruprecht. Hat in diesem Verlag, in dem in der Vergangenheit so viele ausgezeichnete Werke zur Geschichte des Pietismus verlegt wurden, niemand den Text vor der Publikation gelesen, und arbeitet bei V & R inzwischen niemand mehr, der weiß, dass es „Herrnhut“ heißt und nicht „Herrenhut“ und „Wesley“ und nicht „Weseley“? Bibliotheken sollten dieses Buch nicht anschaffen. Am besten wäre es, wenn es gründlich überarbeitet würde. Hartmut Lehmann
Kiel
Rudolf Schlögl: Anwesende und Abwesende. Grundriss für eine Gesellschaftsgeschichte der Frühen Neuzeit. Konstanz: Konstanz University Press 2014. – 563 S. Von Pietismus ist in diesem nicht gerade schmalen Buch nur an zwei Stellen die Rede. Seite 101: „Die pietistischen Eschatologien verzeitlichten sich seit dem 18. Jahrhundert“ (wobei unklar ist, was der Autor damit meint). Seite 130: „Eine übergreifende lutherische Orthodoxie formierte sich erst am Ende des 17. Jahrhunderts in der Auseinandersetzung mit dem Pietismus“ (das ist immerhin klar, historisch aber nicht unbedingt richtig). Es ist also möglich, wie das Beispiel dieses Buchs zeigt, einen Grundriss für eine Gesellschaftsgeschichte der Frühen Neuzeit zu schreiben, ohne auf den Pietismus, das heißt ohne auf die wichtigste Reformbewegung innerhalb des Protestantismus im Zeitalter nach der Reformation, einzugehen. Zwar stellt der Autor einleitend fest, sein Buch biete „keine thematisch umfassende Darstellung der frühneuzeitlichen Gesellschaft“ (24). Dass der Autor aber fast ganz darauf verzichtet, die Ergebnisse der neueren Pietismusforschung auszuwerten, ist jedoch bemerkenswert. Zu vielen Themen, die in dem vorliegenden Buch ausführlich behandelt werden, hätte die Pietismusforschung durchaus etwas beitragen können. Bei242
spiel eins: Kommunikation (Briefe, Zirkularkorrespondenzen, Zeitschriften, internationaler erbaulicher Büchermarkt). Beispiel zwei: Zeitvorstellungen (Heilsgeschichte, Endzeitdenken, Chiliasmus, kurzum die intensive Beschäftigung mit Zeiten jenseits der irdischen Zeit). Beispiel drei: Raumvorstellungen (Das Reich Gottes in der Nähe und in der weiten Welt, Missionsfelder). Beispiel vier: Soziale Ordnung in Dörfern, Städten und an Höfen (Konventikel als Provokation, Auswanderung als Suche nach einem Zufluchtsort vor Repression, die oft prekäre Stellung der pietistischen Hofprediger). Weitere Beispiele könnten genannt werden. Das muss hier nur angedeutet und braucht nicht weiter ausgeführt zu werden. Religion, oder, anders formuliert: die Lebenswelt der dezidiert Frommen, spielt für den Autor im Zeitalter nach der Reformation ebenso wenig eine Rolle wie die Lebenswelten der Frommen außerhalb des Alten Reichs (Puritaner, Quietisten, Jansenisten). Was der Autor mit großer Ausführlichkeit und mit einem hohen theoretischen Anspruch diskutiert: nämlich die wesentlichen Elemente der Gesellschaft in der Frühen Neuzeit, ist somit höchstens ein Ausschnitt aus der frühneuzeitlichen Gesellschaft. Der Autor ist dem Werk des Soziologen Niklas Luhmann in besonderem Maße verpflichtet. Er hat, wie es scheint, die Absicht, den etwas luftigen Theoriegebäuden von Luhmann eine solide historische Basis zu geben. Das gelingt ihm aber nur zum Teil, da ihm, Luhmann folgend, wesentliche historische Entwicklungen in der Frühen Neuzeit nicht besonders wichtig erscheinen. So geht er zum Beispiel nicht darauf ein, dass die Bevölkerung in Mitteleuropa im 16. Jahrhundert zunächst rasch wuchs, ab etwa 1580 stagnierte, seit etwa 1600 deutlich und in einigen Gegenden geradezu dramatisch zurückging, erst ab etwa 1650 sich wieder langsam erholte und erst um 1750 wieder den Stand von 1600 erreichte. Die Ursachen? Missernten aufgrund einer säkularen Klimaverschlechterung, in der Folge Versorgungsengpässe, an vielen Orten Hungersnot, dazu Seuchen, schließlich Krieg und immer wieder Krieg – also der ganze Komplex, der in der neueren Forschung unter dem Thema „Die Krisen des 17. Jahrhunderts“ oder auch unter der Rubrik „Folgen der Kleinen Eiszeit“ verhandelt wird. Was hat das mit Kommunikation und Vergesellschaftung zu tun? Die Frommen haderten mit Gott, weil sie nicht begreifen konnten, warum er ihnen diese schweren Prüfungen auferlegte. Angst vor einem schnellen Tod ohne die Sicherheit, vor Gott am Tag des Jüngsten Gerichts Gnade zu finden, beherrschte viele Menschen in Dörfern und Städten und selbst an den Höfen. Die Verfasser von Erbauungsbüchern gaben in dieser Situation wohlgemeinte Ratschläge. In den von Philipp Jakob Spener angeregten collegia pietatis gelang es vielen Frommen, ihre Angst zu überwinden. Diejenigen, die sich in Halle und später in Herrnhut für den Bau des Reiches Gottes engagierten, lebten in der Hoffnung, am Tage des Jüngsten Gerichts vor Gott bestehen zu können. So fragt man sich am Ende etwas ratlos, ob es sich bei der Pietismusforschung vielleicht doch nur um eine Nischenwissenschaft handelt, deren 243
Ergebnisse für einen Historiker wie Rudolf Schlögl, der sich mit den großen Themen wie Herrschaft, Gesellschaft und Kommunikation beschäftigt, ohne Bedeutung sind. Aber auch die gegenteilige Reaktion wäre denkbar, nämlich der Vorwurf an den Autor dieses Buchs, dass er nicht über den Tellerrand seiner eigenen wissenschaftlichen Interessen hinausgeblickt hat. Denn hätte er das getan, hätte er von der Pietismusforschung auch für seine eigenen spezifischen Themenfelder viel profitieren können. Hartmut Lehmann
Kiel
Polina Serkova: Spielräume der Subjektivität. Studien zur Erbauungsliteratur von Heinrich Müller und Christian Scriver. Duisburg: Universitätsverlag Rhein-Ruhr 2013 (ESS-Kultur, 7). – 241 S.; Abb. Der Begriff „Subjektivität“ eröffnet Spielräume: Im Alltagsgebrauch steht er gar für – individuelle – Spielräume per se. So häufig und leicht er sich verwenden lässt, so schwierig lässt er sich allerdings spontan definieren. Wissenschaftliche Stellungnahmen zur Historizität von Subjektivität vertreten durchaus antagonistische Thesen, schränken die Spielräume des Subjektiven in unterschiedlicher Weise definitorisch ein und erzählen divergierende Geschichten menschlicher Selbstkonzeptionen. Daher hat Polina Serkova für ihre Dissertation Spielräume der Subjektivität über die Erbauungsliteratur von Heinrich Müller und Christian Scriver einen äußerst passenden Titel gewählt: Die an der Universität Duisburg-Essen entstandene Studie widmet sich mit der Erbauungsliteratur einer in der Germanistik eher vernachlässigten Textsorte und leistet mit der Fokussierung der Studie auf die in diesen Texten entwickelten Vorstellungen vom Menschsein einen wichtigen Beitrag zu einer literarischen und historischen Anthropologie. Die Studie beginnt mit einer prägnanten Einleitung, welche die eigene Fragestellung im Kontext der neueren Subjektivitätsdebatte von Foucault bis Zima entwickelt und ihre Textauswahl überzeugend begründet: Denn Texte aus dem Bereich der Erbauungsliteratur liefern eben nicht nur „Menschenbilder“, anhand derer menschliche Selbstkonzeptionen sichtbar werden und sich kulturwissenschaftlich Epochenmentalitäten, historische Spielräume der Subjektivität also, entschlüsseln lassen, sondern schaffen auch Vorschriften für die jeweilige zeitgenössische menschliche Selbstkonstitution: Sie beschreiben somit „Spielräume der Subjektivität“ und legen so fest, was Menschen an Subjektivität, an Selbstverständnis zu bestimmten Zeiten und in bestimmten kulturellen Kontexten überhaupt möglich ist. Spielräume werden fixiert durch Grenzsetzungen. Die Studie könnte daher auch den Titel tragen „Grenzen der Subjektivität“. Denn wenn Serkova die Leitlinien herausarbeitet, nach 244
denen die Erbauungsbücher gläubige Menschen formen wollen, weist sie deutlich auf Formen der Subjektivität hin, die in den Erbauungsschriften verworfen werden, auf Abjektes, das einem „Gotteskind“ nicht zukommt (u. a. 91 f.), d. h. auf Subjektformationen, die den Spielraum christlicher Subjektivität verlassen. Serkova beginnt mit einem Kapitel, in dem sie die von ihr untersuchte Erbauungsliteratur kontextualisiert: Sie stellt die Strömungen des deutschen Protestantismus im 17. Jahrhundert, zugespitzt auf Aussagen zum menschlichen Subjekt, vor. Orthodoxe und pietistische Bewegungen suchen, so Serkova, den Ausweg aus einer „Frömmigkeitskrise“ des 17. Jahrhunderts in einer anthropologischen Wende,1 die einerseits die Menschen der religiösen Sozialdisziplinierung unterwerfen und andererseits sie Frömmigkeit und Selbstkontrolle verinnerlichen lassen will. Bemerkenswert scheint mir dabei vor allem, dass Serkova die Kontinuität zwischen Lutherischer Orthodoxie und Pietismus betont und – mit Verweis auf Arbeiten Hans Leubes, Johannes Wallmanns, Udo Sträters und Winfried Zellers – die Lutherische Orthodoxie des 17. Jahrhunderts nicht als intoleranten und dogmatisch erstarrten Gegenpol zum Pietismus einordnet, sondern als „fruchtbare[n] Boden [. . .], auf dem die Ideen entstanden, die zur Erneuerung der protestantischen Theologie und u. a. zur Entstehung des Pietismus beigetragen haben“ (20 f.). Ob Serkova allerdings den Pietismus des 17. Jahrhunderts in seiner Breite und in seiner Nachwirkung richtig charakterisiert, wenn sie vor allem auf dessen Kultur der Innerlichkeit hinweist, scheint mir zweifelhaft. Schließlich lagen die Anfänge dieser Frömmigkeitsbewegung durchaus in, auch schrillen, öffentlichen Auftritten und Auseinandersetzungen und ebenso im tatkräftigen äußeren, raumgreifenden Handeln, etwa im Pietismus hallescher Prägung mit Waisenhaus, Schulbetrieb und Missionstätigkeit. Dieser Vorbehalt fällt allerdings angesichts der Verdienste dieser Doktorarbeit nicht ins Gewicht. Die Kapitel 2 bis 5 der stringent gegliederten Studie widmen sich der Analyse der Erbauungsliteratur. Zunächst versucht die Arbeit eine Begriffsbestimmung dieser Literatur, die durch den Modus definiert wird, also durch die Text-Leser-Beziehung: Texte der Erbauungsliteratur haben keine formalen und inhaltlichen Gemeinsamkeiten, verfolgen aber alle die gleiche Intention. Der Begriff „Erbauung“ ist eine Metapher, die den Bildbereich der Architektur bzw. Landwirtschaft als Ausdruck für die Sorge um den Leser, die Leserin nutzt: Erbauungsbücher wollen die Seele des Publikums auf- und ausbauen, also stärken, trösten, heilen oder bessern (vgl. 42 f.). Wenn Serkova ihre Fragestellung erarbeitet, ihre These der Ambivalenz des Subjektiven zwischen Sozialdisziplinierung und innerem Freiraum aus dem Kontext des Protestantismus im 17. Jahrhundert entwickelt und diese 1 Serkova, 21 mit Verweis auf Winfried Zeller: Die „Alternde Welt“ und die „Morgenröte im Aufgang“. Zum Begriff der „Frömmigkeitskrise“ in der Kirchengeschichte. In: Ders.: Theologie und Frömmigkeit. Gesammelte Aufsätze. Hg. v. Bernd Jaspert. Bd. 2. Marburg 1978, 1–13.
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These in der Analyse der Werke Geistliche Erquickstunden oder Dreyhundert Haus- und Tisch-Andachten, Göttliche Liebes-Flamme/ Oder Auffmunterung zur Liebe Gottes und Creutz-, Buß- und Bet-Schule von Heinrich Müller und Gottholds zufälliger Andachten vier Hundert und Seelenschatz von Christian Scriver zu belegen sucht, überzeugt sie mit ihrem Fokus auf normative Konzeptionen vom Menschsein. Zu Recht weist sie auf die Lücke hin, die bisherige Untersuchungen zur Subjektivität im 17. Jahrhundert hier gelassen haben, da sie weniger normative Abhandlungen untersucht als meist autobiographische Selbstdarstellungen in den Blick genommen haben (11). Ob die dortigen Befunde tatsächlich übertragbar auf Subjektivitätskonzeptionen in anderen Textsorten und damit repräsentativ für „Spielräume der Subjektivität“ in diesem konfessionellen Jahrhundert sind, braucht in der Tat den Vergleich mit Menschenbildern, die in den verschiedensten literarischen Textsorten formuliert werden. Und Studien zum historischen Wandel der menschlichen Selbstkonzeption können besonders viel lernen aus den Schriften, die dezidiert Spielräume des Subjektiven schaffen wollen, indem sie, wie die Erbauungsliteratur des 17. Jahrhunderts, deren Grenzen zu fixieren suchen. Serkovas detaillierte Textanalysen zeigen grundsätzlich die disziplinierenden (Kapitel 3), aber eben auch die emanzipatorischen Aspekte (Kapitel 4) der Anthropologie in protestantischer Erbauungsliteratur auf. Die literaturwissenschaftliche und darüber hinaus interdisziplinär orientierte Studie beschränkt sich dabei zurecht nicht auf eine inhaltliche Analyse, sondern beschreibt zudem die Form der Texte und arbeitet aus ihrer rhetorischen Struktur eine spezifisch protestantische Hermeneutik (65, 207 f. u. a.) heraus, deren Intention, das Publikum die Lehre auf das eigene Leben applizieren zu lassen, sie mit zahlreichen Textstellen belegen kann. Sie setzt damit zu den in der Einleitung versprochenen Methoden, Kontextualisierung und Close Reading (13), an, geht aber m.E. in beiden Verfahren nicht weit genug. Denn erstaunlicherweise bleiben die Lektüren oft an der Oberfläche und befragen das Zitierte, etwa in seiner Bildlichkeit, nicht auf seine Bezüge zur zeitgenössischen Geschlechterordnung und zu den vorherrschenden Diskursen über den Menschen und zu deren Spielräumen. Wenn Christian Scrivers Gottholds zufällige Andachten im Rückgriff auf Joh 15,5 für das Verhältnis des Menschen zu Gott das Bild einer Weinranke, die einen Stamm als Stütze benötigt, verwenden und damit laut Serkova „Techniken der Unterwerfung“ vorformuliert werden (82), da der Mensch in seiner Abhängigkeit von Gott und in seiner Formbarkeit beschrieben werde, beachtet die Autorin nicht, was sich mit einer diskursanalytischen kontextualisierenden Methode aus dieser Bildlichkeit erschließen ließe: Mit Kletterpflanzen werden vom 18. bis zum 20. Jahrhundert Frauen im Unterschied zu Männern verglichen. Denn Frauen wird nicht zugestanden, was Männer seit dem 18. Jahrhundert für sich in Anspruch nehmen wollen: Sie verstehen sich als autonom, als eigenständig, als Subjekt, das keine fremde Stütze braucht, sondern selbst Stamm ist. Der aufklärerische Pädagoge und Schriftsteller Joachim 246
Heinrich Campe vergleicht in seiner Erziehungsschrift für junge Frauen Vaeterlicher Rath für meine Tochter (1789) Männer mit Eichbäumen und Frauen mit Efeu. Noch in Max Frischs Homo faber (1957) greift der autodiegetische Erzähler Walter Faber diesen Gedanken auf, wenn er meint, dass „eigentlich alle Frauen“ Ivy, d. h. Efeu, heißen müssten.2 In Frischs Roman meldet der Textzusammenhang aber schon Zweifel an einer solch männlichen Selbstkonzeption des autonomen Subjekts an. Dagegen zeigt der Blick in protestantische Erbauungsliteratur des 17. Jahrhunderts deutlich, dass der Autonomiegedanke im Zeitalter des Konfessionalismus auch für Männer noch nicht zu den subjektiven Spielräumen gehörte. Menschen im Allgemeinen brauchen in deren Verständnis Gott als einen Stock, um den sie sich ranken, an den sie sich halten können, der ihnen erst Spielräume für eine eigene Subjektivität ermöglicht. Die Säkularisierung dieser Pflanzenmetaphorik erweitert den Spielraum weiblicher Subjektivität also zunächst in keiner Weise, versetzt aber Männer in die Position, die in frühneuzeitlichen Subjektivitätsdiskursen Gott zukam. Ähnlich bleibt die Interpretation eines anderen Ausschnitts aus Scrivers Gottholds zufälligen Andachten auf halbem Weg stehen, den Serkova für die andere Tendenz der protestantischen Anthropologie in Anspruch nehmen möchte. In einem frommen Gespräch, dessen intertextuellen Bezug zu Georg Philipp Harsdörffers Frauenzimmer Gesprächsspielen Serkova zurecht deutlich macht, suchen die Teilnehmer einer „gottseligen Gesellschaft“ in spielerischem Ernst nach dem „besten Buchstab“ im ABC. Der sei nicht das A oder das O, auch nicht das J, dessen Vorrangstellung im Anfangsbuchstaben der Namen Jehova und Jesus liegen könnte, sondern das M. Denn Gotthold, der – sein Name und der Titel des Werkes stellen dies unmissverständlich klar – die intendierte Rezeptionsperspektive dieses Andachtswerks verkündet, präzisiert die Frage: „Mich deucht / die Frage gehe eigentlich dahin; welcher uns Menschen der beste und nützlichste Buchstab sey“ und beantwortet sie auch gleich im Anschluss: „Das M welchen man möchte den Buchstab des Glaubens / der Liebe und der Hoffnung nennen. [. . .] Der Buchstab M / ich muß von Hertzen können glauben und sagen: Gott ist mein Gott / mein Vater / Jesus ist mein Jesus / mein Seligmacher / mein Mittler / der Heilige Geist ist mein Tröster / der Himmel ist mein / die Seligkeit ist mein.“3 Wenn hier nahezu aufdringlich das Possessivpronomen der 1. Person meditationsähnlich wiederholt wird, kann dies allerdings m.E. keineswegs nur als – hier positiv konnotierte – Selbstsorge im durchaus neuzeitlichen Sinne gedeutet werden, sondern wirft wieder ein Schlaglicht auf die spezifische frühneuzeitliche Subjektivität: Nicht das I, mit dem das Personalpronomen der ersten Person Singular beginnt, gilt Gotthold als der dem Menschen zuträglichste Buchstabe, sondern bezeichnenderweise das M, mit dem das Possessivpronomen der ersten Person
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Max Frisch: Homo faber. Frankfurt/Main 1998, 99. Scriver, zit. n. Serkova, 103.
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beginnt oder das Personalpronomen der ersten Person im Dativ und Akkusativ, in Kasus also, welche die erste Person zum Objekt werden lassen und damit eher zur Rebe als zum stützenden Pfahl. Was sich hier zeigen ließe, in dieser Studie aber nicht vertieft wird, ist, dass die Spielräume der frühneuzeitlichen Subjektivität eben gerade durch Bezüge zu Gott ermöglicht werden, dass es für zeitgenössische menschliche Selbstkonzeptionen eben keinen Antagonismus zwischen Abhängigkeit und Innerlichkeit gibt, sondern dass gerade Bezüge zu Gott eine – auch innere – Eigenständigkeit behaupten lassen, dass erst die frühneuzeitliche Sozialdisziplinierung des Individuums die Internalisierung von Normen und damit eine spätere innere Selbststeuerung des Menschen ermöglicht hat. Wenn Serkova in ihrer Einleitung andere Untersuchungen zur frühneuzeitlichen Subjektivität, etwa die von Bernheiden, Janke, Kormann und Ulbrich, vor allem aber Luhmanns prägnante Unterscheidung zwischen vormoderner Inklusionsindividualität und neuzeitlicher Exklusionsindividualität, zwar zum Teil in Fußnoten der Einleitung erwähnt, aber inhaltlich offensichtlich nicht rezipiert,4 werden in der Analyse der einzelnen Werke dadurch leider nicht alle Möglichkeiten eines Close Reading ausgeschöpft. Serkovas Einleitung weist zu Recht auf neue Studien zur Subjektivität hin, die eine Geschichte mit dem Telos autonomes Subjekt verweigern. Doch fällt sie in ihren eigenen Analysen immer wieder hinter diese Erkenntnis zurück, indem sie eben doch (Exklusions)Individualität und Autonomie als Ziele der Entwicklung voraussetzt und in ihren Studienobjekten eine frühneuzeitliche (Inklusions)Individualität nicht in ihrer Alterität wahrnimmt – und damit diese eben als defizitäre Vorform abwertet (z. B. 208). Diese Hinweise sollen aber das Verdienst dieser bemerkenswerten literaturwissenschaftliche Studie nicht schmälern, die in ihren Erkenntnissen und Erkenntniszielen über die Germanistik hinaus zur Kenntnis genommen werden muss und zu weiteren wichtigen (auch) literaturwissenschaftlichen Untersuchungen über Subjektivität im 17. Jahrhundert führen sollte. Denn wenn oben der fehlende Bezug auf andere Studien zur Anthropologie des 17. Jahrhunderts festgehalten wurde, zeigt dies ja gerade die Anschlussfähigkeit von Serkovas Analysen von zeitgenössisch viel gelesenen, in der germanistischen Forschung aber bisher vernachlässigten Texten. Eva Kormann
Karlsruhe
4 Die genannten Studien sind allesamt vor Serkovas Dissertation erschienen, vgl. zu den genannten Konzepten, vor allem zu Luhmann demnächst: Proofs of Individuality and Literacy in the Medieval and Early Modern Periods. Hg. v. Franz-Josef Arlinghaus. Turnhout 2015.
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Ulman Weiß: Die Lebenswelten des Esajas Stiefel oder vom Umgang mit Dissidenten. Stuttgart: Steiner 2007 (Friedenstein-Forschungen,1). – 640 S.; Ill. Der Titel dieser umfangreichen Darstellung gibt sehr genau Gegenstand und Methode des Buches an. Es analysiert nicht geistes- oder theologiegeschichtlich die heterodoxe theologische Gedankenwelt des Esajas Stiefel, sondern beschreibt so minutiös wie möglich die Lebenswelt, innerhalb derer Esajas Stiefel seine dissidenten religiösen Auffassungen lebte. Und es beschreibt sie aus einem Verständnis für den Dissidenten heraus, nicht aus der Sicht der Gesellschaft, für deren Selbstverständnis doch die gesellschaftlich sanktionierten „Grenzen des Denkens und Handelns“, mithin auch der Dissidentismus, „geradezu notwendig“ seien (21). Nach der Einleitung (7–22), die die konkrete, überwiegend vormoderne (7–19) Forschungsgeschichte zu Stiefel und die methodischen Problemstellungen (19–21) überblicksweise vorstellt, schildert der Autor in vier Kapiteln die Lebensstationen Stiefels, nämlich seine ökonomische und soziale Beheimatung in Salza (Langensalza) bis zur ersten Kerkerhaft, also den Zeitraum von 1561 bis 1606 einschließlich einer umfangreichen Vorgeschichte (1. Kapitel, 23– 187), seine neue Heimat in den Jahren 1606 bis 1614 im erfurtischen Dorf Gispersleben-Kiliani, seinem „Thal der Gnaden“ (2. Kapitel, 189–306), seine Zeit als Gefangener in Dresden im „Kayser“ im Jahre 1614 (3. Kapitel, 307– 376) und seine letzte Heimat in Erfurt in den Jahren 1614 bis 1627 (4. Kapitel, 377–511). Ein Schlusswort (513–528) fasst die ausführliche Geschichte unter systematischen Gesichtspunkten zusammen. Abbildungen von handschriftlichen oder gedruckten Quellen und Bildnissen (529–538), die Personalbibliographien von Esajas Stiefel und seinem Neffen Ezechiel Meth (539–569), ein Verzeichnis der Abkürzungen (571 f.) und der Quellen- und Literatur (573– 605) sowie ein Index der Namen, Sachen und der Bibelstellen (607–640) beschließen das Buch. Wahrscheinlich ist der von dem Autor gewählte Zugang genau der richtige, wenn man sich mit dieser Facette des Phänomens des Spiritualismus in der nachreformatorischen Epoche auseinandersetzen möchte. Hier erscheint neben der akademischen Reflexion lutherischer Konfessionsbildung, für die etwa Ägidius Hunnius (1550–1603) stehen mag, und der konkurrierenden naturphilosophischen Frömmigkeitstheologie eines Johann Arndt (1555– 1614) mit Esajas Stiefel (1561–1627) ein spontaner, laienhafter Spiritualismus im religiösen Diskurs, der unkontrollierbar autoritär auftritt und entsprechend von der Gesellschaft als dissident ausgeschlossen bzw. kriminalisiert wird. Der Autor versteht es, die historischen, kirchen-, sozial- und rechtsgeschichtlichen, ja sogar die topographischen Faktoren der (engen) Lebenswelt des Esajas Stiefel sehr konkret zu beschreiben, wobei manchmal Quellen analoger Vorgänge benutzt werden, um entsprechende Situationen im Leben Stiefels, für die es keine Quellen gibt, konjizieren zu können. Das alles ist 249
durch gründliche Archivstudien bestens belegt. Die Lektüre des Buches lohnt sich allein schon wegen dieser vielen historischen Beobachtungen, Erklärungen und methodischen Zugriffe. Man könnte höchstens einwerfen, dass die Perspektive der Gesellschaft, vornehmlich die des Bürgertums, das politisch und kirchlich auf die Einhaltung bestimmter, durchaus legitimer Grenzen Wert legen musste, weitgehend unberücksichtigt bleibt. Vielleicht hätte etwa der im Vergleich mit der Moderne ausgesprochen konziliante, auf Integration bedachte Umgang der obrigkeitlichen Behörden mit den Dissidenten (Möglichkeit des Widerrufs; Hoffnung auf Erfolg durch entsprechende Belehrung; geringes Strafmaß) deutlicher hervorgehoben werden können. Immerhin befand sich diese protestantische Gesellschaft (Esajas’ Großvater Martin war noch im mittelalterlichen Katholizismus aufgewachsen und bei der Erhebung der Stadt Salza im Zuge der müntzerischen Aufstände des Jahres 1525 beteiligt.) gerade im Blick auf das Kirchenwesen immer noch im Aufbau und in einer Phase der Konsolidierung, in der die Spannung zwischen der rechtlichen Autorität des Amtes und der geistlichen des allgemeinen Priestertums aller Gläubigen ausgeglichen werden musste. Hinzu kam die konfessionelle Auseinandersetzung zwischen lutherischer und „kryptocalvinistischer“ Reformation in Kursachsen in den Jahren 1586 bis 1592, die auch tief bis in den Umgang der Menschen untereinander hineinreichte und etwa in der Frage des Taufexorzismus auf elementare religiöse Empfindlichkeiten stieß. Die theologie- und kirchengeschichtliche Bedeutung von Stiefel wird man auch nach der Lektüre der Untersuchung nicht hoch einschätzen. Dafür sind Stiefels enthusiastische und chiliastische Äußerungen zum einen zu wenig originell und vorausweisend, zum anderen sind sie überhaupt zu schlicht, und bezeugen mit der Vorstellung der wesentlichen Einwohnung Christi in sich selbst eine geradezu erschreckend naive Ichbezogenheit. Sie scheinen vor allem ein Symptom der religiösen und theologischen Komplexität der lutherischen Reformation in Mitteldeutschland zu Ende des 16. und Beginn des 17. Jahrhunderts und der bürgerlichen Identitätssuche dieser Zeit zwischen dem status politicus und dem status ecclesiasticus zu sein. Die wichtigsten Einflüsse erhielt Stiefel offenbar von Caspar von Schwenckfeld, ferner von Paracelsus und Valentin Weigel. Auch Thomas Müntzer dürfte noch eine Rolle gespielt haben. Stiefels Gedanken konnten in einer Stadt wie Erfurt gedeihen, der auf Grund ihrer besonderen Situation eine strenge Konfessionalisierungspolitik nicht möglich war und in der die politische Herrschaft auch kein Interesse daran haben konnte, sich zum Handlanger der jeweiligen Geistlichkeit zu machen. Gleichwohl blieb Stiefel auch in Erfurt nicht unbehelligt. Insgesamt gehörte Stiefel in Erfurt gewiss auch zu denen, die dort den Nährboden für eine ernsthaftere Frömmigkeit bereiteten neben einer als bloße Äußerlichkeit empfundenen Konfessionskirche, wie sie dann in der weiteren Frömmigkeitsgeschichte Erfurts bis hin zu August Hermann Francke zum Vorschein kam. 250
Gleichwohl kann ich nicht erkennen, dass dieser Spiritualismus bereits auf den Pietismus am Ende des 17. Jahrhunderts verweist, auch wenn beide neben ihrem Dringen auf ein äußerlich frommes Leben gewisse deviante Lebensformen und Prinzipien teilen. Schließlich wird man diesen Spiritualismus auch nicht von vornherein zum Vorreiter einer offenen Gesellschaft machen dürfen, nur weil er das Opfer von Repressalien wurde und die konfessionell geschlossene Gesellschaft herausforderte. Zu Recht hat schon Luther den sich auf den Geist berufenden Schwärmern nicht weniger autoritäre Anmaßung vorgeworfen als dem Papst. Der Autor weiß sehr gut zu erzählen, ohne auf wissenschaftliche Nüchternheit und Exaktheit zu verzichten; sprachlich ist das ganze Werk ein Beispiel schöner wissenschaftlicher Prosa. Markus Matthias
Amsterdam
Robert Langer: Eine sächsische Gelehrte. Ermahnungen zu einem tugendhaften Leben in Bildungsbriefen der Henriette Catharina von Gersdorff. Dresden: KWB-Verlag 2013. – 332 S.; Ill., Kt. Der Autor Robert Langer präsentiert mit dem Werk Eine sächsische Gelehrte. Ermahnungen zu einem tugendhaften Leben in Bildungsbriefen der Henriette Catharina von Gersdorff seine überarbeitete Dissertationsschrift, die im Verlag kultur.wissen.bilder publiziert wurde. Er hatte bereits einige Jahre zuvor eine Arbeit zur Henriette Catharina von Gersdorff (1648–1726) verfasst, die das Netzwerk der sächsischen Adeligen darlegt.1 Nun erweitert er die Forschungen zur Gersdorff um die Einordnung und Edition zweier umfänglicher in Briefform verfasster Ermahnungsschriften aus den Jahren 1673 und 1696, die er im Staatsfilialarchiv in Bautzen entdeckt hatte und die er, ob ihrer Aussagekraft über die Gelehrte Henriette Catharina von Gersdorff, einer wissenschaftlichen und interessierten Öffentlichkeit zur Kenntnis gibt. Das Buch selbst weckt die Aufmerksamkeit des Lesers und der Leserin durch seine Erscheinung: Zum einen fällt das für Monographien ungewohnte Quartformat ins Auge, und zum anderen besticht das den Einband zierende Porträt der Gersdorff. Die in blau gekleidete und mit einem roten Tuch geschmückte, im Bildvordergrund sehr präsent und selbstbewusst wirkende Henriette Catharina von Gersdorff, mit dem Insignium der Gelehrsamkeit, dem Buch, in der Hand präsentiert, scheint ihr Publikum selbst in ihren Bann ziehen zu wollen. Der Untertitel Ermahnungen zu einem tugendhaften Leben 1 Robert Langer: Pallas und ihre Waffen. Wirkungskreise der Henriette Catharina von Gersdorff. Dresden 2008.
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spiegelt sich gleichsam in Gestik und Mimik der Porträtierten wider. Die Sentenz „Ich weiß an welchen ich glaube“, die im aufgeschlagenen Buch sichtbar ist, verleiht dem im Hintergrund abgebildeten Gekreuzigten unwillkürlich eine zentrale Bedeutung und lässt keinen Zweifel an der Ernsthaftigkeit, mit der die aus dem renommierten Geschlecht derer von Friesen stammende Adelige ihre Aufgabe als Erzieherin und Gelehrte verfolgt. Das Inhaltsverzeichnis bestätigt mit der Dreiteilung – biographischer Abschnitt, philosophiegeschichtliche Einbettung der konsultierten Quellen, Textanalyse und nachfolgende Textedition – eine vielversprechende Vorgehensweise, die Langer in der Einleitung darlegt und begründet. Seiner Ansicht nach ist die hermeneutische Methode am besten geeignet, sich den von ihm als Bildungsbriefe bezeichneten zwei Ermahnungen zu einem tugendhaften Leben zu nähern. Diese an ethisch-philosophischen Fragestellungen der Tugendlehre orientierten Quellen verlangten eine Einbettung, hier in biographische Zusammenhänge und in die „Traditionslinien der abendländischen Geistesgeschichte“, um ihren Aussagegehalt zu verdeutlichen. Nach der Einleitung folgt, der Ankündigung entsprechend, das erste einordnende Kapitel, in dem die Protagonistin Henriette Catharina von Gersdorff, ihre Persönlichkeit und ihr Leben, in den Vordergrund tritt (16– 45). Hier betont Langer, dass das wissenschaftliche Interesse an der Gersdorff sich insbesondere aus zwei Quellen speist, zum einen aus der Pietismus- und zum anderen aus der Geschlechterforschung, die sich jeweils unterschiedlichen Facetten des Gersdorffschen Lebens widmen. Gemeint ist zum einen die religiös-konfessionelle Seite, die sie besonders als Großmutter Zinzendorfs hervortreten lässt, zum anderen ihre Rolle als gelehrte Adelige und intellektuell herausragende Persönlichkeit des 17. und beginnenden 18. Jahrhunderts. Im Fortgang dieses Kapitels werden Gersdorffs Herkunft, die Prinzipien ihrer Kindererziehung, die auch lateinische Lyrik umfassenden literarischen Leistungen und ihr Engagement für eine institutionalisierte Mädchenbildung beschrieben, bevor sie als anerkannte Gelehrte in ihrer und der nachfolgenden Zeit vorgestellt und als Philosophin charakterisiert wird. Es entsteht das Bild einer engagierten Persönlichkeit: In den adeligen Diplomatenhaushalt Carl von Friesens (1619–1686) und seiner Gattin Justina von Raaben (1619–1691) hineingeboren, erlebte Henriette Catharina früh einen Vater, der als Oberkonsistorialpräsident das Bildungswesen im Kurfürstentum bestimmte. Als talentierte und begabte Tochter konnte sie sich in ihrem Elternhaus intensiven Studien widmen und heiratete im Alter von 24 Jahren Nicol von Gersdorff (1629–1702), der vier Kinder aus den beiden ersten Ehen mitbrachte. Während der 30-jährigen Ehe schenkte sie weiteren 13 Kindern das Leben, denen sie – unabhängig vom Geschlecht – durch Hauslehrer eine ausgezeichnete Bildung angedeihen ließ. Ihre beiden bekannten und im Druck vorliegenden Werke sind der erbaulichen Literatur zuzurechnen: Heilsame Betrachtung Der Gnaden- und Trostreichen Historie Von dem seligmachenden Leiden und Sterben Unsers Heylandes [. . .] Durch eine Liebhaberin der Teutschen Poesie (Wittenberg 252
1665, 44 S.) und Geistreiche Lieder und poetische Betrachtungen (Halle 1729, 900 S.). Produktiv war sie ebenfalls hinsichtlich der institutionellen Bildung in Halle und Altenburg, denn sie setzte sich nicht nur für das Gynäceum und Frauenzimmerstift in Halle ein, sondern sie trug auch maßgeblich zur Gründung des Magdalenenstifts in Altenburg bei. Dass sie in der Folge zum Musterbeispiel weiblicher Gelehrsamkeit avancierte, welches von Seiten der männlichen akademischen Welt und der Frauenzimmerlexika Paullinis, Lehms’ und Amaranthes’ Anerkennung erfuhr, nimmt nicht wunder und verbindet sie mit Frauen wie Anna Maria van Schurmann und Luise Adelgunde Victorie Gottsched. Am Ende und mit Blick auf die Themenstellung ordnet der Autor Zinzendorfs Großmutter anhand Ursula I. Meyers Die andere Philosophiegeschichte als Philosophin oder genauer als Gelehrte mit philosophischem Interesse ein, da sie keine Universitätslaufbahn einschlagen konnte, jedoch von Akademikern unterrichtet wurde und außerdem ein Netzwerk gelehrter Briefwechsel unterhielt sowie in deutscher und lateinischer Sprache publizierte und ethisch-moralische Texte schrieb. Sie ist deshalb als Ausnahmepersönlichkeit zu bezeichnen, die durch ein adeliges, wohlhabendes und vor allem, literatur-, sprach- und kunstliebendes Elternhaus, die ungewöhnlich partnerschaftliche Verbindung zu ihrem Gatten und eigene Zielstrebigkeit und Talent nicht nur zu stupenden Kenntnissen gelangte, sondern diese auch in verschiedene Projekten umzusetzen in der Lage war. Der im Buch weitaus umfangreichste Part vor der eigentlichen Einordnung der Bildungsbriefe und der Edition der beiden pädagogischen Schreiben betrifft die mehr als hundertseitige Auseinandersetzung mit den Traditionslinien der abendländischen Geistesgeschichte von Cicero bis August Hermann Francke (46–161). Langer bezeichnet diese als Bildungsschriften, die er insbesondere nach Aussagen zu Frauenbildung, weiblichem Bildungskanon und weiblichen Gelehrten schlechthin befragt (50). Er entwickelt bei der Suche nach einem vergleichbaren Textkorpus bestimmte Auswahlkriterien, die sowohl absender- als auch rezipientenbezogene Fragen betreffen. Nachdem er den Tugendbegriff als besonders bedeutsam einordnet, der im gersdorffschen Schreiben von Cicero und Ambrosius und möglicherweise auch von frühneuzeitlichen Fürstenspiegeln geprägt ist, zählt er drei weitere Interessen auf, die ihn bei der Forschung leiten und die zu Schriften führen, die ihre Haltung beeinflusst haben (könnten). Was wird in ihren Briefen und den anderen vorgestellten Quellen zu weiblicher Gelehrsamkeit, dem gesellschaftlichen Stellenwert derselben und den Möglichkeiten ihrer Erlangung (in ihrem Falle trotz männlicher Rezipienten) gesagt? Welche Unterschiede lassen sich zu der Textsorte Studieninstruktionen formulieren? Was sagen Texte zum weiblichen Bildungskanon, der kein institutionell begründeter, sondern häufig an den häuslichen Rahmen gebunden war. Schließlich ordnen drei Tabellen Langers Lektüre und geben einen ersten Eindruck von Autoren / Werken, Autoren / Adressaten und Autoren / thematischen Schwerpunkten. Langer zeigt auf, dass am häufigsten der männliche 253
Gelehrte (oder Vater) Bildungsschriften verfasst, die sowohl an Töchter als auch an Söhne gerichtet sein können. Dagegen schreibe die Gelehrte (Mutter) überhaupt seltener Bildungsschriften, die nur in einem Fall an die Tochter adressiert sind. Diese Ausnahme betrifft Benigna von Solms-Laubach mit ihrem Immer grünenden Klee-Blat Müterlicher Vermahnungen (Exkurs 220–227). Diese Ergebnisse überraschen nicht, und auch die dritte Tabelle bestätigt die Tendenzen, die sich aus der Autorenauswahl ergeben: Die Hälfte der insgesamt 28 Schriften befasst sich mit Tugendlehre und Bildung im Allgemeinen, weiblicher Ausbildung widmet sich ein Viertel, Studieninstruktionen finden sich in vier Texten, und der weibliche Bildungskanon wird in nur drei Schriften expliziert. Beginnend mit der Antike und Ciceros De officiis über Ambrosius von Mailand (De officiis ministrorum), Aurelius Augustinus, die Renaissancehumanisten Leonardo Bruni, die Humanisten des 16. Jahrhunderts Erasmus von Rotterdam, Thomas Morus und Juan Luis Vives, zwei weibliche Vertreterinnen, Christine de Pizan und Anna Maria von Schurman, Repräsentanten des 17. Jahrhunderts, Veit Ludwig von Seckendorff, Christian Hoffmann von Hoffmannswaldau und Antonius Wolff von und zu Todenwarth, kommt er zur im weitesten Sinne pietistischen Bewegung, zu Johannes Tauler, Martin Luther, Johann Arndt, Philipp Jakob Spener und August Hermann Francke. Am Ende steht die Analyse von Bildungsbriefen der Gersdorff selbst unter vorgenannten Fragestellungen. Dieser Parforceritt durch die Geistesgeschichte offenbart die Entwicklung von allgemeinen Tugendbegriffen, die zumindest in der Antike und auch im christlichen Humanismus Frauen als Publikum nicht explizit nennen. Mit Bruno, Erasmus und Morus wird, nach Langer, dann ein Bildungsideal aufgezeigt, das beiden Geschlechtern Rechnung trägt und auf der Basis der Universalität der Vernunft Frauen als bildbare Menschen integriert. Richtschnur sind christliche (nicht explizit „weibliche“) Tugenden wie beispielsweise Bescheidenheit und Demut. Als Autorinnenexempel erscheinen Christine de Pizan, die mit dem Trésor de la Cité des Dames eine Art weiblichen Fürstenspiegel verfasste, und die bis in unser Jahrhundert hinein als Vorbild gepriesene Anna Maria von Schurmann: Beide gehen von der Ebenbürtigkeit der Geschlechter aus. Hier hält Langer fest, dass weibliche Autoren die Legitimation von Bildung für Frauen in den Vordergrund rücken, da die Selbstverständlichkeit von Bildung, anders als bei Männern, nicht gegeben sei. In den Bildungsschriften männlicher wie weiblicher Autoren des 17. Jahrhundert bleiben die allgemeinen (Kardinal-) Tugenden richtungsweisend unter Ausschluss des höheren Bildungsweges für die Frauen. Der pietistische Bildungsanspruch ist durch eine weitere Aufwertung der Bildung geprägt und setzt der menschlichen Sündhaftigkeit wegen auf Selbstreflexion und demütige Erkenntnis ob der Nichtigkeit der eigenen Existenz, die mit der Hilfe Gottes in eine pietistische Menschwerdung überführt wird. Deutlicher als zuvor spielt der standesübergreifende Aspekt eine Rolle. 254
Die beiden Glanzlichter und Entdeckungen in Langers Arbeit stehen am Ende: Es handelt sich dabei zum einen um den 21-seitigen Bildungsbrief der sächsischen Gelehrten für die Universität Wittenberg aus dem Jahre 1696, den sie an ihren 16jährigen Sohn richtet und in dem sie zitatenreich insbesondere herausragende Tugenden, wie verecundia, moderatio, amicitia und silentium hervorhebt, die von der Gottesfurcht getragen sind, und der vor Lastern, wie suberbia, acedia und voluptas, warnt. Im zweiten Bildungsbrief für die kurfürstliche Landesschule St. Afra wendet sich der erste Teil an den Sohn und der zweite an den Informator. Auch hier gilt für den Nachwuchs die pietas als vorrangige Tugend, das Laster der Frechheit und der Hoffart seien besonders zu meiden, Fleiß beim Studium sei genauso wichtig wie Bescheidenheit und Höflichkeit dem Instruktor gegenüber. Gelten im zweiten Teil des Bildungsbriefes „an den Instruktor“ die beiden ersten Punkte ebenso, sind für das Lehren Geduld und Fleiß, Ernsthaftigkeit und prudentia notwendig, die zur Lernlust als auch zum notwendigen Respekt vor dem Lehrenden führen würden. Am Ende ordnet Langer die entdeckten Bildungsbriefe in die vordem entwickelten Fragestellungen mit folgendem Ergebnis ein: Der Tugendbegriff der Gersdorff erweitert die pietas um die caritas, die sich in guten Taten äußert (Bibelübersetzung, Mädchenbildung). Ihr Selbstverständnis hinsichtlich weiblicher Gelehrsamkeit erfordert, im Gegensatz zu den thematisierten Vorgängerinnen, keine Legitimation. In der Biographie der Gersdorff spielen die männlichen Begleiter, Vater und Ehemann, genau wie die Zeitläufte eine herausragende Rolle. Eine Parallele zu den Studieninstruktionen ist die Bedeutung der Frömmigkeit, nach deren Beschreibung bei Gersdorff Ausführungen zu einem christlich-tugendhaften Leben (nicht etwa die Aufzählung der Studieninhalte) folgen. Innovativ ist, so Langer, die von Gersdorff geschaffene produktive Verbindung verschiedener pädagogischer Schriften: der Pflichtenlehre, des Fürstenspiegels und der Studieninstruktion. Neu ist weiterhin, dass eine Frau diese Verbindung herstellt und sich damit in den Kreis der (männlichen) Gelehrten einreiht. Der Bildungskanon lasse sich dagegen nur schwer konkretisieren. Und hier möchte die Rezensentin innehalten und die beschreibend-zusammenfassende Ebene verlassen. Die ausführliche Inhaltsangabe beabsichtigte zu zeigen, dass Langer keine Mühe scheut, die Geistes- und Philosophiegeschichte auszubreiten und in einem weiten Bogen die Entwicklung der Frauengelehrsamkeit darzulegen, um sich dann – auf dieser Folie – den Gersdorffschen Bildungsbriefen zu nähern und mögliche Einflüsse sichtbar zu machen. Bedenkt man, dass das vorliegende Buch Eine sächsische Gelehrte durch den Reichtum an Abbildungen, die erklärenden Hinweise zur historischen Einordnung von Quellen und die publikumsbezogene Aktualisierung mancher Zusammenhänge in der Lage ist, ein Laienpublikum anzusprechen, erscheint dieser groß angelegte historische Bogen angemessen. Auch das durch die Quellen legitimierte Unterfangen, die gläubige Gersdorff und Großmutter Zinzendorfs mit der gelehrten Adeligen zu versöhnen, überzeugt. Dass 255
Langer außerdem an die frühen Leistungen einer Christine de Pizan erinnert und dem Prinzip „Vernunft hat kein Geschlecht“ in der Bildungsgeschichte konsequent nachgeht, macht deutlich, dass er Philosophiegeschichte als von Männern und Frauen gestaltete begreift. Positiv hervorgehoben sei des Weiteren, dass er den allgemeinen Ausführungen die Edition zweier Bildungsbriefe folgen lässt, welche uns Heutigen die häufig fremd gewordene Briefwelt der Frühen Neuzeit erschließt. Editorische Kärnerarbeit mit theoretischem Diskurs zu verknüpfen scheitert oft an zeitlichen oder ökonomischen Zwängen, und doch wäre ein engerer Zusammenschluss zugunsten der Qualität der Forschungsergebnisse geboten. Auch dafür ist dem Autor zu danken. Angeklungen, wenn auch nicht deutlich thematisiert, ist der Überschneidungsbereich der virtus, wie wir sie aus der Antike kennen, mit dem sich in der Frühen Neuzeit entwickelnden, auch den Adel vom Bürgertum trennenden (sogenannten) weiblichen Tugendbegriff, der einem männlich konnotierten ‚menschlichen‘ gegenübersteht.2 Hier scheint sich Henriette Catharina von Gersdorff an einem historischen Scheideweg zu befinden. Der Leser und die Leserin haben die Verortung der Gersdorff als Gelehrte, die aufgrund ihrer Voraussetzungen alle Chancen hatte, kulturgeschichtliche Traditionen zu kennen, in extenso kennengelernt. Was die Rezensentin ein wenig in Erstaunen versetzt, ist das Faktum, dass die wichtige Einordnung des Gersdorffschen Tugendbegriffs fast gänzlich ohne die Zuhilfenahme ihrer konkreten Lektürevorlieben geschieht. Nun ist dies in der Regel schwierig, da weiblicher Bücherbesitz in Adelskreisen zwar durchaus üblich, aber entsprechende Inventarlisten bzw. Bücherkataloge noch nicht recherchiert und / oder ausgewertet wurden. Im Falle Gersdorffs jedoch ist ein Nachlassinventar, das eine stattliche Sammlung von etwa 900 Büchern aufweist, auf die Nachwelt gekommen. Die Liste wurde veröffentlicht und hat vor einigen Jahren eine erste Einordnung erfahren.3 Langer erwähnt sie als wichtige Quelle, um den Bildungshorizont der Gersdorff zu erfassen und erkennt ihre Singularität an, wenn dies auch erst im Kapitel „Zusammenfassung und Schlußgedanken“ geschieht (230). Die Konsequenz, den großen geisteswissenschaftlichen Bogen mit der konkreten Quelle ‚Büchersammlung‘ zu verknüpfen und Gersdorffs Tugendbegriff auch mittels einer detaillierten Analyse ihrer Bücher zu begreifen, zieht er nicht. Möglicherweise wären dann noch ganz andere ihre Gedankenwelt beeinflussende Autoren in den Blick geraten, so z. B. der in puncto Frauenbildung revolutionär zu nennenden Cartesianer François Poullain de la Barre 2 Hier sei auch auf Matthias Roicks Freigeist Projekt „The Ways of Virtue. The Ethica Section in Wolfenbüttel and the History of Ethics in Early Modern Europe“ verwiesen, ein Vorhaben der Universität Göttingen in Zusammenarbeit mit der Herzog August Bibliothek. Roick setzt sich anhand der Ethica-Bestände der HAB mit dem Tugendbegriff der Frühen Neuzeit auseinander. 3 Walter Schulz: ‚viel Anschein zu mehrerem Licht‘ – Henriette Katharina von Gersdorff, geborene von Friesen, und ihre Bibliothek auf Großhennersdorf. In: PuN 36, 2010, 63–117.
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mit seinem Werk De l’Education des Dames,4 dann die in der Inventarliste (ebenso über die Titel verifizierbaren) Autoren Antonio de Guevara / Mambrino Roseo da Fabriano,5 Torquato Tasso, Augustus Buchner, Giovanni Francesco Loredano und Martin Opitz, um nur die unser Thema unmittelbar berührenden zu nennen.6 Die letztgenannten sind eng verknüpft mit der irenisch gesinnten und programmatisch wie realiter nach Zivilität und Tugend strebenden Fruchtbringenden Gesellschaft (1617–1680), in der sowohl Gersdorffs Vater als auch ihr Gatte Mitglieder waren. Gersdorffs Mutter wiederum kam als 14-jährige Waise an den Hof des Büchersammlers und Sozietätsmitglieds Herzog Friedrich III. von Schleswig-Holstein-Gottorf und dessen gelehrter Frau, Herzogin Maria Elisabeth, Tochter des Kurfürsten Johann Georg I. von Sachsen. Bemerkenswert erscheint hier immerhin, dass die Herzogin Mitglied der Tugendlichen Gesellschaft war, dem weiblichen Pendant der Fruchtbringenden Gesellschaft, und diese Damengesellschaft folgte, nomen est omen, einem auf Aristoteles und Luther gegründeten Tugendkonzept. In Anbetracht der gersdorffschen Bibliothek und dieser knapp erläuterten Umstände mag ihre Tugendvorstellung in Kindheit und Jugend durchaus auch unter dem Einfluss dieser Sozietäten geformt worden sein. Dieser möglichen Themenerweiterungen ungeachtet bleibt Langers ambitioniertes Buch, als Fortsetzung seiner Arbeit Pallas und ihre Waffen, eine Studie, die in vieler Hinsicht als Augenöffner wirkt und einem breiten Publikum Lust machen kann, Henriette Catharina von Gersdorff und die Forschungen zu ihrer Persönlichkeit weiterzuverfolgen. Gabriele Ball
Wolfenbüttel
4 Vgl. Schulz [s. Anm. 3], 117. Jacobi macht darauf aufmerksam, dass den Schriften von Poullain de la Barre eine breite Rezeption verwehrt blieb, und H. C. von Gersdorff war immerhin mit einem seiner Hauptwerke vertraut! S. Juliane Jacobi: Mädchen- und Frauenbildung von 1500 bis zur Gegenwart. Frankfurt/Main 2013, 40 f. 5 Institutione del Prencipe Christiano. Vgl. Schulz [s. Anm. 3], 113. Es handelt sich um einen Fürstenspiegel. Die Gersdorff besitzt die ital. Übersetzung und Bearbeitung von Mambrino Roseo da Fabriano, die wiederum von Fürst Christian II. von Anhalt-Bernburg ins Deutsche übertragen wurde. 6 Alle genannten Autoren sind entweder Mitglieder der Fruchtbringenden Gesellschaft (Martin Opitz [v.] Boberfeld, Augustus Buchner) oder von der Sozietät rezipierte und übersetzte Autoren (Torquato Tasso u. Giovanni Francesco Loredano von Diederich von dem Werder; Antonio de Guevera über Roseo da Fabriano von Fürst Christian II. von Anhalt-Bernburg).
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Judith P. Aikin: A Ruler’s Consort in Early Modern Germany. Aemilia Juliana of Schwarzburg-Rudolstadt. Farnham (England): Ashgate 2014 (Women and Gender in the Early Modern World). – 238 S. Fürstinnen und Prinzessinnen waren schon immer von populärem Interesse; ihre Vornamen (die Kaiserin Sissi, die Königin Luise, die Prinzessin Diana) klangvoll zu ihrer eigenen Zeit und später; ihre Biographien durchdrungen von den Sympathien von AutorInnen und LeserInnen. Was häufiger fehlt in diesen Beschreibungen von Glück und Tragik ist eine quellenfundierte Bewertung nicht nur ihres persönlichen Schicksals, sondern auch ihres sozialen wie politischen Beitrags zur höfischen Umgebung und zum Land, in dem sie nach ihrer Heirat gelebt haben. Im letzten Jahrzehnt zeigt sich jedoch gerade im anglo-europäischen Raum ein Interesse an Leben und Rolle der Consort, d. h. der fürstlichen Gemahlin, die sich neben dem Fürsten einer designierten Rolle widmen sollte, die weit über Repräsentation und Familie hinausgehen konnte. Siehe z. B. die von Clarissa Campbell Orr herausgegebenen Titel Queenship in Britain (1660–1837): Royal patronage, court culture and dynastic politics (Manchester 2002) und Queenship in Europe (1660–1815): the role of the consort (Cambridge 2004). Das internationale, von Oxford aus initiierte Hera Projekt (geleitet von Helen Watanabe-O’Kelly u. a.) hat als eine seiner Forschungsinteressen: „Marrying Cultures, Queens Consort and European Identities (1500–1800).“ Bei einer Tagung in Stockholm (Januar 2014) wurde der politische, dynastische und gesellschaftliche Einfluss der schwedischen Königin Hedwig Eleonore (1636–1715), geborene Schleswig-Holstein-Gottorf, untersucht. Die internationale Perspektive ist angebracht, weil die fürstliche Heiratspolitik über die Grenzen hinausging und eine internationale Familienpolitik und einen kulturellen Transfer forderte, wozu die neue Gattin in einem neuen Land an einem unbekannten Hof entweder aktiv oder passiv beitragen konnte. Für die heutige Forschung bedarf das Bild einzelner Fürstinnen einer quellenbezogenen Revision mit einem offenen Auge gegenüber den Möglichkeiten wie auch Grenzen der Rolle einer fürstlichen Gemahlin. Judith Aikins Consort ist Aemilia Juliana von Schwarzburg-Rudolstadt, geborene von Barby und Mühlingen (1637–1706). Der Schwarzburg-Rudolstädter Hof und ihr Musiker Caspar Stieler (1632–1707) waren schon früher Thema mehrerer Publikationen der Autorin. Auch diese zeichneten sich jeweils durch eine sorgfältige Benutzung der Dokumente wie auch durch Kenntnisse des Hoflebens und der darin funktionierenden Akteure aus. Jetzt ist – nach mehreren Beiträgen über Geburts- und Sterbekultur am Rudolstädter Hof – die Gräfin, die Gönnerin und Arbeitgeberin von Caspar Stieler, Gegenstand der Untersuchung. Als Herzogin eines kleinen Herzogtums im deutschen Reich passte Aemilia Juliana vielleicht weniger in die illustre Gesellschaft der international an- und fortgeheirateten Fürstinnen. Auch heiratete sie einen Cousin, Albert Anton von Schwarzburg-Rudolstadt (1641–1710), an dessen Hof sie als Frühwaise 258
aufgewachsen war. Sie war also zur Zeit ihrer Hochzeit informiert über die bis zur Volljährigkeit ihres Gatten Regentinnen-geführte Regierung der Grafschaft. Aber sie bietet ein ausgezeichnetes Mikro-Beispiel dafür, was eine talentierte, tüchtige, fromme und erfahrene Gemahlin zu dem Wohl der Familie und ihrer Grafschaft beitragen konnte. Forschung zu ihrer Biographie ist auch dadurch gefordert, dass die Archive und Bibliotheken in Thüringen und in Rudolstadt nach 1989/90 ihre Schätze besser zugänglich gemacht haben. Diese Archivalien bilden die Grundlage des hier geschilderten Bildes der Fürstin und ihrer Umgebung: (1) ihre Werke zum Hoftheater und ihre religiösen Lieder/Gebete (57–100, Liste 219–223), (2) ihre Aktivitäten als Hausund Landesmutter (101–136) und (3) ihre Teilnahme an einem Netzwerk von Frauen im Bekannten- und Familienkreis (137–174). Diese Aktivitäten greifen ineinander. Die von ihr am Hofe organisierten Theateraufführungen z. B. hatten eine moralisch-religiöse wie auch eine gesellschaftliche Funktion und Wirkung. Viele ihrer Lieder waren Gelegenheitsgedichte, geschrieben als Glückwunsch oder als Trost bei glücklichen oder traurigen Geschehnissen im Familien- oder Bekanntenkreis. Die Veröffentlichung der anfangs für den eigenen Gebrauch geschriebenen Gebetssammlungen war überdies Teil der Fürsprache-Funktion einer Landesmutter. Sie wurden auch nach ihrem Tode weiter publiziert und trugen dazu bei, dass die Herzogin in den folgenden Jahrhunderten gerade in lokalen und religiösen Kreisen keine Unbekannte war. Judith Aikin entwirft überdies das Bild einer tüchtigen Gehilfin, welches weit über das einer frommen Liederdichterin und Gebetsvorgängerin hinausgeht. Als „Consort“ nutzte die Gräfin ihre Talente als Hausmutter im eigenen Dienst und zum Wohl der Grafschaft. Auch als Wirtschafterin, z. B. beim Ankauf einer Mühle, war ihr ein Handlungsbereich nicht nur gestattet, sondern ausdrücklich zuerkannt. Aus dieser Beschreibung kann man schließen, dass ihre Expertise als Apothekerin, Essenslieferantin, Frömmigkeitsförderin, Erzieherin, Geburtsexpertin und Wohltätigkeitsagentin und besonders als Landesmutter anerkannt war, wenn das Land oder die Regenten davon profitieren konnten. In Er ist die Sonn (1992) hat Heide Wunder auf das Herrscherpaar als Berufspaar hingewiesen. Wie die Autorin hier deutlich zeigt und ausgiebig dokumentiert, sind die oben erwähnten Bereiche diejenigen gewesen, in denen die Gräfin auch über die Grenzen ihres Schlosses hinweg tätig war und Anerkennung fand. Die gleichen Expertisen galten auch in einem Netzwerk von bekannten und anverwandten adeligen Frauen. Auch wenn sie oft weit auseinander lebten, bot der Briefverkehr Frauen Zugang zu und Teilnahme an einem weiblichen Erfahrungsbereich. Man schickte Kochrezepte und Essenslieferungen, spendete aber auch Trost und half bei schwierigen Geburten, beim Sterben von Verwandten und tauschte Meinungen über Akteure und Vorgänge im privaten und öffentlichen Bereich aus. 259
Ein Buch auf Englisch über eine deutsche Fürstin überrascht. Es hat aber den Vorteil, dass die Autorin für ein breites Publikum schreibt, dem viele deutsche Begriffe aus der Frühen Neuzeit nicht geläufig sein werden und sie so beiläufig vieles erklärt, was auch modernen deutschsprachigen LeserInnen fremd sein wird. Mit ihrem Buch liefert die Autorin einen deutschen Beitrag zu einer internationalen Diskussion, der als Vorbild für die Erforschung anderer „Gemahlinnen“ in kleineren Territorien dienen kann. Cornelia Niekus Moore
Fairfax, Virginia
Carmen Winkel: Im Netz des Königs. Netzwerke und Patronage in der preußischen Armee 1713–1786. Paderborn [u. a.]: Ferdinand Schöningh 2013. – 364 S.; graph. Darst., Karten This doctoral dissertation, written under Ralf Pröve in Potsdam, portrays the eighteenth-century Prussian officer corps as a patronage system, with King Frederick William I and King Frederick II as the patrons, following the theoretical/methodological school of Wolfgang Reinhard, Sharon Kettering, and Birgit Emich. The book begins with introductory chapters that thoroughly lay out the state-of-the-art of the history and historiography of eighteenth-century Prussian nobility and patronage/network studies. There follows a survey of the “integration” of officers in the institution of the Prussian army, primarily through their material and social dependence on the monarchy. Winkel insists on using the term “Monarchisierung,” but really this is an analysis of “statebuilding” or “absolutism.” Winkel next expands the scope of her study to encompass Prussian army officers from across the Holy Roman Empire, who were actively recruited (especially foreign princes) for dynastic, diplomatic, and strategic reasons. There is a lot to like here. Winkel presents an unprecedented collective biography of the Prussian officer corps (supported by quantitative data, as much as possible). She thereby illustrates typical career paths and degrees of social mobility within the Prussian army, and she quite often overturns the conventional wisdom. For example, Winkel convincingly demonstrates that there was a large bourgeois component of the Prussian officer corps (though nobles and especially high nobles were clearly favored), and not only in the artillery and engineers. Moreover, the Prussian nobility were generally much less involved in the army than is often assumed – except for members of some military families, most Junkers served only briefly, if at all, and career officers tended to be latter-born sons, not Rittergutbesitzer. As the status of Prussia in the empire changed, with Frederick II’s successes in the War of Austrian Succession and the Seven Years War, serving in the Prussian army (or at least 260
holding a titular position) became more attractive to the princely houses of the empire, at least some of which had members in both the Habsburg and the Hohenzollern militaries. Some of Winkel’s results are more conventional, for example, her conclusion that over the course of the eighteenth century Prussian army officers conflated their position in the military with their social position and honor (Ehre). It is no surprise that Frederick William I and Frederick II had a great deal of room to maneuver in favoring their preferred “clients” within the Prussian officer corps (or alternately, in disfavoring, demoting, or dismissing those officers who displeased them). Winkel also shows that many personnel matters were not at all institutionalized and were entirely dependent on the will of the kings – for example, in granting pensions to retired/invalid officers. That Frederick William I and Frederick II used this extra-bureaucratic power to reward competence, loyalty, and subordination and to punish incompetence, disloyalty, and insubordination fits well with the metanarratives of state-building. Winkel’s overarching thesis – that one can regard the Prussian kings as patrons and the officers as their clients – works in several instances, where she can show that Frederick William I and Frederick II promoted and/or punished their favorites. Indeed, it does not make sense that Winkel insists that the Prussian kings did not have favorites (201) – Winkel acknowledges that the Prussian kings paid special pensions to their “favorite” officers. It is also very clear that regimental commanders – who still had a great deal of leeway in deciding whom to accept and promote as officers – served as brokers for their subordinate officers, who were almost entirely dependent on them. “Patronage” and “clientalism” are good descriptions for these kinds of personal/informal/extra-bureaucratic networks. Indeed, it is a bit frustrating that Winkel’s archival research was focused on Bittschriften and the minutes from the royal cabinet. Of course, using this source basis – letters to and from the Prussian kings – makes it seem as if everything was centered around the monarchy. One can only imagine that if Winkel had used correspondences among officers, then a very different picture of networks within the Prussian officer corps would have emerged. For example, familial ties within some regiments are very visible, but other identities/interests that built group cohesion, especially between officers in different regiments, hardly appear at all. Winkel shows how officers were educated, and she analyses their success in their careers on the basis of the educational backgrounds, but she cannot actually trace how a common education experience built group cohesion. For readers of Pietismus und Neuzeit, it is especially poignant that Pietism is entirely absent, though it certainly gave some officers a sense of belonging (and vice versa – a shared rejection of Pietism probably also resulted in a sense of camaraderie). There are other issues. Most importantly, the Prussian officer corps was a huge institution, encompassing thousands of men at any moment, with a table 261
of ranks, regulations, and a membership (and hierarchy) known to the public. Winkel is right that the Prussian army was full of personal relationships, informal channels of communication, and patronage systems, but to argue that the entire Prussian officer corps was one network or one patronage system is unconvincing. To her credit, Winkel lets her study spill over into the “civilian” government, especially the influence of a royal cabinet secretary as a “broker” (207 ff.), but she thereby undermines her own overarching thesis that the kings had a personal “patron-client” relationship with their army officers. Ultimately, Frederick II’s overlaying of “inspectors” over the military ranks in 1763 (apparently, a latter-day military version of Louis XIV’s intendants) staved off any personal connection between him and his army officers – this change was actually intended to limit and channel communications and petitions from army officers to the king (208 ff.). Similarly, Winkel draws on cultural anthropology to view as an “exchange of gifts” (Gabentausch) the kings’ ennobling of Prussian officers (or naming them barons or counts, or accepting them in the Order of the Black Eagle). This makes sense in cases where supplicants actually provided material gifts (recruits, money) in direct exchange for social capital (ennoblement, or a new/better title). However, in Winkel’s schema even a bourgeois officer’s good performance and steadfast loyalty were a “gift” to the kings, who were obligated to reciprocate by ennobling the supplicant, who was then further obligated to reciprocate again with further service and dependability (106). Suffice to say that it seems a stretch to regard any recognition, reward, or promotion based on service (or service performed in anticipation of recognition, rewards, or promotion) as an exchange of gifts. On the same tack, to view Prince Leopold von Anhalt-Dessau as a “client” of the Prussian kings (201 ff.) is problematic, given his mentorship of both kings and his official status as their immediate military subordinate – military subordination and obedience is not clientalism. The feud between “der Alte Dessauer” and Frederick the Great (204 ff.) makes Anhalt-Dessau seem more like an “overmighty subject” than a “client.” Moreover, it seems like a distortion to refer to the diplomatic/military alliances between Anhalt-Dessau and Prussia or between Württemberg and Prussia as “patron-client” relationships (259 ff.) – by this reasoning, every diplomatic relationship between a stronger/ bigger and a weaker/smaller ruler/power would be a patron-client relationship. Winkel’s use of evidence is sometimes problematic. For example, the kings’ use of indignant and insulting variations of normal salutations were certainly meaningful, but it is not at all clear that the formulaic terms of address and compliments used in thousands of petitions, New Years greetings, or cabinet orders were really any indication of familiarity, affection, or a sense of belonging (91 ff.). Similarly, it is Winkel’s conjecture that wearing the same uniform as the kings, or putting royal emblem on various pieces of the uni262
form, made Prussian army officers feel more bound to the kings or to each other. As Winkel shows, especially via requests from former officers to continue wearing the uniforms of their former regiments, it certainly became more fashionable to wear a uniform over the course of the eighteenth century, and it was clearly desirable to adorn one’s uniform with prestigious accoutrements (115 ff.). What is unclear is why former officers and even nonofficers wanted to wear a Prussian army officer’s uniform – whether they were proud to be “the king’s man” (as Winkel supposes), or whether (as Winkel’s evidence suggests) they were trying to ingratiate themselves with the Prussian kings, or wanted to establish and display their status vis-à-vis their peers, or simply wanted to wear something (anything) fashionable. Missing here is an analysis of how the Prussian army fulfilled the social/ political functions of an early modern court society. The displacement of the court nobles by the officer corps has long been a cliché in the historiography of eighteenth-century Prussia, and Winkel’s evidence begs for some kind of definitive analysis. Winkel points out that the kings’ near monopoly of scarce resources (money, prestige) and the kings’ unilateral ability to raise or lower the status of their officers by publicly praising or shaming them (especially at public military events, like the grand reviews, which served the purpose of court fêtes) undoubtedly resulted in Prussian army officers becoming increasingly dependent on the kings’ favor – however, she does not follow up any further this apparent analog of the “domestication” of the French nobles at the court of Louis XIV. Winkel does point out repeatedly that proximity and access to the kings (and recognition by the kings) were signs of distinction for Prussian officers; she also points out that Frederick William I and Frederick II were especially eager to enlist and promote members of prestigious noble families as army officers, presumably because their presence reflected well up on the army and the monarchy. However, Winkel fails to extrapolate this further to discuss reciprocal valorization or the notion of “social capital.” (It is telling that the works of Norbert Elias, Jeroen Duindam, and Andreas Pečar are all absent from Winkel’s bibliography.) There are other basic problems. Some of the tables of quantitative data lack any explanation or analysis. Winkel lists in the bibliography most of the English-language secondary literature that one would expect (William Hagen, Fritz Redlich), but rarely or never cites it. Conspicuously absent are the works of Hans Rosenberg and Christopher Clark. Especially in the first introductory chapters Winkel’s study is generally synchronic, so evidence is taken from the 1710s and the 1780s, as if it were all part of one system or one phenomenon – often Winkel refers to “der König” indiscriminately. Differences between the reigns of Frederick William I and Frederick II are often glossed over, and there is not much sense of change over time. Finally, as is lamentably common nowadays, the stupefyingly slapdash editing and formatting of this book distracts from its content. Winkel’s prose is occasionally repetitive, and she sometimes writes in incomplete sentences; the 263
book would have benefited from copy editing. The bibliography is welcome, but the entries are in disarray – both out of order, and formatted haphazardly. The index is also welcome, but poorly done (inconsistent formatting) and frustratingly incomplete – many people who do appear in the text, do not appear in the index. Finally, the many misplaced line breaks and obvious misspellings left this reader flabbergasted – shame on Ferdinand Schöningh for apparently not even running Winkel’s text through an automated spell check! To conclude, this is a thought-provoking (if flawed) book that deserves the attention of a wide audience. Not only military historians and Preußenhistoriker, but also those studying the nobility or patronage systems in early modern Europe will find much of interest here. Benjamin Marschke
Humboldt State University, Arcata
A. Gregg Roeber: Hopes for Better Spouses. Protestant Marriage and Church Renewal in Early Modern Europe, India, and North America. Grand Rapids, Michigan [u. a.]: Eerdmanns 2013. – 290 S. Als Philipp Jakob Spener 1670 unter dem Titel Pia Desideria seine Vorschläge zur Verbesserung des kirchlichen Lebens veröffentlichte, verband er sein theologisches Programm ausdrücklich mit einer „Hoffnung auf bessere Zeiten“. In Anspielung an Speners Formulierung hat der amerikanische Historiker A. G. Roeber nun eine Studie vorgelegt, die unter dem Stichwort „Hoffnungen auf bessere Ehegatten“ nachzeichnet, wie das pietistische Bemühen um eine Erneuerung der Kirche eng mit einer bestimmten Interpretation der Ehe verknüpft war, die das Verhältnis der Ehepartner als einen partnerschaftlichen Weg gegenseitiger Heiligung zu verstehen suchte. Die von Roeber vorgelegte These ist mehrschichtig und verfolgt sowohl theologische als auch historische und geographische Entwicklungslinien. Es geht ihm darum, eine weitreichende Debatte über Eheverständnis und Ehepraxis im 17. und 18. Jahrhundert zu beschreiben, die bisher kaum wahrgenommen worden ist, aber in ihrer Problematik bis heute nachwirkt. Dabei nimmt er eine zeitliche Schiene in den Blick, die von Augustinus und Thomas von Aquin über Luther und Spener bis zu Francke und Thomasius in Halle reicht. Der geographische Horizont umfasst die mit Halle verbundenen missionarischen und pastoralen Arbeitsfelder in Indien und Nordamerika. Herausgekommen ist ein Buch von hoher Komplexität, das wie ein Mosaik zahllose historische Details und historiografische Diskussionen zusammenfügt, um das Phänomen einer „enormous, global debate in early modern Protestantism“ (xi) sichtbar werden zu lassen. Ausgangspunkt ist Luthers Verständnis der Ehe, das nach Roebers Lesart eine gemäßigte Position zwischen dem katholischen sakramentalen Ehebegriff 264
und der säkularisierten Vorstellung der Ehe als sozialem Vertrag einnimmt. Roeber argumentiert, dass Luther unter dem Einfluss mystischer Traditionen eine Vision der Ehe entwickelte, die in der Partnerschaft von Mann und Frau Möglichkeiten einer quasi-sakramentalen Gnadenvermittlung sah. Diese Vorstellung bliebe jedoch stets auf der Ebene einer „nicht offiziellen Theologie“ stehen und fand keine Aufnahme in das von Melanchthon geprägte „offizielle“ protestantische Eheverständnis, das eine deutlichere Trennung von „Natur“ und „Gnade“ voraussetzt und sich an zeitgenössischen juristischen, sozialen und ökonomischen Gegebenheiten orientiert. Zwar wurde die Ehe als Teil der göttlichen Schöpfungsordnung gesehen, besaß aber ihre Funktion vor allem im Bereich der „weltlichen Ordnung“, indem sie zur Stillung der Lust, zur Zeugung von Kindern und zur Definition der sozialen Rollen von Frau und Mann diente. Im Pietismus tauchte die partnerschaftliche Sicht der Ehe wieder bei Spener auf und verband sich in der pietistischen Liedtradition mit dem Vokabular der Brautmystik. Im Halleschen Pietismus überwogen dann wieder ordnungstheoretische Gesichtspunkte, nicht zuletzt durch den zunehmenden Einfluss der Aufklärung und die direkte Einflussnahme staatlicher Interessen. Eine zweite Entwicklungslinie, die Roeber verfolgt, betrifft den Transfer pietistischer Ehevorstellungen im Kontext des internationalen Netzwerkes der Halleschen Anstalten, namentlich der indischen Tranquebarmission und der pastoralen Begleitung deutscher Siedler in Nordamerika. Hier stützt sich Roeber auf die weitreichende Auswertung gedruckter und ungedruckter Quellen, die belegen, wie intensiv ehebezogene Themen in diesen globalen und interkulturellen Zusammenhängen aufbrachen und diskutiert wurden. In Tranquebar ließen sich die europäischen Vorstellungen einer „christlichen“ Ehe nur sehr begrenzt auf die Ehepraxis der tamilischen Konvertiten übertragen. Polygamie, Konkubinat und eine strikte Abgrenzungen der sozialen Schichten stellten dabei große Herausforderungen dar, die von den Missionaren jeweils in Auseinandersetzung mit der örtlichen Kolonialbehörde und den Aufsichtsinstanzen in Halle verhandelt werden mussten. In Nordamerika sahen sich hallesche Pfarrer wie Boltzius in Georgia und Mühlenberg in Pennsylvanien mit einer deutlichen Erosion des pietistischen Eheideals konfrontiert, was vor allem den Rahmenbedingungen des kolonialen Rechtssystems geschuldet war. Drittens bemüht sich Roeber, das von Luther und Spener propagierte Ideal der partnerschaftlichen Ehe im Kontext der Debatten innerhalb des Pietismus zu verorten, die seit Ende des 17. Jahrhunderts in unterschiedlichen Konstellationen zwischen Vertretern kirchlicher und radikaler Positionen über die korrekte theologische Interpretation der Ehe geführt wurde. Er verweist hierbei auf Eva von Buttlar, deren „Sozietät“ ritualisierte Sexualität als Heilsweg praktizierte, und auf Gottfried Arnold und Johann Georg Gichtel, die die Ehe zugunsten sexueller Enthaltsamkeit strikt ablehnten, und argumentiert, dass diese Extremformen es der gemäßigten Position Speners schwer machten, 265
Gehör zu finden. Ein eigenes Kapitel ist der Auseinandersetzung mit Zinzendorf und der herrnhutischen Ehepraxis gewidmet, die nach Roeber darin gipfelte, dass der sexuellen Vereinigung eines Ehepaars eine dezidiert sakramentale Bedeutung zugemessen wurde. Obwohl Zinzendorf bei Luther und Spener anknüpfte, führte seine konsequente Deutung der Ehe als sakramentale Handlung dazu, dass Zinzendorf von Vertretern des lutherischen Pietismus zunehmend angegriffen und sein Ehebegriff vehement zurückgewiesen wurde. Auch bei seinem Besuch in Pennsylvanien 1742 stieß Zinzendorf mit seinen Vorstellungen unter den deutschen Siedlern auf wenig Zustimmung. Die erotisierende Sprache der Sichtungszeit tat ein Übriges, um zahlreiche anti-herrnhutische Polemiken zu provozieren. Dabei erklärt sich die Schärfe der Ablehnung, wie Roeber vermutet, wohl aus der Tatsache, dass der Hallesche Pietismus dem sakramentalen Ehebegriff der Herrnhuter am Ende inhaltlich wenig entgegenzusetzten hatte. Wie Roeber in seiner Einleitung feststellt, geht es ihm nicht darum, eine Geschichte der Ehe im Pietismus zu schreiben, sondern eine theologie- und frömmigkeitsgeschichtliche Auseinandersetzung zu rekonstruieren, nämlich jene Divergenz zwischen der „offiziellen“ theologischen Lehre von der Ehe mitsamt ihrer von den überlieferten kanonischen Rechtstraditionen und von den sozialen Konventionen beeinflussten Ehepraxis einerseits und andererseits der „inoffiziellen“ Theologie der partnerschaftlichen Ehebeziehung, die von Luther formuliert und von Spener neu belebt worden war und die bei vielen Gläubigen auf Zustimmung stieß (xiii). Sein Fazit am Ende fällt ernüchternd aus: Die „Hoffnung auf bessere Ehegatten“ blieb weithin unerfüllt, nicht die theologische Visions Luthers, sondern ein vorwiegend auf rechtlichen Kategorien beruhendes Eheverständnis, das patriarchalische Geschlechterrollen festschrieb, behielt am Ende des 18. Jahrhunderts die Oberhand. Die innerhalb des Protestantismus zugrundeliegende ambivalente Haltung zur Ehe konnte letztlich nicht überwunden werden. Insgesamt präsentiert sich Roebers Buch als ein faszinierender und ambitionierter Versuch, eine wichtige historische Debatte über die theologische Bedeutung der Ehe in seiner ideengeschichtlichen Komplexität und globalen Weite darzustellen. Die Vielfalt der Perspektiven ist seine Stärke, aber auch der Punkt, an dem Fragen aufbrechen. Nicht immer ist der rote Faden der Argumentation klar zu erkennen, viele Einzelinformationen wirken zufällig, die Fülle an Material verdeckt gelegentlich den logischen Zusammenhang zwischen den verschiedenen Abschnitten eines Kapitels. Das Gesamtbild, das Roeber aus den vielfältigen Mosaiksteinchen zusammenzulegen sucht, bleibt letztlich hinter den Erwartungen zurück. Er weist schlüssig nach, dass Ehefragen im Umkreis des hallischen Pietismus an verschiedenen Orten eine Rolle spielten, doch dass es sich dabei um ein zusammenhängendes historisches Phänomen, ja gar um eine übergreifende Debatte von enormer globaler Bedeutung gehandelt haben soll, das geht aus seiner Darstellung nicht zwingend hervor. Vielleicht waren es einfach nur parallel laufende Einzelereignisse? Vielleicht 266
waren auch die inhaltlichen Schwerpunkte, etwa wenn man Tranquebar mit Pennsylvanien vergleicht, am Ende doch eher unterschiedlich gelagert? Es bleibt unbestritten, dass die Ehe im Pietismus ein häufig verhandeltes und oft kontrovers diskutiertes Thema bildete, insbesondere in der Auseinandersetzung zwischen den verschiedenen pietistischen Richtungen und Gruppen. Da Roebers Sympathien klar beim Halleschen Pietismus liegen, kommen die anderen Strömungen nicht so richtig in den Blick, was schade ist, da ja gerade hier höchst interessante Debatten abliefen. Im Blick auf Gottfried Arnold hätte es sich etwa angeboten, die Ausführungen zur Ehe unter den ersten Christen in seiner Darstellung Die Erste Liebe (1696) auszuwerten. Auch die Ehe-Typologie bei Hochmann von Hochenau oder das Beispiel der „geistlichen Ehe“ von Hector de Marsay und Clara von Callenberg wären für Roebers Fragestellung sicher von Belang gewesen. Mehr Aufmerksamkeit widmet Roeber der Ehepraxis in der Brüdergemeine, die er anhand der sogenannten „17 Ehepunkte“ Zinzendorfs darstellt. Bedauerlicherweise konzentriert sich Roeber dabei auf die rein sexuellen Aspekte in Zinzendorfs Eheverständnis und versäumt es, der Frage nachzugehen, wieweit Herrnhuter Ehen von dem Gedanken der gegenseitigen Freundschaft und Partnerschaftlichkeit geprägt waren, wozu etwa die Lebensläufe von Herrnhuter Schwestern und Brüdern sicher vielversprechende Möglichkeiten geboten hätten. So entsteht der Eindruck, die sakramentale Bedeutung der Ehe sei für die Herrnhuter nur eine Sache des Geschlechtsverkehrs gewesen. Dass Roeber in diesem Zusammenhang Zinzendorf ein besonderes Interesse an „human sexual ecstasy“ attestiert (165), wirkt befremdlich, genauso wie die Behauptung, Zinzendorf hätte mit Conrad Beissel die Vorstellung eines androgynen Urmenschen geteilt (170). Auch sonst finden sich Ungenauigkeiten, etwa wenn die beiden Auflagen der anonym von C. F. Demelius herausgegebenen Nachricht von der Herrnhutischen Brüderschafft als zwei unterschiedliche Streitschriften behandelt werden (159 und 163), oder wenn Zinzendorfs Rückkehr aus Pennsylvanien auf das Jahr 1742 statt 1743 datiert wird (171). Alle diese Details legen nahe, dass man in der vorliegenden Untersuchung, vor allem wenn man sie als Beitrag zur gegenwärtigen Diskussion von Ehe und Sexualität im Pietismus heranziehen möchte, neben vielen interessanten Einsichten auch doch mit gewissen Einseitigkeiten rechnen muss. Peter Vogt
Herrnhut
Claudia Wustmann: Die „begeisterten Mägde“. Mitteldeutsche Prophetinnen im Radikalpietismus am Ende des 17. Jahrhunderts. Leipzig: Kirchhof & Franke 2008. – 244 S. Since the publication of Claudia Wustmann’s dissertation Die „begeisterten Mägde“. Mitteldeutsche Prophetinnen im Radikalpietismus am Ende des 17. Jahrhun267
derts seven years ago, there have been substantial strides taken in research on the intersection between gender and Pietism.1 Wustmann’s work seeks to be an examination of the radical Pietist phenomenon of the begeisterte Mägde („enthusiastic maidservants“) and an evaluation of the possible social and religious factors that played roles in these women’s situations. With this in mind, the following will be a twofold consideration of Wustmann’s work. The first part will provide an overview of the book’s content. The second part will evaluate Wustmann’s work. Wustmann uses her introductory chapter to set out methodological boundaries for her study.2 She begins by discussing Pietism as a category. Though she chooses to use the singular form “Pietism” in her study, Wustmann prefers to conceive of the movement in the plural, “Pietisms”. This, claims Wustmann, better takes into account the diversity of radical Pietist individuals and groups. She would have her readers keep in mind that „die Grenzen sind natürlich fließend“ and so „Kein Pietist – das immerhin findet sich als Selbstbezeichnung – erklärte sich selber zum Radikalpietisten“ (15). In this context Wustmann approaches the variant origins of Pietism proposed by scholars, noting that some definitions run into the problem of implying a „pietistische Gemeinschaft“, and consequently she chooses to apply “radical Pietism” in a „rein metasprachlich und descriptiv“ way (16). She believes, though, that a shared belief in the possibility of direct revelation from God is one point with which heterogeneous radical Pietist individuals and groups can be bound together. After a brief excursus through the state of research, Wustmann turns her attention to methodological concerns. She draws on recent work concerning Pietism as a system of networks and gender in Pietism. Along with these areas of intersection, she incorporates discourse theory and rational-choice-theory as methods to describe prophetic agency in religious movements. Lastly, Wustmann tips her hat to the theological backdrop of the topic at hand. The second chapter discusses the geographic and historical aspects that stand in the background of the begeisterte Mägde. In the first section, the author addresses the religious expectations that various figures and groups attached to the turn of the century. The impetus for new prophetic voices, says Wustmann, needs to be seen in light of these eschatological expectations and the various crises of the late seventeenth century. Wustmann also briefly considers the circumstances that nurtured prophetic activity in central German regions. Lastly, she discusses the caricatures of Pietist women presented in the polemics of Johann Henrich Feustking and the Wahrhaftig Bericht / Von der Quedlinburgischen Neu-Begeisterten und entzückten Magd (1703). By taking into account their descriptions, she seeks to demonstrate the shape polemics took 1 Cf. Gender im Pietismus. Netzwerke und Geschlechterkonstruktionen. Hg. v. Pia Schmid [u. a.] Halle/Saale 2015. 2 “Chapter” here corresponds to Teil, and “section” corresponds to Wustmann’s Kapitel.
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with regards to the prophetesses. For example, Wustmann focuses on the sexualizing of women’s participation in Pietist groups. The author then endeavors to provide an overview of Pietism, addressing topics that correspond to her study of the begeisterte Mägde. She categorizes Pietism as a “renewal movement” inside Lutheranism and claims that it is inseparable from the work of Philipp Jakob Spener (53). Alongside Spener, Wustmann introduces his second generation disciple, August Hermann Francke, before moving on to discuss “pietistic separatism”, which she locates initially with early Pietist activity in Frankfurt. Wustmann then addresses the prominence of chiliasm in Pietist circles, turning to Johanna Eleonora and Johann Wilhelm Petersen as representatives of a form of premillennialism found in radical thought. She then briefly directs her readers to the themes of ongoing revelation and mysticism. In the context of mysticism, Wustmann signals out role of the writings of Macarius of Egypt and Miguel de Molinos in Pietist thought. Ideas of renewal and rebirth are also addressed in this context. The next section considers churchly and radical Pietist views on women and their role in society and the church. Finally, Wustmann returns to discuss the role Spener and Francke played in the development of Pietism; she pays special attention to Spener’s chiliasm and Francke’s views on women. Chapter three takes into account Pietist understandings of prophets and prophecy. The ten-page sketch offered by Wustmann begins with methodological considerations before looking at Pietist conversions as moments of God’s revelation. Conversions should be seen, claims Wustmann, as revelatory experiences that open new vistas to Scripture (93). She concludes with a section on „Offenbarung und Öffentlichkeit“, noting that in the case of prophetic revelation, public or open prophecy (and not the publicity of the prophet) is the goal. Wustmann then provides a short walk through antecedent individuals who influenced radical Pietism. Beginning with Johann Arndt and Jakob Böhme, she offers limited biographical portraits of Jane Leade, Jean de Labadie, and Johann Georg Gichtel, before considering Gottfried Arnold and Ernst Christoph Hochmann von Hochenau. The next two chapters serve as the corpus of Wustmann’s study. Chapter six acts as an historiographical introduction to the begeisterte Mägde. She begins with a section on important female predecessors to the prophetesses. Beginning with Johanna Eleonora Petersen, Wustmann quickly introduces her readers to Adelheid Sibylle Schwartz and Rosamunde Juliane von der Asseburg. From there Wustmann tips her hat to the involvement of women in the “Leipzig Unrest” under Francke, before offering an historical overview of the known central German prophetesses according to their cities: Erfurt, Quedlinburg, Halberstadt, and Halle. These sections, divided according to city, introduce the regional and religious contexts before discussing the various women. In her section on Erfurt, Wustmann relates the work of Francke and J. J. Breithaupt to her reader and follows it with an introduction to Georg 269
Heinrich Brückner. Leaning heavily on the material found in Eigentliche Nachricht Von Dreyen Begeisterten Mägden (1692), letters between Francke and Spener, and secondary literature, Wustmann recounts the “prophetic” or “ecstatic” activities of Anna Maria Schuchart, Magdalena Elrichs, Anna Eva Jacobs, Catharina Reinecke, and Anna Margaretha Jahn. Attention is paid to the type of occurrences had and the ways in which the women were observed and portrayed. Wustmann accounts not only for their prophetic activity but also for the supernatural occurrences associated with the Mägde (e. g. sweating blood, visions, ecstatic states). She ends with a consideration of the wandering prophetess, Agnes Gräfner. This chapter is followed by an evaluation of the previously described prophetic activities of the women. After positioning herself in contrast to Ryoko Mori’s views on the cause of the prophetic experiences of the Mägde, Wustmann turns to social and biographical factors to explain – in part – features of the activities of the women.3 The author looks again at the Pietist context, the place of the prophetesses in the social and civil structures of German society, and the status change that was provided when these women were offered a new religious identity. Wustmann then addresses issues surrounding gender, the effects of family life on suppressing prophetic activities, and the space afforded women to experience “mystical” occurrences in early modern culture. She also considers the role of “emotions” in the evaluation of women’s religious experience. Wustmann concludes the monograph with a discussion of Pietism’s role in the changing roles of women, the agency of prophetesses, and place of gender and social status in the acceptance of prophecy. Two poems from Joachim Feller and an ecstatic utterance from Anna Maria Schuchart are appended to the text. The benefits of Wustmann’s work to the scholarly community can be seen in three areas. First, the central, historical chapter on the begeisterte Mägde serves a helpful role in consolidating literature on the prophetesses. By drawing from primary sources and secondary literature, Wustmann not only gives the reader a sense of important events but she also pushes further into the narrative surrounding the women’s supernatural experiences. The various attempts by observers to understand and explain the occurrences at the center of these women’s lives, and their wider popularity, is situated into Wustmann’s storyline, which acknowledges a much more complex unfolding of events than what is sometimes provided. Second, at the time of its publication Wustmann’s research incorporated recently published correspondence between various Pietist individuals, including Spener and Francke, which had only recently been made available to the scholarly community. This provided a layered approach to the relationship between the purported supernatural
3 Ryoko Mori: Begeisterung und Ernüchterung in christlicher Vollkommenheit. Pietistische Selbst- und Weltwahrnehmungen im ausgehenden 17. Jahrhundert. Tübingen 2004.
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events and those Pietists (e. g. Spener and Francke), who were determining how to associate themselves to the stories they were hearing. Lastly, Wustmann’s study offers a further example of approaching women’s religious activity as one of agency and not passivity. Though Wustmann’s study finds itself trapped at moments in a male-centered transmission of the prophetesses’ lives, there are notable moments in which the narrative breaks free from this and functions with the women at the center, their activity being purposeful and empowering. Die „begeisterten Mägde“ does however find itself entangled in what might best be described as imprecision. At first glance, this can be seen in the very structuring and presentation of the information. The first four chapters of the book appear as scattered pieces of a puzzle, which are missing an underlying direction that would give purpose to the overall study. A glaring example of this is Wustmann’s fourth chapter on „Wegbereiter des radikalen Pietismus“. The author has already introduced radical Pietism in the earlier sections of the book, and so this short chapter plays no appropriate function in leading the reader into a discussion of the prophetesses. The imprecision of this study is also seen in the topics being discussed. Peripheral subjects, like Gottfried Arnold and Ernst Christoph Hochmann von Hochenau, are given space in the text without ever being tied into the narrative, while Andreas Achilles, who played an important role in transmitting accounts of ecstatic women, is only addressed in passing. Achilles’ historical context, even as it is reflected in his theological writings, influenced his transmission of the stories of the women. Here it should also be noted that Wustmann takes a helpful step in offering a chapter on prophecy in Pietism, but considering the centrality of Protestant understandings of prophecy to her overall study, the meager chapter lacks the breadth required to properly contextualize the supernatural occurrences of the Pietist women. One final example of the imprecision encountered in the text is with the use of certain terms, like “mystic”. At moments, Wustmann uses mysticism quite broadly, and in doing so blurs the difference between being a mystic and being a radical. This is evidenced in her application of Caroline Walker Bynum’s work on medieval women mystics to the early modern historical context of the prophetesses. Wustmann quotes Bynum, “[b]ut women mystics often simply became the flesh of Christ” (199). Yet the activity of a prophet does not correlate directly to the activity of a mystic. The mystic seeks a supernatural unity with the Godhead that is oftentimes accomplished through passivity; the prophet seeks to be an active agent, a divine mouthpiece. Certainly prophecy and ecstatic experiences could be seen as mystical, but they do not require the individual to be a mystic or to adhere to a form of mysticism. Thus there needs to be a level of caution when approaching stories presented about the begeisterte Mägde; and labeling these prophetesses as mystics required more thorough contextualizing of their experiences in light of the wider use of the term “mystic” in the history of Christianity. 271
Claudia Wustmann’s Die „begeisterten Mägde“ offers a reappraisal of the ecstatic and prophetic experiences of radical Pietist women during the 1690s. She would have her audience approach the events mindful of both the religious and the social circumstances that may have led to the supposed supernatural events. In light of the growing body of work on gender in Pietism, Wustmann’s work is helpful in confirming the agency of women in the religious movement and should be applauded for the ways in which it advances understandings of women’s role in late-seventeenth century Pietism. Peter James Yoder
Berry College
Matthias Paul: Johann Anastasius Freylinghausen als Theologe des hallischen Pietismus. Halle: Verlag der Franckeschen Stiftungen 2014 (Hallesche Forschungen, 36). – VIII, 512 S. Er war Nachfolger und Schwiegersohn von August Hermann Francke. Seine Dogmatik war grundlegend für den hallischen Pietismus, und ‚sein‘ Gesangbuch gilt heute noch als das bedeutendste innerhalb des Pietismus. Die Rede ist von Johann Anastasius Freylinghausen (1670–1739). Lange Zeit stand er im Schatten seines Schwiegervaters und Gründers der Franckeschen Stiftungen. Umso verdienstvoller ist es, dass Matthias Paul die in der Forschung augenfällige „Franckezentriertheit“ zu relativieren beabsichtigt, indem er als erster eine Monographie vorlegt, die das Augenmerk auf die Biographie und Theologie jener interessanten Persönlichkeit lenkt. Die 2010 an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg eingereichte Dissertation und nun in gekürzter Form vorliegende Untersuchung nimmt den 1731 von Freylinghausen verfassten Lebens=Lauf als Leitfaden der biographischen Rekonstruktion. Dabei werden in acht Kapiteln die einzelnen Stationen seines Lebens, das Umfeld und die prägenden Einflüsse (21) erörtert und durch Informationen aus anderweitigen Quellen ergänzt. In kritischer Distanz zum Lebens=Lauf deckt der Verfasser diejenigen Inhalte auf, die dem Verdacht einer literarischen und theologischen Konstruktion unterliegen. So wird nachgewiesen, dass die Sicht Freylinghausens auf seine defizitär-christliche Erziehung in Gandersheim beispielsweise durch seine Mutter (1670– 1682) und durch seine Lehrer der Ratsschule in Einbeck (1682–1689) dem idealisierten Schul- und Erziehungsprogramm der Glauchaschen Anstalten geschuldet ist (11 f.). In der Studienzeit in Jena (1691–1693) lernte Freylinghausen auf zwei Reisen nach Erfurt Francke und Breithaupt kennen. Der Letztere schlug dem jungen Studenten vor, seine Studien in Erfurt fortzusetzen, was Freylinghausen entgegen dem Willen seiner Eltern tat. Dem Autor zufolge bildet dieser Entschluss, die „entscheidende Wende“ (26), die der Lebens=Lauf zugunsten des späteren Bußkampfes in Halle eher herabgestuft hat. Während seines halbjährlichen Aufenthalts in seinem Heimatort Ganders272
heim (1691/92) wirkte Freylinghausen bereits in pietistischer Weise. Er könne zwar nicht als „Gründer des Gandersheimer Pietismus“, jedoch als „Vermittler des Erfurter Pietismus“ gelten (37). Wegen Franckes Wechsel nach Halle (1692) folgte Freylinghausen ihm nach. Vierzig Tage nach seiner Ankunft geriet der Student aufgrund einer Bibelauslegung Breithaupts in eine religiöse Krise, die sein sogenanntes Bekehrungserlebnis markiert. Der Verfasser geht hierbei auf die literarische Inszenierung ein, hebt die Unterschiede im Vergleich zum Bekehrungsbericht Franckes hervor (55–61) und ordnet sie in die Reihe weiterer religiöser Erlebnisse von Studenten in der Zeit ein, um kritisch das Urteil in der Forschung zu diskutieren, die jene Phase als den „Höhepunkt der zweiten Welle des Pietismus“ kennzeichnet (62–69). Nach Abschluss des Studiums weilte Freylinghausen ab Dezember 1693 wieder erneut in Gandersheim und stand im Briefkontakt mit Francke. Auf diese Korrespondenz geht Paul genauer ein (71–83). Mit der Einstellung Freylinghausens als Adjunkt Franckes in Glaucha begann eine neue Phase seines Lebens (1695–1715). Ausführlich werden seine Gemeindeerfahrungen dargelegt (87–121), da der Verfasser sie als Erfahrungshintergrund für dessen theologische Grundansichten betrachtet (85, 123). Das fünfte Kapitel bildet in gewisser Weise eine Zäsur, da nach den biographischen Ausführungen nun der Blick stärker auf die Theologie des jungen Freylinghausen gelenkt wird. Im Zentrum steht hierbei sein eigenes Verständnis einer „Hoffnung künftiger besserer Zeiten“, wobei der Autor lieber in vorsichtiger Weise von „Erwartungshorizonten“ (123, 220) spricht, um im Vorfeld eine eschatologische oder chiliastische Engführung zu vermeiden. Hierzu geht Paul auf vier Quellen ein: Erstens die Beilage, die dem Brief Franckes an den Schweizer Pietisten Samuel Schumacher beigegeben wurde (1695), zweitens das erste Lied des Adjunkts, O Licht vom Licht! (1697), welches der Verfasser im Anhang erneut veröffentlicht hat, und drittens die Vorrede sowie die Rubrizierung seines Geistreichen Gesangbuchs (1704). Sie werden viertens im Zusammenhang mit handschriftlich überlieferten sowie gedruckten Predigten aus jener Zeit interpretiert. Bei keiner der genannten Quellen lassen sich dem Autor zufolge konkrete bzw. radikal-eschatologische oder chiliastische Erwartungen feststellen. Vielmehr ist Freylinghausen geprägt von einem praxisorientierten Zukunftsoptimismus (125, 170–173). Da die daraus sich ergebene Zeiterstreckung der Zukunft, die mit einer durch die Bekehrung hervorgerufenen Zeitverknappung einher geht, wird im Anschluss Freylinghausens Dogmatik, die Grundlegung Der Theologie (1703), insbesondere auf die Themen Buße und Bekehrung hin befragt. Der Autor lässt es sich nicht nehmen, diese wiederum in Verbindung zu setzen mit den Bekehrungsvorstellungen von Wiegleb, Breithaupt und Herrnschmidt. In diesem Zusammenhang wird ferner Freylinghausens gemäßigte Haltung vom radikalpietistischen Gedankengut aus seinem näheren Umfeld abgegrenzt. In den Jahren von 1708 bis 1714 konstatiert der Autor einen merklichen Wandel in Freylinghausens theologischen Auffassungen. Die Auseinanderset273
zungen mit Vertretern der Lutherischen Orthodoxie und des radikalen Pietismus führten zur Ausdifferenzierung der eigenen Position, bei der einstige Rigorismen abgeschmolzen wurden, eine Annäherung an das lutherischorthodoxe Erbe erfolgte, das eigene Sendungsbewusstsein merklich abkühlte und die „Hoffnung künftiger besserer Zeiten“ exklusiv an den Erfolg der Glauchaschen Anstalten gebunden wurde (223, 250 f., 277 f.). In der Zeit seiner späten Karriere (1715–1739), in der er die Stelle als Adjunkt an der Stadtkirche St. Ulrich erhielt und im selben Jahr Franckes Tochter heiratete (1715), dann zum Subdirektor (1723) und später zum Direktor neben Franckes Sohn aufstieg, wurde er der Interessensvertreter dreier Institutionen: der Stadtkirche St. Ulrich, der Glauchaschen Anstalten und der Theologischen Fakultät. Aufgrund seiner administrativen Aufgaben traten die religiös motivierten Zukunftsperspektiven und der kirchenreformerische Aktionismus vollends in den Hintergrund (350 f.). Abgerundet wird die Untersuchung damit, dass Freylinghausens Vorstellung von der theologischen Lehrart in Halle von den Positionen der anderen halleschen Zentralgestalten wie Rambach, Lange, Breithaupt, Spangenberg und Siegmund Jacob Baumgarten abgegrenzt wird. Als Ergebnis (407) hält der Autor fest, dass es in den 1730er Jahren zu einem Lagerkampf kam, der in verschiedenen Konstellationen in Erscheinung trat. „Konservative“ und „Erneuerer“ standen sich gegenüber. Trotz der Förderung junger Kräfte sei Freylinghausen zu den konservativen Vertretern zu zählen. Die Diversität der Haltungen auf theologischer, kirchen- und universitätspolitischer Ebene zeigt, wie wenig man von einem einheitlichen Profil sprechen kann bzw. dass und wie jene dichotomische Zuweisung „Pietismus versus Wolffianismus“ zu kurz greift. Der Verfasser hat eine quellengesättigte Untersuchung vorgelegt, bei der er nicht nur Freylinghausen, sondern das gesamte Umfeld des Halleschen Pietismus in den Blick nimmt. Hierdurch wird dem Leser eine differenzierte Darstellung der Gründungsjahre aus Freylinghausens Perspektive geboten. Reizvoll wäre es gewesen, wenn Paul genauer auf Freylinghausens Lehrer in Jena, Johann Paul Hebenstreit (1664–1718), Johann Andreas Schmidt (1652–1726) und Johann Wilhelm Beier (1647–1695), eingegangen wäre (16). Die Konzentration auf die Themen „Bekehrung“ und „Zukunftserwartung“ ist nachvollziehbar, hätte aber bereits im Titel und in der Einleitung angekündigt werden können, um die Erwartungen zu mindern, es handele sich um eine Gesamtdarstellung der Theologie Freylinghausens. Zuweilen wäre mehr Distanz zu den Quellen zugunsten einer zielorientierteren Entfaltung der Themen wünschenswert gewesen. Dies jedoch soll das Urteil nicht schmälern, dass es sich bei dieser lesenswerten Monographie im wahrsten Sinne um eine Pionierarbeit und eine Bereicherung für die Forschung zum hallischen Pietismus handelt. Roland M. Lehmann 274
Jena
Christina Jetter-Staib: Halle, England und das Reich Gottes weltweit. Friedrich Michael Ziegenhagen (1694–1776). Halle: Verlag der Franckeschen Stiftungen 2013 (Hallesche Forschungen, 34). – IX, 501 S.; Ill., CD-Rom Christina Jetter-Staibs Biographie über Friedrich Michael Ziegenhagen, den bedeutendsten lutherischen Prediger der Gemahlinnen der britischen Könige Georg I., Georg II. und Georg III., wendet sich einem Zögling August Hermann Franckes (1663–1727) zu, dem die Forschung bisher nur wenig Beachtung geschenkt hat. Akribisch hat die Autorin zahlreiche Archive durchforstet, um anhand einer Fülle von Quellen das Lebensbild eines Mannes zu zeichnen, dessen Weg ihn von Naugard in Pommern über Halle und Hannover mit 28 Jahren an den Hof des Herrschers über das britische Weltreich führte. Die erstaunliche Karriere dieses Stiefsohns eines kleinen Beamten zeigt, welche sozialen Aufstiege in der spätbarocken Gesellschaft trotz aller Ständeschranken und herrschaftlichen Abhängigkeiten immerhin möglich waren. Dass auch nach der Lektüre dieser Arbeit manche Frage, vor allem zu Ziegenhagens Familie, seinem privaten und beruflichen Werdegang in jungen Jahren oder zum Verbleib großer Teile seines (mutmaßlich einst vorhanden gewesenen) schriftlichen Nachlasses offenbleibt, ist keineswegs mangelhafter Recherche, sondern der hier dürftigen Quellenlage geschuldet.1 Nach einer mit 45 Seiten überlangen Einleitung in den Kapiteln A und B erörtert Jetter-Staib in Kapitel C Ziegenhagens Prägung durch den Halleschen Pietismus in Gegnerschaft zum orthodoxen Luthertum, namentlich im Kurfürstentum Hannover (das seit 1714 auch das britische Königshaus stellte), sowie seine Berührungen mit dem englischen Protestantismus und seine theologisch-dogmatischen Grundpositionen. Obwohl notwendigerweise komprimiert, ist diese Darstellung dennoch klar und stimmig gelungen. Demgegenüber fällt das nun folgende Kapitel D („Ziegenhagens Engagement in London“) mit über 300 Seiten völlig aus dem Rahmen, zumal es ohne Not sehr disparate Themen zusammenzwingt: Ziegenhagens Korrespondenzen, seinen Predigtdienst, seine Missionsarbeit und seinen Kampf gegen rivalisierende Evangelisten, vor allem gegen die Herrnhuter Brüder. Hier hätte die Verfasserin gut daran getan, all dies in separaten Kapiteln abzuhandeln. Schließlich agierte Ziegenhagen dabei in teilweise sehr unterschiedlichen kausal-funktionalen und historisch-geographischen Kontexten. Im persönlichen Umgang, ob mit Gotthilf August Francke (1696–1769) in Halle, mit seinen Kollegen und Untergebenen in London oder mit anderen Zeitgenossen, muss der Mensch Ziegenhagen schwierig gewesen sein. Deutlich zeigt Jetter-Staib, dass sein Verhältnis zu Francke, trotz aller Wertschätzung, mitnichten reibungslos war, und wie launisch, ja herrisch dieser fromme Mann mit seinen Unterstellten verfahren konnte.2 1722 in London 1 2
Vgl. bes. 46, 48 f., 52, 114–116. Vgl. bes. 128–131, 136–144.
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eingetroffen, lernte Ziegenhagen sehr bald, seine Nähe zum Königshaus und seine sich daraus herleitende Autorität in den Dienst weltweiter lutherischer Mission zu stellen. Insofern untertreibt die Autorin, wenn sie meint, die Weiterleitung von Briefen der halleschen Missionare aus Übersee via London habe ihn „in eine gewisse Machtposition“ gebracht.3 Diese Position hatte Ziegenhagen schon kraft seiner Rolle als Relaisstation im interkontinentalen Postverkehr inne. Sie sicherte ihm ein faktisches Nachrichten- und Vermittlungsmonopol, das er in seinem Sinne zu nutzen wusste, wie Jetter-Staib selbst bestätigt, wo sie auf seine „Informationspolitik“ und „Geheimhaltungstaktik“ abhebt.4 Eben dieses aber war vielleicht die faszinierendste Facette bei Ziegenhagen überhaupt: und zwar sein Geschick und seine Konsequenz, die formal engen Grenzen seines Amtes – eigentlich war er nicht mehr als ein Beichtvater und Kabinettsprediger britischer Königinnen – so weit auszudehnen, dass er zum Beispiel ab den 1750er Jahren von den mit Halle verbundenen Pastoren und Gemeinden in Amerika als die höchste lutherische Autorität innerhalb des britischen Reiches wahrgenommen wurde. Gern hätte man etwas mehr darüber erfahren, inwieweit König, Regierung und anglikanische Mission (Society for Promoting Christian Knowledge, SPCK) in London den Hofprediger für ihre eigenen Ziele in Übersee instrumentalisierten. Denn dass Ziegenhagen auch in die Machtpolitik Großbritanniens eingebunden war, steht außer Frage. Hier aber bleibt die Studie, abgesehen von der Erörterung seiner Bemühungen zur Ansiedlung lutherischer Emigranten aus Salzburg und anderen süddeutschen Territorien in Georgia, auffällig wortkarg, weil sie die englischanglikanische Perspektive zugunsten der hallisch-pietistischen Sicht weit hintanstellt. Ausführlich dagegen geht Jetter-Staib auf die drei Missionsgebiete (Indien, Georgia und Pennsylvania) ein, denen sich Ziegenhagen über Jahrzehnte, mit freilich wechselndem Engagement, widmete. Sie macht deutlich, wie gut es Ziegenhagen verstand, bei aller Geschmeidigkeit und Selbstverleugnung in der Beobachtung religiöser Normen, höfischer Usancen und politischer Interessen beharrlich bis zur Sturheit seine große Vision des weltweiten Bauens am Reiche Gottes auf Erden durch die Vernetzung von Gleichgesinnten und Geldgebern in Halle, England, Dänemark und andernorts entschlossen voranzutreiben. Um die Heraufkunft dieses Reiches mittels der, wie er glaubte, zuvor zwingend nötigen Einwurzelung des Christentums in alle Weltteile zu beschleunigen, nahm er bisweilen den Argwohn britischer Kreise und die Verpflichtung selbst ungeeigneter Helfer in Kauf, mochte dies auch dem Vorhaben abträglich sein. Die Dänisch-Englisch-Hallesche Mission (DEHM) in Südostindien war,
3 4
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158 159, 139. Vgl. auch 360, 363.
laut Jetter-Staib, für Ziegenhagen ein Herzensanliegen, gefolgt von der Betreuung der lutherischen Siedler in Georgia. Dagegen beschränkte er sich bei den deutschen Lutheranern in Pennsylvania auf den ihm notwendig erscheinenden Einsatz. Indien ist offenbar auch jenes Entsendungsgebiet der DEHM, in dessen Missionsgeschichte die Autorin besonders bewandert ist. Kenntnisreich analysiert sie Ziegenhagens Aktivitäten inmitten des Kräftedreiecks London-Halle-Kopenhagen. Sie stellt Ziegenhagen als den leidenschaftlichen Spiritus rector der DEHM vor, die ihm als ein Werk Gottes galt. In dem Maße jedoch, wie Francke, die SPCK und das dänische Königshaus ihre eigenen Prioritäten setzten, rangen sie dem Hofprediger Kompromisse ab, die in Halle wiederum manchen Anlass zu Befürchtungen einer zu engen Umarmung der Lutheraner im britischen Weltreich seitens der anglikanischen Staatskirche gaben. In ihrer Darstellung des eher pflichtschuldigen Engagements Ziegenhagens in Pennsylvania bleibt Jetter-Staib indes traditionellen Interpretationen verhaftet. So übernimmt sie aus der Sekundärliteratur die These von der „europäischen Mutterkirche“,5 von der sich die lutherischen Emigranten entfremdet und emanzipiert hätten. Damit verkennt auch sie das Alleinstellungsmerkmal der Halleschen Mission, das als einziges Evangelisationswerk in Nordamerika ein privates Unternehmen war, das ausschließlich von Spenden lebte. Mochten Adlige und Kirchenfunktionäre diese Arbeit fördern, so unterstand sie doch nie bischöflichem oder landesherrlichem Regiment.6 Deshalb geht die Rede von Francke und Ziegenhagen als „europäischen Kirchenväter[n]“7 fehl. Auch dass die Autorin die Befugnisse Heinrich Melchior Mühlenbergs (1711–1787) beim Aufbau eines lutherischen Kirchenwesens überschätzt,8 ist auf ihre Anleihe bei der Sekundärliteratur zurückzuführen. Die Komposition dieser chronologisch-thematischen Biographie ist schlüssig und wohldurchdacht. Zu bedauern ist aber die extrem kleinteilige Gliederung des Textkorpus in fünf Ebenen9 mit über 90 Unter-Unterabschnitten (was aus dem Inhaltsverzeichnis nicht hervorgeht). Solch eine rigorose Zerstückelung kann nur verwirren. Nicht minder unpraktisch ist die hohe Zahl von 3.000 Anmerkungen, die besser abschnittsweise gebündelt worden wären. So rundet sich der Eindruck von einer handwerklich grundsoliden Prüfungsleistung, die jedoch auch im Druck ihre ursprüngliche Zweckbestimmung als akademischer Qualifikationsnachweis nicht leugnen kann. 5
349, 355, 371, 377. Hierin unterschied sich die Hallesche Mission von jener der Böhmischen Brüder Graf von Zinzendorfs, die König Friedrich II. von Preußen an Weihnachten 1742 als eine selbständige Kirche mit eigenem Ordinations- und Bischofswahlrecht anerkannt hatte. Vgl. 402. 7 338. 8 Vgl. 355–357. 9 Z. B. 217–244, 262–273, 286–305, 311–322, 337–342. 6
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Damit folgt sie der in Deutschland noch immer geübten Praxis, Dissertationen kaum verändert vom Seminarraum auf den Buchmarkt zu bringen. Hier darf man getrost anspruchsvoller werden. Dass das Manuskript für die Buchfassung kaum intensiver überarbeitet wurde, legen die Flüchtigkeitsfehler in Orthographie und Grammatik10 sowie falsche Formulierungen11 und Datierungen12 nahe. Die Inkonsistenz, mit der Jetter-Staib zwischen „Halleschem“ Pietismus und „hallischem“ Pietismus hin- und herwechselt13 oder über die „englisch-hallesche Kooperation“ schreibt, um kurz darauf von den „hallischen Unternehmungen“ zu sprechen,14 ist schlicht störend. Während Anglizismen und hybride deutsch-englische Ausdrücke15 nur deplaziert wirken, ist die Unkenntnis der Autorin vom Bedeutungswandel einiger Adjektive keine Lappalie. Da ihr das zeitgenössische Verständnis von Wörtern wie „blöde“, „herablassend“, „hysterisch“, „dreist“ oder „niedlich“16 offensichtlich nicht geläufig ist, gerät ihr hier das eine oder andere schief. Ungeachtet dieser Schwächen hat Christina Jetter-Staib mit ihrer Biographie Friedrich Michael Ziegenhagens eine kluge und instruktive Studie zu einer einflussreichen Figur an der Schnittstelle von Staat und Kirche, Politik und Religion in Großbritannien vorgelegt, die die Forschung lange vernachlässigt hat. Tief und ertragreich hat die Autorin in den Quellen gegraben, ihren Lesern gleichermaßen dicht wie anschaulich kirchengeschichtliche Zusammenhänge erläutert, das politisch-konfessionelle Netzwerk zwischen Deutschland, England, Dänemark, Indien und Amerika im 18. Jahrhundert nachvollziehbar erschlossen und etliche, bis dato unbekannte Details aus dem Leben, Denken und Handeln ihres Protagonisten zu Tage gefördert. Selbst 10
Z. B. 117 f., 124 f., 181, 221 f., 233, 372. Z. B. 102, Z. 11–13: „In Anlehnung an Speners Pia Desideria behauptete Ziegenhagen 1737, dass der ‚äußere Zustand der Evangelischen Kirche in Europa, der freyl. dem grösten Theil nach schlimm genug aussiehet‘.“ [Satzende]; 115, Z. 31 f.: „Diese Auswahl [von Briefen] besitzt pietistische Adressaten“; 136, Z. 33 f.: „Er hatte drei Kinder Rupertis als Informator betreut, von denen jedoch drei fast zeit mit ihrem Vater verstorben waren“; 181, Z. 12 f.: „die Empfehlung an Ziegenhagen war die einzige Anlaufstation“; 291, Z. 25: „in der Georgia“; 308, Z. 1: „hoch benötigt“; 322, Z. 11 f.: „in den Kolonien Pennsylvanias“; 355, Z. 9: „Abendmahlsgäste“ statt Abendmahlsgeräte; 391: Z. 25 f.: Pennsylvania als „Nachbarkolonie“ Georgias; 429, Z. 31: „Pastorenhabitat“ statt Pastorenhabit; 438, Z. 21: „Die Massenaussiedlung nach Pennsylvania“). 12 Z. B. 88, Tabelle [zu Albinus]: „1765“ statt 1761; 95, Z. 4 f.: „18“ statt 20 Jahren; 117, Z. 9: „1734“ statt 1743, Z. 34: „1760“ statt 1716; 198, Z. 25 f.: Der 19. Dezember 1722 kann nicht der dritte Advent gewesen sein; 372, Z. 34: „(1695–1757)“ statt (1693–1758); 356, Z. 9: „1749“ statt 1748, Z. 14: „1746“ statt 1748; 424, Z. 24: „1806“ statt 1807). 13 Z. B. 10, 25, 66, 379, 432–433. 14 151, Z. 21, 26. 15 Z. B. 149, Z. 15: „Philanthropist“ statt Philanthrop; 220, Z. 12: „Societät“ statt Gesellschaft; 293, Z. 1, 294, Z. 3; 295, Z. 24: „engagieren“ statt werben, gewinnen; 304, Z. 7: „Provisionen“ statt Proviant; 442, Z. 29: „Revival“ statt Erweckungsbewegung. 16 320, Z. 14; 368, Z. 17: Übersetzung von engl. condescending als (neg.) „gönnerhaft“ statt (pos.) „herablassend“; 369, Z. 13; 374, Z. 28; 405, Z. 19. 11
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informierte Leser werden diese Fleißarbeit mit einem handfesten Zugewinn an Einsichten in die Lebens- und Gedankenwelt Ziegenhagens wie ganz allgemein in die hohe Zeit des protestantisch-missionarischen Globalismus aus der Hand legen. Diesem Buch ist daher eine breite Rezeption zu wünschen. Wolfgang Splitter
Halle/Saale
Malte van Spankeren: Johann August Nösselt (1734–1807). Ein Theologe der Aufklärung. Halle: Verlag der Franckeschen Stiftungen 2012 (Hallesche Forschungen, 31). – XIII, 367 S. Johann August Nösselt gilt als eine der Schlüsselfiguren der akademischen Theologie in Preußen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Als Hochschullehrer in Halle bildete er in den Jahren 1764 bis 1806 Tausende von Theologen aus. Dennoch führte er lange Zeit in der Forschung ein Schattendasein, nicht zuletzt aufgrund der Einschätzung Schleiermachers, dass seine aktive Lehrtätigkeit bei weitem seine wissenschaftliche Schriftstellerei überrage. Umso verdienstvoller ist es, dass Malte van Spankeren mit seiner Monographie jene interessante Persönlichkeit aus dem Schatten ins Licht der Forschung gerückt hat. Die biografisch orientierte Untersuchung ist in zehn Kapitel gegliedert. Nach der Einleitung und Darlegung der Quellenlage sowie des Forschungsstands untersucht der Verfasser im dritten Kapitel Nösselts pietistisch geprägte Herkunft (1734–1745), die Schulausbildung an der Latina (1745–1751), sein Studium in Halle (1751–1755), das insbesondere durch Siegmund Jacob Baumgarten geprägt wurde, die einjährige Reise durch Deutschland, die Schweiz und Frankreich (1755/56) und seinen Aufstieg als Universitätsprofessor in Halle, bei dem er entscheidend durch Semler gefördert wurde (1757–1766). Das vierte Kapitel widmet sich Nösselts gegenwartsbezogener Apologetik Verteidigung der Wahrheit und Göttlichkeit der christlichen Religion (1766). Der Verfasser weist nach, dass Nösselt sich nicht erst zum Neologen hin entwikkelte, wie es die Forschung bislang behauptet hat, sondern dass er bereits von Beginn seiner Publikationstätigkeit an neologisch geprägt war. Festgemacht wird dies daran, dass Nösselt das Ziel der Religion im Erreichen vollkommener Glückseligkeit sieht, hinsichtlich der Theodizee-Frage von Leibniz beeinflusst ist und die Trinitäts- und Sündenlehre vernachlässigt. Konservativer muten jedoch seine Auffassungen zum Wunderverständnis und zur Inspirationslehre an. Im fünften Kapitel geht der Autor detailreich auf das Privatleben Nösselts im Kontext der Stadtgeschichte ein. Danach werden seine populärtheologischen Schriften untersucht. Hierzu zählen die beiden Veröffentlichungen Zuschrift an die [. . .] Studierende[n] (1768) und Kurze Anweisung (1773). Darin 279
bereitete Nösselt die Gedanken aus seiner Apologetik für ein nichtakademisches Publikum auf. Der Verfasser hebt hervor, dass Nösselt mit diesen beiden Schriften zu einem sehr frühen Zeitpunkt in populärtheologischer Weise schriftstellerisch tätig wurde, wenn man berücksichtige, dass die Forschung den eigentlichen Aufschwung erst ab dem Jahr 1773 ansetzt (113). Ferner untersucht der Verfasser Nösselts religionspädagogische Schrift Über die Erziehung zur Religion (1775). Sie stellt eine Reaktion auf das rousseausche Pädagogikkonzept in dessen Schrift Émile (1762) dar, nach der die religiöse Unterweisung erst ab dem 18. Lebensjahr zu erfolgen habe. Konträr hierzu steht das pädagogische Konzept franckescher Prägung, das eine möglichst frühe Korrektur der angenommenen ursprünglichen Verderbtheit des Kindes anstrebt. Nösselts Absicht besteht nun darin, eine eigenständige Synthese beider Konzepte zu formulieren, bei der er zum einen in Kritik an Rousseau für eine möglichst frühe religiöse Erziehung plädiert, jedoch zum anderen in Abgrenzung zu Francke sich stärker für eine kindgerechte Erziehungsmethodik ausspricht (117, 125). In seinen moraltheologischen Werken zeigt sich Nösselt als ein Vertreter, der die zeitgenössische Vorstellung eines angeborenen moralischen Sinns ablehnt und an dessen Stelle eine Kombination aus Erfolgs- und Gesinnungsethik setzt (135). Das Kapitel wird abgerundet, indem Nösselts Wirken als Hochschullehrer (1767–1785) und Prorektor im Kontext des akademischen Lebens in Halle betrachtet wird. Im Zentrum des sechsten Kapitels steht das Hauptwerk Nösselts, seine Enzyklopädie Anweisung zur Bildung angehender Theologen (11786, 21791). Das Kapitel bildet in gewisser Weise das Zentrum der Untersuchung. Gegen Kurt Nowak weist van Spankeren nach, dass es sich bei diesen gut tausend Seiten im Vergleich zu Schleiermachers Kurzer Darstellung (1811/1830) nicht nur um eine Vorform der theologischen Enzyklopädie ohne strukturierenden Kerngedanken handele. Vielmehr zeige bereits die Gesamtkomposition, „dass die praktische Anwendung des theologischen Wissens als strukturierender Kerngedanke“ (160) fungiere. Die Erörterung der vier Hilfswissenschaften (Philologie, Philosophie, Geschichte und schöne Wissenschaften) macht das Bestreben Nösselts deutlich, einer möglichen Isolierung der wissenschaftlichen Theologie vorzubeugen (174). Bei der Bibelexegese knüpft Nösselt an Franckes Wertschätzung der res extensae an, distanziert sich aber von dessen Meinung, dass nur der Wiedergeborene den Kern der Schrift erkennen könne. Geprägt von Mosheim, Baumgarten und Semler versteht Nösselt die Kirchengeschichte als magistra vitae (186). Er verwendet die pragmatische Methode (187), favorisiert aus praktischen Gründen die Zenturienmethode (189), betont die unparteiische Quelleninterpretation (191 ff.) und fordert im Gefolge Semlers eine eigenständige Dogmengeschichtsschreibung. Ziel der Kirchengeschichte sei es, Daseinsorientierung zu geben, das protestantische Profil zu schärfen und Toleranz gegenüber anderen Meinungen zu erzeugen (185). Die Systematische Theologie verteidigt er gegenüber dem Bestreben einer rein bibelbezogenen Theologie (202) und gliedert das Fach in Dogmatik, 280
Sittenlehre und Polemik. Eigenartigerweise geht van Spankeren nicht darauf ein, warum Nösselt in diesem Kontext die Apologetik übergeht, wenn man bedenkt, dass seine anderen Schriften – eigentlich seine Theologie insgesamt – eine apologetische Ausrichtung aufweisen. Die sich damals ausbildende Praktische Theologie hebt Nösselt in seiner Bedeutung explizit hervor. Er definiert den Pfarrer im Gefolge Spaldings als „Lehrer der Religion“ (208 ff.). In kreativer Weise wendet Nösselt Semlers Unterscheidung in private und öffentliche Religion pastoraltheologisch an, indem er den Pfarrer nicht nur als Repräsentanten der öffentlichen Religion kennzeichnet, sondern darüber hinaus dessen zentrale Aufgabe darin sieht, den individuellen „Privatumgang“ (214 ff.) der Menschen mit der Religion zu begleiten. Im Rahmen seiner Homiletik bestimmt Nösselt den Zweck der Predigt folgendermaßen: Die Predigt solle die Menschen „glücklich“ machen und sie auf diese Weise „bessern“ und „beruhigen“ (227, 229 f.). Das siebte Kapitel stellt Nösselt als preußischen Hochschulpolitiker vor (1779–1794). Vier hochschulpolitische Konflikte werden in diesem Kontext erörtert: Die Probleme mit Carl Friedrich Bahrdt, die Umstrukturierung des theologischen Seminars der Fridericiana, die Einrichtung eines Oberschulkollegiums und die Auseinandersetzung um das woellnersche Religionsedikt. Der Autor weist nach, wie Nösselt in die Streitigkeiten involviert war, während er ab 1785 die Führungsrolle in der Alma Mater einnahm (281). Mit dem achten Kapitel schließt die Untersuchung, die Nösselts letzte Jahre (1795–1807) betrachtet. Seine Ernennung zum Geheimrat (1805), die Wiedereinsetzung des Universitätsgottesdienstes im Zusammenhang mit der Berufung Schleiermachers nach Halle (1804), die Schließung der Fridericiana aufgrund der napoleonischen Besetzung (1806) sowie die Rezeption Nösselts durch Schleiermacher und Niemeyer werden erörtert, gefolgt vom Resümé im neunten Kapitel und dem Anhang mitsamt einer vollständigen Bibliographie Nösselts im zehnten Kapitel. Van Spankeren entwirft in seiner Monographie ein sowohl präzises als auch umfassendes Bild von dieser so wichtigen Persönlichkeit. Die Erörterung von Nösselts Enzyklopädie, die der Verfasser vornimmt, indem er dessen Auffassungen kenntnisreich in die damalige Entwicklung jeder einzelnen theologischen Disziplin einzeichnet, kann geradezu als Meisterstück bezeichnet werden. Insgesamt vertieft und veranschaulicht van Spankeren die zu Recht geltende Auffassung, dass Nösselt einer der wichtigsten Multiplikatoren des neologischen Denkens in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts war. Roland M. Lehmann
Jena
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Johann Peter Hebel: Sämtliche Schriften VI-VIII. Stroemfeld Verlag: Bde. VI u. VII: Predigten und Predigtentwürfe. Kritisch hg. v. Anselm Steiger unter Mitwirkung von Thomas Ilg. Frankfurt/Main 2010 (Erster Teil Predigten XX, 410 S.; 1 Beil.; Zweiter Teil Predigtentwürfe VIII, 440 S.; Faks.); Bd. VIII: Theologische Schriften. Kritisch hg. v. Anselm Steiger unter Mitwirkung von Thomas Ilg. Frankfurt/Main 2013. – XIII, 388 S.; Faks. + 1 Beil. Seine Popularität verdankt Johann Peter Hebel seinen Kalendergeschichten (vgl. die Bände II und III der Sämtlichen Schriften. Karlsruhe 1990) und seinen alemannischen Gedichten (vgl. Band I in Vorbereitung) und damit seinem dichterischen Ingenium. Seine Zeitgenossen erlebten Hebel allerdings immer auch als ausgewiesenen Theologen und als sensiblen Pädagogen, was nicht zuletzt seinen Ausdruck fand in der ersten Ausgabe der Werke Hebels in acht Bänden nach seinem Tode 1826, die in den Jahren 1832 bis 1834 in Karlsruhe im Verlag der Chr. Fr. Müller’schen Hofbuchhandlung erschien (SW) und ganz selbstverständlich, aber eben auch in dieser Vollständigkeit letztmalig bis zum gegenwärtigen Projekt Sämtlicher Schriften, etwa sein Schulbuch Biblische Geschichten. Für die Jugend bearbeitet (vgl. Band V. Karlsruhe 1991) und einen Großteil der Predigten und theologischen Schriften enthielt, deren (von dem Herausgeber gewohnt zuverlässig und subtil bis in die Details) kritische und umfangreichst um Hebelhandschrifteneditionen ergänzte und bereicherte Neu-Ausgabe hier anzuzeigen ist und deren Kommentierung (immer streng entlang an Hebels originalen Zeugnissen oder Dokumenten aus dem historischen Kontext in „nachwörtlichem“ Geistreichtum und „anhänglicher“ Materialfülle) genau die unendlich große Lücke im Gesamtverständnis des ersten Prälaten der badischen Kirchenunion zu schließen beginnt, die die einseitige Rezeption und zunehmende Ausblendung des hebelschen Dreiklangs theologischen, pädagogischen und dichterischen Sinns in entsprechender Sinnlichkeit weit über 150 Jahre bestimmte. Insofern darf man sich jetzt schon auf die Herausgabe der Bände IX-XIV freuen, die in Hebels brieflicher Freiheit wie in seiner gutachterlichen und amtlichen Bindung, in seinen aufgeklärt-gelehrten Exzerpten wie in seinem aufgeklärt-visionären Sendschreiben und seiner Erzählung Der Spaziergang an den See (vgl. schon Band III, 604–614 und 625– 639) den ‚ganzen‘ Hebel in seiner unteilbaren (in-dividuellen), geduldig und fröhlich auf Gottes Vollendung hoffenden und harrenden, Person und Werk umfassenden fragmentcharakterlichen Dichte mit manch dichterischen Verrückungen zeigen werden. Und solches kann der geneigte Leser nun eben auf sehr sprechende Weise in erhellender Aufbereitung und panoramischer Genauigkeit bereits in Johann Peter Hebels nach allen Regeln historisch-kritischer Texteditionskunst herausgegebenen theologischen Schriften und Predigten erkunden und erfahren! Eine der üblichen Legendenbildungen, die den theologischen Intellektuellen der Spätaufklärung Johann Peter Hebel herunterzuspielen versucht im 282
Gegenüber zum begnadeten Volksdichter, kann durch historisch-kritische Tiefenbohrung und Abgleichung mit entsprechenden Rahmenordnungen entzaubert werden, indem Band VIII an prominenter erster Stelle (entsprechend dem chronologischen Gliederungsprinzip dieses Bandes) nicht nur die sog. Specimen und die Thesenreihe zu Hebels erstem theologischen Examen 1778 erstmals ediert, sondern im Nachwort auch – glänzend dokumentiert – eingeführt wird in das Theologiestudium am Gymnasium illustre in Karlsruhe in struktureller und inhaltlicher Hinsicht (VIII, 275–303) und dabei auch aus einer Briefstelle des Kirchenrates Gottlob August Tittel an den Markgrafen zum Kandidaten Hebel bezüglich von dessen zweitem Examen zitiert wird: „Der Studiosus Hebel, welcher seit kurzem von der Universität Erlangen zurückgekommen, vertheidigte am 5ten dieses Monats seine Theses mit mercklicher Fertigkeit und bewieß dabey die schon sonst von ihm bekannten trefflichen Gaben“ (XIII, 301). Ausgangspunkt der Legende ist die Tatsache, dass die Prüfungsakten von Hebels zweitem theologischen Examen 1780 verschwunden sind und man deshalb von einem schlechten Ergebnis vor allem auch deshalb ausging, weil er danach nicht sofort in den kirchlichen Dienst übernommen wurde. „Es hätte nur geringer Mühe bedurft, schon früher die Fakten zu erkunden, was eine derartige Legendenbildung hätte verhindern können. Als Hebel das zweite Examen ablegte, war er 20 Jahre alt. Seit dem Jahre 1753 jedoch galt in der Markgrafschaft die Verordnung, der zufolge ‚kein Canditatus Theologiae, der nicht das 25ste Jahr zurük gelegt [. . .] zu einer Pfarrei vociret werden darf‘.“ (VIII, 301) Hebel wurde sogar vorzeitig schon mit 22 Jahren ordiniert, ein begründeter möglicher Ausnahmefall von der Regel, der allerdings nicht zu einem eigenständigen Pfarramt führte (VIII, 302), wie er das selbst in seiner berühmten, nie gehaltenen, in seinen letzten Lebensjahren als Prälat nur konzipierten Antrittspredigt vor einer Landgemeinde über Psalm 73,28 thematisiert: „Eilf Jahre lang bis in das ein und dreißigste meines Lebens wartete ich vergeblich auf Amt und Versorgung. [. . .] doch ich wurde unversehens in die Residenz berufen, aber zu keinem Pfarramt.“ Die pädagogische und dichterische Karriere erwähnt er nicht, die in Karlsruhe zusammen mit der ihm verliehenen, „in unserer vaterländischen Kirche noch nie erhörten Würde“ den Dreiklang Hebel zum Klingen brachte und der ohne entsprechende intellektuelle Fähigkeiten nicht möglich gewesen wäre. Vielmehr steuert er sehr deutlich auf die eigentliche Pointe seiner Wunschpredigt zu: Als „ich am weitesten glaubte entfernt zu seyn, war ich am nächsten. Was ich im zwanzigsten Jahre meines Lebens bald zu erlangen hoffte, gab mir Gott im sechzigsten. Machs mit mir, o Herr, mach es mit uns allen, wiewohl wunderlich, durch Christum den Herrn, nur seliglich“ (VI, 419 f.). Was hier (auch chronologisch im Hinblick auf alle überlieferten Predigten und Predigtentwürfe) als Schlussakkord ertönt, verweist auf eines der wichtigsten theologischen Leitmotive hebelscher Prediger- (und Schriftsteller-) Tätigkeit, auf den Vorsehungsglauben. Die Bände VI und VII der Sämtlichen 283
Schriften versammeln sowohl alle Predigten der ersten Werkausgabe (dort die Bände 5 und 6), von denen auch zwei als Einzeldrucke schon zu Lebzeiten Hebels erschienen sind (vgl. Quellenkommentierung VII, 674–678), als auch den handschriftlichen Entwurf einer Karfreitagspredigt (vgl. Kommentierung VII, 670–72 mit dem brieflichen Hinweis Hebels, dass der Entwurf zu Lk 2, 15–20 „mit einer kleinen Umdrehung des Thema auf Weihnacht und Carfreytag gleich passend ist“) sowie Predigtdispositionen, Kurzessays, Notizen, Gedanken und Lesefrüchte, die alle im handschriftlichen Konvolut H123 der Badischen Landesbibliothek überliefert sind (vgl. Kommentierung VII, 678693). An allen Predigt-Ecken und -Enden findet man „Gelegenheit [. . .] über die Wege der göttlichen Weisheit, Güte und Erbarmung nachzudenken, Trost fürs Leben und Hoffnung für die Ewigkeit zu schöpfen“ (VI, 221; vgl. 52 f., 235 f., 278, 289, 334 u. ö.). Am dichterischsten wird solches wohl abgebildet in der siebten Strophe aus Christian Fürchtegott Gellerts Trost des ewigen Lebens, die Hebel gleich zweimal verwendet (VI, 102 und 404), ohne allerdings Leihgabe oder Leihgeber zu nennen: „Da werd ich das im Licht erkennen,/ Was ich auf Erden dunkel sah;/ Das wunderbar und heilig nennen, Was unerforschlich hier geschah;/ Da denkt mein Geist mit Preis und Dank/ Die Schickung im Zusammenhang.“ (Vgl. Chr. F. Gellert, Werke. Hg. v. G. Honnefelder. Band 1. Frankfurt/Main 1979, 305 f.) Der Vorsehungsglaube lenkt ersichtlich den Blick auf das Unerforschliche, das Hebel immer wieder in signifikanter Grab-Rhetorik gipfeln lässt: Aber wie viel entgegengesetzte Erfahrungen bieten unsern Augen sich dar, unter denen wir ängstlicher, als wenn wir das unglücklichste Schicksal gewiß wüssten, zwischen Furcht und bangen Hoffnungen herumgetrieben werden! Es wandelt kein himmlischer Lebensschöpfer mehr zwischen den Gräbern umher, der die Todten erweckte; und wie viele wallen ihnen entgegen, denen der Augenblick der Erhörung, der unerbetenen nimmer erwarteten Rettung, der reichen frohen Vergütung nie erschien! Wahr! – (VI, 227; vgl. auch 1, 10, 33, 247, 281, 301, 391 u. ö.)
Der Kontrast zwischen menschlicher, säkularer, zerstreuter Erfahrung und göttlicher, ewiger und zusammenbringender Verheißung wird bis zum Äußersten, aber durchaus zeitgeistgesättigt getrieben (vgl. VI, 3, 9, 13, 95 f., 153, 158, 225 f., 241 f., 281, 298, 392 f. u. ö.) und erhält dichterische Verdichtung, die bisweilen an Jean Pauls (des verehrten Schriftstellerkollegen) Rede des toten Christus vom Weltgebäude herab, daß kein Gott sei (dem ersten Blumenstück des Romans Siebenkäs aus den Jahren 1796/97) erinnert, obwohl z. B. der „erdichtete Traum“ Hebels schon 1793 verfasst wurde: Allerdings, wenn das flüchtige Leben unter der Sonne unser ganzes Daseyn umspannt, so ist alles, was wir von Vorsehung sagen können, ein erdichteter Traum. Schlimmer noch als Traum. Unsre beste Stunde ist unselige Täuschung, das glücklichste Leben eine grausame Vorbereitung zu einem desto trostloseren Tode; Vernunft ein anhaltender regelmäßiger Wahnsinn; das Gewissen eine unheilbare Krank-
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heit; das große edle, von himmlischen Gefühlen durchströmte Herz mit allen seinen Ahndungen, Trieben und Neigungen, der betrogenste Betrüger. Die ganze Ordnung der Dinge kehrt sich, der Mensch ist nicht mehr an der Spitze der Geschöpfe das Meisterstück ihres Urhebers; als das einzige misslungene Werk, das der Schöpfer zu groß anfieng um es vollenden zu können, sinkt er unter alle herab, unglücklicher als alle, die von keiner Vernunft verwirrt, von keinen Ahndungen betrogen, den einfachsten Gang zum Tode gehen, jeden Augenblick den Zweck des Augenblicks ganz erfüllen, von der Vergangenheit nichts nachzufordern und von der Zukunft nichts zu erwarten haben. Gott selbst sänke von der Stufe der erhabensten Vollkommenheit herab, wäre nicht mehr der Allmächtige, Weise und Gute, – unter den herabgesetzten Menschen herab, denn dem Menschen wäre ein besserer Gott gedenkbar. (VI, 228)
Man spürt an solchen Passagen, wie sehr Hebel es in seiner Homiletik auf die Sinnlichkeit ankam: „Die Sinnlichkeit – Sie will nicht besiegt, sondern gewonnen seyn, nicht als Sklavin der Vernunft, einem ihr fremden, sondern als befreundete Bundesgenossin einem gemeinschaftlichen Zwecke dienen.“ Hebel favorisiert „einen gewissen siegenden Enthusiasmus“, der ihm „ohne Verein und harmonisches Zusamenwirken der Vernunft und Sinnlichkeit nicht gedenkbar ist“ (VII, 674). Dieser zentrale Gedanke stammt aus einem Brief Hebels an Christian Theodor Wolf, der neben vielen weiteren zitierten Zeugnissen und Zeugen, Daten und Tatsächlichkeiten den „Prediger Hebel“ im Nachwort (VII, 653–693) lebendig werden lässt. Gleichzeitig bleibt nachdrücklich die Forschungsdesideratanzeige des Vorworts mit ersten Winken in Richtung Spätaufklärung, höfischer Kanzelberedsamkeit, Sprachstil, Biblizität und Adressatenbezug gültig: „Hebel als Prediger ist in vielerlei Hinsicht erst noch zu entdecken.“ (VI, XVIIIf.) Wie aber können wir den „Wahnsinn“ aufklären? Wie die Aufforderung am Ende des oben zitierten „erdichteten Traums“: „Doch weg mit diesen Gedanken!“ (VI, 228) erfüllen? Der Theologe Hebel wendet ein Verfahren an, das der Philosoph Hegel (zehn Jahre nach Hebel geboren und fünf Jahre nach ihm gestorben) in die Argumentationsstruktur gefasst hat, dass wer die Grenzen der Endlichkeit erkennt, sie bereits in Richtung Unendlichkeit überschreitet: „Laßt uns dieser Unvollkommenheit des irdischen Glücks, dieses Anfangs ohne Vollendung, dieser Saat ohne Erndte uns freuen. Sie verbürgt uns eine bessere Zukunft mit.“ (VI, 229) Ganz im Sinne der Religion, die Gott „von Anbeginn mit der menschlichen Vernunft (gattete)“ (VI, 366) und die nach Jesus „so unwiderstehbar in den Verstand und so sanft und wohltätig in das Herz“ eindringt (VI, 2), bereitet Hebel seinen Predigthörern eine „lehrreiche Tafel“ vor ihren Ohren: Sie „steht auf der Erde und reicht bis an den sternenvollen Himmel, die Tafel der allverständlichen Natur“ (VI, 291; vgl. auch 26, 31 u. ö.). Und dabei „reiht sich an den Faden unseres Lebens ein Zusammenhang“, der allmählich nicht nur in den physikotheologischen Harmonien, sondern auch in den kulturellen Leer- und Schwachstellen „vorbereitende Anstalt“ erkennen lässt (ebd.): 285
Aber ach! Wie oft suchen wir, was uns rathen und segnen und trösten soll, in Jerusalem, und siehe es ist in Bethlehem! Das heißt, wir suchens im Geräusch der Menschen und unter ihren Künsten; wir fragen Weise und Schriftgelehrte, und lassen uns wägen und wiegen vom veränderlichen Wind menschlicher Lehren, und es wartet auf uns in der Stille an unbesuchter Stätte. Es ist eine göttliche Stimme in uns; sie spricht desto lauter, je stiller und ruhiger es wird um uns her. (VI, 290)
Die Religion „trägt das Gepräge von Bethlehem und nicht von Jerusalem“ (VI, 292). Die „Schickung im Zusammenhang“ zu denken war Hebel stets höchste Herausforderung. Im Bild der Lotterie sucht er diesen Zusammenhang mit dem Unerforschlichen zu veranschaulichen in der Erzählung Spaziergang an den See (III, 625–639) oder ihn im Bild der „Weltgesetze“ im gleichnamigen Gedankenexperiment zu ermessen, wonach durch „Gährungen“ und „Korruptionen“ „im Raum, so in der Zeit Abwechslung und Mannigfaltigkeit“ hervorgebracht werden (VIII, 69–71; vgl. das neu edierte Fragment der Weltgesetze 67 f.). In den Predigten macht Hebel auch die pädagogische Seite dieser Herausforderung stark, indem Bildung und Erziehung („Diese Morgenröthe der Aufklärung, diese Milderung der Sitten, diese weisere Erziehungslehre muß Segen bringen, und es muß in den Jahren eines Menschenlebens bemerkbar werden.“ VI, 249; vgl. auch 24 f., 27, 29, 30, 37, 222, 291, 367, 408 u. ö.) neben die Entfaltung natürlicher Anlagen im Wechselspiel mit frühkindlicher Sozialisation treten („Ist nicht die Kindheit der verborgene Keim, aus welchem nach und nach der reiche Baum des Lebens mit allen seinen Leiden und Freuden sich auseinander schlägt?“ VI, 408). Der Pädagoge Hebel ist eben auch in seinen Predigten nicht zu verkennen, die er unter den hohen Anspruch stellt, „die moralischen Reflexionen in historischen Texten aus bekannten Faktis abzunehmen, und immer wieder auf die Geschichte zu rekurriren und so dem trockenen todten Moralvortrag Anmuth u. Leben zu verschaffen“ (VII, 673). Es nimmt daher nicht Wunder, dass in der Vorrede zu des großen Pädagogen F. A. W. Diesterwegs Wegweisung zur Bildung für deutsche Lehrer 1835 neben vielen wichtigen Eigenschaften, die Diesterweg den Lehrern mit „Recht wünscht“, auch „das Gemüt eines Hebel“ zu stehen kommt! Seit Comenius bis zu Hebels Zeitgenossen Schleiermacher hatte sich in der Pädagogik das Gemüt als zentrales Organ einer Bildung mit Herz, Hand und Verstand wirkmächtig erwiesen, das nicht geschult werden kann, wenn es der Lehrerpersönlichkeit an Gemüt mangelt. Woran genau sich Diesterweg bei Person und Werk Hebels hinsichtlich dessen Gemüts orientierte, ist nicht belegt. Ob er dabei auch an den Christlichen Katechismus Hebels gedacht hat, der erstmals 1828 in Karlsruhe erschienen ist und aus Hebels „hinterlassenen Papieren herausgegeben“ wurde? (Vgl. Abbildung des Titelblattes VIII, 386) Dort jedenfalls wird prominent im Vorwort festgehalten: „Auch in dieser kleinen Schrift von Hebel erkennen wir seinen ausgezeichneten Geist, sein gefühlvolles frommes Gemüth, und seine besondere Geschicklichkeit zum Volksunterricht durch einfache und deutliche Darstel286
lung.“ (VIII, 195) Die ganzheitlich versierte Lehrerpersönlichkeit, die man Hebel hier konzediert, findet ihren Ausdruck dann sofort in der ebenfalls prominent gesetzten religionsdidaktischen, religionspsychologischen und fundamentaltheologischen Scharnierstelle des menschlichen Gemüts, wie es als entscheidende, letztlich kontingente Vermittlungsinstanz in Einleitung und Erstem Hauptstück (und im ganzen weiteren Verlauf) zum Tragen kommt. Biblische Buchstaben und eigene Erfahrungen gehören zusammen: „Jeder, der sich mit den Lehren der heiligen Schrift bekannt macht, und sie mit bereitwilligem Gemüth annimmt und befolgt, der wird Erfahrungen an seinem Herzen machen, die ihm keinen Zweifel übrig lassen.“ (VIII, 198) Zwar ist Gott „unsichtbar dem menschlichen Auge, aber das Gemüth ahnet und sucht ihn“ (VIII, 200). Die dreifache Offenbarung Gottes als Schöpfer, Sohn und Geist erfolgt in der Welt, im Herrsein Jesu Christi und „inwendig in dem Gemüthe des Menschen“ (VIII, 205), indem auf die persönliche Frage „Wie bezeugest du deinen Glauben an diese göttliche Dreieinigkeit auf eine wahrhafte Weise?“ die ebenso persönliche Antwort formuliert wird: „Ich bezeuge diesen Glauben in der That und Wahrheit [. . .] wenn ich die Kraft des heiligen Geistes in meinem Gemüthe wirken lasse zu allem Guten.“ (VIII, 206) Methodisch greift Hebel diese religiöse Gemütsbildung auf, indem er die sachlichen Fragestellungen der Hauptstücke zu Gott, Sünde und Erlösung jeweils abschließt mit „Anwendungs“-Fragen, die persönlich in direkter Anrede an den Leser gestellt sind (vgl. VIII, 206 und 210 und 214, 218, 227), hinsichtlich der Hauptstücke Heiligung, Kirche und Vollendung diese direkte Kommunikation geschickt in die gesamte jeweilige Thematik einmischt und es nur bei der Lehre von dem Eid bei vier sachlichen Fragen belässt. Der Christliche Katechismus des Religionspädagogen Hebel ist abgedruckt im VIII. Band, der den Theologischen Schriften Hebels gewidmet ist und „Texte sehr heterogenen Gepräges [enthält]. Das gattungsmäßige Spektrum ist groß und reicht von theologischen Prüfungsarbeiten, die Hebel im Kontext der Examina nach seinem Besuch des Karlsruher Gymnasium illustre zu erstellen hatte, über kürzere Texte zu biblisch-exegetischen Sachfragen bis hin zu liturgischen und katechetischen Schriften. Entsprechend weit ist auch der historische Rahmen, innerhalb dessen die einzelnen Stücke zu verorten sind: Hebels schriftliche Examensleistungen aus dem Jahre 1778 gehören neben seinen vier 1776 und 1777 in der von Gottlob August Tittel begründeten Karlsruher Marchio-Badensis Societas latina gehaltenen Reden zu den frühesten überlieferten Texten dieses Autors überhaupt. Aus Hebels letzter Lebensphase hingegen rühren die Texte, die er anlässlich der Generalsynode (1821) verfasste, und seine Anmerkungen zum Katechismus-Entwurf seines Freundes Friedrich Wilhelm Hitzig, die ebenfalls aus dem Jahr 1821 stammen.“ (VIII, VIIf.) Im Nachwort finden sich inhaltsreiche Aspekte zu Hebels Christlichem Katechismus einschließlich der langen Vor- und Nachgeschichte, die auch anhand von Hebels Anmerkungen zu Hitzigs Katechismus-Entwurf entfaltet werden 287
(VIII, 318–337). Abgewandelt kann man auch hier formulieren: Hebel als Katechet ist in vielerlei Hinsicht erst noch zu entdecken – und dies stets im Dreiklang von theologischer, pädagogischer und literarischer Begabung. Aus der Fülle der angezeigten Texte sei im Sinne dieses Dreiklangs der Aufsatz Geister und Gespenster (VIII, 75–82; vgl. SW 7, 229–246) herausgehoben. Hebel greift auf seine homiletischen und katechetischen Überlegungen zurück, dass weder die bloße Mitteilung einer Geschichtstatsache noch eine moralische Reflexion als solche es vermögen, den Menschen gefühlsmäßig, also ganzheitlich anzusprechen, insofern das Gemüt implizit stets das Ganze unseres Menschseins thematisiert. Und hier muss man nun phylogenetisch konstatieren, dass jedes „Volk und jede Religion auf der Erde [. . .] unter diesem oder einem anderen Namen und Typus Geister“ hat, entwickelt durch die „immer geschäftige, bindende und einkleidende Phantasie“, „die überall anblümt, wo für den denkenden Verstand noch keine Ernte steht“ (VIII, 77). Durch Zeiten „einer hohen Aufklärung“ (ebd.) ist es zwar nötig, den Volksaberglauben durch „weise[r] Volkslehrer“ zu reinigen (VIII, 79), aber gleichwohl sei ein veredelter Geisterglauben „als eine vorliegende Schanze um den Glauben an Gott“ unverzichtbar: „Laßt uns, wie die Weisen aller Zeiten, Wahrheit in die Mythen legen, falls wir sie dafür halten, und dem gelehrten Zunftgeist entsagen, der da will, dass alle Menschen, fähig dazu oder unfähig, die Wahrheit in der nämlichen reinen Form anschauen und festhalten sollen!“ (VIII, 81) Diese hebelsche Absage an trockene Orthodoxie wie an „geschmacklose[n] und hässliche[n] Geisterglauben“ (VIII, 77) zusammen mit der Schaffung einer „eigen[n] Mythologie“ (VIII, 78) erinnert bis in die Wortwahl hinein an hegelsche Forderungen im Verbunde mit Schelling und Hölderlin, die alle als Autoren für den „Entwurf“ des „älteste[n] Systemprogramm[s] des deutschen Idealismus“ in Frage kommen: „Zuerst werde ich hier von einer Idee sprechen, die, soviel ich weiß, noch in keines Menschen Sinn gekommen ist – wir müssen eine neue Mythologie haben, sie muß eine Mythologie der Vernunft werden. Ehe wir die Ideen ästhetisch d. h. mythologisch machen, haben sie für das Volk kein Interesse und umgekehrt: ehe die Mythologie vernünftig ist, muß sich der Philosoph ihrer schämen.“ (Friedrich Hölderlin: Werke und Briefe. Bd. 2. Frankfurt/Main 1969, 647–649, hier 648 f.) Genau auf diese ästhetisch-dichterische Form der neuen Mythologie nach der Aufklärung zielt auch Hebel ab: Wir „sind ausgegangen aus dem lieblichen Paradies, wo noch die Elohim in der Abendkühle unter den Bäumen wandeln, und der Cherub der Aufklärung steht an der Pforte und lässt uns nicht mehr hinein, – um was ists besser mit uns worden? Blicken wir nicht oft über die Planken hinein und sehnen uns zurück? Warum bieten wir so gerne den Dichtern die Hand, die uns durch unbewachte Seitenpförtchen wieder auf einen Augenblick hineinführen?“ (VIII, 80) Solcherlei dichterische Verrückungen gepaart mit theologischer Analyse und pädagogischer Leidenschaft lassen sich auch in den weiteren Texten dieses bunten VIII. Bandes finden. Die alten Lücken der Verkennung schließen sich, 288
und neue Brücken der Erkennung eröffnen Hebel-Horizonte ganz ohne „wunderliche Bedingungen“ (VIII, 88). Merke: Der ganze Hebel ist in vielerlei Hinsicht erst noch zu entdecken! Reinhard Wunderlich
Freiburg i. Br.
Dem rechten Glauben auf der Spur. Eine Bildungsreise durch das Elsaß, die Niederlande, Böhmen und Deutschland. Das Reisetagebuch des Hieronymus Annoni von 1736. Hg. v. Johannes Burkhardt, Hildegard Gantner-Schlee u. Michael Knieriem. Zürich: TVZ 2006. – 342 S.; Ill., Kt. Obwohl Reisen längst als wichtige Form der pietistischen Vergemeinschaftung neben den Konventikeln identifiziert wurden,1 sucht man bisher vergeblich eine Synopse über Motive, Bedingungen und die Bedeutung des Reisens für den Aufbau und die Stabilisierung des weitgespannten pietistischen Beziehungsgeflechts. Wie theologische Positionen und fromme Praktiken ausgehandelt bzw. vermittelt wurden und trotz der dezentralen Struktur, der Transkonfessionalität und der divergenten Ausprägungen pietistischer Frömmigkeit an den verschiedenen Orten in gewissem Maße eine Gruppenidentität entstand, kann nicht allein durch Briefe und Druckschriften beantwortet werden. Dennoch liegen bisher nur punktuell kleinere Arbeiten zu ausgewählten Reisen prominenter Figuren, wie zum Beispiel zu Johann Friedrich Rocks Schweizreisen oder August Hermann Franckes Hollandreise vor.2 Der Zugang zu diesem Desiderat wird aber durch die in der Frömmigkeitsbewegung bereits im frühen 18. Jahrhundert verbreitete Praktik des Tagebuchschreibens erleichtert, wie die seit 2006 vorliegende Edition des Reisetagebuchs von Hieronymus Annoni eindrucksvoll zeigt. Das Editionsprojekt ist das Ergebnis einer Kollaboration von Hildegard Gantner-Schlee, die 2001 bereits eine umfangreiche Biografie zu Annoni vorgelegt hat, mit den Historikern Johannes Burkhardt und Michael Knieriem. Hieronymus Annoni, der später zum Vater des Basler Pietismus avancierte, begleitete von Mitte April bis Mitte Oktober 1736 die beiden miteinander verwandten Jurastudenten Bernhardin Im Thurn aus Schaffhausen und Hans Ulrich Hegner aus Winter1
Vgl. Manfred Jakubowski-Tiessen: Eigenkultur und Traditionsbildung. In: Geschichte des Pietismus. Bd. 4: Glaubenswelt und Lebenswelten. Hg. v. Hartmut Lehmann. Göttingen 2004, 195– 210, hier 205. 2 Vgl. Hans-Jürgen Schrader: Inspirierte Schweizerreisen. In: Lesen und Schreiben in Europa 1500–1900. Vergleichende Perspektiven. Hg. v. Alfred Messerli u. Roger Chartier. Basel 2000, 351– 382; Udo Sträter: Interessierter Beobachter oder Agent in eigener Sache? August Hermann Franckes Hollandreise 1705. In: Goldenes Zeitalter und Jahrhundert der Aufklärung. Kulturtransfer zwischen den Niederlanden und dem mitteldeutschen Raum im 17. und 18. Jahrhundert. Hg. v. Erdmut Jost u. Holger Zaunstöck. Halle/Saale 2012, 62–77.
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thur auf ihrer Bildungsreise durch die Schweiz, Holland und das Reich. Beide stammten aus angesehenen Familien, die sich einen Hofmeister für ihre Sprösslinge leisten konnten (10–15). Die weitgehend im Voraus geplante Tour führte die Gefährten von Basel aus zunächst nach Straßburg, Heidelberg und Köln. Von dort wandten sie sich ins Niederländische, wo Amsterdam, Leiden, Rotterdam, Antwerpen und Brüssel ihre wichtigsten Stationen waren. Danach reisten sie erneut über Köln nach Frankfurt am Main, besuchten die Universitäten in Gießen und Marburg und gelangten schließlich ins Thüringische. Einem längeren Aufenthalt in Halle folgten die Stationen Leipzig, Dresden und Herrnhut, ehe sie über Prag und Regensburg die Rückreise in die Schweiz antraten. Die Aufenthalte waren von einem intensiven Programm an Besichtigungen und Besuchen gekennzeichnet. Die Reisenden waren aber nicht nur an Sehenswürdigkeiten und bedeutsamen Institutionen interessiert, sondern suchten das Gespräch mit Gelehrten in einer Reihe von Universitätsstädten. Neben dem Typus der klassischen Bildungsreise, die die angehenden Juristen auf eine Karriere im Staatsdienst vorbereiten sollte, entspreche die Reise aber auch dem „Typus einer protestantischen Pilgerfahrt“ (15), so die Herausgeber. Die Treffen mit überregional bekannten Gestalten der protestantischen Reformbewegung, wie Samuel Urlsperger in Augsburg, Zinzendorf auf der Ronneburg, Gerhard Tersteegen in Mülheim oder Gotthilf August Francke in Halle, dokumentieren genauso wie die Besuche neuer Formen religiösen Gemeinschaftswesens in Herrnhut und auf der Ronneburg die religiösen Motive der Reise. Ob die von den Herausgebern unterstellte Gegenüberstellung von Bildungsreise und protestantischer Pilgerfahrt der historischen Situation im frühen 18. Jahrhundert aber wirklich gerecht wird, ist angesichts der vielfältigen Bildungsbemühungen im Pietismus – etwa im Pädagogium Regium der Glauchaer Anstalten – zu bezweifeln. Hier könnten vergleichende Arbeiten ansetzen, die zugleich die alte Dichotomie von Aufklärung und Pietismus in Frage stellen. Insofern ist der Verweis der Herausgeber auf die Überlegungen Michael Maurers zum Desiderat einer Konfessionsgeschichte des Reisens (vgl. 15) zu begrüßen, denn hierfür stellt das Reisetagebuch eine aufschlussreiche Quelle dar. Die prosaischen Aufzeichnungen, die Annoni für nahezu jeden Tag der Reise hinterlassen hat, folgten dem für die pietistische Frömmigkeit typischen Bedürfnis, das eigene Handeln zu dokumentieren und zu prüfen.3 Dabei handelte es sich wahrscheinlich nicht um eine Rechenschaft vor den Eltern – denen galt eher das Kassenbuch, das über alle erforderlichen Ausgaben informierte, schließlich kamen diese für die Unkosten auf. Vielmehr wollte Annoni sein tägliches Tun vor Gott und ausgewählten Glaubensgenossen 3 In diesem Sinne verstand auch August Hermann Francke sein Tagebuch und empfahl diese Form seinen Studenten. Vgl. August Hermann Francke: Tagebuch 1714. Hg. v. Veronika AlbrechtBirkner u. Udo Sträter in Zus.arb. mit Carola Wessel (†) u. Viktoria Franke. Halle 2015.
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rechtfertigen. Introspektionen und Darlegungen der Befindlichkeiten der Reisegefährten sucht man dennoch weitgehend vergebens (9 f.). Nüchtern und sachlich schildert Annoni die Ereignisse, die er aber vielfach bewertet. Dies macht das Reisetagebuch zu einer interessanten und aufschlussreichen Quelle, für all jene, die an zeitgenössischer Wahrnehmung bestimmter Orte, Institutionen, Praktiken und Personen interessiert sind. Dies soll anhand einiger Beispiele illustriert werden: So glichen aus der Perspektive Annonis die Glauchaer Anstalten „an Art und Weitläufigkeit einem großen und reichen Kloster“ (199), während „die in ziemlicher Konfusion stehende Raritätenkammer [. . .] eben nicht sonderlich reich ist und wenig Besonderes in sich hat, bald aber transportiert werden und eine bessere Gestalt gewinnen soll“. (202) In Ronneburg wohnten die Drei einer Aussprache des Inspirierten Johann Friedrich Rock bei und lernten zahlreiche Mitglieder der Gemeinde kennen, „welche [ihnen] meistenteils wegen ihrer Freundlichkeit, Einfalt und Arbeitsamkeit wohlgefallen haben. Wie denn überhaupt solche Leute lobens- und liebenswürdig sind und eine feine Zucht unter sich halten. Nur, daß sie von dem Inspirationswerke allzu viel Wesens und Redens machen und, die so es nicht mit ihnen halten, als unrichtige Menschen ansehen und zu tadeln pflegen“. (159) Solche Einschätzungen lenken den Blick auf die Prägungen und Positionen des Autors und ermöglichen Vergleiche mit anderen Autoren mit ähnlichen Erlebnissen. Waren diese Einschätzungen typisch für die damalige Zeit, entsprachen sie einer gruppenspezifischen Wahrnehmung oder handelte es sich um eine singuläre Meinung? Die Edition liefert hier einen gelungen Anstoß für eine ganze Reihe von Forschungsfragen, ohne dass diese im Einzelnen benannt werden. Indem dem Leser eine ganze Reihe an brauchbaren Hilfsmitteln an die Hand gegeben wird, begünstigt man aber die weiterführende Forschung: Zeitgenössische und fremdsprachliche Ausdrücke sowie viele regionalgeschichtliche Besonderheiten werden sehr akribisch erklärt, wodurch das Verständnis des Textes erleichtert wird. Ebenso verdienstvoll ist das Personenverzeichnis, das in den meisten Fällen ein knappes Biogramm für die etwa 700 erwähnten Personen enthält. Eine Karte mit Reiseroute und ein Ortsregister erlauben die zielgerichtete Suche, die allenfalls noch durch ein Itinerar hätte begünstigt werden können. Die Einleitung fällt hingegen zu knapp aus: Worin der Mehrwert der Edition für die Forschung liegen kann, bleibt vage. Ungewissheit besteht auch hinsichtlich der Überlieferung. Die Herausgeber argumentieren zwar plausibel, dass es sich um eine nach der Rückkehr Annonis verfasste Niederschrift handele. Dies wird durch Vermerke Annonis und einige wenige Fotokopien des reinschriftlichen Tagebuchs (38–41) gestützt. Doch angesichts der detaillierten Beschreibungen muss es Notizen oder Vorarbeiten dazu gegeben haben. Ob und wo man diese findet bleibt ebenso unklar, wie die Gründe für die sich häufenden Tagebuchlücken ab September 1736 – also kurz vor Ende der Reise. Eine kritische Auseinandersetzung mit dem Text im Rahmen der 291
Forschung wird darüber hinaus durch die sprachliche Glättung seitens der Herausgeber erschwert. Die Modernisierung altertümlicher Wendungen mag vielleicht die Lektüre erleichtern (18), die Aufarbeitung im Sinne einer Kulturgeschichte des Reisens wird dadurch aber erschwert, vergegenwärtigt man sich die sprachlichen Besonderheiten und deren Bedeutung in pietistischen Kreisen. Authentizität sollte an dieser Stelle über den Konzessionen an ein breites Publikum stehen, zumal die Edition eher an ein Fachpublikum als an eine breite Leserschaft gerichtet ist. Holger Trauzettel
Halle
Julia Ulrike Mack: Menschenbilder. Anthropologische Konzepte und stereotype Vorstellungen vom Menschen in der Publizistik der Basler Mission 1816–1914. Zürich: TVZ 2013 (Basler und Berner Studien zur historischen Theologie, 76). – 255 S.; Ill., graph. Darst. Vor zweihundert Jahren, im September 1815, gründete sich die Basler Mission, die damit zu den ältesten kontinentalen Missionsgesellschaften zählt. Getragen von pietistischen Milieus in der Schweiz und in Südwestdeutschland, war sie von Anfang an institutionell gut vernetzt, überkonfessionell wie international ausgerichtet. Besonders engen Austausch pflegte die Basler Mission seit jeher mit den unwesentlich älteren Missionsgesellschaften in England; in späterer Zeit ergaben sich Wechselbeziehungen mit den sich etablierenden Missionsgesellschaften im deutschsprachigen Raum. Erwähnenswert sind solche institutionellen Netzwerkbildungen, weil sie vielfältige Ebenen gemeinsamer Praxis und Theoriebildung abdeckten. Die Kommunikationskanäle gingen dabei weit über den persönlichen Austausch zwischen Repräsentanten einzelner Missionsgesellschaften hinaus. Eine besondere Dynamik im Austausch zwischen Missionsgesellschaften entfaltete sich über die jeweiligen Publikationsmedien. Die publizistische Praxis gehört gleichsam zum genetischen Fingerabdruck aller Missionsgesellschaften des 19. Jahrhunderts. Zeitschriften, Sonderdrucke, Broschüren und Traktate dienten der Selbstdarstellung von Missionsgesellschaften in der Öffentlichkeit; sie bedienten den Wissensdurst der europaweit verzweigten Unterstützervereine in diesem „Jahrhundert der Mission“ (Gustav Warneck). Es handelte sich um Wissensträger sui generis, die die zunehmend sich verdichtende Verflechtung der Welthorizonte im 19. Jahrhundert abbildete und kommentierte. Die Publikationen von Missionsgesellschaften präsentierten globale Missionsfelder, beschrieben fremde Kulturen und beurteilten andere Religionen, und zugleich bezweckten sie die Plausibilisierung des missionarischen Impulses. In dieser Absicht bezogen sich Missionsgesellschaften in ihren Veröffentlichungen teilweise direkt aufeinander oder stellten auch Material bereit, das – wo 292
nötig in übersetzter Form – zur Veröffentlichung übernommen wurde. Damit entdeckten Missionsgesellschaften die in ihrer Zeit modernen Medien als Ressource, praxisbezogene Handlungsfelder abzugleichen, insbesondere aber auch theologische wie gesellschaftlich relevante Diskurse abzubilden, zu entfachen und zu steuern. Es mag aufgrund dieser enormen Bedeutung der Publikationsorgane der Missionsgesellschaften verwundern, dass gesonderte Untersuchungen zu ihrem Beitrag an der „Verwandlung der Welt“, wie der Historiker Jürgen Osterhammel die globalhistorische Bedeutung des 19. Jahrhunderts charakterisiert, kaum vorliegen. Die hier besprochene Studie, die als Dissertation 2010 in Basel angenommen wurde, füllt diese Lücke. Julia Mack widmet sich erstmals eingehend einer Inhaltsanalyse der Publizistik der Basler Mission. Als Vektor ihrer Analyse bestimmt sie die darin enthaltenen Diskurse zum Menschenbild. Die Autorin filtert anthropologische Vorstellungen, die in den Milieus der Basler Mission kursierten, heraus und stellt den Bedeutungswandel im Bild des Menschen im Verlauf des „langen neunzehnten Jahrhunderts“ dar. Die Studie deckt einen Zeitraum ab, der sich von der Erstausgabe des ältesten Publikationsorgans der Basler Mission, dem seit 1816 erschienenen Evangelischen Missions-Magazin, bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs 1914 erstreckt. Die Autorin gliedert ihre Studie in drei Hauptteile, von denen sich streng genommen lediglich der Mittelteil auf die eigentliche Aufgabenstellung bezieht, die Diskursgeschichte über „Menschenbilder“ in der Basler Missionspublizistik nachzuzeichnen. Diese auf „anthropologische Konzepte und stereotype Vorstellungen“ sich beziehende Analyse macht gerade etwas über 100 des insgesamt 255 Seiten starken Buches aus. Im ersten Hauptteil widmet sich die Autorin „Grundlegungen“ (20–95), also dem missionsgeschichtlichen Kontext, in dem sich die Basler Mission wie auch deren Publizistik verortet. In einer langen Hinführung zum Kernthema kommen die Anfänge der Basler Mission ebenso zur Geltung wie eine allgemeine Einführung in die Geschichte der europäischen, vorwiegend aber deutschen Missionsgesellschaften überhaupt, ihre Verzweigungen in überkonfessionelle und konfessionelle Missionsgesellschaften, in Glaubens-, liberale und Kolonialmissionen. In dieses missionsgeschichtliche Tableau zeichnet sie die publizistischen Konturen und Aktivitäten von Missionsgesellschaften ein, mit starker Gewichtung der Basler Mission. Auf Basel bezogen berücksichtigt die Studie vor allem die beiden Hauptorgane, das Evangelische Missions-Magazin (seit 1816) und den einige Jahre darauf (1828) erstmals erschienenen Evangelischen Heidenboten. Ohne Ansprüche an höhere Bildungsvoraussetzungen war der Heidenbote durch seine Nähe zu Alltagsthemen aus dem Missionsfeld aus der persönlichen Perspektive einzelner Missionare gekennzeichnet. Anders das Genre, welches das Missions-Magazin bediente. Mit der Publikation ihres Missions-Magazins setzte sich die Basler Mission noch in ihrer Gründungsphase ein markantes theologisches Profil, das gleichsam paradigmatisch ausstrahlte auf ähnliche 293
Bemühungen jüngerer Missionsgesellschaften bis hinein in die Anfänge der Missionswissenschaft als akademische Disziplin ein gutes halbes Jahrhundert später. Das ununterbrochene Erscheinen des Missions-Magazins bis 1974 und dessen direkte Fortführung zunächst als Zeitschrift für Mission und ab 2008 als Interkulturelle Theologie – Zeitschrift für Missionswissenschaft zeigen, wie massgeblich dieses Urgestein Basler Missionspublizistik die missionstheologische Ausrichtung der deutschsprachigen Fachdisziplin bis in die Gegenwart hinein anregt. Das Missions-Magazin war die repräsentative, gleichwohl inoffizielle Stimme der Basler Mission. Die Redaktion des Missions-Magazins gehörte anfangs direkt zum Aufgabenkatalog der Missionsinspektoren, später blieb sie zumindest eng angebunden an die Leitung der Mission. Wie die Missionsleitung so entstammten die Redakteure des Missions-Magazins dem Frömmigkeitsmilieu des Württemberger Pietismus mit fast ausschließlicher theologischer Prägung durch die Tübinger Universität. Das Missions-Magazin stieß auf unglaubliche Resonanz in ganz Europa, konnte auf einen festen Stamm an Abonnenten setzen und einen noch ausgedehnteren Leserkreis. Es diente als Unterrichtmaterial für christliche Erziehung, fand Anklang in verschiedensten sozialen, auch höfischen Schichten und stärkte die finanziellen Ressourcen der Mission, indem es durch die Berichte über die Basler Missionstätigkeit erhebliche Spenden generierte und zur Gründung weiterer Hilfsvereine aufrief. Zur Bedeutung von „Menschenbildern“ stößt die Autorin im Mittelteil des Buches vor. Bevor ich mich dem thematischen Kern der Studie in diesem zweiten Hauptteil zuwende, seien einige Bemerkungen zum dritten Hauptteil (213–230) erlaubt. Dieser zeichnet sich durch die Erfindung einer Mischkategorie aus: Der dritte Hauptteil wird gleichzeitig – etwas unorthodox und verwirrend – als „Anhang“ klassifiziert. Ganz im Stile eines Appendix findet sich hier eine Auflistung aller Missionsgesellschaften (nach Maßgabe der oben erwähnten Kategorien) wie deren Publikationsorgane. In recht selektiv, gar willkürlich erscheinender Weise gibt es mal detailreichere Informationsblöcke zu einzelnen Missionsgesellschaften, meist aber beschränkt sich die Autorin auf eine unkommentierte Aufzählung von Missionsgesellschaften. Dasselbe gleichsam lexikalische Verfahren findet sich in der Nennung der Publikationen der einzelnen Missionsgesellschaften. Diese Sammlung an Daten ist an sich sicher verdienstvoll. Eine solche kompakte Übersicht über das mediale Auftreten von Missionsgesellschaften, die, wie die Autorin bemerkt, noch unabgeschlossen ist, gab es bislang nicht. Die thematische Relevanz für die Indexierung der „Menschenbilder“ in Missionszeitschriften des 19. und frühen 20. Jahrhunderts wird nicht ersichtlich. Die summarische Katalogisierung von Missionsgesellschaften und ihrer Publikationen als den dritten Teil einer Studie zu anthropologischen Konzepten auszuweisen, bleibt zwar originell, leuchtet mir aber in der vorliegenden Form nicht ein. Der thematische Schwerpunkt der Studie wird in Teil II (99–211) aufgefächert. Dieser als „Durchführung“ übertitelte Abschnitt identifiziert fünf cha294
rakteristische Menschenbilder in den Publikationen der Basler Mission. Die Autorin präsentiert ausdifferenzierte Analysen zur „Figur des ‚Wilden‘“ in der Missionsliteratur und zur „Rolle der Frau im Missionsdiskurs“; sie stellt das Konzept von „‚Bildung‘ und ‚Erziehung‘“ bei der Schaffung des neuen christlichen Menschen auf den Missionsfeldern heraus. Ferner entfaltet sie eindrücklich den in der Missionspublizistik eingebetteten Machtdiskurs um kulturelle Superiorität und zivilisatorisch-moralische Inferiorität. Dieser Diskurs macht sich fest an Denktraditionen von Rassismus und der Begründung von Sklaverei, die sich – wie übrigens auch im Falle der Apartheidideologie in Südafrika – biblisch-theologisch am „Fluch des Ham“ anbinden. Dem steht sozusagen als Überwindungsdiskurs und Gegenentwurf das Bild des „wahren“ Menschen gegenüber, das die Gleichheit aller Menschen vor Gott postuliert. In allen diesen Diskursfeldern arbeitet die Autorin die Auffassungen vom Menschen heraus, die als normativ in den Augen der Autoren von Missionsliteratur galten. Zugleich generierten die Missionsdiskurse stereotype Vorstellungen des Eigenen und des Fremden. Verwoben in diese jeweiligen Analyseebenen von „Menschenbildern“ waren Repräsentationen des/der Anderen, die in verfestigte Zuschreibungen von Ethnien, Identitäten oder Kulturen einmünden. Die entworfenen Heterostereotypen prägten eigene Wahrnehmungsmuster, vereinfachten die Komplexitäten des Kulturaustauschs und verstellten den Blick auf unterschiedliche Alltagsrealitäten in den globalen Kontaktzonen der Mission. Auch wenn die Autorin sich nicht dezidiert einer postkolonialen Lektüre der Missionspublizistik verpflichtet fühlt, kommen postkoloniale Theoreme, die Imaginationen des Fremden als Konstitutionsbedingungen des Eigenen beleuchten, immanent in den Ergebnissen und Zwischenresümees der Unterkapitel heraus. Ein in dieser Hinsicht der Konstruktion von Eigen- und Fremdbildern in der Missionspublizistik besonders ergiebiges Begriffsrepertoire drehte sich um Kategorien von „Wildheit“ und „Barbarei“. Die missionarische Wahrnehmung des Fremden stand darin in einer längeren geistesgeschichtlichen Traditionsbildung, in der der „wilde“ Zustand des außereuropäischen Menschen fixiert und diskursiv ausgebreitet wurde. Im Gegensatz zu dem ungeschminkt negativ gefassten Begriff des „Barbaren“ eröffnete der Begriff des „Wilden“ auch positive Bestimmungen des Menschseins. In der Missionsliteratur vermischen sich die Vorstellungen des „guten“ bzw. des „edlen Wilden“, die jeweils bestimmend wurden in der frankophonen (bon sauvage) respektive anglophonen (noble savage) Kulturphilosophie. Während der „edle Wilde“ in der anglophonen Tradition eine gesellschaftskritische Aussage transportierte, eignete dem bon sauvage (Rousseaus Naturzustand des Menschen) eine eher zivilisationskritische Absicht. Die Autorin arbeitet heraus, dass die zivilisationskritische Ausprägung des Begriffs des „Wilden“ sich in der Missionspublizistik verflüchtigt. Der „wilde“ Mensch konnte ihnen nicht dazu herhalten, einen Spiegel für die Verderbtheit der europäischen Zivilisation vorzuhalten. Der „Wilde“ war der durch die 295
Annahme des christlichen Glaubens „veredelte“ Mensch. Das Bild des „guten und edlen Wilden“ stellte mithin einen zivilisatorischen Optimismus heraus. Darin eingeschlossen waren das treibende Motiv und der dauerhafte Impuls für missionarische Praxis, allen Menschen den Horizont des Reiches Gottes zu eröffnen. Dieser Argumentationskreis baute zudem eine gesellschaftskritische Aussageebene aus, die sich auf die europäische Gegenwart der Leser bezog. Vielfach wurde der zum Christentum bekehrte „edle Wilde“, der sein Leben nach den Grundsätzen eines „wahren Christenmenschen“ auszurichten sich mühte, als Gegentyp aufgebaut gegen die als rein äußerlich charakterisierte Religion der Europäer. Der „edle Wilde“ war der für das Wort Gottes und die Verkündigung der Missionare empfängliche Mensch. Überhöht durch Beschreibungen eines Lebenswandels, der durch moralische Festigkeit, ein „christliches“ Familienethos oder auch durch Lerneifer und Bildungshunger charakterisiert wurde, die zusammen genommen einen sozialen Aufstieg inmitten einer heidnischen Umwelt beförderten, war der „gute Wilde“ das Gegenbild der moralisch verwerflich lebenden Europäer in den Missionsgebieten; der „edle Wilde“ mit seiner unerschütterlichen inneren Glaubensgewissheit und sittlich gefestigten, äußeren Lebensführung stellte kritische Anfragen an die Frömmigkeitskultur auch in Europa, dessen Signatur durch das Vokabular moralischen und zivilisatorischen Verfalls beschrieben wurde. Die hier exemplarisch am Diskurs um den „wilden Menschen“ angedeutete Dichte an Argumentationssträngen zum Menschenbild der Basler Mission wird in deduktiver Form vorgetragen. D.h. die Studie zeichnet sich durch knappe Begründungslinien aus und beschränkt sich auf prägnante Präsentation von Ergebnissen der Materialanalyse. Der deduktiven Darstellungsform ist es m.E. zu verschulden, dass die Autorin nur in Ausnahmefällen die reichhaltigen Originalquellen sprechen lässt. Diese Ausnahmen setzen ein mit einem frühen Bericht im Evangelischen Missions-Magazin aus dem Jahr 1833 über das Missionsfeld Neuseeland. Hier geht es um das abenteuerliche Schicksal von schiffbrüchigen Maori vor der neuseeländischen Küste; nur zwei Maori, die kurz zuvor sich zum Christentum bekehrt hatten, überleben Haiattacken. Deren Rettung wird in ihrer Umgebung als Zeichen der Größe des christlichen Gottes verstanden (122 f.). Die hier angesprochene Passage bezieht sich also auf den ersten Blick auf die Thematik der Konversion. Der Autorin gelingt es in luzider Deutung, dieses Konversionsgeschehen auf die darin eingeschlossenen Menschenbilder der Basler Missionare zu dieser Zeit auszuleuchten. Naturdarstellungen gehen kongruent mit dem Wildheitsdiskurs. Die „wilden“, nicht christlichen Maori werden Opfer der rauen See und der ungezähmten Natur; diese kann nur überwunden werden durch den Zivilisierungsakt der Bekehrung zum Christentum. Der Umgang mit solchen Narrativen bezeugt hohe analytische und interpretative Kompetenz. Viele andere Zitate, die die Autorin aus ihren Recherchen im Basler Missionsarchiv zutage fördert, verbleiben im Fußnotenapparat – die Studie hätte aus meiner Sicht mehr solcher spannender Interaktionen 296
mit den Originaltexten im Fließtext verdient. Insgesamt gesehen bietet der Band eine gut lesbare Einführung in das Genre der Missionspublizistik, dessen bedeutsamer Status beispielhaft an der Geschichte der Basler Mission abgebildet wird. Aus dem reichhaltig vorliegenden Untersuchungsmaterial, das sich auf das in der deutschsprachigen Missionsgeschichte höchst relevante Evangelische Missions-Magazin konzentriert, scheinen anthropologische Konzepte und Wahrnehmungsstereotype durch, die als zentrale Inhalte im „Jahrhundert der Mission“ verhandelt wurden. Als Forschungsdesiderat stellt die Autorin einen ersten Überblick über die Breite der Missionspublizistik vor allem aus dem deutschsprachigen Raum bereit. Damit regt die hier in verdichteter Form durchgeführte Inhaltsanalyse weitere Untersuchungen zur Missionspublizistik insgesamt und erweitert um andere Missionsgesellschaften und Themenschwerpunkte an. Andreas Heuser
Basel
Rudolf von Thadden: Trieglaff. Eine pommersche Lebenswelt zwischen Kirche und Politik 1807–1948. Göttingen: Wallstein Verlag 32011 (2010). – 294 S.; 23 Abb. (English-language edition, Berghahn, N. Y., Oxford 2013. – XVII, 254 S.; 26 Abb.). Das hinterpommersche Dorf Trieglaff hat in der Kirchengeschichte Pommerns und Preußens eine herausragende Stellung, verbindet sich doch mit diesem Ort das Wirken einer Reihe von Persönlichkeiten aus der Familie von Thadden, die im 19. und in der ersten Hälfe des 20. Jahrhunderts eine führende Rolle im kirchlichen Leben ihrer Zeit einnahmen. Der 1932 geborene Rudolf von Thadden ist der Letzte der Familie, der auf dem Stammgut in Trieglaff zur Welt kam. Der heute emeritierte Professor für Neuere Geschichte an der Universität Göttingen hat sich seit Jahrzehnten einen Namen als renommierter Historiker der preußischen Geschichte gemacht, und so lag es nahe, dass er auch eine Chronik seiner Familie in Trieglaff verfasste. Mit der Übernahme des Gutes durch Adolf von Thadden (1796–1882) im Jahre 1820 begann das Leben der Familie von Thadden an diesem Ort. Da die Gründergeneration von den Napoleonischen Kriegen geprägt war und in Trieglaff im Frühjahr 1807 französische Truppen einquartiert wurden, setzt bereits zu diesem Zeitpunkt die Schilderung Rudolf von Thaddens ein. Überhaupt ist einer der Vorzüge dieses Buches, dass es dem Autor immer wieder gelingt, die Geschicke der verschiedenen Generationen seiner Familie jeweils mit den Höhen und Tiefen der Geschehnisse in Preußen in Verbindung zu setzen. Auch seine fundierten sozialgeschichtlichen Darlegungen lassen 297
sowohl Allgemeines als auch Besonderes in dem Dorf Trieglaff stets anschaulich in Erscheinung treten. Leider ist dies hinsichtlich kirchengeschichtlicher Aussagen nicht in gleicher Weise gelungen. Warum Adolf von Thadden beispielsweise als eine der führenden Persönlichkeiten der Erweckungsbewegung in Pommern anzusehen ist, lässt sich schwer aus den Ausführungen erschließen, da kaum etwas von dem Anliegen jener Frömmigkeitsbewegung und ihrer Bedeutung in Pommern/Preußen erwähnt wird. Lediglich in einer Fußnote wird auf die Überblicksdarstellung von Erich Beyreuther aus dem Jahre 1972 verwiesen und dabei die Möglichkeit ungenutzt gelassen, auf die Forschung zur Erweckungsbewegung der letzten Jahrzehnte Bezug zu nehmen. Zudem sind in diesem Zusammenhang einige unpräzise Formulierungen zu konstatieren. Dass Adolf von Thadden etwa als „Patriarch des pommerschen Pietismus“ (42) bezeichnet wird, dürfte aus der Familienperspektive verständlich sein, ist jedoch historisch betrachtet nicht korrekt. Seit 1829 lud Adolf von Thadden zu den Trieglaffer Konferenzen ein, die jeweils eine große Anzahl von Geistlichen auch weit über die Grenzen Pommerns anzogen. Bedauerlich ist, dass diese Zusammenkünfte nicht ausdrücklich in die Oppositionsbewegung gegenüber der Unionskirche in Preußen eingeordnet werden, weil diese Konferenzen, die alljährlich in den 30er und 40er Jahren stattfanden, eine der Keimzellen der lutherischen Separation in Pommern bildeten. Interessant sind die Ausführungen zu der sich wandelnden Stellung einzelner Angehöriger der Familie von Thadden innerhalb der Diskussion zur sozialen Frage in der Kirche während der Zeit des Wilhelminischen Kaiserreiches und der Weimarer Republik. War anfänglich der konservative Berliner Hofprediger Adolf Stoecker die prägende Figur (Stoecker fungierte auch als Taufpate in der Familie), entwickelte sich bei der Wiederbelebung der Trieglaffer Konferenzen seit dem Sommer 1918 ein Interesse hin zu sozialdemokratischen Ansichten. Geradezu spannend liest sich das Kapitel zum sog. Kirchenkampf. Hier gelingt es Rudolf von Thadden, ein differenziertes Bild von den Auseinandersetzungen zu zeichnen. Dabei zeigt er die besondere Stellung seines Vaters, Reinold von Thadden (1891–1976), auf. Dieser agierte sowohl auf Reichsebene – etwa als Teilnehmer an der Bekenntnissynode von Barmen im Jahre 1934 – als auch auf der Ebene der Provinz Pommern – hier vor allem als Präses der Synode der pommerschen Bekennenden Kirche. Obwohl die letzten Familienmitglieder der von Thadden 1946 Pommern verlassen hatten, endet die Darstellung erst mit dem Jahr 1948, dem Zeitpunkt, als das sowjetische Militär seine Kommandantur in Trieglaff räumte und die polnische Verwaltung in dem Ort begann. Unter der Überschrift „Versöhnte Geschichte“ schließt sich ein kurzer Epilog an, in dem von Schritten der Annäherung der ehemaligen und heutigen Bewohner von Trzygłów zu Beginn des 21. Jahrhunderts sowie einem gemeinsam bestehenden Interesse 298
an ihrer wechselvollen Geschichte berichtet wird. Von daher wäre es mehr als wünschenswert, wenn Rudolf von Thaddens Buch, das sich an einen breiten Leserkreis richtet, auch in polnischer Sprache erscheinen könnte. Volker Gummelt
Greifswald
Max Weber: Asketischer Protestantismus und Kapitalismus. Schriften und Reden 1904–1911. Hg. v. Wolfgang Schluchter in Zus.arb. mit Ursula Bube. Tübingen: J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) 2014 (Max Weber Gesamtausgabe Abteilung I: Schriften und Reden, 9). – XIX, 994 S. Als Max Weber im Jahre 1904 den ersten Teil seiner Überlegungen zum Zusammenhang von protestantischer Ethik und dem Geist des Kapitalismus veröffentlichte, war noch keineswegs klar, welche Bedeutung seinen Thesen im Laufe der kommenden Jahrzehnte zukommen würde. Im Rückblick kann man jedoch ohne Vorbehalt konstatieren, dass kein Werk so oft als eine bahnbrechende Einsicht gelobt, aber auch so oft als eine abwegige Konstruktion kritisiert wurde wie eben Webers Ausführungen zur protestantischen Ethik – mit dem Ergebnis, dass Webers Aussagen und mit diesen Weber selbst außerordentlich berühmt wurden, berühmt nicht nur in seiner Heimat, sondern, aus jeweils unterschiedlichen Gründen, vor allem in Großbritannien, den USA und selbst in Japan. Erst jetzt, erst mehr als hundert Jahre nach der ersten Veröffentlichung, liegen Webers entscheidende Texte in einer historisch-kritischen Edition vor. Der von dem Heidelberger Soziologen Wolfgang Schluchter in Zusammenarbeit mit Ursula Bube als Teil der Max Weber Gesamtausgabe edierte Band enthält nach einer gründlichen Einführung zunächst Webers eigentliche Abhandlung Die protestantische Ethik und der ‚Geist‘ des Kapitalismus, ferner Webers Studie über „Kirchen“ und „Sekten“ in Nordamerika aus dem Jahre 1906, Webers Reden über verwandte Themen aus den Jahren 1905 und 1910, dann die zwei Repliken Webers auf die kritischen Einwände von H. Karl Fischer sowie Webers weitere Repliken auf die an seiner These geübte Kritik von Felix Rachfahl, jeweils ergänzt durch die Texte dieser Kritiker, schließlich, den Regularien der Max Weber Gesamtausgabe folgend, ein Personenverzeichnis, ein Glossar, ein Verzeichnis der von Weber benützten Literatur, ein Bibelstellenregister, ein Personen- und ein Sachregister und ein Verzeichnis der Seitenkonkordanzen. Mit vorbildlicher Akribie wurden von den beiden Herausgebern alle Zitate und alle Literaturangaben Webers überprüft (wobei sich herausstellte, dass „sauberes“ wissenschaftliches Arbeiten nicht unbedingt Webers Stärke war). Alle relevanten Zusammenhänge wurden sorgfältig recherchiert und erläutert. Gelegentlich wurden auf diese Weise Webers ohnehin schon außerordentlich lange und kompliziert formulierte 299
Anmerkungen noch einmal verdoppelt. Kurzum: Wer sich für Webers Texte und deren Rezeption bis zum Jahre 1911 interessiert, kann sich nunmehr auf einen vorzüglichen wissenschaftlichen Apparat stützen. Als Pendant zum Puritanismus innerhalb des Luthertums besitzt der Pietismus für Weber eine besondere Bedeutung. Hier zwei einschlägige Zitate: „Für unsere (also Webers) speziellen Gesichtspunkte jedenfalls bedeutet der Pietismus lediglich das Eindringen methodisch gepflegter und kontrollierter, d. h. also asketischer Lebensführung auch in die Gebiete der nicht calvinistischen Religiosität. Das Luthertum mußte aber diese rationale Askese als Fremdkörper empfinden, und die mangelnde Konsequenz der deutschen pietistischen Doktrin ist Folge der daraus erwachsenden Schwierigkeiten“ (318 ff.). „Alles in allem werden wir, wenn wir den deutschen Pietismus unter den für uns hier in Betracht kommenden Gesichtspunkten betrachten, in der religiösen Verankerung seiner Askese ein Schwanken und eine Unsicherheit zu konstatieren haben, welche gegen die eherne Konsequenz des Calvinismus erheblich abfällt und teils durch lutherische Einflüsse, teils durch den Gefühlscharakter seiner Religiosität bedingt ist“ (335). Webers Zugriff ist, wie diese beiden Zitate zeigen, also sehr spezifisch. Der Vergleich mit der seiner Meinung nach vom Calvinismus geprägten, innerweltlichen Askese des Puritanismus ist in seiner Studie somit der entscheidend wichtige Aspekt. Um Webers Vorgehen zu charakterisieren, sind zwei weitere Anmerkungen notwendig. Erstens ist es bemerkenswert, wie weitgehend sich Weber in seinen Aussagen auf der einen Seite auf das große Werk von Albrecht Ritschl über den Pietismus (in drei Bänden 1880 bis 1886 erschienen) stützt und wie sehr er sich andererseits von Ritschls pointierter und meist negativer Bewertung des Pietismus distanziert. Weber bemängelt an den von ihm behandelten Pietisten lediglich, dass sie die puritanischen Vorstellungen von innerweltlicher Askese nicht konsequent genug übernahmen und praktizierten, brachte dem Pietismus aber sehr viel mehr Sympathie entgegen als dem Luthertum. Zweitens fällt auf, dass Webers Werk nur eine höchst selektive Sicht des Pietismus bietet. Während er sich ausführlich mit Philipp Jakob Spener beschäftigt, geht er nur relativ knapp auf August Hermann Francke und Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf ein. Die württembergischen Pietisten werden von ihm dagegen ebenso wenig erwähnt wie etwa Gottfried Arnold. Als er seine Abhandlung konzipierte, scheint es Weber nicht klar gewesen zu sein, dass er, wenn er die wirtschaftlichen Aktivitäten in Halle und Herrnhut ausgewertet hätte, auf wichtige Belege für seine These gestoßen wäre. Webers selektive Sicht zeigt sich auch darin, dass er die für viele Pietisten typische Orientierung an der Arbeit im Reich Gottes sowie an der nahenden Endzeit nicht weiter thematisiert. Der Wert der vorliegenden Edition liegt nicht zuletzt darin, dass wir genau erfahren, wo Weber sich auf welche Stellen von Ritschl beruft, wo er aus welchen Werken von Spener zitiert und wie er mit dem Erbe von Francke und Zinzendorf umgeht. Diese Nachweise sind für alle, die sich für Webers 300
Pietismusbild interessieren, von großem Wert. Es ist davon auszugehen, dass Schluchters und Bubes Bemühungen dazu beitragen werden, die gesamte Diskussion über die „Weber-These“ auf ein neues Niveau zu heben. Hartmut Lehmann
Kiel
Uwe Kaminsky: „Hetzt gegen die Ordnung“. Leben in Einrichtungen der Duisburger Diakonenanstalt 1926–1951. Essen: Klartext-Verlag 2014. – 222 S. Fast überall im protestantischen Deutschland entstanden im Laufe der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Einrichtungen der Inneren Mission. In der Zeit besonders großer sozialer Not sollte die Wortverkündigung ergänzt werden durch Werke der christlichen Nächstenliebe und Barmherzigkeit. Insbesondere jenen, die am Rande der Gesellschaft standen, den körperlich auf die eine oder andere Weise Behinderten, den geistig Kranken, auch den sozial Deklassierten, sollte geholfen werden. Im protestantischen Deutschland stand das christliche Leben seit dieser Zeit somit auf zwei Säulen. Wichtiger Teil der christlichen Wohlfahrtspflege war die Schulung der Kräfte, die in diesen Einrichtungen tätig werden sollten: Zunächst, von Kaiserswerth ausgehend, von Diakonissen und wenig später auch von Diakonen. Dafür wurden besondere Anstalten geschaffen. Wie in dem vorliegenden Buch von Uwe Kaminsky über die Duisburger Diakonenanstalt und deren verschiedene Zweiganstalten zu lesen ist, wurden in diesen Einrichtungen die genuinen Werte christlicher Ethik aber sehr bald verdrängt von strikten Vorstellungen von Ordnung und Disziplin. Dies geschah auf zwei Ebenen. Diszipliniert wurden zunächst diejenigen, die sich für den Beruf des Diakons entschieden hatten. Harte, streng reglementierte Arbeit, bis hin zur Ausbeutung, knappe Einkünfte, kaum Aufstiegschancen, das war ihr Leben im Kaiserreich bis hin zum Ersten Weltkrieg. Von den Diakonen wurden dann wiederum aber auch die Insassen in den Heil- und Pflegeanstalten diszipliniert. Freiheit gab es nicht, dafür aber Prügel, statt Zuwendung und Förderung strikte Unterordnung und Bestrafung, wenn die Unterordnung verweigert wurde. Dazu wurden im Rahmen der Disziplinierung großzügig verschiedene Medikamente eingesetzt. Wer einmal in dieses System hineingeraten war, hatte es schwer, wieder herauszukommen. Das war auch noch die Lage in der Weimarer Zeit, als die Mittel zum Unterhalt der Anstalten immer knapper wurden. Viele Diakone begrüßten 1933 die Machtergreifung der Nationalsozialisten. Wie Uwe Kaminsky zeigen kann, wurden die Strafen in den Anstalten nun noch einmal härter, unbarmherziger. Viele Diakone, vor allem aber Anstaltsärzte und einige Leiter von Anstalten, begrüßten zudem die Lehren der Eugenik und daraus folgend die Praxis der Euthanasie. Mehr und mehr Insassen wurden in der Folge gegen ihren Willen einer Zwangssterilisation 301
unterzogen. Den Betroffenen wurde das als „Opfer für die Volksgemeinschaft“ erklärt. Mit dem Beginn des Zweiten Weltkriegs verschärfte sich die Lage noch einmal. Die Duisburger Zentrale wurde von Bomben zerstört. Durchhalteparolen ersetzten jedwede nüchterne Analyse der Lage. Ein Anstaltsleiter 1944: „Wir sind die Aussaat für ein neues Reich, das sich in Not und Kampf zusammenschweißt“ (138). Einige Anstalten mussten für Bombenflüchtlinge geräumt werden. In den verbliebenen Anstalten wurden die täglichen Essensrationen drastisch gekürzt. Vor allem aber wurden nun mehr und mehr Insassen von Heil- und Pflegeanstalten an Orte verlegt, wo man sie systematisch tötete. In allen Fällen wurde aus auffälligem Verhalten auf eine Erbkrankheit geschlossen. „Lügt, ist frech, zanksüchtig, erheblich debil“ (117). Eine solche Charakterisierung war fatal. Widerstand aus christlichem Gewissen konnte der Autor nur vereinzelt konstatieren. An einigen Orten wurden die Meldebögen, mit denen diejenigen erfasst wurden, die an Tötungsorte verlegt werden sollten, nicht weitergegeben. Damit rettete man deren Leben. Und nach dem Zweiten Weltkrieg? Zunächst wurde die Schuld verdrängt. Erst ab den 1960er Jahren verbesserten sich die Verhältnisse. Längere Zeit bestanden die alten Verhältnisse weiter: „Autoritäre[r] Mentalität, Ausbeutung der Pflegebefohlenen und Arbeitserziehung als Königsweg christlich verbrämter Menschwerdung“ (189). Uwe Kaminsky hat ein deprimierendes Stück christlicher Geschichte recherchiert und dargestellt. Er stützt seine Aussagen auf umfangreiche, sorgfältigste Quellenstudien. Die vorhandene Sekundärliteratur hat er gründlich ausgewertet. Besonders ergreifend sind Einzelfälle, die er schildert. Zu fragen ist freilich, was die hier vorgelegten Ergebnisse in einem größeren Rahmen bedeuten. Diese Frage gilt es in den nächsten Jahren gründlich zu diskutieren. Denn nur auf diese Weise kann man ersehen, ob die von Uwe Kaminsky erforschten Duisburger Verhältnisse ein Einzelfall waren oder typisch für eine ganze Epoche in der Geschichte von Diakonenanstalten. In jedem Fall sei die Lektüre dieses Buches allen empfohlen, die heute in entsprechenden Einrichtungen ihren Dienst versehen. Hartmut Lehmann
Kiel
Inga Bing-von Häfen u. Nadja Klinger: Du bist und bleibst im Regen. Heimerziehung in der Diakonie in den 50er und 60er Jahren in Oberschwaben. Berlin: Wichern 2014. – 239 S.; Abb. Inga Bing-von Häfen und Nadja Klinger haben eine Geschichte erforscht, die die Leser in Schrecken versetzt und in Traurigkeit zurücklässt. Die Kinder, die in den ersten Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg vom Landesverband der Inneren Mission in Württemberg in Heimen in Oberschwaben 302
untergebracht wurden, hatten ein schweres, ein schlimmes Schicksal zu ertragen. Prügelstrafen waren an der Tagesordnung: Regelmäßig Ohrfeigen, häufig mit einem Rohrstock, seltener mit einer „Klopfpeitsche“, das heißt mit geflochtenen Lederriemen, angebracht an einem kurzen Holzstock. Erziehungsziele waren Ordnung und Disziplin, nicht etwa Fürsorge und Mitgefühl für die Kinder, die in aller Regel aus schwierigen familiären Situationen kamen. Viele der Erzieher hatten keine Ausbildung. Sie waren, wie Beispiele zeigen, hoffnungslos überfordert. Sie wurden meist ohne eine entsprechende Anleitung eingestellt und passten sich mit wenigen Ausnahmen dem Klima der alltäglichen Gewalt an, das in den Häusern herrschte und das in fast allen Fällen von den Heimleitern nicht nur gebilligt, sondern ausdrücklich gefördert wurde. Dazu kam verschiedentlich schwerer sexueller Missbrauch durch die Erzieher, der nur zum Teil aufgeklärt wurde (entsprechend dünn sind die einschlägigen Aktenbestände). Erst in den 1970er und 1980er Jahren verbesserten sich die Verhältnisse allmählich, so die beiden engagierten Autorinnen. Untersucht wurden vier Heime: das Heilerziehungsheim in Wilhelmsdorf bei Ravensburg, das Martinshaus in Altshausen, das Martinshaus Kleintobel im Dorf Berg bei Ravensburg und das Waisenhaus in Eglofstal bei Isny. Diese Einrichtungen waren damals selbständig, sind inzwischen aber Teil der in Wilhelmsdorf beheimateten Zieglerschen Anstalten. Es ist deshalb passend, dass die vorliegende Untersuchung von den Zieglerschen Anstalten unterstützt wurde und dass deren Direktor ein Nachwort verfasste. Die beiden Autorinnen stützen ihre Aussagen auf umfangreiche Recherchen im Landeskirchlichen Archiv in Stuttgart. Sehr geschickt haben sie zwei unterschiedliche Formen für ihre Darstellung gewählt: Zum einen ist ihr Band gegliedert in Kapitel, in denen sie die Zusammenhänge und Hintergründe der Heimerziehung schildern, zum anderen in Berichte, in denen ehemalige Heimkinder und ehemalige Erzieher in diesen Heimen zu Wort kommen. Die auf Akten gestützten Analysen erhalten dadurch eine persönliche und in allen Fällen menschlich bewegende Note. Für die Leser von „Pietismus und Neuzeit“ stellt sich die Frage, was dieses Thema mit dem Forschungsfeld zu tun hat, für das sie sich interessieren. Inga Bing-von Häfen und Nadja Klinger stellen im einleitenden Kapitel klar, dass die von ihnen untersuchten Heime in der Tradition der Rettungsanstalten des 19. Jahrhunderts und damit auch der christlichen Rettungshauspädagogik standen. In allen Heimen wurde auch nach 1945 täglich gebetet. Der wöchentliche Kirchgang erfolgte in einer militärisch geordneten Form. Auch an den Wochentagen wurde die strenge Disziplin durch christliche Gebote legitimiert. Gebet und Kirchgang wurden, wie Beispiele zeigen, von den Kindern als Zwang empfunden – mit dem Ergebnis, dass einige von ihnen, soweit das möglich war, sich vehement von allem Christlichen abwandten. Die Verhältnisse in Rettungsanstalten des 19. Jahrhunderts werden von den beiden Autorinnen nicht geschildert, und ebenso wenig erfahren wir, ob es irgendwelche Erziehungstraditionen in Häusern dieser Art gab, die vom 19. Jahr303
hundert bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts reichten. Warum wurde in solchen Einrichtungen das elterliche Erziehungsrecht, das Prügelstrafen ohne weitere Nachfrage mit einschloss, selbstverständlich ausgeübt? Wurde es gar in spezifischer Weise verschärft, weil das Element der elterlichen Liebe fehlte, das Strafen bei eigenen Kindern zumindest gelegentlich milderte? Wie stand es mit der Anwendung der Prügelstrafe in den Franckeschen Stiftungen, dem Vorbild für die späteren Rettungsanstalten? Anders gefragt: Sind die Gewaltexzesse, von denen in diesem Band berichtet wird, Ergebnis der besonderen Verrohung und der allgemeinen Not, die in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg herrschten, auch des damaligen Mangels an geeigneten und gut ausgebildeten Erziehern und damit zu sehen als böses Erbe der beiden Weltkriege und der von Gewalt gekennzeichneten Naziherrschaft, oder sind Inga Bing-von Häfen und Nadja Klinger auf ein Thema gestoßen, das im weiteren Sinne zur Geschichte des Pietismus gehört und dessen weitere Erforschung dringend geboten ist? Zu wenig erfahren wir über das Schicksal der Kinder. In einigen Fällen werden die Verhältnisse geschildert, aus denen sie kamen. Wir bekommen dagegen nur einige wenige Hinweise über ihren weiteren Lebensweg. Ebenso wüsste man gerne mehr über den Hintergrund und den weiteren Lebensweg der Erzieher, vor allem der Heimeltern. Warum benahmen sie sich so, wie sie es taten? Warum waren Gewalt und militärischer Drill die ultima ratio ihrer Erziehungsprinzipien? Es ist mir klar, dass es außerordentlich schwierig gewesen wäre, diese Fragen umfassend zu recherchieren und angemessen zu beurteilen. Trotzdem fragt man sich als Leser, wie desaströs eine solche von Gewalt bestimmte und zugleich christlich überformte Erziehung tatsächlich war. Wir erfahren, wie sehr die Kinder litten. Das ist die kurzfristige Perspektive. Aber wie waren die langfristigen Folgen? An dieser Stelle ist auf das Nachwort von Harald Rau, dem Vorstandsvorsitzenden der Zieglerschen Anstalten, zu verweisen. Mit bemerkenswerter Klarheit distanziert er sich von den Verhältnissen, die in den jetzt in seiner Verantwortung stehenden Heimen in den Nachkriegsjahren herrschten. Nachdrücklich fordert er weitere Klärungen und bekennt sich zu einer neuen, kindgemäßen pädagogischen Linie. Seinem Dank an die beiden Autorinnen kann ich mich als Leser uneingeschränkt anschließen. Hartmut Lehmann
304
Kiel
BIBLIOGRAPHIE
CHRISTIAN SOBOTH UND OLIVER SEIDE
Pietismus-Bibliographie unter Mitarbeit von: Brigitte Klosterberg (Halle/Saale) und Claudia Mai (Herrnhut)
Anschrift für Bibliographie- und Rezensionsteil des Jahrbuchs: Prof. Dr. Udo Sträter, c/o Interdisziplinäres Zentrum für Pietismusforschung der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Franckeplatz 1, Haus 24, 06110 Halle a. d. Saale
Gliederung der Bibliographie: I. Allgemeines I.01 I.02 I.03
Bibliographien, Forschungsberichte Sammelwerke, Festschriften Gesamtdarstellungen, Gesamtwürdigungen
II. Vorgeschichte, begleitende Strömungen III. Deutschland III.01 III.02 III.03 III.04 III.05 III.06 III.07 III.08 III.09 III.10 III.11
Frömmigkeitsbewegung seit Johann Arndt Philipp Jakob Spener August Hermann Francke und der hallische Pietismus Radikaler Pietismus Reformierter Pietismus Zinzendorf und die Herrnhuter Brüdergemeine Württembergischer Pietismus Regionalgeschichte Orthodoxie und Aufklärung in ihren Beziehungen zum Pietismus Übergang zur Erweckungsbewegung Strömungen und Entwicklungen nach 1830
IV. Andere Länder IV.01 IV.02 IV.03 IV.04 IV.05 IV.06 IV.07
England und Schottland Niederlande Schweiz Skandinavien Nordamerika Östliches Mitteleuropa, Osteuropa, Südosteuropa Sonstige
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V. Übergreifende Themen V.01 V.02 V.03 V.04 V.05 V.06 V.07 V.08 V.09
Theologie und Frömmigkeit Sozial- und Staatslehre, Pädagogik Ökumene, Mission und Diakonie Philosophie, Literatur, Kunst, Architektur und Musik Medizin, Naturwissenschaften und Psychologie Ökonomie, Industrialisierung Buch-, Bibliotheks- und Verlagsgeschichte, Medien und Kommunikation Gender Geschichtsbewusstsein und -konstruktion
Es gelten die Abkürzungen des Abkürzungsverzeichnisses der TRE. Im Folgenden bedeutet: ABQ AGP AHR AKG ARG ARPs ASKG ASNS ASSR BHTh BLT BPfKG BSHPF BSHST BWKG ChH ChM CrSt CScR CTQ CV DeP DNR DtPfrBl EMKG.M EnglSt ERT ETR EvQ EvTh FBPG FiHi
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American Baptist Quarterly Arbeiten zur Geschichte des Pietismus American Historical Review Arbeiten zur Kirchengeschichte Archiv für Reformationsgeschichte Archiv für Religionspsychologie Archiv für schlesische Kirchengeschichte Archiv für das Studium der neueren Sprachen Archives de sciences sociales des religions Beiträge zur historischen Theologie Brethren life and thought Blätter für pfälzische Kirchengeschichte und religiöse Volkskunde Bulletin de la Société de l’Histoire du Protestantisme Français Basler und Berner Studien zur historischen und systematischen Theologie Blätter für Württembergische Kirchengeschichte Church history Churchman Cristianesimo nella storia Christian scholar’s review Concordia Theological Quarterly Communio viatorum Doctrina et Pietas Documentatieblad Nadere Reformatie Deutsches Pfarrerblatt Evangelisch-methodistische Kirche Geschichte. Monographien English studies Evangelical review of theology Études théologiques et religieuses The Evangelical quarterly Evangelische Theologie Forschungen zur brandenburgischen und preußischen Geschichte Fides et historia
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PH PosLuth PuN PWS QBGHM QSt QuHi Ref. RestQ RExp RGG RHE RHPhR RHR RKZ RoJKG RSLR SCJ SDLKG SKGNS SVRKG SVSHKG ThBeitr ThFPr ThLZ ThR ThRv ThRef ThZ TJT TRE TrSt TrZ.B TThZ TynB UnFr VDWI VMPIG WeZ WThJ WTJ WuD ZBKG ZfG ZGO ZHF ZKG
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Paedagogica historica Positions Luthériennes Pietismus und Neuzeit Pietist and Wesleyan studies Quellen und Beiträge zur Geschichte der Hermannsburger Mission Quaderni storici Quaker History Reformatio Restoration quarterly Review and expositor Religion in Geschichte und Gegenwart Revue d’histoire ecclésiastique Revue d’histoire et de philosophie religieuses Revue de l’histoire des religions Reformierte Kirchenzeitung Rottenburger Jahrbuch für Kirchengeschichte Rivista di storia e letteratura religiosa The Sixteenth century journal Studien zur deutschen Landeskirchengeschichte Studien zur Kirchengeschichte Niedersachsens Schriftenreihe des Vereins für Rheinische Kirchengeschichte Schriften des Vereins für Schleswig-Holsteinische Kirchengeschichte Theologische Beiträge Theologie für die Praxis Theologische Literaturzeitung Theologische Rundschau Theologische Revue Theologia reformata Theologische Zeitung Toronto journal of theology Theologische Realenzyklopädie Trinity studies. Trinity Evangelical Divinity School Trierer Zeitschrift für Geschichte und Kunst des Trierer Landes . . . Beiheft Trierer theologische Zeitschrift Tyndale bulletin Unitas Fratrum Veröffentlichungen des Diakoniewissenschaftlichen Instituts Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte Wereld en Zending Westminster Theological Journal Wesleyan Theological Journal Wort und Dienst. Jahrbuch der Kirchlichen Hochschule Bethel Zeitschrift für bayerische Kirchengeschichte Zeitschrift für Geschichtswissenschaft Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins Zeitschrift für Historische Forschung Zeitschrift für Kirchengeschichte
ZMiss ZNThG ZPT ZRGG ZSKG ZSRG.K ZThK Zwing. ZWLG
Zeitschrift für Mission Zeitschrift für neuere Theologiegeschichte Zeitschrift für Pädagogik und Theologie Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte Zeitschrift für schweizerische Kirchengeschichte Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte. Kanonistische Abteilung Zeitschrift für Theologie und Kirche Zwingliana. Zürich Zeitschrift für württembergische Landesgeschichte
I. Allgemeines I.01 Bibliographien, Forschungsberichte 1. Brecht, Martin: Umgeben und berührt von Geschichte. Stationen auf meinem Lebensweg. Stuttgart: Verein für Württembergische Kirchengeschichte 2015. – 243 S. 2. Klosterberg, Brigitte: Francke-Portal. Werkstattbericht über ein DFG- Projekt am Studienzentrum August Hermann Francke. In: PuN 40 [s. Nr. 18], 202–213. 3. Mai, Claudia: Bibliographische Übersicht der Neuerscheinungen über die Brüdergemeine. In: UnFr 71/72, 2014, 216–233. 4. Dies.: Tracing the Footsteps of the Fathers: The History of the Acta Unitatis Fratrum. In: Journal of Moravian History 15, 1, 2015, 29–43. 5. Soboth, Christian u. Oliver Seide: Pietismus-Bibliographie. In: PuN 40 [s. Nr. 18], 305–326. 6. Weyer-Menkhoff, Martin: Die Werke Friedrich Christoph Oetingers. Chronologisch-systematische Bibliographie 1707–2014. Berlin [u. a.]: de Gruyter 2015. – 454 S.
I.02 Sammelwerke, Festschriften 7. 500 Jahre Reformation: Bedeutung und Herausforderungen. Internationaler Kongress der EKD und des SEK auf dem Weg zum Reformationsjubiläum 2017 vom 6. bis 10. Oktober 2013 in Zürich. Hg. v. Petra Bosse-Huber [u. a.]. Zürich: TVZ, Theol. Verl., Leipzig : Evang. Verl.-Anst. 2014. – 385 S. – [enth. Nr. 28, 36] 8. A companion to German pietism, 1660 – 1800. Hg. v. Douglas H. Shantz. Leiden [u. a.]: Brill 2015. – 571 S. – [enth. Nr. 61, 63, 98 f., 101, 132, 146, 161, 173, 181, 184, 196, 213–215, 219] 9. Armut und Armenfürsorge: Protestantische Perspektiven. Hg. v. Ralf Koerrenz. Paderborn: Schöningh 2014. – 134 S. – [enth. Nr. 182, 187] 10. Beyond Tranquebar: Grappling across cultural borders in South India. Hg. v. Esther Fihl. Hyderabad: Orient Black Swan 2014. – 625 S. – [enth. Nr. 179 f., 188, 191 f.]
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11. Die Universität Tübingen zwischen Orthodoxie, Pietismus und Aufklärung. Hg. v. Ulrich Köpf. Ostfildern: Jan Thorbecke Verlag 2014. – 439 S. – [enth. Nr. 97, 100, 109, 206 f.] 12. Fromme Lektüre und kritische Exegese im langen 19. Jahrhundert. Hg. v. Michaela Sohn-Kronthaler u. Ruth Albrecht. Stuttgart: Kohlhammer 2014. – 398 S. – [enth. Nr. 117, 160, 218] 13. Gender im Pietismus. Netzwerke und Geschlechterkonstruktionen. Hg. v. Pia Schmid [u. a.]. Halle/Saale: Verl. der Franckeschen Stiftungen 2015 (Hallesche Forschungen, 40). – 294 S. – [enth. Nr. 78, 80, 94, 163, 190, 201, 217, 220, 222– 227] 14. Kinship, community, and self: Essays in honor of David Warren Sabean. Hg. v. Jason Coy. New York [u. a.]: Berghahn Books 2015. – 290 S. – [enth. Nr. 85, 212] 15. London und das Hallesche Waisenhaus. Eine Kommunikationsgeschichte im 18. Jahrhundert. Hg. v. Holger Zaunstöck [u. a.]. Halle/Saale: Verl. der Franckeschen Stiftungen 2014 (Hallesche Forschungen, 39). – 182 S. – [enth. Nr. 35, 52, 59, 123, 125–127, 129, 151, 171] 16. Lutherland Sachsen-Anhalt. Hg. v. Franz Kadell u. Mathias Tullner. Halle/Saale: Mitteldt. Verl. 2015. – 384 S. – [enth. Nr. 32, 34, 54, 209] 17. Mit göttlicher Güte geadelt: Adel und Hallescher Pietismus im Spiegel der fürstlichen Sammlungen Stolberg-Wernigerode. Hg. v. Claus Veltmann [u. a.]. Halle/ Saale: Verl. der Franckeschen Stiftungen 2014 (Kataloge der Franckeschen Stiftungen, 31). – 159 S. – [enth. Nr. 89, 95 f., 145, 166, 170, 175] 18. Pietismus und Neuzeit. Jahrbuch zur Geschichte des neueren Protestantismus. Bd. 40. Im Auftrag der Historischen Kommission zur Erforschung des Pietismus hg. v. Udo Sträter [u. a.]. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2014. – 339 S. – [enth. Nr. 2, 5, 38, 55, 84, 124, 185, 197, 208, 216] 19. Reformation heute. Bd. 1: Protestantische Bildungsakzente. Hg. v. Christopher Spehr. Leipzig: Evang. Verl.-Anst. 2014. – 216 S. – [enth. Nr. 168, 176] 20. Religion, Macht, Politik: Hofgeistlichkeit im Europa der Frühen Neuzeit (1500– 1800). Hg. v. Matthias Meinhardt [u. a.]. Wiesbaden: Harrassowitz 2014. – 472 S. – [enth. Nr. 33, 81, 90, 92, 228] 21. The Pietist vision of Christian higher education: Forming whole and holy persons. Hg. v. Christopher Gehrz. Downers Grove: InterVarsity Press 2015. – 236 S. – [enth. Nr. 165, 169, 174] 22. Umwelten: Ereignisse, Räume und Erfahrungen der Frühen Neuzeit. Hg. v. Sven Petersen [u. a.]. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2015. – 416 S. – [enth. Nr. 29, 49, 162] 23. Die Humboldt-Brüder, Halle und der Pietismus. Hg. v. d. Humboldt-Gesellschaft für Wissenschaft, Kunst und Bildung e.V. Roßdorf: TZ-Verl. 2014. – 151 S. – [enth. Nr. 50, 104, 172] 24. Johann Heinrich Jung-Stilling (1740–1817), „Patriarch der Erweckung“. Beiträge aus 26 Jahren Jung-Stilling-Forschung. Hg. v. Gerhard Schwinge. Heidelberg [u. a.]: Verl. Regionalkultur 2014. – 301 S. – [enth. Nr. 114 f.] 25. The Oxford handbook of Martin Luther’s theology. Hg. v. Robert Kolb. Oxford [u. a.]: Oxford Univ. Press 2014. – 662 S. – [enth. Nr. 42, 105]
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I.03 Gesamtdarstellungen, Gesamtwürdigungen 26. Albrecht, Ruth: „We kiss our dearest Redeemer through inward prayer“. Mystical Traditions in Pietism. In: The Wiley-Blackwell Companion to Christian Mysticism. Hg. v. Julia A. Lamm. Malden, MA [u. a.]: Wiley-Blackwell 2013, 473– 488. 27. Grabner-Haider, Anton [u. a.]: Kulturgeschichte des 19. Jahrhunderts. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2015. – 272 S. 28. Hirzel, Martin Ernst: Der Pietismus als zweite Reformation? Das Motto „Ecclesia reformata semper reformanda“ als pietistisches Leitprinzip. In: 500 Jahre Reformation [s. Nr. 7], 197–207. 29. Lehmann, Hartmut: Die Mitte des 18. Jahrhunderts als Wendepunkt der transatlantischen Geschichte. In: Umwelten [s. Nr. 22], 313–329. 30. Olson, Roger E. u. Christian T. Collins Winn: Reclaiming pietism: Retrieving an evangelical tradition. Grand Rapids, Mich. [u. a.]: Eerdmans 2015. – 190 S. 31. Sträter, Udo: Pietismus. In: Handbuch Europäische Aufklärung: Begriffe – Konzepte – Wirkung. Hg. v. Heinz Thoma. Stuttgart [u. a.]: Metzler 2015, 395–406.
II. Vorgeschichte 32. Lück, Heiner: Die Universität Wittenberg – geistiger Ausgangspunkt der lutherischen Reformation. In: Lutherland Sachsen-Anhalt [s. Nr. 16], 55–80. 33. Schorn-Schütte, Luise: Umstrittene Theologen. Die Rolle der Hofprediger zwischen Herrscherkritik und Seelsorge im Europa des 16. und 17. Jahrhunderts. In: Religion, Macht, Politik [s. Nr. 20], 27–48. 34. Tullner, Mathias: Sachsen-Anhalt, Ursprungsland der Reformation: Konflikte, Tendenzen, Impulse. In: Lutherland Sachsen-Anhalt [s. Nr. 16], 9–54. 35. van de Kamp, Jan: Das Vorfeld der England-Halle-Kontakte. Theologische und religiöse Austauschprozesse zwischen England und Deutschland im 16. und 17. Jahrhundert. In: London und das Hallesche Waisenhaus [s. Nr. 15], 49–64. 36. Williams, Rowan: Das Erbe der Reformation. In: 500 Jahre Reformation [s. Nr. 7], 55–67. 37. Arndt, Johann: Ikonographia: (1597). Hg. v. Johann Anselm Steiger. Hildesheim [u. a.]: Olms 2014. – 231 S. 38. Axmacher, Elke: Johann Arndts Himmelfahrtspredigt nach Johannes Tauler. In: PuN 40 [s. Nr. 18], 123–133. 39. Bergengruen, Maximilian: Physische Kur mit den Mitteln frühneuzeitlicher Mystik: Novalis’ „Monolog“ als Dialog mit Jakob Böhme. In: Athenäum 24, 2014, 201–222. 40. Urbáne, Vladimír: Comenius, the Unity of Brethren, and Correspondence Networks. In: Journal of Moravian History 14, 1, 2014, 30–50. 41. Meyer, Dietrich: Jan Hus und der Pietismus. In: Jan Hus – 600 Jahre Erste Reformation. Hg. v. Andrea Strübind u. Tobias Weger. München: de Gruyter 2015, 107–131.
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42. Dingel, Irene: Luther’s Authority in the late Reformation and Protestant Orthodoxy. In: The Oxford handbook of Martin Luther’s theology [s. Nr. 25], 525– 539.
III. Deutschland III.01 Frömmigkeitsbewegung seit Johann Arndt 43. Alt, Peter-André: Karthographie der Initiation: Hermetische Räume in Johann Valentin Andreaes „Fama Fraternitatis“, „Confesssio Fraternitatis“ und „Chymische Hochzeit“ (1614–1616). In: Die Erschließung des Raumes: Konstruktion, Imagination und Darstellung von Räumen und Grenzen im Barockzeitalter. Hg. v. Karin Friedrich. Wiesbaden: Harrassowitz 2014, 399–422. 44. Rominger, Walter: Umfassend interessiert und gebildet: Der Theologe, Reformer und Schriftsteller Johann Valentin Andreae: wichtiger Vertreter der ReformOrthodoxie und geistiger Vater des Pietismus. In: Lutherische Beiträge, 19, 2014, 4, 207–230.
III.02 Philipp Jakob Spener 45. Blaufuß, Dietrich: Pietismus und Adel: Wieder aufgefundene Briefe Philipp Jakob Speners an Christine von Stolberg-Gedern 1683–1700. [Online Ressource unter: http://www.forschungen-engi.ch/mitarbeiter/pietismus_und_adel.pdf]. – 14 S. 46. Brüning, Djonata: Esperança pela santificação da Igreja: uma breve análise da compreensão de „santificação“ na obra „Pia desideria“ de Philipp Jacob Spener. In: Vox scripturae 21, 2013, 1, 179–196.
III.03 August Hermann Francke und der hallische Pietismus 47. Bätzner, Nike: Ein pietistisches Kuriositätenkabinett: Die Wunderkammer der Franckeschen Stiftungen in Halle. In: Gegenwelten: ein Forschungs- und Ausstellungsprojekt der Stiftung Universität Hildesheim und der Universität Innsbruck in Zusammenarbeit mit dem Roemer- und Pelizaeus-Museum Hildesheim und Schloss Ambras Innsbruck. Hg. v. Christoph Bertsch u. Viola Vahrson. Innsbruck [u. a.]: Haymon 2014, 264–276. 48. Beims, Klaus-Dieter: Antike Texte an christlichen Schulen. Die römischen Autoren im Lateinunterricht des Halleschen Pietismus. Halle/Saale: Verl. der Franckeschen Stiftungen, 2015 (Hallesche Forschungen, 41). – 482 S. 49. Fischer, Ole: „Die Allerwenigsten essen was Leben hat“. Fleischkonsum im Hallischen Pietismus. In: Umwelten [s. Nr. 22], 183–200. 50. Lippold, Friederike: Bewahren und weitergeben. Die Franckeschen Stiftungen zu Halle – ein Bildungskosmos mit 300-jähriger Tradition. In: Die Humboldt-Brüder, Halle und der Pietismus [s. Nr. 23], 85–93. 51. Whitmer, Kelly Joan: The Halle Orphanage as Scientific Community: Observation, Eclecticism, and Pietism in the Early Enlightenment. Chicago: University of Chicago Press 2015. – 213 S.
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52. Zaunstöck, Holger: London und das Hallesche Waisenhaus. Einleitende Bemerkungen. In: London und das Hallesche Waisenhaus [s. Nr. 15], 1–22. 53. Francke, August Hermann: Tagebuch 1714. Hg. v. Veronika Albrecht-Birkner u. Udo Sträter in Zus.arb. mit Carola Wessel (†) und Viktoria Franke. Halle/Saale: Verl. der Franckeschen Stiftungen 2014. – 252 S. 54. Müller-Bahlke, Thomas: Francke in den Fußstapfen Luthers. Die Fortsetzung reformatorischer Anliegen im Halleschen Pietismus. In: Lutherland SachsenAnhalt [s. Nr. 16], 249–275. 55. Schmitt-Maaß, Christoph: Die Privatbibliothek von August Hermann und Gotthilf August Francke. In: PuN 40 [s. Nr. 18], 214–234. 56. Täubner, Tanja: „Zum andern soltu meditirn“. Die Meditationspraktiken in der Pädagogik August Hermann Franckes. Halle/Saale: Verl. der Franckeschen Stiftungen 2014 (Hallesche Forschungen, 38). – 198 S. 57. Rambach, Johann Jakob: Erbauliches Handbüchlein für Kinder (1734). Hg. v. Stefanie Pfister u. Malte van Spankeren. Leipzig: Evang. Verl.-Anst. 2014. – 246 S. 58. Fischer, Ole: Macht und Ohnmacht des frommen Mannes: Religion und Männlichkeit in der Biographie Adam Struensees (1708–1791). Halle/Saale: MDV 2014. – 446 S. 59. Gröschl, Jürgen: „Ach ich küße seine zitternde Hände im Geist“. Der Teilnachlass Friedrich Michael Ziegenhagens im Archiv der Franckeschen Stiftungen. In: London und das Hallesche Waisenhaus [s. Nr. 15], 155–160.
III.04 Radikaler Pietismus 60. Fritz, Eberhard: „Schmierkäs“ und „Streichpflaster“: die Ablehnung der Sakramente im württembergischen Radikalpietismus. In: BWKG 114, 2014, 37–51. 61. Mori, Ryoko: The Conventicle Piety of the Radicals. In: A Companion to German Pietism, 1660–1800 [s. Nr. 8], 201–224. 62. Petterson, Christina: Männlichkeit im Radikal-Pietismus des 18. Jahrhunderts. In: Männlichkeit und Reproduktion. Zum gesellschaftlichen Ort historischer und aktueller Männlichkeitsproduktionen. Hg. v. Andreas Heilmann u. Cornelia Behnke. Wiesbaden: Springer VS 2015, 251–271. 63. Schlachta, Astrid: Anabaptists and Pietists: Influences, contacts, and relations. In: A Companion to German Pietism, 1660–1800 [s. Nr. 8], 116–138. 64. Burkardt, Johannes: Berleburg – Mühlhausen – Bielefeld – Hamburg: eine Reise des Radikalpietisten Victor Christoph Tuchtfeld im Jahr 1733. In: JWKG 110, 2014, 73–90.
III.05 Reformierter Pietismus 65. Hübner, Thomas u. Eike Pies: Jacob Engelbert Teschemacher (1711–1782). Der Biograph Tersteegens und Orgelbauer. Eine Darstellung von Glaube und Gabe – Wort und Werk, mit einer Edition seiner Briefe und seiner Lebensbeschreibung Tersteegens sowie der erstmaligen Würdigung von Johann Peter Brögelmanns „Gespräch im Reich der Todten“. Rheinbach: CMZ 2014. – 682 S.
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III.06 Zinzendorf und die Herrnhuter Brüdergemeine 66. Jefcoate, Graham: Londoner Drucke für und wider die Herrnhuter, ca. 1749– 1760. In: Deutsche Drucker und Buchhändler in London 1680–1811. Strukturen und Bedeutung des deutschen Anteils am englischen Buchhandel. Hg. v. dems. Berlin [u. a.]: de Gruyter 2015, 233–259. 67. Peucker, Paul: A Time of Sifting: Mystical Marriage and the Crisis of Moravian Piety in the Eighteenth Century. University Park, Pa.: Penn State University Press 2015. – 264 S. 68. Sommer, Elisabeth W.: Serving Two Masters: Moravian Brethren in Germany and North Carolina, 1727–1801. Lexington: The University Press of Kentucky 2015. – 254 S. 69. Vogt, Peter: Herrnhuter Gemeindegesang im 18. Jahrhundert. Klangideal und Klangerfahrungen im Zeugnis zeitgenössischer Quellen. In: UnFr 71/72, 2014, 168–197. 70. Herrnhuter in Behnesse: die Diarien von Cornelius Claussen (1782–1783), Gottlob August Roller (1775–1777) und Georg Winiger (1775–1782). Hg. v. Martin Tamcke u. Katja Weiland. Würzburg: Ergon-Verl. 2014. – 237 S. 71. Langer, Robert: Eine sächsische Gelehrte: Ermahnungen zu einem tugendhaften Leben in Bildungsbriefen der Henriette Catharina von Gersdorff. Dresden: KWBVerl. 2013. – 332 S. 72. Lebensbilder aus der Brüdergemeine. Bd. 2. Hg. v. Dietrich Meyer. Herrnhut: Herrnhuter Verl. 2014. – 526 S. 73. Ehinger, Siglind: German Pietists between the Ancient Unity of Brethren and the Moravian Church: the case of Württemberg Pastor Georg Konrad Rieger (1687– 1743) and his History of the Bohemian Brethren. In: Journal of Moravian History 14, 1, 2014, 51–72. 74. Teufel, Aini: Eine Gräfin auf Pilgerschaft. Erdmuth Dorothea von Zinzendorf in ihren Reisetagebüchern. Dresden: KWB-Verl. 2014. – 296 S. 75. Dellsperger, Rudolf: Droiture, simplicité (de coeur) und bon sens bei Beat Ludwig von Muralt und Nikolaus Ludwig von Zinzendorf. In: UnFr 71/72, 2014, 19– 30. 76. Dose, Kai: „Salz für die Schäfgen und Lämmgen: aus dem Felsen gehauen“ von Johannes von Watteville oder: „Theologia positiva in nuce“ des Grafen Zinzendorf. In: UnFr 71/72, 2014, 31–76. 77. Teigeler, Otto: Zinzendorf und der „Moscowitische Tropus“. In: UnFr 71/72, 2014, 137–165. 78. Vogt, Peter: Christologie und Gender bei Zinzendorf. In: Gender im Pietismus [s. Nr. 13], 63–92. 79. Quack, Jürgen: Von hochmütigen Pfaffen und einer Obrigkeit, die ihr Amt missbraucht. Seitenhiebe Zinzendorfs in den Summarien zur Ebersdorfer Bibel (1726/ 27). In: UnFr 71/72, 2014, 111–132. 80. Taylor, Michael Thomas: Queer Moravians? Sexual Heterodoxy and the Historiography of Zinzendorf’s Ehereligion. In: Gender im Pietismus [s. Nr. 13], 93– 116.
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III.07 Württembergischer Pietismus 81. Schöllkopf, Wolfgang: Hofprediger in den Spannungsfeldern des Herzogtums Württemberg im 17. und 18. Jahrhundert. In: Religion, Macht, Politik [s. Nr. 20], 85–104. 82. Schnurr, Jan Carsten: Das Geschichtsbewusstsein der württembergischen Erweckungsbewegung im Vormärz. In: BWKG 113, 2013, 315–329. 83. Schwarz, Karl: Maria Dorothea (1797–1855) – eine württembergische Pietistin in Ungarn. In: Von Leonhard Stöckel bis Ruprecht Steinacker. Biographische Perspektiven der Protestantismusgeschichte im Karpatenbogen. Hg. v. dems. Berlin: Weidler 2014, 99–110. 84. Brecht, Martin: Bibelauslegung bei Friedrich Christoph Oetinger nach seinem Biblischen und Emblematischen Wörterbuch. In: PuN 40 [s. Nr. 18], 48–63.
III.08 Regionalgeschichte 85. Bernet, Claus: Pietismus im Bergischen Land. In: Geschichte des Bergischen Landes. Bis zum Ende des alten Herzogtums 1806. Hg. v. Stefan Gorißen. Bielefeld: Verlag für Religionsgeschichte 2014, 663–680. 86. Coy, Jason: Divination and Community in early modern Thuringia. In: Kinship, community, and self [s. Nr. 14], 99–110. 87. Hindelang, Regina Apollonia: Das Waisenhaus in Ansbach: Eine pietistische Gründung nach dem Vorbild von Halle. In: Jahrbuch für fränkische Landesforschung 73, 2014, 175–196. 88. Metz, Brigitte: Der Weg der Pommerschen Kirche von Pietismus und Erweckungsbewegung zur Bekennenden Kirche. In: Geschichte Pommerns im Überblick. Hg. v. Joachim Wächter. Greifswald: Sardellus Verl.-Ges. 2014, 99–110. 89. Müller-Bahlke, Thomas: „Weil Halle auch in dieser Gegend einigen gefährlich und verdächtig vorkommt“: Das Zusammenwirken von Adel und Pietismus bei der Gründung der Gnadenkirche in Teschen. In: Mit göttlicher Güte geadelt [s. Nr. 17], 70–87. 90. Shantz, Douglas H.: Pietist court preachers and the Wetterau counts: Court piety and policy in Offenbach and Berleburg. In: Religion, Macht, Politik [s. Nr. 20], 67–83. 91. Wirkungen des Pietismus im Fürstentum Wolfenbüttel: Studien und Quellen. Hg. v. Wolfgang Miersemann u. Dieter Merzbacher. Wiesbaden: Harrassowitz 2015. – 648 S. 92. Faust, Alexandra: Handlungsspielräume lutherischer Hofprediger um 1700. Eberhard Finen und die Konversion Herzog Anton Ulrichs von Braunschweig-Wolfenbüttel. In: Religion, Macht, Politik [s. Nr. 20], 341–358. 93. Górska, Liliana: Samuel Schelwig als Gegner pietistischer Tendenzen im Danzig des 17./18. Jahrhunderts. In: Westpreußen-Jahrbuch 64, 2014, 57–66. 94. Lißmann, Katja: Das „bündlein der Lebendigen“: Die Netzwerkarbeit Sophia Maria von Stammers im Quedlinburger frühen Pietismus zwischen adliger Repräsentation und schriftlicher Subjektkonstitution (1692–1705). In: Gender im Pietismus [s. Nr. 13], 117–140.
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95. Grunewald, Thomas: „Vergnügte Einsamkeit, Verborgenes stilles Leben“: Christian Ernst zu Stolberg-Wernigerode und das Damenstift zu Drübeck. In: Mit göttlicher Güte geadelt [s. Nr. 17], 50–53. 96. Säck, Mareike: Christian Ernst und Sophie Charlotte zu Stolberg-Wernigerode als Begründer eines herrschaftlichen Pietismus in ihrer Grafschaft. In: Mit göttlicher Güte geadelt [s. Nr. 17], 38–49.
III.09 Orthodoxie und Aufklärung in ihren Beziehungen zum Pietismus 97. Dillinger, Marianne: Die letzten Hexenprozesse in der Spruchpraxis der Juristischen Fakultät Tübingen: Neubewertung des Hexereidelikts im Spannungsfeld von Orthodoxie, Pietismus und Aufklärung? In: Die Universität Tübingen zwischen Orthodoxie, Pietismus und Aufklärung [s. Nr. 11], 233–256. 98. Gierl, Martin: Pietism, Enlightenment, and Modernity. In: A Companion to German Pietism, 1660–1800 [s. Nr. 8], 348–392. 99. Matthias, Markus: Pietism and Protestant Orthodoxy. In: A Companion to German Pietism, 1660–1800 [s. Nr. 8], 17–49. 100. Schöllkopf, Wolfgang: Studium et Praxis Pietatis: Die Stellung von Universität und Evangelischem Stift Tübingen zum Pietismus in der Zeit zwischen 1662 und 1745. In: Die Universität Tübingen zwischen Orthodoxie, Pietismus und Aufklärung [s. Nr. 11], 191–210. 101. Vogt, Peter: Connectedness in Hope: German Pietism and the Jews. In: A Companion to German Pietism, 1660–1800 [s. Nr. 8], 81–115. 102. von Mücke, Dorothea E.: The Practices of the Enlightenment. Aesthetics, Authorship, and the Public. New York: Columbia University Press 2015. – 321 S. 103. Elkar, Tim Christian: Leben und Lehre. Dogmatische Perspektiven auf lutherische Orthodoxie und Pietismus. Studien zu Gerhard, König, Spener und Freylinghausen. Frankfurt/Main [u. a.]: PL Academic Research, 2015. – 347 S. 104. von der Burg, Udo: Hallenser Köpfe – Freunde von Carl Friedrich von Dacheroeden und Wilhelm von Humboldt. In: Die Humboldt-Brüder, Halle und der Pietismus [s. Nr. 23], 27–44. 105. Hinlicky, Paul R.: The Use of Luther’s Thought in Pietism and Enlightenment. In: The Oxford handbook of Martin Luther’s theology [s. Nr. 25], 540–551. 106. Ocoleanu, Picu: Sophia Parthenos: Etica sofianică a vieţii contemplative în pietismul german şi în sofiologia ortodoxă rusă. Craiova: Editura Mitropolia Olteniei 2014. – 264 S. 107. „Er war ein Licht in Westphalen“: Johann Moritz Schwager (1738–1804). Ein westfälischer Aufklärer. Hg. v. Walter Gödden [u. a.]. Bielefeld: Aisthesis-Verl. 2013. – 470 S. 108. Miller, Derrick R.: Alexander Volck’s Anti-Moravian Polemics as Enlightenment Anxieties. In: Journal of Moravian History 14, 2, 2014, 103–118. 109. Weinhardt, Joachim: Christian Eberhard Weismann (1677–1747): Ein Tübinger Theologe zwischen Spätorthodoxie, radikalem Pietismus und Frühaufklärung. In: Die Universität Tübingen zwischen Orthodoxie, Pietismus und Aufklärung [s. Nr. 11], 91–122.
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III.10 Erweckungsbewegung 110. Kruczek-Aaron, Hadley: Everyday Religion: An Archaeology of Protestant Belief and Practice in the Nineteenth Century. Gainesville: University Press of Florida 2015. – 251 S. 111. Smith, John Howard: First Great Awakening: Redefining religion in British America, 1725–1775. Madison, NJ: Fairleigh Dickinson University Press 2015. – 364 S. 112. Hastings, W. Ross: Jonathan Edwards and the Life of God: Toward an Evangelical Theology of Participation. Lanham: Fortress Press 2015. – 542 S. 113. Strobel, Kyle C.: Jonathan Edwards’ theology: A reinterpretation. London [u. a.]: Bloomsbury 2014. – 254 S. 114. Schwinge, Gerhard: Konfession und Erweckung – der reformierte Erbauungsschriftsteller Jung-Stilling über die „Parteien der Erweckten“. In: Johann Heinrich Jung-Stilling (1740–1817), „Patriarch der Erweckung“ [s. Nr. 24], 187–197. 115. Ders.: Jung-Stillings Weg von der frommen Aufklärung zur apokalyptisch geprägten Erweckung, 1787 bis 1816. Ein Überblick mit Quellenzitaten – zugleich ein Votum in der Diskussion zu Terminologie und Periodisierung des sog. Pietismus. In: Johann Heinrich Jung-Stilling (1740 – 1817), „Patriarch der Erweckung“ [s. Nr. 24], 237–258.
III.11 Strömungen und Entwicklungen nach 1830 116. Becker, Judith: Conversio im Wandel: Basler Missionare zwischen Europa und Südindien und die Ausbildung einer Kontaktreligiosität, 1834–1860. Göttingen [u. a.]: Vandenhoeck & Ruprecht 2015. – 717 S. 117. Chilcote, Paul W.: Methodistische Frauen und die Bibel: Die Beschäftigung mit der Heiligen Schrift im 19. Jahrhundert. In: Fromme Lektüre und kritische Exegese im langen 19. Jahrhundert [s. Nr. 12], 19–32. 118. Friedberg, Theodor: Der Religionszwist zu Bacherau. Hg. v. Frank Stückemann. Bielefeld: Aisthesis-Verl. 2014 [ND der Ausg. Bielefeld: Velhagen und Klasing 1838]. – 265 S. 119. Rahn, Bodo: Friedrich Avemarie – Porträt eines deutsch-nationalen Lehrers zwischen Pietismus und Nationalsozialismus. In: Jahrbuch für evangelische Kirchengeschichte des Rheinlandes 63, 2014, 167–188. 120. Wilhelm Löhe: Theology and History – Theologie und Geschichte. Hg. v. Dietrich Blaufuß. Nürnberg: Verein für bayerische Kirchengeschichte 2014. – 349 S. 121. Albrecht, Ruth u. Solveig Nebl: Emil Meyer und der Beginn der Pfingstbewegung in Deutschland. In: Zeitschrift für Schleswig-Holsteinische Kirchengeschichte 2, 2015, 57–126. 122. Dies. u. Regina Wetjen: „Eine imposante, gewinnende Erscheinung“. Die Evangelistin Adeline Gräfin von Schimmelmann (1854–1913). In: Das 19. Jahrhundert. Hamburgische Kirchengeschichte in Aufsätzen. Teil 4. Hg. v. Inge Mager. Hamburg 2013, 377–417.
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IV. Andere Länder IV.01 England und Schottland 123. Gestrich, Andreas: Der Pietismus und die deutsch-britischen Beziehungen um 1700. In: London und das Hallesche Waisenhaus [s. Nr. 15], 23–48. 124. Kloes, Andrew: The Committee for the Relief of Distress in Germany. A Case Study of Cooperation and Solidarity between British Evangelicals and German Pietists during the Napoleonic Era. In: PuN 40 [s. Nr. 18], 163–202. 125. Schaich, Michael: Kontaktzonen. Die religiöse Topographie Londons als Handlungsraum hallischer Pietisten. In: London und das Hallesche Waisenhaus [s. Nr. 15], 87–110. 126. Whitmer, Kelly J.: Extending an experimental community: Halle and the British Royal Society c. 1700. In: London und das Hallesche Waisenhaus [s. Nr. 15], 111–120. 127. Schunka, Alexander: „An England ist uns viel gelegen.“ Heinrich Wilhelm Ludolf (1655–1712) als Wanderer zwischen den Welten. In: London und das Hallesche Waisenhaus [s. Nr. 15], 65–86. 128. A heart strangely warmed: John and Charles Wesley and their writings. Hg. v. Jonathan Dean. Norwich: Canterbury Press 2014. – 279 S. 129. Jetter-Staib, Christina: „da sie keinen Scrupel machen, mit uns in guter gemeinschaft zur beforderung des Reiches christi zu leben . . .“ Der Londoner Hofprediger Friedrich Michael Ziegenhagen (1694–1776) als Mittler zwischen Halle und England. In: London und das Hallesche Waisenhaus [s. Nr. 15], 139–154.
IV.02 Niederlande 130. Reuver, A. de: Geloof en gevoel in het Nederlandse Piëtisme van de zeventiende eeuw. In: DNR 39, 2015, 1, 1–15. 131. Selderhuis, Herman J.: Die Rezeption des Heidelberger Katechismus im niederländischen Pietismus. In: Profil und Wirkung des Heidelberger Katechismus. Hg. v. Christoph Strohm u. Jan Stievermann. [Gütersloh]: Gütersloher Verlagshaus 2015, 279–294. 132. van Lieburg, Fred: The Dutch Factor in German Pietism. In: A Companion to German Pietism, 1660–1800 [s. Nr. 8], 50–80. 133. van Sluis, J.: Cartesianisme en spinozisme in perspectief. Een besprekingsartikel. In: DNR 38, 2014, 2, 16–20. 134. Hoek, P. C.: Lieflijkheid en de lof van het Lam. Een signalement van de prediking van David Brünings (1704–1749). In: DNR 39, 2015, 1, 32–44. 135. van Valen, L. J.: Robert Fleming (1630–1694). Een Schotse migrantenpredikant in Rotterdam. In: DNR 39, 2015, 1, 45–57. 136. Huisman, F. W. u. Th. van den End: Den weg der zaligheyd in Oost en West. De echo van het catechisatieboekje van Willem Teellinck. In: DNR 38, 2014, 2, 21– 83. 137. Olde, J. de: Van liefdeslied tot kloostertwist. Imitatio in Van Lodensteyns „Begeerlijckheden des vleesches door den geest ’t onder-gebracht.“ In: DNR 38, 2014, 2, 1–15.
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138. Broeyer, F. G. M.: Gisbertus Voetius en de Gens Voetiana. In: DNR 39, 2015, 1, 58–91.
IV.03 Schweiz 139. Basler Mission: Menschen, Geschichte, Perspektiven 1815–2015. Hg. v. Christine Christ-von Wedel u. Thomas K. Kuhn. Basel: Schwabe 2015. – 243 S. 140. Martin, Lucinda: Gender and the suppression of „Anabaptist pietists“ in Bern. In: Sisters: Myth and Reality of Anabaptist, Mennonite, and Doopsgezind Women, c. 1525–1900. Hg. v. Mirjam van Veen. Leiden: BRILL 2014, 211–228. 141. Scheidegger, Christiane: Die theosophische und pietistische Literatur der Gichtelianer im Kanton Zürich. In: Zwingliana 41, 2014, 117–157. 142. „Heute war ich bey Lisette in der Visite“: Die Tagebücher der Basler Pfarrersfrau Ursula Bruckner-Eglinger, 1816–1833. Hg. v. Bernadette Hagenbuch. Basel: Schwabe 2014. – 555 S. 143. Pernet, Martin W.: Nietzsche und das „Fromme Basel“. Basel: Schwabe 2014. – 350 S.
IV.04 Skandinavien 144. Manfred Jakubowski-Tiessen: Wege in den Norden. Der hallische Pietismus in den skandinavischen Ländern des 18. Jahrhunderts. Eine Einleitung. In: Wege in den Norden: Der hallische Pietismus in den skandinavischen Ländern des 18. Jahrhunderts. Hg. v. Lars Jakob. Halle/Saale: Verl. der Franckeschen Stiftungen 2014, 9–27. 145. Ruhland, Thomas: Christian Ernst zu Stolberg-Wernigerode, Dänemark und das pietistische Adelsnetzwerk. In: Mit göttlicher Güte geadelt [s. Nr. 17], 54–69.
IV.05 Nordamerika 146. Atwood, Craig D.: German Pietism and the Origin of the Black Church in America. In: A Companion to German Pietism, 1660–1800 [s. Nr. 8], 527–555. 147. Foster, Frank Hugh: A Genetic History of New England Theology (Routledge Revivals). Hoboken: Taylor and Francis 2014. – 589 S. 148. Froese, Brian: California Mennonites. Baltimore, MD: Johns Hopkins University Press 2015. – 334 S. 149. Gordon, Scott Paul: The Paxton Boys and the Moravians: Terror and Faith in the Pennsylvania Backcountry. In: Journal of Moravian History 14, 2, 2014, 119– 152. 150. Melton, James van Horn: Religion, Community, and Slavery on the Colonial Southern Frontier. New York: Cambridge University Press 2015. – 338 S. 151. Pyrges, Alexander: Sprungbrett London: Annäherungen an die englisch-hallischen Beziehungen aus der Perspektive des Kolonialprojekts Ebenezer (1730– 1780). In: London und das Hallesche Waisenhaus [s. Nr. 15], 161–174.
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152. Ders.: Das Kolonialprojekt EbenEzer: Formen und Mechanismen protestantischer Expansion in der atlantischen Welt des 18. Jahrhunderts. Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2015. – 507 S. 153. Stievermann, Jan: Faithful translations: New discoveries on the German Pietist reception of Jonathan Edwards. In: Church history 83, 2014, 2, 324–366. 154. van Vlastuin, W.: Geloof en gevoel bij Jonathan Edwards (1703–1758). In: DNR 39, 2015, 1, 16–31. 155. Whitney, Donald S.: Finding God in solitude: the personal piety of Jonathan Edwards (1703–1758) and its influence on his pastoral ministry. New York: Peter Lang Publishing 2014. – 178 S. 156. Griffin, Edward M.: A Singular Man: Cotton Mather Reappraised. In: Early American Literature 50, 2, 2015, 475–494. 157. Goodman, Nan: „What about peace?“: Cotton Mather’s millennium and the rise of international law. In: Law and the utopian imagination. Hg. v. Austin Sarat. Stanford: Stanford Univ. Press 2014, 101–126. 158. Hammond, Geordan: John Wesley in America: Restoring primitive Christianity. Oxford: Oxford University Press 2014. – 237 S.
IV.06 Östliches Mitteleuropa, Osteuropa, Südosteuropa 159. Ptaszyński, Maciej: Between Marginalization and Orthodoxy: The Unitas Fratrum in Poland in the Sixteenth Century. In: Journal of Moravian History 14, 1, 2014, 1–29.
V. Übergreifende Themen V.01 Theologie und Frömmigkeit 160. Albrecht, Ruth u. Michaela Sohn-Kronthaler: Einleitung. In: Fromme Lektüre und kritische Exegese im langen 19. Jahrhundert [s. Nr. 12], 9–17. 161. Bernet, Claus: Expectations of Philadelphia and the Heavenly Jerusalem in German Pietism. In: A Companion to German Pietism, 1660–1800 [s. Nr. 8], 139– 167. 162. Droste, Stefan: „Eine von den allerbesten Ehefrauen“. Pietistisches Totengedenken und die Suche nach dem Göttlichen. In: Umwelten [s. Nr. 22], 145–164. 163. Salvadori, Stefania: Wiedererlangung des göttlichen Ebenbildes durch die geistliche Ehe in den Schriften von Jeanne Marie Guyon und Charles Hector de Marsay. In: Gender im Pietismus [s. Nr. 13], 249–262. 164. Jung, Martin H.: Heilsuniversalismus im frühen Pietismus: Johann Jakob Zimmermanns wieder entdeckte „Darreichung der gemeinen Liebe“. In: BWKG 114, 2014, 283–292.
V.02 Sozial- und Staatslehre, Pädagogik und Erziehung 165. Collins Winn, Christian T.: Pietism and the practice of civil discourse. In: The Pietist vision of Christian higher education [s. Nr. 21], 123–133.
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166. Czech, Vinzenz: Von Wernigerode bis Ebersdorf: Selbstverständnis und Repräsentation von Grafen und Herren in Mitteldeutschland. In: Mit göttlicher Güte geadelt [s. Nr. 17], 26–37. 167. Eißner, Daniel: Pietistische Hauslehrer: Annäherungen an ein unbekanntes Segment des frühneuzeitlichen Privatlehrermarkts. In: Jahrbuch für historische Bildungsforschung 20, 2014, 265–283. 168. Ehrenpreis, Stefan: Programm und Praxis reformiert-calvinistischer Bildung in der frühen Neuzeit. In: Reformation heute [s. Nr. 19], 34–53. 169. Gehrz, Christopher: Introduction. Does pietism provide a „usable past“ for Christian colleges and universities? In: The Pietist vision of Christian higher education [s. Nr. 21], 19–34. 170. Hecht, Michael: Adel in Mitteldeutschland im 18. Jahrhundert. In: Mit göttlicher Güte geadelt [s. Nr. 17], 14–25. 171. Jacobi, Juliane: Bildungstransfer im frühen 18. Jahrhundert? Die Beziehungen zwischen dem Halleschen Waisenhaus und der Society for Promoting Christian Knowledge. In: London und das Hallesche Waisenhaus [s. Nr. 15], 121–138. 172. Lück, Heiner: Academia Fridericiana Hallensis – eine Universitätsgründung im Zeichen des Pietismus. In: Die Humboldt-Brüder, Halle und der Pietismus [s. Nr. 23], 9–26. 173. Marschke, Benjamin: Pietism and Politics in Prussia and Beyond. In: A Companion to German Pietism, 1660–1800 [s. Nr. 8], 472–526. 174. Nevins, Katherine J.: Calling for pietist community: Pia Desideria in the classroom. In: The Pietist vision of Christian higher education [s. Nr. 21], 52–66. 175. Pečar, Andreas: Adelserziehung und Pietismus – ein Widerspruch? In: Mit göttlicher Güte geadelt [s. Nr. 17], 88–98. 176. Sparn, Walter: Pietistische und Aufklärerische Bildungsakzente. In: Reformation heute [s. Nr. 19], 55–73. 177. Taatz-Jacobi, Marianne: Erwünschte Harmonie: Die Gründung der FriedrichsUniversität Halle als Instrument brandenburg-preußischer Konfessionspolitik – Motive, Verfahren, Mythos (1680–1713). Berlin: de Gruyter 2014. – 341 S.
V.03 Ökumene, Mission und Diakonie 178. Colas, Gérard: Curiosité, science et interaction pédagogique: La mission française jésuite et la mission piétiste de Halle en Inde du sud au XVIIIe siècle. Online Ressource [2014] unter: http://episteme.revues.org/335. 179. Henschen, Daniel: The Bishop of Tranquebar and Shiva’s Elephant: Danish Missionaries and Indian Independence. In: Beyond Tranquebar [s. Nr. 10], 402–427. 180. Jorgensen, Helle: Putting Tranquebar on the Map: Cultural and Material Encounters in Transnational Heritage Development. In: Beyond Tranquebar [s. Nr. 10], 29–49. 181. Kisker, Scott: Pietist Connections with English Anglicans and Evangelicals. In: A Companion to German Pietism, 1660–1800 [s. Nr. 8], 225–255. 182. Kuhn, Thomas K.: Armut und Armenfürsorge im Kontext von Pietismus und Aufklärung Beispiele und semantische Transformationen. In: Armut und Armenfürsorge [s. Nr. 9], 75–94.
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183. Mückler, Hermann: Missionare in der Südsee: Pioniere, Forscher, Märtyrer. Ein biographisches Nachschlagewerk zu den Anfängen der christlichen Mission in Ozeanien. Wiesbaden: Harrassowitz 2014. – 480 S. 184. O’Malley, J. Steven: Pietism and Trans-Atlantic Revivals. In: A Companion to German Pietism, 1660–1800 [s. Nr. 8], 256–289. 185. Otte, Hans: Halle, Stuttgart und anderswo. Zur Bedeutung der Bibelgesellschaften im 19. Jahrhundert. In: PuN 40 [s. Nr. 18], 97–122. 186. Rubiés, Joan-Pau: Tamil Voices in the Lutheran Mission of South India (1705– 1714). In: Journal of early modern history 19, 1, 2015, 71–81. 187. Spehr, Christopher: Armut und Armenfürsorge im Kontext der Reformation. In: Armut und Armenfürsorge [s. Nr. 9], 51–74. 188. Thode Jensen, Niklas: Making it in Tranquebar: The Circulation of Scientific Knowledge in the Early Danish-Halle Mission. In: Beyond Tranquebar [s. Nr. 10], 325–351. 189. Uschomirski, Anatoli: Pietismus: Das neue theologische Erfassen der Judenmission. In: Den Juden zuerst. Theologische Perspektiven der „Judenmission“ in den kirchengeschichtlichen Epochen. Hg. v. dems. Nürnberg: VTR 2014, 46–66. 190. Abels, Birgit u. Andreas Waczkat: „Ich kan mich desto beßer auf solche Dinge appliciren, weil hier in Indien die Europaeischen Frauens Persohnen, wenig mit Hauß Wesen und Küchen-Sachen zu thun haben“. Koloniale Handlungsräume der Maria Dorothea Ziegenbalg in Tranquebar. In: Gender im Pietismus [s. Nr. 13], 211–222. 191. Kochhar, Rajesh: From Bartholomaeus Ziegenbalg to Alexander Duff: Western Education in India, 1715–1835. In: Beyond Tranquebar [s. Nr. 10], 451–475. 192. Sweetman, Will: Retracing Bartholomaeus Ziegenbalg’s Path. In: Beyond Tranquebar [s. Nr. 10], 304–324.
V.04 Philosophie, Literatur, Kunst, Architektur und Musik 193. Bennett, Kelsey L.: Principle and propensity. Experience and religion in the nineteenth-century British and American Bildungsroman. Carolina: Univ. of South Carolina Press 2014. – 195 S. 194. Bernet, Claus: Der Pietismus. Meisterwerke des Himmlischen Jerusalem, 10. Norderstedt: Books on Demand 2014. – 48 S. 195. Dremel, Erik: „Geist-reich“ oder „Vernünftig“?: Strategien des Theologietransports durch Kirchenlieder unter dem Einfluss von Pietismus und Aufklärung. In: Über den Klang aufgeklärter Frömmigkeit: Retrospektive und Progression in der geistlichen Musik. Hg. v. Boje E. Hans Schmuhl. Augsburg: Wißner 2014, 85– 100. 196. Kevorkian, Tanya: Pietists and music. In: A Companion to German Pietism, 1660–1800 [s. Nr. 8], 171–200. 197. Reents, Christine: Wie spiegeln sich Orthodoxie, Pietismus und Erweckung in der Zeit zwischen 1688 und 1850 in evangelischen Kinder- und Schulbibeln? Bestandsaufnahme und theologische Einordnung. In: PuN 40 [s. Nr. 18], 64–96. 198. Grieger, Martin: „oft und andächtig mit der Mutter gesungen“: Matthias Claudius und der Flensburger Pietismus. In: Jahresschriften der Claudius-Gesellschaft 23, 2014, 23–35.
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199. Pommerening, Michael: Matthias Claudius. Asmus, Andres, Görgel und Wandsbecker Bote. Hamburg: Mühlenbek-Verl. 2014. – 184 S. 200. Kohler, Daniela: Eschatologie und Soteriologie in der Dichtung. Johann Caspar Lavater im Wettstreit mit Klopstock und Herder. Berlin: de Gruyter 2015. – 383 S. 201. Niekus Moore, Cornelia: „Zur weiteren Erbauung.“ Die Werke von Charlotte Nebel-Rambach, ihre Herausgeber und ihre Verbreitung. In: Gender im Pietismus [s. Nr. 13], 223–248. 202. Pfeiffer, Rüdiger: Der unbekannte Andreas Werckmeister: Vom Pietistenstreit und Harzer Berggeschrey zum temperierten Wohlklang. In: Geräuschvolle Stille – geordneter Klang. Ästhetische und historische Überlegungen im Geiste der Kunstphilosophie von John Cage. Hg. v. dems. Berlin: Frank & Timme 2014, 115–142.
V.05 Medizin, Naturwissenschaften und Psychologie 203. Knote, André: Die geistliche Seelenkur in der Zeit des Pietismus. In: Von der geistlichen Seelenkur zur psychologischen Kur. Zur Geschichte der Psychotherapie vor Freud. Hg. v. dems. Paderborn: Fink 2015, 103–128. 204. Priewe, Marc: Textualizing illness. Medicine and culture in New England 1620 – 1730. Heidelberg: Winter 2014. – 408 S. 205. Vickers, Jason E.: Holiness and mediation: pneumatology in Pietist perspective. In: International journal of systematic theology 16, 2014, 2, 192–206. 206. Betsch, Gerhard: Mathematik und Naturlehre in Tübingen zwischen 1635 und 1740: Von Johann Jacob Hainlin bis zu Johann Conrad Creiling und seiner Schule. In: Die Universität Tübingen zwischen Orthodoxie, Pietismus und Aufklärung [s. Nr. 11], 359–406. 207. Dilg, Peter: Zwei hervorragende Vertreter der Tübinger Medizinischen Fakultät: Rudolph Jakob Camerarius (1665–1721) und Johann Georg Gmelin (1709–1755). In: Die Universität Tübingen zwischen Orthodoxie, Pietismus und Aufklärung [s. Nr. 11], 257–282. 208. Kummer, Ulrike: „Gold von Mitternacht“ – Zu Leben und Werk des Arztpietisten Johann Philipp Maul (1662–1727). In: PuN 40 [s. Nr. 18], 134–162.
V.06 Ökonomie, Industrialisierung 209. Noack, Axel: Zum protestantischen Arbeitsethos: Der „Beruf“ des Christen im Alltag der Welt. In: Lutherland Sachsen-Anhalt [s. Nr. 16], 276–301. 210. Schunka, Alexander: Collecting Money, Connecting Beliefs: Fundraising and Networking in the Unity of Brethren of the Early Eighteenth Century. In: Journal of Moravian History 14, 1, 2014, 73–92.
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V.07 Buch-, Bibliotheks- und Verlagsgeschichte, Medien und Kommunikation 211. Jensz, Felicity: Overcoming Objections to Print: The Moravian Periodical Accounts and the Pressure of Publishing in Eighteenth-Century Britain. In: Journal of Moravian History 15, 1, 2015, 1–28. 212. Marschke, Benjamin: From Heretics to Hypocrites: Anti-Pietist Rhetoric in the Eighteenth Century. In: Kinship, community, and self [s. Nr. 14], 122–131. 213. Peucker, Paul: Pietism and the Archives. In: A Companion to German Pietism, 1660–1800 [s. Nr. 8], 393–420. 214. Shantz, Douglas H.: Pietism as a Translation Movement. In: A Companion to German Pietism, 1660–1800 [s. Nr. 8], 319–347. 215. Strom, Jonathan: Pietist Experiences and Narratives of Conversion. In: A Companion to German Pietism, 1660–1800 [s. Nr. 8], 293–318. 216. Schrader, Hans-Jürgen: „red=arten u[nd] worte behalten / die der Heil[ige] Geist gebrauchet“. Pietistische Bemühungen um die Bibelverdeutschung nach und neben Luther. In: PuN 40 [s. Nr. 18], 10–47.
V.08 Gender 217. Albrecht, Ruth: Alle einer in Christus – alle eins in Christus. Theologisch begründete Geschlechterkonstruktionen im frühen Pietismus. In: Gender im Pietismus [s. Nr. 13], 19–42. 218. Dies.: Das Weib schweige? Protestantische Kontroversen über Predigerinnen und Evangelistinnen. In: Fromme Lektüre und kritische Exegese im langen 19. Jahrhundert [s. Nr. 12], 210–232. 219. Gleixner, Ulrike: Pietism and Gender: self-modelling and agency. In: A Companion to German Pietism, 1660–1800 [s. Nr. 8], 423–471. 220. Dies.: Potenziale eines Konzeptes „Pietismus als Netzwerk“ für die Genderforschung. In: Gender im Pietismus [s. Nr. 13], 3–18. 221. Harding, Elizabeth: Der Gelehrte im Haus: Ehe, Familie und Haushalt in der Standeskultur der frühneuzeitlichen Universität Helmstedt. Wiesbaden: Harrassowitz 2014. – 388 S. 222. Homburg, Heidrun: Glaube – Arbeit – Geschlecht: Frauen in der Ökonomie der Herrnhuter Ortsgemeine von den 1720er Jahren bis zur Jahrhundertwende. Ein Werkstattbericht. In: Gender im Pietismus [s. Nr. 13], 43–62. 223. Malena, Adelisa: „Gefährliche Nähe“. Die Rezeption der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen weiblichen Mystik im Radikalpietismus und in der antipietistischen Polemik. In: Gender im Pietismus [s. Nr. 13], 141–162. 224. Marschke, Benjamin: Competing Post-Baroque Masculinities: Halle Pietist Masculinity and Prussian Masculinity in the Early Eighteenth Century. In: Gender im Pietismus [s. Nr. 13], 197–210. 225. Schmid, Pia: Fromme Knaben – Fromme Mädchen. Geschlechterkonstruktionen in pietistischen Exempelgeschichten? In: Gender im Pietismus [s. Nr. 13], 263– 286. 226. Tippelskirch, Xenia von: Die Gesellschaft der Kindheit Jesu-Genossen aus geschlechtergeschichtlicher Perspektive. In: Gender im Pietismus [s. Nr. 13], 177–196.
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227. Lückel, Ulf: Überschreitungen von Geschlechter- und Standesgrenzen: Die fromme Gräfin Hedwig Sophie zu Sayn-Wittgenstein-Berleburg (1669–1738) und ihr pietistischer Hof in Berleburg. In: Gender im Pietismus [s. Nr. 13], 163–176.
V.09 Geschichtsbewusstsein und -konstruktion 228. Gleixner, Ulrike u. Siegrid Westphal: Perspektiven eines Konfessionsvergleichs. In: Religion, Macht, Politik [s. Nr. 20], 11–26.
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REGISTER
Personenregister Die gerade gesetzten Seitenzahlen verweisen auf den Haupttext, die kursiv gesetzten auf die Anmerkungen, die Nr.-Angaben auf die Bibliographie. Abbt, Thomas 34 f., 53 Abegg, Johann Friedrich 156 Abels, Birgit Nr. 190 Achilles, Andreas 271 Adelung, Anhard 83, 88 f., 93, 101 Aemilie Juliane Gräfin von SchwarzburgRudolstadt 225, 258 Agrippa von Nettesheim 176, 195, 199 Aikin, Judith P. 258 f. Aland, Kurt 58 Albert Anton Graf von SchwarzburgRudolstadt 258 Albinus, Samuel Theodor 60, 64, 67, 77 Albrecht Alkibiades (Brandenburg) 193 Albrecht, Ruth Nr. 12, 26, 121 f., 160, 217 f. Albrecht-Birkner, Veronika Nr. 53 Alexej Prinz von Braunschweig-Wolfenbüttel-Bevern 102 Algazel 199 Alt, Peter-André 203 Althaus, Paul 141 Amaranthes, d. i. Gottlieb Siegmund Corvinus 253 Ambrosius von Mailand 253 f. Andreae, Johann Valentin 127, 149; Nr. 43 f. Anna Ivanovna Kaiserin von Russland 94, 101 Anna Leopoldovna (d. i. Elisabeth Katharina Christine Prinzessin von BraunschweigWolfenbüttel Herzogin zu Mecklenburg) 102 Annoni, Hieronymus 289–291 Anton Florian Fürst von Liechtenstein 82 Anton Ulrich der Jüngere Fürst von Braunschweig-Wolfenbüttel-Bevern 102 f.
Appold, Kenneth 140 Aristoteles 190, 257 Arndt, Johann 13, 127, 145 f., 148, 152, 216, 254, 269; Nr. 37 Arnold, Gottfried 216 f., 221, 230, 265, 267, 269, 271, 300 Asseburg, Rosamunde Juliane von der 269 Atwood, Craig D. Nr. 146 Augspurger, Samuel 66 Augustinus 27, 254, 264 Avemarie, Friedrich Nr. 119 Axmacher, Elke Nr. 38 Bahrdt, Carl Friedrich 281 Banks, Th. 121 Barth, Ulrich 50 Barthel, Katja 227 Basedow, Johann Bernhard 157, 178 Bätzner, Nike Nr. 147 Bauer, Bruno 182 Baumgarten, Alexander Gottlieb 115, 226 f. Baumgarten, Siegmund Jakob 224, 274, 279 f. Baur von Eyseneck, Maria Juliana 217 Baur, Jörg 136 Becker, Judith Nr. 116 Behnke, Cornelia Nr. 62 Beier, Johann Wilhelm 274 Beims, Klaus-Dieter Nr. 48 Beissel, Johann Conrad 217–219, 267 Bengel, Johann Albrecht 217, 222, 241 Bennett, Kelsey L. Nr. 193 Benrath, Gustav Adolf 235 Benzi, Laura 227 Bergengruen, Maximilian Nr. 38 Bernd, Adam 227 Berndt, Frauke 227
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Bernet, Claus Nr. 85, 161, 164 Bernheiden, Inge 248 Bertsch, Christoph Nr. 47 Betsch, Gerhard Nr. 206 Beyreuther, Erich 298 Biebricher, Thomas 208 Bing-von Häfen, Inga 302–304 Biron, Ernst Johann Herzog von Kurland und Semgallen 102 Biron, Peter Herzog von Kurland und Semgallen 94, 102 Blaufuß, Dietrich Nr. 45, 120 Blumenberg, Christian Gottlieb 235 Bodmer, Johann Jacob 112, 115 f., 118, 121, 125 Bogen, Cornelia 227 Böhme, Anton Wilhelm 149 Böhme, Jakob 33, 177, 216, 225, 269; Nr. 39 Boltzius, Johann Martin 57 f., 60 f., 64, 68, 73–75, 265 Bonaventura 82 Bończuk-Dawidziuk, Urzula 229 Bosomworth, Thomas 66, 69 Bosse-Huber, Petra Nr. 7 Bourignon, Antoinette 217 Brakel, Wilhelmus à 129 Braubach, Wilhelm 169 Brecht, Martin 13, 27, 135; Nr. 1, 84 Breithaupt, Joachim Justus 30 f., 269, 272– 274 Breitinger, Johann Jacob 112 f., 116, 118, 121 Brockes, Barthold Hinrich 230 Broeyer, F.G.M. Nr. 138 Brögelmann, Johann Peter Nr. 65 Brucker, Jacob 165 f. Brückner, Georg Heinrich 270 Bruckner-Eglinger, Ursula Nr. 142 Brunchorst, Christoph 142, 144 Bruni, Leonardo 254 Brüning, David Nr. 134 Brüning, Djonata Nr. 46 Bruno, Giordiano 254 Bube, Ursula 299 f. Buchner, Augustus 257 Büchner, Georg, 223 Buddeus, Johann Franz 36, 39, 42 Bultmann, Rudolf 240 Bünderlin, Johann 176
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Burckhardt, Jacob 193–195 Burg, Udo von der Nr. 104 Burkhardt, Johannes 289 Busch, Eberhard 240 Büscher-Ulbrich, Dennis 248 Buttlar, Eva von 265 Cage, John 202 Callenberg, Clara von 267 Calvin, Johannes 132 Camerarius, Rudolph Jakob Nr. 207 Campanus, Johann 176 Campbell Orr, Clarissa 258 Campe, Joachim Heinrich 157, 246 f. Candler, Allen D. 61 Canstein, Carl Hildebrand von 228 Carpzov, Johann Benedikt II. 14 Casimir Graf zu Sayn-Wittgenstein-Berleburg 226 Cattering, Sharon 260 Chilcote, Paul W. Nr. 117 Christian Ernst Graf zu Stolberg-Wernigerode Nr. 95, 96, 145 Christian II. Fürst von Anhalt-Bernburg 257 Christine Gräfin von Stolberg-Gedern Nr. 45 Christine de Pizan 254, 256 Christ-von Wedel, Christine Nr. 139 Cicero 202, 253 f. Clark, Christopher 263 Claudius, Matthias Nr. 198, 199 Claussen, Cornelius Nr. 179 Colas, Gérard Nr. 178 Colet, John 198 Collin, Friedrich Eberhard 229 Collins Winn, Christian T. Nr. 30, 165 Comenius, Johann Amos 33, 82, 127, 149, 286; Nr. 40 Cosimo di Medici 193 Costa, Isaac da 233 Coy, Jason Nr. 14, 86 Cramer, Andreas 114, 122, 145, 146 Creiling, Johann Conrad Nr. 206 Creutz, Cornelius (Cruys) 88 f. 93 f, 100, 101 Crugot, Martin 114 Czech, Vinzenz Nr. 166 Dacheroeden, Carl Friedrich von Nr. 104
Dälliker, Salomon 122 Daniel, Thilo 226 Dannhauer, Johann Conrad 126 David, Christian 84 f. Dean, Jonathan Nr. 128 Dellsperger, Rudolf 223; Nr. 75 Demelius, C. F. 267 Denck, Hans 176 Descartes, René 17 Deutinger, Martin 191 Diesterweg, Friedrich Adolphe Wilhelm 286 Dietrich, Leopold Bernhard 84 Dilg, Peter Nr. 207 Dillinger, Marianne Nr. 97 Dingel, Irene Nr. 142 Dippel, Johann Conrad 216, 222 Dittrich, Leopold 83 Dorothea, Maria Nr. 83 Dose, Kai Nr. 76 Dremel, Erik Nr. 195 Drießler, Johann Ulrich 57–77 Drießler, Regina 76 Droste, Stefan Nr. 162 Duff, Alexander Nr. 191 Duindam, Jeroen 263 Ebert, Johann Arnold 119 Eck, Johann 199 Edelmann, Johann Christian 222 Edwards, Jonathan Nr. 112 f., 153–155 Ehinger, Siglind Nr. 73 Ehrenpreis, Stefan Nr. 168 Ehrmann, Johann 157 Eißner, Daniel 223; Nr. 167 Eleonore Barbara Fürstin von Liechtenstein 82 Elias, Norbert 263 Elisabeth Petrovna Romanova Zarin von Russland 99, 103 Elisabeth Katharina Christine von Mecklenburg-Schwerin (s. Anna Leopoldovna) Elisabeth Christine von BraunschweigWolfenbüttel-Bevern 102 Elkar, Tim Christian Nr. 103 Elrichs, Magdalena 270 Elsner, Bartholomäus 143 Emich, Birgit 260 Emser, Hieronymus 199 End, Th. Van den Nr. 136
Engels, Friedrich 179–182, 185, 191 Erasmus von Rotterdam 198, 254 Erberfeld, Philipp 154 Erdmann Heinrich Graf Henckel von Donnersmarck 217 Erdmuthe Benigna Gräfin von Solms-Laubach 254 Erler, Christoph 14 f. Ernst der Fromme Herzog von SachsenGotha 126, 141, 143, 149 Exalto, John 224 Fabriano, Mambrino Roseo da 257 Fabricius, Johann Jacob 126 Falk, Johannes Daniel 232, 235 Faust, Alexandra Nr. 92 Feller, Joachim 147, 270 Feuchtersleben, Ernst von 189–191, 196 Feuerbach, Ludwig 181–183, 188 f. Feustking, Johann Heinrich 217, 268 Fichte, Johann Gottlieb 158, 179, 184 Ficino, Marsilio 174, 187, 193–195, 198– 205 Fiebiger, Anke 228 Fihl, Esther Nr. 10 Filipi, Pavel 237 Fischer, Ole Nr. 49, 58 Flaxman, John 121 Fleming, Robert Nr. 135 Foster, Frank Hugh Nr. 147 Foucault, Michel 207–211, 244 Fourier, Charles 196 Franck, Sebastian 176, 199 Francke, August Hermann 11–31, 33, 35– 43, 46, 48–51, 53 f., 83, 129, 147–150, 216, 218, 221, 223 f., 226, 228 f., 232, 235, 241, 250, 253 f., 264, 269–273, 280, 300; Nr. 2, 53–56 Francke, Gotthilf August 57, 59–61, 64, 67–69, 72, 73, 74, 232 f., 275, 277, 290; Nr. 55 Frank, Manfred 158 Franke, Viktoria Nr. 53 Freedman, Joseph S. 224 Freud, Sigmund Nr. 203 Freyer, Hieronymus 39 f., 46–51, 54 Freylinghausen, Johann Anastasius 75, 219, 227 f., 272–274 Friedberg, Theodor Nr. 118 Friederike Gräfin von Reden 229
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Friedrich II. König von Preußen 157, 260– 263 Friedrich III. Herzog von Schleswig-Holstein-Gottorf 257 Friedrich Wilhelm I. König in Preußen 34, 41, 55, 228, 260 f., 263 Friedrich, Karin Nr. 43 Friesen, Carl von 252 Frisch, Max 247 Fritz, Eberhard 230; Nr. 60 Fröbel, Friedrich 178 Froese, Brian Nr. 148 Fürer, Christoph 176 Füssli, Johann Heinrich 112–125 Gäbler, Ulrich 232 Gause, Ute 228 Gawthrop, Richard 224 Gehrz, Christopher Nr. 21, 169 Geiger, Lucas 32–56 Gellert, Christian Fürchtegott 114, 227, 284 Georg I. König von Großbritannien 275 Georg II. König von Großbritannien 275 Georg III. König von Großbritannien 275 Gerhard, Johann Nr. 103 Gersdorff, Henriette Catharina von 87, 251–257; Nr. 57 Gersdorff, Nicol von 252 Gestrich, Andreas Nr. 123 Gichtel, Johann Georg 265, 269 Gierl, Martin 137 f., 215; Nr. 98 Glassius, Salomon 142–144 Gleixner, Ulrike 230; Nr. 219 f., 228 Gloxin, Anton Heinrich 26 Glück, Ernst 90 Gmelin, Johann Georg Nr. 207 Gödden, Walter Nr. 107 Goebel, Max 129 Goethe, Johann Wolfgang von 116, 156 f., 166, 230 Goodman, Nan 157 Gordon, Scott Paul Nr. 149 Gorißen, Stefan Nr. 85 Górska, Liliana Nr. 93 Gottsched, Luise Adelgunde Victorie 253 Götzelmann, Arnd 235 Grabner-Haider, Anton 241; Nr. 27 Gradin, Arvid 98, 99, 104 Graf, Friedrich Wilhelm 241 f.
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Graff, Anton 125 Graham, Billy 240 Graßmann, Andreas 86, 94 Grebel, Felix 116, 119–121 Greschat, Martin 241 f. Grieger, Martin Nr. 198 Griffin, Edward M. Nr. 156 Gröschl, Jürgen Nr. 59 Großgebauer, Theophil 126, 145, 216 Großgebauer, Valentin 12 f. Gründler, Johann Christian 90 Grundtvig, F.S. 236 Grunewald, Thomas Nr. 95 Gschullius, Peter 82 Guevara, Antonio de 257 Guyon, Jeanne Marie Nr. 163 Habermann, Johann 85 Habermas, Jürgen 207 f. Hagen, Karl 173–179, 181–183, 190, 205 Hagen, William 263 Hagenbuch, Bernadette Nr. 142 Hainlin, Johann Jacob Nr. 206 Haller, Albrecht von 114 Hamann, Johann Georg 157 Hammond, Geordan Nr. 158 Hannak, Kristine 222 Hannibal, Abraham Petrowitsch de 100 Harasimowicz, Jan 227 Hardenberg, Karl August von 232, 235 Harding, Elizabeth Nr. 221 Hardt, Hermann von der 27, 28 Harsdörffer, Georg Philipp 247 Hartmann, Georg Volckmar 33–39, 43, 52 f., 55 f. Hase, Karl von 171 Hasenkamp, Johann Georg 124 Hastings, W. Ross Nr. 112 Hätzer, Ludwig 176 Hauge, H.N. 236 Hebel, Johann Peter 282–289 Hebenstreit, Johann Paul 274 Hecht, Michael Nr. 170 Heckewelder, John 230 Hedwig Eleonore Königin von Schweden 258 Hedwig Sophie Gräfin zu Sayn-Wittgenstein-Berleburg Nr. 227 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 160, 168, 184, 285
Hegner, Hans Ulrich 289 Heilmann, Andreas Nr. 62 Heinzen, Karl 185 Heisenberg, Werner 230 Heitz, Johann Georg 87 Helm, Jürgen 225 Henning, Johann Wilhelm 100 Henschen, Daniel Nr. 179 Hentig, Hartmut von 182 Heppe, Heinrich 129 f. Herder, Johann Gottfried 157, 165, 167, 180 f., 224; Nr. 200 Herrnschmidt, Johann Daniel 40, 273 Hess, Felix 112–118, 120, 122–125 Hess, Heinrich 120, 125 Hess, Moses 181 Heßling, Elias Johannes 142–144 Hindelang, Regina Appolinia Nr. 87 Hinlicky, Paul R. Nr. 105 Hinrichs, Carl 218 Hirschel, Zacharias 99, 104 Hirzel, Martin Ernst Nr. 28 Hitler, Adolf 239 Hitzig, Friedrich Wilhelm 287 Hoburg, Christian 227 Hochmann von Hochenau, Ernst Christoph 151, 267, 269, 271 Hoek, P. C. Nr. 134 Hoffmann, Friedrich 225 Hoffmann von Hoffmannswaldau, Christian 254 Holtzendorf, Friedrich 66 Homburg, Heidrun Nr. 222 Horaz 168 Horch, Heinrich 216 Horton, William 70 Hübner, Thomas Nr. 65 Hugo, Hermann 151 Huisman, F.W. Nr. 136 Humboldt, Wilhelm von Nr. 23, 104 Hunnius, Egidius 135, 249 Hunnius, Nicolaus 216 Hus, Jan Nr. 41 Ilg, Thomas 282 Im Thurn, Bernhardin 289 Ingen, Ferdinand van 227 Iselin, Isaak 114 Ising, Dieter 222
Ivan (Johann) von Braunschweig-Wolfenbüttel-Bevern 103, 109 Jacob, Joachim 226 Jacobi, Juliane Nr. 171 Jacobs, Anna Eva 270 Jahn, Anna Margaretha 270 Jakob, Lars Nr. 144 Jakubowski-Tiessen, Manfred Nr. 144 Janke, Wolfgang 248 Jean Paul 284 Jefcoate, Graham Nr. 66 Jensz, Felicity Nr. 211 Jerusalem, Johann Friedrich 114 Jetter-Staib, Christina 229 f., 275–278; Nr. 129 Johann Christian Herzog von SchlesienLiegnitz-Brieg 141 Johann Georg I. Kurfürst von Sachsen 257 Jones, George F. 58 Jorgensen, Helle Nr. 180 Joseph I. Kaiser des HRR 83 Jung, Martin H. Nr. 164 Jung-Stilling, Johann Heinrich Nr. 24, 114, 115 Kadell, Franz Nr. 16 Kamisnky, Uwe 301 f. Kamp, Jan van de 145; Nr. 35 Kant, Immanuel 32, 158 f., 162–164, 166– 168, 178, 180, 184, 188 f., 209–211, 220, 222 Karl Leopold Herzog von MecklenburgSchwerin 102 Karl Fürst von Liechtenstein 82 Karl XII. König von Schweden 83 Karnitscher, Tünde Beatrix 225 Katharina I. Zarin von Russland 90 Katharina Ivanovna 102 Katharina Prinzessin von BraunschweigWolfenbüttel-Bevern 102 Kauffmann, Angelica 121 Kaufmann, Johann Christoph 157 Kaufmann, Thomas 135, 138 f., 140, 145, 153 Kessler, Andreas 127 Kettering, Sharon 260 Kevorkian, Tanya Nr. 96 Kisker, Scott Nr. 181 Klinger, Nadja 302–304
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Kloes, Andrew Nr. 124 Klopstock, Friedrich Gottlieb 114, 122, 227; Nr. 200 Klosterberg, Brigitte 228; Nr. 2 Klumpp, Friedrich Wilhelm 169 Knote, André Nr. 203 Koch, Ernst 221 Kochhar, Rajesh Nr. 191 Koerrenz, Ralf Nr. 9 Kohler, Daniela Nr. 200 Kolb, Robert Nr. 25 Költsch, Anke 228 König, Johann Friedrich Nr. 103 Köpf, Ulrich Nr. 11 Kormann, Eva 248 Kortholt, Christian 29 Koski, Suvi-Päivi 227 Kripke, Saul 157 Kristeller, Paul Oskar 205 Kruczek-Aaron, Hadley Nr. 110 Kuhn, Thomas K. Nr. 139, 182 Kummer, Ulrike Nr. 208 Kund, Michael 99, 104 Künstel, Johann Wolfgang 229 Kunz, Anna Helena 81, 110 Kunz, Anna 81, 87 Kunz, Anna Dorothea (geb. Cromitz) 81, 101, 110 Kunz, Anna Dorothea (Tochter von Georg Kunz) 79, 101, 104, 110 Kunz, Georg 78–111 Kunz, Hans (d. Ä.) 81, 110 Kunz, Hans (d. J.) 81 Kunz, Johann Gottfried (Sohn von Hans Kunz d. J.) 81 Kunz, Matthes 81 Kunz, Melchior 81 Laak, Lothar van 226 Laasonen, Pentti 236 Labadie, Jean de 269 Laclau, Ernesto 207 f. Lambser, Andreas Josef 82 Lamm, Julia A. Nr. 26 Lange, Conrad 99, 104 Lange, Joachim 221, 274, Langer, Robert 251–257, Nr. 71 Lavater, Johann Caspar 112–125, 157; Nr. 200 Lavater, Regula (geb. Escher) 123
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Leade, Jane 269 Lee, Sang-Jo 221 Lehmann, Hartmut 139, 215, 232; Nr. 29 Lehms, Georg Christian 253 Leibniz, Georg Wilhelm 114, 279 Lemke, Hermann Heinrich 58, 60 Lenz, Jakob Michael Reinhold 157 Leo X. 202 Leopold Fürst von Anhalt-Dessau 262 Leopold I. Kaiser des HRR 82 Lessing, Gotthold Ephraim 169 Leube, Hans 134, 245 Lieburg, Fred van 132, 136, 153, 215; Nr. 132 Linné, Carl von 241 Lippold, Friederike Nr. 50 Lißmann, Katja 225; Nr. 94 Lodensteyn, Jodocus van Nr. 137 Loewenwolde, Carl Gustav Graf von 94 Löffler, Katrin 227 Löhe, Wilhelm Nr. 120 Loredano, Giovanni Francesco 257 Löscher, Valentin Ernst 135, 216 Lost, Christine 226 Lück,Heiner 132 Lückel, Ulf Nr. 227 Ludewig, Johann Peter von 50, 51 Ludolf, Heinrich Wilhelm Nr. 127 Ludwig XIV. König von Frankreich 263 Luhmann, Niklas 243 Lukrez 202 Luther, Martin 19, 27, 146, 149 f., 171– 173, 177 f., 199, 202, 203, 220 f., 224, 230, 237, 251, 254, 257, 264–266; Nr. 25, 42, 54, 105, 216 Lütkemann, Joachim 144 Macarius von Ägypten 269 MacDonald, Gerald T. 222 Macek, Ondřej 229 Mack, Alexander 218 Mack, Julia 226, 293 Mager, Inge Nr. 122 Mai, Claudia Nr. 3 Malena, Adelisa Nr. 223 Mann, Thomas 223 Marheineke, Philipp Konrad 171 Marie Elisabeth Herzogin von SchleswigHolstein-Gottorf 257 Marsay, Charles Hector de 267; Nr. 163
Marschke, Benjamin 228; Nr. 173, 212, 224 Martin, Lucinda 223; Nr. 140 Marx, Karl 179–182, 185, 191 Mather, Cotton Nr. 156, 157 Matthias, Markus 135, 138, 142 Maul, Johann Philipp Nr. 208 McMullen, Dianne M. 228 Meinhardt, Matthias Nr. 27 Meisner, Balthasar 126 Melanchthon, Philipp 172, 265 Melton, James van Horn Nr. 150 Menšikov, Aleksandr Danilovič 91 Merzbacher, Dieter Nr. 91 Metz, Brigitte Nr. 88 Meyer, Dietrich Nr. 41, 72 Meyer, Emil Nr. 121 Meyer, Ursula I. 253 Mez, Carl 229 Michel, Stefan 229 Miersemann, Wolfgang Nr. 91 Miksch, Johann Michael 94 Milde, Heinrich 100 Miller, Derrick R. Nr. 108 Milton, John 121 Mochel, Johann Jakob 157 Moeschler, Felix 79, 81, 84, 92, 101 Molinos, Miguel de 13, 269 Mommsen, Theodor 192 Monod, Adolphe 233 Montgelas, Maximillian Graf von 234 More, Thomas (Morus) 198, 254 Mori, Ryoko 270; Nr. 61 Moritz Karl Graf zu Lynar 102 Moritz Kurfürst von Sachsen 193 Moritz, Karl Philipp 227 Mosheim, Johann Lorenz 280 Mouffe, Chantal 207 f. Mücke, Dorothea E. von 102 Mückler, Hermann Nr. 183 Mühlenberg, Heinrich Melchior 58, 64, 219, 236, 265, 277 Mühr, Stephan 230 Müller, Heinrich 144, 216, 244–248 Müller, Johann 126 Müller-Bahlke, Thomas Nr. 54, 89 Münnich, Burkhard Christoph von 94 Müntzer, Thomas 128, 250 Muralt, Beat Ludwig von Nr. 75 Musaeus, Johannes 11–31
Nebel-Rambach, Charlotte Nr. 201 Nebl, Solveig Nr. 121 Neubauer, Georg Heinrich 215 f. Nevins, Katherine J. Nr. 174 Niekus Moore, Cornelia Nr. 201 Niemeyer, August Hermann 224, 281 Niethammer, Friedrich Immanuel 156–164, 166–170, 172–178, 180, 188–191, 203, 205, 209 Nietzsche, Friedrich Nr. 143 Nikolaus von Kues (Cusanus) 199–201 Nitschmann, David (Bischof) 84 Nitschmann, David (Confessor) 84 Nitschmann, David (Syndikus) 79, 84, 85, 94–99 Nitschmann, Johann 94 Nitschmann, Melchior 86 Noack, Axel Nr. 209 Noll, Mark A. 239 Nösselt, Johann August 279–281 Nowak, Kurt 280 Nüscheler, Felix 121 O’Malley, J. Steven 184 Ocoleanu, Picu Nr. 106 Oetinger, Friedrich Christoph Nr. 6, 84 Oglethorpe, James Edward 57, 64 f., 70 Ohlemacher, Jörg 237 f. Olde, J. de Nr. 137 Olson, Roger E. Nr. 30 Opitz, Martin 257 Osiander, Andreas 199 Osterhammel, Jürgen 293 Ostermann, Andre Ivanitz 94–96, 99 Osterwalder, Fritz 224 Otte, Hans 185 Ovid 202 Paracelsus 216, 250 Paul, Matthias 272–274 Paullini, Christian Franz 253 Paulsen, Friedrich 164 Pečar, Andreas 263; Nr. 175 Pernet, Martin W. Nr. 143 Persius 112 Pestalozzi, Johann Heinrich 169, 178 Peter I. Zar von Russland 91, 94, 98, 101 Peter Prinz von Braunschweig-Wolfenbüttel-Bevern 102 Petersen, Johann Wilhelm 216 f., 269
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Petersen, Johanna Eleonora (geb. von Merlau) 216 f., 269 Petersen, Sven Nr. 22 Petrarca, Francesco 124, 193, 194 Petterson, Christina Nr. 62 Peucker, Paul 228; Nr. 67, 213 Pfeiffer, Rüdiger Nr. 202 Pfister, Stefanie Nr. 57 Pfitzer, Gustav 173 Pico della Mirandola, Giovanni 174, 175, 193–195, 198–204 Pies, Eike Nr. 65 Plaschnig, Tobias 95, 100, 105 Platon 168, 202 Plitt, Johannes 95 Plochmann, Johann Georg 172 Plotin 200 Poiret, Pierre 33 Poullain de la Barre, François 256, 257 Priber, Christian Gottlieb 70 Priewe, Marc Nr. 204 Pritius, Georg 221 Prokopovič, Feofan 102 Pröve, Ralf 260 Ptaszyński, Maciej Nr. 159 Pyrges, Alexander 228; Nr. 151, 152 Quack, Jürgen Nr. 79 Quast, Elisabeth 229 Raaben, Justina von 252 Rackinger, Josef 83 Rahn, Bodo Nr. 119 Rambach, Johann Jakob 219, 236, 274; Nr. 57 Ranke, Leopold von 172, 174, 178, 183 Ratke, Wolfgang 127 Rau, Harald 304 Redlich, Fritz 263 Reents, Christine Nr. 197 Reinecke, Catharina 270 Reinhard, Wolfgang 260 Reitz, Johann Henrich 217 Rennstich, Karl 236 Reuchlin, Johannes 172, 174 f., 180 f., 192, 201, 203 Reuver, A. de Nr. 130 Riesler, Jeremias 104 Richter, Christian Friedrich 216, 225 Rieger, Georg Konrad Nr. 73
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Rieger, Miriam 225 Ritschl, Albrecht 129 f., 216, 300 Rock, Johann Friedrich 217, 291 Roeber, A. Gregg 264–267 Roick, Matthias 256 Roller, Gottlob August Nr. 70 Rominger, Walter Nr. 44 Rosenberg, Hans 263 Rubiés, Joan-Pau Nr. 186 Ruge, Arnold 180–189, 191, 203, 205 Ruhland, Thomas Nr. 145 Säck, Mareike Nr. 96 Sagittarius, Caspar 127, 147 Said, Edward 208 Salvadori, Stefania Nr. 163 Sandhagen, Johann Gabriel 25 Sandhagen, Kaspar Hermann 25 Sarat, Austin Nr. 157 Saubert d. Ä., Johann 126 Schaich, Michael Nr. 125 Scharff, Heinrich Wilhelm 12 f. Scheibel, Johann Gottfried 235 Scheidegger, Christiane Nr. 141 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 157, 162, 167, 209, 288 Schelwig, Samuel Nr. 93 Schiller, Friedrich 223 Schimmelmann, Adeline Gräfin von 238; Nr. 122 Schindler, Matthias 82 Schlachta, Astrid Nr. 63 Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst 170,182, 184, 186 f., 279–281, 286 Schlögl, Rudolf 242–244 Schluchter, Wolfgang 299, 301 Schmid, Heinrich 129 Schmid, Pia 230; Nr. 13, 225 Schmidt, Christoph 80 Schmidt, Johann Andreas 141, 274 Schmidt-Salomon, Michael 180, 197 Schmitt-Maaß, Christoph Nr. 55 Schmuhl, Boje E. Hans Nr. 195 Schneider, Daniel 94 Schneider, David 85 Schneider, Hans 131 Schneider-Böklen, Elisabeth Nr. 226 Schnurr, Jan Carsten 230; Nr. 82 Schöllkopf, Wolfgang Nr. 81, 100 Schorn-Schütte, Luise Nr. 33
Schrader, Hans-Jürgen 223; Nr. 216 Schröter, Marianne 222 Schröter, Wilhelm 171–174 Schuchart, Anna Maria 270 Schulius, David 89, 91 f., 101 Schulius, Georg 92 Schulthess, Barbara 122 Schumacher, Samuel 273 Schunka, Alexander 229; Nr. 127, 210 Schupp, Balthasar 127 Schurman, Anna Maria van 217, 253 f. Schüßler, Johann Matthäus 38–40 Schuster, Susanne 225 Schütz, Johann Jacob 13, 216, 219 Schütz, Katharina Elisabeth 217 Schwager, Johann Moritz Nr. 107 Schwartz, Adelheid Sibylle 269 Schwarz, Carl Nr. 83 Schweighäuser, Johannes 157 Schwenckfeld, Caspar 216, 250 Schwinge, Gerhard Nr. 24, 114, 115 Scriver, Christian 216, 244, 246 f. Seckendorff, Veit Ludwig von 140, 145, 254 Seide, Oliver Nr. 5 Selderhuis, Herman J. Nr. 131 Semler, Johann Salomo 222, 279–281 Serkova, Polina 137 Servet, Michael 176 Shakespeare, William 121 Shantz, Douglas H. 131, 215–220; Nr. 8, 90, 214 Simon, Johann Friedrich 157 Skawronska, Martha Elena 90 Sluis, J. van Nr. 133 Smith, John Howard Nr. 111 Soboth, Christian 220; Nr. 5 Sohn-Kronthaler, Michaela Nr. 12, 160 Sokrates 168, 172 Sommer, Elisabeth W. Nr. 68 Sommer, Wolfgang 138, 139 Sophie Charlotte Gräfin zu Stolberg-Wernigerode Nr. 96 Spalding, Johann Joachim 112–121, 123, 125, 281 Spangenberg, August Gottlieb 79–81, 91, 111, 274 Spankeren, Malte van 279–281; Nr. 57 Sparn, Walter 136; Nr. 176 Spehr, Christopher Nr. 19, 187
Spener, Philipp Jakob 12, 13, 25 f., 28, 29, 127–129, 133, 134, 144–149, 151 f., 153, 216–218, 222, 236, 241, 243, 254, 264– 266, 269–271, 300; Nr. 45 f., 103 Spranger, Eduard 164 Stammer, Sophia Maria von Nr. 94 Steiger, Johann Anselm 282, Nr. 37 Steinacker, Ruprecht Nr. 83 Steinmetz, Johann Adam 83 Stenger, Johann Melchior 128, Stiefel, Esajas 249–251 Stieler, Caspar 258 Stievermann, Jan Nr. 131, 153 Stirner, Max 181 Stöckel, Leonhard Nr. 83 Stoecker, Adolf 298 Stoeffler, Fred Ernest 215 Straßberger, Andres 224 Sträter, Udo Nr. 18, 31, 53 Strauß, David Friedrich 182 Strobel, Kyle C. Nr. 113 Strohm, Christoph Nr. 131 Strom, Jonathan 48, 146, 223; Nr. 215 Strübind, Andrea Nr. 41 Struensee, Adam Nr. 58 Stückemann, Frank Nr. 118 Sturm, Leonhard Christoph 227 Sulzer, Johann Georg 116, 118, 121 f. Süßmilch, Johann Peter 224 Swedenborg, Emanuel 241 Sweetman, Will Nr. 192 Swensson, Eric Jonas 223 Szyrwińska, Anna 222 Taatz-Jacobi, Marianne 136; Nr. 177 Tamcke, Martin Nr. 70 Tasso, Torquato 257 Täubner, Tanja 221; Nr. 56 Tauler, Johannes 254; Nr. 38 Taylor, Michael Thomas Nr. 80 Teellinck, Willem 145; Nr. 136 Teigeler, Otto Nr. 77 Teltschik, Johann (Töltschig) 84 Tengström, Jakob 237 Terry, John 71 Tersteegen, Gerhard 151, 216, 219, 290; Nr. 65 Teschemacher, Jacob Engelbert Nr. 65 Teufel, Aini Nr. 74 Thadden, Adolf von 297 f.
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Thadden, Reinold von 298 Thadden, Rudolf von 297–299 Thiel, Johann (Hans) Heinrich 109 Thode Jensen, Niklas Nr. 188 Tholuck, August 129 Thoma, Heinz Nr. 31 Thomas von Aquin 264 Thomasius, Christian 49, 53, 264 Tippelskirch, Xenia von Nr. 226 Tittel, Gottlob August 283, 287 Todenwarth, Antonius Wolff von und zu 254 Trauzettel, Holger 150 Treuner, Johann Philipp 38–40 Troeltsch, Ernst 135, 217 Tuchtfeld, Victor Christoph Nr. 64 Tullner, Mathias Nr. 16, 34 Ulbricht, Walter 182 Ulrich, Johann Caspar 114 Undereyck, Theodor 151, 216 Urbáne, Vladimír Nr. 40 Urlsperger, Samuel 59 f., 64, 67, 290 Uschormirski, Anatoli Nr. 189 Vahrson, Viola Nr. 47 Valen, L.J. van Nr. 135 Veen, Mirjam van Nr. 140 Veltmann, Claus Nr. 17 Vent, Hans Lorenz Andreas 173 Veres, Magdolna 227 Vergil 168, 202 Vickers, Jason E. Nr. 205 Vives, Juan Luis 254 Vlastuin, W. van Nr. 154 Voetius, Gisbertus Nr. 138 Vogt, Peter 221; Nr. 69, 78, 101 Voigt, Georg 192–196, 202, 205 Volck, Alexander Nr. 108 Vom Orde, Klaus 229 Wachler, Ludwig 173 f., 177, 191, 195 Wächter, Joachim Nr. 88 Waczkat, Andreas Nr. 190 Walch, Johann Georg 222 Walker Bynum, Caroline 271 Wallmann, Johannes 12 f., 134 f., 139, 143, 152, 215 Wandersleben, Martin 144 Ward, William Reginald 215 Warneck, Gustav 292
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Watanabe O’Kelly, Helen 258 Watteville, Johannes von Nr. 76 Weber, Friedrich Christian 90 f. Weber, Max 62, 299–301 Weger, Tobias Nr. 41 Weigel, Valentin 250 Weigelt, Horst 233 f. Weiland, Katja Nr. 70 Weinhardt, Joachim Nr. 109 Weiß, Ulman 249–251 Weismann, Christian Eberhard Nr. 109 Werckmeister, Andreas Nr. 202 Werder, Diederich von dem 257 Werner, Gustav 235 Wernsdorf, Gottlieb 221 Wesley, Charles 66, 242; Nr. 128 Wesley, John 66, 241 f.; Nr. 128, 158 Wessel, Carola Nr. 53 West, B. 121 Westphal, Siegrid Nr. 228 Wetjen, Regina Nr. 122 Weyer-Menkhoff, Martin Nr. 6 Whitefield, George 66, 72, 239 Whitmer, Kelly Joan Nr. 126 Whitney, Donald S. Nr. 155 Wiegleb, Johann Hieronymus 127, 273 Williams, Rowan Nr. 36 Winde, Hermann 58 Winiger, Georg Nr. 70 Winkel, Carmen 260–264 Wirz, Johann Conrad 114, 123 Wöbkemeier, Rita 224 Wolf, Christian Theodor 285 Wolff, Christian 32–39, 42–46, 48–56, 114, Wulfleff, Patrick 228 Wunder, Heide 259 Wustmann, Claudia 267–272 Young, Edward 119 Zaunstöck, Holger Nr. 15, 52 Zedler, Johann Heinrich 156, 166 Zeisberger, Melchior 84 Zeisberger, Rosina 84 Zeller, Winfried 134, 141 Ziegenbalg, Bartholomaeus Nr. 191 f. Ziegenbalg, Maria Dorothea Nr. 190 Ziegenhagen, Friedrich Michael 59, 67, 69, 230, 275–279; Nr. 59, 129
Zierer, Klaus 224 Zimmermann, Johann Georg 114 Zimmermann, Johann Jakob Nr. 164 Zimmermann, Wilhelm 174 f. Zinzendorf, Nikolaus Ludwig Graf von 64, 79, 84, 87–89, 91 f., 95, 96–101, 106,
109, 151, 218 f., 221 f., 226, 242, 252 f., 255, 266 f., 277, 290, 300; Nr. 75–80 Zinzendorf, Erdmuthe Dorothea Gräfin von 99; Nr. 74 Žižek, Slavoj 157 Zuberbühler, Bartholomäus 69 Zübli, Johann Joachim 76
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Ortsregister Die gerade gesetzten Seitenzahlen verweisen auf den Haupttext, die kursiv gesetzten auf die Anmerkungen, die Nr.-Angaben auf die Bibliographie. Altenburg 253 Altshausen 303 Amsterdam 93, 126 f., 233, 290 Ansbach Nr. 87 Antwerpen 290 Archangelsk 90, 103, 109 Augsburg 38, 40, 64, 67, 290 Barth 113, 117 f., 120 f. Basel 232, 290, 293; Nr. 143 Berg 303 Berlin 25, 40, 60, 116, 118 Bern Nr. 140 Bodenwalde (Bottenwaldt / Botenwald / Butovice) 81 Breslau (Wrocław) 88 f. Brüssel 290 Buchwald 229 Cholmogory 104, 209 Cuddalore 67 Danzig (Gdansk) Nr. 93 Dresden 89, 101, 146, 182, 249, 290 Duisburg 244, 301 f. Düsseldorf 74 Ebenezer 58 f., 61, 65 f., 68, 71 f., 74–76; Nr. 151 f. Ebersdorf 108, 242 Eglofstal 303 Einbeck 272 Eisfeld 127 Erfurt 15, 29, 30, 33, 127 f., 143, 147, 150, 249 f., 269, 272 f. Florenz 190
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Frankfurt/Main 13, 145 f., 182, 215 f., 218, 235, 269, 290 Frederica 57–59, 61 f., 64–77 Gandersheim 272 f. Gießen 169, 290 Gispersleben-Kiliani 249 Glaucha 149 f., 216, 218, 272 f., 290 f. Gotha 127, 142–145, 147, 149 Göttingen 297 Gröningen 63 f., 68, 72 Großhennersdorf 107 Günthersleben 142 Halberstadt 269 Halle/Saale 11, 15, 30, 32 f., 36, 38, 40–44, 48, 50 f., 53, 55, 60, 63 f., 67 f., 71, 75, 79, 83, 88, 90, 92, 97, 100, 101, 147, 149 f., 182, 215 f., 218–223, 228–230, 233, 235, 242 f., 253, 264 f., 269, 272– 277, 279–281, 290, 300; Nr. 29, 35, 47, 50, 87, 89, 126, 129, 177, 178, 185, 188 Hamburg 25, 126 f., 235; Nr. 64 Hannover 235, 275 Heidelberg 174, 290 Herrnhaag 105–108 Herrnhut 79, 81, 84, 86–89, 91–97, 99– 101, 107–110, 151, 218 f., 226, 228, 242 f., 290, 300 Isny 303 Jena 36, 50, 79, 94, 158, 162, 272, 274 Karlsruhe 282 f., 286 Kensington 67, 69
Kiel 29 Köln 62, 290 Kopenhagen 277 Kunewald 81 Leiden 290 Leipzig 14, 25, 33, 147, 149 f., 170 f., 215 f., 221, 269, 290 London 67–69, 106, 114, 121, 149, 231, 275–277; Nr. 15, 52, 66, 151 Lübeck 95, 104 f., 146 Lüneburg 24–27, 30 Madras 67 Marburg 290 Marienborn 79, 91, 105 Marienburg 90 Memmingen 36, 39, 43 f., 217 Merseburg 147 Mödling 82 Moskau 90, 92, 94 Mühlhausen 145; Nr. 64 Mülheim/Ruhr 151, 290 Narva 110 Naugard 275 Nordhausen 100 Nürnberg 126 Polleben 63 Potsdam 100, 260 Prag 290 Quedlinburg 269 Ravensburg 303 Regensburg 290 Rom 82, 114, 121, 192, 234 Rößnitz (Rozumice) 87 Rostock 12, 102, 126, 144
Rotterdam 290 Rügland 63 Salza (Langensalza) 249 f. Savannah 68, 72, 76 Schaffhausen 289 Schönau 82, 83, 144 Schwäbisch Hall 64 Schwarzenau 217 Schwerin 227 Sorau 93, 100 St. Petersburg 87–89, 92–97, 99 f., 104 f. Stavanger 93 Stockholm 258 Straßburg 126, 202, 290 Stuttgart 127, 303 Teschen (Cieszyn) 83–85; Nr. 317 Tobolsk 90 Tranquebar 265, 267; Nr. 10, 179 f., 188, 190 Trieglaff (Trzygłów) 297 f. Troppau (Opava) 87 Tübingen Nr. 11, 97, 100, 206 Turku 237 Venedig 202 Wernigerode Nr. 166 Wesel 151 Wien 82 Wilhelmsdorf 303 Wittenberg 126, 142, 221, 255 Wittstock 128 Wolfenbüttel 144, 256; Nr. 91 Zauchtental (Zauchtel an der Oder / Suchdol nad Odru) 81, 85, 109, 110 Zürich 96, 112, 114–116, 118, 120–125; Nr. 141
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