Pietismus und Neuzeit Band 42 – 2016 [1 ed.] 9783666559143, 9783525559147


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Pietismus und Neuzeit Band 42 – 2016 [1 ed.]
 9783666559143, 9783525559147

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PIETISMUS UND NEUZEIT EIN JAHRBUCH ZUR GESCHICHTE DES NEUEREN PROTESTANTISMUS Im Auftrag der Historischen Kommission zur Erforschung des Pietismus Herausgegeben von Rudolf Dellsperger, Ulrich Gäbler, Manfred Jakubowski-Tiessen, Anne Lagny, Fred van Lieburg, Hans Schneider, Christian Soboth, Udo Sträter, Jonathan Strom und Johannes Wallmann Band 42 – 2016

VANDENHOECK & RUPRECHT

Geschäftsführender Herausgeber Prof. Dr. Udo Sträter, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, c/o Interdisziplinäres Zentrum für Pietismusforschung, Franckeplatz 1, Haus 24, D-06110 Halle a. d. Saale Redaktion PD Dr. Christian Soboth, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Interdisziplinäres Zentrum für Pietismusforschung, Franckeplatz 1, Haus 24, D-06110 Halle a. d. Saale Anschriften der Autorinnen und Autoren Prof. Dr. Veronika Albrecht-Birkner, Seminar für Evangelische Theologie, Universität Siegen, AdolfReichwein-Str. 2, D-57068 Siegen • Dr. Kaspar Bütikofer, Hirschgartnerweg 21, CH-8057 Zürich • Siglind Ehinger, Landeskirchliches Archiv Stuttgart, Balinger Str. 33/1, D-70567 Stuttgart • Dr. Daniel Eißner, Henricistr. 50, D-04177 Leipzig • Prof. em. Dr. Hartmut Lehmann, Von-der-Goltz-Allee 2, D-24113 Kiel • Dr. Gerald T. MacDonald, Wittener Str. 253, D-44803 Bochum • Dr. Lubina Mahling, Institut für Slavistik, Fakultät Sprach-, Literatur- und Kulturwissenschaften, Technische Universität Dresden, D-01062 Dresden • Prof. Dr. Markus Matthias, Protestant Theological University Amsterdam-Groningen, A de Boelelaan 1105, NL-1081 HV Amsterdam • Dr. Klaus vom Orde, Spenerbriefedition der Sächsischen Akademie der Wissenschaften, c/o Interdisziplinäres Zentrum für Pietismusforschung der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Franckeplatz 1, Haus 24, D-06110 Halle a. d. Saale • Prof. Dr. Ulman Weiß, Geschichte der Frühen Neuzeit, Philosophische Fakultät, PF 900221, D-99105 Erfurt

Mit 1 Abb.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISSN 0172-6943 ISBN 978-3-666-55914-3 Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de © 2017, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen/ Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U. S. A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages.

Vorwort Einmal mehr ist Hartmut Lehmann Dank zu sagen, nun verbunden mit der herzlichen Gratulation anlässlich seines 80. Geburtstages am 29. April 2016: zunächst für seine Arbeit in der Historischen Kommission zur Erforschung des Pietismus und im Internationalen Wissenschaftlichen Beirat des Interdisziplinären Zentrums für Pietismusforschung der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, vor allem aber für die wertvollen Impulse für die nationale und internationale Pietismusforschung. Entsprechend Hartmut Lehmanns thematisch, aber auch räumlich und institutionell weitausgreifender Tätigkeit und seinem Engagement für die Pietismusforschung wurde seine Arbeit diesseits und jenseits des Atlantiks mit Festveranstaltungen gewürdigt. Nach einer Tagung im Oktober 2015 in Washington D. C., wo er von 1987 bis 1993 als Gründungsdirektor des Deutschen Historischen Instituts gewirkt hat, feierten die Franckeschen Stiftungen zu Halle, das IZP und die Historische Kommission Lehmann mit einem Ehrenkolloquium am 6. und 7. Oktober 2016. Das Kolloquium hatte den Titel „Pietismus im Dialog mit der Welt“ und stellte in drei Sektionen – Nordamerika, Grönland, Labrador und Russland sowie Südindien und einem Festvortrag zu Pietisten, Separatisten und anderen Württembergern zwischen Kaukasus und Großen Seen – die internationale Spannbreite des expansiven Pietismus im langen 18. Jahrhundert und zugleich die Blickweite eines seiner prominentesten Erforscher heraus. Freilich konnten in den Vorträgen nicht alle von Lehmann für die Pietismusforschung erbrachten Erträge und seine als Forschungsaufgaben formulierten Fragen thematisiert werden: das Drängen auf die Internationalisierung und die Interdisziplinarität der Forschung, die Einlassungen zur Säkularisierung und ihrer Erforschung, der – i. U. zum engen – weite Pietismusbegriff, sowie der sozialgeschichtliche Zugriff auf pietistische Lebenswelten, die im letzten, von Hartmut Lehmann verantworteten 4. Band der Geschichte des Pietismus mit dem Titel Glaubenswelt und Lebenswelten eine lenkende Rolle für die Darstellung und Analyse spielen. Der diesjährige PuN-Band bringt von Klaus vom Orde einen Friedrich de Boor anlässlich seines 80. Geburtstages am 13. September 2013 gewidmeten Beitrag, der einen regional fokussierten Blick auf die frühe Konsolidierungsphase des Pietismus wirft und einen von de Boors bevorzugten Forschungsgegenstände behandelt, nämlich Johann Heinrich Sprögel, hier im Lichte seiner gemeinsam mit Anna Dorothea von Sachsen, Stiftsäbtissin in Quedlinburg, betriebenen Kontaktaufnahme zu Philipp Jakob Spener. An diesem Beitrag 5

wird ein Grundzug des gesamten Bandes deutlich, die Auseinandersetzung mit der Vor- und Frühgeschichte des Pietismus am Beispiel von Themen, Konstellationen und Akteuren im späten 17. und frühen 18. Jahrhundert. Ulman Weiß berichtet über „Pseudonyme Publizistik“ im Umkreis der Rosenkreuzer, Kaspar Bütikofer, im Anschluss an seinen PuN-Beitrag von 2013 zu Michael Zingg als Wegbereiter des Pietismus in Zürich, über Johann Heinrich Römer im Spannungsfeld von Spiritualismus und frühem Pietismus. Siglind Ehinger publiziert aus ihren Forschungsfeldern pietistische Eigengeschichtsschreibung und Geschichtskonstruktion einen Beitrag über das Kirchengeschichtswerk des Württemberger Pietisten Georg Konrad Rieger, in dem ‚Vorläufer‘ von Luthers Reformation namhaft gemacht werden. Einen thematisch orientierten Beitrag zur Diskussion der Adiaphora unter den Pietisten und mit Vertretern der Lutherischen Orthodoxie liefert Daniel Eißner in seiner Darstellung pietistischer Auseinandersetzungen mit dem Tanz, zwischen Kunstform und Alltagspraktik. Lubina Mahling schließlich schildert und untersucht Modernisierungsphänomene und Modernisierungsschübe unter den Sorben im 18. Jahrhundert. Ursächlich geltend gemacht wird für die als Alphabetisierung und Pluralisierung beschriebene Modernisierung die Wirkmächtigkeit pietistischer Schulgründungen mit ihren pädagogischen Konzepten und Erziehungspraktiken. Vornehmlich am Beispiel Johann Heinrich Jung-Stillings und seiner Suche nach einer frommen Identität analysiert Veronika Albrecht-Birkner die Verwendung, Wertschätzung oder Ablehnung des Wortes Pietist als Selbstbeschreibungs- und Zuschreibungsformel im späteren 18. Jahrhundert. Rezensionen, Bibliographie und Register vervollständigen den Band. Die Veranstaltung zu Ehren Hartmut Lehmanns in Halle bot Gelegenheit, weiteren verdienten und noch engagiert tätigen Pietismusforschern anlässlich ihrer 75. Geburtstage zu gratulieren und zu danken: Ulrich Gäbler, Hermann Wellenreuther und Hans Schneider. Diesen sei von hier aus alles Gute gewünscht. Die Herausgeber danken Corinna Kirschstein und besonders Oliver Seide für die redaktionelle Mitarbeit. Für die Herausgeber: Udo Sträter

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Inhalt Beiträge Ulman Weiß: Pseudonyme Publizistik im Umkreis Fratris Rosatae Crucis. Jakob Schalling und Christian Theophilus . . . . . . . . . . .

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Klaus vom Orde: Die ersten Kontakte Johann Heinrich Sprögels und Anna Dorotheas von Sachsen, Stiftsäbtissin in Quedlinburg, mit Philipp Jakob Spener . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Daniel Eißner: „Heydnische Tantz-Greuel“ – Zur pietistischen Auseinandersetzung mit dem Tanz . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Kaspar Bütikofer: Johann Heinrich Römer (1628–1697): Zwischen dem Spiritualismus des 17. Jahrhunderts und frühem Pietismus . . . . 116 Siglind Ehinger: „. . . sie gehen [. . .] vor ihm her, wie der Morgen-Glantz vor der Sonne“. Die Reformation Martin Luthers und ihre ‚Vorläufer‘ im Kirchengeschichtswerk des württembergischen Pietisten Georg Konrad Rieger (1687–1743) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 Lubina Mahling: Alphabetisierung und Pluralisierung. Zur Wirkung des Pietismus unter den Sorben im 18. Jahrhundert . . . . . . . . . . 162 Veronika Albrecht-Birkner: „Ich verspreche Ihnen nochmals feyerlich, das Wort Pietist nie wieder im übelen Sinne zu gebrauchen“. Fromme Identitätsfindung im späten 18. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . 183

Rezensionen Andreas Holzem: Christentum in Deutschland 1550–1850. Konfessionalisierung. Aufklärung. Pluralismus. 2 Bde. Paderborn: Ferdinand Schöningh 2015: Hartmut Lehmann . . . . . . . . . . . . 205 Jürgen Büchsel: Gottfried Arnolds Weg von 1696 bis 1705. Sein Briefwechsel mit Tobias Pfanner und weitere Quellentexte. Halle/Saale 2011(Hallesche Quellenpublikationen und Repertorien, 12): Klaus vom Orde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 7

Tim Christian Elkar: Leben und Lehre. Dogmatische Perspektiven auf lutherische Orthodoxie und Pietismus. Studien zu Gerhard, König, Spener und Freylinghausen. Frankfurt am Main: Peter Lang 2015: Markus Matthias . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210 Roger E. Olson u. Christian T. Collins Winn: Reclaiming Pietism. Retrieving an Evangelical Tradition. Grand Rapids, MI/Cambridge, U. K.: William B. Eerdmans Publishing Co. 2015: Hartmut Lehmann . 211 Paul Peucker: A Time of Sifting. Mystical Marriage and the Crisis of Moravian Piety in the Eighteenth Century. University Park: The Pennsylvania State University Press 2015: Gerald MacDonald . . . . . 214 Elmar Spohn: Zwischen Anpassung, Affinität und Resistenz. Die Glaubens- und Gemeinschaftsmissionen in der Zeit des Nationalsozialismus. Berlin: Lit Verlag 2016 (Beiträge zur Missionswissenschaft / Interkulturellen Theologie, 34): Hartmut Lehmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219

Bibliographie Christian Soboth und Oliver Seide: Pietismus-Bibliographie . . . . . . 225

Register Personen- und Ortsregister

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. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249

ULMAN WEISS

Pseudonyme Publizistik im Umkreis Fratris Rosatae Crucis Jakob Schalling und Christian Theophilus In den Jahren 1614 und 1615 erschienen die beiden Schriften Fama Fraternitatis und Confessio Fraternitatis als Bekundungen der Bruderschaft des Rosenkreuzes. Sie erstrebten nichts weniger als eine allgemeine Reformation, die ins Werk zu setzen die Sache von Gelehrten und Ungelehrten sein sollte, die der Bruderschaft beizutreten eingeladen wurden, sofern sie allein vom Evangelium und von Christus sich leiten ließen. Ihnen, den wahren Christen, würden verborgene Weisheiten offenbart; denn das sechste Zeitalter, in dem Glauben und Wissen in eins stimmten, war nahe. Das Echo war enorm. Die einen begrüßten die Bestrebungen, die anderen bekämpften sie. Zumeist geschah das anonym oder pseudonym. Mancher anonyme oder pseudonyme Autor wurde von Zeitgenossen erkannt, manch anderer erst später, viele indes blieben unerkannt bis heute. Es mag daher nicht unnützlich sein, wenn einem falschen Namen nicht nur der richtige zugelegt, sondern auch das Geflecht von Gründen sichtbar gemacht werden kann, das zur Verwendung eines gut bedachten Pseudonyms führte, wie das bei dem Windsheimer Arzt Jakob Schalling der Fall ist, der in den Jahren 1620 und 1621 mit größter Wahrscheinlichkeit zweimal des Pseudonyms Christian Theophilus sich bediente.

1. Herkommen Es ist weit auszuholen: Martin Schalling, der Großvater des Windsheimer Arztes, gehörte zu der Generation jüngerer, humanistisch gesinnter Männer, die sogleich, als Martin Luther von sich reden machte, an seine Seite traten. Über seine Frühzeit ist wenig Sicheres zu sagen. Vermutlich wurde er in Durbach vor den Toren der Reichsstadt Offenburg in der Ortenau geboren, von wo er vermutlich im Sommer 1513 nach Heidelberg zum Studium ging. Sicher ist, dass er später zum Priester geweiht wurde und in Breisach ein Amt hatte, das er aber, verärgert über den Widerstand der Altgläubigen, im Sommer 1523 aufgab, um als Kaplan des evangelisch predigenden Pfarrers Paul Phrygion nach Schlettstadt zu gehen. Mit diesem musste auch er weichen. Im 9

Frühjahr 1525 ließ er sich in seine Heimat, an die Liebfrauenkirche in Weingarten, rufen, und predigte hier zehn Jahre lang unverdrossen das Wort Gottes, ehe er Diakon von Wolfgang Capito an Jung-St. Peter in Straßburg wurde und das reichsstädtische Bürgerrecht erwarb. Das behielt er, als ihn Graf Wilhelm von Fürstenberg, der ihn seinerzeit in die Herrschaft Ortenau, nach Weingarten, gerufen hatte, im Frühjahr 1541 mit der Pfarrei in Wolfach und zugleich mit den Superintendenturen der Herrschaften Ortenau und Kinzigtal betraute. Die Um- und Neugestaltung des Kirchenwesens war im Wesentlichen die Sache des Superintendenten. Doch hatte es keinen Bestand. Nach dem Schmalkaldischen Krieg übergab Graf Wilhelm, um dem Interim sich nicht beugen zu müssen, die Herrschaft an den jüngeren, katholischen Bruder Friedrich, der Schalling und die anderen Geistlichen, die gegen ihr Gewissen nicht gedrungen werden wollten, entließ. Für kurze Zeit kehrte er im Jahre 1549 nach Straßburg zurück, fand Anstellung als Diakon von Johann Marbach an St. Nikolai, ging aber im nächsten Jahr als Pfarrer nach Weitersweiler in die nordelsässische Herrschaft der Herren von Fleckenstein. Im Februar 1552 starb er.1 Früh hatte er Kontakte gehabt zu Humanisten wie Joachim Vadian in St. Gallen, Beatus Rhenanus in Basel oder Martin Bucer in Straßburg, so gewandt indes wie sie im Griechischen, gar im Hebräischen war er nicht und wurde es auch nie. Aus den Kontakten mit Bucer war rasch ein freundschaftliches Verhältnis gewachsen, dem ihre voneinander abweichenden Ansichten nichts anhaben konnten; denn im Unterschied zu Bucer, dessen theologisches Denken von Luther und von Zwingli angeregt wurde, sah Schalling nur auf den Wittenberger, durch den allein er von Gott ex tenebris gezogen worden war; er galt ihm daher von Anfang an als euangelista totius mundj, der Zürcher hingegen nur als euangelista Tigurinorum.2 In Straßburg dachten wenige so: der Geistliche Marbach oder der Jurist Nikolaus Gerbel. Mit ihnen bezog Schalling, als der Streit um das Abendmahl ausbrach, die Position Luthers. Auf ihr beharrte er. Auch Bucer vermochte ihn nicht zu überzeugen.3 Vielleicht kann dies miterklären, warum er andernorts, aber nicht in der Straßburger Kirche zu Ansehen gelangte. Allerdings war ihm, wie Bucer oder Capito, an Eintracht unter den Evangelischen in dieser für sie so wichtigen Frage gelegen, daher warb er von sich aus bei Luther und bei Melanchthon um Willen zur

1 Alfred Eckert: Martin Schalling sen. um 1490–1552. In: ZBKG 44, 1975, 28–58; Correspondence de Martin Bucer. T. 2 (1524–1526). Hg. v. Jean Rott. Leiden [u. a.] 1989, 171 Anm. 1; Thomas Bergholz: Art. „Schalling, Martin d. Ä.“ In: BBKL 25, 2005, 1234 ff.; Johannes Volker Wagner: Graf Wilhelm von Fürstenberg (1491–1549) und die politisch-geistigen Mächte seiner Zeit. Stuttgart 1966, 186–199, 274 f. 2 Correspondence de Martin Bucer [s. Anm. 1], Nr. 139, 173 f. 3 Correspondence de Martin Bucer [s. Anm. 1], Nr. 109, 50–54 u. Nr. 139, 171–175 sowie Thomas Kaufmann: Die Abendmahlstheologie der Straßburger Reformatoren bis 1528. Tübingen 1992, 305 f. Anm. 214.

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Verständigung.4 Nachdem sie im Mai 1536 in der Wittenberger Konkordie erreicht worden war, unterstützte er mit Übersetzungen sehr tatkräftig das Vorhaben einer Straßburger Ausgabe der Werke Luthers, um solcherart die Autorität des Wittenbergers in Oberdeutschland und den angrenzenden Ländern und damit auch die eben errungene, noch empfindliche Einheit der Evangelischen zu stärken.5 Mit eigenen Werken trat er nicht hervor, doch verfasste er sie,6 zuletzt ein Werk über die Gegenwart des Leibes und Blutes Christi im Abendmahl, das er seinem ältesten Sohn widmete und ihm übergab samt einer Instruktion für das Studium der Theologie, als er im September 1550 nach Wittenberg zog. Ihm, dem Ältesten, der im April 1532 auf den Namen des Vaters getauft worden war, oblag nach dessen Tod die Sorge für die einfache, stets zurückgezogen lebende Mutter7 und die beiden jüngeren Brüder Johannes und Azarias. Dazu das Vermächtnis des Vaters, dem der Sohn, wie er bekannte, nächst Gott alles verdankte. Tatsächlich hatte der Vater darauf geachtet, dass der Sohn als ein trilinguus aufwuchs, dass er die antiken Autoren und gründlicher noch die biblischen Bücher und seine eigenen Werke kannte. Am Vater war der Sohn emporgewachsen. Dass er in seine Fußstapfen treten würde, verstand sich von selbst, allerdings nicht, dass er dies in Straßburg würde tun können: zu viel war dem Vater von seinen Amtsbrüdern angetan worden. Stattdessen erhielt er, gerade zwanzigjährig, die Stelle eines Diakons in Regensburg. Sein Wunsch, in der städtischen Gesellschaft sich einzuwurzeln, den er sehr schnell mit der Heirat einer Bürgerstochter bekräftigte, erfüllte sich jedoch nicht. Vielmehr zeichneten Wechselfälle den Lebensweg, da er, seinem Gewissen gehorchend, einer vermittelnden Theologie das Wort redete, wie der Vater das auch getan hatte. So sah er sich mehrfach vertrieben: aus dem reichsstädtischen Regensburg von den Flacianern und aus dem kurpfälzischen Amberg zuerst von den Calvinisten, dann von den Konkordisten. Doch trugen ihn die Wechselfälle auch in hohe Ämter, die er als Superintendent oder als politicus, als Berater des Kurfürsten, bekleidete. Das ihm zugefügte Unrecht im Druck publik zu machen, unterließ Schalling zunächst. Erst 4 Hierzu die Antwortschreiben Luthers (WA BR 7, Nr. 2273, dat. 27.11.1535) und Melanchthons (Melanchthons Briefwechsel. Kritische und kommentierte Gesamtausgabe. Bd. 6. Hg. v. Heinz Scheible. Stuttgart, Bad Cannstatt 2005, Nr. 1666, dat. ca. 30.11.1535) auf Schallings nicht überlieferte Briefe. 5 Eike Wolgast: Der Plan einer Straßburger Luther=Ausgabe (1536/38). In: Archiv für Geschichte des Buchwesens 7, 1966, Sp. 1135 f.; Olivier Millet: Correspondance de Wolfgang Capiton (1478–1541). Strasbourg 1982, Nr. 656. 6 Martin Schalling: De praesentia corporis et sanguinis Christi in eucharistia institutionum libri tres. Wittenberg 1576 (VD 16 S 2269), A3af. 7 Nach dem Urteil Capitos uxor mire simplex et prorsus mulier est intra parietes latitans (Quellen zur Geschichte der Täufer. Bd. 7/3: Elsaß. T. 3. Bearb. v. Marc Lienhard [u. a.]. Gütersloh 1986, Nr. 814). Zur Biographie s. Alfred Eckert: Martin Schalling 1532–1608. In: ZBKG 38, 1969, 206– 242; Joachim Stalmann: Art. „Schalling, Martin“. In: BBKS 8, 1994, 1583 ff.

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Jahre nach seiner Entlassung durch den calvinistischen Kurfürsten Friedrich III. veröffentlichte er seinen Briefwechsel mit den Wittenberger Theologen wegen der Jrrung der Lehre im heiligen Abendtmahl 8 und zwei Jahre später, 1576, auch die ihm vom Vater übergebene Schrift zur Gegenwart von Leib und Blut Christi im Abendmahl. Diese Schrift widmete er Ludwig, dem Sohn des im Sterben liegenden Kurfürsten, der, wie abzusehen war, nach dem Tode des Vaters unverzüglich das Luthertum in der Pfalz restituieren würde. Dass er nach so langen Jahren zum Druck sich entschloss, meinte er mit dem Nutzen rechtfertigen zu können, den die Arbeit des Vaters, der mit primis Ecclesiae luminibus übereingestimmt, auch heute noch hatte – nicht zuletzt für jene, die ihn, den Sohn, in Amberg hatten predigen hören und ihm dann vorgeworfen, gottlose Lehren zu verbreiten.9 In apologetischer Absicht stellte er zwei Briefe voran: der von Bucer an seinen Vater sollte die Verbundenheit der beiden Männer bezeugen, der von Melanchthon an ihn das vorwaltende Vertrauen. Voller Vertrauen hatte Schalling, nachdem er seinen jüngeren Bruder Johannes zum Studium geschickt, Melanchthon gebeten, ihm den Weg zu einer Stelle zu ebnen. Das hatte Melanchthon auch getan, und Schalling seinerseits hatte sich bemüht, dass Johannes in Amberg, wohin er selbst inzwischen berufen worden war, als supremus an die Lateinschule kam.10 Ebenso hatte er für den jüngsten, im November 1546 geborenen Bruder Azarias gesorgt, der mit ihm und seiner Familie und der alten Mutter erst in Regensburg und dann in Amberg lebte. Neunzehnjährig ging Azarias im Oktober 1565 nach Wittenberg, ausgestattet mit einem Stipendium des Rates von Amberg, das ihm, vff seines bruders supplicirn, in den nächsten zwei Jahren bewilligt wurde, zuletzt, im April 1568, noch einmal ein halbes Stipendium: 20 Gulden für sechs Monate.11 Zu diesem Zeitpunkt war Azarias bereits zum Magister promoviert worden und studierte Theologie. Im Juni erfuhr er vom Rat, dass sein Bruder und ein anderer Prediger auf Befehl des Kurfürsten entlassen werden mussten, er sollte nun behilflich sein, die Cristliche Commun recht rasch wieder mit zwei befähigten Predigern zu versorgen. Da das nicht gelang, erinnerte der Rat seinen Stipendiaten im September an dessen obligation und trug ihm auf, sich ordinieren zu lassen und binnen kurzem nach Amberg zu kommen, wo mit ihm über

8 Martin Schalling: Schreiben an die Herren Theologen zu Wittenberg. Sampt deren Antwort, die Irrung der Lehre im heiligen Abendmahl etc. belangend. [Hof] 1574 (VD 16 S 2271). 9 Schalling, De praesentia libri tres [s. Anm. 6], A5a. Ausführlich zu der Schrift Eckert, Schalling sen [s. Anm. 1], 41–58. Eine weitere Ausgabe erschien 1577 (VD 16 ZV 16782). 10 Eckert, Schalling sen. [s. Anm. 1], 33; zur Immatrikulation an der Universität in Wittenberg s. Album Academiae Vitebergensis. Hg. v. Carl Eduard Foerstemann. 3 Bde. Leipzig 1841–1905, hier 1, 316. Jede weitere Nachricht fehlt, vermutlich starb er früh. 11 Stadtarchiv Amberg Rathsbuch 1567–1568. Bd. 7a. Bl. 412b; zum Folgenden Reformation Nr. 262 (Verhandlungen des Rates mit Azarias Schalling); M[aximilian] Weigel: M. Azarias Schalling. In: ZBKG 5, 1930, 50 ff.

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den Kirchendienst verhandelt werden sollte – anbei die conditiones des Kurfürsten. Doch die konnte der Stipendiat mit gutem gewissen und wenn er, wie billig, dem Rat seiner Lehrer gehorchte, nicht annehmen. Aber der Rat, von politischer Begrifflichkeit beherrscht, mochte das Theologisch-Dogmatische, das hinter dem Gewissen hervor sah, nicht gelten lassen, erst recht nicht (sofern er davon gewusst haben sollte) das väterliche Vermächtnis, das dem Stipendiaten, wie seinen beiden Brüdern, Verpflichtung war; mithin beharrte er auf der obligation, der Stipendiat wiederum auf seinem Gewissen: als er, wandte er ein, sich obligiert hatte, war es mit lehr vnd ceremonijs anders gehalten worden, im Übrigen hatte er für kirchen vnd schulen sich verpflichtet, wie es um letztere stand und wie er in ihnen mit gutem gewissen dienen konnte, wusste er freilich nicht.12 Azarias dürfte sich mit seinem Bruder Martin besprochen haben, der nach seiner Entlassung nach Wittenberg gezogen war und hier nach einer Stelle ausschaute. Und nun auch nach einer für Azarias.13 Sie fand sich in Simmern, wo Pfalzgraf Reichard eine Lateinschule errichten und das Kirchenwesen visitieren lassen wollte; Martin erwirkte, dass er dies gemeinsam mit seinem Bruder tun konnte. Mitten im Schulgeschäft, im Herbst 1569, erreichte Azarias der Ruf des Rates, in Amberg das Rektorat der Lateinschule zu übernehmen. Nach einem kleinen Aufschub trat er das Amt an, besoldet mit 100 Gulden. Da der Rat mit ihm zufrieden war, gewährte er ihm auf seine Anersuchen wiederholt Zulagen, so dass er zuletzt 140 Gulden und 20 Viertel Korn erhielt, zudem vom Ungeld befreit war.14 Amberg zu verlassen gab es keinen Grund; hier hatte er eine Bürgerstochter geheiratet und das Bürgerrecht geschworen,15 hier lebte unterdes auch, von Kurfürst Ludwig VI. berufen, der als Pfarrer und Superintendent zurückgekehrte, überdies dem Kirchenrat angehörende Bruder Martin mit seiner Familie und der alten Mutter. Als aber der Kurfürst nach langem Zögern die Konkordienformel unterschrieb und dies dann von den Amtsträgern in der Kurpfalz verlangte, änderte sich alles.16 Nicht nur an der antiphilippistischen Attitüde nahmen viele Anstoß, auch die Lehre von der Ubiquität schien ihnen bedenklich und der Eintracht im Luthertum, die die Konkordienformel doch herbeiführen wollte, abträglich zu sein. Kurzum, sie brachte, wie viele meinten, nicht Eintracht, sondern Zwietracht. Wieder war es das Gewissen, das Stadtarchiv Amberg [s. Anm. 11], Reformation Nr. 262 Bl. 135af. (29.11.1568). Hierzu die Korrespondenz zwischen dem Rat und Martin Schalling im November 1568 (Stadtarchiv Amberg [s. Anm. 11], Reformation Nr. 261 Bl. 122a-124b) und Schallings Versicherung, seinen Bruder dem Rate nicht abziehen zu wollen (Reformation Nr. 262 Bl. 138a). 14 Stadtarchiv Amberg Bestalungen Gemeiner Stadt Geistlicher vnd Weltlicher diener [. . .], 1555– 1610. Bl. 59af. 15 Heirat mit Margareta Velhorn am 20.10.1571 (Weigel, Azarias Schalling [s. Anm. 11], 31) Bürgerrecht am 25.10.1571 (Stadtarchiv Amberg Bvrgerbvch Bd. 244. Bl. 2a). 16 Zu den kirchenpolitischen Maßnahmen Kf. Ludwigs VI. und zu den Auseinandersetzungen um die Konkordienformel s. Volker Press: Calvinismus und Territorialstaat. Regierung und Zentralbehörden der Kurpfalz 1559–1619. Stuttgart 1970, 284–298. 12 13

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Azarias verbot, zu unterschreiben, ebenso handelten zwei Kollegen und der Bruder. Während der zwar entlassen wurde, aber als kurfürstlicher „Diener vom Haus“ in der Stadt noch wohnen durfte, musste Azarias, für den der Rat vergeblich sich verwandt hatte, woanders auf sein Fortkommen bedacht sein. In Nürnberg, wo er sich gern in den Schuldienst begeben hätte, war keine Stelle frei, und das Angebot, eine priuat schul einzurichten, musste er, da ihm die Mittel fehlten, ausschlagen; sie fehlten so sehr, dass ihm der Rat in Amberg fürs erste den hauszinß erließ.17

2. Windsheim Im November 1583 starb in der fränkischen Reichsstadt Windsheim Magister Simon Ebenritter, nachdem er 17 Jahre lang die Lateinschule geleitet hatte. Bereits Anfang Dezember verhandelten die beiden vom Rat bestimmten Schulpfleger mit Azarias Schalling, den sie zu diesem Zweck auf Kosten der Stadt eingeladen hatten, sie wurden sich sofort einig. Die Witwe sollte, wie es üblich war, ein Quartal noch im Rektorhaus wohnen und solange auch Ebenritters Bezüge bekommen, dann, am 2. Februar 1584, sollte der neue Rektor in das Haus einziehen.18 Windsheim war eine der kleineren Reichsstädte. Als Schalling sein Amt antrat, zählte sie wenig mehr als 2000 Einwohner.19 Da das Bürgerrecht an Grundbesitz gebunden war, Schalling aber im kommunalen Rektorhaus wohnte, blieb er vom Bürgerrecht ausgenommen.20 Auffallend war der Wohlstand der Stadt, zu dem wesentlich das Textil- und das Ledergewerbe beitrugen. Dank dieses Wohlstands war es dem Rat in den zurückliegenden Jahrzehnten gelungen, vier Dörfer vor den Toren der Stadt zu erwerben: ein kleines Gebiet, in dem ihm, wie in der Stadt, auch das jus religionis zustand. 17 Johann B. Götz: Die religiösen Wirren in der Oberpfalz von 1576 bis 1620. Münster 1937, 28 f. Azarias Schalling muss vor Mai 1582 (Bestallung des Nachfolgers) entlassen worden sein (Stadtarchiv Amberg [s. Anm. 14], 1555–1610, Bl. 60a); der hauszinß wurde ihm Ende Januar 1583 für das Kalenderjahr erlassen (Rathsbuch 1579–1583 Bd. 9, Bl. 218b); Stadtarchiv Nürnberg Rst. Nürnberg Ratsverlässe Nr. 1492, Bl. 28af. (09.07.1583). 18 Zum Tod von Mag. Simon Ebenritter am 13.11.1583 s. den Eintrag im Kirchenbuch (LAELKB Nürnberg Bestattungen Windsheim 1560–1604, 79: Rector scholae nostrae circiter annos 17); zu den Verhandlungen s. den Eintrag in der Stadtrechnung (Stadtarchiv Bad Windsheim Stadtrechung E 346 (unfol.) 08.12.1583: Kosten der Herberich). Der Dienstvertrag scheint verloren zu sein. Für viele Schallingiana-Auskünfte und Hinweise danke ich Herrn Michael Schlosser, Stadtarchiv/Stadtbibliothek Bad Windsheim, sehr herzlich. 19 Stadtarchiv Bad Windsheim Stadtrechnung E 347 (1584): 544 Steuerpflichtige (177 in der inneren, 367 in der äußeren Stadt sowie 21 „waltzende“ Bürger). 20 Werner Korndörfer: Studien zur Geschichte der Reichsstadt Windsheim vornehmlich im 17. Jahrhundert. Diss. Erlangen-Nürnberg 1973, 48; zum Folgenden s. auch Hellmuth Rößler: Die Reichsstadt Windsheim von der Reformation bis zum Übergang an Bayern. In: ZBLG 19, 1956, 236–248.

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Mit diesem Recht hatte er in den Reformationsjahren das Kirchenwesen neu geordnet, das Kloster der Augustinereremiten aufgelöst, den Deutschordensherrn das Patronat über die Kilianskirche entwunden und die Zahl der geistlichen Stellen stark reduziert; seither gab es nur noch die Pfarrstelle an St. Kilian, die Stelle des Vesper- und des Spitalpredigers sowie drei Diakonate.21 Der Rat besetzte sie, nachdem er die Geistlichen auf die Augsburgische Konfession verpflichtet hatte. Wie wichtig ihm das jus religionis war und wie verantwortungsvoll er es handhabte, bekundete er mit der Kirchenpflegschaft, mit der er stets zwei ältere Bürgermeister betraute. Sie gehörten zur Spitze des inneren Rates, der aus zwölf Senatoren mit dem vom Kaiser bestätigten Stadtschultheiß bestand, während den äußern Rat zwölf Assessoren bildeten.22 Weil jener sich aus diesem ergänzte, waren die Ratsherren vielfach verwandtschaftlich miteinander verbunden, so dass der Vorwurf der Vetterleinswirtschaft zu Recht erhoben werden konnte. In den Reformationsjahren war er unter Vermittlung des Nürnberger Rates gestillt worden – nicht von ungefähr; denn an der Seite von Nürnberg stand das kleinere Windsheim seit jeher, der Politik der großen Schwester folgte es nach, wie diese verband es das Bekenntnis zum Luthertum mit der Treue zum Kaiser. Zuletzt war dies sichtbar geworden, als Windsheim ebenso wie Nürnberg die Unterschrift unter die Konkordienformel verweigert hatte. Nur deshalb hatte Schalling sich überhaupt bewerben können. Die Verhandlungen hatten die beiden Schulpfleger Paul Stephan und Jakob Hoffmann geführt. Sie begrüßten, dass die kurze Zeit der Zügellosigkeit, in der die auswärtigen Schüler nächtlicherweise die Schule verlassen und auch sonst über die Stränge geschlagen hatten, ein Ende fand.23 Der neue Rektor sollte, wie der verstorbene Vorgänger, 37½ Gulden im Quartal bekommen, dazu Wohnung im Rektorhaus und Heizholz, auch sollte er, gleich den anderen städtischen Bediensteten, von der Steuerpflicht ausgenommen sein, sofern er in der Stadtmark keine Immobilien erwarb.24 Neben dem Unterricht in der oberen Klasse, in der er auch Griechisch lehrte, hatte er die anderen Lehrer zu beaufsichtigen, gemeinsam mit dem Kantor für die Musikpflege zu 21 Wilhelm Dannheimer: Reichsstadt Windsheim. In: Pfarrerbuch der Reichsstädte Dinkelsbühl, Schweinfurt, Weißenburg i. Bay. und Windsheim sowie der Reichsdörfer Gochsheim und Sennefeld. Hg. v. Matthias Simon. Nürnberg 1962, 85. 22 Im einzelnen Korndörfer, Studien [s. Anm. 20], 71–80. 23 Stadtarchiv Bad Windsheim Repertorium [. . .] 1581–1585 B 50 (unfol.) 27.01.1584. Paul Stephan (†1606) war seit 1566 Ratsherr, seit 1586 alter Bürgermeister, seit 1590 Stadtschultheiß (LAELKB Nürnberg Bestattungen Windsheim 1600–1624, 27), Jacob Hoffmann (†1619) war seit 1578 Ratsherr, seit 1588 alter Bürgermeister, seit 1607 Stadtschultheiß (ebd. 171). 24 Stadtarchiv Bad Windsheim Pfründ Omnium Sanctorum 1556–1584 G 104 (unfol.) sowie die Einträge in G 105 (1585–1608), G 179 (1605–1612) und G 180 (1613–1618). Die Bestallung ist nicht überliefert, eine Abschrift erhielt Schalling auf seinen Wunsch im Sommer 1595 (Repertorium [s. Anm. 23], 1593–1596 B 54, Bl. 22b). Zur Steuerordnung Melchior Adam Pastorius: Forma Civitatis Windsheimensis (1675), Bl. 161a-162b.

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sorgen, überdies Theaterstücke einzuüben, die zu Fastnacht oder zu anderen Gelegenheiten auf dem Rathaus aufgeführt wurden und sich wohl auch um die Stadtbibliothek zu kümmern, wenigstens nahm er einmal die Mühe auf sich, die Bücher in einem inventario zu verzeichnen. Wenn abgehende Schüler ein Stipendium beantragten, erwarteten die Schulpfleger Schallings Gutachten; es berücksichtigte Begabung und Fleiß ebenso wie Sittsamkeit und Bedürftigkeit, namentlich ein befähigter, aber armer wais, dessen niemand sich annahm, war seines Fürworts sicher.25 Schallings Votum, scheint es, folgten die Schulpfleger stets. Das mag manche Schüler, die ein Stipendium erhalten hatten, bewogen haben, ihren alten Lehrer um Vermittlung zu bitten, wenn sie es verlängern lassen wollten. Das Ansehen, das er kraft seines Amtes hatte, zeigte sich in seiner Stellung gleich nach dem Pfarrer und dem Vesperprediger, indes die Schulkollegen die Plätze hinter den Diakonen einnahmen. Mit ihnen allen dürfte Schalling gut ausgekommen sein. Nur einmal, im Sommer 1593, verlautet etwas über einen Streit mit dem kinderreichen Diakon Andreas Hetzel, an dessen Sohn der Rektor seinen Unwillen wohl stillte. Dass dieser Streit etwas zu tun hatte mit dem zeitgleichen Streit um den Katechismus, ist nicht zu erkennen. Diesen könnte Pfarrer Nagel ausgelöst haben, der im vergangenen Jahr mit Schalling in eine Auseinandersetzung geraten war über die Person Christi, ihre beiden Naturen und ihre Eigenschaften.26 Vermutlich verdächtigte er den Rektor philippistischer Verirrungen und fand in ihnen eine Handhabe, den Katechismus zu beanstanden, mit dem seit Jahren die Grundbegriffe der christlichen Lehre in der Schule unterrichtet wurden: die Catechesis des David Chytraeus, deren Vorbild die Loci communes von Melanchthon waren, als dessen Hausgenosse Chytraeus einst in Wittenberg gewohnt hatte. Statt ihrer sollte der Katechismus Luthers traktiert werden. Dem Rat war das recht, den Schulkollegen indes nicht; auch Schalling hatte Bedenken, schließlich erklärte er für sich, den Katechismus, sollte er eingeführt werden, nicht auslegen zu können: dan wie er es machen wurde, so wurde er es nicht recht machen. Die Catechesis blieb in Gebrauch, die neue, eben in Leipzig erschienene Ausgabe wurde bestellt und von Schalling mit der Ausgabe des Jahres 1558 verglichen; trotz einiger Abweichungen im Text wurden die 25 Stadtarchiv Bad Windsheim Latinisch Schuel 1603–1624 (unfol.) (Musikpflege), G 179 (6 fl. für Schalling, alls er die Comediam prißciani vfm Rathhaus gehallten, 02.05.1593), Repertorium [s. Anm. 23], 1593–1596 B 54, Bl. 60a (Verehrung wegen gehabter mhue in der Comedi und beim inventario vber die Bibliothecam), s. auch Caplaney im Spital 1581–1596 J 320 (21.02.1597) und E 359; ferner Repertorium [s. Anm. 23], 1593–1596 B 54, Bl. 36b und Repertorium [s. Anm. 23], 1601–1602 B 60, Bl. 35a und Germanisches Nationalmuseum Nürnberg Bestand Reichsstadt Windsheim Fasc. 25 (23.05.1597, 27.02.1600, 28.03.1607) (Gutachten zu Bewerbung um Stipendium), (30.04.1602) (Befürwortung einer Stipendiumverlängerung). 26 Repertorium [s. Anm. 23], 1591–1593 B 53 (unfol.) 05.06.1592 (stritt [. . .] super proprietatib. diuinae naturae communicabilib. et incommunicabilibus); zu Mag. Andreas Nagel (1524–1607) s. Dannheimer, Reichsstadt Windsheim [s. Anm. 21], 98); zum Streit mit Andreas Hetzel (1547–1610) (zu ihm ebd., 93 f.) Repertorium [s. Anm. 23], 1593–1596 B 54, Bl. 27a.

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Bücher mit leeren Blättern eingebunden und an die Schüler verteilt; weitere 200 Exemplare sollten in Nürnberg nachgedruckt werden.27 Wenig später wurde ruchbar, dass aus Nürnberg caluinische büchlein in die Stadt gelangt waren und unter den Schülern umliefen; Schalling und die Schulkollegen wurden befragt – mehr nicht. Doch wurde der Rektor daran erinnert, was er gerade auf Wunsch des Rates in die Newe schuelordnung hineingeschrieben hatte: bessere disciplin zu halten.28 In dieser Ordnung stand die Unterweisung in guten Sitten und ehrbarlichen Künsten obenan. Beides gehörte zusammen. Schon jetzt sollten die Schüler, die später zur Elite gehören würden, zu erkennen geben, dass ein Unterschied war zwischen ihnen und den Idioten oder Handwercks-Buben. Deutlich zeigte sich Schallings Hand in der Vorschrift, für das Studium des Griechischen ein Lehrbuch von Johann Possel und für die Lektüre nach Tisch die Chronik von Matthäus Dresser zu benutzen.29 Zu dieser Zeit verband sich der in die Stadt hineingetragene Streit um die Erwählung, wie er zwischen den Theologen Samuel Huber und Ägidius Hunnius geführt wurde,30 mit dem seit Jahren schwelenden, nun hoch auflodernden und zu einem städtischen Ärgernis werdenden Streit um die Person Christi. Schalling verfolgte ihn aufmerksamen Auges, hütete sich indes, Position zu beziehen.31 Der Rat aber verlangte von den beiden Parteien ein Bekenntnis ihres Glaubens: von dem die Allmacht, Allwissenheit und Allgegenwart Christi behauptenden Pfarrer Nagel und von den drei diese Allgegenwart verneinenden Diakonen, von Georg Wagner und dessen Sohn Paul sowie von Hetzel. Sie hielten sich in ihrem „bekantnuß der waarhafften leer von der Person Christi“ an die Aussagen der Augsburgischen Konfession und deren Apologie, an die Schmalkaldischen Artikel und an Luthers Großen und Kleinen Katechismus und insbesondere an die nützlichen schrifften Melanchthons, unter denen die Loci communes von keinem geringeren als Luther das Repertorium [s. Anm. 23], 1593–1596 B 54, Bl. 28b, 30af., 42a. Zu den 1558 erschienenen Ausgaben der Catechesis s. VD 16 C 2520 und ZV 3303, die von Abraham Lamberg in Leipzig mit dem Druckjahr 1594 vorgelegte Ausgabe (VD 16 ZV 17610) war nach dem Eintrag vom 07.11.1593 im Repertorium schon im Herbst auf dem Markt; am 11.11.1593 erhielt der Nürnberger Buchhändler 5 fl. für 60 Catechismus Chytraej Auf die Latinische schuel (Caplaney im Spital 1581– 1596 J 320). 28 Repertorium [s. Anm. 23], 1593–1596 B 54, Bl. 35b sowie 22b (Ratsbeschluss über die Schulordnung); Die Matrikel des Gymnasiums Windsheim 1678–1887. Bearb. v. Hanns Bauer u. Alfred Roth. Neustadt/Aisch 1987, 47–59 (Druck der am 11.06.1595 erlassenen Schulordnung). 29 Matrikel [s. Anm. 28], 57 f. Da die erste Ausgabe der Calligraphia oratoria linguae grecae von Johann Possel 1585 in Frankfurt am Main erschien (VD 16 P 4405), muss Schalling dieses Lehrbuch eingeführt haben, ebenso die 1589 in Leipzig erschienenen Isagoges historicae p. prima von Matthaeus Dresser (VD 16 D 2714). 30 Zu den dem Rat zugesandten Publikationen von Huber und Hunnius s. Gerlinde Lamping: Die Bibliothek der Freien Reichsstadt Windsheim. Bad Windsheim 1966, 83 u. 105. 31 Hierzu der Sammelband aus Schallings Besitz mit dem Rückentitel HVBERI ERROREM et alia concernant. Scripta (Stadtbibliothek Bad Windsheim VIII p 92). 27

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beste buch nach der Zeit der Apostel genannt worden war; sie baten daher den Rat, in ihrem Bekenntnis geschützt zu werden.32 Dem schien es geraten, das Urteil von Hunnius, seines theologischen Beraters in Wittenberg, einzuholen. Eindeutig erklärte er, dass des Pfarrers Bekenntnis orthodox, das der Diakone kakodox war, und zwar so sehr, dass es die gröbsten Caluinisten in Heidelberg oder in Genf ohne weiteres unterschreiben würden; es schmückte sich mit Melanchthons Schriften, ohne zu bedenken, wieviel Unrichtiges und Unvollkommenes er geschrieben hatte; im Übrigen redete es nicht klipp und klar, so dass zu befürchten war, es werde nach dem Calvinisieren in der Christologie alsbald auch in anderen Lehrpunkten wie dem Abendmahl calvinisiert. Dieses zerstörerischen Streits, meinte Hunnius, wäre der Rat enthoben gewesen, wenn er seinerzeit die Konkordienformel unterschrieben hätte, jetzt jedoch, da alles sich gefährlich gestaltete, wäre es gut, ein Kolloquium, in dem die Geistlichen überzeugt werden müssten, zu veranstalten: er, aufgefordert, fände sich dazu bereit.33 Der Rat dachte anders, er holte noch das Gutachten der Theologen in Jena ein, das in einer summa ebenfalls befand, die Erklärung der Diakone sei auff Calvinischen schlag gerichtet, was mit den Verweisen auf Luther und Melanchthon freilich verkleistert werde; nunmehr verpflichtete er den Pfarrer und die Diakone auf die Lehre, wie sie in der Universität in Wittenberg vorgetragen wurde.34 Nagel triumphierte, noch in der Leichenpredigt ließ er herausstreichen, dass er falscher lehr mit macht gewehrt und falsche Brüder überwunden hatte: Hetzel verließ als erster die Stadt, Paul Wagner folgte ihm nach, sein Vater indes beugte sich.35

32 LAELKB Nürnberg Spit Y 20, 29–41 (Bekandtnus A. Nagels, 25.10.1595) 41–47 (Bekandtnuß der Diakone, undat.). Zu Mag. Georg Wagner (1529–1605) und dessen Sohn Mag. Paul Wagner (1567–1627) s. Dannheimer, Reichsstadt Windsheim [s. Anm. 21], 105. Die Handschrift Spit Y 20 mit dem Titel Collectanea Theologica stammt von Mag. Christoph Welhamer (1585–1646), dessen erste Frau Margarete Tochter von Paul Wagner war (Matthias Simon: Nürnbergisches Pfarrerbuch. Die evangelisch-lutherische Geistlichkeit der Reichsstadt Nürnberg und ihres Gebietes 1524– 1806. Nürnberg 1965, Nr. 1521). 33 LAELKB Nürnberg Spit Y 20, 49 (Rat an Ae. Hunnius, 29.03.1596), 50–63 (Ae. Hunnius an Rat, 21.04.1596). Ägidius Hunnius (1550–1603) war seit Sommer 1593 inspector der vom Rat mit einem Stipendium versehenen Windsheimer Studenten (Repertorium [s. Anm. 23], 1593–1596 B 54, Bl. 12a, 26b), wofür er jährlich 12 fl. erhielt (Germanisches Nationalmuseum Nürnberg Bestand Reichsstadt Windsheim Fasc. 9 Nr. 1: Ae. Hunnius an Rat Windsheim, 02.01.1600, s. auch Fasc. 25 passim). 34 LAELKB Nürnberg Spit Y 20, 289–304 (Iudicium Academiae Jenensis in Ministros Ecclesiae Winshemensis, undat.); Repertorium [s. Anm. 23], 1593–1596 B 54, Bl. 136a (07.10.1596). 35 Georg Scheu: Christliche Leichpredigt bey der Sepultur [. . .] Herrn Andreae Nagels. Onolzbach 1608 (VD 17 14:072322H), 17 sowie die dem Porträt beigegebenen Verse. Hetzel wurde 1597 Frühprediger an St. Clara in Nürnberg, Wagner 1601 Archidiakon in Amberg mit einem vom Windsheimer Rat erbetenen Zeugnis in bona forma (Dannheimer, Reichsstadt Windsheim [s. Anm. 21], 93 f., 105; LAELKB Bestand Superintendentur Neustadt/Aisch Nr. 379 (unfol.): Dekret des Rates über die Kündigung Hetzels innerhalb eines halben Jahres mit der Maßgabe, bis dahin friedlich vnd ruhig sich vf der Cantzel oder sonsten zu verhalten, 01.12.1596; Repertorium [s. Anm. 23],

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Im Februar 1584, als Magister Schalling das Rektorat angetreten hatte, war er mit Frau und Kind, der sechsjährigen Anna, ins Rektorhaus gezogen. Die hier in den nächsten Jahren geborenen Kinder starben früh: Paulus nach dreizehn Monaten und Melchior nach der Nottaufe, Margarete, das Zwillingskind, lebte so kurz wie das letzte Kind, das noch einmal den Namen Melchior erhielt, weil sein Pate wieder der Ratsherr Brotsorg war. Anna starb neunzehnjährig. Ein langes Leben war allein dem im August 1587 geborenen Jakob beschieden. Bei seiner Taufe stand der Schulpfleger Jacob Hoffmann Gevatter, der andre Schulpfleger, Paul Stephan, hatte schon im August 1585 bei Paulus Gevatter gestanden.36 Die Hoffnungen der Eltern ruhten auf Jakob. Auch er sollte, wie das seinem Vater und seinem Onkel Martin bestimmt gewesen war, in die väterlichen Fußstapfen treten. Der Vater gab vor, was er zu lernen hatte. Lernenderweise sog er den späthumanistischen, alten Sprachen und Erscheinungen der Natur zugewandten Geist in sich ein, der auch den Vater bewegte. Von ihm wusste er, was es mit den Sternen am Himmel oder mit den Wechselkindern auf sich hatte. Und was für eine Macht dem Teufel zugelassen war, erfuhr er, wenn in der Stadt eine Hexe hingerichtet wurde.37 Zeitiger als die Altersgenossen verstand er, formvolle Verse zu fertigen38 oder alle Regeln der Rhetorik berücksichtigende Reden zu schreiben. Eine solche, ein encomium urbis Winshemii, durfte er in Gegenwart der Ratsherren, also auch des Paten Jacob Hoffmann, in festlicher Versammlung vortragen, nachdem im Juni 1602 das Schulexamen zur Zufriedenheit der Scholarchen abgehalten worden war. Jakob gestand, wie es sich geziemte, seine 1596–1597 B 55, Bl. 92a: Verhaftung Hetzels wegen gantz ergerlicher Predigt, 18.04.1597, 99b, 102b: Zeugnis des Rates über Entlassung Hetzels, 02., 05.05.1597, Repertorium [s. Anm. 23], 1601–1602 B 60, Bl. 26b: Zeugnis des Rates für Paul Wagner, 25.08.1601). 36 Anna (1578–04.08.1597: aetatis suae 19), Paulus (~ 13.08.1585–30.09.1586), Jakob (~ 08.08.1587–12.12.1632), Melchior und Margarete (~ 20.07.1590), Melchior (~ 10.02.1592) (LAELKB Nürnberg Bestattungen Windsheim 1560–1604, 97, Taufen 1570–1587, 407, Taufen 1587–1599, 14, 91, 128). Sterbeeinträge für die beiden Melchior und Margarete fehlen. Melchior Brotsorg († 1636) war seit 1585 Ratsherr, später Bürgermeister und Stadtschultheiß (Bestattungen Windsheim 1625–1652, 380). 37 Hierzu die auf entsprechende Interessen verweisenden Bücher aus Azarias Schallings Besitz in der Stadtbibliothek Bad Windsheim: XIII B 140 (Kaspar Peucer: Hypotheses Astronomicae. Wittenberg 1571, s. VD 16 P 1994), XIII B 145,1 (Kaspar Peucer: Elementa Doctrinae de Circulis Coelestibus. Wittenberg 1563, s. VD 16 P 1987), XIII B 145,2 (Michael Stanhuf: De meteoris l. duo. Wittenberg 1562, s. VD 16 S 8564), XIII B 146,1 (Bartholomaeus Schönborn: Computus. Wittenberg 1579, s. VD 16 S 3362), XIII B 146,2 (Hartmann Beyer: Quaestiones in libellum De Sphaera Joannis de Sacrobusto. Wittenberg 1573, s. VD 16 ohne Nachweis), VIII a 21,1 (Johannes Wier: De praestigiis daemonum. Basel 1577, s. VD 16 W 2667), VIII a 21,2 (Johannes Wier: De Lamiis liber. Basel: J. Oporinus Nachf. 1577, s. VD 16 W 2652). Die Bände tragen das Supralibros A S. Zur Hinrichtung von Hexen Pastorius, Forma Civitatis Windsheimensis (1670), Bl. 183a. 38 Frühestes gedrucktes Zeugnis ist die mit eigenem Titelblatt versehene Naenia Alcaica ad tumulum [. . .] Matronae Apoloniae Eccardinae (C2a-D3a) in der von Sebastian Heuster in Nürnberg 1602 gedruckten Gelegenheitsschrift auf den Tod dieser Frau (Stadtbibliothek Bad Windsheim XII A 273,28).

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Unberedsamkeit ein, die, wie er auch gestand, von der mächtigeren Liebe zur Vaterstadt überwunden worden war, so dass er diese selbst zu preisen begann: die günstige Lage am Fluss, das gute Klima, die Fruchtbarkeit des Bodens; vernehmbar war der Stolz auf ihre weit zurückreichende Geschichte, auf ihre Zugehörigkeit zum Kreis der Reichsstädte und auf die vortreffliche Regierungsform, die von den Griechen als Aristokratie bezeichnet worden war; so stand es auch um Kirche und Schule zum Besten, seitdem das göttliche Wort, da die Stadt im Jahre 1530 die Augsburgische Konfession unterschrieben hatte, nicht mehr verdunkelt war; als sedes musarum diente die im Jahre 1573 gebaute Lateinschule, in der auch die ampla bibliotheca ihren Platz hatte, schließlich konnten sich seit dem Jahre 1586 die humaniores literae & linguae der Förderung durch Stipendien erfreuen; nicht wenige Windsheimer machten von sich reden, einer war Assessor am Reichskammergericht, ein anderer Professor in Straßburg, und zwei Professoren, sagte Jakob mit Bedacht, die Herren Vitus Ortelius und Sebastian Theodoricus, hatten vor 37 Jahren, als sein Vater in Wittenberg gewesen war, an der Universität gelehrt. Gewidmet war das encomium den als Reipub. Columnas und als Ecclesiae & Scholae benignissimos nutricios gerühmten Ratsherrn.39 Die vergalten es dem Sohn des Rektors mit 6 Gulden und trugen dem Vater auf, für den Druck in Latein und in Deutsch zu sorgen. Doch dann, im Februar 1603, erschien bei Paul Kaufmann in Nürnberg nur eine lateinische Ausgabe, von der der Rat manches Exemplar als Gelegenheitsgeschenk verehrte.40 Keine Schulrede (weder vorher noch nachher) hatte einen Erfolg wie diese.

3. Studium in Altdorf und in Jena Zeitiger als die Altersgenossen war Jakob für die Universität vorgebildet. Nachdem ihm, dem noch Vierzehnjährigen, das Wohlwollen des Rates zuteil geworden war, hätte der Vater durchaus die Gunst der Stunde nutzen und für den Sohn ein Stipendium erbitten können, wie dies nach dem Schulexamen im Januar 1602 beispielsweise Bürgermeister Vogel mit Erfolg für seinen Sohn getan und dieser gegenüber dem Rat sich obligirt hatte.41 Auch der ältere 39 Jakob Schalling: Oratio continens encomium liberae et imperialis urbis Winshemii, scripta recitata, post examen [. . .] die XIIX. Junii Anno Christi MDCII. Nürnberg 1603 (VD 17 14:078317R). Die Widmung trägt das Datum 19.06.1602; s. auch eine Korrektur und zwei Literaturverweise in Schallings eignem Exemplar (Stadtbibliothek Bad Windsheim XII A 273,27). 40 Repertorium [s. Anm. 23], 1601–1602 B 60, Bl. 238a (28.06.1602) und Caplanei im Spittal 1596–1621 J 321 (unfol.) 28.06.1602 und 12.02.1603 (100 Exemplare); s. die Widmung „DD. Coss. E Senatus jussu D. Rochio Meistero datum“ (Stadtbibliothek Bad Windsheim VIII p 94,21); zu Rochus Meister (1571–1632) s. Dannheimer, Reichsstadt Windsheim [s. Anm. 21], 96, 112 f. 41 Repertorium [s. Anm. 23], 1601–1602 B 60, Bl. 106af., 118b; zu den Bedingungen des Stipendiums s. beispielhaft Reverse der Stipendiaten (1572 und 22.03.1596) (Germanisches Nationalmuseum Nürnberg Bestand Reichsstadt Windsheim Fasc. 25).

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Bruder Martin hatte für seinen Sohn Georg ein Stipendium erbeten und dem Rat in Amberg versichert, der Sohn werde es in danckbarlichkeit abdienen, ja er selbst, der Vater, würde, wenn es der Rat verlangte, dies auf sich nehmen.42 Ebendies, die Verpflichtung zum städtischen Dienst nach Maßgabe des Rates, dürfte Rektor Schalling, eigener Erfahrung eingedenk, jetzt und auch später abgehalten haben, seinem Sohn ein gleiches aufzubürden. Er orientierte ihn auf die im Jahre 1575 gegründete Nürnberger Hohe Schule in Altdorf. An ihr konnte man zum Magister in der philosophischen Fakultät promoviert werden und in den anderen Fakultäten fortstudieren, allerdings keinen akademischen Grad erreichen. Dennoch kamen die Studenten in ziemlicher Zahl aus Nürnberg und aus dem lutherischen Franken, nicht zuletzt aus den kleineren Reichsstädten, aus Windsheim indes sehr vereinzelt: ein Student im Jahre 1594, drei im Jahre 1600. Wer aus Windsheim zum Studium ging, wandte sich vorzugsweise nach Wittenberg, zumal an der Wittenberger Universität das städtische Stipendium haftete und der Wittenberger Professor Hunnius als inspector der Windsheimer Studenten wirkte. Neuerdings gingen Windsheimer auch gern nach Jena, um von hier nach Wittenberg zu wechseln.43 Warum, diesem Trend entgegen, Rektor Schalling den Sohn auf Altdorf orientierte, ist kaum zu erkennen. Vielleicht geschah es mit Blick auf Nürnberg, wo der Sohn wohl anders fortkommen konnte als im kleineren Windsheim, zumal in Nürnberg der ältere Bruder Martin als hoch angesehener Prediger lebte; vielleicht geschah es mit Blick auf die „gemäßigt lutherische, melanchthonianisch-philippistische Grundlinie“,44 auf der man in Altdorf schritt und der nachzufolgen der Vater auch für den Sohn als richtig ansah. Am 5. Februar 1603 wurde er gemeinsam mit Sebastian Zadel an der Universität immatrikuliert.45 Doch noch im selben Jahr verließ er sie, begab sich für kurze Zeit nach Nürnberg, wo der Onkel sich seiner annahm, und reiste dann, wieder mit Zadel, nach Jena.46 Hier bestritt er im Dezember zum ersten Mal eine Disputation als Respondent, als der er sich im nächsten Jahr noch öfter übte. Das bevorzugte Thema war der menschliche Körper, auch

42 Stadtarchiv Amberg Rathsbuch 1568–1574 Bd. 7b, Bl. 349a (10.11.1573). Das beleghaft von 1574 bis 1581 gezahlte Stipendium betrug 50 fl., im Herbst 1584 wurde Dr. med. Georg Schalling (1554–1589) als Stadtarzt angestellt (Bestallungen [. . .] 1555–1610 Bd. 470, Bl. 68a-70b). 43 Immatrikulationen von Windsheimern 1595 bis 1605 in Altdorf: 6, in Jena: 13, in Wittenberg: 19. 44 Anton Schindling: Straßburg und Altdorf – Zwei humanistische Hochschulgründungen von evangelischen freien Reichsstädten. In: Beiträge zu Problemen deutscher Universitätsgründungen der Frühen Neuzeit. Hg. v. Peter Baumgart u. Notker Hammerstein. Nendeln 1978, 165. Zu Schallings Wirken in Nürnberg s. Karl Schornbaum: Nürnberg im Geistesleben des 16. Jahrhunderts. In: Mitteilungen des Vereins für die Geschichte der Stadt Nürnberg 40, 1949, 94 Anm. 197. 45 Die Matrikel der Universität Altdorf. Hg. v. Elias von Steinmeyer. Würzburg 1912. 1. T. Nr. 2405 u. 2404. 46 Die Matrikel der Universität Jena. Bd. 1. Bearb. v. Georg Mentz i. Verb. m. Reinhold Jauernig. Jena 1944, 277, 372.

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wenn er nicht umhin kam, andere philosophische Themen nicht zu vernachlässigen. Im Januar 1605 wurde er von Thomas Sagittarius zum Magister promoviert.47 Nunmehr hatte er selbst zu lehren, den philosophischen Disputationen zu präsidieren und in anderen Funktionen, auch der des Dekans, als der er im Februar 1610 fünf Kandidaten zu Magistern promovierte,48 zu amtieren. Dass er manchem Respondenten der von ihm geleiteten Disputationen näher gestanden haben dürfte, lassen Epigramme vermuten, wie er sie für Laurentius Hoffman oder für Wolfgang Latermann, dem späteren Pfarrer und Superintendenten, schrieb.49 Gleichzeitig setzte er das Studium in der medizinischen Fakultät fort, in die er aufgenommen wurde, als Jacob Flach im August 1605 das Dekanat übernahm.50 So schnell Jakob Schalling die philosophische Fakultät durchlaufen hatte, in der medizinischen kam er kaum voran. Zwar trat er auf als Respondent und Opponent, doch zum Graduieren gelangte er nicht.51 Die Gründe sind nur zu mutmaßen. Vielleicht machte ihm Leibskranckheit, von der er später sprach, schon jetzt zu schaffen, vielleicht reg-

47 Zacharias Brendel u. Jakob Schalling: [Disputationum physicarum quarta, pars altera: De Mixto Universo Accepto.] (Dezember 1603?). [Jena] [1603](VD 17 14:704227S), G4a-H2b; Johannes Gottwaldt u. Jakob Schalling: Themata disputationis I. De corpore humano (09.01.1604). Jena 1604 (VD 17 23:284146G); Thomas Sagittarius u. Jakob Schalling: De partibus humani corporis (vor Oktober 1604). In: Thomas Sagittarius: Exercitationes physicae. Jena 1605 (VD 17 39:137471Z), Dd1a-Ee4b; Thomas Sagittarius u. Jakob Schalling: Quaestiones duae philosophicae (26.01.1605). Jena 1605 (VD 17 32:703864Y). 48 Jakob Schalling u. Laurentius Hoffman: Diatribe philosophica de dissentaneis (21.03.1607). Jena 1607 (VD 17 23:284241Z); Jakob Schalling u. Wolfgang Latermann: Disceptatio de demonstrationibus et mixtione naturali problematica (19.05.1609). Jena 1609 (Stadtbibliothek Bad Windsheim XII A 273,30: auf Titelseite Widmung Latermanns für Schalling); Jakob Schalling u. Johann Aurigallus: Volente Domino Jesu; Quam permisit amplissimus ordo philosophorum (27.01.1610). Jena 1610 (ThULB Jena 4 Ph. XI,7,32). Einladung zur Magisterpromotion am 16.02.1610 (Einblattdruck): DECANUS PHILOSO-||PHICI SENATUS M. JACOBUS || SCHALLING [. . .] || [Jena] [1610] (ThULB Jena 20 Hist lit VI, 20, 95). 49 Schalling/Hoffman, Diatribe [s. Anm. 48], B2b; Syncharistika in lauream magistralem, [. . .] Wolfgango Latermanno [. . .] 19. Februarii Anno M D CXI . Scripta [. . .] à Dn. Praecept. & Amicis. [Jena:] 1611 (VD 17 39:153624Q), A2b; zu Mag. Wolfgang Latermann (1580–1659) s. Pfarrerbuch der Kirchenprovinz Sachsen. Bd. 5. Leipzig 2007, 289. 50 Primo modo receptus est Magister Jacobus Schalling Winshem Fr. (Universitätsarchiv Jena Bestand L 1 [1559–1639], Bl. 155r); der undatierte Eintrag gehört in die Zeit zwischen dem 12.08., dem Amtsantritt Flachs, und dem nächsten, am 30.09. datierten, die Visitation der Jenaer Apotheken betreffenden Eintrag. 51 Zur namentlichen Nennung als Opponent der im Juni 1607 von Varus geleiteten Disputatio medica de phtisi (Jena 1607) (VD 17 23:284250Y) die Widmung des Respondenten Ludwig Krösel auf dem Titel des Schalling gehörenden Exemplars (Stadtbibliothek Bad Windsheim XII A 273,17). Zwei im Druck erschienene Disputationen sind nur durch die ältere bibliographische Verzeichnung bekannt: M. Jacob Schallingii Windsh. Disput. De corporibus vegetabilibus. Jena 1610 [. . .] Eiusdem disput. de anima Jenae 1610 (Standortkatalog von Georg Wilhelm Dietz zu Ser I p II Nr. 23); zum 1763 angelegten Katalog s. Michael Schlosser: Bad Windsheim I. In: Handbuch der historischen Buchbestände in Deutschland. Bd. 11. Hg. v. Eberhard Dünniger. Hildesheim [u. a.] 1997, 122.

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ten sich schon Neidsgefährten,52 vielleicht begannen ihn die drei professores publici zu behindern, als er Paracelsus und paracelsistische Ärzte schätzen lernte, vielleicht sogar Umgang mit ihnen hatte und dies nicht verschwieg. Tatsächlich ließen die drei Professoren Flach, Philipp Jakob Schröter und Anton Varus nur die Kunst des Galenus, des Hippokrates und des Avicenna gelten, sie befassten sich mit Physiologie, Pathologie und Therapie, aber kaum mit Anatomie und Pharmazie, und Botanik betrieb lediglich Flach, wenn er, von Studenten begleitet, die Jena umgebenden Berge bestieg. Nicht anders als Flach verachteten auch die Kollegen die paracelsistischen Hermeticos, die, göttliche Namen missbrauchend, einem falschen Wahn folgten; gegen einen, Martin Alberti in Jena, gingen sie sogar gerichtlich vor, in der Hoffnung, ihn und seinesgleichen mundtot machen zu können.53 Wie dem auch gewesen sein mochte, den akademischen Kreisen scheint Jakob Schalling sich kaum zugesellt zu haben, und zu den affinibus et amicis gehörte er nur in wenigen Festschriften: wenn einem Kommilitonen zur Promotion, einem anderen auch zur Hochzeit oder der Tochter von Professor Flach zum Ehestand zu gratulieren war.54 Deutlich jedoch wird der kleine Kreis der Windsheimer in Jena, zu dem seit dem Wintersemester 1603 der Sohn des Bürgermeisters Vogel und seit dem Sommersemester 1605 etliche Studenten gehörten, von denen einer, der gleichalte Sebastian Hornung, mit Jakob Schalling freundschaftlich verbunden war. Er war erst im Sommer 1599 alumnus der Lateinschule geworden, hatte sich dann zum Dienst für den Rat verpflichtet und ein Stipendium bekommen für Jena, wo der Theologe Petrus Piscator sein Inspektor wurde; denn Hunnius, des Rates Inspector in Wittenberg, war unterdes gestorben.55

52 Jakob Schalling: Ophthalmia sive Disquisitio hermetico-galenica de natura oculorum [. . .] Augentrost, Darin von Natur, sichtbaren Bildnissen, Kranckheiten vnd Artzeneyen gehandelt wird. Erfurt 1615 (VD 17 23:298124Z), ija. 53 Justa Funebria clarißimo [. . .] Jacobo Flachio [. . .] Ab [. . .] collegis, amicis & discipulis persoluta. Jena 1613 (VD 17 39:143713C), C2b-C4a (Oratio von Zacharias Brendel); zur nicht näher bekannten Streitsache mit dem paracelsistischen Arzt Martin Alberti in Jena: Stadtarchiv Rudolstadt Kanzlei Rudolstadt C XVI 4g Nr. 16, Bl. 134a-137b (1603); s. auch Ernst Giese u. Benno von Hagen: Geschichte der medizinischen Fakultät der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Jena 1958, 23, 28 f., 85–96. 54 Syncharistika in honorem Benedicti Cotta Isenacensis Tyrig. Jena 1606 (VD 17 39:154110E), A3a; Gratulatoriae acclamationes, quae Michaeli Franco Violsdorfensi Fr. [. . .] in incluta Salana XIX. Febr. Anno MDCXI. [. . .] consecrabantur. Jena [1611] (VD 17 125:005937A), B4b; Syncharistika in lauream magistralem, [. . .] Wolfgango Latermanno, A2b; Carmina Gratulatoria in honorem [. . .] M. Georgii Mylii. Jena [1609] (VD 17 125:004803R), A2bf.; Euphemia in honorem [. . .] Philippi Beyeri Jenensis sponsi, cum virgine Barbara. Jena 1607 (VD 17 125:026598M), A2b. 55 Zu Mag. Sebastian Hornung (1587–1630) s. Matrikel [s. Anm. 28], 121; Dannheimer, Reichsstadt Windsheim [s. Anm. 21], 94; Die Pfarrerinnen und Pfarrer im Rheinland von der Reformation bis zur Gegenwart. Bearb. v. Jochen Gruch. Bd. 2. Bonn 2012, Nr. 5748; das Stipendium betrug anfangs 50 fl. (Germanisches Nationalmuseum Nürnberg Bestand Reichsstadt Windsheim Fasc. 25: Rektor und Doktoren der Universität Jena an Rat Windsheim, 10.03.1607).

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Es fügte sich, dass es Hornung war, der als Respondent der ersten von Jakob Schalling als praeses geführten Disputation im Juli 1606 auftrat. Deren Druck verzögerte der junge Magister nicht, nachdem Sagittarius, der ihn im Januar promoviert, ein ehrenvolles Epigramm verfasst und er selbst den Widmungsbrief geschrieben hatte. Adressiert war er nicht, wie nahelag, an den Vater, sondern an dessen älteren Bruder Martin, den Prediger in Nürnberg. Der Neffe erinnerte ihn daran, dass nunmehr vier Jahre verflossen waren, seitdem er dem Willen der Eltern gemäß Altdorf verlassen hatte und von ihm, dem ehrwürdigen Onkel, mit so großem Wohlwollen und so viel Ehre aufgenommen worden war, dass er sogleich erkannt hatte, er schulde ein Dankeswerk, das angemessen abzuleisten er nicht imstande sein werde; denn er, der ehrwürdige Onkel, hätte sein Wohlwollen damals auf eine Empfehlung an den Cousin beschränken können, dass dieser dem Ankömmling ein Gastwirt, dem Fremden ein Freund, dem Kandidaten des Studiums ein Förderer sein möge, allein er hatte ihm weitaus mehr, alle Erwartungen übertreffende Wohltaten erwiesen; bislang hatte er ihm, dessen so gütiges Gemüt er erfahren, auch nicht den Anschein der Dankbarkeit erzeigen können, wiewohl es sein Herz schon lange wünschte, jetzt aber gaben die gymnastica eine gute Gelegenheit, sowohl an die einstigen Wohltaten zu erinnern als den Dank abzustatten, weshalb er dem ehrwürdigen Onkel das kleine Geschenk widmete und zuschrieb; er möge, bat der Neffe, dulden, dass die Publikation unter seinem Namen lebe und solcherart der Glanz seiner Autorität der ansonsten ungestalten Frucht zuteil werde.56 Den damals bereits erblindeten Prediger dürfte die so wohl formulierte epistola dedicatoria sehr erfreut haben. Als Hornung kam, schied Zadel, dessen Disputationen erkennen ließen, dass er ein politisches Amt anstrebte. Zum Abschied, als propemptica, erhielt er eine kleine, nur einen halben Bogen starke, von Jakob Schalling und Hornung veranlasste und in Druck gegebene Schrift, an der auch der eben immatrikulierte junge Magister Heinrich Nollius, der vorher in Gießen gewesen war, mitgewirkt hatte.57 Jakob Schalling war nie Empfänger einer Festschrift, sehr

56 THEMATA || DE PHILO-||SOPHIA, Quae ad discutiendum. || D. O. M. A D. P. || Ex consensu & permissione Ampliß. Fa-||cultatis Philosophicae proposuit || Publice || M. JACOBUS Schalling/ Wins-||hem. Franc. || [. . .] ||Respondente || SEBASTIANO Hornung/ Winshemensi || [. . .] || In Auditorio majori, || 12. Iulij 1606. Jenae. || [Jena] [1606] (Stadtbibliothek Bad Windsheim XII A 273,31), a1bf. (epistola dedicatoria, 15.09.1609; T. R. D. studiosis. M. [. . .] wird als Tuae Reverendae Dignitatis studiosissimus Magister zu lesen sein), a2b (Epigramme von W. Heider und Th. Sagittarius: Amico meo). Der als amitinus meus bezeichnete Magister Johann Mylius (Müller) (1580–1634) wird der seit 1608 an der Nürnberger Spitalkirche tätige Diakon sein (Simon, Nürnbergisches Pfarrerbuch [s. Anm. 32], Nr. 907), da er nach Schallings Tod als Erbe auftritt; das Verwandtschaftsverhältnis ist nicht klar. 57 ΠΡΟΠΕΜΠΤΙΚΑ ||AD || Politißimum & Doctißimum || Dn. SEBASTIA||NUM ZADELIUM || WINSHEMIO-FRANC. || SS. LL. & CC. Stud. || . . . || SCRIPTA ET EXARATA || à || Popularibus, Commensalibus, & amicos || amicissimis. || I. Augusti || Anno 1606. || Jena 1606 (Stadtbibliothek Bad Windsheim XII A 271,17). Als Respondent bestritt Zadel am 16.08.1605

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selten Empfänger eines Epigramms oder einer Widmung – letzteres lediglich als Sohn des so verdienstvollen, ehrwürdigen Rektors Schalling.58 4. Chymiatrie Was die Professoren in Jena nicht lehrten, lehrten die in Marburg, namentlich Johann Hartmann, der chymiatriae professor publicus, als welcher der Leibarzt des Landgrafen Moritz erst unlängst, im Jahre 1609, ernannt worden war. Er hatte sogleich begonnen, ein chemisches Laboratorium zu errichten, in dem er mit den Studenten, die ihn zu hören von weither kamen, Heilmittel herstellte. Sehr rasch erschien die erste, unter seiner Leitung entstandene chymiatrische Arbeit, weitere folgten, die schon im Jahre 1611, gesammelt als Disputationes Chymico-medicae, in Druck gelangten.59 In diesem Jahr, wahrscheinlich zu Beginn des Sommersemesters, wurde Jakob Schalling in die Matrikel eingeschrieben.60 Vor ihm war, solange die Universität bestand, nur ein Windsheimer in Marburg gewesen: Johannes Seyfried im Sommersemester 1599.61 Was ihn hergeführt hatte, ist nicht zu sagen, Jakob Schalling aber wurde von dem Chymiater Hartmann angezogen. Doch dürfte er, von ihm angeleitet, nur wenige Zeit im Laboratorium verbracht und nur wenige Eindrücke von ihm empfangen haben. Erst recht gelangte er nicht in den Kreis um den Professor, wie er auch keine Disputation bestritt. Vielleicht vertrieb ihn frühzeitig die Pest, jedenfalls verließen viele Studenten die Stadt, so dass am Ende des Semesters niemand promoviert werden konnte.62 Jakob Schalling reiste zu der anderen, erst im Jahre 1605 in konfessioneller Konkurrenz gegründeten hessischen Universität in Gießen. Hier traf er Hor-

eine Disputatio Ethico-Politica (VD 17 14:677032H). Zur Immatrikulation von Mag. Heinrich Nollius s. Matrikel [s. Anm. 46] 1, 225. 58 S. die Widmungen in der Wittenberger Dissertation von 1601 und der Jenaer Dissertation von 1611 der beiden aus Windsheim stammenden Studenten Hieronymus Lucius und Johann Georg Hagen, in denen der frühere Mitschüler Schalling mit anderen Bewidmeten als fautor und amicus (A2a) bzw. als fautor und mecoenatus (A1b) bezeichnet wird (VD 17 23:000152S und 547:655542B). Lucius war alumnus der Lateinschule, wurde zuerst in Jena, im März 1600 in Wittenberg immatrikuliert (Matrikel [s. Anm. 28], 121; Matrikel [s. Anm. 46] 1, 191; Album [s. Anm. 10] 2, 464), Hagen wurde im Juni 1610 in Altdorf, wenig später, noch im Sommersemester, in Jena immatrikuliert (Matrikel [s. Anm. 45] 1. T. Nr. 3264; Matrikel [s. Anm. 46] 1, 137: Hagius). 59 Rudolf Schmitz: Die Naturwissenschaften an der Philipps-Universität Marburg 1527–1977. Marburg 1978, 193–197; Johann Hartmann: Disputationes chymico-medicae. Marburg 1611 (VD 17 23:292105T). 60 Iacobus Scallingius Winsheimofrancus M. (Catalogus studiosorum scholae Marpurgensis. Bd. 1– 4. Hg. v. Julius Caesar. Marburg 1875–1888, Bd. 4, 62). 61 Catalogus [s. Anm. 60] 3, 127. 62 Catalogus [s. Anm. 60] 4, 63.

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nung wieder. Noch in der Jenaer Zeit hatten ihm die Windsheimer Ratsherrn eine von Rektor Schalling befürwortete Zulage zum Stipendium gewährt; dass das Geld gut angewandt war, hatte Hornung bewiesen, als er ihnen im Juli 1609 eine theologische Disputation dediziert und sie gleichzeitig gebeten hatte, ihm das Stipendium zu verlängern und zuzulassen, dass er nach Gießen sich wende, weil dort fürtrefliche Theologen lehrten.63 Gemeint waren Johann Winckelmann und Balthasar Mentzer, die vormals in Marburg gelehrt hatten. Im Sommer 1605 waren sie ihrer Lehrstühle entsetzt worden, da sie die verordneten Verbesserungspunkte nicht hatten vollziehen wollen, sie hatten Stadt und Land fluchtartig verlassen und in Gießen sich unter den Schutz des Landgrafen Ludwig gestellt. Sofort hatten sie in diesem Teil der Landgrafschaft eine Universität inspiriert und organisiert, auch namhafte Gelehrte zu gewinnen gewusst und schon nach zwei Jahren, im Herbst 1607, erleben dürfen, dass die neue Hochschule vom Kaiser privilegiert wurde.64 All das war Hornung bekannt gewesen, als er dedizierender- und supplizierenderweise den Ratsherrn in Windsheim geschrieben hatte. Und die, seine Karriere im Kirchendienst bedenkend, hatten der Bitte nachgegeben. So war Hornung im Oktober 1609 mit den vielen Disputationen, die er zwischenzeitlich erworben und noch in Jena hatte einbinden lassen, nach Gießen gefahren und hatte sich immatrikuliert. Sofort war er mit Mentzer in ein fast freundschaftliches Verhältnis gekommen. Dem gefielen gottseligkeit, fleiß,tugendt vndt erbarkeit des jungen Mannes so sehr, dass er den Ratsherrn in Windsheim empfahl, ihren Stipendiaten auch weiterhin zu fördern; das sagten sie, als es ins siebte Jahr ging, auch zu, wünschten aber, dass er nunmehr, im Frühjahr 1611, endlich eine Probe seines Predigens zeige; denn dass er trefflich disputieren konnte, hatte er erneut bewiesen.65 Zu dieser Zeit, am 6. Mai 1611, wurde Jakob Schalling in die Matrikel eingetragen.66 Auch in Gießen waren ein hortus medi63 Lamping, Bibliothek [s. Anm. 30], 46 Anm. 126. Die als selbständiger Druck nicht bekannte Disputation ist eingegangen in Petrus Piscator: Commentarius in librum symbolicum omnium ecclesiarum augustanam confessionem invariatam amplectentium: Disputationibus XIV. Jena 1610 (VD 17 39:145326U), 49–117 als gegen die „neuen Manichäer“ gerichtete Disputatio II. de peccato originis, quod non sit Substantia, deren Respondenten Mag. Justus Jacobi am 09.08.1606 und Sebastian Hornung am 15.07.1609 waren. Germanisches Nationalmuseum Bestand Reichsstadt Windsheim Fasc. 25: A. Schalling an Rat Windsheim, 28.03.1607 sowie S. Hornung an Rat Windsheim, 17.07.1609. 64 Theodor Mahlmann: Art. „Mentzer, Balthasar I.“ In: BBKL 5, 1993, 1273–1285. 65 Sebastianus Homung [!] Winshemius Francus (Matrikel [s. Anm. 65] 1, 182); Stadtbibliothek Bad Windsheim XII A 271 (datiert 02.07.1607 mit Preisangabe 19 gr für Buchbindearbeit) und XII A 275; s. auch Lamping, Bibliothek [s. Anm. 30], 134, die den Band XII A 271 nicht verzeichnet. Germanisches Nationalmuseum Nürnberg Bestand Reichsstadt Windsheim Fasc. 25: B. Mentzer an Rat Windsheim, 11.03.1611, Rat Windsheim an B. Mentzer, 30.04.1611. Undatierte, von Mentzer geleitete Disputatio IX. über Apg 20, 28 in: Disputationum theologicarum de praecipuis quibusdam horum temporum controversiis, in Academia Giessena publicè habitarum, Tomus V. Gießen 1614 (VD 17 1:053442Z), 196–209. 66 Matrikel [s. Anm. 65], 190.

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cus und ein laboratorium chymicum eingerichtet worden, und die Statuten der medizinischen Fakultät erlaubten, auch recentiorum inventa vorzutragen.67 Das mochte ihn angelockt haben, konnte er doch sein Wissen in der ihn interessierenden Anatomie bei Gregor Horstius, der gerade seine De natura humana libri duo verfasste, vertiefen, vielleicht den ersten Sektionen zusehen und Vorlesungen hören, für die der botanische Garten die Pflanzen lieferte: anregend war die Verbindung von Buchwissen und Praxiswissen allemal.68 Überdies verkehrte er mit chymisten und führte selbst Versuche durch. Indes ist nicht zu erkennen, dass er bedacht war, in der medizinischen Fakultät litteras testimoniales zu erwerben; ein medizinischer Traktat, den er neben einem philosophischen erarbeitete, hätte durchaus disputiert werden können.69 Im Übrigen blieb er nicht lange – wohl nicht zuletzt weil Hornung sich anschickte, Gießen zu verlassen und als Prediger nach Kleve an den Niederrhein zu gehen. Dort wurden die Lutheraner neuerdings begünstigt, sie benötigten Prediger, und Mentzer nannte geeignete Kandidaten: unter ihnen Hornung, den eine Zeitlang freizugeben er die Ratsherrn in Windsheim bat. Die mussten sich umso weniger bedenken, als ihr Stipendiat die Predigtprobe zwar wohl bestanden hatte, in der Stadt aber vorläufig in kein Amt gebracht werden konnte.70 So zog Hornung nach Kleve, während Jakob Schalling nach Erfurt ging, im Gepäck das Manuskript des philosophischen und des medizinischen Traktats. 5. Erfordia paracelsica Im Wintersemester 1612 immatrikulierte er sich als medicinae candidatus.71 Wenn er wirklich in medicinam profitieren wollte, hätte er nach Basel, besser noch nach Padua oder nach Montpellier gehen müssen oder, wenn die Mittel nicht reichten, nach Wittenberg oder wieder nach Jena: Erfurt aber verbot sich; denn die medizinische Fakultät war verwaist.

67 Hans Georg Gundel: Die ältesten Statuten der Gießener Medizinischen Fakultät. Leges et Statuta Collegii Medici. Gießen 1979, 24. 68 Hans Theodor Koch: Die Universitätsausbildung und frühen akademischen Jahre Gregor Horsts (1578–1636). In: Die Medizinische Fakultät der Universität Gießen: Institutionen, Akteure und Ereignisse von der Gründung 1607 bis ins 20. Jahrhundert. Hg. v. Ulrike Enke. Stuttgart 2007, 32 f. – Vorlesungsverzeichnisse aus dieser Zeit sind nicht überliefert. 69 Jakob Schalling: D. S. G. Philosophia transnaturalis è sancta scriptura naturae obviis exemplis, sapientium virorum sparsis testimoniis accincta per labores Giessenos. Adjecta est his inquisitio Physica Febrium. [Erfurt] 1614 (VD 17 39:142470B). Die vorangestellte Abkürzung wird Deo soli gloria zu lesen sein. 70 Germanisches Nationalmuseum Nürnberg Bestand Reichsstadt Windsheim Fasc. 25: B. Mentzer an Rat Windsheim, 16.07.1611, Rat Windsheim an B. Mentzer, 16.08.1611. 71 Acten der Erfurter Universität. Bearb. v. Johann Christian Hermann Weissenborn. Bd. 2. Halle/ Saale 1884, 515 (mit Vermerk über die Zahlung der Immatrikulationsgebühr: 1 flor).

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Zuletzt hatte ihr nur noch Andreas Starck angehört, aber er hatte drei Jahre zuvor das Amt des Dekans niedergelegt, um vom Rat in Mühlhausen als Stadtarzt sich in Dienst nehmen zu lassen. Sein Stand an der Fakultät war ohnehin ein sehr schwerer gewesen, nachdem er im Jahre 1580 von Felix Platter in Basel zum Doktor der Medizin promoviert und nach Erfurt zurückgekehrt war;72 wohl war er in die Fakultät aufgenommen worden, aber den Ton in ihr gaben nach wie vor ausgesprochene Anti-Paracelsisten an. Sie hielten die studia humaniora hoch, mithin die in ihrer klassischen Gestalt wieder verlegten Werke der antiken Autoritäten, deren wirklichen Wert nur der eruditus zu ermessen vermochte, nicht aber der im Halb- oder Unwissen steckende practicus. Er wurde verunglimpft. Auf eine sehr wirksame Weise war das im Jahre 1588 geschehen, als ein Anonymus sein Bedencken von den vmblauffenden Alchimistischen Artzten in ein Gespräch gekleidet, das viele Leser gefunden hatte.73 Diese wurden vom vnpartheiischen Autore belehrt, dass sie von den Paracelsisten sich fernhalten sollten, da diese weder verba noch res kannten, mit Lug und Trug umgingen und der Magie sich bedienten. Der Anonymus sprach vom faulen Pfarrer und vom verlaufenen Studenten und zielte, wie es schien, auf Magister Johannes Gramann, der im albertinischen Schönstedt Pfarrer gewesen war, und auf Sebastian Greiff, der studiert, aber nicht graduiert hatte. Greiff war es gewesen, der auf das Famos Libell, wie er es genannt, geantwortet, nachdem er jahrelang das Verspotten und Verhöhnen beschwiegen hatte.74 Vielleicht hatte er den Verfasser vermutet in dem in Padua zum 72 Erich Kleineidam: Universitas Studii Erffordensis. Überblick über die Geschichte der Universität Erfurt. Bd. 3. Leipzig 1980, 234 f.; zu ergänzen: 21.05.1579 immatrikuliert Universität Padua (Matricula nationis Germanicae artistarum in Gymnasio Patavino, 1553–1721. Hg. v. Lucia Rossetti. Padua 1986, Nr. 384). Starcks Promotionsthema lautete: Sintne pili & Vngues ad partes corporis similares referendi? (PROGRAMMATA || MEDICI=||NAE OMNIVM || DOCTORVM || PVBLICE PRO=||MOTORVM || BASILIAE || A || RELIGIONIS RE=||FORMATO=||NE || M D XXXII || AD || ANNVM || M C IV. || Inclusive. || [Basel] 1604) (FB Gotha Phil 20 215/2 3,22v). 73 [Bruno Seidel:] Bedencken vnd einfeltiges Gesprech: Von den vmblauffenden Alchimistischen Artzten, [. . .] dem Leien vnd gemeinem Man zur warnunge gestalt. Erfurt 1588 (VD 16 B 1461). Auf Seidel als Autor verweisen u. a. die Vorliebe für sprichwörtliche Wendungen, die Anspielung auf eine von ihm verfasste medizinische Schrift (F6b sowie VD 16 ZV 14315) und ein zeitgenössischer Eintrag auf dem Titelblatt des Wolfenbütteler Exemplars (Bruno Seidelius uidetur huius libelli author esse.). Zu Dr. med. Bruno Seidel (um 1530–1590) s. Killy Literaturlexikon 11, 1991, 498 f. (Hermann Wiegand); Grabstein mit Todesdatum 05.09. und Porträt in der Kaufmannskirche von Tim Erthel, Erfurt, identifiziert. 74 Sebastian Greiff: Apologia vnd Refutation [. . .] Wider das Famos Libell vnd Schmehe gesprech/ von den Alchimistischen Artzten dem Paracelso vnd seinen Discipulis. Vnter dem Titel vnd schein einer Leyen warnunge/ Durch einen Namenlosen in Druck gegeben/ vnd vnter die Leute gezettelt. O. O. 1589 (VD 16 ZV 25884), D3b: Jch hab geschwiegen lang furwar/ Auch lenger dann nun zehen Jahr/ Vnd spottens hönes nit so viel/ Erduldet on maß vnd ziel/ Als jtzund wegen dieser Schrifft. Zum Exemplar der Bayerischen Staatsbibliothek s. die „Anm.“ von Karl Sudhoff: Bibliographia Paracelsica. Besprechung der unter Hohenheims Namen 1527–1863 erschienenen Schriften. Berlin 1894, Nr. 320). Auch ihm blieb der Bezug zu [Seidel], Bedencken [s. Anm. 73] verbor-

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Doktor der Medizin promovierten Bruno Seidel. Der hatte in seinem Bedencken zu erkennen gegeben, dass er sich von keinem Kranken konsultieren ließ, der auch den Rat der paracelsistischen Ärzte einholte. Diese aber, nicht nur die Doctores der medizinischen Fakultät, waren es, die der Rat in Dienst zu nehmen begann: Greiff als bestallten Hospital= vnd Stadtartzt, Gramann als bestallten medicum. Jener hatte die Wundartzeney von Paracelsus mit eignen Erfahrungen so vermehrt, dass sie nach seinem Tode innerhalb weniger Jahre zweimal verlegt wurde;75 dieser hatte sehr wirksame, noch nach mehr als hundert Jahren erfolgreich verordnete Medikamente erfunden, in seinen Veröffentlichungen von den Galenicis als den Pseudomedicis gesprochen und dem Dekan Joachim Quernt, der ihn im Jahre 1593 von Amts wegen getadelt, die Stirn geboten.76 Reichsweit war die causa Gramaniana bekannt geworden, als in Frankfurt am Main zwei gegen Gramann gerichtete Schriften erschienen waren, um am Beispiel dieses Mannes, eines impostoris, alle Paracelsisten als gefährliche Gesellen, denen man aus dem Wege zu gehen hatte, zu verunglimpfen. Gramann betrog, indem er das Sal Gramani, das allenfalls als Tinte taugte, als Medikament verkaufte, er betrog auch, indem er die Schriften des Galenus falsch zitierte und explizierte, und er betrog, indem er, ohne voziert und examiniert zu sein, einen Philosophum & medicum Erfurdensem sich nannte. So wie er handelten alle Paracelsisten, insofern war die Erfurter causa Gramaniana keine Privatsache, wie überhaupt der Paracelsismus die lernae hydra

gen (s. aber Will-Erich Peuckert: Pansophie. Ein Versuch zur Geschichte der weißen und schwarzen Magie. Berlin 21956, 473 Anm. 1). 75 Sebastian Greiff: Wundartzeney/ Vor dessen Aus [. . .] Paracelsi Schrifften colligiret, vnd aus 28. järiger selbst eigener erfahrung vnd handübung beschrieben vnd hinterlassen [. . .] Jetzo [. . .] publiciret durch Johann: Mercker/ D. [. . .] . [Jena] 1622 (VD 17 12:190825H); zweite Ausgabe 1630 (VD 17 12:194259T); s. auch Sudhoff, Bibliographia [s. Anm. 74], Nr. 320, 335. Als medicus, Quernt nachfolgend, erhielt Sebastian Greiff († 1616) vom Rat jährlich 30 sch. (s. die Einträge in der Großen Mater für die Jahre 1599 bis 1615: Stadtarchiv Erfurt 1–1 XXII 2 Bd. 15–30, jeweils Bl. 146r bzw. 146v, Bd. 31, Bl. 172c: Jharß bestallung Wegen der Cura der Hospithall, 11.02.1615; 1587 betrug Greiffs steuerpflichtiges Vermögen 428 fl. und 2 Mark Silber (1–1 XXIIIa Bd. 13, Bl. 59r). 76 Richard Loth: Das Medizinalwesen, der ärztliche Stand und die medizinische Fakultät bis zum Anfang des 17. Jahrhunderts in Erfurt. In: Jahrbücher der Königlichen Akademie der Wissenschaften zu Erfurt 30, 1904, 525 f.; Kleineidam, Universitas [s. Anm. 72], 227 f., 234. Zu Mag. Johannes Gramann († 1606) s. Pfarrerbuch der Kirchenprovinz Sachsen. Bd. 3. Leipzig 2005, 353; als medicus erhielt er in den Jahren 1598 bis 1605 vom Rat jährlich 50 fl. (Stadtarchiv Erfurt 1–1 XXII 2 Bd. 15–21, jeweils Bl. 69b) und veröffentlichte die auch bibliographisch noch unbekannten Einblattdrucke: Kurtzer Bericht/ wie man in dieser [. . .] graßirenden || Pestilentz/ sich bewaren/ Curiren vnd heilen sol. || [Erfurt] 1597 (FB Gotha 1152/5,13); Aurum laxatium, || [. . .]. || O. O. O. J. (FB Gotha 1152/5,16); Wie das Alexi pharmacum || Spagiricum, vnd Paracelsischer Theriack zu ge=||brauchen/ [. . .] || Erfurt 1600 (FB Gotha 1152/5,11); 1605 betrug Gramanns steuerpflichtiges Vermögen 720 fl. (Stadtarchiv Erfurt 1–1 XXIIIa Bd. 20, Bl. 454b); s. auch das Urteil des Sohnes Georg Gramann (Ein sonderliche Chymische Reise vnd HaußApotheca [. . .]. Erfurt 1618, 23) (VD 17 23:296018K).

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war.77 Wahrscheinlich hatte Andreas Libavius in Rothenburg an der Tauber, der als chymicus einen guten Ruf genoss, dies schreiben müssen zur Verteidigung der reinen Chemie gegen die schwarze, wie sie die pseudochymici betrieben, und dadurch das von ihm gepflegte Fach in Verruf brachten. Doch schienen die Traktate dem Ansehen Gramanns in der Stadt ebenso wenig geschadet zu haben wie vorher die gegen ihn gerichteten programmata des Dekans Quernt und die oratio des Magisters Hübner. Auch als Gramann im Jahre 1606 gestorben, war es mit ihm und seiner Sekte, die Libavius verwünscht hatte,78 keineswegs aus gewesen. Das hatte auch an dem paracelsistisch geneigten Doktor Starck gelegen, der, als Quernt im Jahre 1600 gestorben, bloß mit werbenden Worten zur Nachfolge zu bewegen gewesen war: andernfalls wäre die Fakultät fremdverwaltet worden. Er selbst hatte sie aber auch nur verwaltet und es unterlassen, „assessores“ aufzunehmen, die gleich ihm von bericht Gottes Worts/ vnnd der Alten/ Auch deß newen deutschen Artzts Theophrasti Paracelsi Lehr vnd meinung sich leiten ließen.79 Er wusste, dass ohne anatomisches Theater, ohne chemisches Laboratorium, ohne botanischen Garten moderne Medizin nicht gelehrt werden konnte, er wusste auch, dass diese Einrichtungen zu schaffen, die Universität und ihr Patron, die Stadt, nicht willens und nicht vermögend waren. Starck gehörte zu jenen, die von der institutionalisierten Medizin nichts erwarteten, die Arzt sein wollten, und es daher vorzogen, an das Bett des Kranken zu gehen oder dem Kranken mit ihren Büchern zu raten: wie er sich wirksam von Krankheiten kurieren konnte. Solch ein Arzt war auch David Crusius, der nach Erfurt zurückgekehrt, als Starck im Jahre 1609 weggegangen war. Jakob Schalling muss Crusius in Jena, wo er Vorlesungen bei Flach, Schröter und Varus gehört hatte, kennengelernt haben. Anders als er hatte Crusius sein Medizinstudium zielstrebig fortgesetzt, er hatte, jeweils mit Empfehlungsschreiben versehen, die Professoren in Leipzig, in Wittenberg, in Marburg, in Gießen und in Straßburg aufgesucht und dann, zur Promotion in arte Medicinam, sich nach Basel begeben. In Erfurt praktizierte er als Arzt mit einem schnell ausstrahlenden Ansehen, das ihn 77 Andreas Libavius: Neoparacelsica. Frankfurt/Main 1594 (VD 16 L 1500), darin Liber Antigramaniorum 184–731, 297, 315 (Sal Gramani); ders.: Antigramania secunda. Frankfurt/Main 1595 (VD 16 L 1490) 3 (lernae hydra), 30, 51, 70 passim (in citando et explicando Galeno admittit crimen falsi), 123–126 (philosophus & medicus Erfurdenses), 5, 3 (Paracelsismus est lernae hydra). Zur Selbstbezeichnung s. z. B. Johann Gramann: Tractatus de pharmaco purgantis [. . .]. Erfurt 1593 (VD 16 ZV 6930). 78 Gramanum autem etiam cum sua secta ad coruos ablegamus (Libavius, Antigramania [s. Anm. 77], 85). Zu Andreas Libavius s. Ludwig Schnurrer: Andreas Libavius (ca. 1558–1616). In: Fränkische Lebensbilder. Bd. 15. Neustadt/Aisch 1993, 85–106. 79 S. das Titelblatt: Andreas Starck: Krancken Spiegel Das ist Kurtzer Vnterricht [. . .]. Mühlhausen 1598 (VD 16 S 8626); Sudhoff, Bibliographia [s. Anm. 74], Nr. 244 charakterisiert das Werk: Reich mit Citaten aus Paracelsus gespickt. Als Physicus wurde Starck in den Jahren 1589 bis 1607 jährlich mit 100 fl. besoldet (Stadtarchiv Erfurt 1–1 XXII 2 Bd. 5–23, jeweils Bl. 68b, 69a, 69b).

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Leibarzt werden ließ von Herzog Johann Ernst in Weimar, von Fürst August in Dessau und von Kurfürst Johann Georg I. in Dresden; auf einen Lehrstuhl wollte er weder in Gießen noch in Rinteln, erst recht nicht in Erfurt.80 Doch verfasste und veröffentlichte er wissenschaftliche Werke, in denen er sich als Paracelsist bekannte, und verhalf anderen paracelsistischen Werken zum Druck.81 Wenn vormals Paracelsistisches, wie von Gramann oder von Greiff, publiziert worden war, hatte der Dekan der medizinischen Fakultät seine Amtskraft gebraucht, jetzt, da kein Dekan amtierte, konnte das nicht geschehen, statt dessen erhoben sich missgünstige momi, die Crusius zu schmähen suchten82 – und mit ihm alle anderen seines Schlages. Auch Jakob Schalling.

6. Augentrost Der hatte die Traktate, die er in Gießen begonnen, in Erfurt beendet und sie bei Johann Birckner in Verlag gegeben. Die zustimmenden Zitate aus Schriften des Paracelsus zeigten, dass diesem in dem cand. med. ein discipulus erwachsen war. Wahrscheinlich besaß er die zweibändige, von Johann Huser in Straßburg herausgegebene Opera-Ausgabe im Folioformat, aus der er zitiert hatte.83 Wahrscheinlich zitierte er aus ihr auch in den Vorlesungen, sofern er sie privatim in der philosophischen Fakultät hielt, und wahrscheinlich zog er sie zu Rate in der sehr bald bekannt gewordenen ärztlichen Praxis, die er in der Stadt betrieb. Die von ihm chemisch hergestellten Medikamente, namentlich für Krankheiten des Auges, wurden gepriesen, da sie „erstaunliche Wunder“ bewirkten.84 In dieser Zeit entstand die ambitionierte Augenheilkunde. Pünktlich zur Herbstmesse 1615 lag die Ophthalmia vor,85 die bereits auf dem Titelblatt 80

Loth, Medizinalwesen [s. Anm. 76], 450 f. David Crusius: Theatrum morborum hermetico-hippocraticum. Erfurt 1615 (VD 17 39:139446B); ders.: Theatrum morborum hermetico-hippocraticum pars posterior. Erfurt 1616 (VD 17 3:305495D). Einer zeitgenössischen handschriftlichen Bemerkung im Gothaer Exemplar der seit langem vergriffenen Idea Medicinae Philosophicae von Petrus Severinus (a2a) kann entnommen werden, dass Crusius den Neudruck (Erfurt 1616) veranlasst hatte (VD 17 12: 161977F). Es ist möglich, dass der Titelblattvermerk Allen Filiis doctrinae zum besten durch einen || liebhaber der Kunst in Deutsche Sprache ge=||bracht/ vnd in Druck gegeben auf der von Johann Birckner in Erfurt 1624 verlegten Ausgabe der Schriften von George Ripley (VD 17 39:116524K) auf Crusius zu beziehen ist. 82 Crusius, Theatrum morborum [s. Anm. 81] 2, 8af. (die Resonanz auf den im Vorjahr erschienenen ersten Teil reflektierende, die Leistung von Crusius anerkennende Verse von Henning Rennemann). 83 Die Angaben ex mag secr. 682. fol. und Idolum. nat. 283. fol. (Schalling, Philosophia [s. Anm. 69], 98 f.) beziehen sich auf Philipp Theophrast Bombast von Hohenheim: Opera [. . .] Ander Theyl. Straßburg 1603 (VD 17 12:168390P). 84 Schalling, Ophthalmia [s. Anm. 52], 3bf. (Epigramm von Modestinus Weitman). 85 Jacobi Schallingi Winshemio Franci Ophthalmia, sive disquisitio Hermetico Galenica de 81

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angab, eine disquisitio hermetico-galenica zu sein. Gegliedert war sie in die drei Teile Anatomie, Physiologie und Pathologie mit Pharmakologie. Sie wollte nichts weniger sein als ein Lehrbuch zur Unterrichtung des Arztes und des Kranken. Beide erfuhren zum ersten Mal über die Linse als den Sitz des Stars, sie erfuhren über das aus einseitiger Linsenlosigkeit herrührende sogenannte blöde Gesicht, über die Wechselwirkung von Augen- und anderen Krankheiten, beispielsweise der Lues, vor allem aber über die von Jakob Schalling studierten oder von ihm mit thätlicher kunst erhobenen Mittel und Medikamente, Krankheiten des Auges zu heilen oder ihnen vorzubeugen. Sie lasen von den vielen im Volk verbreiteten Vorstellungen über vermeintlich wohltuende Mittel, die in Wahrheit zu verwerfen waren – ausgenommen einige edle Steine. Manches Mitgeteilte, wie die Ursache des blöden Gesichts, beruhte auf Beobachtungen, die Jakob Schalling gemacht hatte, anderes, wie die tief im Innern vor sich gehenden Prägungen beim Anblick bestimmter Dinge, verriet seine Einsichten in die Beziehungen zwischen Körper und Seele, wieder anderes sein Wissen um die sinnliche Wirkung von Farben.86 Letzterem war wohl zuzuschreiben, dass er das Papier des Privatdruckes, den er veranstaltete, grün einfärben ließ: Grün bot dem Auge eine „reale Befriedigung“;87 es war die von jedem Alchemiker am höchsten geschätzte Farbe, da sie alles hervorbrachte: O benedicta viriditas, quae cunctas res generas!88 Als Arztalchemiker wusste Jakob Schalling das. Ihm ging es um das vielfach verborgene Wesen der Dinge, um den Sinn des Sichtbaren. Dem hatte er in seinem Traktat Philosophia Transnaturalis bereits nachgeforscht und gedachte es, DEO volente, auch in anderen Traktaten zu tun.89 Jetzt ergründete er die Zweiheit der Augen als die Selbstbeschreibung des gütigen und des zornigen Gottes und die Dreiheit der Dinge als das Bauprinzip des Seienden: Dreieinig wie Gott war das von

natura oculorum, eorumque visibilibus characteribus, morbis & remediis, censurae gratiosi ordinis, D. Fratrem Rosatae Crucis oblata & repraesentata, Erphordiae apud Joan Episcopum in fol. (Catalogus universalis, Michaelismarkt 1615, C1a) (www.olms.de). 86 Schalling, Ophthalmia [s. Anm. 52], 150 f., 1b, 2a, 66 f., 59 f., 56 f. 87 Johann Wolfgang Goethe: Sämtliche Werke nach Epochen seines Schaffens. Münchner Ausgabe. Bd. 10: Zur Farbenlehre. Hg. v. Peter Schmidt. München 1989, 237 f., mit dem Hinweis, dass das Auge und das Gemüt auf Grün als einem Einfachen ruhe, weshalb für Zimmer, in denen man sich immer aufhalte, oft die grüne Farbe zur Tapete gewählt werde. 88 Rosarium philosophorum. Ein alchemisches Florilegium des Spätmittelalters. Hg. v. Joachim Telle. Bd. 1. Weinheim 1992, 20 (freundlicher Hinweis von Joachim Telle, Heidelberg); s. auch Martin Ruland: Lexicon Alchemiae [. . .]. Frankfurt/Main 1612 (VD 17 23:292766X), 303 s. v. Leo viridis; vor allem die auf laurum, oleam, buxum, palmam bezogenen, mit Tugenden verknüpften viriditas-Ausführungen in [Johann Valentin Andreae]: Menippus sive Dialogorum satyricorum centuria [. . .]. O. O. 1617 (VD 17 23:286690E) 139 f.: Laurus te optimae rationis commonefacit, ita olea iustam liberalitatem suadet, Buxus fortem constantiam commendat, & Palma temperantiae mixturam suppeditat, quae sane virtutum quodriga, nunquam non ad beatae & semper viridis tranquillitatis stabilimentum evehet. 89 Schalling, Ophthalmia [s. Anm. 52], 24 f., 40 f.; bibliographisch nicht nachzuweisen ist die schon geschriebene Philosophia de Moribus (168).

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ihm Geschaffene. Jedes Geschaffene trug in sich sein Mittel, seine Art, seine Krafft. So war die Sonne ihr Mittel, die mit dem Tageslicht ihre Art und mit den wärmenden Strahlen ihre Kraft zeigte. Selbst wo eine Zweiheit, wie Licht und Schatten, zu herrschen schien, verband sie sich, um eine Dreiheit, die Farbe, hervorzubringen. Radicalia waren nämlich mit einer inneren Verwandtschaft erschaffen worden, der zufolge zwei radicalia ein tertium ergaben.90 All dies und anderes reimte sich, wie Jakob Schalling wusste, weder gegen die Bibel noch gegen die Erfahrung, die beiden für ihn unterdes maßgebend gewordenen Autoritäten.91 Dessen war er innegeworden, seit er selbst als Chymist sich zu betätigen und mit anderen Chymisten sich auszutauschen begonnen hatte.92 Ihm war auch innegeworden, dass das Ampt eines Chymisten viel verlangte: Er musste beharrlich, bescheiden und strebsam sein und die Natur, was und wie alles in ihr vorging, ebenso kennen wie die Bibel; kannte er die Natur, achtete er sie und förderte sie in ihrem freien Lauf; kannte er die Natur, kannte er auch den Menschen und wusste, was ihm nützte und was ihm schadete; wo die Natur sich vollendet hatte, begann seine Kunst, die in der auf den Menschen, den Mikrokosmos, gerichteten Tätigkeit der wirkenden Kraft im Makrokosmos glich und daher das numen JESU CHRISTI nicht entbehren konnte; denn er, das Wesen aller Wesen, die Erzgestalt aller Erzgestalten, war der anzubetende ARCHIATER.93 Hiervon wussten die Fratres Rosatae Crucis viel zu sagen, ihnen, in deren Bruderschaft aufgenommen zu werden sein verhüllt formulierter Wunsch war, übergab er das Werk zur Zensur. Er selbst war auf ihre Schriften, die Fama und die Confessio, erst im Frühjahr, als er mit seinem Augentrost befasst gewesen, aufmerksam geworden.94 Sie lesend, hatte er seine Bestrebungen bestätigt gesehen, sie betrafen beispielsweise die Harmonisierung von philosophischer und theologischer Wahrheit oder von aristotelischer und christlicher Sittlichkeit, ferner die Überzeugung von der Unverweslichkeit des Leibes, von der Wiedergeburt, von der neuen Gesellschaft.95 Vom Betrug, dessen die Männer, die ihre Schriften ohne Namensnennung hatten ausgehen lassen, bezichtigt wurden, wollte

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Schalling, Ophthalmia [s. Anm. 52], 2 f., 26 f., 54 f., 60 f.; s. auch 32–35, 44 f., 106 f. Schalling, Ophthalmia [s. Anm. 52], 112 (nec in Sanctas literas quadrat, nec in experientiam). 92 Schalling, Ophthalmia [s. Anm. 52], 112 f., 140 f., 126 f. 93 Schalling, Ophthalmia [s. Anm. 52], 164–168. 94 Jakob Schalling (Schalling, Ophthalmia [s. Anm. 52], 123) erwähnt den nachdruck von Wilhelm Wesseln zu Cassel, den er erst für einem halben Jahr zusehen/ lesen vnd Bedencken in die Hände bekam (Fama Fraternitates R. C. [. . .] Beneben deroselben Lateinischen Confession [. . .]. Kassel 1615) (VD 17 14:681804Z); zum Bezug auf die Confessio s. Schalling, Ophthalmia [s. Anm. 52], 169. Zur Aufnahme würdiger Männer in die Bruderschaft s. Johann Valentin Andreae: Rosenkreuzerschriften. Bearb., übers., komm. u. eingel. v. Roland Edighoffer. Stuttgart, Bad Canstatt 2010, 204, 205. 95 Schalling, Ophthalmia [s. Anm. 52], 169, 122–126 (mit Verweis auf Ps 15, 10 [Vg.]), 142 f., s. auch 168 (Traktat Philosophia de Moribus) und Andreae, Rosenkreuzerschriften [s. Anm. 94], 143 (die gantz Philosophia moralis zu verbessern). 91

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Jakob Schalling nichts wissen, vielmehr berief er sich auf sie, die Freunde der Weißheit, mehr als einmal, um manchen Gedanken wie den der Dreiheit alles Geschaffenen, den die aus Gießen mitgebrachte Philosophia Transnaturalis noch nicht kannte, zu bekräftigen.96 Mit den von ihm zitierten Autoren bewies er neben seiner breiten Belesenheit, welche Positionen er bezogen hatte: Gefolgsleute des Galenus wie Julius Caesar Scaliger und Paracelsus-Gegner wie Thomas Erastus wies er ab, hingegen berief er sich gern auf Männer, die Paracelsus schätzten, wie den französischen Arzt Joseph du Chesne, Andreas Libavius, Henricus Kunrath oder Oswald Croll.97 Da Jakob Schalling die Verurteilung seines Werks durch die von ihm als Nessel vnd Wermutgelehrte bezeichneten Gegner des Paracelsus befürchtete, hatte er es zweisprachig verfasst, so konnten Recht vnd Teutschgelehrte, ohne den Verächtern folgen zu müssen, zu einem eigenen Urteil gelangen. Damit dies ein günstiges, auch seine religiöse Rechtgläubigkeit umgreifendes sei, hatte er sich der zustimmenden Zuschrift seines nunmehr die Wittums=Hof= Prädikatur in Dornburg an der Saale bekleidenden Cousins Ludwig und der empfehlenden Epigramme der über Erfurt hinaus bekannten Pastoren Georg Silberschlag und Modestinus Weitman versichert. Tatsächlich bestätigte der Hofprediger, dass Gott es sei, der den medicum lenke und leite, während Silberschlag, Pfarrer der Predigerkirche, den Fleiß, den Eifer, die Gelehrsamkeit des Jakob und die sein Buch genugsam kennzeichnende Qualität benannte, die zu verneinen nur Neid vermöge, und Weitman, Senior des Evangelischen Ministeriums und Professor der evangelischen Theologie an der Universität, sprach von der Bescheidenheit des berühmten Jakob, der sowohl die Lehren des Galenus als die des Paracelsus gut unterrichte, die chemischen Wissenschaften schätze, keine Kniffe gebrauche, sondern sehr segensreich wirke, wann immer Augen erkranken; so habe er, der berühmte Jakob, geziemende Ehre erhalten, den Spott neidischer Gegner, die sich entfernen mögen, aber verlacht; erbeten und erhalten hatte Jakob Schalling zudem Epigramme vom Syndikus des Rates, Doktor Hieronymus Brückner, und von dem gerade als Rektor der Predigerschule berufenen Magister Herbord Förster, den er als Student aus Jena kannte.98 Die formvollen Verse mochten durchaus gelesen

96 Schalling, Ophthalmia [s. Anm. 52], 27 (mit der Marginalie Fama der Hochlöblichen Br. R. C. 124.f.) und Andreae, Rosenkreuzerschriften [s. Anm. 94], 159; s. auch Schalling, Ophthalmia [s. Anm. 52], 169 und Andreae, Rosenkreuzerschriften [s. Anm. 94], 221; Schalling, Ophthalmia [s. Anm. 52], 2b, 3a (mit der Marginalie Fam. Fr. R. C. 98. fol.) und Andreae, Rosenkreuzerschriften [s. Anm. 94], 143. 97 Schalling, Ophthalmia [s. Anm. 52], 36–39 (Scaliger), 141–146 (Erastus), 30 f., 100 f., 106 f. (du Chesne), 40 f. (Libavius), 26 f., 128 f. (Kunrath), 24 f. (Croll), s. auch 26 f., 42 f. (Hermes Trismegistos). Bemerkenswert ist die in fünf Thesen zurückgewiesene, schon 1578 erschienene Disputatio de auro potabili von Erastus (VD 16 E 3674). 98 Schalling, Ophthalmia [s. Anm. 52], 3b-4b. Die Übersetzung des griechischen Gedichtes verdanke ich Frau Marianna Kaufmann, Erfurt. Zu Mag. Georg Silberschlag (1563–1635), Mag.

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werden als Wertschätzung, die der Medicus bei den Oberen in der Kirche und im Rathaus genoss. Dennoch, in der Stadt, die ihm wohlwollte, zu bleiben, war wohl nicht sein Sinn: Hatte er die im Vorjahr erschienenen Traktate den Ratsherrn in Windsheim, faventibus & promotoribus colendis, gewidmet, so eignete er die Augenlehr seinen Patronen, den Ratsherrn in Nürnberg, zu. Patroni waren sie insofern, als vor dreißig Jahren sein unterdes verstorbener Onkel Martin viel Gutes von ihnen empfangen und dessen Sohn, sein Cousin Georg, an der Universität in Altdorf Student hatte sein können; daran erinnerte er die Ratsherrn, aber auch, was wichtiger war, an den Großschwesterlichen Rath, dessen seine Vaterstadt Windsheim oft sich hatte erfreuen dürfen, und an die Friedsamkeit, die Nürnberg vor mancher anderen Stadt auszeichnete. Diese Tugend der regierenden Ratsherrn in den von Kriegsgeschrey vnd Theurung getrübten Tagen zu ehren widmete er ihnen das Buch und übersandte ein Exemplar des Privatdruckes.99 Auf dessen Ausstattung hatte er viel Wert gelegt: das Papier war grün eingefärbt und im unmodernen Folioformat bedruckt, und Anatomisches, wo nötig, war mit Holzschnitten ins Bild gesetzt, zuerst aber war der Titel mitsamt den ihn einrahmenden allegorischen Darstellungen in Kupfer gestochen worden. Das hatte der Augsburger Goldschmied Michael Frommer besorgt nach den Maßgaben des Autors. Dem schien es geraten, was das Bild bedeute, eigens zu erklären.100 Es zeigte, umgeben von vier geflügelten Engelsköpfen Modestinus Weitman (1562–1625) und Mag. Herbord Förster († 1636) s. Martin Bauer: Evangelische Theologen in und um Erfurt im 16. bis 18. Jahrhundert. Beiträge zur Personen- und Familiengeschichte Thüringens. Neustadt/Aisch 1992, 295 f. und 327; zu Dr. jur. Hieronymus Brückner (1582–1645) s. ders.: Erfurter Ratsherren und ihre Familien im 17. Jahrhundert. Neustadt/ Aisch 1989, Nr. 86; der ein weiteres Epigramm beisteuernde Lucentius Cacalius ist nicht zu identifizieren. 99 Schalling, Philosophia [s. Anm. 69], A1b; Schalling, Ophthalmia [s. Anm. 52], 1bf. (Widmungsvorrede, dat. Erfurt, 09.04.1615). Das Widmungsexemplar wird das heute in der Stadtbibliothek Nürnberg aufbewahrte sein (Med 242.20), das in weißes, blindgeprägtes Pergament eingebunden ist, indes keine Benutzerspuren und keine Provenienzhinweise zeigt. Nur dieses und das zweite bekannte, in Wolfenbüttel aufbewahrte, in sparsam streicheisenverziertes Corduanleder eingebundene Exemplar (Mc 40 45) des Privatdrucks weisen das grüne, stellenweise ins Gelbliche hinüberreichende Papier auf, das stets nur „in Einzelfällen“ und „für Liebhaberzwecke“ im Buchdruck Verwendung fand (Wisso Weiß: Grünes Papier für Zwecke des Buchdruckes. In: Gutenbergjahrbuch 51, 1976, 25–35, hier 30). Das Wolfenbütteler Exemplar gehörte der 1829 gegründeten Bibliothek des Collegium Anatomicum-Chirurgicum in Braunschweig, in deren Katalog es unter Nr. 22 in der Gruppe Ophthalmologie verzeichnet war: 22 Jac Schalling de natura oculorum cet., morbis cet., libri 3. [1]615.f.; es gelangte erst 1887 in die Herzog August Bibliothek (Karl Wilhelm Ferdinand Uhde: Catalog der Bibliothek des herzogl. Collegium Anatomico-Chirurgicum zu Braunschweig. Braunschweig 1865, 192; sowie R[ichard] T[oellner]: Collegium anatomico-chirurgicum. In: Lexikon zur Geschichte und Gegenwart der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel. Hg. v. Georg Ruppelt u. Sabine Solf. Wiesbaden 1992, 44). 100 Schalling, Ophthalmia [s. Anm. 52], 2b, 3a (mit Verweisen auf Joh 1, 36, Weish 6, 24, Ps 110, 2, Apk 5, Joh 6, 27, 12, 32); zu Michael Frommer (* um 1584) s. Saur Allgemeines Künstlerlexikon 45, 2005, 444; sowie VD 17 1:091758X.

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und vier kreuzverzierten Kronen, ein siebenhörniges Lamm auf einem mit sieben Siegeln verschlossenen Buch. Das Lamm war natürlich das Lamm Gottes, seine sieben Hörner zeigten an, dass ihm, der Ewigen Weißheit, von Anfang an alle Kreaturen gedient hatten zum Heil der Gottseligen, zum Unheil der Gottlosen; das Buch verbürgte die Erhaltung des Regiments in alle Ewigkeit, geöffnet war es den Gottseligen, doch verschlossen den Gottlosen; die vier kreuzverzierten Kronen bedeuteten das Kreuz Christi, im weiteren Sinne aber den Tod vmb die Widergeburt aller von Christus zu sich gezogenen Menschen; die Engel gaben acht auf das Lamm und dessen Regiment und sammelten die Gottseligen für Zion zur Erkenntnis von Wahrheit und Falschheit, von Recht und Unrecht, von Gutem und Bösem. Die Schrifttafeln der den Titel flankierenden Engel mahnten an die richtenden Augen Gottes; die brennende Kerze unter dem Titel sollte das Friedensliecht sein, mit dem, wie Schalling bat, die Finsternis der müden Herzen durch die Menschenliebende Weißheit Gottes erleuchtet werden möge. Beseitet war dieses am Rand einer hügligen Landschaft stehende Licht von zwei großen Vögeln sowie einem geschmeidig springenden Panther und einem lugend umherschleichenden Fuchs. Dem Bild eignete etwas Konfessorisches: Jakob Schalling erklärte sich als einen im Innersten religiös gerichteten Menschen, der zu Christus, der Ewigen Weißheit, strebte, und darauf vertraute, dass ihm, dem discipulo Christi, die Weisheit eröffnet wurde, ohne die er mit seiner ärztlichen Kunst nichts vermochte: ohne Christus, der ihn regierte, war sein Wirken wirkungslos.101 Das Papier des Titels stammte aus einer der beiden mieserschen Papiermühlen in Ravensburg, das bescheidenere Papier des Textes dürfte in einer Papiermühle in Erfurt geschöpft worden sein. Vermutlich sollte der Druck im April, nachdem Jakob Schalling die Widmung geschrieben und Frommer den Titel gestochen hatte, ins Werk gesetzt werden. Doch da bekam er die Schriften Fratris Rosatae Crucis in die Hände, die ihn so sehr bewegten, dass er nicht nur Zitate in das Manuskript einfügte, sondern ihm ein an die venerandos, magnificos et gratiosos viros adressiertes Gedicht voranstellte und das Manuskript mit einem breiten Bekenntnis an die Männer beschloss, denen er seinen geringen Schall befohlen sein lassen wollte.102 Das Gedicht erinnerte an den Weg der von Mose geführten Juden durch die Wüste, wo sie per GRATIOSAS ARCHIATRI MANUS mit heilbringendem Manna gespeist worden waren; es lobte die Klugheit des Mose, der das Andenken an das selige Leben im arabischen Land versteckt hatte, wodurch diesem an Frucht so überaus reichen Land der Siegespreis zuteil geworden war; es pries die Herrlichkeit der heiligen Gottheit, die sowohl den seine Jungen im gefrierenden Meer nährenden Eisvogel als das Gemeinwesen Damcar geschützt hatte, damit DIVA VERI-

101 Hierzu der Vers im Epigramm von Ludwig Schalling: Et te Jhova regat, sine quo medicamina fallunt (Schalling, Ophthalmia [s. Anm. 52], 3b). 102 Schalling, Ophthalmia [s. Anm. 52], 1a, 169.

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TAS mitten unter den Wölfen ihre Freunde hatte aufziehen können; es rühmte die göttliche Wahrheit, die der verschlosseneren Weisheit den Mann geschenkt hatte, der der Schöpfer des goldenen Nektars, der Schöpfer des hermetischen Smaragds und der Stammvater des Rosenkreuzes war; es wünschte schließlich, SOL IVSTITIAE möge aufleuchten, PATER VRIMQ TVMMIM und SANCTE NEZIR mögen die Blüten öffnen, auf dass für seine Freunde die aus Rosen bereiteten Zephirwinde wehen, und es schloss mit dem Gruß an diese Freunde, an die mit dem Geist überlegenen Männer VIRTVTIS SACRATAE. Es war das Gedicht eines Gleichgesinnten, der diese seine Gesinnung den Männern des Rosenkreuzes kundtun wollte; die mit besonderer Bedeutung befrachteten Begriffe bewiesen es ebenso wie der Bezug auf Damcar: In Damaskus, erklärte die Confessio Fraternitatis, hatte der Stammvater des Rosenkreuzes erfahren, dass den Weisen in Damcar, dessen Verfassungsverhältnisse in Arabien als einzigartig galten, die gantze Natur entdeckt worden war, so dass er beschlossen hatte, nicht zum heiligen Grab nach Jerusalem, sondern nach Damcar zu reisen.103 Erst im September, kurz vor der Messe, gab Jakob Schalling das Manuskript aus der Hand. Zu der Zeit wusste Johann Bischoff von dem beabsichtigten Privatdruck und besprach sich mit dem Arzt, um den Titel in Verlag zu nehmen. Bischoff war bislang als Buchführer so rege gewesen, dass er meinte, auch als Verleger erfolgreich sein zu können. Sie wurden sich einig. Die Platte war wohl nur einige Male abgezogen worden, ehe der eingestochene Titel herausgebrochen wurde, um den neuen mit dem Impressum Erffurdt/ Jn Verlegung Johann Bischoffs Buchf. 1615. setzen zu können. Den Drucker Nicol Schmuck, der gleichzeitig an zwei Setzkästen arbeiten ließ,104 ebenfalls zu nennen, fehlte der Platz; denn der gesetzte Titel war gegenüber dem gestochenen erweitert worden um den zweisprachigen Zusatz, dass das Werk Dem Hochlöblichen Orden derer H. H. Brüder des RosenCreutzes zum Vrtheil vnd Censur vntergeben vnd praesentirt werde: CENSURAE Gratiosi Ordinis D. D. FF.rm

Schalling, Ophthalmia [s. Anm. 52], 1af. und Andreae, Rosenkreuzerschriften [s. Anm. 94], 149, 206 f. Sancte Nezir (wohl das hebräische nazir, ‚Geweihter‘, ‚Gottgeweihter‘ in 1 Mos 49, 26, 5 Mos 33, 16, auch Ri 13, 5) (freundlicher Hinweis von Christoph Bultmann, Erfurt) scheint wie das voranstehende Pater Vrimq Tummim (2 Mos 28, 30) in synonymer Bedeutung zu Christian Rosenkreuz zu stehen (zum zeitgenössischen paracelsistischen Verständnis von Urim und Tummim als zwei sich gegenseitig erklärende Namen, die „Light and Perfection, Knowledge and Holiness“ bedeuten, s. Paracelsus: Of The Chymical Transformation, Genealogy and Generation of Metal & Minerals. London 1657, 47, 46–71: Vrim and Tummim; www.openlibrary.org, und die Verzeichnung in: Sudhoff, Bibliographia [s. Anm. 74], Nr. 379. Zu Damcar s. Carlos Gilly: Cimelia Rhodostaurotica: Die Rosenkreuzer im Spiegel der zwischen 1610 und 1660 entstandenen Handschriften und Drucke. Amsterdam 21995, 80. 104 Darauf deutet das abweichende Satzmaterial der Bogen D, G und N bis P. Zu Nicol Schmuck (um 1570–1622) s. Christoph Reske: Die Buchdrucker des 16. und 17. Jahrhunderts im deutschen Sprachgebiet. Auf Grundlage des gleichnamigen Werkes von Joseph Benzing, Wiesbaden 2007, 211 (wo der Verweis auf Bautzen zu streichen ist). 103

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Rosatae Crucis oblata & repraesentata.105 Ob das dem Wunsch des Verfassers oder dem des Verlegers entsprach, ist nicht zu sagen. Auf jeden Fall sollte der Titelbezug zu den so viel beredeten Schriften der Brüder vom Rosenkreuz dem Verkauf auf der Messe voranhelfen. Allein das tat er wohl nicht. Ein gutes Geschäft, musste Bischoff sich eingestehen, machte er mit dem Augentrost nicht, zwei Jahre später, zur Michaelismesse 1617, meinte er sogar gut zu tun, die restliche Auflage an Birckner zu verkaufen, und der schlug sie schließlich los.106 Unter den bekannt gewordenen Käufern gehörte Christoph Besold zu dem kleinen Kreis, in dem die Schriften Fratris Rosatae Crucis ersonnen worden waren. Andere Käufer waren Ärzte, die das Buch wiederum Ärzten vermachten, von denen einer handschriftlich ergänzte, was ihm fehlte: ein Register.107 Die institutionalisierten medici indes ignorierten das Werk, dessen Verfasser sich von ihnen fernhielt und es sogar vermieden hatte, als cand. med. auf dem Titel sich auszuweisen. So wurde Jakob Schallings Augentrost in Bibliographien begraben.108 Auch in den Streitschriften um die Brüder vom Rosenkreuz wurde des Buches nicht gedacht, allein der grundgelehrte Libavius schien es zu tun, da er in seinem bitterbösen Bedencken beanstandete, dass die „Brüder zu Censoren einer Schrifft ernennet“ worden waren: Das lest man an seinem Ort beruhen.109 105 DEO BENEDICENTE || DE NATVRA OCVLORVM || VISILIBVS CHARACTERIBVS || MORBIS ET REMEDIIS EORVM || LIBRI TRES || [. . .] || AVTORE || IACOBO SCHALLING WINS-||HEMENSI FRANCO. || Nach Gottes Segen || Von Natur Menschlicher Augen || Sichtbaren Bildnissen krancheiten || Vnd jhren Artzeneyen trei Buchlein || Nach Verstandt vnd Erfahrung || Durch || Jacobum Schalling Aus Winßheim. || Jn Francken Jm Jar Christi || 1615 || (VD 17 23:633783F); D. O. M. A. || JACOBI SCHALLINGI || WINSHEMIOFRANCI || ΟΦΘΑLMIA || sive || DISQVISITIO || HERMETICO-GALENICA || de || NATVRA OCVLORVM || EORVMQ; || VISIBILIBVS CHARACTERIB || MORBIS & REMEDIIS, || CENSURAE || Gratiosi Ordinis D. D. FF.rm Rosatae Crucis || oblata & repraesentata. || Augentrost/ || Darinn von Natur/ sichtbaren Bild=||nissen/ Kranckheiten vnd Artzeneyen der Au=||gen trewlich vnd fleißig gehandelt wird: || Dem Hochlöblichen Orden derer H. H. Brüder || des RosenCreutzes zum Vrtheil vnd Censur || vntergeben vnd praesentirt. || Erffurdt/ Jn Verlegung Jo=|| hann Bischoffs Buchf. || 1615. || (VD 17 23:298124Z). Die letzterem Druck vorangestellte Abkürzung dürfte Deo optimo maximo adjuvante oder auxiliante zu lesen sein. 106 Catalogus universalis (Michaelismarkt 1617) B4b (unter Libri Medici) und E3a (unter Deutsche Artzney Bücher) jeweils mit der Angabe Erfordiae apud Ioannem Bircknerum. 107 UB Salzburg 63096 II Rarum: Exemplar von Christoph Besold mit dessen Unterschrift, ThULB Jena 2 Med XXV,15: streicheisenverzierter Ledereinband mit eingeprägten Buchstaben VVS und Jahreszahl 1620, später, durch Namenseintrag Th: Pancovij D. ausgewiesener Besitz des kurfürstlich-brandenburgischen Leibarztes Dr. med. Thomas Panckow (1622–1665), UB Erlangen H 61/2 TREW G 43: Exemplar mit Exlibris des Nürnberger Arztes Dr. med. Christoph Jacob Trew (1695–1769) s. DBE 10, 22008, 100 (Dietrich von Engelhardt), UB Rostock Me 23: am Ende Jndex praecedentium ophthalmiae. 108 Georg Draudius: Bibliotheca classica Sive Catalogus officinalis. Frankfurt/Main 1625 (VD 17 23:000319E), 958; s. auch die Angaben von Wolfgang Münchow: Geschichte der Augenheilkunde. Leipzig 21983, 271 f., der zum ersten Mal die Bedeutung von Autor und Werk in der medizingeschichtlichen Literatur herausgestellt hat (271–278). 109 Andreas Libavius: Wolmeinendes Bedencken von der Fama vnnd Confession der Brüder-

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Libavius, nunmehr gymnasiarchus in Coburg, hielt nach wie vor gute Korrespondenz nach Erfurt; war früher Magister Hübner sein Gewährsmann gewesen, so war es nun der doctor medicinae David Lipsius, der Hübners Witwe geheiratet hatte. Er verehrte Libavius als seinen getrewen Herrn Praeceptorem, und Freund, dem er manche „arcana“ verdankte.110 Vielleicht hatte er seinen Lehrer aufmerksam gemacht auf den Augentrost von Schalling mit dem so auffälligen Anerbieten auf dem Titelblatt, vielleicht hatte er dann auch den Druck des Bedencken bei Johann Röhbock in Erfurt vermittelt. Libavius war es nämlich wichtig erschienen, sofort Position zu beziehen in deutscher Sprache, damit seine Warnung von vielen gelesen werden konnte.111 War ihm doch aufgefallen, dass die Schriften Fratris Rosatae Crucis in bestimmten Punkten wie beispielsweise der Entsprechung philosophischer und theologischer Wahrheit sich nicht anders erklärten als bestimmte Paracelsisten, gegen die, gegen Graman/ vnd jhr Gelichter, zu Felde zu ziehen er sogleich günstige Gelegenheit sah.112 Jakob Schalling dürfte dies ebenso wenig entgangen sein wie der verhüllte Verweis seines Zensurbegehrens. Gewiss glaubte er sich von Libavius, dessen Arbeiten er kannte, dem Gelichter zugerechnet, nachdem er als Gesinnungsgenosse dieses Gelichters von Lipsius, einem der Nessel vnd Wermutgelehrten, bei Libavius anscheinend angeschwärzt worden war. 7. Theophili libri Die Censura verzog sich, schließlich verblieb sie. Dass sie eigentlich nicht erwartet werden konnte, dürfte Jakob Schalling, wenn er die Publizistik beobachtete, einsichtig geworden sein. Die Für- und Gegenschriften flogen hin und her. Jene, die überwogen, bevorzugten es, pseudonym oder anonym zu erscheinen, zumeist auch das Impressum zu sparen. Indes verrieten die auf den Messen in Leipzig und in Frankfurt am Main angebotenen und daher in den Messekatalog eingerückten Titel, wer sie in Verlag genommen hatte: beispielsweise Andreas Hünefeld in Danzig, Johann Vogt in Goslar oder Hen-

schafft deß Rosencreutzes. Erfurt 1616 (VD 17 23:671058R), 201 f. – Die im selben Jahr von Petrus Kopff in Frankfurt/Main verlegte Ausgabe (VD 17 14:050866B) beruht auf einer eigenen Vorlage, wie vor allem ein Vergleich der Seiten 91 f. (Erfurter Ausgabe) und 89 f. (Frankfurter Ausgabe) belegt. 110 David Lipsius: Balsamelaeon hermeticum. Erfurt [1617] (VD 17 23:296033K), A3a; zu Dr. med. David Lipsius († 1627) Uwe Jens Wandel: Ein Arzt und Jurist aus Erfurt: Dr. med. David Lipsius. In: Jahrbuch für Erfurter Geschichte 5, 2010, 57–89. 111 Non ita dudum libellus germanicus in publicum missus est, in quo opiniones aliquae de ordnine fictitio confutantur, et admonentur arcanorum studiosi nolint putare fabulam esse (A. Libavius an S. Schnitzer, 30.10.1615) (Johann Hornung: Cista Medica. Nürnberg 1626, 179) (VD 17 12:164460G). 112 Libavius, Bedencken [s. Anm. 109], 182.

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ning Grosse und Thomas Schürers Erben in Leipzig, vor allem taten dies Johann Francke in Magdeburg, Simon Halbmaier in Nürnberg und Johann Berner sowie Johann Bringer in Frankfurt am Main.113 Zu Michaelis 1619 hatte das ein Ende, kein rosenkreuzerischer Titel stand mehr im Messekatalog, obwohl nicht wenige weiterhin erschienen. Zum Kreis dieser Verleger zählten auch die Erfurter Birckner und Bischoff – auch sie nur in den ersten Jahren. Erstaunen kann das nicht. In der Stadt lebten nicht wenige Bürger, die viel von wahrer, verinnerlichter Frömmigkeit hielten und Besserungen in Kirche und Gesellschaft erstrebten. Diese Bürger besaßen bereits Jahre vor der Drucklegung Handschriften theologischer Traktate von Paracelsus und Valentin Weigel und Schriften anderer dissidenter Autoren; in ihre Hände war auch eine Fama-Handschrift gelangt, ehe die Fama zusammen mit der Reformation der gantzen weiten Welt im Frühjahr 1614 erstmals gedruckt wurde.114 Die nun in Erfurt erscheinenden rosenkreuzerischen Schriften waren von dem Gedanken, den Fama und Confessio aussprachen, beherrscht: von der allein durch die Gnade Gottes gewährten Einsicht in die Geheimnisse der Natur, sofern sie zur Ehre Gottes und zum Besten des Nächsten gebraucht wurden; die anonym bleibenden Autoren wollten nichts weniger als dies und daher der Bruderschaft beitreten.115 Zuletzt, um Weihnachten 1617, bekundete es ein armer Gesell aus Thüringen, mit dessen Traktat Bischoff zum Ostermarkt reiste. Auch in Erfurt wurde es still um die Bruderschaft. Im Sommer 1620 erschien in der Stadt ein merkwürdiges Buch: oben auf dem Titelblatt das griechische Gamma, darunter DYAS MYSTICA ad MONADIS SIMPLICITATEM, was wohl sagen wollte, dass die zwei Traktate, die es enthielt, zum einfachen Verständnis des einen Gottes führten.116 113 Hierzu die bislang nicht beachteten Angaben im Messekatalog, der auch die ohne Impressum erschienenen Werke den jeweiligen Verlegern zuweist (Catalogus universalis, Michaelismarkt 1615 bis Michaelismarkt 1619 unter Bücher in allerhand Künsten). 114 Ulman Weiß: Die Lebenswelten des Esajas Stiefel oder Vom Umgang mit Dissidenten. Stuttgart 2007, 214 f., 405. 115 Zu nennen sind: [Thomas Brömel:] Sendschreiben an die glorwürdige Brüderschaft des Hochlöblichen Ordens vom Rosen=Creutze. Von einem derselben besondern Liebhaber gestellet. [Erfurt] 1615 (VD 17 3:601969F), A. O. M. T. W. [Andreas Oetheus ?:] Fraternitatis Rosatis Crucis Confessio Recepta, Das ist: Kurtzer, nicht vnwolmeinender, doch gründlicher Discurs, betreffend fürnemlich der Fratrum Rosatae Crucis Confession [. . .]. [Erfurt] 1617 (VD 17 23:241620Z), M. A. O. T. W. [Andreas Oetheus?:] Frater Crucis Rosatae, RosenCreutz Bruder. Das ist, Fernerer Bericht, Was für ein beschaffenheit es habe mit den RosenCreutz Brüdern. [Erfurt] 1617 (VD 17 23:276542D); [Anon.:] De naturae secretis quibusdam ad vvlcaniam artis chimiae ante omnia necessariis, An die Hocherleuchte/ vnd Kunstreiche Herren der Philosophischen Fraternitet vom Rosencreutz. Abgangen Von besondern Liebhabern Gött: vnd natürlicher Geheimnis vnd löblicher Künste. [Erfurt] 1618 (VD 17 14:050839E); zur Verlegerzuweisung s. Catalogus universalis, Michaelismarkt 1617, F2a, Ostermarkt 1618, G3b. 116 Christian Theophilus [Pseud.]: Υ Dyas mystica ad Monadis simplicitatem. Ein nutzbares zwiefaches Tractätlein/ so einem einfeltigen Christlichen Hertzen den Weg weiset zur ewigen Seeligkeit/ Darinnen erjnnert wird/ I. Des Menschen Composition auß dreyen vnderschiedlichen wesendlichen Theilen. II. Der hochwichtige Vnterscheid der beyden vornehmsten Specierum

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Das Buch erklärte sich als ein nutzbares zwiefaches Tractätlein, das sich unterfing, den Weg zur ewigen Seeligkeit zu weisen, der offensichtlich nur gegangen werden konnte, wenn die einfeltigen Christlichen Hertzen, an die es sich wandte, bedachten, dass der Mensch eine Composition dreier unterschiedlicher Teile war und dass er, was seinen Glauben anlangte, nicht nach dem jrrdischen, sondern nach dem himlischen zu streben hatte. Dies den Christlichen Hertzen anzumahnen und damit zur „erbawung vnd vermehrung des wahren Christenthumbs“ beizutragen, war das Anliegen der Gemeinschaft Spiritus Sancti, für das der Verfasser des Buches, Christianus Theophilus, warb – nicht von sich aus, vielmehr è saniore Fraternitate CHRISTI. Als Druckort nannte das Buch Christianopolis, worunter wohl der Sitz dieser Bruderschaft und im weiteren Sinne die Wohnstatt aller wahren Christen verstanden werden sollte. Ihr Symbol zeigte im Kreisrund den Signatstern, in dem die aus dem Kreuz herauswachsenden Rosen der Trinität platziert waren: ein Verweis auf Paracelsus und auf die Brüder vom Rosenkreuz.117 In der Vorrede beschrieb Theophilus die biblischen Bilder der mit Purpur und Scharlach geschmückten großen Hure und der zwei ihr folgenden Behemot und Leviathan in Gestalt des nach allen Seiten schauenden, umherschleichenden Fuchses und des geschmeidigen, seine Bärenklauen werfenden Panthers, und er erklärte, wie die drei Ungeheuer (von denen der Fuchs und der Panther, genau wie beschrieben, das Titelkupfer von Jakob Schallings Augentrost zierten) in Wahrheit zu verstehen waren: sensualiter als das Antichristische weltliche Regiment, rationaliter als das heuchlische Christenthum, mentaliter aber als der homo animalis schlechthin, da er erstens um Christi willen nicht alles verließ, zweitens Christus nicht nachfolgte, drittens sein Wort nicht hörte, viertens diesem Wort nicht zustimmte, fünftens Christus gar nicht erkannte, mithin sechstens seinem Wort nicht nachleben konnte und siebtens in diesen sechs Stücken steckenblieb. Das sollte dem „homini animali“ vor Augen gehalten werden, zumal die Welt ersichtlich ihrem Ende entgegeneilte.

Fidei, GRATIAE & NATURAE, das ist/ Des jrrdischen/ natürlichen vnd himlischen/ Christlichen/ seligmachenden Glaubens/ [. . .] Zu bewhärung der ewigen Warheit/ erbawung vnd vermehrung des wahren Christenthumbs/ vnd zur erweckung rechter Gottseliger Gedancken/ auß wolmeinendem Christlichen Hertzen/ è Collegio Spiritus Sancti, Der Gemeinen im Reich Christi herfür gegeben/ [. . .]. Christianopoli [Erfurt] 1620 (VD 17 23:271514C). Die Praefatiuncula ist unterschrieben: „Christianopoli è Musaeo, Calend. Augusti, Anno ut supra“ [11b]. Die Schrift scheint bislang nur von Peuckert, Pansophie [s. Anm. 74], 382 f., und ders.: Das Rosenkreuz. Berlin 2 1973, 192 und 369, beachtet worden zu sein. Emil Weller: Lexicon Pseudonymorum. Wörterbuch der Pseudonymen aller Zeiten und Völker. Regensburg 21886 (ND Hildesheim 1977), 559, schrieb die 1620 und 1621 von Christian Theophilus erschienenen Schriften Valentin Weigel zu. 117 Abbildung des Signatsterns bei Carlos Gilly: „Theophrastia Sancta“. Der Paracelsismus als Religion im Streit mit den offiziellen Kirchen. In: Analecta Paracelsica. Studien zum Nachleben Theophrast von Hohenheims im deutschen Kulturgebiet der frühen Neuzeit. Hg. v. Joachim Telle. Stuttgart 1994, 482 f.

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Dem wahren Christen jedoch konnten die drohenden tribulationes nichts anhaben, denn die ihn auszeichnende, allein durch den seligmachenden Glauben gewirkte geistliche Gemeinschaft mit Christus geschah in intimo centro, wohin nichts und niemand gelangen konnte.118 Um einen Begriff zu bekommen von diesem seligmachenden Glauben (im Unterschied zum natürlichen), musste man wissen, dass der Mensch aus drei Teilen bestand, wie die Heiden Hermes Trismegistos, Plato oder Pythagoras, aber auch die Propheten und die Apostel und nach ihnen manche Theologen, nicht zuletzt Luther, stets gelehrt hatten. Hingegen spielten noch heutzutage viele Magistri artium, sogar viele Theologen verbohrterweise das Lied von den zwei Teilen des Menschen auf ihrer Aristotelischen Geigen. In Wahrheit war er seit Adam aus Leib, Seele und Geist zusammengesetzt, aber nur ein Teil, der Leib, war mit Augen zu sehen. Während die Seele aufs Zeitliche gerichtet, war es der Geist aufs Ewige; jene verstand nur Vernünftiges, dieser erfasste das Göttliche; jene war dem Menschen zu eigen, indes dieser ihm wieder genommen werden konnte, wenn er sich gegen Gott verging. Theophilus zitierte die einschlägigen Schriftstellen, nicht nur deutsch und lateinisch, sondern auch griechisch, um zu bekräftigen, dass die termini in ihrem eigentlichen Sinn und nicht synonym gemeint waren. Freilich wusste er, dass die Bibel öfter bloß von Leib und Seele oder bloß von Leib und Geist sprach, was zu ergründen er an einem anderen Ort vorhatte.119 Hier genügte der Hinweis, dass der studiosus Theologiae gut daran tat, die Stellen, an denen alle drei Teile des Menschen genannt wurden, besonders zu beachten, da sie jene, an denen Seele und Geist zusammengezogen waren, miterklärten. Kurz gesagt, der Leib war das tabernaculum der sterblichen Seele, diese dagegen das tabernaculum des unsterblichen Geistes und dieser im wiedergeborenen Menschen das tabernaculum des göttlichen Geistes. Ausgehend von den Benennungen animal für den Leib, anima für die Seele und animus für den Geist, erörterte Theophilus einzelnes, er wies auf die Wirkkräfte der drei Teile, die nur beim mittelteil, der Seele, sowohl auf den Leib (was die imaginationem anging) als auf den Geist (was die rationem anging) gerichtet war; er zeigte auf die drei schulen, in denen die Dreiheit als Strukturprinzip des Menschen zu erkennen war; er sprach von den drei Arten der Theologen, den „Grobgelehrten“, die die Schrift nach dem Buchstaben zu erforschen suchten, den Weltgelehrten, die dies nach der Vernunft taten, und den Gottes Gelehrten, die nach dem wahren Verstand der Schrift strebten, um mit den drei von Paracelsus Gleichnisweise genannten Tei-

Theophilus, Dyas mystica [s. Anm. 116], [2a]-[11b]. Theophilus, Dyas mystica [s. Anm. 116], B1b mit Verweisen auf Mt 6, 25 und Lk 12, 22 (corpus, anima) bzw. Jak 2, 26 und 1Kor 5, 3 (corpus, spiritus) und A2a-A4a mit Verweisen auf Lk 1, 46.47 (anima mea, spiritus meus), Röm 8, 13.16 (secundum carnem, spiritus testimonium reddit spiritui nostro), 1Kor 2, 14 (Animalis autem homo non percipit ea, quae sunt Spiritus Dei), 1 Thess 5, 23 (spiritus vester, et anima, et corpus), Hebr 4, 12 (ad divisionem animae ac spiritus). 118 119

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len mercurius, sulphur und sal zu schließen, aus denen anfangs alles körperlich Geschaffene hervorgegangen war. Doch rührten sie, wie er nur knapp bemerken wollte, von dem einst unteilbar Einen, über das wahrhafte Philosophen viel geschrieben hatten und schreiben; es konnte durch künstliche Praeparation wieder gewonnen werden und aus ihm dann die höchste medicin, die alle Creaturas Vegetabiles, Minerales & Animales von ihren Unzulänglichkeiten reinigte.120 An sich hätten das „ens individuum“, der lapis philosophicus oder die höchste medicin nicht angeführt werden müssen, dass Theophilus es aber tat, überdies ankündigte, an einem anderen Ort ausführlicher davon zu handeln, zeigte, wie stark er an einer vom Geist Gottes grundierten Medizin interessiert war. Es hatte, auf den Glauben kommend, mit dieser Unterscheidung zwischen Seele und Geist zu tun, dass auch zwischen dem natürlichen und dem seligmachenden Glauben unterschieden werden musste. Per rationem verstand der Mensch natürliche Dinge, per mentem indes himmlische: der spiritus mundi war etwas qualitativ ganz anderes als der spiritus Dei. Dieser Unterschied war Paulus in tertio coelo gelehrt worden.121 Wenn die Bibel von der blutflüssigen Frau, von den beiden Blinden, dem Blinden von Jericho oder von den zehn Aussätzigen sprach, die alle von Jesus geheilt worden waren, so hatte dies allein die zu Jesus als dem Gesundmacher sich erhebende ratio der Menschen bewirkt; denn etwas anderes als die Gesundheit ihres Leibes hatten sie gar nicht gesucht, wie es auch kein Zeugnis gab, dass einer von ihnen die Seligkeit erlangt hatte. Genauso war es um jene Beispiele bestellt, wo nicht, wie hier, die fides propria körperliche Gesundheit gebracht hatte, sondern die fides aliena: bei der kanaanäischen Frau, beim Hauptmann von Kapernaum, beim Vater des Besessenen oder bei Jaïrus. In all diesen Fällen war Jesus als ein medicus corporis angerufen worden und hatte als ein solcher gehandelt, und der natürliche, sich exaltierende und in die imaginationem gelangende Glaube hatte genügt, den Körper gesunden zu lassen. Sollte freilich die Seele gesunden, reichte die fides naturalis nicht hin, das vermochte nur die fides salvificans, die der Geist Gottes gab.122 Mit Bedacht hatte Theophilus an den Eingang des Buches einen Abschnitt aus Luthers Übersetzung und Erklärung des Magnificat gestellt,123 solcherart bekundend, dass er, wenn er von den drei Teilen des Menschen schrieb, es Theophilus, Dyas mystica [s. Anm. 116], B3b; zum zeitgenössischen, paracelsistischen Verständnis von mercurius, sulphur, sal und lapis philosophicus s. beispielhaft [Michael Toxites:] Onomastica II. I. Philosophicum, medicum, synonymum [. . .] Theophrasti Paracelsi. Straßburg 1574 (VD 16 T 1769), 449, 463, 477, 482. 121 Theophilus, Dyas mystica [s. Anm. 116], C1b mit Verweis auf 1Kor 2, 10–14. 122 Theophilus, Dyas mystica [s. Anm. 116], C2a-E1b mit Verweisen auf Mt 9, 20–22.27–30; Mk 10, 46–52; Lk 17, 11–19 (fides propria); Mt 15, 21–28; Mt 8, 5–10; Mt 14, 17–21; Mk 5, 21– 24.35–43 (fides aliena). 123 Theophilus, Dyas mystica [s. Anm. 116], (Titelrückseite mit Verweis auf D. Lutherus Tom. I. fol. 453 II. fol. 429. vbers Magnificat); s. WA BR 7, 550 f. 120

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gleichsinnig mit dem Reformator tat, auf dessen Autorität sich zu berufen angesichts der zu erwartenden ablehnenden Antwort lutherischer Theologen ihm anscheinend geraten schien. Am Ende des Buches bat er, Christbrüderlich auf alles hingewiesen zu werden, was nicht mit Gottes Wort konkordieren sollte, damit er es korrigieren konnte. Und er verhieß, dass die Fraternitas, von der dieses Buch herrührte, „etwas mehrers vnd bessers“ folgen lassen werde zur weiteren Erbauung des Christentums.124 Dass dies eine Trias mystica sein werde, kündigte er, die Titel nennend, deutlich an: die erste, Ein lauteres Crystal, erklärte das vierte Kapitel der Offenbarung des Johannes, die zweite, Liber vitae, wies den Weg zum newen Jerusalem, die dritte, „Speculum mysticum“, ließ den Leser erkennen, ob er ein Kind Gottes oder Belials war. An allen drei Schriften war im Sommer 1620, Gott lob, das meiste bereits getan, so dass sie mit ersten vnter die Preß gegeben werden sollten.125 Doch geschah das erst im Jahr drauf und auch nur mit der zweiten Schrift, deren Titel um das Attribut aureus bereichert worden war. Gleicherweise wie Dyas mystica gliederte sich das Gülden Büchlein des Lebens in zwei Teile, indem es zunächst die Vision des neuen, himmlischen Jerusalem in der Offenbarung erklärte und dann ausführte, wie man ohne Jrrung in dieses Jerusalem gelangen, seines Bürgerrechts und seiner Herrligkeiten teilhaftig werden und hier verbleiben konnte in alle Ewigkeit. Gleicherweise wie Dyas mystica gab der Liber Vitae aureus an, „è Collegio Spiritus Sancti“ hervorgegangen zu sein, und sein Verfasser, Christianus Theophilus, gab gleicherweise als Glied der Bruderschaft Christi sich zu erkennen. Aber an Stelle des Symbols dieser Bruderschaft, des Signatsterns mit Kreuz und Rosen, das im Vorjahr auf das Titelblatt gesetzt worden war, stand jetzt das von geflügelten Engelsköpfen und kreuzverzierten Kronen umgebene, auf dem mit sieben Siegeln verschlossenen Buch liegende siebenhörnige Lamm: das Bild, das nach den Maßgaben von Jakob Schalling für seinen Augentrost gestochen und von ihm eigens erklärt worden war; und an Stelle des Druckortes Christianopolis stand jetzt Erffurd, mit dem Zusatz, dass bei dem Buchhändler Bischoff das Buch „zufinden“ sei. Dass er es in Verlag genommen und dass Röhbock es gedruckt hatte, wurde nicht ausgewiesen.126

Theophilus, Dyas mystica [s. Anm. 116], E1b. Theophilus, Dyas mystica [s. Anm. 116], [11af.]. Außer Liber vitae scheint keine Schrift gedruckt worden oder handschriftlich erhalten zu sein. 126 Christian Theophilus [Pseud.]: Liber Vitae aureus. Gülden Bu(e)chlein des Lebens/ mit sieben eröffneten Siegeln/ Darinn findet ein frommes Hertz I. Die siebende Vision im 21. 22. Apoc. Joh: Sonderlich das Newe Himlische Jerusalem/ [. . .] nach einer [. . .] Description vnd dreyfacher Explication. II. Ein Itinerarium oder Wegzeiger/ wie einer ohne Jrrung durch sieben Feldweges/ [. . .] an den Berg Sion gelangen/ in die darauff erbawete Stadt ohne Hinderung gehen/ des Bürgerrechts vnd alle der Stadt Frey vnd Herrligkeiten/ [. . .] theilhafftig werden/ vnd in alle Ewigkeit [. . .] verbleiben kann. Erfurt 1621 (VD 17 23:248133G). Die genau nachgestochene Vignette zeigt hier das Lamm rechts gewendet. 124 125

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Die Vorrede rief in Erinnerung, dass Gott seinen Willen auf dreierlei Weise offenbarte: durch das mündliche und durch das schriftliche Wort und durch Gesichte. Die siebte Vision des Johannes auf Patmos, die ihn das neue Jerusalem hatte sehen lassen, war solch ein Gesicht. Es konnte auf dreierlei Weise erklärt werden: nach dem Buchstaben, nach dem Verstand und nach dem Geist. Nach dem Buchstaben war beispielsweise der Berg Zion die Grundfeste, auf der das neue Jerusalem stand, nach dem Geist aber bedeutete Zion nichts anderes als Christus, wie auch die Stadt, die auf dem Berge Zion sich erhob, die Gemeinde der Gläubigen bedeutete. Diese Gläubigen waren die perfecti, die novi Christiani, mit denen Christus in einer geistlich zu denkenden Gemeinschaft verbunden war. Theophilus sprach von der Einwohnung Christi in den Gläubigen, die allerdings nicht Physicus & naturalis, sed mysticus & supercaelestis zu verstehen war. Dies zu betonen musste ihm wichtig sein, wollte er nicht der Gesinnungsgemeinschaft mit dem Kreis um Esajas Stiefel geziehen werden. Über die geistliche Gemeinschaft brauchte nicht viel gesagt zu werden, wohl aber, welchen Weg man zu gehen hatte, um zu ihr zu kommen. Darüber war zwar viel, doch zureichend bloß von denen geschrieben worden, die, wie die Fratres Rosatae Crucis, die Dornen am Wegesanfang und manch anderes nicht vergessen hatten. Es war ein in sieben Meilen geteilter, von Christus zuerst gegangener Weg, den Theophilus in sehr reicher, symbolhaltiger Bildersprache beschrieb, nicht ohne am Ende, nachdem, wer den Weg zurückgelegt, durch einen schönen Balsam die Neugeburt erlangt hatte, festzustellen, dass auf dem Weg sieben „requisita“ nicht zu entbehren waren. Sie hingen aneinander wie die Glieder einer Kette, fanden sich aber in dieser Ordnung nicht in der Bibel. Er, Theophilus, hatte sie indes erkannt in seinem Musaeo Theologico, in dem er, wie Christus geboten, seit langem die Schrift erforschte. Insofern meinte er, nicht mit Grund gestraft werden zu können, zumal er auch nichts Neues aufbrachte. Der septenarius requisitorum, von dem er handeln wollte, betraf nur den äußern Menschen, was den inneren betraf, wollte er in einem eignen Traktat auff dem Fuß folgen lassen.127 Das erste requisitum verlangte das Verlassen der Welt. Theophilus führte lateinisch und deutsch die einschlägigen Schriftstellen auf, um hervorzuheben, dass es weniger auf die äußerliche als auf die innerliche Verlassung ankam, wenngleich es der ganzen Christenheit zum Guten gereichte, wenn die Prediger der Welt und was in ihr ist, nicht so sehr zugetan wären. Das zweite requisitum forderte die Nachfolge Christi, die ebenso wie das dritte requisitum, das Hören von Gottes Wort, eigentlich etwas Innerliches zu sein hatte, Theophilus zitierte die Verse, die davon sprachen, dass, wer glaubte, im Inneren Gottes Stimme hörte.128 Diesen, den seligmachenden Glauben im Unterschied

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Theophilus, Liber vitae [s. Anm. 126], a2a-d4a, [1a]-[4b]. Theophilus, Liber vitae [s. Anm. 126], 40 (Ps 84, 9 [Vg.], 1Joh 2, 20.27 [Vg.] u. a.).

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zum äußerlichen, der ein fleischlicher war, erörterte das vierte requisitum, bevor das fünfte der wahren, im Innern geschehenden Erkenntnis Gottes sich zuwandte; wo diese, die cognitio interna spiritualis, sich vollzog, war Christus allein der Lehrmeister auf dem Grund der Seele, und wo er lehrte, regierte eine einzige unverfälschte Wahrheit ohne jedwede Secterey; die cognitio extern literalis hingegen brachte nicht mehr als eine von den Predigern vermittelte veräußerlichte Wissenschaft, nur ein historisches Wissen, das allerdings nicht abzulehnen war. Mit dem wahren Glauben und der wahren Erkenntnis verbunden war das wahrhafte Handeln eines Christen, dem das sechste „requisitum“ galt; denn die Seligkeit bestand eben nicht in sola fide, sondern im Tun des Willens Gottes gemäß der gewonnenen Erkenntnis, wie Theophilus mit vielen, wieder zweisprachig zitierten Schriftstellen darlegte; auch dieses Wirken konnte ein äußerliches und ein innerliches sein, dieses beherrschte die klare Liebe des neuen Adam, jenes die gleißnerische des alten Adam. Schließlich das siebte requisitum, ohne das alle anderen nichts waren: die Beständigkeit bis ans Ende. Theophilus wusste, dass wahre Christen nicht selten Verachtung und Verfolgung erfuhren, weshalb es zuweilen, auch zu seiner Zeit, nötig war, den Grund seines Herzens nicht vor der Welt zu eröffnen; denn Gottes Wille war es nicht, dass zur Unzeit ein Opfer gebracht wurde. Er, Gott allein, wusste, wer im Inneren beständig war, das gewöhnliche Kirchegehen sagte darüber nichts.129 Am Ende verwies er auf das zwiefache Tractätlein, in dem das Gülden Büchlein angekündigt worden war; anders als dort bat er hier nicht, Christbrüderlich auf Fehler aufmerksam gemacht zu werden, er wusste, dass er den Sinn der Schrift getroffen hatte, daher, was nach dem Buchstaben der Schrift eingewendet werden mochte, hinten anstehen sollte. Allerdings bat er den Leser, an zwei Stellen keinen Anstoß zu nehmen: dass er dem inneren Hören dem Vorrang vor dem äußeren gab (was er nicht auf häretische Art, sondern nach dem eigentlichen Sinne der Schrift verstanden wissen wollte) und dass er dem Glauben allein keine seligmachende Wirkung zuschrieb (was nicht für den warhafftigen/ kräfftigen/ lebendigen Glauben galt, aus dem, wie Luther und andere orthodoxe Doktoren gelehrt hatten, das Tun herausfloss).130 Wohl allen, die das Buch lasen und auch das im Vorjahr erschienene kannten, dürfte aufgefallen sein, was für eine friedfertige Feder Theophilus führte. Umso glaubwürdiger wurden die beiden Bücher und ihr Autor auch. Die Fülle der Schriftbelege zeigte ihn als einen Bibelbelesenen, die Begrifflichkeit, der er sich bediente, als einen Universitätsgelehrten. Freilich waren seine vorsichtig formulierten Vorbehalte gegenüber den Weltgelerten, die er offenbar als Zancksüchtige erlebt hatte, nicht zu verkennen.131 Ihnen und allen anderen

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Theophilus, Liber vitae [s. Anm. 126], 1–109. Theophilus, Liber vitae [s. Anm. 126], 109 f. Theophilus, Dyas mystica [s. Anm. 116], A2a; ders., Liber vitae [s. Anm. 126], [3a], 109.

evangelischen Lesern, bezeugte er sich, Luther zitierend, als dessen discipulus – allerdings als einen, der den Lehrer anrief als Autorität gegen orthodoxe Theologen, die Luthers Lehre nicht richtig darlegten. Die von ihnen zusammengestellten corpora doctrinae nannte er nicht ein einziges Mal, sie galten ihm nichts, Richtschnur war ihm die Bibel. Was Christus lehrte, hatte, wer als Christ sich verstand, auch zu leben. Darin bestand das wahre Christentum, zu dessen erbawung vnd vermehrung Theophilus mit seinen Büchern beitragen wollte. Das tat er den Kennern bereits auf dem Titelblatt kund, indem er Titelteile von Schriften Johann Arndts (dessen Vier Bücher Von wahrem Christenthumb), von Johann Valentin Andreae (dessen zwei Invitationes Fraternitatis Christi) und wohl auch von Weigel (dessen nur handschriftlich umlaufende Zwene Nützliche Tractat) in seine Titelformulierung einflocht. Von Weigel kannte Theophilus auch anderes, beispielsweise die Kirchen Oder Hauspostill. In ihr hatte das Sonntagsevangelium vom reichen Mann und dem armen Lazarus Gelegenheit gegeben, über die drei Teile des Menschen und die unsterbliche Seele zu predigen, und das Sonntagsevangelium von den zehn Aussätzigen hatte gedient, den Unterschied zwischen natürlichem und seligmachendem Glauben herauszustellen.132 Bevor die Kirchen Oder Hauspostill im Jahre 1617 erschienen war, hatte diesen Unterschied am Beispiel der blutflüssigen Frau bereits Magister Nollius erklärt, indem er dargelegte, dass der Glaube etwas sehr Natürliches wie die Heilung des Leibes durchaus auf übernatürliche Weise zu wirken vermochte, wenn er gesteigert wurde und dann Einbildung freisetzte und die wiederum den Geist, der die heilende Kraft herauszog.133 Augenscheinlich waren die Gedankenkreise eines Arndt, eines Andreae, eines Weigel, eines Nollius und der von ihnen geschätzten Johannes Tauler, Hermes Trismegistos oder Paracelsus auch die, in denen Theophilus sich erging. Viele Fragen, wie die nach der Bewandtnis, die es mit dem Stein der Philosophen hatte, trieben ihn um, sie gedachte er, „wills Got“, eigens zu traktieren.134 Ob er dies als Propagator der Bruderschaft Christi tun wollte, gab er nicht zu erkennen, wie er auch nichts über die Bruderschaft bekanntgab. Der Gedanke der auf Christus gerichteten Gesellschaft hatte immer noch Konjunktur. Die beiden in den Jahren 1617 und 1618 erschienenen InvitationesSchriften von Andreae warben für eine Bruderschaft, der jeder angehören konnte, der zur tätigen Nachfolge Christi bereit war, und die zur gleichen Zeit erschienene Theoria philosophiae hermeticae von Nollius warb für eine Gesellschaft „verorum medicorum et philosophorum“, die jeden aufnahm, 132 Valentin Weigel: Sämtliche Schriften. Neue Edition. Hg. v. Horst Pfefferl. Bd. 12/1–2. Stuttgart, Bad Canstatt 2010, 291–299, besonders 295 f., 392–399, besonders 396; sowie Bd. 1. Stuttgart, Bad Canstatt 2012, XIII-XVIII (Zwene Nützliche Tractat). 133 Stephan Meier-Oeser: Henricus Nollius (ca. 1583–1626). Aristotelische Metaphysik und hermetische Naturphilosophie im frühen 17. Jahrhundert. In: Spätrenaissance-Philosophie in Deutschland 1570–1650. Entwürfe zwischen Humanismus und Konfessionalisierung, okkulten Traditionen und Schulmetaphysik. Hg. v. Martin Mulsow. Tübingen 2009, 178 f. 134 Theophilus, Dyas mystica [s. Anm. 116], B4a.

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der für die Wiederherstellung der wahren Weisheit und der wahren Medizin, wie sie die alten Philosophen gekannt hatten, wirken wollte.135 Gedacht war an kleine Kreise Gleichgesinnter, die ziel- und zweckgeleitet sich zusammenfanden, letztendlich die Reform von Gesellschaft und Kirche erstrebten. Theophilus dagegen ließ seine fraternitas-Vorstellung verhüllt: nicht ein einziges Wort, was es mit der Bruderschaft für eine Bewandtnis hatte. War è saniore Fraternitate CHRISTI dem Verfassernamen lediglich zugefügt wegen des Anklangs an die viel beredete Bruderschaft vom Rosenkreuz? Um den beiden Büchern und den anderen, angekündigten ein größeres Gewicht zu geben? Um als Wirklichkeit erscheinen zu lassen, was vielleicht Wunsch war? Oder ging es, ganz im Gegenteil, um eine geistig-geistliche Gemeinschaft von Christen, die einander gar nicht kannten? Sollten also die beiden Bücher, denen ohnehin ein weltflüchtiger Zug eignete, allein als etwas Erbauliches gelesen werden? Es spricht viel dafür. Viel spricht auch dafür, dass es Jakob Schalling war, der des Pseudonyms sich bedient hatte. Die Entsprechungen zwischen seinen Schriften und den beiden Büchern des Theophilus sind nicht zu übersehen: sei es die Bedeutung der Drei, die, ausgehend von der Trinität, als Prinzip überall in der Welt zu bemerken war, oder die Bedeutung der Sieben, deren symbolischer Wert immer wieder aufschien; sei es Zion, das himmlische Jerusalem oder die Orientierung auf Christus, der im Augentrost der archiater, im Gülden Büchlein das haupt war; sei es der Verweis auf bereits erschienene oder bald erscheinende Schriften, die Kenntnis der griechischen Sprache, das Nebeneinander von Latein und Deutsch oder das medizinisch-alchemische Vokabular, das der Augentrost ebenso kannte wie, metaphorisch gewendet, das Zwiefache Tractätlein und das Gülden Büchlein. Noch mehr als das Vokabular spricht für Jakob Schalling als Autor die ihm bekannte Beobachtung, dass die beste Medizin eine Körperkrankheit nicht zu kurieren vermochte, diese aber ohne Medizin geheilt werden konnte, wenn es der menschlichen imagination gelang, zu Christus als einem medico corporis sich zu erheben.136 Für ihn als Autor spricht ferner die Zustimmung zu den Brüdern vom Rosenkreuz; das Zwiefache Tractätlein gab sie mit der Vignette schon auf der Titelseite zu erkennen, während die Vignette auf dem Titel des Gülden Büchlein an den Kupfertitel des Augentrost erinnerte. Auch was das Gülden Büchlein biographisch bekannte (dass sein Verfasser seit zwölf oder 14 Jahren begierig war, den engen Weg zur Wahrheit, nämlich zu Christus, zu gehen und, in dieser Wahrheit sich stärkend, beharrlich die Bibel durchforschte, soweit ihm dies seine anderweitigen Studien erlaubten),137 passt in die Biographie Jakob Schallings, verweist sie doch auf 135 Richard van Dülmen: Reformutopie und Sozietätsprojekte bei Johann Valentin Andreae. In: Francia 6, 1978, 309 f.; Meier-Oeser, Henricus Nollius [s. Anm. 133], 182 f. 136 Theophilus, Dyas mystica [s. Anm. 116], D2a. 137 Theophilus, Liber vitae [s. Anm. 126], [1b]; hierzu auch die Bemerkung, dass Christus das Erforschen der Schrift geboten habe ([3a]).

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seine Jenaer Zeit nach der Promotion zum Magister, als er der Medizin sich zugewandt und begonnen hatte, in die Schriften des Paracelsus und seiner Adepten sich zu vertiefen und als ihm fortan manches widerfahren war, was ihn nicht hatte vorankommen, ihn nicht Erfolg und Ehren hatte einernten lassen: es war der enge Weg, den er wandelte. Nicht zuletzt lässt sich die Überlieferung eines der beiden Theophilus-Bücher, des Gülden Büchlein, mit Jakob Schalling insofern verbinden, als es einst der Bibliothek des Friedrich-Gymnasiums in Altenburg gehörte, in die es gelangt sein mochte nach dem Tode des Cousins Ludwig, des ernestinischen Hofpredigers, im Sommer 1629: ihm könnte er es zu Lebzeiten geschenkt gehabt haben.138 Wer mit seinem Namen zu spielen wusste, wie es Jakob Schalling getan, als er den Brüdern vom Rosenkreuz den Augentrost als seinen geringen Schall anbefohlen hatte, griff nicht aufs Geratewohl nach einem paraten Pseudonym, er bedachte es, weil er es als Botschaft benutzte. Anders als der Tauf- und Familienname entsprach das Pseudonym dem Verständnis seiner selbst, zu dem er inzwischen auf dem engen Weg gelangt war: Christiani waren die ersten Anhänger Christi in Antiochia genannt worden,139 Christianus war daher der natürliche Name eines jeden nicht nur auf Christus getauften, sondern ihm in Wort und Tat gleichermaßen anhängenden und nachfolgenden Menschen. Der Beiname bekräftigte das: ein Christianus war auch ein Theophilus, gleicherweise wie die Fratres Rosatae Crucis als Theophili galten.140 Dass Jakob Schalling seine Bücher unter diesem Namen ausgehen ließ und willens war, ihnen weitere nachzuschicken, war nicht unehrenhaft, er mochte sich, einvernehmlich mit Drucker und Verleger, guten Gewissens gesagt haben, dass Ohne betrug ein frommer Mann Sein Nam wol frey verendern kan – eine Rechtsregel, auf die sich auch andere beriefen.141 Doch gab es gewichtige Gründe, die ihm das Pseudonym angeraten sein ließen. Sie erklärten sich aus den einmütigen Maßnahmen der Erfurter Obrigkeiten (der geistlichen und der weltlichen) gegen den Spiritualisten Stiefel und seinen Kreis und die von diesen Maßnahmen bestimmte besondere Beobachtung der vielen in der Stadt feilgebotenen, auf die Brüder vom Rosenkreuz bezogenen Schriften mit ihrer, wie den Obrigkeiten schien, auf einen Umsturz gerichteten, aber als reformatio sich tarnenden Tendenz. Jakob Schalling wusste das. Bei der im Evangelischen Ministerium vereinigten Geistlichkeit, mit deren führenden Vertretern (dem Senior zumal) er seit Jah138 Exemplar der ULB Halle/Saale. (Sign.: 65 A 4473,1) mit dem Eintrag „Biblioth Schol Altenburg“; s. hierzu den Eintrag in dem 1721 angelegten Katalog des Gymnasiums: „Christiani Theophilis Liber Vitae Aureus. Erff. 1621, 4“. (Stadtarchiv Altenburg Bibliothek M 281 546, freundliche Mitteilung von Undine Puhl, Altenburg). Begräbnis des „fürstl. Sächs. Hoffprediger Schalling“ am 30.08.1629 (Thüringer Pfarrerbuch Bd. 6. Leipzig 2013, Nr. 1762). 139 Apg 11, 26. 140 Carlos Gilly: Adam Haslmayr. Der erste Verkünder der Manifeste der Rosenkreuzer. Amsterdam 1994, 36. 141 Christian von Jerusalem: Calvinischer Abzug vom Necker und Rhein nach dem Niederland. O. O. 1628 (VD 17 14:003922X), A2a sowie A2bf. (Erklärung des Pseudonyms).

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ren in guter Korrespondenz stand, mochte er, der Enkel und Neffe zweier Schalling, die zu den Säulen des Luthertums gehörten, wohl nicht in den Ruf eines sich Verirrenden kommen. Wenn den Lesern im Gülden Büchlein gesagt wurde, dass es angezeigt war, den Grund seines Herzens vor der Welt nicht zu eröffnen, hatte es der Autor wahrscheinlich auch sich selbst gesagt – sich sagen müssen. Auf den Messen in Leipzig und in Frankfurt am Main wurden die beiden Theophilus-Bücher nicht angeboten. Der Drucker Röhbock gab den Buchhändlern Birckner und Bischoff, als sie im Jahre 1620 zur Messe fuhren, das Zwiefache Tractätlein nicht mit, und Bischoff ließ, als er im nächsten Jahr zur Messe fuhr, das von ihm verlegte Gülden Büchlein in seinem Buchgewölbe – der catalogus universalis verzeichnet weder das eine noch das andere. Verkauft wurden sie, wie es scheint, fürs erste nur in der Stadt, hier aber in größerer Zahl, zumindest war das Zwiefache Tractätlein alsbald in den Händen vieler Studenten und vieler Layen, sie lasen, liebten und lobten es wie eine heilige Schrift, so dass die Geistlichen für notwendig erachteten, dagegen anzupredigen und anzuschreiben.142 Mit Nachdruck tat es Magister Valentin Wallenberger. Der war ein paar Jahre älter als Jakob Schalling, aber erst kürzlich, nachdem der Rat die Kosten der Promotion auf die Besoldung angerechnet hatte, Magister und dann Diakon der Reglerkirche geworden.143 So lag es nahe, dass er, sich ehrerbietig erweisend, seine erste Veröffentlichung dem Rat widmete; es war die Trias questionum controversarum, die, wie auf dem Titelblatt stand, Opposita Dyadi Mysticae Christiani Theophili. Im Unterschied zu dieser war die Trias lateinisch verfasst, weil in dieser Sprache die „termini artium“ besser erklärt werden konnten. Der deutsche Leser aber wurde auf die gerade erschienene Trewhertzige Warnung fürm Weigelianismo von Andreas Merck, einem Prediger in Halle an der Saale, hingewiesen, in der er die weigelianischen Falschheiten sehr fein widerlegt fand. Wallenberger listete neun Irrtümer auf, beschränkte sich allerdings auf die drei für ihn wesentlichen nach der Sterblichkeit der Seele, nach dem Charakter des natürlichen Glaubens und nach den drei Teilen des Menschen.144 Er nannte die biblischen Beispiele Enoch, Abaraham, Isaak, Jakob und David, die bezeugten, dass die menschliche Seele unsterblich war; er erklärte die von Theophilus angeführten Heilungsgeschichten als Wirkung des wahren, rechtfertigenden, von 142 Valentin Wallenberger: Trias questionum controversarum. Opposita Dyadi mysticae Christiani Theophili. Cum censura [. . .] M. Modestini Wedmanni, &c. Erfurt 1621 (VD 17 23:271516T), A4a und C2b. 143 Zu Mag. Valentin Wallenberger (1582–1639) s. Bauer, Theologen [s. Anm. 98], 323; ders.: Erfurter Personalschriften 1540–1800. Beiträge zur Familien- und Landesgeschichte Mitteldeutschlands. Neustadt/Aisch 1998, Nr. 898; sowie Stadtarchiv Erfurt 1–1 XXII 1 Bd. 62, Bl. 164b. 144 Wallenberger, Trias questionum controversarum [s. Anm. 142], C3b-D4a (De Animae mortalitate), D4a - F1a (De Fidei naturalis in morborum curatione tempore Christi & Apostolorum operatione), F1a – F4b (De tribus substantialibus sive essentialibus hominis partis).

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Christus empfangenen Glaubens; und er verteidigte, Luther und Philipp Melanchthon zitierend, die Beschaffenheit des Menschen aus Körper und Seele. Adversarius noster, wie er Theophilus nannte, irrte; manche Ansicht bezeichnete Wallenberger als töricht oder närrisch, die über die Seele des Menschen als absurdissima absurda, er sprach von judaicis figmentis, von falschem Verständnis der Bibel und falschem Verweis auf Luther: dessen Magnificat hatte Antagonista noster zitiert, wie der Teufel die Schrift zitierte.145 Er tadelte das Vergiftete und Verführerische der Tractätlein, die Hoffart und die Unehrlichkeit des Mannes, der sich schämte, seinen Namen und den seines praeceptoris zu nennen: Valentin Weigel. Was der aber aufgebracht hatte, war nichts Neues, es war ein sehr alter Schwarm. Wallenberger dürfte die eilige Entgegnung mit Senior Weitman abgesprochen haben. Er, der Professor, wird im lectorio zuerst gemerkt haben, welchen Anklang das Zwiefache Tractätlein bei den jungen Studenten fand. Er kannte es. Zwar wurde, wie er meinte, eine res seria behandelt, doch völlig falsch. Theophilus hatte weder einen Begriff von Logik noch von Theologie und wusste daher auch nicht angemessen zu unterscheiden beispielsweise zwischen einer inneren und einer äußern Ursache, alles, was er darlegte, war nichts als leeres schwenckfeldisch-enthusiastisch-pelagianisch-felgenhauerisch-stiefelisches Geschwätz, was eine Widerlegung nicht wirklich verlohnte.146 Dennoch lobte er, dass Wallenberger sich ihrer unterzogen hatte. Dem war es, wie er mehrmals beteuerte, um die Sache, nicht um die Person gegangen. Wiewohl er, wie andere auch, geahnt, gar gewusst haben mochte, wer die Theophilus sich nennende Person war, erweckte er ebenso wie Weitman den Anschein, es nicht zu wissen, aus Rücksicht gegenüber dem allseits geachteten Arzt, der, wann immer Augen erkrankten, mit seinem Rat zu heilen oder doch zu lindern wusste: es war Weitman gewesen, der dies an Jakob Schalling gerühmt hatte in seinem dem Augentrost beigegebenen griechischen Gedicht. Im Übrigen erlaubte das vorgeschützte Nichtwissen die schärfsten Sätze gegen Theophilus. Die Bruderschaft, für die er sprach, war Wallenberger und Weitman keiner Erwähnung wert, sie vermuteten oder wussten wohl, dass es sie gar nicht gab. Nachdem die censura Weitmans im Dezember 1620 vorlag, besorgte Röhbock zu Jahresbeginn den Druck, so dass Wallenbergers Trias, die Bischoff in Verlag genommen hatte, in seiner Tonne steckte, als er um Ostern zur Messe fuhr147 – und mit ihr, wie anzunehmen ist, die Dyas mystica. Dass er sie in den 145 ut Sathanas Psalmum 91 allegat (Wallenberger, Trias questionum controversarum [s. Anm. 142], C3a; s. Ps 91, 11 und Mt 4, 6). 146 SWENF-ENTHV-PELA-FEL-TARP-STEPHILO-THEOματολογιαν (Wallenberger, Trias questionum controversarum [s. Anm. 142], A3b). Anspielung auf die als theologisches Geschwätz (ματαιολογια) bezeichneten Lehren Caspar von Schwenckfelds (1489–1561), der sog. Enthusiasten, des Pelagius († nach 418), Paul Felgenhauers (1593–1677) und Esajas Stiefels (1561–1627); „Tarp“ ist unklar. Die censura ist datiert 06.12.1620. 147 Catalogus universalis (Ostermarkt 1621) C2b.

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Katalog wohl nicht hatte einrücken lassen können, ist bezeichnend. Allerdings wird er Kunden, die nach Wallenbergers Widerlegung griffen, zugleich das Zwiefache Tractätlein angeboten haben. Auch so erklärt sich dessen weitere Verbreitung und die Aufmerksamkeit, ja das Aufsehen, das es andernorts erregte. 8. Theophilus in Gießen und in Rostock Im Januar 1623 klagten die Theologen beim Rektor der Universität in Gießen über einen neuen Schwarm, der in der Universität und in der Stadt sich ausgebreitet hatte, als einen der schrecklichsten Schwärmer nannten sie Nollius und sein Parergi philosophia speculum, das er, nachdem er im Frühjahr an die Universität zurückgekehrt und von Winckelmann noch einmal in die Matrikel eingetragen worden war, bei Caspar Chemlin, dem Universitätsbuchdrukker, unter die Presse gegeben und nun in viele Hände hatte gelangen lassen. Der Rektor reagierte sofort und besprach sich im Kreise der Professoren, die indes mehrheitlich den inkriminierten Nollius und sein speculum lobten, der Rektor aber zettelte mit den Theologen, und der Landgraf setzte eine Kommission ein, deren fortwährende Vernehmungen in der Universität und in der Stadt einigen Unmut schafften.148 In dieser Zeit, während die Kommission inquirierte, ließen die Theologen über die falschen Vorstellungen der neuen Schwärmer disputieren, am 13. März De partibus Hominis.149 Winckelmann präsidierte, Magister Balthasar Werner respondierte. Eingangs wurde kurz an die in den christlichen Kirchen und Schulen gemeinhin gelehrte Auffassung von den zwei Teilen des Menschen, Leib und Seele, erinnert, um dann „Valentinus Weigelius“, den autor novae sectae Weigelianae, namhaft zu machen, der, Paracelsus folgend, von drei wesentlichen Teilen des Menschen redete: dem aus der Erde geschaffenen Leib, der von Gott eingeblasenen Seele und dem aus dem Himmelsgestirn kommenden Geist.150 Doch nicht um Weigel ging es, sondern um einen Mann, der den Namen Christian Theophilus angenommen und eine Schrift verfasst hatte, die ihn als Schüler Weigels erwies. Von seinem Magistro unterschied er sich, indem er von der gestirnten Seele und von dem aus Gott kommenden Geist sprach. Auch fingierte er, vollends verführt von der trichoto148 Heinz Klenk: Ein sogenannter Inquisitionsprozeß in Gießen anno 1623. In: Mitteilungen des Oberhessischen Geschichtsvereins NF 49/50, 1965, 39–60. Zum Zeitpunkt der Rückkehr von Nollius nach Gießen s. Matrikel [s. Anm. 65], 194. 149 Johann Winckelmann u. Balthasar Werner: Disputatio theologica de De partibus Hominis, contra novam opinionem quorundam tres partes substantialiter differentes constituentium. Gießen 1623 (VD 17 14:674903G). Werner ist nur als Respondent theologischer Disputationen bekannt (s. VD 17 3:014124B; 12:154429X; 23:258077M). 150 Winckelmann/Werner, Disputatio theologica [s. Anm. 149], A2b (mit Verweis auf Gnothi seauthon parte I. cap. 2. & 3.); s. Weigel, Schriften [s. Anm. 132] 3, 55.

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mischen Deutung des Menschen, drei Arten von Theologen, um die Dreiheit schließlich in allem körperlich Geschaffenen zu sehen. Beide, Weigel und Theophilus, hielten die Seele für sterblich, beide schrieben ihr eine fidem naturae zu – und mit ihnen alle novi Weigeliani. Bedenklich war, dass etliche Prediger sich nicht scheuten, in diesem Sinne dem Volk zu predigen. Deshalb und weil die von den novatoribus aufgebrachten Ansichten lauter Absurditäten nach sich zogen, mussten die Schriftstellen, auf denen sie fußten, genau untersucht werden. Zunächst wurden aber jene Stellen aufgeführt, die, beginnend mit der Schöpfung, stets vom sterblichen Leib und der unsterblichen Seele handelten.151 Von diesem festen Fundament ließen sich die Stellen, die Theophilus fictitius völlig falsch verstanden hatte, in ihrem richtigen Verständnis erklären. Als erstes die Worte von Maria in dem Loblied: wenn sie von ihrem Geist sang, der sich Gottes freute, meinte sie ihre Seele, wie auch David von seiner den Herrn lobenden Seele gesungen hatte; überhaupt meinte das Wort Seele in der Bibel eine Kraft und Begierde, Maria hatte ihre Begierde ganz auf Gott gerichtet; dass Luther in seiner Auslegung des Magnificat von Leib, Seele und Geist gesprochen hatte, war nur geschehen, damit es besser begriffen werden konnte.152 Für die zweite Stelle, wo Paulus den Thessalonichern wünschte, Gott möge ihren Geist samt Seele und Leib bewahren, genügte die Erläuterung, dass hier das Wort Geist die vornehmste Fähigkeit der Seele, den Verstand, meinte, während das Wort Seele die Fähigkeit des Willens bedeutete; diesen Sinn hatten auch Luthers Randglossen.153 Ähnlich verhielt es sich mit der dritten Stelle, wo der Apostel von dem zweischneidigen, Seele und Geist scheidenden Schwert sprach: auch hier ging es nicht um eine distinctionem essentialem, sondern um eine distinctionem animae in suas facultates.154 Die vierte Stelle, wo Paulus vom natürlichen Menschen redete, der nichts vom Geist Gottes vernahm, musste eingehend erläutert werden, da Theophilus fictitius ihr ein großes Gewicht gegeben hatte, doch hielt nicht den Stich, was er und die anderen novi contemplativi Theologi vorbrachten; die Bibel verstand unter dem natürlichen Menschen den ganzen Menschen und unter dem geistlichen Menschen den vom heiligen Geist wiedergeborenen, der im Licht lebte – siehe Paulus im Brief an die Epheser; damit aber der Mensch vom Geist erleuchtet wurde, hatte Gott das Predigtamt eingesetzt.155 Schließlich die Stelle im Brief an die Römer, wo der Apostel die nach dem Fleisch lebenden Menschen an den Tod erinnerte, während die vom Geist Gottes getriebenen leben werden; hier hatte contemplator noster nicht begriffen, dass das Wort Fleisch nicht den Leib, sondern den nicht wiedergeborenen Menschen meinte, wie gleicher151 Winckelmann/Werner, Disputatio theologica [s. Anm. 149], A3b-B1a (mit Verweisen auf 1 Mos 2, 7; 1 Kön 17, 21.22; Lk 23, 46; Apg 7, 59; Hebr 12, 23 u. a.). 152 Winckelmann/Werner, Disputatio theologica [s. Anm. 149], B1bf. (Lk 1, 46.47). 153 Winckelmann/Werner, Disputatio theologica [s. Anm. 149], B2af. (1Thess 5, 23). 154 Winckelmann/Werner, Disputatio theologica [s. Anm. 149], B2bf. (Hebr 4, 12). 155 Winckelmann/Werner, Disputatio theologica [s. Anm. 149], B3b-C1b (1Kor 2, 14).

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weise das Wort Geist nicht den von der Seele unterschiedenen Teil des Menschen bedeutete, sondern den Wiedergeborenen schlechthin.156 Verderblich war, was Theophilus fictitius lehrte, wegen der Konsequenzen für den Glauben, indem er nämlich unterschied zwischen dem natürlichen Glauben des natürlichen Menschen und dem Gnadenglauben des geistlichen Menschen, überdies, auf das kanaanäische Weib und andere verweisend, dem natürlichen Glauben eine Wunderkraft beilegte; tatsächlich aber hätte Jesus den Glauben dieser Frau und der anderen, die ihn angerufen hatten, nicht gerühmt, wenn sie nicht vom Gnadenglauben geleitet gewesen wären; es war absurd, den natürlichen Glauben eine natürliche, wunderwirkende Tugend zu nennen, wo doch Jesus aus der ihm per naturam eigenen göttlichen Tugend Wunder gewirkt hatte und nach ihm die Apostel in seinem Namen.157 Die Thesen endeten mit dem schützen sollenden Satz, andere Absurditäten, die in dem Traktat des Theophilus steckten, für diesmal zu übergehen. Es waren lediglich die beiden wichtigen, das lutherische Glaubens- und Christusverständnis betreffenden Fragen disputiert worden, dies indes so grundsätzlich, dass die Disputation verdiente, nicht allein den Lateinkundigen, sondern insbesondere auch den Deutschlesenden, die das Zwiefache Tractätlein des Theophilus kannten, bekanntgemacht zu werden. Dieser Aufgabe unterzog sich der aus Gießen stammende Magister Ludwig Seltzer, der in seiner Heimatstadt und in Marburg studiert und an verschiedenen Orten als Pfarrer amtiert hatte, ehe er im Jahre 1621 als Prediger nach Worms berufen wurde. Als Seelsorger hatte er ein Gespür für Theologisches, das aus dem Kreise der Gelehrten in den des gemeinen Mannes gebracht werden musste: im Jahre 1618 waren es die Institutiones catecheticae, die der Ulmer Superintendent Conrad Dieterich, der lange Jahre in Gießen gelehrt, bei Chemlin hatte erscheinen lassen, nun war es die theologische Disputation Winckelmanns, der ebenso wie Dieterich Seltzers Lehrer gewesen war. Das Titelblatt benannte klar die doppelte Absicht der Übersetzung: die Einfältigen zu unterrichten und sie zu warnen.158 War es Zufall, dass in Gießen, wo Jakob Schalling, wenngleich nur kurze Zeit, studiert hatte, über das Zwiefache Tractätlein des vermeintlichen Theophilus disputiert und das Disputierte für so wichtig gehalten worden war, dass Winckelmann/Werner, Disputatio theologica [s. Anm. 149], C1b-C2a (Röm 8, 13.16). Winckelmann/Werner, Disputatio theologica [s. Anm. 149], C2a-C4b (mit Verweisen auf Apg 10, 38; Lk 9, 1; Apg 3, 6). 158 Johann Winckelmann: Erleuterung der Frage/ Ob der Mensch auß zweyen wesentlichen Stücken/ [. . .] Oder aber auß dreyen wesentlichen Stücken [. . .] bestehe. Entgegengesetzet Den newen betrieglichen Weigelianischen Jrr= vnd Win[d]geistern/ [. . .] Jetzo aber den Einfältigen zu nützlichem Vnterricht vnnd Warnung aus dem Lateinischen ins Teutsch versetzet Durch M. Ludovicum Seltzerum. Gießen 1623 (VD 17 23:631887H). Zu Mag. Ludwig Seltzer (1581–1642) s. Georg Winter: Art. „Seltzer, Ludwig“. In: ADB 33, 1891, 692; zu Dr. Conrad Dieterich (1575– 1639) s. Monika Hagenmaier: Predigt und Policey. Der gesellschaftliche Diskurs zwischen Kirche und Obrigkeit in Ulm 1614–1639. Baden-Baden 1989, 27 ff. u. 353. 156 157

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es im selben Jahr zweimal, lateinisch und deutsch, in Druck gelangt war? War das Tractätlein mit Vorsatz in Gießen verbreitet worden? Von Nollius, den Jakob Schalling aus der Jenaer Zeit kannte? Von Jakob Schalling selbst, der Verbindungen in die Stadt noch pflegte? Wahrscheinlich war es auch kein Zufall, dass der Nürnberger Spitalprediger Magister Werner sowohl das Zwiefache Tractätlein als die von Seltzer übersetzte Disputatio theologica besaß; denn weite Kreise waren in der Stadt sehr empfänglich für neuerdings als Weigelianismus verschriene mystisch-spiritualistische Gedanken.159 Nicht nur das Zwiefache Tractätlein, auch das Gülden Büchlein des Theophilus hatte Aufsehen erregt, nicht nur in Gießen, auch anderswo. Im Februar 1623, als in Hessen die Kommission ihre Arbeit aufnahm, beendete in Mecklenburg der Hofprediger Georg Rost ein umfangreiches, 52 Bogen starkes Werk, das er Dreyfacher Theologischer Spiegel betitelte.160 Rost hatte anfänglich Jura und Medizin studiert und sich erst später der Theologie zugewandt, um dann nach Mansfeld, woher er stammte, zurückzukehren. Sehr bald aber war er von der mecklenburgischen Herzogin Sophie als Prediger und Kirchenrat an ihren Hof berufen worden.161 Unweit von Parchim, in Lübz an der Elde, wo die Herzogin ihren Witwensitz hatte, war sein Spiegel entstanden. In ihm beurteilte er die drei bedrückendsten Probleme seiner Zeit: das Kriegswesen, das aus Böhmen und der Pfalz nach Niedersachsen und noch weiter sich auszubreiten begann, das Geldwesen, das durch mancherlei Manipulationen zu einem nicht selten die ganze Haushaltung gefährdenden Unwesen verkommen war, und das Ketzerwesen, das in Gestalt der newen vnd zuvor vnerhörten Secte der Septenisten von sich reden machte. Als Prediger hatte Rost auch sonst publizistisch Position bezogen, wenn er Gefahren für das Luthertum hatte heraufziehen sehen, beispielsweise durch Chiliasten wie Paul Felgenhauer, mit dem er in eine Kontroverse geraten war, die er im selben Jahr, da er seinen Spiegel schrieb, mit einer Apologia fortsetzte.162 159 Exemplare in den beiden Sammelbänden aus dem Besitz von Mag. Georg Werner (1563– 1624) (zu ihm Simon, Nürnbergisches Pfarrerbuch [s. Anm. 32], Nr. 1527) (LAELKB Spit J 73/13 u. J 76/6); s. auch Richard van Dülmen: Schwärmer und Separatisten in Nürnberg (1618–1648). Ein Beitrag zum Problem des Weigelianismus. In: Archiv für Kulturgeschichte 55, 1973, 108–111. 160 Georg Rost: Dreyfacher Theologischer Spiegel. I. Newer KetzerSpiegel/ Darinnen vnterschiedene Quaestiones proponirt werden/ von der newen vnd zuvor vnerhörten Secte der Septenisten/ deren Anhänger ist Christianus Theophilus/ Welche Siebenerley Salutis requisita erträumen/ die Seele Sterblich/ vnd den Glauben Natürlich machen/ deß Menschen Composition dreyfachen/ vnd viel andere paradoxa propagiren vnd defendiren. II. Wipper vnd Kipper Spiegel/ [. . .] III. Krieg vnd Zeit Spiegel/ [. . .]. Rostock 1623 (VD 17 23:326222L). 161 Zu Georg Rost (1582–1629) s. Christian Gottlieb Jöcher: Allgemeines Gelehrten=Lexicon 3, 1751, 2240. 162 S. hierzu Georg Rost: Prognosticon Theologicon. Rostock 1620 (VD 17 23:268494B); ders.: Heldenbuch vom Rosengarten. Rostock 1622 (VD 17 1:063265C); ders.: Apologia und Schutzschrift des Heldenbuchs. Rostock 1623 (VD 17 23:255790); sowie Paul Felgenhauer: Apologeticus contra invectivas aeruginosas Rostii. O. O. 1622 (VD 17 1:072855C); ders.: Disexamen vel exa-

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Indes ging es jetzt um die Septenisten. Rost war nicht fragenswert, ob die fraternitet etwas völlig Fiktives war: der fiktive Name ihres Führers verbürgte vielmehr die Wirklichkeit dieser fraternitet, deren Haupt, wiewohl ein Newling, mit gutem Grund sich vermummt und verstellt hatte. Aber auch wenn Christian Theophilus nomen verum war, stammte, was er im Tractätlein und im Büchlein geschrieben hatte, nicht von einem rechtschaffenen Christiano oder Christen/ noch von einem Theophilo vnd Gottliebenden Theologo; denn es hatte Gottes Wort gegen sich.163 Wirkungsvoll wusste Rost mit dem Namen zu hantieren, wenn er herausstellte, was ein rechter Christianus vnd wahrer Theophilus glaubte oder in welchem Glauben bisher alle Christiani vnd Theophili selig geworden waren, um zu folgern, dass dieser Christian Theophilus nur ein vermeinter sein konnte, der mit seiner newerung darauf abzweckte und abzielte, die Kirche zu verunruhigen.164 Da Rost dies sehr genau sah, nahm er die Widerlegung ernst. Fragweise formulierte er die anstößigen Ansichten über die Dreiteilung des Menschen, die Arten des Glaubens oder die Mittel zum Seelenheil und verwarf sie Punkt für Punkt. Stets verwies er auf das falsche Verständnis der Schrift, dem der vermeinte Theophilus verfallen war; an einer Stelle ließ er sich vernehmen wie die Päpstler, an einer anderen wie die Calvinisten, an einer dritten wie die Schwenckfelder, an einer vierten wie die Täufer; beispielsweise klang gut Wiederteufferisch, wie er das Wort von Johannes dem Täufer über die Buße ausgelegt hatte.165 Doch nicht genug damit, der vermeinte Theophilus scheute sich, die Schrift zitierend, nicht einmal, Teuffels griffe anzuwenden, indem er in einen Psalmvers ein in me einbaute als Stützbalken seiner Ansicht, dass Gott auch heutzutage, wie er das vorzeiten getan hatte, im Inneren des Menschen redete.166 Hier und sonst zeigte sich der Schrifftlose Wahn, der das Zwiefache Tractätlein und das Gülden Büchlein durchzog. Auch die sieben requisita, die der vermeinte Theophilus auf dem Weg zum Seelenheil für notwendig hielt, hatten keinen Grund in der Schrift. Auf die Siebenzahl war er nur verfallen, weil der numerus sacer seiner Fiktion den Anstrich des Wahren geben sollte.167 Das tat er wahrscheinlich. Außerdem war, wenn Rost über die Ketzergeschichte hinblickte, noch nie etwas von „septem requisitis“ publiziert worden, es erschien ihm daher richtig, die newen haereticos nicht nach dem mit falschem Namen auftretenden Urheber, sondern nach der falschen Lehre als

men examinis seu responsio modesta ad examen vexamen Rostianum contra Apologiam suam. Wahrenburg 1622 (VD 17 23:247140M). 163 Rost, Dreyfacher Theologischer Spiegel [s. Anm. 160], M2b, P3a, S3a, I4af. 164 Rost, Dreyfacher Theologischer Spiegel [s. Anm. 160], Q2a sowie O4bf., S1a. 165 Rost, Dreyfacher Theologischer Spiegel [s. Anm. 160], P4a und Theophilus, Liber vitae [s. Anm. 126], 15 f. (Lk 3, 8). 166 Rost, Dreyfacher Theologischer Spiegel [s. Anm. 160], Q3af. und Theophilus, Liber vitae [s. Anm. 126], 39 (Ps 84, 9 [Vg.]). 167 Rost, Dreyfacher Theologischer Spiegel [s. Anm. 160], M3b, R1b.

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Septenisten zu bezeichnen.168 Mit der falschen Vorstellung von den septem requisitis hingen die anderen, nicht weniger falschen Vorstellungen von der Dreiteilung des Menschen und von der Unterscheidung zwischen natürlichem und Gnadenglauben zusammen, die in ihrer Gesamtheit letztendlich das Christentum in einen Ethnicismum zu transformieren trachteten.169 Hinter diesen Eigentümlichkeiten der Septenisten-Lehre erkannte Rost sehr klar die Gemeinsamkeiten mit anderen Ketzerlehren, namentlich mit der weigelianischen, die ohnehin die Grundsuppe aller gegenwärtigen Ketzereien war. Auch die Septenisten erwiesen sich als getrewe Nachfolger des Haeresiarchae Weigelij.170 9. Wieder in Windsheim Dem Hofprediger in Lübz an der Elde war nicht zweifelhaft, dass der vermeinte Theophilus, wo immer er sich verbarg, seinen Spiegel zu Gesicht bekäme und dass er es an einer Gegenantwort nicht werde fehlen lassen.171 Aber die blieb aus. Auch die Trias von Wallenberger war unbeantwortet geblieben, allenfalls konnte aus den Worten von den zancksüchtigen Weltgelehrten eine Wendung gegen Wallenberger herausgelesen werden, der seinerseits das Gülden Büchlein mit Schweigen bedacht, obwohl er in seinem Traktat angekündigt hatte, auff ferner Erklärung des Antagonisten zu antworten.172 Doch dem war von den titelweise im Sommer 1620 genannten Schriften, die schon elaboriret waren und mit ersten vnter die Preß gelangen sollten, nur eine, das Gülden Büchlein, in Druck zu geben gelungen.173 Ob die anderen ausblieben, weil es an Mitteln fehlte oder weil Drucker sich versagten, bleibt dunkel. Fortan verstummte Theophilus. Und mit ihm Jakob Schalling. Wahrscheinlich war er im Herbst 1617 nach Windsheim zurückgekehrt. Dem Rat hatte er erst im Januar 1616, später als dem Rat in Nürnberg, einige Exemplare des Augentrost zugesandt, zusammen mit „etlichen artzneyen“, um die er wohl gebeten worden war, und hatte dafür 50 Gulden erhalten; vorher, im März 1615, waren ihm für den Traktat Philosophia transnaturalis 12 Goldgulden geschickt, und eine weitere verehrung war ihm verheißen worden, sofern er zwischenzeitlich zu promovieren

168 Rost, Dreyfacher Theologischer Spiegel [s. Anm. 160], S1a-S3b; s. a. L4a: Verweis auf die in fünf Teile gegliederte Rechtfertigungslehre von Leonhard Culmann (1497/1498–1561 oder 1562); zu ihm s. Manfred Knedlik: Art. „Culmann, Leonhard“. In: BBKL 20, 2002, 348–352. 169 Rost, Dreyfacher Theologischer Spiegel [s. Anm. 160], U1b. 170 Rost, Dreyfacher Theologischer Spiegel [s. Anm. 160], S3b. 171 Rost, Dreyfacher Theologischer Spiegel [s. Anm. 160], S3a. 172 Theophilus, Liber vitae [s. Anm. 126], 109; Wallenberger, Trias questionum controversarum [s. Anm. 142], A4b. 173 Theophilus, Dyas mystica [s. Anm. 116], [11af.].

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gedachte.174 Davon war nachmals nicht mehr die Rede gewesen, ebensowenig von einer amtlichen Anstellung. Stattdessen hatte der Rat, nachdem der alte Magister Schalling eingewilligt und gebürgt, einen Kredit über 320 Gulden gewährt, der dem jungen Magister wohl zur Einrichtung eines chemischen Labors hatte dienen sollen.175 Kurz darauf, am 21. Dezember 1617, war der Rektor gestorben; die Witwe hatte, wie es üblich war, noch zwei Quartale die Bezüge bekommen und noch länger, bis zum Amtsantritt des neuen Rektors, des aus Lauingen kommenden Magisters Christoph Cellarius, im Rektorhaus wohnen können, ehe sie am Schüsselmarkt ein Haus gekauft und dort eingezogen war.176 Damals als das Rektorhaus hatte geräumt werden müssen, war Jakob Schalling an den Rat herangetreten, um ihm Bücher des Vaters für die Bibliothek anzubieten. Es dürften nicht nur die noch heute verwahrten mehr als 70 Schriften gewesen sein. Indes vermitteln sie sicher eine hinreichende Vorstellung von der Büchersammlung, die der Student und nachmals der Rektor zusammengetragen hatte. Er hatte die Bücher entweder zwischen schweinslederbezogene Holzdeckel oder in Pergament einbinden und die Initialen seines Namens einprägen lassen, zuweilen auch eingetragen, wieviel das Buch oder das Binden gekostet hatte. Waren ihm Bücher von Vorbesitzern, seinem älteren Bruder Martin oder dem Amberger Aegidus Zeidler, vermacht worden, hatte er deren Supralibros überprägen lassen.177 Stets hatte er glossierend gelesen, zudem nicht selten an geeigneten Stellen Exzerpte aus anderen einschlägigen Werken niedergeschrieben. In der Zusammenschau ist das humanistische Interesse an antiken Autoren, an Aeschylus oder Thucydides, an Ovid oder Solinus, unverkennbar, ebenso das Interesse an Philosophie (an Ethik zumal) und das noch größere Interesse an Astronomie, das die Einträge über Beobachtungen der Gestirne, die er für etliche Jahre notiert hatte, bekräf-

174 Stadtarchiv Nürnberg Rst. Nürnberg Ratsverlässe 14.11.1615 Bl. 45b (Nach dem Jacob Schalling [. . .] sein Oculisticam dediciret soll man H. D. von Herden vernemen, was Jhme darfür zu verehren); Dr. med. Balthasar von Herden († 1619) war seit 1602 Stadtarzt in Nürnberg (Stadtarchiv Nürnberg A 1, 1602 Febr. 2); Repertorium [s. Anm. 23], 1616–1617 B 74, Bl. 18b (29.01.1616); Repertorium [s. Anm. 23], 1615 B 72, Bl. 86a (Korrektur des ursprünglichen Bescheids Reichsthaler in goldgulden), 88b (29.03.1615). 175 Repertorium [s. Anm. 23], 1617 B 75, Bl. 294b (08.10.1617). Auf den sachlichen Zusammenhang mit dem Kredit verweist die Bemerkung, im distilliren gute achtung auff das feüer zu geben. 176 LAELK Nürnberg Bestattungen Windsheim 1600–1624, 155; Stadtarchiv Bad Windsheim Rechnung der Lateinschule H 6 (Zinszahlung seit 1619); zur Besetzung der Stelle Reinhard H. Seitz: Die „Schwaben“ genannten Exulanten aus der Stadt Lauingen (und dem Fürstentum Neuburg) und ihre Vermittlung nach der Reichsstadt Windsheim durch Dr. Manasse Oppenrieder (1583–1632). In: ZBKG 81, 2012, 30 ff. 177 Stadtbibliothek Bad Windsheim XII A 145 (M S A), XII B 38,1–2 (E Z A). Zeidler wurde im März 1570 an der Universität in Wittenberg immatrikuliert (Album [s. Anm. 10] 2, 170). Zum Kaufangebot s. Lamping, Bibliothek [s. Anm. 30], 77.

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tigt.178 Bezeichnend für die theologischen Interessen sind die zumeist handschriftlich gesammelten, innerprotestantische Streitigkeiten betreffenden Schriften in einem starken Band, auf dessen Rücken der Rektor geschrieben hatte: HVBERI ERROREM et alia concernant. Scripta: in ihm sind auch Hoffmanniana eingebunden, ferner ein Bericht über die Marpurgischen Kirchenhändel im Jahre 1605 und schließlich eine Notiz über die Irrtümer der Photinianer sowie über das Schicksal ihrer Bücher nach dem Tode des Altdorfer Professors Ernst Soner im Herbst 1612: sie waren öffentlich verbrannt worden.179 In Windsheim war Jakob Schalling den Freunden der Studentenzeit wiederbegegnet: zunächst Zadel, mit dem er erst nach Altdorf und dann nach Jena gegangen war, später Hornung, mit dem er in Jena und in Gießen in guter Gemeinschaft gelebt hatte. Zadel hatte, ohne promoviert worden zu sein, bereits nach drei Jahren Jena verlassen und war nach Windsheim zurückgekehrt, wo er seit dem Jahre 1613 im Dienste des Rates stand, nachmals an dessen Spitze. Hornung war im Juni 1618 in die Stadt gekommen, um mit dem Rat, der sein Studium finanziert und ihn vorerst nicht verpflichtet hatte, unter anderem über seine berufliche Perspektive zu beraten.180 Der Rat hätte ihn gern als Nachfolger des alten Rektors gesehen, Hornung jedoch hatte die Gemeinde in Kleve, deren Pfarrer er im Mai 1612 geworden war, umso weniger verlassen wollen, als ihre Stellung wie die aller Lutheraner im Herzogtum sehr unsicher war; immer wieder hatte er sich aufgemacht und auf reichsweiten Reisen für die Gemeinde, die Kirchen- und Schulbau und die Besoldung der Bediensteten nicht allein tragen konnte, Kollekten gesammelt; dass er dies auch in Windsheim tun und in diesem Sinne predigen dürfe, war ein Wunsch gewesen, der ihm erfüllt worden war; ein anderer betraf die fortdauernde Freistellung, der zuzustimmen der Rat geneigter sein musste, wenn Hornung ihm seine liberey übereignete. Tatsächlich hatte der Rat sich darauf eingelassen; die Bücher sollten auf vncosten der Stadt nach Windsheim gebracht und nach Hornungs Tode entweder einem Verwandten oder einem anderen Studenten der Theologie nützlich sein.181 Die Kirche in Kleve war gebaut, im

178 Stadtbibliothek Bad Windsheim XIII B 140 (Peucer, Hypotheses [s. Anm. 37]) XIII B 145, 1–2 (Peucer, Elementa [s. Anm. 37] und Stanhuf, De Meteoris [s. Anm. 37]). Einträge zu Sternbeobachtungen im Band XX 191, 1–2. 179 Stadtbibliothek Bad Windsheim VIII p 92. Der Bericht über die Kirchenhändel scheint die Abschrift eines der Drucke zu sein, der zuerst bei Rudolf Hutwelcker in Marburg erschien (s. VD 17 3:600468S). 180 Repertorium [s. Anm. 23], 1618 B 76, Bl. 33b (24.01.1618: Schreiben des Rates an Hornung wegen des „rectorat, ader einem kirchen dienst“), 186bf. (12.06.1618), 188bf. (15.06.1618), 190a (16.06.1618), 204b (26.06.1618), 293af. (24.09.1618). 181 Lamping, Bibliothek [s. Anm. 30], 46 f.; Repertorium [s. Anm. 23], 1618 B 76, Bl. 188bf. (15.06.1618) sowie LAELKB Nürnberg Bestand Superintendentur Neustadt/Aisch Nr. 377, Bd. 1 (vf der Cantzel abgelesene Ratsverkündigung zur Unterstützung der Gemeinden, 08.07.1618; Sammlung in der Woche nach dem 07.10.1618); s. auch Gustav Bossert: Die Liebestätigkeit der

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Juni 1621 auch geweiht worden, doch wenig später stürzten die Verhältnisse um, Hornung zog nach Windsheim, der Rat berief ihn zum Prediger, dann zum ersten Pfarrer. Er war nunmehr die oberste kirchliche Autorität in der Reichsstadt, gereift und hart geworden in den Jahren am Niederrhein, wo er die Duldung von Täufern, die Anfeindungen der Calvinisten, die Umtriebe der Katholiken hatte erleben müssen.182 Auf seinen spiritualistisch ausgeschilderten Gedankenwegen war Jakob Schalling allein unterwegs. Gleichgesinnte kannte er in Windsheim nicht. Und anderen mochte er, der Sohn des toten Rektors, sich nicht offenbaren, namentlich auch Hornung nicht. Die Hoffnungen hatten getrogen. Eine reformatio in Kirche und Gesellschaft, die eine societas christiana ins Werk setzte, war nicht zu erwarten. Nur für sich konnte, wer ein wahrer Christ sein wollte, den Weg der Nachfolge Christi beschreiten; ihm genügte, Glied einer Gemeinschaft im Geiste zu sein und daraus Kraft zu gewinnen. Dies meinte die fraternitas Christi, als deren Glied Theophilus die beiden Schriften verfasst hatte. Dass Jakob Schalling die Drucklegung nicht, wie Windsheimer Bürger und der Rat dies zu tun pflegten, im nahen Nürnberg oder im noch etwas näher gelegenen Rothenburg an der Tauber, sondern im fernen Erfurt besorgte, geschah mit Bedacht: dort kannte er Drucker und Verleger, dort konnte er des Pseudonyms sicherer sein als in Nürnberg oder in Rothenburg.183 Und das wollte er, der Sohn des Windsheimer Rektors und Neffe des Nürnberger Predigers, unbedingt. Beide waren hoch angesehen, in ihrer Orthodoxie untadelig gewesen. Wie leicht aber konnte bei den vielfältigen Verbindungen, die es zwischen Windsheim und den anderen beiden Reichsstädten gab, ruchbar werden, wer hinter Christian Theophilus sich verbarg! Bloß dem Cousin Ludwig scheint Jakob Schalling sich bekannt zu haben. Die beiden hatten einander ihre Veröffentlichungen zukommen lassen, und den Augentrost hatte Ludwig mit einem Gedicht geschmückt. Zu der Zeit, im Herbst 1615, war er schon zwei Jahre Hofprediger der Herzoginwitwe Anna Maria in Dornburg an der Saale. Er hatte sich, gerade nach Jena gekommen, in die akademischen Kreise begeben, Bekanntschaften und Beziehungen gepflegt und an mancher Gelegenheitsschrift mit einem Gedicht sich beteiligt; so hatte er Wurzeln getrieben in die ernestinische Gelehrtenwelt und nach der

evangelischen Kirche Württembergs von der Zeit des Herzogs Christoph bis 1650. In: Württembergische Jahrbücher für Statistik 1905, 1906, H. 2, 92 f.; Klaus Bambauer: Die Kollektenreise von Prediger Sebastian Hornung und Notar Johannes Neger zugunsten der lutherischen Gemeinden in Kleve und Wesel in den Jahren 1617/1618. In: Monatshefte für evangelische Kirchengeschichte des Rheinlandes 43, 1994, 119–128. 182 Hugo Rothert: Kirchengeschichte der Grafschaft Mark. Gütersloh 1913, 362. 183 Windsheimer Druckaufträge in Nürnberg, Rothenburg und Ansbach (Michael Schlosser: Die Arbeiten des Rothenburger Buchdruckers Hieronymus Körnlein und seiner Nachfolger für die Reichsstadt Windsheim. In: Städte, Regionen, Vergangenheiten. Beiträge für Ludwig Schnurrer zum 75. Geburtstag. Hg. v. Karl Borchardt u. Eckehart Tittmann. Würzburg 2003, 339–343).

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Promotion zum Lizentiaten der Theologie für ein Amt im Herzogtum sich empfohlen. Er erfreute sich der Gunst seiner akademischen Lehrer, unter denen kein geringerer als Johann Gerhard ihm voranzuhelfen suchte, und der Gunst Herzog Johann Philipps von Sachsen-Altenburg, dem er gedichtweise zum Geburtstag gratulierte und eine Schrift widmete, die Synopsis wahrer und falscher Lehre, in der er „in certis positionibus“ der orthodoxen Aussage die nicht-orthodoxe der Katholiken, der Calvinisten, der Photinianer und der neuen Fanatiker gegenüberstellte. Zu denen zählte im Jahre 1617, als die Synopsis zum ersten Mal erschien, Jakob Schalling natürlich nicht.184 Der betrieb in Windsheim seine berufliche Praxis neben der des Stadtarztes Dr. Abraham Boxbart und des gewesenen Rektors Cellarius, dessen Artzneypractick aber sehr wenig einbrachte.185 Über die von Jakob Schalling verlautete nur einmal etwas, als Klagen an den Rat gelangten: das curiren, wie er es für richtig hielt, bringe die Patienten ümbs leben.186 Er selbst erschien gelegentlich mit seiner Mutter vor dem Rat wegen alter Verschreibungen, von denen eine noch vom Vater herrührte und auf 100 Gulden sich belief.187 Wegen des ihm gewährten Kredits, für den der Vater Sicherheiten gestellt hatte, musste nicht verhandelt werden. Erst eine geraume Zeit nach dem Tode der Mutter im Juni 1625 trat er ins Bürgerrecht, da nunmehr ihm das Haus am Schüsselmarkt gehörte.188 Hier hatte er sein chemisches Labor. Worauf sein Experimentieren gerichtet war, ist nicht zu erkennen, es sei denn, es wird hineingelesen in eine vereinzelte Notiz auf dem untern Seitenrand des Buches Quaestiones Physicae von Johann Thomas Freigius, das dem Vater gehört hatte: neben die Frage „Quid est Elixatio?“ notierte er am 20. April 1627, dass er

184 Zu Mag. Ludwig Schalling (um 1580–1629) Thüringer Pfarrerbuch. Bd. 6. Leipzig 2013, Nr. 1762 (falsche Angabe zur Magisterpromotion, richtig: Juni 1606 Universität Altdorf, s. VD 17 75:708156R); Hg. Johann Casimir an J. Gerhard, 31.05.1617 (FB Gotha Chart A 601, Bl. 155a); Synopsis doctrinae verae et falsae pontificiorum, calvinianorum, blasphemae photinianorum, novantique novorum fanaticorum. Collectae & exhibita in certis positionibus [. . .]. Jena 1617 (VD 17 39:148282L); ed. sec. corr. 1619 u. 1624 (VD 17 56:733854B und 14:686683E). 185 Germanisches Nationalmuseum Nürnberg Bestand Reichsstadt Windsheim Fasc. 9 Nr. 1 (Ch. Cellarius an Rat Windsheim, 13.10.1623). Hierzu auch die Klage von Dr. Abraham Boxbart († 02.03.1625), dass Cellarius vnd andere in Medicinam practiciren (20.08.1624 ) (Repertorium [s. Anm. 23], 1624 B 82, Bl. 153b; LAELKB Nürnberg Bestattungen Windsheim 1625–1652, 6); Seitz, „Schwaben“ [s. Anm. 176], 144. 186 Repertorium [s. Anm. 23], 1631–1632 B 88, Bl. 177b (17.02.1632). 187 Repertorium [s. Anm. 23], 1623 B 81, Bl. 60b, 61b, 75b, 87b, 88b, 106b (15.04., 30.05., 4., 30.06.1623); s. a. die über Jahre nicht beglichene Schuldforderung der Mutter über 250 fl. (Repertorium [s. Anm. 23], 1619 B 77, Bl. 79af., 214b, 220af., 251b, 304b, 02.04., 11., 16.08., 15.09., 10.11.1619; Repertorium [s. Anm. 23], 1621–1622 B 80, Bl. 24b, 119b, 26.01., 01.06.1621; sowie Repertorium [s. Anm. 23], 1623 B 81, Bl. 13b, 20.01.1623). 188 LAELKB Nürnberg Bestattungen Windsheim 1625–1652, 13; Stadtarchiv Bad Windsheim BVRGER VND SIBNERBVCH (1500–1667) B 2c, Bl. 254a (30.06.1628); s. hierzu den Beschluss des Gesamtrates über die Vergabe des Bürgerrechts an Personen, die 200 fl gewiß in vermögen haben (Repertorium [s. Anm. 23], 1601–1602 B 60, Bl. 179a).

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noch nicht so recht verstanden habe, was geschehe, wenn Gold mit Quecksilber erhitzt werde.189 Als der Krieg nach Franken und nach Windsheim griff, der Rat ein allgemeines Kirchengebet anordnete und Zadel verhandlungsweise versuchte, die Lasten für die Stadt zu mildern, kam Jakob Schalling ein prognosticum in die Hände, das unter dem Namen der Brüder vom Rosenkreuz umlief und ihm bemerkenswert genug erschien, es in eine vom Vater überkommene Handschrift einzutragen. Es war eine weit verbreitete, mit Chronogrammen gefüllte, die Hoffnungen der Evangelischen auf den Sturz des Papsttums atmende Voraussage, der Jakob Schalling gern Glauben gab, da sie der Tendenz eines Textes entsprach, der im selben Jahr 1622 in antiquo libro in Rom wieder aufgefunden worden war und davon sprach, dass die Geistlichkeit gesteinigt, der Papst gefangen und der siegreiche König Friedrich regieren werde. Auch diesen Text schrieb er auf eine freie Seite der Handschrift.190 Im Sommer 1629 starb der Cousin Ludwig, im Sommer 1632 der alte Windsheimer Stadtarzt Doktor Fabritius. Für den Druck der Leichenpredigt war auch Jakob Schalling um ein Gedicht gebeten worden, das er im November verfasste.191 Anfang Dezember wurde im Rat über seine disposition gesprochen, die er Stadtpfarrer Hornung, der zugleich besoldeter Bibliothekar war, hatte zukommen lassen. Man fürchtete, die Festlegungen könnten von den negsten freundten angefochten werden, und wollte sie daher von einem Notar und einigen Ratsherrn beurteilen lassen. Bevor dies geschah, starb Jakob Schalling am 12. Dezember. Der Eintrag im Kirchenbuch bekräftigte, was er in Windsheim zeit seines Lebens gewesen war: der Sohn des Rektors.192 Des-

189 Quid auro fiat frixo per hydrargistum, ego nondum pensu comperi. 1627. 20 Aprilis (Johann Thomas Freigius: Quaestiones Physicae. [. . .]. Basel 1585 (VD 16 ohne Nachweis), 153 (Stadtbibliothek Bad Windsheim XX 192); pensu kann konkret das Abwiegen des Mischungsverhältnisses von Gold und Quecksilber oder übertragen das Abwägen und Erwägen meinen. 190 Repertorium [s. Anm. 23], 1619 B 77, Bl. 263b-265a (Bericht über Zadels Verhandlungen, 25.09.1619); LAELKB Nürnberg Bestand Superintendentur Neustadt/Aisch Nr. 377 Bd. 1 (Kirchengebet seit 20.10.1619); Stadtbibliothek Bad Windsheim XII A 344 ≡ Ms. nov. 8 Bl. 202b (Adj 1622, Romae in antiquo libro reperta haec prophetia.) und 203bf. (Eodem anno in eundem venit in meas manus Winshemii prognosticum Fr: RC. ExcInDet IehoVa papatVM: [. . .], datiert 06.05.1622). Das Prognosticum ist mehrfach in der LB Karlsruhe (Ms 400 Bl. 351af.), in der ZB Zürich (Ms D 150m, Bl. 344a ) und im Stadtarchiv Zürich (E II 386 Bl. 121a) überliefert (freundliche Auskunft von Carlos Gilly, Alicante). 191 Rochus Meister: Christliche Leichpredigt bey ehrlicher Bestattung deß [. . .] Herrn Hieronymi Fabricii [. . .]. Nürnberg [um 1632] (UB Gießen W 50395,11), B1b-C2b: Personalia, D3b: Epigramm von „Jacobus Schalling Philosophus Medicus Winilsh. Mense Novemb. Anno 1632“. Zu Dr. Hieronymus Fabricius (1567–1632) s. Michael Schlosser: Die fränkische Familie Fabricius in Windsheim. In: Genealogie 38, 1989, 546–552. 192 Repertorium [s. Anm. 23], 1632–1634 B 89, Bl. 46r (Beratung über Schallings disposition, 05.12.1632), 49a (Verlesung der disposition und Beschluss über Eintrag ins Stattbuch, 12.12.1632). Der Eintrag fehlt. Dn. M. Iacobus Schallingius Medicus Dn M. Azariae Schallingii Scholae nostrae quon-

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sen Ansehen war nicht verblasst. Was er geleistet, war für den Rat der Maßstab gewesen, an dem er den Nachfolger gemessen hatte; es hatte den Rat aber auch zu mancher Wohltat bewogen gegenüber der Witwe, vielleicht auch gegenüber dem Sohn.193 Jetzt ließ er dessen verlaßenschaft versiegeln und schrieb dem Cousin, dem Nürnberger Spitalprediger Magister Müller als dem eingesetzten Erben, dass alles inventarisiert und danach distribuiert werde; was inventarisiert wurde und was in wessen Hände gelangte, ist nicht zu sagen; wahrscheinlich wurde viel verkauft, als letztes das Haus am Schüsselmarkt für 450 Gulden.194 Jakob Schalling war Spross einer Familie, die sich der evangelischen Erneuerung verdankte; denn ihr Stammvater war einer der bekehrten Priester, dem Luther und Melanchthon zu Leitsternen wurden. An ihnen sich zu orientieren verpflichtete er auch seine Söhne. Mehr noch als der Vater hatten sie unter den religiösen Wechselfällen zu leiden; der jüngere Sohn Azarias suchte sich ihnen zu entziehen, indem er in den Schuldienst, nicht in den Kirchendienst eintrat. Sein einziger heranwachsender, erwartungsvoll auf einen gebahnten Bildungsweg geschickter Sohn Jacob sollte auch ein Amt anstreben. Aber das tat er nicht. Bereits in der philosophischen Fakultät zeigte sich eine Distanz zur Theologie, die nach der Promotion zum Magister das Studium der Medizin bekräftigte. Freilich führte er es nicht fort; in antiakademischer Attitüde wandte er sich ab von der institutionalisierten Medizin und folgte der des Paracelsus, die den Menschen begriff als ein von Gott mit Leib, Seele und Geist erschaffenes Wesen, dem, wenn es seine Erkenntnis allein aus Gott und aus der Natur schöpfte, verborgenes Wissen zuteilwerden konnte. Da Jakob Schalling danach trachtete, sah er in den Schriften der Bruderschaft vom Rosenkreuz seine Bestrebungen bestätigt. Die nicht ausbleibende Enttäuschung verband sich später mit der Einsicht, die ersehnte Erkenntnis nicht erlangen zu können. Weder eine Erneuerung der Wissenschaften war zu erwarten noch eine Reform in Kirche und Gesellschaft. Wer Christus als

dam Rectoris industrij et Vigilantiae filius et: 45 an. (LAELKB Nürnberg Bestattungen Windsheim 1625–1652, 292). 193 Repertorium [s. Anm. 23], 1619 B 77, Bl. 331b (Kritik am Unterricht, dessen Didaktik und Methodik anders ist „allß bey dem herrn Schalling seeligen“, 06.12.1619) 114a (unentgeltliche Überlassung des Pfahlbürgerrechts und des „ansitz“, 04.05.1619 Repertorium [s. Anm. 23], 1621– 1622 B 80, Bl. 430b (unentgeltliche Überlassung einiger Klafter Holz „in ansehung ihres Herrn sel. geleist[eten] trewen diensten“, 04.10.1622). 194 Repertorium [s. Anm. 23], 1632–1634 B 89, Bl. 63b (25.01.1633), 64a (26.01.1633), Rechnung der Lateinschule H 6 (1633: Hausverkauf „vmb 450 fl Pargelt“). Müller wurde schon im Dezember 1615 in einer Erbschaftssache der in Amberg lebenden Schallings genannt (Stadtarchiv Nürnberg Rst. Nürnberg Briefbücher Nr. 233, Bl. 375af.). Schallings Verbindungen zu Maria Magdalena, Witwe des Nürnberger Spitalapothekers Georg Mair († 1629), und dem Nürnberger Kürschner Hans Endres Stöckel (1598–1664) (freundliche Auskunft von Walter Bauernfeind, Nürnberg), die als Hausverkäufer auftreten, sind nicht klar.

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Lehrmeister verstand, konnte ihm nur für sich nachfolgen, bedacht auf den schmalen Weg, der aus der Welt wegführte; auf diesen Weg kam es an, nicht auf das Ziel eines auf der Erde zu errichtenden himmlischen Jerusalem, wie es die Bruderschaft vom Rosenkreuz erstrebt hatte. So gesehen war das Bekenntnis zur Mystik, wie es Dyas mystica und das Gülden Büchlein aussprachen, eine sehr klare Konsequenz, die veranlasst wurde durch die Erfahrungen mit der Bruderschaft, verursacht aber durch die in der Schalling-Familie immer wieder erlittenen Erfahrungen mit der Streittheologie. Als Spross dieser Familie, die ihren guten Ruf im Luthertum den beiden von ihrem Gewissen geleiteten Martins verdankte, gab Jakob Schalling sich ganz konfessionskonform, und das musste er wohl auch. Im Inneren indes verstand er sich mit größter Wahrscheinlichkeit als Christian Theophilus, als der er seine nonkonformen Gedanken zu Papier brachte und pseudonym publizierte.

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KLAUS VOM ORDE

Die ersten Kontakte Johann Heinrich Sprögels und Anna Dorotheas von Sachsen, Stiftsäbtissin in Quedlinburg, mit Philipp Jakob Spener Friedrich de Boor zum 80. Geburtstag1 Anna Dorothea von Sachsen-Weimar, geboren am 12. November 1667 in Weimar als Tochter Herzog Johann Ernsts II. von Sachsen-Weimar und Christine Elisabeths von Schleswig-Holstein-Sonderburg, wurde im Jahr 1681 zur Pröpstin und drei Jahre später zur Äbtissin des Stifts Quedlinburg gewählt. Bei der letzteren Wahl war es zu erheblichen Streitigkeiten gekommen,2 bevor endlich am 4. September 1684 die kaiserliche Konfirmation erfolgen konnte. Am 29. Januar 1685 schließlich fand die feierliche Huldigung nach vorhergehender Einsegnung in der Stiftskirche statt. Dass sich Anna Dorothea durchsetzen konnte, verdankte sie vornehmlich der kursächsischen Schutzherrschaft des Stifts,3 mit der sie sich später freilich immer wieder überwarf. Nur kurze Zeit vorher, nämlich im Jahr 1684, war der aus Quedlinburg stammende und dort in verschiedenen kirchlichen Ämtern tätig gewesene Johann Heinrich Sprögel (1644–1722) vom dritten zum zweiten Diaconus am Stift aufgerückt. Beide spielen für die Geschichte des Pietismus in Quedlinburg eine wichtige Rolle, wenn auch in verschiedener Weise. Für die spätere Zeit ist diese Geschichte unter diversen Fragestellungen erforscht worden.4 Die Jahre zwischen dem Amtsantritt der beiden genannten Quedlin-

1 Diesem Aufsatz liegt ein Vortrag zu Grunde, der beim Kolloquium am 9. Oktober 2014 aus Anlass von Friedrich de Boors 80. Geburtstag im Interdisziplinären Zentrum für Pietismusforschung in Halle gehalten wurde. Die Themenwahl und -eingrenzung entsprach dem Wunsch des Jubilars, der für die inhaltliche Struktur der Veranstaltung verantwortlich zeichnete. 2 Nach dem Willen ihrer Vorgängerin Anna Sophia II. von Hessen-Darmstadt (1638–1683) hätte Anna Dorothea von Holstein-Gottorf Äbtissin werden sollen (Gottfried Christian Voigt: Geschichte des Stifts Quedlinburg. 3. Bd. Quedlinburg 1792, 504). 3 Johann Heinrich Fritsch: Geschichte des vormaligen Reichsstifts und der Stadt Quedlinburg. 2 Theile. Quedlinburg 1828. 1. Theil, 45. 4 Meist wird in Darstellungen der Geschichte des Pietismus Quedlinburg zum ersten Mal erwähnt, wenn die Ereignisse des Jahres 1691 beschrieben werden. Z. B.: Kontakte August Hermann Franckes dorthin (Ryoko Mori: Begeisterung und Ernüchterung in christlicher Vollkommenheit. Pietistische Selbst- und Weltwahrnehmungen im ausgehenden 17. Jahrhundert. Tübingen

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burger einerseits und Philipp Jakob Spener als Oberhofprediger in Dresden andererseits ist bislang noch recht unbearbeitet geblieben – sieht man einmal von einigen Anmerkungen ab, die eher Vermutungen als durch Quellen gestützte Schlussfolgerungen sind.5 I. Im Sommer 1686 trat Philipp Jakob Spener sein Amt als kursächsischer Oberhofprediger in Dresden an. Angesichts seiner Stellung als ranghöchster Geistlicher der Schutzherrschaft des Quedlinburger Stifts verwundert es nicht, sondern erscheint sogar naheliegend, dass er sich bei der Äbtissin schriftlich vorstellte und seinen Dienstbeginn in Sachsen meldete. Von der Korrespondenz zwischen beiden, die wohl in der zweiten Jahreshälfte 1686 oder in der ersten des folgenden Jahres begann, sind nur die Briefe Speners überliefert. Allerdings lassen sich manche Inhalte der Gegenbriefe rekonstruieren. Der Briefwechsel endete im Jahr 1693, als die Auseinandersetzungen um den Pietismus und den Enthusiasmus in Quedlinburg einen Höhepunkt erreichten. Der erste bekannte Kontakt zwischen Johann Heinrich Sprögel und Spener war durch eine ökonomische Frage entstanden. Sprögel erhoffte sich die Unterstützung des Dresdner Oberhofpredigers in einem Streit um seine Besoldung. Ein weiterer Brief Speners könnte auf Grund inhaltlicher Indizien ebenfalls an den Quedlinburger Diaconus gerichtet gewesen sein. Für die hier in Blick genommenen Jahre liegen nur wenig Quellen vor. Dennoch liefert deren Analyse einige wichtige Hintergrundinformationen, die das Bild über den Pietismus in Quedlinburg weiter abrunden. Die Kontakte Speners zu Anna Dorotheas und zu Sprögel scheinen zunächst mehr oder weniger unabhängig voneinander entstanden zu sein, so dass es ratsam ist, beide getrennt voneinander zu verfolgen.

2004, 32, 43), das Auftreten der „Begeisterten Mägde“ (Theodor Wotschke: Der Pietismus in der Provinz Sachsen. In: Zeitschrift des Vereins für Kirchengeschichte der Provinz Sachsen 40, 1937/ 38, 39–84, hier 40; Mori, ebd., 120 f.; Martin Brecht: Philipp Jakob Spener, sein Programm und dessen Auswirkungen. In: Geschichte des Pietismus. Bd. 1: Der Pietismus vom siebzehnten bis zum frühen achtzehnten Jahrhundert. Hg. v. dems. Göttingen 1993, 279–389, hier 360; Hans Schneider: Der radikale Pietismus im 17. Jahrhundert. In: Geschichte des Pietismus. Bd. 1, 391– 437, hier 401. 5 Jürgen Büchsel: Gottfried Arnolds Weg von 1696 bis 1705. Sein Brief mit Tobias Pfanner und weitere Quellentexte. Halle/Saale 2011, 17.

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II. Über die Quedlinburger Äbtissin ist in der Literatur immer wieder zu lesen, sie habe dem Pietismus zunächst nahegestanden habe, sei aber infolge der Auseinandersetzungen, die im Jahr 1693 begannen, immer kritischer geworden.6 Diese Einschätzung ist wohl allein durch die Tatsache entstanden, dass beide miteinander korrespondierten. Die Analyse der vorliegenden Quellen wird vorsichtiger urteilen lassen. Als Spener im Sommer 1686 nach Sachsen kam, war es für ihn offenbar wichtig, schnell mit bedeutenden Personen und Institutionen des Landes in Verbindung zu treten. Dazu gehörten etwa die Universitäten des Kurfürstentums und insbesondere die philosophische und theologische Fakultät Wittenberg, die den neuen Hofprediger durch Glückwunschschreiben in Dresden willkommen hießen.7 Es ist also denkbar, dass Spener auch Kontakt zur Äbtissin des Quedlinburger Stifts aufnahm. Freilich spricht einiges dafür, dass noch ein anderes Ereignis den Anstoß für die Korrespondenz gab, die seit dem Jahr 1687 nachweisbar ist. Am 2. Mai 1687 fand ein Gedenkgottesdienst zum Tod der Kurfürstinmutter Magdalene Sibylle (1612–1687) in der Dresdner Kreuzkirche8 statt, in dem Spener zu predigen hatte. Zwei Tage später hielt er die gleiche Ansprache noch einmal in Freiberg.9 Noch im gleichen Monat schrieb Anna Dorothea an Spener, der am 4. Juni 1687 antwortete.10 Dieser Brief ist das erste überlieferte Schreiben dieser Korrespondenz. Spener nimmt darin ganz offensichtlich Schlüsselworte aus dem Schreiben der Äbtissin auf. Sie hatte sich wohl als eine Gott dienende und der weltlichen Eitelkeit absagende Fürstin präsentiert11 und dabei auch auf ihre Taufe hingewiesen. In der Leichpredigt für Magdalene Sybille hatte Spener ausführlich die Bedeutung der Taufe abgehandelt. Anhand von Röm 5,1 f. beschreibt er die Rechtfertigung auf Grund des Glaubens und weist dabei an verschiedenen Stellen auf die Taufe als das Sakrament der Rechtfertigung und Wiedergeburt hin. Sie ist für ihn die Grundlage für ein durch das Wort Gottes gestaltetes Leben: Sonderlich ist Christus unser leben und brunn unsers lebens / was anlangt das geistliche leben / so wir in der wiedergeburt empfangen / und in dem wir aus und in GOtt in geistlichen dingen leben und wircken müssen. Wir werden zu solchem leben wiedergebebohren: worauß aber / aus dem lebendigen wort Gottes / das da ewiglich 6 Mori, Begeisterung [s. Anm. 4], 130; Briefwechsel Spener-Francke, Brief Nr. 14 Anm. 2. Zuletzt in: Büchsel, Gottfried Arnolds Weg [s. Anm. 5], 17. 7 Vgl. dazu die Antwortschreiben Speners in: Philipp Jakob Spener: Briefe aus der Dresdner Zeit. Hg. v. Johannes Wallmann in Zusammenarbeit mit Klaus vom Orde [u. a.]. Bd. 1. Tübingen 2003, Briefe Nr. 7, 11 und 12. 8 Spener, Dresdner Briefe [s. Anm. 7] 1, Brief Nr. 89 Anm. 3. 9 Die Predigten Speners sind gedruckt: Philipp Jakob Spener: Frommer Kinder kräfftiger Trost gegen den Todt und wahre Seligkeit in diesem Leben. Dresden 1687. 10 Spener, Dresdner Briefe [s. Anm. 7] 1, Brief Nr. 97, Z. 4 f. 11 Spener, Dresdner Briefe [s. Anm. 7] 1, Brief Nr. 97, Z. 14–16, 110.

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bleibet [. . .]. Dieses wort aber ist das wort Christi selbs / [. . .] daher solches leben / das in dem wort und aus Christo selbs ist / würcket das geistliche leben in uns / ja dieses ist nichts anders / alß / so zu reden / das in uns gepflantzte und in die herzen bereits von dem Heiligen Geist eingeschriebene wort GOttes. Wir werden gebohren aus der tauff / welche deßwegen die thür unsers geistlichen leben heisset. Wie aber / oder woher hat die tauffe solche geistliche krafft / das leben uns zu geben? Weil wir auff Christi tod und aufferstehung getaufft werden / und also die tödtende krafft des todes Christi wider unsern alten Adam / und die lebendig=machende krafft seines neuen lebens uns darinnen mitgetheilet wird.12

In der Predigt geht es also um die tröstende Kraft der Gerechtigkeit, die Christus geschenkt hat, und um den mitfolgenden Frieden mit Gott. Die Implikationen für die Gestaltung des Lebens als Christ, das durch die Wiedergeburt in der Taufe geschenkt wird, sind hier nur beiläufig erwähnt. Dies liegt am Anlass der Predigt. Durch die im zitierten Abschnitt verwendeten Formulierungen „wircken“ und „alter Adam“ werden sie aber angedeutet. Im weiteren Verlauf der Predigt erläutert Spener, was er unter „Friede mit Gott“ versteht, und spricht er sehr deutlich vom Leben nach dem Willen Gottes: Ferner ist der friede mit GOtt ein gut unsrer seligkeit / so lasset auch unser Hertz forschen / ob wir dasselbe bey uns finden: und hingegen uns befleissen / daß wir auch Friede mit GOtt haben und halten. Wo wir aber mit iemand Friede halten / so bringts an sich selbs mit / daß wir ihm mit willen nichts wiedriges oder leid anthun / sonsten kan er wiederum mit uns nicht friede halten. Also müssen wir uns dann auch sorgfältig vor allem dem jenigen hüten/ damit unser GOtt von uns beleidiget würde [. . .] Heissets nu Rom. 8/7: fleischlich gesinnet seyn / und also bereits unsere natürliche fleischliche verderbnus seye eine feindschafft gegen Gott / so können wir leicht gedencken / wo wir gar unserm fleischlichen sinn nachleben / welches geschiehet in aller liebe der welt / so abermal bestehet in fleisches lust / augen=lust und hoffärtigem leben / 1. Joh 2/16, daß solches eine wirckliche und solche feindschafft seye / die nicht anders könne / als den frieden mit GOtt zerreissen. So kan uns ja keine sünde mit aller ihrer eingebildeten vergnügung so viel wiedergeben / als wir an dem verlust dieses friedens verlöhren.13

Betrachtet man nun den ersten Brief Speners vom Mai 1687 an die Äbtissin, so stehen zwei Themen im Vordergrund. Das erste behandelt das Verhältnis ihrer hochfürstlichen Geburt zur geistlichen Geburt, die in der Taufe geschehen ist. Die erstere wird der letzten weit nachgestellt: Da sich dann E. Hochw. Dlt. dazu [= ungefärbte Gottesforcht und redliche intension, Gott über alles zu dienen14] bekennen, erfüllen sie erstlich die jenige pflicht, dazu sie bereits ihr Christenthum und taufgelübde verbindet, so allem andern rechtswegen vorgehet. Maßen ich deroselben billich dieses underth. zutraue, daß, da Ew. Hochw. 12 13 14

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Spener, Frommer Kinder [s. Anm. 9], 15. Spener, Frommer Kinder [s. Anm. 9], 82. Spener, Dresdner Briefe [s. Anm. 7] 1, Brief Nr. 97, Z. 24.

Dlt. auß so hohem hause nach dem fleisch gebohren, sie dannoch die geburt auß Gott bey dem eingang ihres Christenthums vor noch höher erkennen und daher nicht unbillichen werden, daß ich sothaner pflicht die erste stelle gebe.15

Spener glaubt bei Anna Dorothea diese geistliche Haltung entdecken zu können, weil sie sich offenbar als „eine person, so allen vaniteten dieses eiteln weltlebens gern abandonire“16 und die „dero größtes plaisir darinnen suche, Gott zu dienen“17 vorgestellt hat. Diese Grundhaltung des Lebens ergibt sich jedoch nicht allein durch die Taufe, bei der wir „nicht nur dem Satan und seinen wercken, so offenbahre sünden sind, sondern auch aller weltlicher üppigkeit [. . .] absagen, hingegen an den Dreyeinigen Gott zu glauben, folglich ihn vor unsre einige seligkeit und höchste lust zu erkennen, versprechen“,18 sondern auch „deroselben hohe ankunfft“19 sind für Spener Begründungen für eine solche vorbildliche Lebenshaltung: Dann da dieselbe auß so hochlöblichem hause entsproßen, solle so wol das ansehen der sonderlich in ungeheuchelter Gottseligkeit hochberühmter Voreltern und Ahnen eine fleißige nachfolge und nachahmung wircken, alß auch geziehmet sich ohne das dem hohen stande, daß die von Gott dem Allerhöchsten in denselben gesetzte denen übrigen geringern wie in andern tugenden also auch in rechtschaffener gottseligkeit vorleuchten und das in ihrem stand an sich tragende göttliche bilde mit stätem fleiß in deßen gleichförmigkeit zuzunehmen ziehren.20

Damit lenkt Spener hin zu seinem zweiten Anliegen, das er an die Stiftsäbtissin richtet. Geistliche Stifte seien – obwohl gleichzeitig weltliche Institutionen des Reichs – in besonderer Weise dem geistlichen Leben verpflichtet. Es sind dergleichen stiffter vor deme dazu gestifftet worden, daß darinn personen, welche der welt begehrten abzusterben, gelegenheit hätten, so viel stiller ihr leben zu führen, sich von der welt eytelkeit und dero reitzungen leichter zu enthalten und indeßen mit dem dienst ihres Gottes und arbeit an ihrer eigenen seele ihre zeit zuzubringen.21

Dieses Ziel sei im „Papstum“ „durch einbildung größerer vollkommenheit und verdienstlicher wercke“22 aus dem Blick geraten. Aber auch mit der Einführung der evangelischen Lehre habe „vieles verderben sich eingeschli15

Spener, Dresdner Briefe [s. Anm. 7] 1, Brief Nr. 97, Z. 27–33. Spener, Dresdner Briefe [s. Anm. 7] 1, Brief Nr. 97, Z. 14 f. 17 Spener, Dresdner Briefe [s. Anm. 7] 1, Brief Nr. 97, Z. 15 f. 18 Spener, Dresdner Briefe [s. Anm. 7] 1, Brief Nr. 97, Z. 36–40. Der erste Teil der Formulierung findet sich in der lutherischen Taufliturgie: „Darnach laß der Priester das Kind durch seine Paten dem Teufel absagen“ (Die Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche. Göttingen 111992 [= BSLK], 540, 19 f.). 19 Spener, Dresdner Briefe [s. Anm. 7] 1, Brief Nr. 97, Z. 14. 20 Spener, Dresdner Briefe [s. Anm. 7] 1, Brief Nr. 97, Z. 42–50. 21 Spener, Dresdner Briefe [s. Anm. 7] 1, Brief Nr. 97, Z. 71–76. 22 Spener, Dresdner Briefe [s. Anm. 7] 1, Brief Nr. 97, Z. 78 f. 16

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chen“.23 Umso erfreuter zeigt Spener sich, eine „(ungefärbte) Gottesforcht und (redliche) intention, Gott über alles zu dienen“24 aus dem Bekenntnis der Äbtissin herauszulesen. Die Freude über den Eindruck, den er aus dem Brief der Äbtissin gewonnen hatte, war umso größer, weil er „bereits vor etwa 30 Jahren“25 über das Quedlinburger Stift gehört habe, dass es sich kaum von weltlichen Höfen unterscheide. Es ist in der Tat möglich, dass der damals im Elsass lebende Spener nähere Informationen über das Quedlinburger Stift erhalten hatte, denn die damalige Äbtissin Anna Sophia, Pfalzgräfin von Zweibrücken-Birkenfeld (1619–1680),26 seit 1645 im Amt, war eine Cousine Christians II. von Pfalz-Birkenfeld (1637–1717),27 den Spener als Informator und auf dessen Bildungsreise durch Europa begleitet hatte.28 Einzelheiten, die seine kritische Haltung dem Quedlinburger Stift gegenüber hervorgerufen haben könnten, lassen sich freilich nicht mehr bestimmen. Aber auch der Historiker des Stifts Quedlinburg, Gottfried Christian Voigt, fasst seine Beschreibung der Regierungstätigkeit von Anna Sophia mit einer wenig schmeichelhaften Beschreibung zusammen: In ihrer 35jährigen Regierung hat sie das hiesige Stift zu einem beständigen Kampfplaz gemacht. Durch die ewigen Zänkereien mit dem Schuzherrn, ward oft das allgemeine Wohl verlezzet und hintenan gesezt. Der Magistrat war größtentheils der Gegenstand ihrer Rache. Sie war ehrgeizig, aber diese Leidenschaft nahm bei ihr eine unglükliche Richtung. Sie war thätig, und hätte viel Gutes stiften können, wenn sie mehr Muth gehabt hätte, nach eigener Ueberzeugung zu handeln. [. . .] Anna Sophia suchte ihre Ehre darin, daß sie nicht durch Andere, nicht durch ihre Untergebene die Regierungsgeschäfte wollte verrichten lassen; sie wollte alles selbst thun. Die Gesezze und Verträge waren ihr nur alsdenn heilig und verbindlich, wenn sie zu ihrem Vortheil waren.29

Voigt kritisiert in seiner Beschreibung allerdings nicht die Äbtissin allein, sondern auch die Kapitularinnen.30 Hintergrund dieser Klagen waren die –

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Spener, Dresdner Briefe [s. Anm. 7] 1, Brief Nr. 97, Z. 89 f. Spener, Dresdner Briefe [s. Anm. 7] 1, Brief Nr. 97, Z. 24 f. 25 Spener, Dresdner Briefe [s. Anm. 7] 1, Brief Nr. 97, Z. 93. 26 Voigt, Geschichte [s. Anm. 2], 445–499 (hier als: Anna Sophia I., Pfalzgräfin beim Rhein). 27 F. W. Culmann: Geschichte von Bischweiler. Straßburg 1826, 59–78. 28 Johannes Wallmann: Philipp Jakob Spener und die Anfänge des Pietismus. 2., überarb. Aufl. Tübingen 1986, 85 f. 29 Voigt, Geschichte [s. Anm. 2], 498 f. (vgl. aber die Kritik an dieser Passage in: Fritsch, Geschichte [s. Anm. 3] 2, 34). 30 Voigt, Geschichte [s. Anm. 2], 499. – Etwa zur gleichen Zeit verfasste die damalige Pröpstin Anna Sophia von Hessen-Darmstadt ein Andachtsbuch mit dem Titel Der treue Seelenfreund Christus Jesus. Mit nachdenklichen Sinn=Gemählden / anmuhtigen Lehrgedichten / und neuen geistreichen Gesängen (Jena: A. Löfler, 1658). Um eine Art „vorpietistische“ Frömmigkeit darin auszumachen, müsste man das Werk genauer untersuchen. Als einen Hinweis auf eine besondere Frömmigkeit im ganzen Stift lässt sich dieses Buch jedenfalls nicht bezeichnen. 24

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freilich zu allen Zeiten – vorhandenen Streitigkeiten des Stifts mit der Schutzherrschaft und der Stadt Quedlinburg.31 Mit Speners Vorstellung einer Option für adlige Fräulein, ein zurückgezogenes und Gott zugewandtes Leben zu führen, hat dies jedenfalls wenig zu tun. Er geht in seinem Brief an Anna Dorothea aber nicht näher auf die besonderen Quedlinburger Verhältnisse ein. Er formuliert vielmehr ganz allgemein, indem er – gewissermaßen ganz neutral – von „dergleichen stiffter“ spricht, in denen man, „von der welt eytelkeit und dero reitzungen“ entfernt, sich dem Dienst Gottes widmen könne.32 Persönlich wird er jedoch, als er auf den Vorsatz eingeht, von dem die Äbtissin offenbar geschrieben hat, ein gottseliges, also frommes Leben zu führen: Weswegen ich ursach habe, so viel hertzlicher dem großen Gott zu dancken, da derselbe E. Hochw. Dlt. seele mit einem solchen gottseligen entschluß erfüllet hat, alle ihre lust in nichts, das mit recht zu der vanitet des eiteln weltlebens gehöret, sondern allein in wahrem und gründlichem dienst ihres Gottes zu suchen.33

Nach Speners Meinung kann sie vorbildlich wirken, während andere Stiftsangehörige versagen. Leider ist die Antwort Anna Dorotheas wiederum nicht überliefert. Sie muss aber relativ bald erfolgt sein, denn der nächste Brief Speners ist vom 10. September 1687 datiert. Aber auch aus diesem lässt sich einiges von dem erschließen, was die Äbtissin geschrieben hatte. Vermutlich hatte sie den Gedanken Speners zur Kindschaft Gottes im Verhältnis zur irdischen Herkunft aufgenommen. Denn dieser greift in seinem zweiten Brief offenbar wörtlich Passagen aus der Antwort Anna Dorotheas auf, etwa ihren Dank, an die „unvergleichliche kindschafft Gottes erinnert“34 worden zu sein, die „freylich nach dero Christlichen Worten alle spitzen der irdischen herstammung weit übersteiget“.35 An diesen Dank scheint sie nun eine längere Passage angefügt zu haben, in der sie deutlich gemacht hatte, dass „auch in der bestmöglichsten bestrebung eine menschliche schwachheit und unvollkommenes wesen seye und bleibe, und wir daher immerzu nötig haben, die beleydigte väterliche liebe und huld durch unsers Heilandes brüderliche treue und vorbitte wider außzusöhnen“.36 Wer sich „einbilden wolte, er hätte alle menschliche schwachheit abgelegt oder überwunden, (betriege sich) auffs schandlichste und gefährlichste“.37 Dies ist außerordentlich bemerkenswert, denn die Äbtis31

Eine ausführliche Beschreibung ihrer Regentschaft als Äbtissin findet sich auf Seiten 445 bis

499. 32

S. o. Anm. 21. Spener, Dresdner Briefe [s. Anm. 7] 1, Brief Nr. 97, Z. 108–112. 34 Spener, Dresdner Briefe [s. Anm. 7] 1, Brief Nr. 135, Z. 6 f. 35 Spener, Dresdner Briefe [s. Anm. 7] 1, Brief Nr. 135, 8 f. 36 Spener, Dresdner Briefe [s. Anm. 7] 1, Brief Nr. 135, Z. 17–21. Auch diese Formulierung scheint wörtlich aus Anna Dorotheas Brief aufgenommen zu sein. 37 Spener, Dresdner Briefe [s. Anm. 7] 1, Brief Nr. 135, Z. 22–24. 33

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sin greift damit die Sache auf, die Spener in seinem ersten Brief mit dem Begriff der Vollkommenheit38 – dort allerdings im Zusammenhang der Beschreibung der ursprünglichen Aufgabe der Stifte – angesprochen hatte, und wendet ihn nun auf ihr persönliches Leben an.39 Damit erscheint in Speners Kontakt nach Quedlinburg schon ziemlich zu Beginn das Thema, das wenige Jahre später in der Auseinandersetzung um Johann Heinrich Sprögel und die anderen Pietisten in Quedlinburg eine wichtige Rolle spielen sollte.40 Spener scheint die Thematik für so wichtig zu halten, dass er den gesamten zweiten Teil seines Briefes in der Form einer kurzen theologischen Abhandlung dazu verfasst. Er beginnt mit den Worten: „Die vollkommenheit belangende meine ich“.41 Seine Ausführungen gehen von Z. 74 bis Z. 117 und machen fast ein Drittel des ganzen Briefes aus. Bevor er jedoch seine Gedanken zur Vollkommenheit beginnt, betont er sowohl die „barmhertzigkeit des von unsrem Jesu uns zum besten versöhnten vaters (als) das einige, wovon wir alles unser heil zu erwarten haben“,42 so dass niemand nur „das geringste vertrauen auff seine eigene heiligkeit“43 setzen darf, aber der Fleiß darum als „zeugnus seines auffrichtigen wahren glaubens“44 angesehen werden kann. Durch die Gabe des Heiligen Geistes werde den Kindern Gottes die Kraft geschenkt, nach 2Petr 1,3 f. an der göttlichen Natur teilhaftig zu werden und die vergängliche Lust der Welt zu fliehen.45 Damit knüpft Spener an die Beteuerung der Äbtissin an, die Vanitäten und Eitelkeiten des Weltlebens fliehen zu wollen,46 aber auch an ihren einschränkenden Einwand, „wie wir arme schwache menschen seyen und es auff das höchste nicht bringen könten“,47 wodurch die Gefahr entstehe, „träge“48 zu werden. Er bestätigt, dass „die lehr von unserem unvermögen und menschlichen schwachheit in allem unsrem fleiß die ehre unsers Gottes groß machet“,49 betont aber mit Nachdruck, dass

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Spener, Dresdner Briefe [s. Anm. 7] 1, Brief Nr. 97, Z. 79. Auch schon in der Leichpredigt in Dresden und Freiberg war das Thema „Vollkommenheit“ angeklungen: „Indessen ist solches gut unsrer seligkeit allhier noch sehr unvollkommen/ weil unsre erneuerung noch weit zurücke bleibet/ und eben/ weil es eine erneuerung ist/ daraus abzunehmen/ daß des alten wesens leider bey uns noch viel bleibe/ und also das göttliche bild unser Adams=bild erst nach und nach wegwische.“ (Spener, Frommer Kinder [s. Anm. 9], 76). 40 Im Mai 1691 hatte Sprögel mehrfach in Predigten behauptet, ein wiedergeborener Mensch könne die Gesetze Gottes vollkommen halten (Martin Schulz: Johann Heinrich Sprögel und die pietistische Bewegung in Quedlinburg. Diss. theol. [masch.] Halle/Saale 1974, 43 f., 46 f.). 41 Spener, Dresdner Briefe [s. Anm. 7] 1, Brief Nr. 135, Z. 74. 42 Spener, Dresdner Briefe [s. Anm. 7] 1, Brief Nr. 135, Z. 29 f. 43 Spener, Dresdner Briefe [s. Anm. 7] 1, Brief Nr. 135, Z. 32 f. 44 Spener, Dresdner Briefe [s. Anm. 7] 1, Brief Nr. 135, Z. 35. 45 Spener, Dresdner Briefe [s. Anm. 7] 1, Brief Nr. 135, Z. 48 f. 46 Spener, Dresdner Briefe [s. Anm. 7] 1, Brief Nr. 97, Z. 14, 34, 40 f. 47 Spener, Dresdner Briefe [s. Anm. 7] 1, Brief Nr. 135, Z. 60 f. 48 Spener, Dresdner Briefe [s. Anm. 7] 1, Brief Nr. 135, Z. 62. 49 Spener, Dresdner Briefe [s. Anm. 7] 1, Brief Nr. 135, Z. 50 f. 39

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Gott auch das Vermögen schenkt, „in dem guten wahrhafftig weit zu kommen“.50 An dieser Stelle nun beginnen Speners Gedanken über die zwei Arten von Vollkommenheit, die er an anderen Orten ausführlich darstellt. Die erste schließt an 1Joh 1,8 an und meint die durch das Verdienst Christi erworbene Vollkommenheit. Bei der Beschreibung der zweiten Art verwendet Spener das Bild vom Wachstum, bei dem die „anfänglinge in dem Christenthum, welchen es noch an erkantnus und krafft in dem geistlichen sehr manglet“, unterschieden werden von den „Vollkommenen [. . .], welche bereits weit gekommen sind und einen höhern grad erreichet haben“.51 Freilich wird auch dieser Fortschritt „durch göttliche gnade“52 ermöglicht und auch ein solcher Christ bleibt „vor Gott unvollkommen“,53 so dass er „auch stäts über seine schwachheit zu klagen fortfahren“ werde. In der Heiligen Schrift werde dies dennoch als „Vollkommenheit“ bezeichnet.54 Als Zeugen dafür, dass es sich hierbei um eine rechtgläubige Lehraussage handelt, verweist Spener nicht nur auf den „theur verdiente[n] Arnd“,55 sondern vor allem auf die Confessio Augustana.56 Im Übrigen habe er diese Gedanken in seiner Schrift Deß thätigen Christenthums Nothwendigkeit ausführlich dargelegt.57 Bemerkenswert bei alledem ist die zentrale Rolle, die diese Thematik in der Korrespondenz zwischen Spener und der Äbtissin spielt. Es stellt sich unwillkürlich die Frage, ob sie die Thematik intuitiv auf Grund der Hinweise Speners zum vorbildlichen Christenleben aufgreift oder ob diese in ihrem weiteren Umfeld diskutiert und dabei Speners Position vielleicht kritisch hinterfragt wurde. Die Durchsicht aller bekannten Briefe Speners aus den ersten eineinhalb Jahren seiner Dresdner Wirksamkeit lässt jedenfalls nicht erkennen, dass die Frage nach der christlichen Vollkommenheit ein hervorstechendes Thema gewesen wäre. Dies ändert sich erst im Jahr 1688 im Zusammenhang der Auseinandersetzung mit einigen Studenten in Hamburg.58 Zu einem Hauptthema im beginnenden Streit um den Pietismus wird die Frage nach der

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Spener, Dresdner Briefe [s. Anm. 7] 1, Brief Nr. 135, Z. 53 f. Spener, Dresdner Briefe [s. Anm. 7] 1, Brief Nr. 135, Z. 93–95. 52 Spener, Dresdner Briefe [s. Anm. 7] 1, Brief Nr. 135, Z. 95. 53 Spener, Dresdner Briefe [s. Anm. 7] 1, Brief Nr. 135, Z. 102. 54 Spener, Dresdner Briefe [s. Anm. 7] 1, Brief Nr. 135, Z. 102–104. 55 Spener, Dresdner Briefe [s. Anm. 7] 1, Brief Nr. 135, Z. 108. – Vgl. Johann Arndt: Vier Bücher von wahrem Christenthumb. Magdeburg 1610, 2. Buch, Kap. 6 (ND in: Philipp Jakob Spener: Schriften. Hg. v. Erich Beyreuther u. Dietrich Blaufuß. Sonderreihe, Bd. V.1. Hildesheim 2007). 56 Spener, Dresdner Briefe [s. Anm. 7] 1, Brief Nr. 135, Z. 107. Vgl. Confessio Augustana XXVII (BSLK [s. Anm. 18], 117.25–118.5). 57 Spener, Dresdner Briefe [s. Anm. 7] 1, Brief Nr. 135, Z. 66–73. Philipp Jakob Spener: Deß thätigen Christenthums Nothwendigkeit und Möglichkeit. Frankfurt/Main: J. D. Zunner, 1680. 58 Philipp Jakob Spener: Briefe aus der Dresdner Zeit. Hg. v. Johannes Wallmann in Zusammenarbeit mit Klaus vom Orde. Bd. 2. Tübingen 2009, Briefe Nr. 114, 121 u. ö. 51

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christlichen Vollkommenheit schließlich im Jahr 1689 in Leipzig und – übrigens völlig unabhängig davon – in Hinterpommern.59 Ein halbes Jahr später schreibt Spener erneut an Anna Dorothea, nämlich am 25. Mai 1688.60 Der Anlass dafür war Speners Himmelfahrtspredigt vom Vortag.61 Es fällt auf, dass er Themen und Formulierungen seines ersten Briefes, also desjenigen vom Juni 1687, aufnimmt, geradeso als sei der Brief vom September des Jahres gar nicht geschrieben worden. Wieder geht es um die eigentliche Aufgabe der evangelischen Stifte, nämlich eine Möglichkeit zu bieten, der Welt abzusterben und dem Erlöser in der Stille dienen zu können62 „in täglicher verlassung der welt vermittelst erkantnus der eitelkeit aller irdischen Dinge“.63 Auch das Stichwort „Seelenbräutigam“ wird wieder aufgenommen.64 Läge der Brief vom 10. September 1687 nicht als Autograph vor, sondern – wie häufig in Speners Bedencken – in Form eines Briefausschnittes ohne genaue Adressatenangabe, wären bei der Bearbeitung dieses Textes erhebliche Bedenken aufgekommen, die Äbtissin als Adressatin zu bestimmen. Was kann man nun aus dieser Beobachtung schließen? Es ist undenkbar, dass Spener den gerade einmal ein halbes Jahr vorher geschriebenen Septemberbrief – vor allem mit der langen Abhandlung über die christliche Vollkommenheit – völlig vergessen haben könnte. Es legt sich also die Vermutung nahe, dass er sowohl diesen als auch die – mögliche – Antwort der Äbtissin65 beiseitegelassen hat. Könnte es sein, dass er Einflüsse in der Umgebung der Äbtissin vermutete, die seine Orthodoxie zu diesem Thema in Frage stellten, und dass er kein weiteres Misstrauen bei ihr schüren wollte? Vielleicht befürchtete er Einflüsse auf Anna Dorothea, die seine Meinung kritisierten. Es stellt sich dann zwangsläufig die folgende Frage: Gibt es in der Himmelfahrtspredigt Anhaltspunkte, die Spener insbesondere an seine Korrespondenz mit der Äbtissin erinnern, so dass er sich angeregt sieht, ihr gleich am nächsten Tag „von solcher Materie“,66 nämlich dem Inhalt seiner Predigt, zu schreiben? In der Tat fallen mindestens vier Stellen im Brief auf, in denen er Abschnitte 59 In Stolp/Hinterpommern (s. Philipp Jakob Spener: Briefe aus der Dresdner Zeit. Hg. v. Johannes Wallmann in Zusammenarbeit mit Klaus vom Orde. Bd. 3. Tübingen 2013, Briefe Nr. 61, 96, 97 u. ö.) und in Leipzig (Briefe Nr. 93 u. ö.). 60 Spener, Dresdner Briefe [s. Anm. 58] 2, Brief Nr. 51. 61 Die Predigt mit dem Thema „Geistliche Himmelfahrt“ über Mk 16,14–20 ist abgedruckt in: Philipp Jakob Spener: Die Evangelische [!] Lebens=Pflichten [. . .]. In einem Jahrgang der Predigten [. . .] vorgetragen. Frankfurt/Main: J. D. Zunner, 1692, 645–664 (ND in: Spener, Schriften. Bd. III.2.1). 62 Spener, Dresdner Briefe [s. Anm. 58] 2, Brief Nr. 51, Z. 9 f. 63 Spener, Dresdner Briefe [s. Anm. 58] 2, Brief Nr. 51, Z. 18 f. 64 Spener, Dresdner Briefe [s. Anm. 58] 2, Brief Nr. 51, Z. 27; vgl. Spener, Dresdner Briefe [s. Anm. 7] 1, Brief Nr. 97, Z. 125. 65 Da Spener gar nicht auf den Septemberbrief eingeht, kann nicht mit Gewissheit geklärt werden, ob Anna Dorothea diesen überhaupt beantwortet hat. 66 Spener, Dresdner Briefe [s. Anm. 58] 2, Brief Nr. 51, Z., Z. 6.

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aus der Predigt paraphrasiert und gleichzeitig Gedanken aus seinem ersten Brief aufnimmt. Zunächst definiert er den Himmel so: Es heisset himmel und himmlisches wesen / nicht nur derjenige ort der seligen / wo GOtt seine majestät sonderbar denen heiligen engeln und außerwählten seelen offenbaret / der ort der herrlichkeit / sondern es wird mit begriffen alles dasjenige / worinnen wir göttlicher gnade geniessen / und was uns zu der künfftigen seligkeit führet; daher auch das leben selbs / welches in göttlicher gnade geführet wird / und zu dem himmlischen wesen gerechnet wird. Dieser himmel und das himmlische stehet nun entgegen der erde / und dem irdischen / wie grad vorher Paulus von andern sagt67 / daß sie irdisch gesinnet seyn / oder daß sie nach den irdischen dingen trachten.68

Um „himmlisch gesinnet“ zu werden, bedarf es der „wiedergeburt und erneuerung“, die als „der Christen geistliche himmelfahrt“ bezeichnet werden kann. Sie ist untrennbar verbunden mit „der Christen pflicht [. . .], daß sie immer mehr und mehr dieses irdische verlassen / und nach dem himmlischen trachten sollen.“69 Im Brief an Anna Dorothea greift Spener seine Vorstellung über den Zweck der geistlichen Stifte und ihrer Angehörigen auf, den er bereits in seinem ersten Schreiben umrissen hatte: „damit ihr gantzes leben eine tägliche geistliche himmelfarth sey in täglicher verlassung der welt vermittelst der eitelkeit aller irdischen dinge“.70 Freilich wird die „lebendige erkantnus der ewigen geistlichen und himmlischen güter“71 durch den wahren Glauben geschenkt, der umgekehrt „die irdische so viel geringer schätzen / und sie verachten“72 lehrt. Dies bedeutet aber nicht, so trägt Spener seinen Dresdner Predigthörern vor, „eine ablegung aller weltlichen geschäfften / Und aller dinge / die zu diesem irdischen leben gehören“,73 ebenso wenig eine „gäntzliche entziehung von allem irdischen“74 oder eine stoische Gefühlskälte, die sich über nichts freut oder trauert.75 Aber er warnt sowohl seine Gemeinde als auch die Quedlinburger Äbtissin vor einer „unordentlichen liebe“.76 Diese häufig bei Spener vorkommende Formulierung bedeutet jeweils eine Liebe zur „crea67

Spener bezieht sich auf Phil 3,20. Spener, Lebenspflichten [s. Anm. 61], 645. 69 Alle Zitate sind aus Spener, Lebenspflichten [s. Anm. 61], 646. 70 Spener, Dresdner Briefe [s. Anm. 58] 2, Brief Nr. 51, Z. 17–19. – Vgl. dazu im Brief vom 04.06.1687, wo er vom Abandonieren aller vaniteten des eiteln weltlichen Lebens gesprochen (s. S. 69 mit Anm. 16). 71 Spener, Dresdner Briefe [s. Anm. 252] 2, Brief Nr. 51, Z. 25 f.; vgl. Spener, Lebenspflichten [s. Anm. 61], 652. 72 Spener, Lebenspflichten [s. Anm. 61], 652. 73 Spener, Lebenspflichten [s. Anm. 61], 652. 74 Spener, Lebenspflichten [s. Anm. 61], 652. 75 Vgl. Spener, Lebenspflichten [s. Anm. 61], 653. 76 Spener, Dresdner Briefe [s. Anm. 58] 2, Brief Nr. 51, Z. 20; ders., Lebenspflichten [s. Anm. 61], 654. 68

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tur“,77 die die ‚ordentliche‘, d. h. dem Schöpfer gemäße, Liebe, die diesem die oberste Ehre zugesteht, vermissen lässt und das Geschöpf entweder zum Selbstzweck degradiert oder zum Gott erhebt.78 Den Hinweis auf die Bedeutung der Gnadenmittel für ‚geistliche Himmelfahrt‘, allen voran der Taufe,79 den er in der Predigt gibt, lässt er im Schreiben an Anna Dorothea aus; darüber hatte er schon in seinem ersten Brief geschrieben.80 Aber auch einen anderen Gedanken aus seiner Predigt erwähnt er nicht in dem Brief: Wir sehen noch endlich die hindernüssen / diese sind nun 1. die einbildung der unmöglichkeit / [. . .] / daß es heisset / wir seyen noch auff erden und in dem irdischen leben / wie wir dann solten himmlisch leben können?81

Ohne den Begriff der Vollkommenheit zu verwenden, behandelt Spener hier das, was er im Septemberbrief an Anna Dorothea ausführlich dargelegt hatte. Dies kann kein Zufall sein. Wie schon festgestellt, knüpft Spener an seinen ersten Brief an82 und übergeht geflissentlich die Formulierungen des zweiten, um die damit verbundenen Fragen nicht zu verstärken. Auch dies spricht für die Vermutung, dass er kritische Einflüsse auf die Äbtissin zu erkennen glaubte. Noch bevor die Auseinandersetzung um den Pietismus, der sich in Quedlinburg von einer seiner radikaleren Spielarten zeigte, entbrannte, erscheint die Äbtissin Anna Dorothea als jemand, die einerseits von Spener und andererseits von solchen, die seine Theologie kritisch betrachteten, beeinflusst werden sollte. Zu diesen gehörte der Hofprediger Seth Calvisius.83 Bestenfalls wird man deshalb sagen können, dass Spener sie für den Pietismus zu gewinnen versuchte,84 aber dass sie in diesen Jahren dem Pietismus nahegestanden habe, ist eine zu gewagte Behauptung. Der weitere Briefwechsel zwischen dem Oberhofprediger und der Äbtissin hat abgesehen von einem Neujahrsgruß im Jahr 169185 einen ganz bestimmten Anlass und ist deswegen anders zu bewerten. Der nächste – uns bekannte – Brief Speners an Anna Dorothea stammt erst aus dem Februar 1690.86 Es ist die Antwort auf ein – nicht überliefertes – 77

Spener, Lebenspflichten [s. Anm. 61], 654; vgl. im Brief: „geschöpffe“ (Z. 20). Vgl. Spener, Lebenspflichten [s. Anm. 61], 654. 79 Vgl. Spener, Lebenspflichten [s. Anm. 61], 659. 80 S. o. S. 67 f. 81 Spener, Lebenspflichten [s. Anm. 61], 660. 82 Zu den schon genannten Stichworten aus dem ersten Brief gehört auch der Begriff „Seelenbräutigams“ (Spener, Dresdner Briefe [s. Anm. 7] 1, Brief Nr. 97, Z. 125; und [s. Anm. 58] 2, Nr. 51, Z. 27). 83 Zu diesem s. Anm. 88. 84 So Johannes Wallmann in der Einleitung zu Spener, Dresdner Briefe [s. Anm. 58] 2, X. 85 Philipp Jakob Spener: Briefe aus der Dresdner Zeit. Hg. v. Udo Sträter und Johannes Wallmann in Zusammenarbeit mit Klaus vom Orde. Bd. 4. Tübingen [voraussichtlich] 2017, Brief Nr. 144. 86 Spener, Dresdner Briefe [s. Anm. 85] 4, Brief Nr. 18. 78

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Schreiben der Äbtissin, das Spener am 3. Februar 1690 erreichte. Darin hatte sie offenbar berichtet, dass nach dem Tod des Superintendenten Jakob Rösner87 der bisherige Hofprediger Seth Calvisius88 an dessen Stelle getreten sei und Christian Scriver89 die nun vakante Hofpredigerstelle einnehmen solle. Es lässt sich jedoch nicht mehr feststellen, ob der Brief an Spener persönlich gerichtet war oder ob er ihn in seiner Funktion als sächsischer Oberhofprediger erhalten hatte, dem die Äbtissin als dem geistlichen Vertreter der kursächsischen Schutzherrschaft des Stifts schrieb.90 Wiederum müssen alle Informationen aus dem Brief Speners entnommen werden. Gleich zu Beginn schreibt er von einer „mündliche[n] abstattung“ eines Danks; dies lässt auf eine persönliche Begegnung schließen. Diese Formulierung ist jedoch mit einer „gegen mich seit meines hiesigen anwesens mehrmals bezeugte sonderbare gnädigste zuneigung“ verbunden. Es muss also nicht an eine Begegnung gedacht werden, die erst kurze Zeit zurücklag. Vielmehr kann auch an die beiden Trauerfeierlichkeiten zu Ehren der alten Kurfürstin erinnert werden,91 auch wenn diese zu der Zeit, als dieser Brief geschrieben wurde, schon mehr als zwei Jahre zurücklagen. Spener sagt der Äbtissin zu, für die richtige Personalentscheidung zu beten. Dies ist aber kein Hinweis auf ein besonders enges Verhältnis zu ihr, denn derartige Versprechen finden sich häufig in Briefen an ganz unterschiedliche Menschen, die sich mit ihren Anliegen an Spener wandten. Eine inhaltliche Anknüpfung an den früheren Briefwechsel gibt es nicht. Zielstrebig geht er auf die Besetzungsfra87 Jakob Röser (21.09.1641.-07.11.1689), geb. in Sondershausen, nach dem Studium in Jena und Gießen, einer mehrjährigen Reise durch ganz Europa und weiteren Studien in Wittenberg 1669 Professor in Epries (Ungarn) und 1670 Rektor des Gymnasiums in Leutschau, seit 1672 Hofprediger im Stift und 1685 Pastor und Oberprediger zu St. Benedicti in Quedlinburg (J. H. Fritsch: Geschichte des vormaligen Reichs=Stifts. Bd. 2, Quedlinburg 1828, 236 f.; LP: Seth Calvisius: Treuer Lehrer Müh- doch Heil-same Amts-Pflicht: Bey [. . .] Leich-Deduction Des [. . .] Herrn M. Jacobi Rösers [. . .] wolmeritirten Superintendentis. Quedlinburg 1689). 88 Seth Calvisius wurde Nachfolger Rösers als Superintendent. Seth Calvisius (II.) (11.06.1639–19.04.1698), geb. in Hermsdorf, nach dem Theologiestudium in Leipzig 1669 Substitut an St. Wiperti, 1677 Oberpfarrer an St. Nicolai, 1684 Oberpfarrer, Hofprediger und Konsistorialrat an St. Servatii, 1690 Superintendent jeweils in Quedlinburg; er war ein heftiger Kritiker des Pietismus (Pfarrerbuch der Kirchenprovinz Sachsen. Hg. v. Verein für Pfarrerinnen und Pfarrer der Kirchenprovinz Sachsen e. V. Bd. 2. Leipzig 2004, 153; Fritsch, Geschichte [s. Anm. 3] 1, 237, 243, 251). 89 Christian Scriver (02.01.1629–05.04.1693), Erbauungsschriftsteller und Pfarrer in Magdeburg; geb. in Rendsburg, nach dem Theologiestudium in Rostock zunächst Archidiaconus in Stendal und 1667 Pfarrer in Magdeburg, 1690 Oberhofprediger in Quedlinburg (Holger Müller: Seelsorger und Tröstung. Christian Scriver [1629–1693]: Erbauungsschriftsteller und Seelsorger. Waltrop 2005). 90 Die Behauptung Ergenzingers, Spener habe „ohne Zweifel“ an der Berufung Scrivers nach Quedlinburg mitgewirkt, ist völlig aus der Luft gegriffen und entbehrt jeder Quellengrundlage (Wilhelm Ludwig Ergenzinger: M. Christian Scriver. Leben und Auswahl seiner Schriften. In: Evangelische Volksbibliothek. 3. Band. Hg. v. Karl Friedrich Klaiber. Stuttgart 1864, [1–222], 17). 91 S. o. S. 67.

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gen ein, die mit dem Tod Rösers zu klären waren. Schnell wendet er seine Gedanken Christian Scriver zu, mit dem er schon seit mehr als einem Jahrzehnt korrespondierte.92 Damals hatte sich die schwedische Königin Ulrike Eleonore um einen geeigneten Hofprediger bemüht. Spener war um ein Gutachten gebeten worden. Davon berichtet er nun in seinem Brief nach Quedlinburg. Dabei versäumt er es nicht, die Bereitschaft der Königin herauszustellen, sich in ihrer Frömmigkeit von Scriver begleiten zu lassen: [Es] hat E. Hochw. Durchl. sovielmehr die hertzliche direction des Himmlischen Vaters darinnen zu erkennen, da ich hinwiderum mich versichert halte, daß E. Hochw. Durchl. auch das wort des HERREN, zu deßen predigt an ihrem ort er gesendet wird, auß seinem munde mit sanfftmuth annehmen, es in ihre und der übrigen zuhörer hertzen pflantzen laßen, also auch in der that ihn mit dem jenigen in seinem amt erfreuen werde, wozu sich obgedachte Gottergebene Königin, alß sie ihn zu sich suchte, erbot, in allen stücken, was er Ihr, Göttlichen willen zu seyn, weisen würde, ihm willigst zu folgen und von keiner allgemeinen Christenpflicht wegen ihres höhern standes einige dispensation zu praetendiren [Hervorh. d.Vf.]; welche wort mir von solcher zeit an stäts in dem hertzen gelegen sind und mich sovielmehr damal, ihme die folge93 zu rathen, bewogen haben. Hingegen von E. Hochw. Dlt. eben dergleichen so wol auß übrigem dero bißherigem bezeugen, alß auß dieser gethanen wahl hoffe.94

Spener stellt somit der Quedlinburger Äbtissin die schwedische Königin als Vorbild einer frommen Fürstin vor Augen. Er will sie dazu anreizen, deren Frömmigkeit nachzueifern. Ob er sie für ebenso fromm hält wie Ulrike Eleonore, lässt sich daraus nicht erkennen.95 III. Der Kontakt Speners zu dem Quedlinburger Geistlichen Johann Heinrich Sprögel vor dem dortigen Ausbruch des Streites um den Pietismus soll die Skizze des Verhältnisses zwischen dem Dresdner Oberhofprediger und der Äbtissin Anna Dorothea ergänzen. Sprögel, 1644 als Sohn eines Quedlinburger Bürgers geboren, war nach 92 Der erste Brief Speners stammt vom März/April 1679 (Philipp Jakob Spener: Briefe aus der Frankfurter Zeit. Bd. 4. Hg. v. Johannes Wallmann in Zusammenarbeit mit Martin Friedrich u. Peter Blastenbrei. Tübingen 2005, Brief Nr. 29). 93 Im Sinne von „Gehorsam“ bzw. „Vollzug“ (DWB 3, 1862, 1872). 94 Spener, Dresdner Briefe [s. Anm. 85] 4, Brief Nr. 18, Z. 51–64. 95 Einen Hinweis auf die Frömmigkeit der Äbtissin gibt der Rudolstädter Jurist und Erbauungsschriftsteller Ahasver Fritsch (1629–1691). Er widmete seine Passionsbetrachtungen, die unter dem Titel „Heilige Liebes- und Andachtsflamme“ (Rudolstadt: J. R. Löwe, 1691) erschienen, Anna Dorothea und berichtet darin von einem Besuch in Quedlinburg, bei dem er die Äbtissin als fromme, täglich über die Bibel meditierende Fürstin kennengelernt habe. Hierbei ist freilich die Gattung „Widmungsschreiben“ zu beachten, in der häufig die Verbindung zwischen Widmungsempfänger und Buch besonders herausgestellt wird.

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dem Theologiestudium in Leipzig 1671 Lehrer am Stiftsgymnasium und 1681 Diaconus an der Stiftskirche seiner Vaterstadt geworden; zu den Obliegenheiten dieses Amtes gehörte auch die Verwaltung der Stiftsgüter. Im Jahr 1686 wurde ihm außerdem noch die Verantwortung für die Stiftsbibliothek übertragen. Als er im Jahr 1698 auf Grund der Streitigkeiten um den Pietismus von seinem Amt suspendiert wurde, übernahm er das Pastorat und das Inspektorat im altmärkischen Werben. Im Jahr 1705 schließlich wurde er als Propst und Pastor nach Stolp / Hinterpommern an die dortige Marienkirche berufen.96 Die Verbindung zu Spener entstand im Jahr 1687. Aus Speners Brief vom 10. Januar 1688 geht hervor, dass es in Quedlinburg zu einem Streit um die Besoldung Sprögels gekommen war.97 Magdalena Sophia von Schleswig-Holstein-Sonderburg (1664–1720) war als Stiftspröpstin für die Gehaltszahlungen der Geistlichen zuständig und hatte Sprögel einen Teil seines Salärs vorenthalten. Nach einer Bemerkung Speners betrafen die strittigen Ausstände das Jahr 1684, in dem das Pröpstinnenamt von Anna Dorothea auf Magdalena Sophia übergegangen war. Nach seiner Kenntnis gab es für solch ein Übergangsjahr zwei Möglichkeiten. Entweder musste die Besoldung anteilig nach der Amtsdauer der beiden Pröpstinnen getragen werden oder diejenige war zuständig, in deren Amtszeit der Stichtag der Auszahlung (Martini, 11. November) fiel. Magdalena Sophia als neue Pröpstin hatte sich jedenfalls ganz offensichtlich dieser Verpflichtung entzogen.98 Sprögel scheint sich nun, nachdem auch Martini des Jahres 1687 verflossen war, sehr bald mit seinem Anliegen an Spener gewandt zu haben, denn dieser entschuldigte sich in seinem Brief vom 10. Januar 1688, dass „er zu der antwort nicht so bald zu kommen vermocht, auch die warheit zu bekennen, desto weniger geeilet, weil dannoch in dieser sache nach gegen mich geschöpffter hoffnung eine gnüge zu thun nicht vermag“.99 Wieso sich Sprögel nun ausgerechnet an Spener wandte, lässt sich nicht beantworten. Speners Brief gibt keinerlei Hinweis auf eine frühere Bekanntschaft zwischen beiden. Auf Spener muss Sprögels Brief wie die Schreiben von anderen Geistlichen gewirkt haben, die sich mit ihren ganz unterschiedlichen Anliegen an den Dresdner Oberhofprediger wandten.100 Auch die Vermutung, die Äbtissin Anna Dorothea könnte Sprögel geraten haben, sich an Spener zu wenden, nachdem sie im Vorjahr mit diesem in 96

Uwe Czubatynski: Art. „Sprögel, Johann Heinrich“. In: BBKL 22, 2003, 1263–1265. Spener, Dresdner Briefe [s. Anm. 58] 2, Brief Nr. 2. 98 Vielleicht mit dem Hinweis, dass Anna Sophia als bisherige Pröpstin zwar erst am 29.01.1685 ihre Huldigung entgegengenommen habe, aber schon am 04.09.1684 vom Kaiser im Amt konfirmiert worden sei (s. o. S. 65). 99 Spener, Dresdner Briefe [s. Anm. 58] 2, Brief Nr. 2, Z. 1–3. 100 „damit es nicht scheinen möchte, daß eines amtsbruders wegen einige zeilen zu schreiben mich beschwerte“ (Ebd., Z. 33 f.). Auch die Anrede „meinem geliebten Bruder“ (Z. 130) ist so üblich für Spener, dass daraus keine Schlussfolgerung auf eine nähere Verbindung zwischen beiden gezogen werden darf. 97

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Briefkontakt getreten war, erweist sich nach genauer Analyse des Brieftextes als unhaltbar, denn zum einen bietet Spener nicht an, sich für ihn bei der Äbtissin zu verwenden, und zum anderen äußert er sich durchaus kritisch über ihr Verhalten. Denn als „des gesamten stiffts haupt und vorsteherin“ sei es ihre Aufgabe, daß sie diejenige, so dem stifft an dem Evangelio dienen, vergnüge und sie nicht mangel leiden lasse. Indessen bewegen mich gleichwol die obige rationes, daß dieselbe vielmehr alles auf das gewissen der Princeßin Probstin wältzen, nachdem sie die commoda genossen, und aufs wenigste, ob auch etwas aus den rechts subtitlitäten vor sie gebracht werden könte, die mehrere probabilität mit sich bringet, daß die schuldigkeit auf sie erwachse.101

Gegen eine Vermittlung des Kontaktes zwischen Spener und Sprögel durch die Äbtissin spricht auch die Tatsache, dass deren Verhältnis zur kursächsischen Schutzmacht des Stifts durchaus überschattet war, nachdem sie von den beiden Kapitularinnen gegen Sachsen aufgehetzt worden war.102 Zu Beginn ihrer Amtszeit als Äbtissin musste erst ein hochoffzieller Rezess verfasst werden, der die seit langem offen oder verdeckt hervortretenden Streitigkeiten zwischen Stift und Schutzherrschaft zu schlichten versuchte.103 Wie die ganze Angelegenheit um Sprögels Besoldungsfragen beigelegt wurde, ist unbekannt. Aber auch dieser Brief bestätigt das erste Ergebnis.104 Von einem besonderen Verhältnis Anna Dorotheas zu Spener und Neigungen zu seinen Anliegen wird nichts sichtbar. Ein weiterer Brief Speners ist an dieser Stelle in die Überlegungen mit einzubeziehen. In seinem Brief vom 5. April 1689105 spricht er von Menschen, die ihr Leben nach dem Willen Gottes führen. Sie sollen füreinander beten. Gleichzeitig bedankt er sich für die Nachrichten über fromme Personen in der Umgebung des Adressaten. Ausdrücklich wird dabei ein frommer Jurist genannt, den Spener zwar nicht persönlich kennt, über den er sich jedoch auf Grund der erhaltenen Nachrichten freut. Vielleicht ist Christian Friedrich Scharschmidt (1658–1721) gemeint, mit dem Spener später (spätestens seit 1694) korrespondierte. Der Adressat hat Spener weiter darüber informiert, dass Christian Scriver, zu dieser Zeit noch in Magdeburg, dort begonnen habe, „Sontags zu absonderlicher erbauung lehrbegieriger hertzen einen anfang“ einer „übung“,106 also eine Art Collegium pietatis, durchzuführen. Zudem wird von einer „wohlversuchten christin N.“107 gesprochen, die der Adressat lobend erwähnt hatte. Hierbei könnte es sich um die in wirtschaftli101

Spener, Dresdner Briefe [s. Anm. 58] 2, Brief Nr. 2, Z. 115–121. Voigt, Geschichte [s. Anm. 2], 513. 103 Der Rezess, der nach dem Tag seiner Inkraftsetzung als „Konkordienrezess“ bezeichnet wird, findet sich abgedruckt in: Voigt, Geschichte [s. Anm. 2], 515–548. 104 S. o. S. 76. 105 Spener, Dresdner Briefe [s. Anm. 59] 3, Brief Nr. 38. 106 Spener, Dresdner Briefe [s. Anm. 59] 3, Brief Nr. 38, Z. 63 f. 107 Spener, Dresdner Briefe [s. Anm. 59] 3, Brief Nr. 38, Z. 51. 102

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che Not geratene Witwe Gertraud Margarete von der Asseburg (1640–1691) handeln, die Mutter der kurze Zeit später als Visionärin auftretenden Rosamunde Juliane von der Asseburg (1672–1712). Diese Familie war mit der Quedlinburger Familie von Stammer verwandt. Auf Grund dieser Indizien ist es nicht ausgeschlossen, dass Sprögel der Adressat dieses Briefes ist. Demnach wäre spätestens seit dem Frühjahr 1689 sowohl in Magdeburg als auch in Quedlinburg von einem religiösen Klima auszugehen, das es einleuchtend erscheinen lässt, dass Sprögel schon bald nach dem Ausbruch der pietistischen Bewegung nach Leipzig reiste, um diese vor Ort kennenzulernen. Im August 1690 jedenfalls berichtet Francke in einem Brief an Spener, Sprögel, der Quedlinburger Arzt Jacob Schmidt108 und ihre Ehefrauen hätten ihn in Begleitung des seit 1690 in Halberstadt als Geistlicher wirkenden Andreas Achilles (1656–1721) und einer aus Gotha stammenden Jungfer Körner in Erfurt besucht. Bei diesem Treffen hätten sie von weiteren Personen berichtet, die sich dem Herrn hingegeben hätten.109 Vom Stift ist keine Rede. Nur wenige Monate später, gegen Ende des Jahres 1690, setzte die Äbtissin vielmehr eine Kommission ein, die feststellen sollte, wer an Konventikeln teilnahm, die von Sprögel durchgeführt wurden.110 Briefe Sprögels, die an Francke gerichtet waren, sind dann wieder aus dem Jahr 1693 überliefert.111 Darin geht um eine konkrete Personalfrage, nämlich großenteils um die Bemühungen, einen Nachfolger für Scriver zu berufen, der am 5. April 1693 gestorben war. Am 28. April berichtet Sprögel, man sei sichtlich bemüht, nach Scrivers Tod „alle ersinliche Erkentligkeit sehen zu laßen, umb zu bezeugen, wie sehr und hoch man seinen verlust bethaure“,112 um gleich darauf von den „schweren versuchungen“113 zu sprechen und um Fürbitte anzuhalten, „dass uns Gott einen Mann nach seinem herzen an die stelle des sel. verstorbenen beschere, damit der Grund, der da ist geleget worden durch seine gnaden nicht wieder umbgerißen, sondern vielmehr ein festes gebäude darauff gebauet werden möge“.114 Seit Mai wurden Überlegungen angestellt, Joachim Justus Breithaupt (1658–1732), zu dieser Zeit Theologieprofessor in Halle und Förderer des Pietismus,115 zu berufen, was aber offen108 Er wirkte später als Gutachter bei den Ekstasen von Anna Eva Jakobs mit (Ulrike Witt: Bekehrung, Bildung und Biographie. Frauen im Umkreis des Halleschen Pietismus. Halle 1996, 39, 45). 109 Philipp Jakob Spener: Briefwechsel mit August Hermann Francke. Hg. von Johannes Wallmann und Udo Sträter in Zusammenarbeit mit Veronika Albrecht-Birkner. Tübingen 2006, Brief Nr. 8, Z. 8–16. 110 Mori, Begeisterung [s. Anm. 4], 130. 111 Sie sind überliefert im Archiv der Franckeschen Stiftungen in Halle (AFSt/H C 251). 112 J. H. Sprögel an A. H. Francke (Halle a. S., AFSt/H C 251 : 4, 2). 113 Vermutlich das Vorgehen gegen den Quedlinburger Goldschmied und Ekstatiker Heinrich Kratzenstein (s. Mori, Begeisterung [s. Anm. 4], 172–179). 114 J. H. Sprögel an A. H. Francke (Halle a. S., AFSt/H C 251 : 4, 2). 115 Udo Sträter: Art. „Breithaupt, Joachim Justus“. In: RGG4 1, 1744; Memoria Caplatoniana.

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bar selbst Francke nicht gleich wissen sollte. In seinem Brief vom 26. Juni wirkt Sprögel nämlich irritiert oder gar verärgert, wenn er schreibt: Ich habe neulich in B[erlin] Von dem H[errn] D[octor] Sp[ener] vernommen, daß dem lieben Bruder eine sache kund sey, die ich niemandem kund zu seyn gänzlich mir eingebildet habe, und muste mich höchlich wundern, als der Liebe H. D. Sp. mich berichtete, es were ihm mein anbringen schon zu Lichtenburg von H. M[agister] Francken entdecket worden.116

Er fragt weiter, ob Francke diese Überlegungen erraten oder ob er die Nachricht von irgendjemandem erhalten habe. Im Übrigen möge die Tatsache, dass er, Sprögel, in Berlin gewesen sei, niemandem mitgeteilt werden, und Spener solle „auch was ihm sonst davon bewust ist, zugleich nebst gegenwerter sache gänzlich und vor jedermann [. . .] secretiren, und solches umb gewißer ursachen willen, welche künfftig schon sollen gemeldet werden“. Es gehe um die „wohlfahrth hiesiger bekanten Seelen“.117 Nicht weniger auffällig sind Bemerkungen im gleichen Brief, die Berufung Breithaupts sei umso nötiger, weil man sich bis dahin „mit Tagelöhnern beholffen“ habe und man sich nun wünsche, „doch itzo lieber einen beständigen arbeiter zu haben“.118 Dies wirkt nachgerade wie ein – nachträgliches – Misstrauensvotum gegenüber Scriver. Vielleicht haben die enthusiastischen Ereignisse, die kurz vor seinem Tod in Quedlinburg aufgetreten waren, Scriver dazu veranlasst, sich von den Pietisten fernzuhalten oder sie gar kritisch zu beurteilen. Die Nachricht des heftigen Pietistengegners Gerhard Meyer (1664–1723),119 Scrivers Haltung diesen gegenüber sei zum Ende seines Lebens immer kritischer geworden,120 könnte dann zutreffen. Oder: Lebensbeschreibung Zweener Breithaupten; Welche Beyde Im andern Decennio des jetzigen Seculi zu ihrer Ruhe gelanget sind; Nebst dem Curriculo Vitae Des S. T. Herrn D. Breithaupt, Abbatis Bergensis, &c. Welcher nicht nur jene, sondern auch dieses selbst abgefasset, und auf Verlangen zum Druck mit überlassen hat. Hg. v. Joachim Justus Breithaupt [u. a.]. O. O. 1725, 35–112. 116 J. H. Sprögel an A. H. Francke (Halle a. S., AFSt/H C 251 : 6, 1 f.) Seit Januar 1693 stand Francke mit der Pröpstin Magdalena Sophia im Briefkontakt (Schulz, Sprögel [s. Anm. 40], 3 f.), so dass diese seine Informantin gewesen sein mag, was den Ärger Sprögels bzw. der Äbtissin erklären könnte, die das Berufungsrecht eines Oberhofpredigers für sich allein reklamierte (s. u. S. 84). 117 J. H. Sprögel an A. H. Francke (Halle a. S., AFSt/H C 251 : 6, 2). 118 J. H. Sprögel an A. H. Francke (Halle a. S., AFSt/H C 251 : 6, 1). 119 Es handelt sich im Übrigen um denselben Gerhard Meyer (Mejer), der als Adjunkt an der Wittenberger Universität, angeregt durch einen Besuch August Hermann Franckes, dort im Herbst 1687 ein Collegium philobiblicum im Stile der Leipziger Veranstaltung eingerichtet hatte (Näheres dazu s. Spener, Dresdner Briefe [s. Anm. 7] 1, Brief Nr. 173 Anm. 7 u. 8). Zu seiner Rolle im Quedlinburger Separatismusstreit s. Büchsel, Gottfried Arnolds Weg [s. Anm. 5], 44–46. 120 Gerhard Meyer: Unverwerffliche Zeugnisse 1. Aus Berlin, 2. Aus Quedlinburg, 3. Der Sachen selbst, Daß Der zum andern mahl nach eingeholtem Urtheil und Recht suspendirte Quedlinburgische Praebendat, Herr Joh. Henricus Sprögel mehr als dreyßig Unwahrheiten und unerfindliche Beschuldigungen in seiner so genandten Ernstlichen Entdeckung des verkehrten Eyffers ungescheuet ausgestossen habe. Bremen: Ph. G. Saurmann 1702, 64.

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Es sieht ganz danach aus, als sei die Überlegung, Breithaupt als Nachfolger Scrivers zu berufen, von der Äbtissin ausgegangen. Man sollte daraus aber nicht zu schnell auf ihre Nähe zum Pietismus schließen. Denn abgesehen von der „Geheimdiplomatie“ im Brief vom 26. Juni muss sich Sprögel schon am 11. Mai im Namen „einer gewissen Person“121 erkundigen, „ob er selbst [scil. J. J. Breithaupt] oder sein Bruder ehemahls bey dem gewesenen geheimbden Rath Bötticher zu Wolffenbüttel als Informator seiner Kinder gewesen sey“.122 Dies passt zu dem geheimen Vorgehen, keinen Namen zu nennen und mit der „gewissen Person“ ist vermutlich Anna Dorothea gemeint.123 In der detaillierten Autobiographie Breithaupts findet sich nichts über eine derartige Informatorenstelle, nach der gefragt wurde.124 Er war vielmehr von 1680 bis 1681 Konrektor an der Wolfenbütteler Fürstenschule.125 In Wirklichkeit wird wohl einer der Brüder Breithaupts der Informator gewesen sein, an den hier gedacht ist. Dass im Zusammenhang der Berufung Breithaupts überhaupt danach gefragt wird, hängt vielleicht mit dem Helmstedter Juraprofessor Johann Heinrich Bötticher (Böttiger) (1638–1695) zusammen, der gleichzeitig Geheimer Rat in Wolfenbüttel und Direktor des Hofgerichts in Lüneburg und zudem seit März 1687 auch Quedlinburgischer Kanzler und Konsistorialpräsident war.126 Möglicherweise wurde die Äbtissin auch durch diesen auf den Halleschen Theologieprofessor aufmerksam. Jedenfalls schreibt Sprögel an Francke, dass hinter dieser Anfrage ein Geheimnis stecke, über das „besser mündlich zu berichten“127 sei. Die jüngste Quelle, die uns zu dieser Berufungsangelegenheit zur Verfügung steht, ist der Brief Speners an das Quedlinburger Stiftskapitel vom 9. Oktober 1693.128 Aus diesem lassen sich die Ereignisse im Sommer dieses Jahres nachzeichnen und die Hinweise aus den vorgestellten Briefen Sprögels

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J. H. Sprögel an A. H. Francke (Halle a. S., AFSt/H C 251 : 5), 3. Ebd. 123 In Sprögels Brief an A. H. Francke vom 03.09.1693 spricht er mehrfach von „man“ und meint eindeutig die Äbtissin (J. H. Sprögel an A. H. Francke [Halle a. S., AFSt/H C 251 : 8]. 124 Lediglich in seiner Abschiedsrede, die er hielt, als er seine Aufgabe als Konrektor in Wolfenbüttel beendete, die unter dem Titel De Pietate Seu Dei Cultu In Scholis Necessario veröffentlicht wurde, erscheint als Beiträger Sigfrid Justus Bötticher. 125 Memoria Caplatoniana [s. Anm. 115], 47–51. 126 Johann Heinrich Zedler, Grosses vollständiges Universal Lexikon, Suppl.-Bd. 4. Leipzig 1754, 79 f.; Friedrich Ernst Kettner: Historie Des Kayserl. Freyen Weltlichen Stiffts Quedlinburg. Oder von dessen Fundation, Abbatissen/ Pröbstinnen/ Decanissen/ Canonissen [. . .] Item/ dessen Zustand vor und nach der Reformation, Lehrern und Predigern [. . .] und vielen andern Antiquitäten. Quedlinburg 1710, 212 (hier kein Hinweis auf die Aufgabe als Direktor des Konsistoriums; jedoch werden andere Quedlinburger Amtsträger mit Namen Bötticher genannt). 127 J. H. Sprögel an A. H. Francke (Halle a. S., AFSt/H C 251 : 5), 3. 128 Philipp Jakob Spener: Letzte Theologische Bedencken. Bd. 1. Halle: Waisenhaus 1711 (ND in: Ders.: Schriften. Hg. v. Erich Beyreuther u. Dietrich Blaufuß. Bd. XV.1. Hildesheim [u. a.] 1987), 391–393. 122

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vom vorausgehenden Frühjahr ergänzen. Die Äbtissin scheute keine Mühe, um Breithaupt als Oberhofprediger zu gewinnen. Am 3. September wurde ein Expressbote nach Halle geschickt.129 Anna Dorothea drängte darauf, die Zusage des Professors noch zu erhalten, bevor sie am 8. September zu einer Reise aufbrechen wollte. Vom Berliner Hof130 war offenbar die Freigabe Breithaupts zugesichert worden, falls sich dieser berufen ließe. Sprögel betont in diesem Zusammenhang mit Nachdruck, dass allein die Äbtissin das Recht zur Vokation des Hofpredigers habe. Dies wurde freilich von den Kapitularinnen völlig anders gesehen, die sich schon am 23. August 1693 an Spener gewandt hatten, um sich darüber zu beschweren, dass sie in ihrem Berufungsrecht beschnitten würden. Leider war dieses Schreiben zunächst auf dem Postweg verloren gegangen, so dass es erst am 6. Oktober in Berlin eintraf und Spener nun befürchtete, dass es „nunmehr mit der antwort zu spat seyn mag“.131 Inzwischen hatte nämlich die Äbtissin nicht nur einen – nicht überlieferten – Brief an ihn geschickt und um einen Vorschlag für einen Oberhofprediger gebeten,132 sondern auch ihren „secretarius“ in dieser Angelegenheit nach Berlin gesandt. Spener hatte diesem mündlich einen Rat gegeben und zusätzlich einen Brief an die Äbtissin geschrieben – in Unkenntnis des umstrittenen Vokationsrechts, wie er beteuert.133 Allerdings scheint er gerade nicht Breithaupt vorgeschlagen,134 sondern zwei andere Namen ins Spiel gebracht zu haben: den eben entlassenen Oberhofprediger in Wolfenbüttel Justus Lüders (ca. 1656–1708) und den Oberkonsistorialrat und Superintendenten in Oettingen David Nerreter (1649–1726).135 Der Hintergrund des „Geheimnisses“, von dem Sprögel geschrieben hatte, ist also gelüftet: Es war zu massiven Auseinandersetzungen zwischen Äbtissin und den Kapitularinnen – und der Pröpstin136 – gekommen, bei denen Anna Dorothea Fakten schaffen wollte. Die Frage nach der pietistischen Haltung Breithaupts und anderer Kandidaten spielte in diesem Machtkampf, wenn überhaupt, nur eine untergeordnete Rolle. Die Pröpstin Magdalena Sophia war eine Schwester Sophie Elisabeths von Sachsen-Zeitz, die in den Jahren 129 Dieser Bote hatte den Brief Sprögels an Francke (AFSt/H C 251 : 8) zu besorgen, dem als Einlage ein Schreiben an Breithaupt beilag, in dem dieser offenbar dringlich aufgefordert wurde, eine Entscheidung über die Berufung zu treffen. 130 Nicht von Spener, wie Schulz vermutet (Schulz, Sprögel [s. Anm. 40], 28). 131 Spener, Letzte Theologische Bedencken [s. Anm. 128] 1, 391. 132 Spener, Letzte Theologische Bedencken [s. Anm. 128] 1, 391 f. Dies muss jedoch nach dem 26.06. geschehen sein (vgl. S. 82 mit Anm. 116). 133 Spener, Letzte Theologische Bedencken [s. Anm. 128] 1, 392. 134 Der Hinweis von Schulz, Sprögel [s. Anm. 40], 28, Spener sei gemeint, wenn Sprögel meldet, „vo[n] Berlin aus nunmehro die gewisse nachricht“ (03.09.1693) über die Freigabe Breithaupts erhalten zu haben, ist falsch. 135 Spener, Letzte Theologische Bedencken [s. Anm. 128] 1, 393. 136 S. Anm. 116. Zu Magdalena Sophia s. Ruth Albrecht: Literaturproduktion, Gender und Pietismus. Das Quedlinburger Netzwerk. In: Glaube und Geschlecht. Fromme Frauen – Spirituelle Erfahrungen – Religiöse Traditionen. Hg. v. ders. [u. a.]. Köln [u. a.] 2008, 219 f.

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vor ihrem Tod einen intensiven Briefwechsel mit Spener gepflegt hatte. Von Francke wird ihre „gute Neigung“ in einem Atemzug mit dem Lob für ihre Schwester genannt.137 Sie stand mit diesem im Briefkontakt138 und war der pietistischen Bewegung zugetan. Sprögel aber hatte in der Vakanzzeit die Oberhofpredigerstelle zu vertreten und war der Beichtvater der Äbtissin.139 Im Streit um das Vokationsrecht scheint er die Interessen Anna Dorotheas unterstützt zu haben. Vielleicht hatte er Breithaupt vorgeschlagen, weil er ihn nicht nur für einen „getreuen Arbeiter“ in Gottes Ernte,140 sondern zudem für einen „capablen“141 Mann hielt, der in der Lage war, „vielem unheyl abzuhelfen und der Macht des Satans, der in den Kindern des Unglaubens sein Werck hat, zu wiederstehen“.142 Breithaupt war für Sprögel nicht nur ein pietistischer „Parteigänger“ – dies galt für den wegen seiner pietistischen Einstellung gerade entlassenen Lüders ja auch143 –, sondern vor allem ein fähiger Theologe, den er der schwierigen Situation in Quedlinburg für gewachsen hielt und der als Kandidat der Äbtissin zwischen dieser und ihren pietistischen Kritikern hätte vermitteln können. Schließlich wurde Lüders die umstrittene Stelle als Oberhofprediger in Quedlinburg übertragen. Aber nur wenige Monate später übernahm er im Jahr 1694 das Generalsuperintendentenamt in Halberstadt, obwohl die Mitglieder des Kapitels abgesehen von der Äbtissin sich für sein Verbleiben stark machten.144 Die Quedlinburger Hofpredigerstelle wurde danach erst nach einer mehrjährigen Vakanz mit Pietistenkritikern besetzt, zunächst war es Friedrich Weise (1649–1735),145 später Gerhard Meyer (1664–1723).146 Die genaue Analyse der vorgestellten Texte hat gezeigt, dass größte Vorsicht geboten ist, in der Zeit vor der offenen Gegnerschaft eine wirkliche Nähe der Quedlinburger Äbtissin Anna Dorothea zum Pietismus feststellen

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Spener, Briefwechsel mit Francke [s. Anm. 109], Brief Nr. 82, Z. 56 f. Spener, Briefwechsel mit Francke [s. Anm. 109], Brief Nr. 81, Z. 75 f. 139 J. H. Sprögel an Francke vom 03.09. [Halle a. S., AFSt/H C 251 : 8]). 140 J. H. Sprögel vom 26.06. (Halle a. S., AFSt/H C 251 : 6). 141 Vgl. Brief vom 03.09. (Halle a. S., AFSt/H C 251 : 8). 142 J. H. Sprögel vom 03.09. (Halle a. S., AFSt/H C 251 : 8). 143 Lüders war als Hofprediger in Wolfenbüttel entlassen worden, weil er das Pietistendekret nicht hatte unterschreiben wollen (Manfred Jakubowski-Tiessen: Der Pietismus in Niedersachsen. In: Geschichte des Pietismus. Bd. 2: Der Pietismus im achtzehnten Jahrhundert. Hg. v. Martin Brecht u. Klaus Deppermann. Göttingen 1995, 428–445, hier 432; Birgit Hoffmann: Das Wolfenbütteler Pietisten-Edikt von 1692 und seine unmittelbaren Auswirkungen. In: Wirkungen des Pietismus im Fürstentum Wolfenbüttel. Studien und Quellen. Hg. v. Dieter Merzbacher u. Wolfgang Miersemann. Wiesbaden 2015, 131–154, hier 140 f.; zu Lüders s. Birgit Hofmann: Art. „Lüders, Justus, Prof.“. In: Braunschweigisches Biographisches Lexikon. 8. bis 18. Jahrhundert. Hg. v. Horst-Rüdiger Jarck. Braunschweig 2006, 464 f.; Hansgünter Ludewig: Akteure und Aktionsformen des pietistischen Aufbruchs im Fürstentum Wolfenbüttel. In: Wirkungen, ebd., 99 f. 144 Spener, Briefwechsel mit Francke [s. Anm. 109], Brief Nr. 88, bes. Z. 30–32. 145 Zu diesem s. ADB 41, 546 f. 146 Zu diesem s. Anm. 119. 138

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zu wollen. Der Briefkontakt mit Spener belegt dies genauso wenig wie der Versuch, Joachim Justus Breithaupt als Hofprediger zu gewinnen oder die Berufung von Justus Lüders. Vor allem die Auseinandersetzungen um das Hofpredigeramt lassen erkennen, dass Sprögel seine Position zu nutzen versuchte, einen Kandidaten zu finden, der auf der einen Seite ein Zeichen der Durchsetzungsfähigkeit der Äbtissin war und vielleicht auch ihr Wohlwollen genoss, auf der anderen Seite aber auch das Vertrauen der Quedlinburger Pietisten haben konnte. Der weitere Verlauf der Geschichte lässt eine zunehmende Verhärtung der Fronten erkennen. Eine stärker werdende Radikalisierung der Pietisten und die Besetzung der wichtigsten Pfarrstellen mit dezidierten Pietistengegnern ließen eine Vermittlung nicht zu.

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DANIEL EISSNER

„Heydnische Tantz-Greuel“ – Zur pietistischen Auseinandersetzung mit dem Tanz 1. Einleitung Gegenstand der nachfolgenden Ausführungen ist die pietistische Haltung gegenüber den sogenannten Mitteldingen, welche in den Auseinandersetzungen mit Teilen der lutherischen Orthodoxie eine Hauptrolle spielte. Dabei wird der Fokus auf einem besonders prominenten Adiaphoron, nämlich dem „weltüblichen“ Tanzen liegen, und unterstellt, dass sich Vertreter des Pietismus ganz bewusst publizistisch mit diesem Aspekt beschäftigten: Über die Verurteilung des Tanzens zielte man nicht zuletzt auf die vermittelnden Positionen der lutherisch-orthodoxen Gegenspieler, denen man damit fehlenden Ernst bei der sittlichen Verwirklichung der biblischen Botschaft nachzuweisen suchte. Zu diesem Zweck werden neben der theologischen Argumentation auch Beispiele für die Auswirkungen praktischer Umsetzung pietistischer Tanzkritik angeführt, um Schlüsse auf Konsequenz und Nachhaltigkeit obrigkeitlicher Maßnahmen in diesem Zusammenhang ziehen zu können. Der Konnex Christentum und Tanz ist indes mitnichten wissenschaftliches Neuland, so dass an teils elaborierte Vorarbeiten zumeist älteren Datums angeknüpft werden kann. Dabei gebietet die Redlichkeit den Hinweis sowohl auf bestehende Schwierigkeiten und Desiderata: So mangelt es nach wie vor an einer systematischen Erfassung der Verordnungen bezüglich des Tanzens sowohl kirchlicher als auch weltlicher Provenienz, fehlen differenzierte und vergleichende Untersuchungen zum Gegenstand.1 Vor diesem Hintergrund verstehen sich die nachfolgenden Ausführungen als Beitrag zur Erweiterung des Blickes.

1 S. dazu die kritische Problemanzeige bei Gregor Rohmann: Tanzwut – Kosmos, Kirche und Mensch in der Bedeutungsgeschichte eines mittelalterlichen Krankheitskonzepts. Göttingen 2012, v. a. 180 ff.

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2. Streit um die Mitteldinge Die Frage nach der Haltung zu den Mitteldingen sollte im Zuge der Herausbildung des Pietismus im letzten Drittel des 17. Jahrhunderts erneut Aktualität gewinnen.2 Im sogenannten „zweiten adiaphoristischen Streit“ ging es dezidiert um den Charakter weltlicher Genüsse und Vergnügungen: Vertreter des Pietismus betrachteten das Streben nach leiblichen, sozialen und ästhetischen Gütern rundheraus als sündhaft, während orthodoxe Theologen auf das Fehlen eines expliziten göttlichen Verbots derartiger Handlungen verwiesen und sich folglich gegen eine generell negative Beurteilung dieser Güter wandten. Im Unterschied zum „ersten Adiaphoristenstreit“3 ging es Willi Temme zufolge nun „nicht mehr um ein dogmatisches, sondern ein ethisches Problem“.4 Die Frage war nämlich, wie man sich als Christ gegenüber „Weltfreuden“ wie Spielen und Tanzen, aber auch Opern- und Theaterbesuchen verhalten solle. Während die lutherisch Orthodoxen eine Existenz der Adiaphora anerkannten und deren sittliche Bewertung hinsichtlich ihres Zweckes vornehmen wollten, bestritt die Masse der Pietisten die Existenz indifferenter neutraler Handlungen und betrachtete jedwede menschliche Aktivität als heilsrelevant. Der orthodoxen Argumentation mittels einschlägiger Bibelstellen aus dem Korintherbrief des Paulus5 hielt man ein anderes Pauluswort entgegen: „Zentral ist für sie Rom 14, 23: Was aber nicht aus dem Glauben kommt, ist Sünde. Da nun gesellige Vergnügungen jeder Art nicht vom Glauben her bestimmt seien und nicht aus dem Glauben heraus getan werden könnten, seien sie sündhaft.“6 Deshalb sahen sich pietistische Vertreter nicht nur dazu aufgerufen, sondern geradezu verpflichtet, gegen diese unchristlichen Handlungen und v. a. jene der „sündhaften Zeitverschwendung“ anzugehen.7 2 Für den Diskurs um die Adiaphora des 16. und 17. Jahrhunderts sei verwiesen auf Reimund Sdzuj: Adiaphorie und Kunst. Studien zur Genealogie ästhetischen Denkens. Tübingen 2005. 3 Die erste Auseinandersetzung um die Mitteldinge fand Mitte des Reformationsjahrhunderts zwischen den Anhängern zweier lutherischer Strömungen statt. Vgl. dazu Gunther Wenz: Zum Streit zwischen Philippisten und Gnesiolutheranern. In: Melanchthon und die Neuzeit. Hg. v. Günther Frank u. Ulrich Köpf. Stuttgart, Bad Cannstatt 2003, 43–68; Ernst Koch: Der Ausbruch des adiaphoristischen Streits und seine Folgewirkungen. In: Politik und Bekenntnis. Die Reaktionen auf das Interim von 1548. Hg. v. Irene Dingel u. Günther Wartenberg. Leipzig 2006, 179–190. Die Standpunkte der Protagonisten sind jetzt als edierte Quellen verfügbar in: Der adiaphoristische Streit (1548–1568). Hg. v. Irene Dingel. Göttingen 2012. 4 Willi Temme: Krise der Leiblichkeit. Die Sozietät der Mutter Eva (Buttlarsche Rotte) und der radikale Pietismus um 1700. Göttingen 1998, 68. 5 1Kor 6, 12: „Ich habe alles Macht, es frommt aber nicht alles. Ich habe alles Macht, es soll mich aber nichts gefangen.“ Ferner 1Kor 10, 23: „Ich habe zwar alles Macht, aber es frommt nicht alles. Ich habe es alles Macht, aber es bessert nicht alles.“ 6 Ulrike Wels: Gottfried Hoffmann (1658–1712). Eine Studie zum protestantischen Schultheater im Zeitalter des Pietismus. Würzburg 2012, 64. 7 Vgl. zu diesem Aspekt die Ausführungen bei Wolfgang Schmitt: Die pietistische Kritik der

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Ab 1681 kam es in Hamburg zu Konflikten um die Rolle der Musik, als der Pastor Anton Reiser (1628–1686) die Oper und das Theater als „widerchristlich“ angriff und als Adiaphora verwarf. Unterstützung erhielt er nach 1684 durch den Hauptpastor der Hamburger St.-Michaelis-Kirche Johann Winckler (1642–1705).8 Die Folge waren heftige Auseinandersetzungen mit der Bürgerschaft und dem lutherischen Ministerium,9 in denen es um das Verhältnis von Kirche und Kultur ging, die pietistischen Kritiker sich jedoch nicht durchsetzen konnten. Erwähnt sei auch die Kontroverse zwischen Gottfried Vockerodt (1665–1727), seit 1694 Rektor am Gymnasium in Gotha, und dem am Weißenfelser Hof tätigen Musiker Johann Beer (1635–1700), die sich ebenfalls an der Frage nach Aufgabe und Funktion der Musik entzündete.10 Dieser Streit, der ab 1696 publizistisch ausgetragen wurde, ging schnell in eine generelle Auseinandersetzung über die Mitteldinge über, die über die ernestinischen Lande hinaus Kreise zog. Dabei nutzte insbesondere Vockerodt die Gelegenheit, ausgiebig gegen die aus pietistischer Sicht „falsche Mitteldingslehre“, ja den „Mitteldingsbetrug“ zu polemisieren.11 Die Auseinandersetzung mit dem Theater wurde in der Folge zu einem festen Bestandteil der publizistischen Aktivitäten der Pietisten hallescher Prägung.12 ‚Künste‘. Untersuchungen über die Entstehung einer neuen Kunstauffassung im 18. Jahrhundert. Univ. Köln Diss. [masch.] 1958, 15–21. 8 Zur Person vgl. Claudia Tietz: Johann Winckler (1642–1705). Anfänge eines lutherischen Pietisten. Göttingen 2008. Da diese Publikation das Leben Wincklers vor seiner Hamburger Zeit fokussiert, lohnt nach wie vor ein Blick in Johannes Geffcken: Johann Winckler und die Hamburgische Kirche in seiner Zeit (1684–1705). Hamburg 1861. 9 Vgl. dazu Johannes Geffcken: Der erste Streit über die Zulässigkeit des Schauspiels, 1677– 1688. In: Zeitschrift des Vereins für Hamburgische Geschichte 3, 1851, 1–33, sowie Sieghart Döhring: Theologische Kontroversen um die Hamburger Oper. In: FS Klaus Hortschansky zum 60. Geburtstag. Hg. v. Axel Beer [u. a.]. Tutzing 1995, 111–123. Allgemein zum Verhältnis von Pietismus und Theater John D. Lindberg: Der Pietismus und die deutsche Barockoper. Zusammenprall zweier Welten. In: Europäische Tradition und deutscher Literaturbarock. Internationale Beiträge zum Problem von Überlieferung und Umgestaltung. Hg. v. Gerhart Hoffmeister. Bern 1973, 251– 258; Helmut Thomke: Die Kritik am Theaterspiel im Pietismus, Jansenismus und Quietismus. In: Jansenismus, Quietismus, Pietismus. Hg. v. Hartmut Lehmann. Göttingen 2002, 159–171, sowie aktuell Corinna Kirschstein: ‚Glückstöpffer, Comödianten und dergleichen Zeug‘. Pietistische Theaterfeindlichkeit vor 1700. In: Theater und Subjektkonstitution. Theatrale Praktiken zwischen Affirmation und Subversion. Hg. v. Friedemann Kreuder [u. a.]. Bielefeld 2012, 73–84. 10 Vgl. dazu Gudrun Busch: Die Beer-Vockerodt-Kontroverse im Kontext der frühen mitteldeutschen Oper, oder: Pietistische Opern-Kritik als Zeitzeichen. In: Das Echo Halles. Kulturelle Wirkungen des Pietismus. Hg. v. Rainer Lächele. Tübingen 2001, 131–170, sowie Rainer Bayreuther: Der Streit zwischen Johann Beer und Gottfried Vockerodt. Zur Physiognomie pietistischer und antipietistischer Musikauffassung. In: Johann Beer. Schriftsteller, Komponist und Hofbeamter 1655–1700. Hg. v. Ferdinand van Ingen u. Hans-Gert Roloff. Bern 2003, 285–303. 11 Rudolf Bohne: Der Vockerodtsche Streit. Ein Beispiel für die Auseinandersetzung zwischen Pietismus und Hofkultur in Thüringen am Ende des 17. Jahrhunderts. Göttingen 2000 (unveröffentlichte Magisterarbeit, einsehbar im Bibliothekslesesaal der Franckeschen Stiftungen zu Halle). Zur Argumentation Vockerodts s. Wolfgang Martens: Literatur und Frömmigkeit in der Zeit der frühen Aufklärung. Tübingen 1989, v. a. 119–121. 12 Vgl. dazu Wolfgang Martens: Officina Diaboli. Das Theater im Visier des halleschen Pietis-

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Aus all diesen Streitigkeiten wurde in der Folgezeit eine „Dauerauseinandersetzung des Pietismus mit der etablierten Kirche und den weltlichen Obrigkeiten im Bemühen um eine radikal-christlich geprägte Moralpolitik“.13 Da es hierbei um ein ethisches Verhaltensproblem ging, welches die Aktivitäten und damit die Lebensführung breiter Bevölkerungsschichten einbezog, eignete sich dieser Umstand wie kaum ein anderer zur Profilierung der pietistischen Partei. „Es ist ein Streit, dessen Erfolge oder Mißerfolge sich in der Lebenswirklichkeit der Gemeinden ganz konkret beobachten lassen, nämlich daran, ob der Einzelne seine Unterhaltungen und Ergötzungen beibehält oder unterläßt. Damit kann er als ein Gradmesser der Konstitutionalisierung des Pietismus gewertet werden.“14 Anders als die zuvor unter Theologen geführten Diskurse um dogmatische Uneinigkeiten in der Bewertung der Mitteldinge ließen sich diese Streitigkeiten nun nicht mehr allein rhetorisch auf der akademischen Ebene führen, sondern fanden mancherorts ganz praktischen Niederschlag in der Lebenswelt der Bevölkerung. Dies geschah, wie noch zu zeigen sein wird, über die von den pietistischen Geistlichen geübte Gemeindepraxis, welche in Bezug auf die Handhabung der Kasualien und des Zugangs zum Abendmahl vom Vervollkommnungsstreben der wiedergeborenen Christen geprägt war.15 Allerdings erfuhren nicht alle Aktivitäten die gleiche Aufmerksamkeit seitens der Pietisten. 3. „Heydnische Tantz=Greuel“ Unter den als Mitteldinge angesehenen und damit kritisierten Aktivitäten sollte fortan das Tanzen einen prominenten Platz einnehmen. Damit rückte die „beliebteste Kurzweil in der Frühen Neuzeit“16 in den Fokus der Aufmerksamkeit, die nahezu alle Bevölkerungsteile tangierte.17 Tanzen war etabmus. In: Zentren der Aufklärung. 1. Halle: Aufklärung und Pietismus. Hg. v. Norbert Hinske. Tübingen 1989, 183–208. 13 Andreas Gestrich: Pietistisches Weltverständnis und Handeln in der Welt. In: Geschichte des Pietismus. Bd. 4: Glaubenswelt und Lebenswelten. Hg. v. Hartmut Lehmann. Göttingen 2004, 556–584, hier 563. 14 Wels, Hoffmann [s. Anm. 6], 62 f. 15 „In der Mehrheit seiner Vertreter kannte der Hallische Pietismus keine Mitteldinge in Fragen der Religion und Moral. [. . .] Die Ablehnung der Mitteldinge hatte dabei die Tendenz, alle Bereiche des Alltagslebens zu umfassen und bildet insofern den konsequenten wie ungebrochenen Perfektionsdrang der Pietisten ab“ (Matthias Paul: Johann Anastasius Freylinghausen als Theologe des hallischen Pietismus. Wiesbaden 2014, 103). 16 Richard van Dülmen: Kultur und Alltag in der Frühen Neuzeit. Bd. 2: Dorf und Stadt 16.-18. Jahrhundert. München 1992, 129. 17 „Getanzt wurde von Jung und Alt, Männern wie Frauen, Armen wie Reichen. Bauern unterbrachen ihre Arbeit zum Tanzen, ebenso Ratsherren ihre Sitzungen. Bei jeder öffentlichen Repräsentation sozialer Gruppen gab es Tänze. Die ratsfähigen Geschlechter, der hoffähige Adel und das städtische Handwerk führten zu bestimmten Anlässen Tänze auf. Dabei existierten wilde und ‚zahme‘ Tänze nebeneinander“ (van Dülmen, Kultur und Alltag [s. Anm. 16], 129).

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lierter Teil sowohl der Volkskultur als auch der höfischen Lebenswelt, an dem bis in die Neuzeit hinein gemeinsam partizipiert wurde. Mit dem Rückzug des Adels unter seinesgleichen im 16. Jahrhundert sowie der Ausbildung und Pflege einer spezifisch höfischen Tanzkultur konzentrierte sich die theologische Kritik auf die volkstümlichen, „wilden“ Tänze des gemeinen Volkes. Dabei konnte in der pietistischen Bewertung an eine lange Tradition theologisch negativer Bewertung und Polemik gegen den Tanz – als unchristlich, ja heidnisch – angeschlossen werden, deren Ursprünge schon im Frühchristentum zu finden sind.18 Durch die Jahrhunderte blieb die moralische Abwertung des Tanzes ein aktuelles Thema, welchem sich sowohl die katholischen Theologen als auch die Vertreter der protestantischen Konfessionen ausgiebig widmeten.19 Gerade die evangelischen Prediger haben die Auseinandersetzung mit dem Tanzen weitaus intensiver betrieben als ihre katholischen Pendants in vorreformatorischer Zeit. Damit erhielt das Tanzen eine prominente Stellung im Ringen um die Durchsetzung christlich-sittlichen Lebenswandels und im Kampf der Prediger gegen eine ihnen unchristlich, ja „heidnisch“ erscheinende Volkskultur.20 Schnittmengen theologischer Kritik ergaben sich dabei mit den Interessen der frühneuzeitlichen Obrigkeiten, welcher v. a. an einer Disziplinierung der Gesellschaft sowie der Wahrung von Ruhe, Ordnung und Sittlichkeit gelegen war und welche deshalb mittels Verordnungen das Geschehen zu reglementieren suchten. Dabei spielte auch die unterstellte Verbindung des Tanzes mit dem Bösen eine nicht zu unterschätzende Rolle, der insbesondere in der Frühen Neuzeit ein erhebliches Potential bezüglich entstehenden Unheils zugeschrieben wurde.21 Tatsächlich stellte nach Ansicht der Zeitgenossen der soge18 Vgl. dazu Carl Andresen: Altchristliche Kritik am Tanz – ein Ausschnitt aus dem Kampf der alten Kirche gegen heidnische Sitte. In: Zeitschrift für Kirchengeschichte 72 [4. Folge 10], 1961, 217–262. 19 Ausgeführt wird dies bei u. a. bei Anke Keller: ‚Da Tantzen alweg ein laster ist und nymmer eine tugent‘. Tanzen in Frankfurt a. M. und Augsburg des 15./16. Jahrhunderts im Spiegel moraldidaktischer Quellen. In: Archiv für hessische Geschichte und Altertumskunde 69, 2011, 1–16. Für die Diskussion im Mittelalter vgl. Julia Zimmermann: Teufelsreigen – Engelstänze. Kontinuität und Wandel in mittelalterlichen Tanzdarstellungen. Frankfurt/Main [u. a.]. 2006, v. a. 49–94. Ferner der Beitrag von Volker Saftien: Vom Totentanz zum Reigen der Seligen. Eine christliche Kulturgeschichte des Tanzes. In: Berliner Theologische Zeitschrift 8, 1991, H. 1, 2–18. 20 „Die zum Teil umfangreichen Folianten und Bücher lassen erahnen, daß Tanzen im 16. Jahrhundert nicht nur als irgendeine von vielen kleinen Sünden galt, nein: der Tanz erhielt eine so starke Gewichtung, dass nur die eine Ableitung möglich ist: Er muss gesellschaftlich eine sehr große Rolle gespielt haben, und er muss gestört haben. Der leidenschaftliche Kampf der Prediger gegen den Tanz wäre sonst nicht erklärbar“ (Irmgard Jungmann: Tanz, Teufel und Tod: Tanzkultur in der gesellschaftlichen Auseinandersetzung des 15. und 16. Jahrhunderts. Kassel 2002, 154). 21 „Der Tanz wird hier zur Chiffre für alles, das ausgegrenzt und dualistisch hierarchisiert wird. Diese dualisierende Alternative richtet sich in der Folge mit tödlicher Gewalt gegen das Andere, auch gegen das Andere im Eigenen. Hexen wurde das Tanzen mit dem Teufel vorgeworfen. Viele wurden von diesen Identifizierungen nicht nur ideell, sondern auch durch Degradierung, Gewalt und Tötung getroffen“ (Helga Kuhlmann: ‚Wir haben euch aufgespielt, und ihr habt

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nannte „Hexentanz“ den Höhepunkt im Akt der Teufelsverschreibung dar. Suspekt wurde der Tanz zunächst durch die Orte, an denen er ausgeübt wurde, wobei – neben den spärlich beleuchteten „Spinn-“ und „Rockenstuben“22 – v. a. das Wirtshaus mit seinen Vergnügungen im Fokus stand: „In den Augen der Obrigkeit konnte dort kaum ein ehrbarer Tanz stattfinden, denn zu heterogen war das Publikum an diesem Ort.“23 In Verbindung mit üppigem Essen, maßlosem Trinken und ausgiebigem Spiel galt das Wirtshaus frommen Christen geradezu als Brutstätte loser Sitten, sündhafter Verlockungen und teuflischer Anfechtungen. Vor diesem Hintergrund steigerten pietistische Protagonisten die zuvor noch ambivalente Bewertung des Tanzes durch die lutherisch-orthodoxen Theologen in eine Einseitigkeit, welche der tatsächlichen kirchlichen Haltung keineswegs entsprach. Zur Kritik am Paartanz kam verschärfend noch eine generelle Distanz der Pietisten zu jedweder Form von Leiblichkeit, Sexualität und Erotik hinzu.24 Gerade die Verknüpfung letzterer mit dem Tanz machte diesen zu einem potentiellen Quell für Zügellosigkeiten, Exzesse und Unordnung sowie Unstimmigkeiten, die immer entstehen konnten, wenn mit dem falschen Partner getanzt wurde oder es im Gedränge zu Streitigkeiten kam, die dann auch in Gewalttätigkeiten münden konnten. Die somit fehlende sittliche Qualität machte es Kritikern relativ einfach, das Tanzen zu verurteilen: „Wo körperliche Ausgelassenheit im Mittelpunkt steht, ist der Teufel nicht weit.“25 Folge dieser Beurteilung war die Publikation zahlreicher, zumeist polemischer Schriften v. a. lutherischer Theologen, welche die Kritik am Tanz perpetuierten und mit drastischen Worten die Gefahren des Tanzens hervorhoben.26 Gleichzeitig nicht getanzt‘. Mt 11, 17 Tanzfeindschaft und Tanzfreundschaft in der christlichen Religion. In: Tanz und Religion. Theologische Perspektiven. Hg. v. Marion Keuchen [u. a.] Göttingen 2007, 215–234, hier 226). 22 Vgl. dazu Hans Medick: Spinnstuben auf dem Dorf. Jugendliche Sexualkultur und Feierabendbrauch in der ländlichen Gesellschaft der Frühen Neuzeit. In: Sozialgeschichte der Freizeit. Untersuchungen zum Wandel der Alltagskultur in Deutschland. Hg. v. Gerhard Huck. Wuppertal 1980, 19–49. 23 Vera Jung: Körperlust und Disziplin. Studien zur Fest- und Tanzkultur im 16. und 17. Jahrhundert. Köln [u. a.] 2001, 43 f. 24 Vgl. dazu die Ausführungen bei Temme, Leiblichkeit [s. Anm. 4]; Wolfgang Breul: Ehe und Sexualität im radikalen Pietismus. In: Der radikale Pietismus. Perspektiven der Forschung. Hg. v. dems. [u. a.]. Göttingen 2010, 403–418 sowie die Beiträge in „Der Herr wird seine Herrlichkeit an uns offenbaren“: Liebe, Ehe und Sexualität im Pietismus. Hg. v. Wolfgang Breul u. Christian Soboth. Wiesbaden 2011. Einschlägige Textstellen pietistischer Vertreter finden sich auch bei: Geschlechtlichkeit und Ehe im Pietismus. Hg. v. Wolfgang Breul u. Stefania Salvadori. Leipzig 2014. 25 Jung, Körperlust [s. Anm. 23], 102. 26 Stellvertretend sei verwiesen auf Jacob Ratz: Vom Tantzenn. Obs Gott verpotten hab/ Obs sünd sey/ und von andern erlaupten kurtzweilen der Christen/ als/ Spielen/ Singen/ Trincken/ Jagen etc. Mit verlegung des Falschen und onbescheyden urteils/ M. Melcher Ambach/ Predigers zu Franckfort/ vom Tantzen/ geschrieben. Neuenstadt am Koch 1545; Florianus Daul: Das ist wider den leichtfertigen, unverschempten Welt tantz und sonderlich wider die Gotts zucht und ehrvergessene Nachttentze. Frankfurt 1567; Johann von Münster: Ein gottseliger Tractat von dem

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blieb die Frage nach der grundsätzlichen Sündhaftigkeit des Tanzens aktuell, was wiederum theologische Erwägungen und die umfängliche Publikation entsprechender Abhandlungen nach sich zog.27 Vereinzelt kam es schon im Reformationsjahrhundert zur Verhängung regelrechter Tanzverbote, deren extremste Beispiele sich in der Schweiz unter calvinistischer Herrschaft beobachten lassen.28 Mochten Theologen und weltliche Obrigkeit das Grundbedürfnis nach sittlicher Einhegung des wilden Tanzens teilen, gingen die Interessen in anderen Punkten deutlich auseinander: Während sich letztere zumeist mit maßvoller Regulierung des allgemeinen Tanzgeschehens anlässlich bestimmter Festlichkeiten mittels Verordnungen begnügte29, forderten Kirchenvertreter weitreichende Restriktionen und grundsätzliche Verbote des Tanzens in der Öffentlichkeit, d. h. auch im Wirtshaus und anlässlich von Feierlichkeiten. So wurde 1698 nicht zuletzt auf Betreiben der Hallenser Pietisten für das Herzogtum Magdeburg ein grundsätzliches Verbot des „zu allerhand Üppigkeit und fleischlichen Lüsten Anlaß gebende Tantzen“ erlassen.30 Allerdings konnte die pietistische Kritik durchaus nicht nur das „welt-übliche“ Tanzen des gemeinen Volks, sondern auch die „edle“ Tanzkunst (und damit höfische Tanzveranstaltungen) sowie das Ballett betreffen.31 Ein allgemeiner Verruf des Tanzes ungottseligen Tantz [. . .]. Hanau 1594 sowie Johann Ludwig Hartmann: Tantz-Teuffel in III. Theilen; neben einem Anhang von Präcedenz-Teuffel. Rotenburg 1677. 27 Z. B. Michael Freud: Theologische Erörterung der Frage: Ob das Tantzen an sich selbst Sünde sey? Rostock 1685. Dieser stellte den orthodoxen Standpunkt klar: „Tantzen ist an sich ein Mittelding“ (5) und damit „keine Sünde/ wann es von gebührenden Persohnen/ an gebührenden Orten/ zu gebührenden Zeiten/ gebührender/ rechtmäßiger Weise geschiehet“ (6). Folglich sei nicht das Tanzen an sich, sondern lediglich die Umstände sündhaft. 28 So wurde 1539 in Genf ein weitgehendes Tanzverbot erlassen, welches 1549 durch den Rat verschärft und in ein generelles Verbot des Tanzes erweitert wurde. Obwohl sich diese Verordnungen nicht auf allgemeine Akzeptanz der Bevölkerung stießen und sich kaum wirksam durchsetzen ließen, sollten sie doch mancherorts noch lange Zeit bestehen: St. Gallen hielt bis 1796 an einem generellen Tanzverbot fest. Für Tanzverbote in den Kirchenordnungen verschiedener Schweizer Städte siehe u. a. Zürcher Kirchenordnungen 1520–1675. Hg. v. Philipp Wälchli. Zürich 2011 sowie Basler Kirchenordnungen 1528–1675. Hg. v. Emidio Campi u. Philipp Wälchli. Zürich 2012. 29 Gemeinhin wurden rechtliche Bestimmungen erlassen, welche die Legalität des Tanzgeschehens nach Zeit, Ort und Umfang festschrieben. Diese Regularien fanden Eingang in die allgemeinen Polizeiordnungen, die Aufwandordnungen der Städte und Dörfer sowie die territorialen Kirchenordnungen. 30 Klaus Deppermann: Der hallesche Pietismus und der Preußische Staat unter Friedrich III. (I.) Göttingen 1961, 108 f. 31 Allgemein zu Tanzverboten s. die Beispiele bei Franz M. Böhme: Geschichte des Tanzes in Deutschland. Beitrag zur deutschen Sitten-, Literatur- und Musikgeschichte. Nach den Quellen zum erstenmal bearbeitet und mit alten Tanzliedern und Musikproben herausgegeben, Bd. 1: Darstellender Teil. Hildesheim 1967 [EA Leipzig 1886], 112–119. Hier ist allerdings die terminologische Unschärfe zu kritisieren: Vielfach handelt es sich nicht um religiös begründete Verbote, sondern lediglich um „ordnende Eingriffe“ der weltlichen Obrigkeit (Rohmann, Tanz-Wut [s. Anm. 1], 181). Zum Ballett s. Dorion Weickmann: Der dressierte Leib. Kulturgeschichte des Balletts (1580–1870). Frankfurt/Main 2002, v. a. 97–101.

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lief dann jedoch auf eine Kritik an der weltlichen Obrigkeit hinaus, entweder wenn man die Reglementierung von Tanzveranstaltungen als zu lax empfand oder aber die Beteiligung der weltlichen Obrigkeit selbst monierte. Solche Angriffe auf die Grundlagen des Repräsentationssystems der Elite musste im Einzelfall Konsequenzen haben: So war es Anfang 1691 am markgräflichen Hof zu Bayreuth zu einem Eklat gekommen, als der hiesige Hofprediger und pietistische Propagator Johann Heinrich Hassel (1640–1706)32 das Tanzen, insonderheit jedoch das Ballett öffentlich als verdammliche Lüsternheit geschmäht hatte.33 Daraufhin fertigten auf herrschaftliches Verlangen sowohl Hofprediger als auch Konsistorium im Februar 1691 schriftliche Stellungnahmen zu dieser Frage an, wobei allerdings eklatante Unterschiede in der Bewertung des Tanzens sichtbar wurden: Während Hassel bei seinem Verdikt blieb, beurteilte das Konsistorium das Tanzen als nicht sündhaft und erklärte damit den Standpunkt des Hofpredigers als irrig.34 Da Hassel in der Folge nicht bereit war, von seiner konsequenten Verurteilung des Tanzens abzusehen, und vielmehr seine Haltung als unwiderrufliches Bekenntnis seines Glaubens verteidigte, wurde er vom Markgrafen entlassen.35 Gleichwohl muss an dieser Stelle festgehalten werden, dass man nicht von einer einheitlich-negativen pietistischen Haltung ausgehen kann, sondern das Spektrum von differenzierter Bewertung bis hin zu konsequenter Verurteilung, ja regelrechter Verteufelung reichte, wobei sich die Zahl der gemäßigten Äußerungen nach 1700 zugunsten extremer Stellungnahmen verringern sollte. Dabei konnten die Anknüpfungspunkte der diversen pietistischen Argumentationen durchaus die gleichen sein, wurde auf dieselben Quellen und Autoritäten verwiesen. So erfreute sich neben den einschlägigen Textstellen aus der heiligen Schrift ein Traktat des Frankfurter Pfarrers Melchior Ambach (1490–1559) großer Beliebtheit, wozu neben dessen plastischer Sprachlichkeit die eindeutige negative Beurteilung des Tanzens36 und die klare ablehnende Haltung zu den Mitteldingen beigetragen haben dürfte.

32 Zur Biographie Hassels siehe Volker Wappmann: Pietismus und Politik. Zur Biographie von Johann Heinrich Hassel (1640–1706). In: Zeitschrift für bayerische Kirchengeschichte 67, 1998, 27–59. 33 Horst Weigelt: Geschichte des Pietismus in Bayern: Anfänge – Entwicklung – Bedeutung. Göttingen 2001, 71. 34 Beide Gutachten finden sich als Abschriften im Archiv der Franckeschen Stiftungen zu Halle unter AFSt/H D 81. 35 Allerdings findet sich in der Forschungsliteratur vielfach der Verweis darauf, dass dies allein kaum als Grund für die Entlassung anzusehen ist. Vgl. dazu Dietrich Blaufuß: Pietismus in Franken. In: Barock in Franken. Hg. v. Dieter J. Weiß. Dettelsbach 2004, 271–294, hier 276 f. 36 „Ja tantzen ist eygentlich ein übung/ nit vom himel kommen/ sonder von dem leydigen tëuffel/ Gott zur schmach erfunden.“ (Bl. Biiii v) Das Resultat der Erwägungen Ambachs: „Alle werck/ darinn man Gottes ordnung wort unnd befehlch nit hat/ sind sünde und böß. Darumb ist tantzen böß und sünde.“ (Bl. Cii r) Melchior Ambach: Von Tantzen. Urtheil/ Auß heiliger Schrifft/ und den alten Christlichen Lerern gestelt. Frankfurt 1543.

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4. Pietistische Positionen Philipp Jakob Spener, der sich 1680 noch als Frankfurter Pfarrer dezidiert zur Tanzfrage geäußert hatte, war dabei auch auf die Traditionslinie christlicher Verurteilung des Tanzens eingegangen: Daher wir sehen/ daß von anfang der christlichen kirchen zu allen zeiten diejenige/ welche ueber ein gottseliges leben geeiffert/ auch von dem tantzen schlecht gehalten haben. [. . .] Wie hart die Patres gegen das tantzen schreiben/ liget vor dem tag/ und sind die worte Arnolii, Ambrosii, Augustini, Chrysostomi hin und wieder zu lesen.37

Er selbst zitierte ausführlich aus Ambachs Traktat und schloss sich unter Verweis auf die derzeitigen „betrübten Zeiten des Christentums“ der Verurteilung des Tanzens an, betonte aber gleichzeitig die Verantwortung des Einzelnen, der, wenn er sich der biblischen Botschaft bewusst würde, durchaus in der Lage sei, sich selbst von dieser sündlichen Angewohnheit abzuwenden: Daß denn/ was christliche hertzen sind/ die verstehen/ warum sie in der welt leben/ daher nichts begehren zu thun/ als wodurch die ehre GOttesund des nechsten bestes/ so dann ihr eigen heil/ befordert werden mag/ und davon sie dermaleinst rechenschafft geben müssen/ hingegen gedencken/ daß ihnen alles sünde seye/ was nicht aus dem glauben und also aus der versicherung ihres gewissens/ daß es GOtt gefalle/ herkommet/ sich auch mehr und mehr gewehnen/ die liebe dieser welt/ darunter 1. Joh. 2/ 16. augenlust/ fleischeslust und hoffärtiges leben (welcherley sich in dem tantzen insgemein zeiget) gehöret/ samt allem deme/ worinnen solche vornemlich geübet/ und der böse natürliche zunder leicht angesteckt und geheget wird/ abzulegen und sich zu verwahren/ so denn in allen stücken nicht nur anzusehen/ ob etwas bloß dahin erlaubet/ sondern auch ob es ihnen selbs und andern nütze und besser: daß sage ich/ alle solche/ wo sie die sache recht erwegen/ so sie allezeit thun sollen/ von selbsten an dieser in der welt gebräuchlichen eitelkeit einen eckel fassen/ und aus eigenem trieb davon abstehen werden.38

Ein Jahrzehnt später verwies der nunmehrige Dresdener Oberhofprediger Spener in dieser Sache auf seine früheren Ausführungen, machte aber auch einige Aussagen zum praktischen Umgang mit der verbreiteten Tanzlust. Zudem griff er einige Argumente der Tanzbefürworter auf und verdeutlichte seine theologische Kritik: Will man davor halten/ der leib bedörffe zu seiner gesundheit eine bewegung/ das gemüth eine erfrischung/ welches ich nicht leugnen will/ so erfordert abermal die regel/ daß solche gesucht werden in dergleichen dingen/ da der wenigste schein des bösen ist/ da hingegenderselbe bey dem tantzen am allerstärcksten ist/ auffs wenigste/ weil auch die stärckste verfechter des tantzens nicht leugnen können/ daß 37 Philipp Jakob Spener: Was von dem tantzen zu halten seye und ob es mit dem Christenthum überein komme? In: Ders.: Theologische Bedenken, Bd. 2. Halle/Saale 1701, 484–495, hier 488 f. 38 Spener, Was von dem Tantzen [s. Anm. 37], 492 f.

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die allermeiste täntze voller sündlichen üppigkeit stecken/ welches dem gesamten tantzen bey rechtschaffenen seelen einen üblen nachruhm gibet/ daher man ja lieber die bewegung des leibes und erquickung des gemüthes in andern dingen suchen solle/ welche mit solchem bösem schein nicht dermassen erfüllet sind.39

Bei aller negativen Bewertung räumte Spener 1698 ein, dass für Standespersonen die Kunst des Tanzes notwendiger Teil adliger Körperbeherrschung sei und sich in diesem Fall die schädlichen Wirkungen dieser Betätigung in einem solchen Falle nicht wesentlich ins Gewicht fallen würden.40 Damit kontinuierte Spener gewissermaßen jene bereits von einigen lutherischen Theologen des 16. Jahrhunderts erprobte Praxis „sozialer Differenzierung des Tanzes“, d. h. einer abgestuften Bewertung: Als uneingeschränkt sündhaft wurde lediglich der undisziplinierte, „wilde“ Tanz der bäuerlich-ländlichen Bevölkerung gebrandmarkt, während man sich dem geordneten, verregelten Tanzvergnügen von Adel und höherem Bürgertum wesentlich duldsamer (um nicht zu sagen: konzilianter) gegenüber verhalten konnte.41 Dennoch formulierte Spener eine klar distanziert-ablehnende Haltung zum Tanzen, auf welche nachfolgende pietistische Autoren Bezug nehmen konnten. Als ungleich konsequentere Marke im Diskursverlauf muss August Hermann Franckes originärer Beitrag aus dem Jahre 1698 angesehen werden. Wohl hatte sich Francke schon 1689 in seinen Schrifftmäßigen Lebens=Regeln explizit gegen das Tanzen ausgesprochen42 und sollte auch in den Folgejahren immer wieder an geeigneten Punkten seiner Publikationen Stellung beziehen. Während seiner Erfurter Zeit hatte Francke gegen das öffentliche Tanzen gepredigt und die Tänzer mit dem Kirchenbann belegt, was seiner Beliebtheit bei der Bürgerschaft wenig zuträglich war.43 1691 äußerte er sich gegenüber 39 Philipp Jakob Spener: Von tantzen und der darzu brauchenden music. In: Ders.: Theologische Bedenken, Bd. 2. Halle/Saale 1701, 496–502, hier 500. 40 „Die frage betreffend wegen des lernen des tantzens bey vornehmen standes-personen/ ist meine meinung. 1. Das tantzen an sich selbs/ so fern es eine bewegung des leibes nach einer gewissen regel und tactn ist/ kan nicht sündlich seyn/ sondern bleibet unter den mittel dingen. 2. Hingegen was das tantzen/ wie es insgemein jetzo practiciret wird/ anlangt/ halte ich solches/ theils wegen der demselben nunmehr fast unabsonderlich anhengender üppigkeit und eitelkeit/ theils des daher entstehenden ärgernüsses/ allerdings vor sündlich/ und einem Christen zu vermeiden. Wie solches zu Gotha in einer doppelten schrifft/ darzu Herr Prof. Franck eine vorrede gemacht/ gnug erwiesen worden. 3. Wie die manierlichkeit in gebärden/ gang und stellung des leibes an sich nicht sündlich/ sondern einem menschen vielmehr anständlich ist/ als hingegen eine bäurische anstellung eine hindernüß machen kan/ also kan auch das tantzen-lernen/ welches allein zu jenem zweck gerichtet ist/ den leib gelenck und geschickt zu machen/ an sich nicht unrecht seyn“ (Philipp Jakob Spener: Vom tantzen-lernen hoher Standes-personen. In: Ders.: Theologische Bedenken. Bd. 2. Halle/Saale 1701, 501 f.). 41 Jungmann, Tanz, Teufel und Tod [s. Anm. 20],162. 42 So nennt Francke in der XX. seiner Lebens-Regeln das Tanzen gleich zu Beginn einer Reihe „kurtzweilige[r] Actiones“, bei denen „viel unanständiges und wüstes Wesen vorgehet“. Hier zitiert aus August Hermann Francke: Schrifftgemäße Lebens-Reglen [. . .]. Leipzig 1695. 43 Johannes Wallmann: Erfurt und der Pietismus im 17. Jahrhundert. In: Ders.: Theologie und Frömmigkeit im Zeitalter des Barock. Tübingen 1995, 325–350, hier 342.

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dem Jenaer Universitätsprofessor Caspar Sagittarius (1643–1694) in einem Brief44 zur Bewertung des Tanzens: Selbiges an sich und für sich sei nicht Sünde; allerdings müsse sich jeder Christ fragen, ob er sich tanzend Gott wohlgefällig verhalten könne. In jedem Falle gelte es jedoch, „Ärgerniß“, welches aus schlechtem Vorbilde entstehe, zu verhüten: Wenn die Welt siehet, daß einer, der für einen guten Christen bekannt ist, tantzet, so machet sie ihr daraus eine Regel, und machet ihren unzüchtigen Hurentantz zu einer Lust im Herrn. Die Schwachen im Glauben, wenn sie sehen, daß einer tantzt, den sie ungezweifelt für einen guten Christen halten, so tantzen sie auch wohl traun, aber nicht aus der Gewißheit des Glaubens, sondern weil sie ein Exempel für sich haben, und sündigen also mit dem der sie sündigen gemacht.45

Generell attestierte er dem Tanzen erhebliches Potential, zu Sünden zu animieren. Schließlich interpretierte Francke die Teilnahme am „welt=üblichen Tantz“ als Zeichen von Weltliebe und Gefallsucht und letztlich als Beweis fehlenden christlichen Ernsts und Glaubens.46 Nicht zuletzt deshalb blieb er auch in Glaucha seiner Linie treu und übte gegenüber tanzenden Gemeindegliedern eine strenge Kirchenzucht, d. h. er exkommunizierte die aus pietistischer Sicht Unwürdigen. Diese Praxis „umgekehrten Separatismus“ sollte sowohl in Erfurt als auch in Glaucha Unmut und Widerstand in den Francke anvertrauten Gemeinden erzeugen.47 In seiner Schrift Gründliche Untersuchung/ Was von den sogenannten indifferenten Dingen/ Und insonderheit Von dem heutigen Welt=üblichen Tantzen nach Gottes Wort zu halten sey? verdeutlichte Francke wenige Jahre später die Bedeutung einer ablehnenden Haltung zu den Mitteldingen als Mittel zu Buße und Bekehrung.48 Konsequenterweise untersagte er in den Anweisungen an seine Mitarbeiter neben Müßiggang, Spielen, „Trunckenheit, Saufferey und Schauserey“ auch „das Welt=übliche Tantzen“49 und blieb bei seinem Standpunkt, 44 Dieser Brief befindet sich im Archiv der Franckeschen Stiftungen zu Halle. Ein Abdruck findet sich in: Vier Briefe August Hermann Francke's zur zweiten Säcularfeier seines Geburtstages. Hg. v. Gustav Kramer. Halle 1863, 6 ff. 45 Kramer, Vier Briefe [s. Anm. 44], 7. 46 „Warum tantzt ein Christ? daß er nicht für einen Sonderling für der Welt gehalten werde? so prüfe er sich, er ist kreutzflüchtig. Oder daß er ihm eine Ergötzlichkeit mache? Ist Fleisches=Lust, die muß heraus. Weh dem! der keine bessere Ergötzung weiß“ (Kramer, Vier Briefe [s. Anm. 44], 7). 47 Veronika Albrecht-Birkner, Udo Sträter: Die radikale Phase des frühen August Hermann Francke. In: Der radikale Pietismus [s. Anm. 24], 57–84, hier 65 ff. 48 „Daher ist allerdings von nöthen/ daß nechst der Predigt von der Buße und Bekehrung auch die Menschen immer mehr und mehr darauf geführet werden/ daß sie prüfen mögen was das beste sey/ [. . .] oder daß sie die von der Welt so genannte Mittel-Dinge untersuchen/ und aus GOttes Wort erforschen/ obs auch wahr sey/ daß solches indifferente oder freye Mittel-Dinge seyn.“ (August Hermann Francke: Gründliche Untersuchung/ Was von den sogenannten indifferenten Dingen/ Und insonderheit Von dem heutigen Welt=üblichen Tantzen nach Gottes Wort zu halten sey? Halle 1698, 9) 49 Vgl. §15. seiner Idea Studiosi Theologiae, oder Abbildung eines der Theologie beflissenen,

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nach dem das entsprechende Verhalten Ausdruck und Nachweis wahrhaften christlichen Glaubens sein müsse: Was sollte einem aber anders zum Tantzen treiben als die Welt=Liebe? Lege den weltlichen Sinn ab/ so legest du die Lust zum Tantzen ab. Aber das ist die Sache/ daß die Menschen/ und sonderlich die Fürnehmen und Reichen/ so gerne ein halbiertes Christenthum haben/ da man zugleich GOtt und der Welt/ Christo und seinem Fleisch und Blut diene. Mit dem Maul schreyets sichs leicht: Gute Nacht o Wesen/ das die Welt erlesen/ mir gefällst du nicht; Aber es ist keine Warheit/ und zeiget sich gar anders/ wenns auf die Probe kömmt. Wer Christo nachfolgen will/ der muß sich selbst verleugnen/ und sein Creutz auf sich nehmen. NB. täglich/ und ihm nachfolgen/ Luc. IX, 23. Das lerne die Welt/ so wird sie das Tantzen vergessen.50

Damit war für Francke die Einstellung dem Tanzen gegenüber gleichbedeutend mit der Haltung zur „Welt“ bzw. wahrer Nachfolge Christi. Diese Position wurde auch von anderen Vertretern des Halleschen Pietismus eingenommen und nachdrücklich publizistisch vertreten: Das Tanzen war hier Ausdruck zu überwindender Weltliebe und stand in enger Verbindung zu Anfechtungen, die mit 1Joh 2, 16 als Fleischeslust, Augenlust und Hoffart identifiziert wurden. Das „weltübliche“ Tanzen laufe damit nicht nur auf vielfältige Art und Weise wider das Christentum, sondern erwecke und erhitze „Fleisch und Blut/ welches doch solle getödtet werden mit seinen Wercken durch den Geist GOttes“ und eigne sich daher, „dem Teuffel und den bösen Geistern Thür und Thor auffzuthun“.51 Der Fromme habe deshalb vom Tanzen abzustehen, damit er sein Seelenheil nicht gefährde. Versuchen der Relativierung der moralischen Verurteilung und Differenzierung in der Bewertung des Tanzens wurde energisch widersprochen. So provozierte im Jahre 1700 eine Dissertation des Theologiestudenten Johann Nikolaus Frey, in der dieser eine „moderne Ansicht vom Tanzen“ propagierte, den entschiedenen Protest des pietistischen Professors Johann Christian Lange (1669– 1756).52 Während ersterer den Tanz als dienlich sowohl zur Übung leiblicher wie derselbe sich zum Gebrauch und Dienst des Herrn und zu allem guten Werck gehöriger Maassen bereitet [. . .]. Halle 1712, 59. 50 Francke, Gründliche Untersuchung [s. Anm. 48], 9. 51 So beispielsweise nachzulesen im umfänglichen Stück zur Verteidigung der pietistischen Ablehnung des „welt=üblichen Tantzens“, welches die Gothaer Subkonrektoren Johann Konrad Kessler (1665–1716) und Johann Hieronymus Wiegleb (1664–1730) – versehen mit einem Vorwort Franckes – in Halle drucken ließen. Johann Konrad Kessler: Gründ- und ausführliche Erklärung Der Frage: Was von dem Weltüblichen Tantzen zu halten sey?: In zwey Tractätlein verfasset: Deren da erste einer von dieser Sache zu Langensaltza 1696. Heraus gegebenen Schrifft entgegen gesetzet/ Mit einer Vorrede M. August Hermann Franckens/ Gr. & OO.LL.PP. & Pas. zu Glauche an Halle. Halle 1697, hier 125 f. 52 Vgl. dazu Wilhelm Diehl: Aus den Akten des Gießener Tanzstreits. In: Ludoviciana. Festzeitung zur dritten Jahrhundertfeier der Universität Gießen. Bd. 4. Gießen 1907, 58, sowie Karl Gottfried Goebel: Johann Christian Lange (1669–1756). Seine Stellung zwischen Pietismus und Aufklärung. Darmstadt, Kassel 2004, 121–131.

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Geschicklichkeit als auch zur „Ergötzung und Rekreation“ ansah, wandte sich der Professor der Moralphilosophie eindeutig gegen eine positive Umwertung des Tanzens. In seiner 1704 erschienen Schrift zum Thema verwies Lange dezidiert auf die Gefahren für die menschliche Seele und vor allem die Unvernünftigkeit des Tanzens und der Mitteldinge generell.53 Zudem sprach er sich vehement gegen eine soziale Differenzierung in der Kritik am Tanzen, d. h. gegen die Ausnahme der Vornehmen und des höfischen Tanzens aus: Denn ich gebe [. . .] Verständigen nochmahls zu bedencken/ ob nicht auch das manierliche Tantzen die venerische Lust-Seuche heimlich in Schilde führe/ und zu grössern Ausbrüchen derselbenmanche Gelegenheit gebe/ [. . .]? Ich gebe ferner zu bedencken/ ob die Tohrheit und Eitelkeit des menschlichen Hertzens/ welche ohne Antrieb gesunder Vernunfft die mancherley Arten des heutüblichen Kunst=Tantzens in die Welt geführet/ ingleichen die darüber entstehende Zerstreuung des Gemüths und übermäßige wollüstige Freude/ die lächerliche Selbstgefälligkeit und mit Æmulation verknüpffte Ostentation, die Verschwendung der edlen Zeit und vieler Kosten/ [. . .] und andere dergleichen Dinge mehr/ vor unschuldiger und geringer zu halten seyn/ als die Excesse der gemeinen Leute?54

Vielmehr seien an das Verhalten der Vornehmen strengere Maßstäbe anzulegen als an das Gebaren der einfachen Leute, denn ersteren eigne ein größeres Vermögen, sich vor dem sündlichen Tanzen zu hüten, was ein höheres Maß an Verantwortung und – bei Verfehlungen – an Schuld nach sich ziehe.55 Lange wartet hier auch mit einer folgerichtigen Erklärung für die prominente Stellung der pietistischen Tanzkritik auf: Diese sei u. a. darauf zurückzuführen, dass die „eingeführte böse Gewohnheit des Tantzens sehr weit hat umb sich gegriffen; aber doch fast am allerwenigsten ist erkannt/ und gleichsam durch öffentliche Autorität für andern Sünden legitimiret worden“.56 Zudem habe man es für nötig befunden, diese vor den anderen „unerkandten Sünden“ aufzudecken und damit „der unrechtmäßigen Canonisirung [. . .] mit grösserm Ernst entgegen zutretten [sic!]“.57 Langes umfängliche Ausführungen, die unterm Strich doch das Tanzen unter gewissen Bedingungen als zulässig erachteten, reizten nun ihrerseits zum Widerspruch: Diesmal war es jedoch kein Theologe, sondern der Dresdner Tanz- und Exercitienmeister Johann Georg Pasch (1653–1710), der auf 53 Johann Christian Lange: Vernunfft-mäßiges Bescheidenes und Unparteyisches Bedencken über die Durch mancherley öffentliche Schrifften [. . .] angeregte Streitigkeit vom Tantzen [. . .]. Frankfurt und Leipzig 1704, 13 f. 54 Lange, Tantzen [s. Anm. 53], 77. 55 Daher jene „umb so sträfflicher zu achten sind/ weil sie nicht so wohl aus Tollheit und Dummheit wie die andern/ als vielmehr mit gutem Vorbedacht und aus affectirter Klugheit sündigen/ auch durch die stärckere Autorität ihres Exempels dem rechtvernünfftigen Wesen [. . .] einen weit grössern Schaden und Abbruch thun/ da sie zur Vest=Setzung menschlicher Tohrheit und Eitelkeit hiedurch kein geringes beytragen“ (Lange, Tantzen [s. Anm. 53] 77 f.). 56 Lange, Tantzen [s. Anm. 53], 86 f. 57 Lange, Tantzen [s. Anm. 53], 87.

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Drängen seiner Freunde in einer 475-seitigen Schrift zur Argumentation Langes Stellung nahm.58 Hier zeigt sich, in welchem Maße die ursprünglich akademisch geführte Debatte um das Tanzen die Gemarkung der Universitäten verlassen hatte und in weitere gesellschaftliche Kreise diffundiert war. In den folgenden zwei Jahrzehnten sollten sich zahlreiche weitere Vertreter des hallischen Pietismus publizistisch zur Tanz-Frage erklären, so dass sich nahezu zwei Dutzend Schriften nachweisen lassen.59 Die Tendenz lief eindeutig in Richtung einer generellen Verurteilung des Tanzens; nicht selten diente eben die Stellung zum „weltüblichen Tanz“ unter Pietisten als Ausweis rechter Gesinnung. All diese Auslassungen haben miteinander gemein, dass sie am Beispiel des Tanzes der Haltung gegenüber den Mitteldingen faktisch Bekenntnisrang einräumen und diese, als beobachtbaren Indikator für die individuelle Stärke des Glaubens, verhaltensnormierend nutzbar zu machen suchten. 5. Auswirkungen pietistischer Tanzkritik Die pietistische Auffassung zum Tanzen sorgte vor Ort in den Gemeinden oft genug für erhebliche Unruhe. Pietistisch gesinnte Laien kritisierten ihre Nachbarn für deren Lebenswandel – und im gleichen Atemzug jene Pfarrer, die diesem gottlosen Treiben keinen Einhalt geboten. Stellvertretend für derartige Auffassungen können die Äußerungen des Böhlitzer Schmieds Christoph Tostlöwe hinsichtlich der Bewertung des Tanzens herangezogen werden, die jener 1698 zu Papier brachte: [D]ieses Exercitium ist nicht von Gott, sondern von den Heyden erdacht, und in ihren Schauspielen zum öfftern getrieben worden. Es ist aber in Warheit ein recht närrisches Be- ginnen, und kan bey den Christen (darunter aber verstehe ich die Nahm=Christen nicht, sondern die That=Christen) keineswegs gedultet werden. Denn die Christum angehören, die creutzigen ihr Fleisch samt der Lüsten und Begierden (denn von ihnen stehet nicht, das sie tantzen und Wohllüsten leben) und schaffen ihre Seeligkeit mit Furcht u. Zittern: geschweige daß sie ihre Glieder zur Wollust, zum Mißiggang, od zu Wercken der Ungerechtigkeit, und Geilheit begeben solten.60 58 Johann Pasch: Beschreibung wahrer Tanz-Kunst, Nebst einiger Anmerckungen über Herrn J. C. L. P. P. zu G. Bedencken gegen das Tantzen, und zwar wo es als eine Kunst erkennet wird [. . .]. Frankfurt/Main 1707. Zur Entstehungsgeschichte vgl. Stephanie Schroedter: Vom ‚Affect‘ zur ‚Action‘. Quellenstudien zur Poetik der Tanzkunst vom späten Ballet de Cour bis zum frühen Ballett en Action. Würzburg 2004, 58 f. 59 Allein zwischen 1680 und 1720 ist über ein Dutzend Publikationen wider das welt-übliche Tanzen erschienen. Darunter finden sich Werke von Siegmund Beerensprung (1700), Christian Heinrich Brömel (1701), Egidius Günther Hellmund, Friedrich Eberhard Collin und Johann Martin Schamelius (alle drei 1719). Teils wurden aber auch ältere Werke – wie das Bedenken vom Tantzen des Nördlinger Superintendenten Georg Albrecht (1601–1647) – in Halle wieder aufgelegt. 60 Christoph Tostlöwe: „Das 60. Capitel. Vom Tantzen.“ In: Ders.: Reise=Beschreibung nach

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Diese Ausführungen verweisen deutlich auf die Rezeption der pietistischen Literatur (und hier v. a. auf die erwähnten Einlassungen Franckes) zum Thema,61 weichen aber in Nuancen vom dortigen rigorosen ethischen Anspruch ab. Einem allgemeinen Verbot des Tanzens steht Tostlöwe skeptisch gegenüber, ja, er halte es für falsch, das Tanzen generell zu verbieten. Vielmehr solle man durch eigenes Vorbild und Belehrung anhand der heiligen Schrift auf die Tänzer einwirken und überdies der Wirkung des christlichen Glaubens vertrauen.62 Vor allem aber waren es pietistisch gesinnte Pfarrer, die nach dem Vorbild Franckes versuchten, ihre Gemeinden zum rechten Wandel zu führen. Dabei wurde die negative Bewertung der Mitteldinge als ein unverzichtbarer Prüfstein wahrhaft christlicher Frömmigkeit angesehen.63 Dissens gab es bezüglich der Konsequenzen, wobei insbesondere die praktizierten Kirchenzuchtmaßnahmen umstritten waren. Genauer gesprochen, war es deren eigenmächtiger Gebrauch durch die Ortsgeistlichen, der für Turbulenzen sorgte, denn eine Abweisung von Beichte und Abendmahl stellte keine Marginalie dar: Immerhin konnte der Geistliche damit direkten Einfluss sowohl auf das Seelenheil als auch die Soziabilität seiner Pfarrkinder nehmen und letzten Endes deren

dem himlischen Jerusalem. Böhlitz 1698, Bl. 262v-266r, hier 264r. Hierbei handelt es sich um ein Buchmanuskript, erhalten im Archiv der Franckeschen Stiftungen zu Halle AFSt/H B 22. 61 Tostlöwe verweist an dieser Stelle auch auf den schon erwähnten Traktat Melchior Ambachs. 62 „Denn ich erinnere mich daß etliche im Anfang sehr Stutzig herinnen wurden, als ihnen die Welt=Lust, so balde solte benommen werden, und finde es für gut, dieses noch ein wenig (ob wohl mit seuffzen) zu übersehen, und ihnen im Anfange, als blinden etwas zu übersehen, und nachzulaßen, wie Gottes barmhertzigkeit an uns gethan hat (absonderlich bey Hochzeiten etc. aber in bierschäncken, ists schon noch gefährlicher) [. . .] Allein, hiebey soll niemand gedencken, daß ich mich einiger Herrschafft über eines andern sein Gewißen anmaßen solte, sondern laße es einem jeden frey; allermeist aber denen, welche keine Freyheit mehr finden, die Tantzen im Beichtstuhl zu absolviren so lange biß sie das vor Sünde erkennen, bekennen und unterlaßen. Daß will ich aber noch sagen[. . .], daß ichs für beßer halte, wenn man die Leute nur dahin bringen, und aus der h. Schrifft überzeigen kann, daß das Leben, wie es bißhero unter uns geführet worden, nicht Christlich sey, und daß wirs forthin anders anstellen müßen, und eine Sünde nach der andern läßen, täglich in bösen ab- und in guten zunehmen. So ferne es nun meine od des andern sein rechter Ernst also ist, und sie in Christenthum sonst fleißig fortgehen, so werden sie auch endlich zufälliger Weiße an den Reigen kommen, daß sichs bey ihnen selber (vermöge ihres Gewißens nach der innern Überzeugung) gar wohl verbiethen wird, also daß sie auch nicht mehr können ob sie wohl solten tantzen. Denn auch dieses haben wir aus eigener Erfahrung also gelehret (wer aber in Christenthum sonst nicht weiter gehet, ob er gleich mit dem Munde viel Wesens davon machet, der wird sich auch das Tantzen nicht verbieten laßen)“ (Tostlöwe, Vom Tantzen [s. Anm. 60], Bl. 265r266r). 63 „Der sittliche Rigorismus [. . .] ist für den Pietismus zum Kennzeichen geworden. Viele pietistische Pfarrer versuchten in ihren Gemeinden, die herkömmliche Fest- und Feiertagskultur zu verändern und Tanz, Spiel, gemeinschaftliches Essen und Trinken zu verteufeln und wenn nötig mit obrigkeitlicher Hilfe zu unterbinden“ (Ulrike Gleixner: Pietismus und Bürgertum. Eine historische Anthropologie der Frömmigkeit Württembergs 17.-19. Jahrhundert. Göttingen 2005, 62).

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Existenz gefährden.64 Teilweise scheuten auch lutherisch-orthodox gesinnte Geistliche nicht davor zurück, schon bestehende gesellschaftliche Vorbehalte und die damit verbundenen Ehrminderungen aufzugreifen und ihrerseits zu kontinuieren. Dies traf gerade die Schauspieler und Musikanten, die zu den unehrlichen Leuten gezählt wurden; ein Umstand, der dazu angetan war, die pietistische Propaganda gegen Theater und Oper zu flankieren. Bisweilen überzogen die Geistlichen jedoch und überschritten dabei ihre Kompetenzen, dann gerieten sie nicht selten in Konflikt mit den geltenden Ordnungen respektive selbige setzenden Obrigkeiten. Nichtsdestotrotz griffen pietistisch gesinnte Geistliche gegenüber ihren Gemeinden immer wieder zu diesem disziplinierenden Mittel: So geriet Johann Crasselius (1652–1724), seit 1690 Pfarrer in Saara (bei Altenburg), über seine Kritik an den Mitteldingen in Streit mit Teilen der Gemeinde. Aus seiner Sicht Unbußfertigen verweigerte er die Teilnahme am Abendmahl und predigte scharf gegen das Tanzen, welches er sich auch durch das Altenburger Konsistorium nicht untersagen ließ. Crasselius wurde nach einem Streit mit dem Konsistorium (er hatte den Generalsuperintendenten Heinrich Matthias von Brocke [1646–1708] wegen dessen wohlwollendender Haltung dem Tanzen gegenüber stark angegriffen) 1698 suspendiert und im Jahr darauf entlassen.65 Christoph Matthäus Seidel (1668–1723) führte seit Amtsantritt 1691 in seiner Gemeinde Wolkenburg einen verbissenen Kampf um die Durchsetzung der Sonntagsheiligung. Dabei ging er besonders gegen Tänzer und Spielleute vor, welche er von der Beichte abwies und ihnen damit den Zugang zum Abendmahl verwehrte.66 Zudem publizierte Seidel seine Ansichten zu den Adiaphora sehr umfänglich.67 Als Pfarrer des Dorfes Kieslingswalde in der Oberlausitz untersagte Johann Wilhelm Kellner von Zinnendorf (1665–1732) seinen Pfarrkindern das Tanzen als sündliches Vergnügen und verkündete erstmals im September 1704 von der Kanzel, jeden Tänzer nicht mehr zu Beichte und Abendmahl zuzulassen. Zudem hatte der Pfarrer sowohl den Dorfschulzen als auch den Musikanten aufgefordert, künftig keine Musik in

64 „Der Pastor besaß die Macht, solchen Personen den Zugang zum eigenen Ehrgefühl und in einem sehr realen Sinn zur Gemeinschaft zu verweigern, die Verletzungen sozialer Werte und kulturell festgelegter Rollen, wie sie die Autoritäten verstanden, begangen hatten. Er konnte Schande über sie bringen, sie ihrer Ehre berauben und sie in einen, aus ihrer Sicht mental gefährlichen Zustand versetzen“ (David Warren Sabean: Selbsterkundung. Beichte und Abendmahl. In: Die Entdeckung des Ich. Die Geschichte der Individualisierung vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Hg. v. Richard van Dülmen. Köln [u. a.] 2001, 145–162, hier 155 f.). 65 Vgl. dazu die Ausführungen bei Theodor Wotschke: Der Pietismus in Thüringen. In: Thüringisch-Sächsische Zeitschrift für Geschichte und Kunst 18, 1929, Nr. 1, 1–56, hier 36 f. 66 Terence McIntosh: Pietism, Ministry and Church Discipline: The Tribulations of Christoph Matthäus Seidel. In: Politics and Reformations: Histories and Reformations. Essays in Honor of Thomas A. Brady jr. Hg. v. Christopher Ocker [u. a.]. Leiden 2007, 397–424. 67 Christoph Matthäus Seidel: Christliches Gespräch von Zechen, Schwelgen, Spielen und Tantzen [. . .]. Halle 1698.

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Kretscham mehr zuzulassen, was der Gutsherr, Ehrenfried Walther von Tschirnhaus (1651–1708), als Versuch interpretierte, das Tanzen generell abzuschaffen und dies als Eingriff in die Rechtsprechung der weltlichen Obrigkeit wertete. Darüber gerieten beide nun in heftige Streitigkeiten, die sich über Jahre erstrecken und weite Kreise ziehen sollten.68 Dieser Pfarrer ließ weiterhin „keinen, der das Tantzen liebet, fördert und übt, zur Beicht und heil. Abendmahl“ zu und ignorierte sämtliche amtlichen Befehle, von der eigenmächtigen Verhängung des Kirchenbannes abzusehen und die Resolvierten – im Herbst 1705 immerhin rund drei Dutzend Personen69 – wieder anzunehmen. Ein im April 1706 ergangener königlicher Befehl an den Pfarrer sich „bey Straffe der remotion, in Zukunfft [zu] enthalten“, zeitigte seitens des Pfarrers keine Folgen, vielmehr betrachtete sich Kellner von Zinnendorf in dieser Angelegenheit gegenüber der weltlichen Gewalt als nicht weisungsgebunden. Nicht zuletzt aufgrund dieser renitenten Haltung verlor Kellner schließlich im April 1709 sein Pfarramt, breitete aber noch Jahre später seine Position publizistisch aus.70 Neben den Pfarrern litten auch die von Halle vermittelten pietistischen Hauslehrer unter den Zuständen an ihren Dienstorten. Vor allem die an adligen Höfen tätigen Hofmeister waren über die Wertschätzung des Tanzens, die unkritische Haltung der Hausherren und die Anstellung von Tanzlehrern entsetzt und zeigten sich um die Sinnhaftigkeit ihrer Tätigkeit vor Ort besorgt.71 Gleichwohl wurde das Tanzen von der Masse adliger Zeitgenossen als wesentliches Element ständischer Conduite geschätzt und damit als unverzichtbarer Bestandteil der Erziehung angesehen:

68 C. A. Schimmelpfennig: Zur Geschichte des Pietismus in Schlesien von 1707–1740. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte Schlesiens 9, 1868, Nr. 2, 218–269, v. a. 240–243; Theodor Wotschke: Urkunden zur Geschichte des Pietismus in Schlesien (Fortsetzung). In: Jahrbuch des Vereins für schlesische Kirchengeschichte 22, 1931, 103–131. Zum Disput mit von Tschirnhaus vgl. Ehrenfried Walter von Tschirnhaus: Gesamtausgabe. Reihe II., Abt. 5: Die Auseinandersetzung mit dem Pfarrer Johann Wilhelm Kellner von Zinnendorf (Tanzgreuel). Hg. v. Eberhard Knoblauch. Stuttgart 2002, 1–248. 69 Knoblauch, Tschirnhaus Gesamtausgabe [s. Anm. 68], 97 (Brief Nr. 38). Als vorläufige Lösung des Abstinenz-Problems wurde es den angewiesenen Einwohnern gestattet, beim Pfarrer in Hochkirch, Christoph Wilde, zu Beichte und Abendmahl zu gehen. 70 Johann Wilhelm Kellner von Zinnendorf: Tantz=Greuel/ Das ist: Vollkommene Acta Publica Was zwischen dem gelehrten und Welt=bekandten Mathematico, Tit. Hrn. Ehrenfried Walther von Tschirnhauß, auf Kießlingswalda und Stoltzenberg und dessen Pfarrern binnen fünff Jahren darüber gestritten; [. . .]. Angstburg 1716. 71 „Anbey kan nicht umhin Ew. HochEhrw. zu berichten, wie der vorige Hofemeister noch bis dato neben mir stehet, der zieml. der Welt ergeben und die mir nunmehro anvertraute Jugend im Tantzen unterrichtet, ich fürchte darummehro, daß das wenige Gute, daß durch meinen wenigen Dienst etwa möchte geschaffet werden, dadurch wenn es sollte fortgesetzet werden, möchte wieder niedergerissen werden.“ (Johann Gottlieb Töllner an August Hermann Francke, Großendorf, 08.01. 1714 [Stab/F 21,1/2 : 31])

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Das Tantzen ist deswegen vor einen jungen Cavalier [. . .] nöthig. Weil es selbigem bey allen Occasionen, es sey bey Visiten vornehmer Leute, bey deren Begleitung, bey der Tafel und ordinairen Conversationen stets bedienet. Man kann es einem auch gleich ansehen, ob er dieses Exercitium getrieben hat, und werden junge Leute hieraus beurtheilet, auch dienet solches, daß man alle andere Exercitia sich viel anständiger acquiriret.72

Nicht zuletzt deshalb hatte sich August Hermann Francke „lebensklug“ verhalten und in Halle stillschweigend eingelenkt: Den Erfordernissen ständischer Erziehung gemäß erlernten die adeligen Zöglinge entgegen dem pietistischen Kanon fechten, tanzen und reiten.73 Unter den Pietisten sorgten vermeintlich tolerante Äußerungen Franckes zeitweise für Aufregung und irritierte Nachfragen in Halle.74 Wie sehr den Anhängern pietistischer Ideen das Thema unter den Nägeln brannte, zeigte sich auch bei August Hermann Franckes „Reise ins Reich“ im Jahre 1717/8: So schilderten anlässlich des Besuchs beim Groß-Gerauer Pfarrer Eberhard Philipp Zühl (1662–1730) mehrere anwesende Geistliche ihre Nöte im Umgang mit dem Tanzvergnügen der Bevölkerung: „Sie klagten alle, daß sie im Beichtstuhl mit denen nicht auszukommen wüßten die da, insonderheit auff dem Kirmeß, tantzten da es auch beginne von der Obrigkeit ihnen auffgeleget zu werden, daß sie solche admittiren sollten.“75 Freilich vermochte ihnen Francke bei dieser Gelegenheit

72 Wolff Bernhard von Tschirnhauß: Getreuer Hofmeister auf Academien und Reisen, Welcher Hn. Ehrenfried Walthers von Tschirnhauß Für Studierende und Reisende, sonderlich Standes=Personen und Deroselben Hofmeister, zu einer sichern Anleitung zur anständigen Conduite auf Universitäten und Reisen, in Manuskripto hinterlassene XXX. Nützliche Anmerckungen mit XLVI. Erläuterungen und XII. Beylagen vermehrter, wohlmeynend ans Licht stellet. Hannover 1727, 105 f. 73 Diese Art der Wertung nach sozialem Status ist in der Forschung unterschiedlich bewertet worden: Die einen heben den zur Implementierung pietistischer Vorstellungen notwendigen Pragmatismus hervor: „Er [Francke; D. E.] hatte Sinn für die konkreten Notwendigkeiten und gab der Adelserziehung in seinem Pädagogium, einem Teil des Waisenhauses, einen anderen Zuschnitt als der Heranbildung von Bürgersöhnen, weil die Aufgaben im Leben beider Stände verschieden waren“ (Martin Schmidt: Pietismus. Stuttgart [u. a.] 31983, 78). Andere sehen dieses Verhalten als klaren Beweis für die Inkonsequenz und Widersprüchlichkeit der pietistischen Patriarchen Spener und Francke: „Den Werkzeugen des Teufels in den beiden oberen Ständen schmeichelten sie, über das arme Volk aber fielen sie unbarmherzig her“ (Erhard Selbmann: Die gesellschaftlichen Erscheinungsformen des Pietismus hallischer Prägung. In: 450 Jahre Martin-LutherUniversität Halle-Wittenberg. Bd. 2: Halle 1694–1817. Halle/Saale 1952, 59–93, hier 75). 74 So erkundigte sich der Leipziger Handelsmann Augustin Frenzel im August 1698 bei Francke nach dem Wahrheitsgehalt der Nachricht, wonach Francke das Tanzen für Standespersonen billigen würde (Stab/ F 9/14 : 15). Wenige Tage später fragte der Hamburger Pietist Thomas Joachim Höpffner in Halle nach den Inhalten der Unterweisung in Halle, da ihm das Gerücht zu Ohren gekommen war, dass Standespersonen hier in „fleischlichen Übungen“ wie Reiten, Fechten und v. a. Tanzen unterrichtet würden (AFSt/H C 80 : 2). 75 Francke-Tagebuch, 15.10.1717 (AFSt/H C 170 : 1, 26).

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lediglich Trost zuzusprechen und die Rechtmäßigkeit der Skrupel zu betonen.76 Zeitgleich kam es in Essen aufgrund unterschiedlicher Auffassungen hinsichtlich der Tanzfrage zwischen zwei Predigern zu einer heftigen Auseinandersetzung: David Sigismund Bohnstedt (1685–1756) erregte sich derart über die billigende Haltung seines Kollegen Johann Gottfried Kopfstadt (1655– 1717) hinsichtlich des Tanzens, dass er seinem Unmut von der Kanzel herab Luft machte.77 Offenbar wurde der Streit nur durch den Tod Kopfstadts im selben Jahr beendet. Auch in den Folgejahren gab es immer wieder einzelne Versuche, das Tanzen auch bei den von der Obrigkeit gestatteten Anlässen zu diskreditieren und zu unterbinden. Dabei konnten auch lokale Meinungsverschiedenheiten weite Kreise ziehen: So stritt der Pfarrer Heinrich Engelbert zur Westen (1702–1773) mit seiner Gemeinde im unweit Essen gelegenen Sprockhövel 1738 darüber, ob das Tanzen zu Hochzeiten und Kindstaufen erlaubt sei oder nicht und publizierte seine diesbezüglichen Ansichten. Im Jahr darauf erschien ein 150-seitiges Gutachten des evangelisch-lutherischen Ministeriums mit dem Titel Schrifftmäßige Gedancken von dem heutigen Weltüblichen Tanzen, welches wohl unter Federführung des Direktors der Essener Stadtschule, Johann Heinrich Zopf (1691–1774), entstanden war und auch von den Predigern Conrad Schmidt und David Sigismund Bohnstedt unterzeichnet wurde.78 Hierinnen sekundierten die Verfasser dem Sprockhövelner Pfarrer zur Westen, fassten die gängigen Argumente gegen das „weltübliche Tanzen“ zusammen und vertraten in jedweder Hinsicht das Tanzen ablehnende Ansichten.79 Aus diesen begründeten sie auch das Recht eines Pfarrers, „hart76 „Ihnen ward daher in genere angewiesen, ia in hertzlicher Liebe und Sanfftmuth so wohl gegen die Personen selbst als gegen die Obrigkeit zu verfahren: denn auch solche Leute nicht schlechthin abzuweisen, sondern vielmehr ihnen anzuzeigen Daß man sie mit allen Freuden zum Abendmahl laßen wolle, sie bedürfften aber noch einer praeparation p solches sey auch der Obrigkeit zu antworten. Letzlich sollten sie sich dadurch in ihrem Ampte nicht niederschlagen laßen, sondern frisch u frölich vor den Augen ihres Ertzhirten aus u eingehen, der zur Rechten Gottes erhaben sey“ (Francke-Tagebuch [s. Anm. 75]). 77 Theodor Wotschke: Rumpaeus Briefe an Löscher. In: Jahrbuch des Vereins für Westfälische Kirchengeschichte 31, 1930, 125–139, hier 131 f. 78 Zopf hatte schon 1735 in einem lateinischen Programm Dissertatio de Pseud=Adiaphora saltatoria Stellung zur Tanzfrage genommen; Bohnstedt legte im Folgejahr seine Schriftmäßige Erörterung wichtiger Gewissensfragen (Jena 1736) vor, worin er sich ausführlich der Tanzfrage zuwandte. 79 „Der heute Welt=übliche Tantz ist nichts anders/ als eine läppische/ thörrichte und affectirte Bewegung des gantzen Menschen/ die da entstehet entweder aus muthwilligem Triebe des Fleisches/ oder aus einem Fleiß der Welt zu gefallen/ oder aus einer Furcht die Welt nicht zu erzürnen und ihre Schmach zu tragen“ (Eines Evangelisch-Lutherischen Ministerii Der Kayserlichen Reichs-StadtEssenSchrift-mäßige Gedancken Von dem heutigen Weltüblichen Tantzen : Wobey zugleich erörtert wird, Wie sich ein Prediger zu verhalten habe, in Verwaltung der Absolution und des H. Abendmahls gegen hartnäckige Liebhaber des Tantzens ; Besonders, wie der darüber entstandene Streit Der Gemeine zu Sprockhövel In der Graffschaft Marck heilsamlich abzuthun sey. Essen 1739, 18).

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näckige und halsstarrige Täntzer“ nach Belehrung und Vermahnung zeitweise vom Abendmahl auszuschließen. Widerspruch erhielten die Tanzgegner durch ein umfängliches Gutachten der Rostocker Universität vom 27. August 1738, in dem zur Westens Ansicht als Praxis und Gewohnheit der evangelisch-lutherischen Kirche zuwiderlaufender „Lehr-Irrtum“ bezeichnet wurde. Sein übermäßiger Eifer und die kategorische Ablehnung des – von der Obrigkeit geduldeten und gebilligten – Tanzens entspreche nicht theologischer Klugheit; vielmehr schaffe sein eigenmächtiges Verhalten, nämlich die Zurückweisung der Tänzer von Beichte und Abendmahl, Verdruss und Ärgernis. Einer Amtsenthebung redete man dennoch nicht das Wort; nur für den Fall, dass „der Autor auf keine Art und Weise zu besserer Begreifung zu bringen sey, wird eine christliche Obrigkeit schon wissen, andere Mittel zur Hand zu nehmen, und nöthige Schärfe zu gebrauchen. [. . .] Dazu wird es ia hoffentlich der Autor dieser Predigt nicht kommen lassen“.80 6. Beispiele für obrigkeitliche Maßnahmen gegen das Tanzen nach 1700 Sahen sich theologische Vertreter des Pietismus in ihrer Kritik zumeist auf das Feld der Rhetorik beschränkt, lag dies im Falle pietistisch gesinnter Landesherrn anders. Dann konnte die pietistische Abneigung gegen das Tanzen deutlich mehr Gewicht erhalten, insbesondere wenn fromme Grafen tanzkritische Positionen mittels Verordnung zur offiziellen Politik in den von ihnen kontrollierten Territorien erhoben.81 Ein markantes Beispiel hierfür stellt zweifelsohne die offizielle Einführung des Halleschen Pietismus durch Heinrich II. von Reuß-Obergreiz (1697–1722) dar. Dieser „landesherrliche Pietismus“ äußerte sich ab 1716 im Erlass zahlreicher Verordnungen zur Beseitigung aufgetretener Missbräuche und Verstöße sowie zur Beförderung des Christentums sowie der Wiederherstellung der „guten Ordnung“, als dessen Garant der Landesherr gelten sollte.82

80 Abgedruckt bei Johann Gottlob Carpzov: Die geistliche Fursichtigkeit der Christen; in LX. Betrachtungen, bey Erklärung so viel besonders hierzu erlesener Sprüche Heil. Schrift. Leipzig, Lübeck 1753, 972–1000, hier 999. Als Präzedenzfall wird hier auf das erwähnte Schicksal Crassels in Saara verwiesen. 81 Zuvor hatten mancherorts schon deutliche Beschränkungen des Tanzwesens bestanden, die unter dem Einfluss pietistischer Geistlicher noch einmal deutlich verschärft werden sollten. So wurde z. B. am 31.03.1703 für Hessen-Darmstadt ein fürstliches Dekret mit dem folgenden Titel erlassen: „Verordnung, daß das noch zugelassene Tantzen an Hochzeiten wegen der augenblicklich schweren Zeiten ganz abgeschafft, dagegen Vocal- und Instrumental-Music in Bescheidenheit gestattet ist“. Diese strengen Bestimmungen sollten in Hessen-Darmstadt über ein Jahrzehnt hinweg Bestand haben. Vgl. dazu Rüdiger Mack: Pietismus und Frühaufklärung an der Universität Gießen und in Hessen-Darmstadt. Gießen 1984, 119. 82 Vgl. dazu v. a. Karl Collmann: Die kirchlichen Reformbestrebungen Graf Heinrichs II. von Obergreiz. In: Reussische Forschungen. Weida 1908, 23–56.

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Dass der Verurteilung des Tanzens dabei eine so herausgehobene Stellung zukam, ist vor dem Hintergrund der geschilderten Diskurse nicht wirklich verwunderlich. Inwieweit eine persönliche Aversion des jungen Grafen gegen das Tanzen hierbei eine Rolle spielte, muss zwar Spekulation bleiben, jedoch darf mit Sicherheit festgehalten werden, dass der hallische Standpunkt hinsichtlich der Mitteldinge tiefen Niederschlag im Denken Heinrichs II. gefunden hatte.83 Den Anfechtungen, welchen der junge Graf standesbedingt ausgesetzt war, begegnete er entschieden und mit deutlicher Verweigerung. Als Zeugnis dessen kann ein Brief Heinrichs II. gelten, den er im Nachgang seines Regierungsantritts 1715 an Heinrich Julius Elers (1667–1728) sandte und in welchem er die Geschehnisse anlässlich eines Balls wie folgt ausbreitete: Nun Gottlob ist es vollbracht, Spielen, Singen, Essen, Springen. Der höchste Gott hat mir geholffen, seine Krafft ist meine Stärke gewesen, Donnerstags ist der Ball gewesen alwo der König auch gewesen, u. sich fest vorgenommen mich dantzen zu machen. So haben sie alle vor Essen gespielt, bey der Mahlzeit, isst der König sehr gnädig gegen mir gewesen, u. hatt soll der Gnädige abgewandt, daß er mich nicht forciret zum Drincken aber seine Ministres wolten, ich habe auch an dem Tisch mehr gebetet als geredet u. gegessen, der höchste der da Treue hatt mich erhöret. Nach Tische sind sie wiederumb aufgestunden Da sagete der König ich müste in würde Tantzen, ich aber bat ihn er solte mich darmit verschonen, indem ich mir ein gewissen machte, so frug er mich wo es in der Bibel verbotten wäre, u. ob nicht David auch dedanzet hätte, worauf meine Mama zu ihm kam u. batt ihn er solte mich nur gnädigst verschonen, welches er aber nicht wolte, der König ging mich an zu flatiren, ich sagte aber, ich wolte meinen Leib ihm geben wenn er wolte aber meine Seele müste ich Gott geben. Dieses alles aber u. noch viel mehr hulff nicht, er nahm mich bey der hand u. führte mich auf den Tantzplatz, ich solte meine Frau aufzucken, ich aber bückete mich vor ihm u. ging zurück da er das sahe, nahm er meine Frau bey der Hand, u. mich, u. führete uns hin, zog uns mit der Hand wieder daß wir einen reverenten machen musten, u. führete uns so fort. Ich aber blieb stehen u. danzete [nicht] gab meiner Frau die Hände, machete ihren reverenten u. ging weg. Hernachmahls danzeten sie alle ich aber durch die Gnade Gottes blieb unangefochten. Darumb sey Gotte ewig Lob u. Danck gesaget, er gebe mir nun ferner treue, daß ich nun im Glauben fortfahren die Welt hasse u. alles was darinnen ist mich aber in ihm bewahren.84 83 Immerhin hatte Heinrich II. ab 1710 ein Studium in Halle absolviert. Zuvor hatte jedoch schon sein pietistisch gesinnter Vormund Heinrich XXIV. von Reuß-Köstritz (1681–1748) Einfluss auf Heinrichs Denken genommen. Vgl. dazu Anke Brunner: Aristokratische Lebensform und Reich Gottes. Ein Lebensbild des pietistischen Grafen Heinrich XXIV. Reuß-Köstritz (1681– 1748). Herrnhut 2005. 84 Heinrich II. von Reuß-Obergreiz an Heinrich Julius Elers, Greiz, 13.11.1715 (AFSt/H A 168 : 95). Und zuvor hatte er sich gegenüber Francke folgendermaßen verlauten lassen: „Gott hat viel an mir gethan ich will nun auch durch seine Gnade einen gantz andern Wandel suchen als den bußfertigen, will Gott über alles fürchten u. lieben, Christo nachfolgen, die Welt hassen, u. Gott im innersten meines hertzens heiligen, dazu wolle der grosse Gott seinen Seegen geben.“ (Heinrich II. von Reuß-Obergreiz an August Hermann Francke, Greiz, 04. [M.?] 1715 [AFSt/H 168 : 98]).

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Hier wurde die Widerstandsleistung gegen einen weltlichen Potentaten bzw. die erfolgreiche Bewährung gegenüber der weltlichen Anfechtung herausgestellt. Insbesondere die am Schluss des Briefes geäußerte Ablehnung der „Welt“ sollte Konsequenzen für die nachfolgende Neuordnung der Grafschaft und die Gestaltung der obrigkeitlichen Ordnungen haben. Zur Umsetzung seiner Reformpläne hatte Heinrich II. einen überaus geeigneten Helfer gewonnen, nämlich den kurz zuvor aus Wittgenstein geflohenen Kanzleirat Otto Heinrich Becker (1667–1723). Dieser konnte bereits auf anderthalb Jahrzehnte Erfahrung bei der administrativen Umsetzung pietistischer Reformen zurückblicken: Ab 1699 war Becker als Kanzlei- und Konsistorialrat am Hof Graf Christian Ludwigs von Waldeck (1635–1706) tätig gewesen und hatte in dieser Funktion den Versuch der Umsetzung einer „Generalreform“ nach den Vorstellungen August Hermann Franckes unternommen.85 Aufgrund dynastischer Veränderungen verschlechterte sich die Position der Pietisten in Waldeck, und im Juli 1711 wurde ihnen mit einem landesherrlichen Edikt „contra Fanaticos et pietistas“ jedwede Handlungsmöglichkeit genommen.86 Becker selbst sah sich als „Pietist“ angegriffen und musste sechs Wochen nach Erlass des Edikts Waldeck verlassen.87 Daraufhin wandte er sich nach Wittgenstein und trat dort in die Dienste Ernst Casimirs von YsenburgBüdingen (1687–1749). Diesen unterstützte er als Kanzleirat bei der Peuplierung der Grafschaft, wozu im März 1712 ein von Becker entworfenes Toleranzedikt, das „Büdinger Patent“, erlassen wurde, welches aufgrund seines Angebots der Separatistenduldung zunächst für reichsweites Aufsehen und schließlich für Verstimmung sorgte.88 85 Darunter fielen die Erneuerung der Waldeckschen Kirchenordnung von 1556, eine Reform des Spitalwesens sowie 1704 die Gründung eines Predigerseminars in Flechtdorf und eine erneuerte Schulordnung. Vgl. dazu Wolfgang Breul: August Hermann Franckes Konzept einer Generalreform. In: Geschichtsbewusstsein und Zukunftserwartung in Pietismus und Erweckungsbewegung. Hg. v. dems. u. Jan Carsten Schnurr. Göttingen 2013, 69–83. Zum Pietismus in Waldeck s. Wilhelm Irmer: Geschichte des Pietismus in der Grafschaft Waldeck. Greifswald 1913, sowie angekündigt Wolfgang Breul: Generalreform. August Hermann Franckes Universalprojekt und die pietistische Neuordnung in der Grafschaft Waldeck. [Drucklegung in Vorber.]. 86 Der Wortlaut des Edikts ist abgedruckt bei Louis Curtz: Die kirchliche Gesetzgebung im Fürstenthum Waldeck. Arolsen 1851, 195–199, sowie bei Irmer, Geschichte [s. Anm. 85], 131– 135. 87 Dazu Helga Zöttlein: Dynastie und Landesherrschaft. Politischer Wandel in der Grafschaft Waldeck zwischen 1680 und 1730. Bad Arolsen 2004, 137–154. 88 Abdruck des Edikts bei Matthias Benad: Toleranz als Gebot christlicher Obrigkeit. Das Büdinger Patent von 1712. Hildesheim 1983, 45 ff. Gleich unter dem ersten Paragraphen wurde „Jedermann vollkommene Gewissens=Freyheit“ gewährt, auch denen, „so sich zu einer andern/ als der Reformirten Religion bekennen/ oder die auß Gewissens=Scrupel sich gar zu keiner äußerlichen Religion halten“, was einem Verstoß gegen das im Reichrecht verankerte Sektenverbot gleichkam. Folglich kam es vor dem Reichskammergericht zu einem Verfahren, an dessen Ende die Verurteilung zu einer Geldstrafe stand nebst der Aufforderung, die tolerante Duldungspolitik umgehend einzustellen. Vgl. dazu Heinhard Steiger: Die Gewährung der Gewissensfreiheit durch Ernst Casimir von Ysenburg-Büdingen im Jahr 1712. In: FS Walter Mallmann. Hg. v. Otto Trifterer. Baden-Baden 1978, 293–318.

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Ende 1714 wechselte Becker schließlich nach Greiz, wo er auf den pietistisch motivierten Grafen Heinrich II. traf, der ihm mit der Stelle eines Kanzlei- und Konsistorialdirektors eine selbst den Superintendenten überragende Position übertrug. Im Folgejahr wurde eine neue Konsistorialordnung89 erlassen, welche das Hauptaugenmerk des Konsistoriums auf die Aufsicht der Pfarrer und Schuldiener sowie die Förderung der Hauskirchen legte. Die Geistlichen hatten sich in regelmäßigen Abständen zu Kolloquien zusammenzufinden, die zur gemeinsamen Erbauung und Beratung über den Zustand der Kirchen und Schulen gedacht waren. Zudem wurden die Pfarrer aufgefordert, Bericht über den geistlichen Zustand ihrer Gemeinden zu erstatten. Hatte sich diese erste Verordnung nahezu ausschließlich an das kirchliche Personal gerichtet, sollte sich das 1717 erlassene Greizer Policey=Mandat auch an die Bevölkerung wenden.90 Prominent war dabei die Sanktionierung „leichtfertigen und üppigen Tantzen[s] und Springen[s]“, die in den hoheitlichen Ordnungen grundsätzlich bis zum Ende des 18. Jahrhunderts Bestand haben sollte. Die Geistlichen sollten ihr Engagement gegen „die Thorheit des närrischen Herumhüpffens“ intensivieren und dem Kirchenvolk die Unchristlichkeit des Tanzens drastisch vor Augen führen.91 Bei der bloßen Veranschaulichung sollte es indes nicht bleiben, denn für den Fall der Uneinsichtigkeit ließ Heinrich II. harte Sanktionen androhen: Dabey sie ihnen denn anzudeuten/ daß/ wer sich an solche Vorstell- und Vermahnungen nicht kehren würde/ derselbe/ wenn er gnugsam unterrichtet/ und sich nicht bessern will/ nach dem Exempel der ersten Christen/ vor keinen Christen gehalten/ und vom Heil. Abendmahl/ Gevatterschafft und andern Christl. Actibus, als welche allein vor Christen gehören/ nach dem Befehl des Apostels 1. Cor.V, 9.11.13 ausgeschlossen werden solle.92

Vor Ort kam es aufgrund der erlassenen Mandate und Verordnungen mitunter zu erheblichen Irritationen, die ihre Ursache nicht selten in Unklarheiten über die Reichweite der obrigkeitlichen Verordnungen hatten. So beschwerten sich 1718 die adligen Bosischen Gerichte zu Elsterberg beim Greizer Konsistorium über den Pfarrer des Ortes Schönbach.93 Wolfgang

89 Abgedruckt bei Hans-Georg zu Schönaich-Carolath: Das landesherrliche Kirchenregiment in Reuß-Greiz 1560–1716. Jena 1938, 165–168. 90 ThStA Greiz, Mandate, Gesetze und Verordnungen (MGV). Bd. 7, 72–73v, Nr. 152. 91 „[S]o sollen Unsere Prediger zum öfftern ihren Zuhörern die Thorheit des närrischen Herumhüpffens/ vornehmlich aber den Greuel in den Augen des heiligen GOttes bey dem heut üblichen Tantzen vorstellen/ und sie dabey unterrichten/ wie sich dessen kein wahrer Christ [. . .] teilhafftig machen könne“ (Greizer Policey-Mandat [s. Anm. 90], 73r). 92 Greizer Policey-Mandat [s. Anm. 90], 73v. 93 „Acta, die Beschwerde der adeligen Bosischen Gerichte zu Elsterberg gegen den Pfarrer Johann Wolfgang Dreßel zu Schönbach in pto. Daß er einige Kunstdorfer Täntzer vom Beichtstuhl abgewiesen. Ao 1718“ (ThStA Greiz, Konsistorium A. Rep. C. Kap. II C 26 No. 16).

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Dreßel (1671–1738) hatte einige Einwohner aus dem benachbarten Cunßdorf unter Verweis auf das gräfliche Mandat nicht zur Beichte zugelassen und ihnen damit den Zugang zum Abendmahl versagt – und das, obwohl Cunßdorf sich gar nicht im Herrschaftsbereich des Reußischen Regenten befand. Allerdings waren die Einwohner Cunßdorfs nach Schönbach eingepfarrt, weshalb der Pfarrer meinte, sie den gleichen rigiden moralischen Ansprüchen unterwerfen zu können wie dies den Untertanen Heinrichs II. zuteil wurde. Die Antwort der Greizer Kanzlei bestand darin, den Beschwerdeführern auf formaler Ebene entgegenzukommen: Selbstverständlich sehe man davon ab, eigene Verordnungen auf fremde Untertanen anzuwenden, weshalb diese auch nicht von den Bestimmungen des Policey-Mandats betroffen seien. Allerdings stehe die Zulassung zu Beichte und Abendmahl unter einem anderen Vorbehalt: „Ob aber der Pfarrer diejenigen Zuhörer, die er vor untüchtig hält, zum heil. Abendmahl admittiren solle oder nicht, ein solches gehöret nicht vor die weltl. Gerichte, und thut er also dadurch keinen Eingriff in die weltl. I’diction.“94 In der Folge konfrontierten die Beschwerdeführer Pfarrer Dreßel mit dem Schreiben aus Greiz und verlangten die Zulassung der Cunßdorfer Tänzer zu Beichte und Abendmahl. Dreßel zeigte sich irritiert und versicherte sich in einem Brief vom 9. Juni 1718 der obrigkeitlichen Rückendeckung. Die Antwort tags darauf stärkte die Position des Geistlichen, dem bescheinigt wurde, er selbst wisse doch am Besten, „was wegen solcher Persohnen die da üppig Welt und Fleischeslust ergeben sind, zu thun sey, und ob ihr selbige mit guten Gewißen zum heiligen Abendmahl zulaßen könnte, als wozu Wir euch niemahls zwingen werden“.95 Auf den ersten Blick kam es im Zuständigkeitsbereich des Amts Greiz zu einigen wenigen Fällen der Ahndung von Verstößen gegen das obrigkeitliche Tanzverbot. 1721 wurde gegen den Bürger Christoph Strauß eine Untersuchung wegen „polizeiwidrigen Tantzens“ in Gang gesetzt.96 Anlässlich einer Hochzeit in seinem Haus in Neugernsdorf hatten zahlreiche junge Leute bis in die Nacht hinein getanzt, was Strauß eine Anzeige beim Amt Greiz einbrachte. Gegen die verhängte Strafe von 30 Gulden zuzüglich 18 Gulden Amtsgebühr erhob das Amt Mildenfurth am 24. Dezember 1721 förmlichen Einspruch, woraufhin die Angelegenheit wohl einige Wochen ruhte. Mitte Mai 1722 kam es jedoch zur Inhaftierung Straußens aufgrund doppelten Verstoßes sowohl gegen das Tanzverbot als auch gegen die Rechtssprechung des Greizer Amts. Drei Jahre später sah sich der Nadler Löhner mit einer ähnlich 94 Kanzlei Greiz an die Bosischen Gerichte zu Elsterberg, Greiz, 01.06.1718 (ThStA Greiz, Konsistorium A. Rep. C. Kap. II C 26 No. 16, fol. 4v). 95 Kanzlei Greiz an Wolfgang Dreßel, Greiz, 10.06.1718 (ThStA Greiz, Konsistorium A. Rep. C. Kap. II C 26 No. 16, fol. 8r). 96 ThStA Greiz, Amt Greiz Nr. 580: Untersuchung gegen Christoph Strauß in Neugernsdorf wegen polizeiwidrigen Tantzens sowie die dagegen erhobene Protestation des Amts Mildenfurt (1721/22).

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klingenden Anzeige konfrontiert.97 Wiederum hatten Gäste der Hochzeit der Tochter Löhners zwar um 11 Uhr auf dem Rathaus aufgehört zu tanzen, jedoch danach beim Kannegießer Johann Wilhelm Lange noch bis zwei Uhr in der Frühe weitergetanzt. Die Strafe von ½ Gulden traf hier den Kannegießer, welcher wegen „Begünstigung“ bestraft wurde. Die Tatsache, dass im Findmittel zum archivalischen Bestand des Amtes Greiz nur diese drei Fälle explizit aufgeführt sind, hat in der Vergangenheit dazu verleitet, die praktischen Auswirkungen und die Nachhaltigkeit tanzfeindlicher Verordnungen im reußischen Territorium als eher marginal einzuschätzen. Betrachtet man jedoch stichprobenartig98 die Aktenfaszikel zu Rügeprotokollen und Bestrafung von „Policey-Exzessen“ einzelner Gemeinden, ergibt sich ein etwas anderes Bild: Hier findet sich eine Fülle angezeigter und geahndeter Fälle von Verstößen gegen das Policey-Mandat von 1717, wobei die Masse auf die Sanktionierung „policeywidrigen Tantzens“, d. h. von Tanzen außerhalb der durch die Verordnungen gestatteten Zeiten und Orte, entfällt. Die Anlässe für die angezeigten Tänze bildeten für gewöhnlich Festlichkeiten wie Hochzeiten und Kirchweih-Feste99, bei den angezeigten Tänzern handelte es sich zumeist um junge Leute. Auferlegte Strafen bestanden meist in Zahlung von Geldbeträgen, teilweise wurden auch Freiheitsstrafen von je einem Tag verhängt. Gleichwohl ließ es die Obrigkeit zuweilen an der Konsequenz beim Vollzug der Strafen mangeln, ließ – nicht zuletzt aufgrund der Fürsprache der Ortsgeistlichen – so manches Mal Gnade vor Recht ergehen und begnadigte die Sünder.100 Dagegen konnte der Eifer manches Pfarrers die Tanzfrage noch bis in die Mitte der 1730er Jahre aktuell halten: So hatte der Pfarrer zu Gahma, Johann Conrad Zembsch (1683–1754),101 97 ThStA Greiz, Amt Greiz Nr. 4020: Anzeige des Bürgermeisters Johann Martin Hellmund gegen den Nadler Löhner wegen polizeiwidrigen Tantzens (1725). 98 Den folgenden Ausführungen liegt die kursorische Auswertung der im ThStA Greiz vorhandenen Rüge-Akten für die Dörfer Altgomla, Arnsgrün, Bernsgrün, Erbengrün, Fröbersgrün, Gablau, Klein-Reinßdorf, Pöllwitz und Schönbach zugrunde. 99 Immerhin galt die Hochzeit als „das einzige Fest in der Frühen Neuzeit, bei dem der Tanz von den Obrigkeiten nicht grundsätzlich verboten wurde. [. . .] Der Tanz bei der Hochzeit hatte für alle Menschen der Frühen Neuzeit eine rituelle Bedeutung“ (Jung, Körperlust [s. Anm. 23], 185). Das Kirchweih-Fest erinnerte ursprünglich an den Tag der Weihe einer Kirche durch den zuständigen Bischof und markierte den Höhepunkt des dörflichen Festkalenders. An den mehrtägigen Feierlichkeiten nahm die gesamte Gemeinde teil; neben Essen, Trinken und Musik kam dem Tanzen hier eine besondere Bedeutung zu: So wurde die Kirchweih mit einem Plantanz eröffnet und Tanzordnungen regelten das Festgeschehen. Vgl. dazu Marianne Panzer: Tanz und Recht. Frankfurt/Main 1938. 100 Illustrieren lässt sich dies anhand der Schreiben des Pöllwitzer Pfarrers Johann Mylau (1691–1758) an das Amt in Greiz: Zwischen 1722 und 1724 setzte sich dieser drei Mal für verurteilte Tänzer ein und erreichte in jedem Fall zumindest den Erlass jener sich zur Geldstrafe hinzuaddierenden Gerichtskosten (ThStA Greiz, Amt Greiz, Polizeisachen Nr. 4229: „Acta, PoliceyExcesse zu Schönbach betr. 1720–1732“ o. P.). 101 Im Falle dieses Geistlichen scheint die Ursache seiner Ablehnung des Tanzens sehr viel grundsätzlicher begründet gewesen zu sein, denn besagter Pfarrer galt als „Chiliast“ und lag seit

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mehreren jungen Männern das Beichtgespräch versagt und sie damit auch vom Abendmahl ausgeschlossen. Nachdem dies am 8. Dezember 1734 zunächst erstmals zu Protokoll gegeben worden war, fanden sich wenige Tage später vier der zurückgewiesenen Tänzer vor dem gräflichen Amt ein, wo sie ausführlich über das Vorgeschehen berichteten: Die jungen Burschen hatten anlässlich der letzten Kirchmeß-Feierlichkeiten im benachbarten Dorf Rauschengesees „theils getantzet, theils darzu auffgespielet, und es gantz erbar und stille, auch zurechter Zeit Feyer Abend gemachet, und vermeinet, daß, weile das Tantzen nicht verbothen, auch die andern Hrn. Geistlichen in der Nachbarschafft, als zu Hebersdorff, es vor keine Sünde hielten, sie nicht unrechtes gethan hätten“.102 Als sie sich jedoch am Sonntag vor sieben Wochen beim Pfarrer zwecks Beichte vorstellig wurden, habe jener sie nicht angenommen und erklärt, dies auch weiterhin erst zu tun, wenn sie sich selbst bei der Herrschaft verklagt hätten. Einen Monat später habe der Pfarrer vor der Kanzel verkündet, dass die Kirchweih-Tänzer auf ein Gespräch zu ihm kommen sollten. Als die Angesprochenen vor ihm erschienen waren, habe Zembsch ihnen noch einmal nachdrücklich dargelegt, wes Natur das Tanzen sei, nämlich höllische Sünden-Greuel, welche dem Heidentum entstammten. Er könne sie erst wieder zu Beichte und Abendmahl zulassen, wenn sie versprächen, nicht mehr zu tanzen oder zum Tanze aufzuspielen. Auf die Anmerkung der jungen Männer, wonach das Tanzen nicht von der Herrschaft verboten worden sei, erwiderte Zembsch, sie sollten nicht aufgrund eines herrschaftlichen Verbots, sondern um Gottes Willen vom Tanzen lassen. Da die Burschen auch weiterhin nicht gewillt waren, das verlangte Versprechen zu geben, ereiferte sich der Pfarrer: „So reuet es euch nicht einmahl, ich will meine Seele von euch loß machen, ich mag nichts mehr mit euch zuthun haben, wenn ihr das tantzen nicht laßen wolt; ich wolte eher meinen Dienst meiden, gehet hin, wo ihr wolt.“ Auch in den darauffolgenden Tagen und Wochen habe der Pfarrer von dieser Haltung nicht lassen wollen und jedes Entgegenkommen verweigert. 1716 nahezu durchgängig im Streit mit dem Konsistorium Gera. Gründe hierfür waren regelmäßig Monita an den durch die Landesherren erfolgten Vokationen, an denen Übereilung, aber auch fehlende Gelehrsamkeit und sogar „Irrlehre“ des Kandidaten bemängelt wurde. Vgl. dazu Paul Heller: Der Pfarrerstand in den reußischen Herrschaften von der Reformation bis zum Ende des Territorialkirchentums 1533–1920/34. In: Herbergen der Christenheit 18, 1993, 45–66, hier 47. Nach Studien in Jena und Leipzig stand er als Informator bei Heinrich X. von Reuß-Ebersdorf (1662–1711) in Diensten, war jedoch in dieser Zeit von keinem Geringeren als Hochmann von Hohenau (1670–1721) erweckt worden. Zuvor hatte sich Zembsch aber schon zwei Jahre bei den „inspiratis“ in Halle aufgehalten, d. h. er hatte am separatistischen Abendmahl teilgenommen, bevor er Informator bei Heinrich XXIX. in Ebersdorf wurde. Seine Ordination zum Pfarrer von Titschendorf 1720 wurde von einem Streit mit Heinrich XXIV. und dem Konsistorium begleitet, so dass er vier Jahre lang nur als Substituent tätig sein konnte. Zembsch’ Entgegnung auf die Anschuldigungen lassen sich anhand einer – leider undatierten – Verantwortung nachvollziehen (AFSt/H D 121 : 81). 102 ThStA Greiz, Konsistorium A Rep. C Kap. II, C 10, No. 3. Alle weiteren Zitate daselbst.

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Das Amt verlangte daraufhin eine schriftliche Stellungnahme des Pfarrers. Pfarrer Zembsch erklärte sich umfänglich in einem abgeforderten Schreiben vom 11. Dezember 1734, in welchem er mittels einschlägiger Bibelstellen103 auf die Gefahren unchristlichen Verhaltens für die Seelen der Tänzer und Musikanten hinwies und seine eigene Haltung begründete. Allerdings ließ sich das Amt davon nicht beeindrucken und verfügte unter Verweis auf die Pflicht zur Versöhnung die Wiederzulassung der Tänzer. Dieser Anweisung scheint Pfarrer Zembsch nachgekommen zu sein, da sich in den Akten zumindest nichts Gegenteiliges erhalten hat. Beschluss Die Vielzahl der gerügten Verstöße gegen das verfügte Verbot „weltüblichen Tanzens“ zeigt deutlich, dass dem theologischen, aber auch dem herrschaftlichen Versuch einer Verhaltensnormierung enge Grenzen gesetzt waren; überhaupt scheinen generelle Tanzverbote keine belegbare Wirksamkeit entfaltet zu haben und müssen daher wohl als gescheitert betrachtet werden. Dies wirft natürlich die Frage nach der Motivation des Kampfes der frühneuzeitlichen Theologen gegen das Tanzen auf: Zum einen schien das Tanzen aufgrund seiner Verwurzelung in der frühneuzeitlichen Volkskultur als besonders prädestiniert für disziplinierende Maßnahmen sowohl der weltlichen als auch der kirchlichen Obrigkeit. Zum anderen liegt hier auch die Erklärung für das offenkundige Scheitern der pietistisch beeinflussten Maßnahmen gegen die „Tanz-Greuel“: Die Tatsache, wonach das Tanzen nicht nur potentiell sündhafter Zeitvertreib, sondern auch repräsentatives und identitätsstiftendes Element frühneuzeitlichen Lebens war, mussten die Normierungsversuche zwangsläufig in Konflikt nicht nur mit der allgemeinen Freizeit- und Festkultur, sondern auch mit tradierten ständischen Rechten bringen.104 Dieser Umstand erschwerte ein konsequentes Vorgehen gegen den Tanz, so dass am Ende notwendiger Aushandlungsprozesse statt eines generellen Verbots lediglich obrigkeitliche Beschränkungen von Tanzveranstaltungen standen. An der moralischen Verurteilung des Tanzens durch die Theologen hat sich die Masse der Bevölkerung dagegen nicht gekehrt; die zahlreichen Verstöße gegen die Tanzbestimmungen und die Ignorierung der 103 Zembsch berief sich v. a. auf Gal 5, 19 und 21: „Gebt ihr dagegen euren selbstsüchtigen Wünschen nach, ist offensichtlich, wohin das führt: zu sexueller Zügellosigkeit, einem sittenlosen und ausschweifenden Leben [. . .] Ich habe es schon oft gesagt und warne euch hier noch einmal: Wer so lebt, wird niemals in Gottes neue Welt kommen.“ 104 Vgl. dazu die anregenden Ausführungen bei Marie-Thèrèse Mourey: Antagonistische Körperbilder und -konzepte in der Frühen Neuzeit: Tanzen als kulturelle Konstruktion von Identität. In: Akten des XI. Internationalen Germanistenkongresses Paris 2005. Band 7: Bild, Rede, Schrift. Kleriker, Adel, Stadt und außerchristliche Kulturen in der Vormoderne – Wissenschaften und Literatur seit der Renaissance. Bern 2008, 187–192.

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christlichen Ermahnungen zeigen eine starke Resistenz gegen derartige Disziplinierungsversuche.105 Gleichzeitig drängte sich den Pietisten diese Facette der Volkskultur als Feld symbolischer Auseinandersetzungen mit den lutherisch-orthodoxen Gegenspielern geradezu auf. Hier konnte man ganz explizit die praktizierte Übereinstimmung von Leben und Lehre manifestieren und auf den diesbezüglichen Standpunkt der Orthodoxen verweisen, deren oft pragmatischlebensnahe, vermittelnde Positionen als Ausdruck von Weltliebe und mangelnder Gottesfurcht gegeißelt wurden.106 Unter Verweis auf traditionelle christliche Tanzkritik und v. a. auf die entsprechenden Bibelverse wurde einerseits auf konsequentere Umsetzung des sittlichen Ideals gedrungen und der eigene bibeltreue Lebenswandel präsentiert, und andererseits der orthodoxe Anspruch auf Rechtgläubigkeit bestritten und illustriert. Die „Tanzfrage“ kann so pars pro toto für die allgemeine Kontroverse zwischen den Kirchenmännern der lutherischen Orthodoxie und den Anhängern des Pietismus um die Mitteldinge und damit als ein zentraler sittlich-religiöser Streitpunkt der Zeit um 1700 angesehen werden. An der Distanzierung und Kritik zeigt sich einmal mehr das pietistische Unbehagen gegenüber der frühneuzeitlichen Volkskultur, aber auch des Verhaltens von Adel und höherem Bürgertum. Die Etikettierung jenes Bereichs der Vermittlung zwischen Kultur und Religion als „unchristlich“ und „heidnisch“ ermöglichte eine anti-intellektualistische, biblizistische Kritik an der bestehenden gesellschaftlichen Praxis; zugleich präsentierten sich die pietistischen Kritiker als Exponenten einer wahrhaft christlichen Lebensführung. Pietistisch gesinnte Landesherren ergriffen hierbei die Gelegenheit, sich als christliche Landesherren zu inszenieren und versuchten, diesem Anspruch

105 „In ihrem Eifer um Herstellung äusserer Ordnung übersahen sie [die Pietisten; d. Verf.], dass das Verbot solcher Feste und Erholungen ein unerträglicher Zwang ist, den auf die Dauer sich niemand gefallen lässt, so wenig, wie das Essen und Schlafen verboten werden kann; übersahen auch, dass durch solche Verbote im besten Fall nur ein äußerlicher Gehorsam erzielt wurde, während das Herz doch an diesen Dingen hing und dann auf andre Weise Befriedigung suchte. Die Obrigkeiten waren denn auch weise genug, auf diese Forderung der Pietisten nicht einzugehn; ihre Aufgabe war nur, Ausschreitungen zu hindern und Auswüchse abzuschneiden. Dass man aber durch kirchliche Zucht erzwingen wollte, was die Obrigkeit versagte, war überaus gefährlich und hätte zum Zerfall der ganzen Kirche führen können, wenn nicht die kirchliche Obrigkeit diesen blinden Eifer gezügelt hätte“ (Eugen Sachsse: Ursprung und Wesen des Pietismus. Wiesbaden 1884, 234). 106 In diesem Sinne argumentierte der Hallesche Theologieprofessor Joachim Lange 1712 gegen die Angriffe der orthodoxen „Anti-Pietisten“ wie Samuel Schelwig (1643–1715): So hob Lange im ersten Teil des dritten Kapitels seiner Mittel=Straße hervor, dass „die Tantz=Lust mit zum Mittelpunkt der neuen Orthodoxie gehört/ hingegen derjenige/ so das Welt=übliche Tantzen für eine sündliche Lust hält/ gar gröblich wieder die Analogiam des Ketzermacherischen Glaubens anstöße“ (Joachim Lange: Die richtige Mittel=Straße/ zwischen den Abwegen der Absonderung von der eußerlichen Gemeinschaft der Kirchen/ auch anderer Lehr- und Lebens-Irrungen [. . .]. Halle 1712, 168–177, hier 169).

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über entsprechende Verordnungen Ausdruck zu verleihen. Die Um- und Durchsetzung dieser Erlasse wurde jedoch wenig nachhaltig betrieben; man kann sich dabei des Eindrucks nicht erwehren, dass es auch hier weniger um stringente Implementierung und Sanktionierung angedachter Verhaltensnormierungen ging als um eine nicht zuletzt auf Außenwirkung zielende Selbstdarstellung und eine symbolische Profilierung als christliche Herrschaft.107 Die Schaffung einer konfessionellen Identität war mitnichten alleinige Strategie größerer Territorialherren, sondern diente auch anderen Herrschern zur Kompensation des Fehlens alternativer Handlungsfelder.108 Auf die Affinität der Regenten kleinerer Territorien zum pietistischen Gedankengut ist bereits vielfach hingewiesen worden.109 Das Tanzen blieb indes bis Mitte des 18. Jahrhunderts Gegenstand theologischer Kontroversen, wie die rege Beteiligung prominenter Autoren und die Vielzahl an Publikationen zeigt.110 Pietistische Positionen führten damit auch abgelöst von den ursprünglichen Auseinandersetzungen mit Vertretern der lutherisch-orthodoxen Partei ein gewisses Eigenleben.

107 Für den Kontext symbolischen Gesetzerlassens als Selbstdarstellung s. Jürgen Schlumbohm: Gesetze, die nicht durchgesetzt werden – ein Strukturmerkmal des frühneuzeitlichen Staates? In: Geschichte und Gesellschaft 23, 1997, 647–663, v. a. 661. 108 Für das Herzogtum Gotha betrachtet diesen Aspekt Siegrid Westphal: Nach dem Verlust der Kurwürde: Die Ausbildung konfessioneller Identität anstelle politischer Macht bei den Ernestinern. In: Zwischen Schande und Ehre: Erinnerungsbrüche und die Kontinuität des Hauses. Legitimationsmuster und Traditionsverständnis des frühneuzeitlichen Adels in Umbruch und Krise. Hg. v. Martin Wrede. Mainz 2007, 173–192. 109 Zuletzt durch Thomas Müller-Bahlke: Die Bedeutung des Adels für das hallische Netzwerk. In: Die Welt verändern: August Hermann Francke – ein Lebenswerk um 1700. Hg. v. Holger Zaunstöck. Wiesbaden 2013, 181–193, hier 185. 110 Z. B. Erik Pontoppidan: Neue Erörterung der alten Frage: Ob Tantzen Sünde sey? [. . .]. [O. O.] 1740; Johann Gottlob Carpzov: Unterricht vom Spielen und Tantzen/ In zween Wochenpredigten vorgetragen und mit einigen Anmerckungen und Anhang erläutert. Lübeck 1743; Carl Heinrich von Bogatzky: Schriftmässige Beantwortung der Frage: Was von dem Weltüblichen Tanzen und Spielen zu halten sey und ob es nicht mit zur christlichen Freiheit gehöre? [. . .]. Halle 1750.

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KASPAR BÜTIKOFER

Johann Heinrich Römer (1628–1697): Zwischen dem Spiritualismus des 17. Jahrhunderts und frühem Pietismus Zur Hochzeit seiner Cousine, Magdalena Römer (1666–1725), mit Bürgermeister David Holzhalb (1652–1719) vom 13. Oktober 1711 verfasste Johann Heinrich Locher (1648–1716) die Gratulationsschrift [Das] Römer-Geschlecht in Zürich. Die Familienchronik beginnt weitausholend und überraschend mit einer mystischen, religiösen Figur: Sophia Die himmlische Wießheit hat in dieser Welt alles geordnet: in Person, Zeit und Orth: in Zahl, Gewicht und Maaß. Diese Sophia ist Godtes ewige Gehülffin und heißet, Gen. 3.15 der weibes Saamen, und cap 49 v 10. der Silo oder Held. 1 Cor. 1.24. Godtes Krafft und Godtes Wießheit. Coloss. 1.16. dann durch ihne sind alle Dinge geschaffen, die in Himmel und auf Erden sind, die Sichtbaren und unsichtbaren es seÿen.1

Die Familiengeschichte wird in eine Kosmogonie eingebettet, und die Darstellung führt weiter von Adam und Eva über die biblischen Erzväter bis zur Familie Römer.2 Das wirkt nicht unbescheiden, doch wenn eine Emigrantenfamilie sich bereits in der dritten Generation mit einem aus altem und einflussreichem Geschlecht stammenden Bürgermeister der Stadt Zürich verheiraten kann, dann sei das verzeihlich. Verziehen wurde aber offenbar auch der offene Bezug auf die ‚Jungfrau Sophia‘ – eine Figur, die wie keine andere für eine spiritualistische Gesinnung steht. Eine Figur, die besonders in radikalen, pietistischen bzw. in philadelphischen Kreisen aufgegriffen wurde. Sophia ist der Spiegel der Weisheit Gottes; durch sie erlangt der Mensch die Ebenbildlichkeit Gottes, die er seit dem Sündenfall verloren hatte: Es ist Adam vor seiner Irdischen Eva, oder in seiner Juget auch mit Sophia (der Himmlischen Wießheit) vermahlet, und nit nakend, sondern mit dem Rock der 1 ZBZ Ms W 140 [Römer Geschlecht in Zürich | vorgestellt | Auf das Hochzeitliche Eeh und Ehrenfäst | Herrn burgermeister David Holtzhalben | und Frau Magdalena Römerin | gehalten | den 13ten. Weinmonat Anno 1711], Bl. 13r. 2 Der Sophia-Text endet mit dem Testament Jakobs als „Bildnis der ganzen Zeit der Welt“ und geht in die Beschreibung des „Römer-Geschlechtes“ über. Vgl. ZBZ Ms W 140, Bl. 36r.

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Gerechtigkeit bekleidet gewesen [. . .]. Der Herr ist zum Zeügen worden zwüschen dir und dem weibe deiner Jugend (Sophia) an deren du trülos worden bist da sie doch deine Gesellin und dein Eheweib sein sollte [. . .].3

Die Hochzeit ist der Anlass zur Gratulationsschrift, und die Hochzeit ist Lochers allegorisches Thema der Wiedergeburt. Die geistige Vermählung mit der himmlischen Sophia ist der übersteigerte Ausdruck davon. Er [= der Bräutigam der himmlischen Jungfrau] suchte einen Samen Godtes. Darum bewahret eüren Geist, und laßet keinen demselbigen treülos werden an dem Weibe seiner Jugend. Zu solchem Stand muß der Mensch wider gebracht werden durch Christum in der neü geburt, namlich zu der wider vereinigung mit Godt, [. . .] auf daß Sie alle Eins seÿen, wie du Vadter in mir und ich in dir, daß auch Sie in uns Eins seÿen [. . .]. Hier ist weder Jud noch Griech, hier ist weder Knecht noch Freÿer, hier ist weder Mann noch Weibe, dann ihr alle seÿt Einer in Christo.4

Sophia ist die Vermittlerin zwischen Mensch und Gott, sie ist die Weisheit und erschließt dem Menschen den Weg zur himmlischen Einheit mit Gott. Sie ist das Restpotential, der „Weibssamen“, der dem Menschen nach dem Sündenfall verblieb, um die Heiligung erlangen zu können. Sophia steht am Weg zur Wiedergeburt, und sie ist somit auch der Schlüssel zum echten Verständnis spiritualistischer und theosophischer Schriften – namentlich jener von Jakob Böhme. Die himmlische Sophia ist aber ganz besonders auch ein Symbol für Anschauungen, die in Zürich als heterodox galten. Dass auf einer Hochzeitsfeier eines Bürgermeisters offen auf heterodoxe Chiffren Bezug genommen wurde, sei es, dass Locher einen Teil feierlich vortrug, sei es, dass seine Gratulationsschrift unter den geladenen Gästen zirkulierte, ist erstaunlich. Es ist gut möglich, dass es das eine oder andere Mitglied der Familie Holzhalb mit der reformierten Orthodoxie nicht so genau nahm.5 In der Familie Römer herrschte bezüglich religiöser Anschauungen ein offener Geist: Einige der männlichen Glieder sind in den Pietistenakten von 1689 oder 1692 verzeichnet. Heinrich Römer war nicht nur Gründer des Familienunternehmens, auf dem der materielle Reichtum der Familie beruhte, Johann Heinrich Locher stilisierte ihn in seiner Gratulationsschrift zum zweiten Stammvater des Zürcher Zweiges der Familie Römer empor: 3

ZBZ Ms W 140, Bl. 13v. ZBZ Ms W 140, Bl. 13v 5 Einem Spross der Familie, Ludwig Holzhalb, wurde bereits um 1698 das Bürgerrecht entzogen, weil er sich in heterodoxen Kreisen am Hof von Christian August von Sulzbach aufhielt und die häretischen Schriften von Jane Leade nach Zürich sandte. Zwei weitere Mitglieder der Familie Holzhalb tauchen wenige Jahre später in den Akten der Pietistenprozesse von 1716 bis 1721 auf. Vgl. Kaspar Bütikofer: Der frühe Zürcher Pietismus (1689–1721). Der soziale Hintergrund und die Denk- und Lebenswelten im Spiegel der Bibliothek Johann Heinrich Lochers (1648–1718). Göttingen 2009, 111. 4

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Herr Heinrich Römer [. . .] hat zwar keine Kinder gezeüget, ist aber durch seine gute Erfahrenheit in Sprachen, Handlung und Fabric; so wol auch durch seinen unermüdeten getreüwen Fleiß und Vorsorg, wie nicht weniger durch hinter laßung aller seiner ererbtum, und auch reichlich erworbene Gütern und Mitlen, eine starke Befestigung des guten Zustands seines Geschlechts in Zürich gewesen, deswegen Jhne alle als einen zweiten Vadter ehreten und liebten [. . .].6

Römer war auch ein großer Liebhaber spiritualistischer und theosophischer Literatur, eine Neigung, die er an seine Neffen weitergeben konnte. Einer davon war Johann Heinrich Locher, der Verfasser der theosophisch angehauchten Gratulationsschrift. Besonders für ihn wurde Römer zum zweiten Vater.7 In dieser Hinsicht war Heinrich Römer nicht bloß in materiellen Belangen ein zweiter Stammvater, sondern ganz besonders auch in geistigen. Was Locher in der Gratulationsschrift zuhanden der fröhlichen Hochzeitsgesellschaft aufsetzte, gab im Kern eine in Zürcher Spiritualistenkreisen seit längerem tradierte Gnadenlehre weiter,8 die scharf mit der reformierten Prädestinationslehre kontrastierte und stark durch Jakob Böhme beeinflusst war. Welche devianten, von der Orthodoxie in die Klandestinität verdrängten Strömungen münden in den Pietismus? Dienen sie bloß, ihn vorzubereiten, oder gehen sie in ihm auf? Werden die älteren Strömungen absorbiert oder umgedeutet? Und: Wie sind diese dem Pietismus vorausgehenden Strömungen zu charakterisieren? Solchen Fragen kann entlang von biographischen Angaben nachgegangen werden. Das Leben und die religiöse Haltung von Heinrich Römer geben hierzu wichtige Aufschlüsse. Von ihm wissen wir, dass er in spiritualistischen Zirkeln um den Mathematiker und Theologen Michael Zingg, aber auch in den Kreisen der ersten Zürcher Pietisten anzutreffen war.9 Er war so etwas wie der Mentor und geistige Vater Johann Heinrich Lochers, der zentralen Person im Netzwerk des Zürcher Pietismus in den 90er Jahren des 17. Jahrhunderts. Weiter wissen wir von Römer, dass er mit Johann Heinrich Redinger, einem Chiliasten und Comenius-Schüler, Briefe wechselte. Zudem unterstützte er, wie unten gezeigt werden soll, als wohlhabender Kaufmann mehrere klandestine Buchpublikationen mit namhaften Geldbeträgen. Heinrich Römer ist ein Verbindungsglied zwischen den nonkonformistischen, spiritualistischen Strömungen des 17. Jahrhunderts und dem aufkommenden Pietismus. Er bildet eine Brücke zwischen den beiden religiösen Phänomenen: Zeugt er von einer gewissen Kontinuität oder von Brüchen? Die 6

ZBZ Ms W 140, Bl. 56v. Kaspar Bütikofer: Michael Zingg (1599–1676): Ein Wegbereiter des Zürcher Pietismus? In: PuN 39, 2013, 117–149, hier 147. 8 Vgl. Michael Zingg: Bekantnus | Von der Liebe Got=|tes in Christo Jesu: Jn Gnaden | gegen dem gantzen Menschlichen Geschlecht/ | das ist/ gegen allen und jeden Menschen | eröffnet. Kurtz verfasset nach heiliger Schrifft. Straßburg/ Jm Jahr 1663 [ZBZ Ms S 361, Nr. 2]. 9 Bütikofer, Zingg [s. Anm. 7], 145 f. 7

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vorliegende Arbeit will der Frage nachgehen, inwieweit die personelle Kontinuität zwischen den Spiritualisten des 17. Jahrhunderts und dem frühen Pietismus auch eine inhaltliche war. Lassen sich Brüche, Umorientierungen und inhaltliche Verschiebungen oder eine allmähliche Weiterentwicklung und inhaltliche Kontinuitäten erkennen? Ist Heinrich Römer der missing link, der einen tieferen Blick auf ältere Wurzeln und Strömungen erlaubt, auf die sich der aufkeimende Pietismus abstützen konnte? Drei Quellengattungen geben uns einen Einblick in Heinrich Römers Leben und Denken, obwohl von ihm selbst keine Selbstzeugnisse erhalten geblieben sind. Es ist davon auszugehen, dass er, wie Locher, aus Angst vor einem obrigkeitlichen Übergriff seine Korrespondenzbücher vernichtete.10 Die erste Quellengattung umfasst die Verhörprotokolle, die in den Pietistenprozessen von 1689 und 1692 angelegt wurden. In diesen Akten erscheint er zwar nur am Rand, aber es geht deutlich aus ihnen hervor, dass Römer im pietistischen Netzwerk quasi die Rolle des Doyens einnimmt. Die zweite Gattung betrifft die Selbstzeugnisse Johann Heinrich Lochers, in denen immer wieder Heinrich Römer als wichtige Bezugsperson aufscheint. Von seiner Hand stammt auch die Familiengeschichte der Römer, die oben bereits erwähnt wurde. Als dritte Quellengattung können mehrere Bände mit Handschriften bezeichnet werden, die das Exlibris der Familie Römer tragen und Schriftstücke über Zingg und Redinger sowie Kopien mystischer Schriften enthalten.11 1. Heinrich Römer entstammte einer Emigrantenfamilie in der zweiten Generation. Ursprünglich stammten seine Vorfahren aus Maastricht, von wo die protestantische Familie 1568 vor den spanischen Heerzügen unter dem Herzog von Alba nach Aachen fliehen musste. Die protestantischen Flüchtlinge waren dort bald der religiösen Verfolgung ausgesetzt, und Johann Römer (1591–1631), der Vater von Heinrich, wanderte in die 1597 gegründete Kolonie niederländischer Flüchtlinge in Neu-Hanau bei Frankfurt am Main aus. Dort diente bereits sein Bruder Franz (1587–1640) der für ihre freie Religionsausübung bekannten wallonischen reformierten Gemeinde als Diakon.12 Johann Römer verließ Frankfurt aus unbekannten Gründen und wanderte nach Zürich weiter. Hier trat er als Kaufmann in das Geschäft der Gebrüder Werdmüller im Alten Seidenhof ein und war zuerst „Knecht“ und später

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ZBZ Ms S 276, Nr. 6 D, 10 [Wahrhafftige Erzellung]. Es handelt sich dabei um die beiden Sequenzen ZBZ Ms F 185–196 und Ms Car I 254–263. Adolf Garnaus: Die Familie Römer von Zürich, 1622–1932. Zürich 1932, 5 f., 10 u. 21.

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Teilhaber.13 Es ist zu vermuten, dass die Familie Römer schon vor ihrer Flucht wirtschaftlich wohlhabend war. Jedenfalls wurde Johann Römer vom Großen Rat am 29. Mai 1622 ins Bürgerrecht der Stadt Zürich aufgenommen. Das Bürgerrecht wurde damals nur noch sehr selten verliehen und war sehr exklusiv: Es kostete 100 Reichstaler.14 Die Flüchtlinge blieben in Zürich meistens unter sich, und so verheiratete sich Johann Römer mit Magdalena Toma, der Tochter eines Glaubensflüchtlings aus Locarno, der in Zürich als Samtweber und Florettfabrikant (Schappe) sein Auskommen fand. Der Ehe entsprangen vier Kinder; das älteste war Heinrich Römer. Als der Knabe acht Jahre alt war, verstarb sein Vater an der Pest. Heinrich Römer wurde früh auf die Laufbahn eines Kaufmanns vorbereitet. Im Mai 1640 brach er zusammen mit Zürcher Kaufleuten, die die Messe besuchten, nach Frankfurt auf. Dort wurde er durch seinen Cousin, Franz Römer den Jüngeren (1616–1683), während dreier Jahre in die Geheimnisse des kaufmännischen Berufes eingeweiht.15 Später reiste er weiter nach Amsterdam – vermutlich zu seiner dort ansässigen Tante.16 Hier trat er, wie wohl bereits in Frankfurt, der Wallonischen Gemeinde (Waalse Kerk) bei.17 Wie lange sich Römer in Amsterdam aufhielt, ist nicht bekannt. Die Ausbildung zum Kaufmann vervollkommnete er in Venedig, einer für Zürich wichtigen Handelsmetropole. Fünfundzwanzigjährig kehrte Heinrich Römer nach Zürich zurück. Hier setzte er das Gelernte in die Tat um: 1653 gründete er in der elterlichen Liegenschaft vor dem Rennwegtor seine „Handlung und Fabric“ für Seiden- und Wollverarbeitung. Er stellte Galetten- und Wollgarn teilweise in seiner Manufaktur vor dem Rennwegtor und teilweise im Verlagssystem auf der Landschaft her. Zudem handelte er mit Seide. Das nötige Fachwissen brachten die Locarner Glaubensflüchtlinge nach Zürich, namentlich sein Großvater Cornelius Toma (1566–1641). Dessen Florettmanufaktur vor dem Rennwegtor ging nach seinem Tod in den Besitz von Heinrich Römers Mutter über und bildete später das Fundament des Manufakturbetriebes.18 Die gute Konjunktur im letzten Drittel des 17. Jahrhunderts ermög13

Garnaus, Römer [s. Anm. 12], 27 u.31. Garnaus, Römer [s. Anm. 12], 6 u. 25. 15 ZBZ Ms W 140, 56v; Garnaus, Römer [s. Anm. 12], 37. 16 Garnaus, Römer [s. Anm. 12], Stammtafel Nr. 10. 17 Garnaus, Römer [s. Anm. 12], 37. Ein angesehenes Mitglied der Waalse Kerk in Amsterdam war der Herausgeber der Werke Böhmes auf Niederländisch: Abraham Willemsz van Beyerland. Er war zweimal Kirchenältester und stand kurz vor der Aufnahme des jugendlichen Römer in die Kirche seiner Vorfahren dem Walenwaisenhaus von Amsterdam vor (1641–1642). Nichts deutet jedoch darauf hin, dass Heinrich Römer bereits zu diesem Zeitpunkt mit böhmistischen Strömungen in Kontakt gekommen wäre. Vgl. Frank van Lamoen: Mit dem Auge des Geistes: Hintergründe zu den Übersetzungen des Abraham Willemsz van Beyerland. In: Jacob Böhmes Weg in die Welt. Zur Geschichte der Handschriftensammlung, Übersetzungen und Editionen von Abraham Willemsz van Beyerland. Hg. v. Theodor Harmsen. Amsterdam 2007, 135–167. 18 Garnaus, Römer [s. Anm. 12], 31; Ulrich Pfister: Die Zürcher Fabriques. Protoindustrielles Wachstum vom 16. zum 18. Jahrhundert. Zürich 1992, 68 u. 157. 14

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lichte den steten Erfolg.19 In den 90er Jahren stieg er endgültig zu den bedeutendsten Kaufleuten in Zürich auf. Den größten Umsatz erzielte er gemäß dem Pfrundzollverzeichnis im Jahr seines Todes, 1697. Kurz nach der Aufnahme der Geschäftstätigkeit heiratete er 1656 Margareta Hartmann, die Tochter Hans Konrad Hartmanns (1609–1693), des reichsten Kaufmannes und Seidenhändlers in Zürich. Kurz nach der Gründung des Kaufmännischen Direktoriums wird Römer 1670 für kurze Zeit eines der sieben Mitglieder. 1682 erwirbt er vom Postmeister Hans Heinrich Wiederkehr das Landgut zum Hub in Hottingen für 6600 Gulden.20 Wann der junge Heinrich Römer erstmals mit devianten Strömungen in Berührung kam – ob in Frankfurt, in Amsterdam oder erst bei seiner Rückkehr nach Zürich –, lässt sich nicht feststellen. Spätestens aber in Zürich fand er Gleichgesinnte. Er war 33 Jahre alt, als 1661 der Mathematiker und nonkonformistische Pfarrer Michael Zingg Hals über Kopf aus Zürich fliehen musste. Es verband sie eine Freundschaft, die von einer gemeinsamen Vorliebe für spiritualistische Anschauungen genährt wurde.21 Zingg fiel bereits als junger Theologe in St. Gallen der Obrigkeit mit seinen heterodoxen Ansichten auf. Er vertrat eine in mennonitischen und schwenckfeldischen Kreisen verbreitete Lehre über die Inkarnation, wonach Christus bei der Menschwerdung kein sündiges Fleisch angenommen habe.22 Später wirkte Zingg als Pfarrer an der Pfrundanstalt St. Jakob vor den Toren der Stadt Zürich. Seine unkonventionellen Predigten erfreuten sich bei der städtischen Bevölkerung einer großen Beliebtheit. Eine dieser Predigten wurde ihm zum Verhängnis. Am 27. November 1659 sprach er von der Kanzel über Joh 3,17: Christus biete allen die Gnade an. Er habe für alle am Kreuz gelitten, um die Menschen mit Gott zu versöhnen. Es liege am Menschen, die Gnade anzunehmen oder sie zu verwerfen. Mit dieser Predigt brachte er einen Kerngedanken seiner theologischen Überzeugung zum Ausdruck, und er brachte sich in Widerspruch zur calvinistischen Prädestinationslehre. Der Geistlichkeit blieb diese Predigt nicht verborgen. Er wurde vor die Kirchenleitung zitiert und mit dem Vorwurf des Arminianismus konfrontiert.23 Zwar konnte Zingg seinen Kopf retten, aber nun stand er unter scharfer Beobachtung. Kaum ein Jahr später fand die Geistlichkeit einen neuen Anlass, um ihn unter Anklage zu stellen. Erneut wurde ihm die Ablehnung der Prädestinationslehre vorgeworfen. Es gelang der orthodoxen Geistlichkeit, ihn in einen 19

Pfister, Zürcher Fabriques [s. Anm. 18], 58. Garnaus, Römer [s. Anm. 12], 40. Das Landgut stand dort, wo sich heute der Römerhof in Zürich-Hottingen befindet. 21 Vgl. Bütikofer, Zingg [s. Anm. 7], 144 ff. 22 Vgl. Bütikofer, Zingg [s. Anm. 7], 129 u. 140 f. 23 Vgl. Bütikofer, Zingg [s. Anm. 7], 136; Otto Anton Werdmüller: Der Glaubenszwang in der zürcherischen Kirche im XVII. Jahrhundert. Eine kirchenhistorische Skizze. Zürich 1845, 65– 118, hier 76. 20

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hässlichen Disput zu verwickeln, der ihn letztendlich die Stelle kostete. Schließlich wurden ihm die Konfiskation seiner mit Böhme, Hoburg, Weigel, Schwenckfeld und Paracelsus bestückten Bibliothek24 sowie das erneute Aufrollen des St. Galler Prozesses von 1634 zum Verhängnis. Der drohenden schweren Strafe entzog er sich durch Flucht. Zingg erfreute sich großer Beliebtheit unter der Zürcher Bevölkerung. Davon zeugt beispielsweise die hohe Wertschätzung, die ihm die Schützengesellschaft entgegenbrachte. Seine Vorliebe für heterodoxe, spiritualistische Literatur dürfte er mit einem Kreis von Eingeweihten geteilt haben. Es sind namentlich neun Personen bekannt, mit denen Zingg engen Kontakt pflegte. Alle sind rund eine Generation jünger als er. Es handelt sich teils um höhere Magistraten, teils um erfolgreiche Kaufleute. Einer der Jüngsten in diesem Kreis ist Heinrich Römer.25 Zinggs Flucht änderte nichts an Römers Sympathie für religiöse Außenseiter: Der Zürcher Kaufmann pflegte in den 70er Jahren einen brieflichen Kontakt zum Chiliasten Johann Jakob Redinger (1619–1688), der damals im Spital in Zürich lebenslänglich verwahrt wurde. Die erhaltenen Briefe Redingers an Römer zeugen von einer freundschaftlichen Verbindung.26 Redinger machte sich einen Namen als Sprachwissenschaftler und Pädagoge im Gefolge von Jan Amos Comenius (1592–1670).27 Er war der Sohn eines aus Hessen stammenden Schreiners und erlangte nie das Zürcher Bürgerrecht. Dank seiner großen Begabung durfte er die Lateinschule in Zürich besuchen und erhielt ein Stipendium für die theologische Ausbildung am Col24 Vgl. Urs B. Leu: Chiliasten und mystische Spiritualisten des 17. Jahrhunderts. In: Gegen den Strom. Der radikale Pietismus im schweizerischen und internationalen Beziehungsfeld. Hg. v. J. Jürgen Seidel. Zürich 2011, 39–74, hier 61–69. 25 Vgl. Bütikofer, Zingg [s. Anm. 7], 145 f. 26 ZBZ Ms F 196. 27 Zu Johann Jakob Redinger vgl. S. Katalin Németh: Die vergessenen Propagandisten von Comenius: Johann Jakob Redinger und Christian Hoburg. In: Comenius-Jahrbuch 7, 1999, 80– 99; dies.: Neue Funde aus dem Nachlaß von Johann Jakob Redinger. In: Daphnis 1997, 519–523; Basil Schader: Johann Jakob Redinger (1619–1688), Sprachwissenschafter und Pädagoge im Gefolge des Comenius. Zürich 1985; Klaus Schaller: Johann Jakob Redinger und Johann Amos Comenius: Eine Episode in den pädagogisch-politischen Beziehungen zwischen Deutschland, der Schweiz und den Niederlanden im 17. Jahrhundert. In: Paedagogica Historica 25, 1985, 225–262; ders.: Johann Jakob Redinger in seinem Verhältnis zu Johann Amos Comenius. In: Schweizerischdeutsche Beziehungen im konfessionellen Zeitalter. Beiträge zur Kulturgeschichte 1580–1650. Hg. v. Martin Bircher [u. a.]. Wiesbaden 1984, 139–166; Milada Blekastad: Comenius. Versuch eines Umrisses von Leben, Werk und Schicksal des Jan Amos Komenský. Oslo 1969, 634–638; Hugo Blümner: Johann Jakob Redinger, ein Gehilfe des Amos Comenius. In: Neue Jahrbücher für das klassische Altertum, Geschichte und deutsche Literatur und für Pädagogik, 18, 1906, 361– 375; Friedrich Zollinger: Johann Jakob Redinger und seine Beziehungen zu Johann Amos Comenius. Eine historisch-pädagogische Skizze aus dem XVII. Jahrhundert. Zürich 1905; Leonhard Meister: Helvetische Szenen der neuern Schwärmerey und Intoleranz. Zürich 1785, 81–104; Heinrich Corrodi: Kritische Geschichte des Chiliasmus. 3. Teil. Frankfurt/Main 1783, 119–132.

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legium Carolinum. 1641 legte er sein theologisches Examen ab. Früh entwickelte er sein Interesse für Sprachen und stand unter dem Einfluss des Zürcher Barockdichters Johann Wilhelm Simmler (1605–1672) – in dessen weitverzweigte Familie er einheiratete. 1646 erhielt er die Pfarrei in Urdorf, einer an der konfessionellen Grenze gelegenen Gemeinde. Sein ungestümes Agieren im ersten Villmergerkrieg – er geriet in Kriegsgefangenschaft der katholischen Partei – kostete ihn 1655 seine Urdorfer Pfründe. Seine Situation verschlechterte sich zusätzlich durch einen langwierigen Streit mit der einflussreichen Familie seiner Frau Barbara Simmler wegen eines Ehebruchs. Er musste Zürich verlassen und begab sich nach Schaffhausen ins Exil, wo er wahrscheinlich erstmals mit den Schriften von Comenius in Kontakt kam.28 Im September 1656 machte er sich auf den Weg nach Amsterdam und schloss sich Comenius an. Seine Lehrtätigkeit im comenianischen Sinne führte zu einer Berufung als Rektor an die Lateinschule in Frankenthal in der Pfalz. Trotz anfänglicher Skepsis wurde Redinger durch Comenius in den Bann des Chiliasmus gezogen. Bald wurde er zum Propagandisten der durch Comenius unter dem Titel Lux in tenebris (1657) edierten Offenbarungen von Christoph Kotter, Christina Poniatowska und Niklaus Drabík, die den nahen Untergang der habsburgischen Monarchie und den anschließenden Zerfall des Papsttums prophezeiten. Auf Anregung von Comenius begab sich Redinger mit den Offenbarungen auf Reise.29 Eine missglückte Missionsreise an den französischen Hof im Juni 1664 kostete ihn die Stelle in Frankenthal. Überzeugt davon, dass die Prophezeiung vom Untergang Habsburgs nur mit Hilfe der Türken eintreten werde, begab er sich mit seinen Offenbarungsschriften ins türkische Heerlager, wo er vom Großwesir Ahmet Köprülü (1633–1676) freundlich empfangen wurde.30 Zurück in Zürich, wurde ihm der Prozess gemacht wegen Vernachlässigung der Familie und wegen Schwärmerei. Redinger wurde 22 Jahre, bis zu seinem Tod, zeitweise unter misslichen Haftbedingungen im Spital gefangen gehalten. In diesem letzten Lebensabschnitt widmete er sich der deutschen Übersetzung der Visionen des tschechischen Schneiders Stephan Melisch (Meliš).31 Dieser musste damals auf Redinger den stärksten und prägendsten Einfluss ausgeübt haben, stärker noch als die verbreiteten Prophezeiungen der Lux in tenebris bzw. der Lux e tenebris (1665).32 Aus dieser Lebensphase stammen die erhalten gebliebenen Briefe Redigers an Heinrich Römer.

28

Schader, Redinger [s. Anm. 27], 19. Németh, Propagandisten [s. Anm. 27], 84 u. 89. 30 StAZH A 24.1. Redingers Reisebericht wurde ediert von Friedrich Zollinger: Jakob Redingers reise in das Türkische Heerläger, wie es ihm dort, und in der rukreise ergangen. 1664. In: Zürcher Taschenbuch, 19, 1896, 215–250. 31 Vgl. ZBZ Ms F 196, Gesichte Nr. 1–104, und StAZH A 24.2, Gesichte Nr. 105–161. 32 Schader, Redinger [s. Anm. 27], 67. 29

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2. Von der Freundschaft zwischen Römer und Zingg zeugen heute noch mehrere Handschriften mystischen, spiritualistischen und theosophischen Inhalts, die sich im Besitz der Zentralbibliothek Zürich befinden.33 Die Bände sind ein wichtiges Zeugnis nonkonformistischer Religiosität, die im streng orthodoxen Zürich im Verborgenen gelebt und gepflegt wurde. Sie sind eine schöne Momentaufnahme der Rezeption und Verbreitung von spiritualistischer Literatur; aber sie geben der Forschung einige Rätsel über die Herkunft sowie die genaue Entstehungszeit auf. Sie verraten lediglich, dass sie um die Mitte des 17. Jahrhunderts angelegt wurden. Im Folgenden sollen ein paar Streiflichter auf diese Bibliothek geworfen werden, denn die Handschriften zeugen von einem im deutschsprachigen Raum wohl weitverzweigten spiritualistischen Milieu, in dem sich Michael Zingg und Heinrich Römer bewegten.34 Die zehn Bände umfassende Handschriftensequenz lässt sich in zwei Teile gliedern. Sie umfasst erstens Schriften, die Michael Zingg entweder verfasste oder die von seinen Kontroversen mit der orthodoxen Kirchenleitung zeugen, und zweitens sechs Bände mit Abschriften und Paraphrasen von in spiritualistischen Kreisen geschätzten Texten. Teil der Sequenz ist zudem ein sorgfältig angelegter Registerband über vierundzwanzig mystische Druckschriften.35 Beim Schreiber der säuberlich in Pergament gebundenen Abschriften handelt es sich fast ausnahmslos um Michael Zingg. Aber die Bände standen einst in der Bibliothek von Heinrich Römer, denn sie tragen teilweise dessen Exlibris und gelangten Mitte des 18. Jahrhunderts aus dem Familienbesitz der Römer in die Zürcher Stiftsbibliothek.36 Einen großen Raum mit zwei umfangreichen Bänden nehmen Abschriften von Jakob Böhme ein. Weitere Briefe von und über den Philosophus Teutonicus sind in einem weiteren Sammelband mystischer Texte eingebunden. Anhand der auf 1657 datierten Handschrift kann die intensive Beschäftigung mit den in Abschriften kursierenden Texten Böhmes zeitlich eingegrenzt werden. Bei den kopierten Texten handelt es sich um Werke, die bis 1658 nicht im Druck auf Deutsch vorlagen. Noch weitere Texte, die nur in handschriftlichen Kopien über unbekannte spiritualistische Relaisstationen im Untergrund verbreitet wurden, kopierte Michael Zingg. Er ließ die Abschrif33

Es handelt sich um die Signatursequenz ZBZ Ms Car I 254–263. Eine eingehende Analyse und Verortung dieser nonkonformistischen Bibliothek ist seitens des Verfassers in Vorbereitung. 35 ZBZ Car I 257 und 258 [Jacob Böehms Schrifften]; Car I 259 und 260 [Sammler aus Mystischen Schrifften]; Car I 261 [Liber de Resipiscentia 2. Teutsche Theologia pract.]; Car I 262 [Register über XXIV Mystische Autores] und Car I 263 [Geistliche Gedichte Daniel Südermans Von etlicher Zeit zusammen geläsen]. 36 Jean-Pierre Bodmer u. Martin Germann: Kantonsbibliothek Zürich 1835–1915. Zürich 1986, 60. 34

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ten in zwei Bänden binden und bezeichnete sie als Sammler aus Mystischen Schrifften. Eine Sichtung dieser beiden Bände nahm Christian Scheidegger vor und stellte fest, dass neben den noch nicht in der Originalsprache edierten Texten Jakob Böhmes auch ins Deutsche übersetzte Textpassagen von dem unter dem Pseudonym Hiël schreibenden Hendrik Jansen van Barrefelt (1520?–1594?) anzutreffen sind, die erst 1687 gedruckt auf Deutsch vorlagen.37 Ebenfalls als handschriftliche Kopie zirkulierten übersetzte Textpassagen aus Francis Rous’ (1579–1659) Interiora regni Dei (1655) lange vor dem Erscheinen der deutschen Ausgabe mit dem Titel Das Innerliche Des Reichs Gottes (1682).38 Einen bedeutenden Platz nehmen Auszüge aus Christian Hoburgs (1607– 1675) Spiegel Der Misbräuche beym Predig-Ampt (1644) ein. Ferner wurden unter anderem Auszüge aus David Joris (1501/02–1556) sowie Textpassagen aus Daniel Friedrich (bis 1610) kopiert. Einen weiteren Band nimmt schließlich eine Sammlung mit Gedichten von Daniel Sudermann (1550–1631) ein. Eine zusätzliche Vorstellung von den in den spiritualistischen Kreisen Zürichs gelesenen Autoren vermittelt der Registerband, der auf vierundzwanzig, wohl gedruckte, Werke verweist.39 Anzutreffen sind: Sebastian Franck (1499–1542/43), Christian Hoburg, David Joris, Paul Lautensack (1478– 1558), Paracelsus (1493–1541), Johannes Tauler (um 1300–1361), Valentin Weigel (1533–1588) und Matthaeus Weyer (1521–1560). Bei einer Durchsicht der Sammelbände erhält man einen Eindruck davon, wie begierig Zingg die Texte mystischer und spiritualistischer Herkunft aufsog und wie eifrig er sie kopierte. Er scheint alles, was er aus seinem Netzwerk an Untergrundliteratur erhalten konnte, verarbeitet zu haben. Seine Sammlerwut rechtfertigte er mit der Bemerkung: „Verzeichnet zum Gedächtnus, Betrachtung vnd innigerem Vrtheil“40. Er war offenbar darauf bedacht, dass ihm nichts von den anregenden Schriften verloren ginge. Dabei kopierte er unbesehen, was er erhalten konnte, teilweise war er im Ungewissen über den Autor, teilweise lagen ihm nur Bruchstücke oder Paraphrasen von häretischen Schriften vor. Dieses eklektische Vorgehen wird beispielsweise deutlich an der Abschrift von 23 Briefen von Jakob Böhme: Die Sendschreiben werden mit anderen erbaulichen Briefen vermischt. Im Nachspann zu Zween Brieff von der Liebe Godtes. Geschriben durch Geörgen Preÿning, Weber zu Augspurg41 schließt nahtlos die Briefsammlung Jakob Böhmes an, wobei der Autor nur in den Initialen bekannt war: „Folgen andere Erbauliche Brieff, geschrieben von 37 Christian Scheidegger: Religiöse Strömungen in Zürich zur Zeit Scheuchzers. Von den Nonkonformisten des 17. Jahrhunderts zur pietistischen Bewegung. In: Natura Sacra. Der Frühaufklärer Johann Jakob Scheuchzer (1672–1733). Hg. v. Urs B. Leu. Zug 2012, 3–30, hier 12 Anm. 46. Vgl. ZBZ Ms Car I 259, 531–569. 38 Scheidegger, Strömungen [s. Anm. 37], 11 f. Anm. 39. Vgl. ZBZ Ms Car I 260, 131–151. 39 ZBZ Ms Car I 262. 40 ZBZ Ms Car I 260, Titelblatt. 41 ZBZ Ms Car I 260, 51 ff.

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I. B. T.“42 Es macht den Eindruck, als wäre Jakob Böhme in diesem Stadium der Rezeption nonkonformistischer Schriften durch Zingg erst einer von mehreren Verfassern erbaulicher Briefe gewesen, die namentlich nicht näher bekannt waren. Erst in einem späteren Stadium dürfte Böhme für Zingg zu einem der bevorzugten Autoren geworden sein, dem er dann auch zwei Bände handschriftlich kopierter Texte widmete. Die atemlose Begeisterung für die häretische Untergrundliteratur dürfte der junge Heinrich Römer mit Michael Zingg im letzten Drittel der 50er Jahre in Zürich geteilt haben. Obwohl der Kaufmann über gute Kontakte nach Amsterdam verfügte und indirekt entfernt mit der Familie Le Blon in Frankfurt in verwandtschaftlicher Beziehung stand,43 ist es kaum wahrscheinlich, dass die nonkonformistische Literatur über ihn zirkulierte. Alles spricht für Zingg als Zürcher Relaisstation eines verborgenen spiritualistischen Netzwerkes: denn er muss bereits in den frühen 30er Jahren einem solchen angehört haben, in dem Schriften von Paul Felgenhauer (1593–1677) zirkulierten. Sein ausgedehntes Korrespondenznetz dürfte auch der Obrigkeit nicht verborgen geblieben sein, denn als ihm 1661 der Prozess gemacht wurde, interessierte sich die Kirchenleitung ganz besonders für Zinggs Briefwechsel in die Niederlande sowie mit dem Heidelberger Medizinprofessor Kaspar Fäusius (1601–1671).44 Die Faszination der in spiritualistischen Kreisen verbreiteten und gelesenen Texte erfasste Heinrich Römer; Michael Zingg war der Vermittler. Er war so sehr der Vermittler, dass die Abschriften, die er in erster Linie für sich selbst anlegte und die auch lateinische Texte enthielten,45 zu einem unbekannten Zeitpunkt in den Besitz von Heinrich Römer übergingen. Die Abschriften dürften jedenfalls nicht zufällig in die Hände des Kaufmanns gelangt sein, dafür waren die Bände zu kostbar. Es ist eher davon auszugehen, dass die, teils als Offenbarung empfundenen, Texte spiritualistischer und theosophischer Provenienz nur an einen würdigen Liebhaber übergeben wurden. Für diese Annahme sprechen die sorgfältigen und kenntnisreichen Randbemerkungen, die der neue Besitzer in den Sammelbänden anbrachte. Es ist keineswegs so, dass Römer diese achtlos seiner Bibliothek einverleibt hätte. Ganz im Gegenteil – die von ihm hinterlassenen Spuren zeugen von einer hohen Wertschätzung, die er den Autographen Zinggs entgegenbrachte. Wer sich mit dem umfassenden Werk Jakob Böhmes vor dem Vorliegen 42 ZBZ Ms Car I 260, 63–130. Vgl. Werner Buddecke u. Matthias Wenzel: Jacob Böhme. Verzeichnis der Handschriften und frühen Abschriften. Görlitz 2000, 142, Nr. 192a. 43 Garnaus, Römer [s. Anm. 12], Stammtafel Nr. 10. 44 Werdmüller, Glaubenszwang [s. Anm. 23], 85, 103. 45 Es scheint wenig wahrscheinlich, dass Zingg die Abschriften im Auftrag von Römer anfertige. Einerseits sind die Hinweise, dass er die Sammlungen zum eigenen Gebrauch anlegte, allzu deutlich, und anderseits ist anzunehmen, dass Heinrich Römer die wichtigen Sprachen eines Kaufmannes, Deutsch, Italienisch, Holländisch und allenfalls Französisch, beherrschte, aber kein Latein.

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der Gesamtausgabe von 1682 bzw. vor den zwischen 1674 und 1678 durch Hendrick Beets (auch: Heinrich Betke, 1625?–1708) verlegten Schriften46 vertraut machen wollte, war auf Abschriften angewiesen, denn etliche Schriften lagen vorher nicht als Einzeldruck vor. Die handschriftlichen Kopien waren daher für die Liebhaber des Theosophen unverzichtbar. So auch für Heinrich Römer, wie die erwähnten zahlreichen Randnotizen von seiner Hand in den beiden Sammelbänden belegen. Einige Titel besaß er selbst bereits als Abschrift und vermerkte deshalb in den Bänden, wo sich die Texte in seiner Bibliothek auch noch befanden und wo er dazu ein Register angelegt hatte.47 Oder aber er notierte am Rand der Betrachtung göttlicher Offenbarung (177 theosophische Fragen) Querverweise zu anderen Schriften von Jakob Böhme.48 In den beiden Bänden Sammler aus Mystischen Schrifften gelingt es Römer bei den meisten Paraphrasen und Auszügen, die Zingg unbekannterweise kopierte, den Autor und das Werk in einer Marginalie aufzulösen. Die Randbemerkungen könnten darauf hindeuten, dass die Mitglieder des Zirkels um Michael Zingg, in dem sich auch Heinrich Römer bewegte, in der Zwischenzeit ihre Kenntnis über die spiritualistische Literatur vertiefen konnten und es ihnen allmählich gelang, sich auch schwer zugängliche Druckschriften zu beschaffen. Anhand der mystischen und spiritualistischen Sammlung erhalten wir einen Querschnitt des intellektuellen Umfelds, in dem sich der junge Heinrich Römer, eingeführt durch den umfassend gebildeten Mathematiker und Theologen Michael Zingg, bewegte. Die spätere Bearbeitung der Bände durch Römer deutet darauf hin, dass er seine Kenntnis über jene Literaturgattung weiter vertiefte und wohl auch seinen Fundus an derartigen Werken vervollständigte. Auch wenn über seinen Buchbesitz nichts überliefert ist, so darf dennoch vermutet werden, dass seine Bibliothek eine Art Bindeglied zwischen den beiden konfiszierten Bibliotheken des Häretikers Zingg49 und des Pietisten Locher50 darstellte, denn so ließe sich die große Ähnlichkeit zwischen den beiden Bibliotheken erklären.51 3. Heinrich Römer war ein erfolgreicher und im Alter wohlhabender Kaufmann. Sein Geschäft prosperierte, und er konnte 1682 für 6600 Gulden das 46 Willem Heijting: Hendrick Beets (1625?–1708), publisher to the German adherents of Jacob Böhme in Amsterdam. In: Quærendo 3, 1973, 250–280. 47 ZBZ Ms Car I 257, Nr. 2, 1. 48 ZBZ Ms Car I 257, Nr. 2, 141–199. 49 Leu, Chiliasten [s. Anm. 24], 62–69. 50 Bütikofer, Früher Pietismus [s. Anm. 5], 523–531. 51 Vgl. Leu, Chiliasten [s. Anm. 24], 73 f.

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Landgut zur Hub in Hottingen erwerben.52 Geld war für ihn aber nicht bloß Mittel zum ökonomischen Zweck, sondern diente auch zur Hebung der Frömmigkeit. Die gute Tat bestand für ihn in der Förderung und Finanzierung religiöser Literatur, die nur im Untergrund erscheinen durfte und somit nicht über einen funktionierenden Markt kapitalisiert werden konnte. Es ist bekannt, dass er kurz vor seinem Tod einen namhaften Beitrag an die Herausgabe der deutschen Übersetzung der Werke von Jane Leade (1623–1704) leistete.53 Die Vorgeschichte des Finanzierungsvorhabens reicht in die Zeit kurz nach dem Erscheinen der Gesamtausgabe von Böhme, Alle Theosophische Wercken (1682), zurück. Damals trat Johann Heinrich Locher in freundschaftlichen Kontakt zu Loth Fischer (1640–?). Fischer geriet als Anhänger Schwenckfelds und Böhmes mit den Nürnberger Geistlichen in Konflikt. Seitens der Obrigkeit ökonomisch hart bedrängt, begann er mit dem Vertrieb der Werkausgabe Böhmes. 1684 musste er mit Frau und Kindern endgültig die Stadt verlassen und ließ sich in Utrecht nieder, von wo aus er ein weitverzweigtes Korrespondenznetz mit Anhängern des Philosophus Teutonicus aufbaute und pflegte.54 Dieses Netzwerk bildete mehr als zehn Jahre später auch das organisatorische Rückgrat der deutschsprachigen Leade-Edition. Locher kam dabei die Aufgabe der Feinverteilung der Traktate im schweizerischen Raum zu. Aber er beschaffte in seinem Einzugsgebiet auch Gelder zur Finanzierung der Übersetzungs- und Druckkosten. Die Finanzierung der Schriften von Jane Leade erfolgte wahrscheinlich ähnlich wie jene der Böhme-Ausgabe von 1682 nicht bloß über eine Subskription. Denn es war nicht das primäre Ziel, ein zahlungskräftiges Publikum für die Traktate zu finden, das Ziel bestand viel eher darin, den Gläubigen die Schriften zur Verfügung zu stellen, unabhängig davon, ob sie sich diese auch leisten konnten. Der Finanzierungsmodus dürfte einen religiösen und sozialen Ansatz verfolgt haben.55 In den Pietistenprozessen von 1698 in Bern und Zürich wurde das im Untergrund der Mittelbeschaffung und dem Vertrieb dienende Netzwerk aufgedeckt.56 Die Leitung der Zürcher Kirche verdächtigte zuerst Johann Heinrich Locher als „Verleger“ von Jane Leades Himmlische Wolcke (1694). Auf dem Rathaus inhaftiert, wurde er am Samstag, 23. Juli 1698, ein weiteres Mal verhört und mit neuem belastende Material konfrontiert. Anlässlich der Konfiskation der Bibliothek Lochers kamen in den Regalen versteckte Briefe

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Garnaus, Römer [s. Anm. 12], 40. Bütikofer, Früher Pietismus [s. Anm. 5], 400. 54 Zu Loth Fischer vgl. Johann Christian Siebenkees: Materialien zur Nürnbergischen Geschichte. Bd. 1. Nürnberg 1792, 104–109. 55 Vgl. Bütikofer, Früher Pietismus [s. Anm. 5], 237 f. 56 Unter den Berner Pietisten konnte Locher mehrere Personen, u. a. Schumacher und Thormann, für finanzielle Beiträge an die Werke Jane Leades gewinnen. Vgl. Rudolf Dellsperger: Die Anfänge des Pietismus in Bern. Göttingen 1984, 127 Anm. 32. 53

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zum Vorschein. Eines dieser Schriftstücke führte direkt zum wohl wichtigsten Geldgeber: Es handelte sich um die Abschrift eines Briefes von Loth Fischer an „H: R: E:“: [Der] Inhalt wahre eine Danksagung für den Verlag der Himlischen Wolken mit bezeügung wie die Autorin J. L. [= Jane Leade] von so hoher erleüchtung und wie der Liebreiche Verleger sich einen unschezbaren Segens zu getrösten, weilen es Hoffnung gebe Godt möchte nun auch ermand zum Verlag der übrigen Erweken.57

Anfangs versuchte Locher die Schuld auf sich zu nehmen, sah sich aber im Verlauf der Einvernahme gezwungen, zuzugeben, dass mit den Initialen sein Onkel, Heinrich Römer der „Eltere“, gemeint war. Er musste eingestehen, dass die von ihm angegebenen Druckkosten von 40 bis 50 Reichstalern sein Budget weit überstiegen hätte.58 Zwischen der Böhme- und der Leade-Ausgabe war das Netzwerk um Loth Fischer mindestens noch in ein weiteres Editionsprojekt verwickelt. Auch hier war Heinrich Römer ein wichtiger Geldgeber. In der Familienchronik schreibt Locher freimütig über das finanzielle Engagement seines Onkels: A° 1686 [.] den 2ten Augusti verreiste HL [=Heinrich Locher] von Zürich, den 26ten zu Utrecht den 30 zu Amsterdam angelanget. Dem LF [=Loth Fischer] zu Utrecht wurden [auf] Ordre HR [=Heinrich Römer] rthl [=Reichstaler] 100 - bezalt. Die sind zur ausfertigung Hiels Büchern verwendet worden, von welchen die ungefahrliche Helfte A° 1687 in Teütschland, übrige A° 1690 zu Amsterdam getrukt worden.59

Locher unternahm 1686 eine Reise in die Niederlande, um seinen Freund Heinrich von Schönau (1654–1689) in der labadistischen Kolonie in Wieuwerd abzuholen.60 Auf der Hinreise machte er in Utrecht bei seinem Brieffreund Loth Fischer halt und lernte ihn persönlich kennen. Bei dieser Gelegenheit steuerte er im Auftrag seines Onkels einen bedeutenden Geldbetrag an das Editionsprojekt der auf Deutsch übertragenen Schriften von Hendrik Jansen van Barrefelt, die unter dem Pseudonym Hiël nach 1580 in Antwerpen und Köln erstmals erschienen waren,61 bei. Es handelt sich um die deutsche 57

Ms S. 276, Nr. 23, Bl. 12v. Ms S. 276, Nr. 23, Bl. 13r. 59 ZBZ Ms W 140, Bl. 65r. 60 ZBZ Ms S 276, Nr. 18, Bl. 3r. 61 Herman de la Fontaine Verwey: The Family of Love. In: Quærendo 6, 1976, 219–271; Alastair Hamilton: Hiël and the Hiëlists: The Doctrine and Followers of Hendrik Jansen van Barrefelt. In: Quærendo 7, 1977, 243–286; ders.: From Familism to Pietism. The fortunes of Pieter van der Borcht’s Biblical illustrations and Hiël’s commentaries from 1584 to 1717. In: Quærendo 11, 1981, 271–301; ders.: The Family of Love. Bd. 2: Hiël (Hendrik Jansen van Barrefelt), Bibliotheca dissidentium: répertoire des non-conformistes religieux des seizième et dix-septième siècles. Baden-Baden 2013. 58

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Übersetzung von Hiëls Schriften, die 1687 und 1690 bei Jakob Clausen in Amsterdam gedruckt wurden.62 Wie und warum sich das pietistische, an Böhme interessierte Netzwerk rund um Loth Fischer ausgerechnet für die Werke Hiëls begeisterte und eine Werkedition veranlasste, ist nicht bekannt. Es gibt aber beträchtliche Parallelen zwischen den frühen Pietisten und dem Haus der Liebe mit ihrem Wortführer, obwohl jene Strömung konfessionell dem Katholizismus zuzurechnen ist. Jedenfalls gelangten schon früh handschriftliche Übersetzungen nach Zürich: Michael Zingg erhielt bereits um 1657 Bruchstücke und Paraphrasen von Hiëls Texten, die er hoch schätzte, ohne den Autor und dessen Hintergrund genauer zu kennen.63 Aus einer Anmerkung Zinggs geht hervor, dass er lediglich wusste, dass der Text ursprünglich in Niederländisch geschrieben worden war und der Verfasser wahrscheinlich in Köln gelebt hatte.64 Hiël wurde, wie das Beispiel Zinggs zeigt, in spiritualistischen Kreisen Mitte des 17. Jahrhunderts zusammen mit Böhme und zahlreichen Mystikern rezipiert: Er galt als erleuchtet; durch ihn sprach der Geist des Herrn unabhängig von der Konfession. Über Michael Zingg kam auch Heinrich Römer in Kontakt mit Hiël, lange bevor jener die Herausgabe der ins Deutsche übersetzten Schriften finanziell förderte. Die Schriften Barrefelts, des zweiten Wortführers des Hauses der Liebe, waren für die ersten Zürcher Pietisten offensichtlich sehr attraktiv, und sie erkannten darin eine große Übereinstimmung mit ihren religiösen Überzeugungen. Obwohl sich die Vertreter des Hauses der Liebe teils aus Täufern und teils aus Katholiken zusammensetzten, stützten sie sich auf dieselben mystischen Grundlagen wie die Pietisten: die Theologia Deutsch, die Nachfolge Christi sowie die Werke Sebastian Francks. Dabei handelt es sich um eine irenische, überkonfessionelle Mystik, die in den Begriff von der Geistkirche mündet: Nur wer im Geist Christi lebt, kann Teil dieser Kirche sein. Die äußere Kirche mit ihren Zeremonien wird genauso abgelehnt wie das konfessionelle Dogma der Rechtfertigung durch den Glauben oder das Dogma der Prädestination.65 Die „Hiëlisten“ suchten eher einen dritten Weg66 zwischen den Konfessionen. Sie verurteilten die dogmatischen Auseinandersetzungen und kritisierten in

62 de la Fontaine Verwey, Family [s. Anm. 61], 259; Hamilton, The Family of Love [s. Anm. 61], 25. Bemerkenswert ist der Hinweis Lochers, wonach die erste Hälfte der Hiël-Drucke 1687 in Deutschland erschienen sei. Bisher wird in der Forschung angenommen, dass auch die Ausgaben von 1687 in Amsterdam gedruckt worden seien. Tatsächlich enthalten aber die Ausgaben von 1687 im Unterschied zu jenen von 1690 keine Ortsangabe. 63 Zingg kopierte beispielsweise Auszüge aus Hiël, Erklärung der Offenbarung Johannis, vgl. ZBZ Ms Car I 259, 531 ff. 64 Ms Car I 259, 352. 65 Hamilton, Hiël [s. Anm. 61], 256 ff. 66 Bezeichnend für diesen dritten Weg zwischen Protestantismus und Katholizismus ist die Biographie Huibert Duifhuis’, vgl. Hamilton, Hiël [s. Anm. 61], 259–266.

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allen Konfessionskirchen den Mangel an echter Frömmigkeit. Das bedeutete für sie aber nicht eine Absonderung von der Kirche; sie sahen ihre Aufgabe viel eher darin, die Kirchen – angesichts des nahenden Weltendes – zu vervollkommnen und den Geist der Liebe in sie hineinzutragen.67 Neben den Schriften Jakob Böhmes und später jener von Jane Leade waren die Werke von Hiël die am meisten verbreiteten Texte in der frühen Phase des Zürcher Pietismus; neben Hoburg bildeten Hiël und Böhme so etwas wie den pietistischen Kanon. Der Obrigkeit dienten diese Schriften in den Pietistenprozessen von 1689 bis 1698 als Erkennungsmerkmal eines Pietisten. Es erstaunt daher nicht, dass in der umfangreichen Bibliothek von Johann Heinrich Locher, neben Böhme, Hiël mit den meisten Titeln vertreten war.68 Römers Rolle als Financier der Untergrundliteratur reicht weit zurück. Auch Jakob Redinger konnte seine editorische Tätigkeit während seiner Gefangenschaft nur mit der Unterstützung des reichen Seidenfabrikanten ausüben. Davon zeugen zehn erhalten gebliebene Briefe Redingers an Römer: Aus dem Briefwechsel spricht die beklemmende Hilfsbedürftigkeit eines Gefangenen, der überall und von jedermann Unterstützung für seine Freilassung erhoffte. Aber die Briefe sind auch getragen von einem euphorischen Sendungsbewusstsein des Chiliasten, der seinen Lebensinhalt in der Verbreitung der Offenbarungen des tschechischen Visionärs Stephan Melisch69 gefunden hat. Das Leitmotiv aller Briefe sind die Offenbarungen, die Redinger übersetzte,70 zusammenstellte und teilweise selbst kommentierte.71 Römer kam 1674 erstmals mit Redingers Offenbarungsschrift in Kontakt:72 Am 26. 67

de la Fontaine Verwey, Family [s. Anm. 61], 249. Bütikofer, Früher Pietismus [s. Anm. 5], 203 u. 527. Heinrich Locher befasste sich mit dem Vertrieb der Schriften Hiëls. Er bot in einem Schreiben vom 11./21. und 15./25. Oktober an Gottfried Kirch im Tausch gegen bestellte pietistische Traktate Das Buch Der Gezeugnüssen des Verborgnen Akker-Schatzes (1690) und Dritter Theil der Christlich-geheimen Episteln oder Sendbrieffen (1690) zum Tausch an. Vgl. Klaus-Dieter Herbst: Die Korrespondenz des Astronomen und Kalendermachers Gottfried Kirch (1639–1710). Bd. 2. Jena 2006, Nr. 518, 150. 69 Wilhelm Bickerich: Der Lissaer Seher Stephan Melisch und sein Verhältnis zu Comenius. In: Zeitschrift der historischen Gesellschaft für die Provinz Posen 24, 1909, 249–313. 70 Als Vorlage diente Redinger eine der durch Comenius in zehn fortlaufend erweiterten Nachträgen in Latein auf seiner Hausdruckerei in Amsterdam in kleiner Auflage herausgegebenen Schrift: Visiones nocturnæ Stephani Melisch Pragensis, civis Lesnensis in Polonia, quas super eam civitatem, & regnum Poloniæ, regemque Sueciæ, & Franciæ, & aliis (anno 1655, 1656, 1657, 1658) habuit, Amsterdam 1659 ff. Vgl. Bickerich, Melisch [s. Anm. 69], 250 ff. u. 262 f.; Schader, Redinger [s. Anm. 27], 67. Der Druck lässt sich in der British Library sowie in der University of Manchester Library nachweisen. 71 Bereits Comenius versah die Visionen von Melisch mit Kommentaren. Es ist aber anzunehmen, dass Redinger die Anmerkungen zu den in der Himelische Zeitungen abgedruckten Gesichten teilweise selbst verfasste; so weicht beispielsweise der ausführliche Kommentar Redingers zum XI. Gesicht deutlich von der knappen Anmerkung durch Comenius ab. Vgl. Bickerich, Melisch [s. Anm. 69], 313, Anm. 1. 72 Am 22.03.1677 schrieb Redinger an Römer: „Dieweil der Herr [=Heinrich Römer] Steffan 68

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August erhielt er einen Brief des im Spital inhaftierten Redinger, dem die Abschrift einer frühen Version der chiliastischen Schrift Himelische Zeitungen beigefügt war: Ich habe bisher keine Gelegenheit und Mitel gehabt, beiligendes Buchlein im Truk zuverfertigen, und dem Herrn meinem Versprechen nach, etliche Abtrüke mit zuteilen. ich bitte derhalben freündlich, der Herr wole das geschribene Büchlein, zu einem geringen Denk Zeichen meiner Dankbarkeit für bewisene guetthaten annemen, selbiges nach belieben seinem Herrn Schwäher, und anderen gueten freünden auch zu lesen mitteilen.73

Redingers oberstes Anliegen während der ersten Jahre seiner Inhaftierung war die Publikation der kommentierten Visionen von Stephan Melisch. In Römer glaubte er offenbar einen Gleichgesinnten gefunden zu haben, der an der chiliastischen Schrift Anteil nahm und den gefangenen Herausgeber tatkräftig unterstützen würde. Als Gegenleistung hätte Römer mehrere Exemplare des Traktates erhalten sollen. Der Ton des oben zitierten Briefes ist noch distanziert, aber inhaltlich bestand zwischen den beiden bereits eine gewisse Nähe, denn Redinger legt die Absichten, die er mit der Publikation verfolgt, offen dar. Er beabsichtigt, den Traktat anonym in der Schweiz zu verbreiten, und zwar sowohl in den reformierten als auch in den katholischen Orten. Überzeugt, dass es wie zur Zeit der Apostel auch in der neueren Zeit noch göttliche Offenbarungen gebe, verfolgt er die Absicht, durch sein „warhafftes Prophetisches Büchlein“ die Kontroverstheologie in der konfessionell gespaltenen Eidgenossenschaft zu überwinden. Methodisch ist Redinger überzeugt, dass er den Visionen eine Erklärung beigeben müsse. In den Kommentaren zu den „Gesichten“ beabsichtigt er dem Leser seine Ansicht auseinanderzusetzen, dass die Prophezeiungen mit der biblischen Offenbarung übereinstimmen und einige der Vorhersagen des tschechischen Schneiders bereits eingetroffen seien: Dieweil das Lesen heiliger Schrifft dem gemeinen Mann beÿ ihnen verbodten ist, so habe ich desto mehr Zeignußen H. Schrifft in meiner Erklärung über das Büchlein angezogen, und völlig aufgeschriben: damit sie die Übereinstimmung des Wort Gottes in den alten, und neüwen Weissagungen sehind, und durch Vergleichung mit den iezigen schweren Zeiten desto eher bewegt werdind, der Evangelischen Warheit zuglauben, aus dem Widerchristischen Babel auszugehen, und sampt unserem Evangelischen hochen Oberkeiten die algemeine Vereinigung der Glaubenslehr, allein nach dem seligmachenden Wort Gottes, desto williger in loblicher Eidgenosschafft Melisch nächtliche Gesichte vor dreÿen Jahren gelesen hat, und daher eigentlich weißt, daß vil seiner Gesichten albereit erfüllet und die übrigen in allem Erfüllen begriffen sind: so bite ich eiferig den Herr wole beÿligende Schrifften wolbekanten Rathsfreünden zu Befürderung meiner Erledigung mittheilen, sie ernstlich vor fernerer Verachtung und Verwerffung der iederweiliger[?] Göttlicher Offenbarungen Warnen [. . .]“. (ZBZ Ms F 196, Bl. 154r.) 73 ZBZ Ms F 196, Bl. 1r [Brief Johann Jakob Redingers an Heinrich Römer vom 26.08.1674].

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anzufangen und anderen Ständigen kräfftigen Anlas zugeben, ihrem Gottseligen tapferen, und ruemlichen Beÿspil heilsamlich nachzufolgen.74

Das Ziel – angesichts des nahenden Millenniums – ist die Bekehrung der Eidgenossenschaft zur „reinen Evangelischen Lehre“. Und dieses Ziel ist nur in der Wiederherstellung der konfessionellen Einheit realisierbar. Sowohl die katholische als auch die reformierte Kirche hält er für gescheitert und bezeichnet beide gleichermaßen als unchristliches Babel. Den Ausweg sieht er im „selig machenden Wort Gottes“, ohne hier seinen Kirchenbegriff näher auszuführen. Es ist jedoch offensichtlich, dass auch er – wie die „Hiëlisten“ – eine Art dritten Weg zwischen den Konfessionen propagierte. Bis zur gedruckten Ausgabe des prophetischen Traktates vergingen noch weitere vier Jahre. Teilweise mangelte es Redinger an Geld, denn sein Vermögen wurde bei seiner Verhaftung konfisziert,75 teilweise waren die Haftbedingungen so hart, dass an eine heimliche Publikation der Offenbarung nicht zu denken war. Die fehlenden Mittel, um die Druckkosten zu bezahlen, bewogen ihn, sich im Herbst 1674 erneut brieflich an Römer zu wenden: Wann mir ein gueter freünd vierzig Reichsthaler zum Verlag tausend Abtrüken bewußten Büchleins durch Wechsel fürstreken wole ich es in höchster geheim und verschwigenheit truken laßen, das gelihne aus dem ersten erlößten gelt bezalen.76

Das Blatt wendete sich für Jakob Redinger erst im Mai 1678 zum Besseren: Seine Haftbedingungen wurden stark gelockert, damit er die Söhne von Zürcher Bürgern in Italienisch und Französisch unterrichten konnte.77 Die Gunst der Stunde nutzend, publizierte er ohne Genehmigung durch die Zürcher Zensur den Traktat. Doch die Obrigkeit kam ihm bald auf die Schliche: Die Bewilligung des Privatunterrichts wurde zurückgenommen und ein härteres Haftregime verhängt. Am 31. August wurde er eingehend über seine Tätigkeit als Herausgeber der Himelische Zeitungen (1678)78 verhört.79 Darüber geriet Heinrich Römer in Sorge, dass er im Verhör als Geldgeber der illegalen Schrift genannt worden sei. Doch Redinger konnte Entwarnung geben: Dem Herren angedeüteten Verdacht zu benenen, kann ich meiner seÿts ihne versichern, daß ich zu Ende verwichenen Augstmonats, die damahlige Herren Nachgän74

ZBZ Ms F 196, Bl. 1r [Brief Johann Jakob Redingers an Heinrich Römer vom 26.08.1674]. Schader, Redinger [s. Anm. 27], 25. 76 ZBZ Ms F 196, Bl. 99r [Brief Johann Jakob Redingers an Heinrich Römer vom 04.09.1674]. 77 Schader, Redinger [s. Anm. 27], 30. 78 Himelische Zeitungen/| von dem fröli=|chen Ausgang gegenwerti=|ger schwerer Kriegen. | 1. Durch Abschaffung aller Abgöterey/ auff der gan=|zen Welt. | 2. Durch Vereinigung der Christen/ in der Glau=|bens=Leere. | 3. Durch Bekeerung der Juden/ türken/ Heiden/| zu dem ernewerten waaren Christenthum, o. O. 1678. Zum Inhalt vgl. Schader, Redinger [s. Anm. 27], 66 ff. 79 StAZH, A 24.2. Vgl. Schader, Redinger [s. Anm. 27], 68 f. 75

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ger mit Warheit berichtet habe, daß ich die zu meinem Büchlein anewendete dreÿßig Guldin in meiner eilfjäriger Verhafftung, meisten theils von meinem ersparten Brot zuwegen gebracht habe.80

Selbst wenn Redinger im Verhör die Wahrheit gesagt und für den Druck seine gesamten Ersparnisse verwendet haben sollte, so spricht der Verlauf des Briefwechsels zwischen Römer und Redinger eindeutig dafür, dass Römer der effektive Geldgeber hinter dem Druck des chiliastischen Traktates war. Und Römer unterstützt Redinger auch später noch in dessen editorischer Tätigkeit: Er wird erneut von Rediger um ein Darlehen von 60 Gulden zum Druck der aus dem Niederländischen übersetzten Unglükliche Schiffs=Leute (1679) gebeten.81 Gleichzeitig behauptet er aber gegenüber dem Bürgermeister, bei den 60 Gulden handle es sich um die Ersparnisse aus seiner Unterrichtstätigkeit.82 Auch bei dieser theologisch und politisch harmlosen, mit Erlaubnis der Zensurbehörde gedruckten Schrift verschleiert Redinger seine Finanzquelle nach dem bisherigen Muster. Redinger arrangierte die prophetischen Träume nicht chronologisch, wie sie Melisch empfangen hatte, sondern nach dem Lauf der Weltgeschichte. Die ersten drei wurden kurz nach ihrer Eingebung bereits erfüllt und zeugen von der Wahrhaftigkeit des Sehers. Danach folgen fünf Prophezeiungen, deren Eintreten kurz bevorsteht, und abschließend kommen vier Visionen, deren Erfüllung geschichtlich noch in der Ferne liegt.83 Stephan Melisch, der Visionär, der Redinger restlos in den Bann zog, war Mitglied der Böhmischen Brüder und ein Freund von Jan Amos Comenius. Seit Ostern 1655 hatte er nächtliche Visionen, die er Comenius zuerst in Leszno (Lissa) mündlich und später brieflich nach Amsterdam mitteilte. Dieser ließ die prophetischen Träume hinter Melischs Rücken drucken.84 Die Visionen sind von der politischen Hoffnung getragen, dass Frankreich die Zeitwende einleite, indem es das Papsttum und mit ihm die katholischen Mächte Habsburg und Spanien besiege. Das das Papsttum verkörpernde Tier der Offenbarung wird beispielsweise im 95. Gesicht von einem Frankreich symbolisierenden weißen Mann aus dem Westen erschlagen.85 Der Visionär 80 ZBZ Ms F 196, Bl. 221r [Brief Johann Jakob Redingers an Heinrich Römer vom 07.06.1679]. 81 ZBZ Ms F 196, Bl. 222r [Brief Johann Jakob Redingers an Heinrich Römer vom 07.06.1679]: „Nächst freündlichem Grueß berichte ich hiemit, daß angedeütete Buchlein (deßen Titel hernach folget) in die sechzig Guldin auf 1500 Abtrüke von zwölf bogen auf das höchste kosten möchte. Wann mir der Herr angedeütetes Gelt angedeüter maßen günstig fürstreken wird, hoffe ich durch Gotes gnädigen Sägen, einen ehrlichen Gewinn dabeÿ zu erlangen, und verspriche ihme aus dem ersten erlösten Gelt nach der Herbstmeß zu Frankfurt mit großem Dank widerum zu befridigen“. 82 Schader, Redinger [s. Anm. 27], 71. 83 Vgl. Himelische Zeitungen [s. Anm. 78], 2. 84 Bickerich, Melisch [s. Anm. 69], 260 u. 265. 85 Himelische Zeitungen [s. Anm. 78], Das XCV Gesicht, 18–21. Redinger kommentiert das

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wähnte sich dem Millennium nahe; im 84. Gesicht hört er die Posaune „als die letste der ieziger Zeit“ blasen, bevor (gemäß Apk 11,17) Gott die Herrschaft antreten wird. Doch bis zum „grossen Fall des Gotslesterers zu Rom“ werden der Menschheit noch schreckliche Heerzüge der Türken und großes Leid bevorstehen.86 Ein anderes tragendes Element der Visionen Melischs ist jene Hoffnung, die auch Redinger in seinem Brief an Römer vom 26. August 1674 ausdrückte, nämlich auf die Etablierung einer überkonfessionellen Kirche bzw. auf eine Vereinigung der protestantischen Glaubensrichtungen. In der 17. Vision wird dies mit drei Brunnen ausgedrückt, welche die lutherische und evangelische Kirche sowie die Unität der Böhmischen Brüder symbolisieren und die in einen einzigen von der Herrlichkeit des Herrn überstrahlten Brunnen verschmelzen.87 Das dritte Element der Visionen, welches das Millennium prophezeit, ist die Bekehrung der Juden, Türken und Heiden.88 Noch mindestens auf Grund einer weiteren devianten Schrift kann Römer als großzügiger Mäzen identifiziert werden: Recherche dans le livre de l’Eternel,89 die sein pietistischer Freund Heinrich von Schönau 1689 in Amsterdam drukken ließ. Von Schönau war mit Heinrich Römer und Heinrich Locher eng befreundet und mit ihnen zusammen einer der tonangebenden Exponenten der neuen pietistischen Bewegung in Zürich. Das Buch ist von einer Naherwartung getragen, die auf die loci communes der von Redinger verbreiteten Visionen zurückgreift, wonach vor dem Reich Christi auf Erden zuerst das Papsttum untergehen müsse, wobei Frankreich eine tragende Rolle bei der Erneuerung der Kirche spielen werde: Im Vorwort wagt von Schönau einen kühnen Blick in die Zukunft und sieht bereits für das kommende Jahr – d. h. für 1690 – den beginnenden Niedergang der Jesuiten. Danach geht die Vorbereitung auf das Millennium Schlag auf Schlag: Im folgenden Jahr würden die unterdrückten Quietisten in Italien aufleben. Denn bereits jetzt höre man von verschiedenen Orten, dass der von Gott ausgesandte Geist zu ihnen zurückkehre und sich besonders bei ihnen rege. Auf das Ende des Jahrhunderts prophezeite Ereignis folgendermaßen: „Wie die Könige in Frankreich dem Päpstischen Thier/ in den Kriegen wider die Langebärte/ auf den Römischen Stuel geholffen haben/ also werden sie dem Papstthum/ mit gegenwertigen Kriegen (auch wider ihr Absehen) den grössesten und hartesten Stoß/ zum endtlichen Fall geben und mit der plözlicher Verstörung Babels die Kinder Syons erlösen“. Auch Drabík sah im Sonnenkönig den politischen Heilsbringer, aber Bickerich weist nach, dass Melischs Visionen unabhängig entstanden, denn er habe bereits ein Jahr vor ihm Frankreich als Weltretter prophezeit. Bickerich, Melisch [s. Anm. 69], 276 f. 86 Himelische Zeitungen [s. Anm. 78], Das LXXXIV Gesicht/ vom 23. Tag Merzens/1663, 26 f. 87 Himelische Zeitungen [s. Anm. 78], Das XVII Gesicht/ vom 1656 Jar, 31. 88 Himelische Zeitungen [s. Anm. 78], Das LXXII Gesicht, 37 f. 89 Johann Heinrich von Schönau : RECHERCHE | Dans le Livre | DE L’ETERNEL. | SUR | L’Etat present & à venir de l’Eglise, | & sur la destinée de ses Ennemis. En | particulier, sur la chute prochaine de la | Hierarchie Papale, sur le Periode expirant | des Jesuites, sur les évenements des Refor-|mez, de France, & des Quietistes d’Ita-|lie, sur une Reformation glorieuse | que l’on a sujet d’attendre en France, | & sur le grand Sabath de l’E-|glise, avant la fin du monde. [. . .]. Amsterdam 1689.

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erwartet er die große Wende; das Papsttum werde stürzen. Darauf folge in Frankreich eine glorreiche Reformation, und es werde die Kirche der ersten Christen aufleben. Für Zürich äußert von Schönau die Hoffnung, dass die Reformation erneuert und vollendet werde.90 Im letzten Kapitel beschreibt von Schönau ausführlich „Le grand Sabbath de mille ans, ou le Renouvellement general de l’Eglise, avant la fin du monde“. Die glorreiche Wiederkehr Christi auf Erden ist für ihn eine unerschütterliche Gewissheit. Erst dann werden die Juden, Türken und Heiden bekehrt, denn Jesus werde sich selbst die glanzvolle Bekehrung der Irrenden und Ungläubigen vorbehalten.91 Nach Ablauf der tausendjährigen Herrschaft Jesu Christi und der Heiligen auf Erden werde Satan freigelassen und gerichtet. Danach folgt das Jüngste Gericht, „qui finira le tem[p]s, & commencera l’éternité“.92 Bereits 1688 ließ von Schönau seine kirchenkritischen Betrachtungen Uber die geheimbe Fürbilder, der sechs Tage der Welt=Erschaffung in Basel drucken.93 Die prophetische Schrift forderte im Anhang die Zürcher Kirche und Obrigkeit unumwunden zu Reformen auf und löste an der Limmat einigen Ärger aus. Die Zürcher Zensurbehörde intervenierte darauf erfolgreich in Basel und verhinderte dort die Drucklegung der zweiten, französischen Schrift.94 Den Zürcher Pressionen ausweichend, reiste von Schönau ins tolerantere Amsterdam. Anhand des Briefwechsels zwischen Locher und von Schönau, kann die Finanzierung des Buches rekonstruiert werden: Von Schönau dürfte seine Reise ausgerüstet mit einem Startkapital von 300 Talern angetreten haben. Ein unbekannter Spender aus Utrecht steuerte weitere 100 Taler bei. Am 23. Juli 1689 schrieb Locher im Auftrag Römers an von Schönau, falls die 300 Taler für den Druck und für die Reise nicht ausreichen sollten, könne er weiteres Geld anfordern.95 Von Schönau antwortete darauf am 6./16. August aus Amsterdam, er habe eine Spende von 100 Talern eines Frans Andriesen erhalten; der Druck und sein Aufenthalt in Amsterdam seien somit bezahlt.96 4. In Zürich fand 1689 erstmals eine Verfolgung von Pietisten statt. Der unmittelbare Anstoß zum kirchlichen und obrigkeitlichen Vorgehen geht nicht eindeutig aus den Quellen hervor.97 Johann Heinrich Fries (1639–1718)98 90

von Schönau, Recherche [s. Anm. 89], Bl. 8r [Preface]. von Schönau, Recherche [s. Anm. 89], 306. 92 von Schönau, Recherche [s. Anm. 89], 314 f. 93 Vgl. Scheidegger, Strömungen [s. Anm. 37], 17 f. 94 ZBZ Ms S 276, Nr. 18, Bl. 11r/v. 95 ZBZ Ms W 140, Bl. 65r. 96 ZBZ Ms S 276, Nr. 18, S. Bl. 14r; ZBZ Ms W 140, Bl. 65r. 97 Die Ereignisgeschichte der ersten Pietistenprozesse Ende des 17. Jahrhunderts in Zürich ist bisher nicht systematisch aufgearbeitet worden. Bei Julius Studer: Der Pietismus in der zürcheri91

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leitet in seiner Chronik über Religions-Sachen im Vaterland die Aufzeichnungen über den ersten Pietistenprozess wie folgt ein: Weil H. Georg Ziegler Exspectant eine Gewohnheit hat zupredigen nach des Arnd[t]s und Hoburgs manir, und immerdar Zurede vom ineren Menschen, tringende allein auf die praxis virtutem, welches an ihm selb[st] nicht bos sonder recht ist, weil Er aber zu Stadelhofen in Kürsinger [=Kürschner] Breÿsachers Haus eine Zusamenkunft gehalten, und daraus leicht der Labadisten od[er] heutige Quietismus gepflanzt werden möchte, als[o] hat man die Hn Diaconus der Statt verordnet, auf diese Ding zubeobachten, und dan davon an seinen ort Bericht abzustatten.99

Der Eintrag in der Chronik zeugt von einer zögerlichen Haltung der Kirchenleitung. Es entsteht der Eindruck, als habe die Beobachtung der pietistischen Konventikel, die sich um den angehenden Pfarrer Johann Georg Ziegler (1659–1749) bildeten, nicht erst im Herbst eingesetzt, sondern schon einiges früher.100 Im Verlauf des Prozesses stellte sich heraus, dass die Geistlichkeit über das pietistische Beziehungsgeflecht recht gut unterrichtet war. Es scheint jedoch, dass ihr ein Anlass fehlte, um gegen unbescholtene Stadtbürger vorgehen zu können. Es musste offensichtlich ein auslösendes Moment für die Prozesse gefunden werden: Weil das gerücht stark gieng, daß Labadismus, Quietismus, Catharismus oder der gleichen Sect in der Statt einreissen wolt, als[o] ist H. Georg Ziegler für Hn Corherschen Kirche am Anfang des vorigen Jahrhunderts, nach ungedruckten Urkunden. In: Jahrbuch der Historischen Gesellschaft Zürcher Theologen. Bd 1. Zürich 1877, findet die erste Phase nur eine marginale Behandlung. Das Quellenmaterial aus dem Staatsarchiv des Kantons Zürich, E I 8.1 bis E I 8.5, das Studer bearbeitete, enthielt nur wenige Akten aus der Zeit vor 1714. Weitere Quellen des Staatsarchivs und der Zentralbibliothek zog er für seine Arbeit nicht heran. Nachfolgende Autoren wie Wilhelm Hadorn und Paul Wernle stützten sich in ihren Darstellungen auf die Quellenarbeit Studers. Sie werteten selbst kaum neues Quellenmaterial aus. Auch in meiner Dissertation berücksichtigte ich die Ereignisse der ersten Phase lediglich in prosopographischer Absicht sowie mit dem Fokus auf die Ereignisse um Johann Heinrich Locher. Ein Ansatz, die Ereignisse der ersten Welle der Pietistenverfolgung aufzuarbeiten, findet sich in der unvollendeten Dissertation von Oskar Stoye. Das vor etwa hundert Jahren geschriebene Manuskript befindet sich heute in der Zentralbibliothek Zürich (Ms Z V 100). Ein weiterer Ansatz ist in Otto Anton Werdmüllers Darstellung der Verfolgung Johann Hochholzers zu finden. Vgl. Werdmüller, Glaubenszwang [s. Anm. 23]. Damit die Pietistenprozesse von 1689 und 1692 etwas plastischer dargestellt und die Rolle Heinrich Römers im pietistischen Milieu herausgearbeitet werden kann, sollen die Ereignisse hier etwas breiter, jedoch nicht umfassend dargestellt werden. 98 Fries war als Chorherr und Professor für Sprachen und Rhetorik ein Zeitzeuge der Prozesse. Vgl. Karin Marti-Weissenbach: Art. „Fries, Johann Heinrich“. In: Historisches Lexikon der Schweiz (HLS), Version vom 29. 10. 2009, URL: http://www.hls-dhs-dss.ch/textes/d/ D25935.php. 99 ZBZ Ms B 185, Bl. 88r. 100 Ein Selbstzeugnis Heinrich Lochers erwähnt erste Einvernahmen durch Antistes Anton Klingler (1649–1713) und Professor Schweizer im Frühjahr 1689. Betroffen waren Heinrich von Schönau, Georg Ziegler, Friedrich Speyer, Heinrich Locher sowie Barbara und Jakob Sprüngli. Vgl. ZBZ Ms S 276, Nr. 18, Bl. 12r.

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ren Schwizer und Hn Prof. Ott als der Hn Exspectanten Praesiden und Decanum geforderet und seiner meinungen halb gefragt worden.101

Es gab keinen religionspolitischen Skandal, der ein Einschreiten verlangt hätte. Es lag lediglich ein Gerücht vor, dass sich eine Sekte ausbreiten wolle. Aber es bestand gleichzeitig eine theologische Konfusion darüber, worum es sich bei diesen Privatzusammenkünften nun genau handeln sollte: Labadisten, Quietisten oder gar Katharer? Doch die Gelegenheit war im September 1689 günstig, um gegen die missliebige Gruppe vorzugehen. Und der Ärger über die Pietisten war in der Kirchenleitung sehr groß. Günstig war die Situation deshalb, weil im selben Monat Johann Heinrich von Schönau auf dem Rückweg aus den Niederlanden in Meiningen in einem Gasthaus unerwartet verstarb. Der Zürcher Junker hatte in Amsterdam die Herausgabe der französischen Ausgabe seiner kirchenkritischen Schrift besorgt. Die Kirchenvorsteher mussten es auf von Schönau ganz besonders abgesehen haben, aber sie wagten es angesichts seiner hohen gesellschaftlichen Stellung nicht, ihn anzugreifen. Dass der Junker über seinen Tod hinaus im Fokus der Geistlichkeit stand, erschließt sich aus der wiederholten Vermutung, bei den Konventikelkreisen handle es sich um Labadisten: Denn es war von Schönau, der im Ruch des Labadismus stand, weil er einige Jahre in der „sainte Compagnie des veritables enfants de Dieu“ in Wieuwerd zubrachte, ehe er sich von dieser Bewegung wieder ablöste.102 Die Gelegenheit war nach dem überraschenden Ableben eines hochgestellten Wortführers („einer der Hauptern“103) des Pietismus günstig, um gegen die heterodoxe Gruppe einzuschreiten. Aber auch der Ärger war groß, denn die Kirchenleitung versuchte sich des schriftlichen Nachlasses des Junkers zu bemächtigen. Sie kam jedoch zu spät und verlor das Wettrennen mit von Schönaus Gesinnungsgenossen. Die weitreichenden pietistischen und kaufmännischen Verbindungen von Johann Heinrich Locher waren effizienter und schneller.104 Die Zürcher Pietisten konnten das sie allenfalls belastende Material in Sicherheit bringen. Die Kirchenbehörde setzte ihre Untersuchung bei den zwei schwächsten Gliedern im pietistischen Netzwerk an: Einerseits wurde Georg Ziegler unsanft angepackt. Er war ein Zürcher Bürger, der aus dem Handwerksmilieu in den Theologenstand aufsteigen wollte; auf den angehenden Pfarrer („Exspectant“) hatte die Geistlichkeit einen direkten Zugriff. Andererseits nahmen sie Friedrich Speyer, einen Barbiergesellen aus der Pfalz, in die Mangel. Dieser genoss als Fremder keinen Schutz. Er wurde umgehend im Oetenbach inhaftiert. Die beiden wurden als erstes über ihre nonkonformen Glaubensvorstellungen befragt. 101

ZBZ Ms B 185, Bl. 88r. Vgl. Bütikofer, Früher Pietismus [s. Anm. 5], 374 f.; Scheidegger, Strömungen [s. Anm. 37], 14 f. 103 ZBZ Ms B 185, Bl. 88v. 104 Vgl. ZBZ Ms S 276, Nr. 18, 25 f. [Brief Johann Heinrich Lochers an Georg Lang in Nürnberg vom 30.09.1689]. 102

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Bereits am 3. Oktober konnte die Kirchenleitung in einem Brief an den Bürgermeister, in dem um Unterstützung durch die Obrigkeit nachgesucht wurde, die ersten Ergebnisse ihrer Untersuchung zusammenfassen. Sie berichtet, daß durch Göttliche Verhängnus sich alhier an gewüssen Personen Vermerken lassen schädliche, dem Wort Gottes und Christlichen Glaubens und Lehr zu wider lauffende irthumer, welche beruhen auf einer eingebildeten eigenen folkomenen und unsündlichen gerechtigkeit, verwerffung des gebäts um Verzeihung der sünden, geringschäzung des H. Geschriebenen Worts Gottes, und anderen anfangenden Stüken.105

Bei der Lehre von der Impekkabilität, welche die Examinatoren bei Georg Ziegler und Friedrich Speyer antrafen, handelt es sich um eine übersteigerte Wiedergeburtslehre. Ein Wiedergeborener erreicht demnach bereits im irdischen Leben den Gnadenstand; er erreiche die gänzliche Heiligung und Vollkommenheit, so dass diese Person nicht mehr sündigen könne. Speyer sagte im ersten Verhör vom 2. Oktober, „er sei jez eine neue Creatur in Christo“. Er könne deshalb nicht mehr lügen.106 Das ‚innwendige Zeugnis des Geistes‘ wird zum Maß aller Dinge und über die Bibel gestellt.107 Christus im Herzen ist die einzige Autorität. Dies hat zur Konsequenz, dass jedes Bücherwissen radikal abgelehnt wird. Die übersteigerte Wiedergeburtslehre wurde in den Zürcher Pietistenkreisen aber nicht einhellig geteilt. Johann Heinrich Locher beispielsweise war mehr als skeptisch. Er schrieb am 16. Juli an seinen Freund von Schönau nach Amsterdam und schilderte ihm sein starkes Unbehagen, das er gegenüber der Impekkabilitätslehre empfand: Alle Freünde so hier als zu Bern und Schaffhausen sind zu Bücher finden worden, und ich widerspreche nichts, sondern Sitze in der Stille Gott bittende, daß alles zu seinen Ehren und unßerm Heÿl dienen möge.108

Die Ablehnung von Büchern war nicht nur rhetorischer Natur: Im ersten Verhör schilderte Friedrich Speyer freimütig, dass er aus seiner neuen Überzeugung heraus Hiëls und Böhmes Werke verbrannt habe.109 Umso schmerzlicher muss es für Locher gewesen sein, als er erfuhr, dass sein Onkel Heinrich Römer sich plötzlich ebenfalls für die bücherfeindliche Impekkabilitätslehre begeisterte. Locher beschrieb die für ihn sehr schwierige Zeit: Damals [=1689] hegete Er [= der Wanderprediger Christian Theodor Wolther, s. u.] die Lehr von der Impeccabilitet, mahnete die Gläubigen ab, vom Bedten, Fasten, Creützigung des Fleisches und allen Bußwürkungen, und weilen Locher nit wie fast alle anderen bekante freünden thaten, beÿfallen wollte, ward Er von den anderen und sonderlich von Wolther übel angesehen, so gar daß Herr Heinrich Römer ein105 106 107 108 109

ZBZ Ms B 185, Bl. 90r [Kopie eines Schreibens an den Bürgermeister vom 3.10.]. ZBZ Ms B 185, Bl. 91r. ZBZ Ms B 185, Bl. 96v. ZBZ Ms S 276, Nr. 18, 22. ZBZ Ms B 185, Bl. 91r.

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mal mit Eÿfer zu Locher sagte: wann du nit glauben kanst oder wil[s]t, so laße doch andere ungestört.110

Die Isolation in der pietistischen Gemeinschaft war für Locher so einschneidend, dass sie noch 22 Jahre später in der Familienchronik der Römer Erwähnung fand. Die Isolation war doppelt bitter, weil selbst sein Onkel und Mentor sich von ihm abwandte und sich zeitweise zu den Anhängern Wolthers schlug. Besonders schmerzlich war es für ihn, zu erfahren, dass Wolther auf seiner Rückreise von Bern in Baden Halt machte und dort den mit seiner Familie zur Kur weilenden Römer besuchte.111 Die Faszination Heinrich Römers für die perfektionistische Lehre der Unsündbarkeit muss bald wieder abgeklungen sein, oder er verstand es, sich gut zu verstellen. Denn bereits zum Auftakt des Pietistenprozesses beschlossen die Stiftsherren, zahlreiche Verdächtige, unter ihnen auch Heinrich Römer, durch den Pfarrer ihrer Kirchgemeinde befragen zu lassen. Beim Rapport über die Verhöre mussten die Geistlichen aber feststellen, dass die Pietisten nicht einer einheitlichen Lehre anhingen: Und haben [die Pfarrer] sich befunden, daß die Leute [=Pietisten] sehr ungleichen sinnes seien. Sonderlich solle der Herr Römer und der H. Locher bezeuget haben iren grossen Schmerzen, der si daher haben, daß man si in Verdacht so Verkehrter Lehr habe. Si sagten, daß si zwar vermeinten unser leben sollte der Lehr gemäss sein, si trachten auch unsträfflich zu leben, so vil als möglich, allein si erkennen ihre unfolkomenheit, ihre mängel und sünde, und bitten unaufhörlich Gott den Herrn, daß Er si ihnen wolle verzeihen.112

Wie es zur Verbreitung dieser aus Sicht der Kirchenleitung ‚gotteslästerlichen Lehre‘ kam, die auch dem Pietisten Locher große Sorgen bereitete, verriet Speyer seinen Examinatoren: „Der Lüneburger, namens N. Wolther, habe ihn auf die Bibel gewisen, daraus er seinen Glauben habe.“ Er sei vor acht oder zehn Wochen bei ihm vorbeigekommen, und er habe ihn bei sich zu Hause rasiert.113 Der deutsche Student war ein Wanderprediger, der auf seinen Reisen die perfektionistische Lehre von der Wiedergeburt verbreitete.114 Christian Theodor Wolther kam über Schaffhausen nach Zürich und reiste anschließend zusammen mit Speyer nach Bern weiter, wo sie im Hause des Kürschners Wyss eine Privatzusammenkunft besuchten.115 Im weiteren Verlauf des Verhörs drangen die Examinatoren immer mehr auf die Preisgabe des 110

ZBZ Ms W 140, Bl. 65v. ZBZ Ms W 140, Bl. 65v. 112 ZBZ Ms B 185, Bl. 89v. 113 ZBZ Ms B 185, Bl. 93r. 114 Zu Wolther vgl. Hans Schneider: Ein Dokument zur Frühgeschichte des Zürcher Pietismus. Johan Heinrich Schweizers Ursachen und Gründe (1698). In: Gegen den Strom. Der radikale Pietismus im schweizerischen und internationalen Beziehungsfeld. Hg. v. J. Jürgen Seidel. Zürich 2011, 123–149, hier 129. 115 ZBZ Ms B 185, Bl. 93r. 111

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pietistischen Kontaktnetzes: So gestand Speyer, dass Wolther sich bereits vor rund zwei Jahren vorübergehend in Zürich aufgehalten hatte. Damals verkehrte der Wanderprediger intensiv mit Heinrich von Schönau. Beim jüngsten Aufenthalt habe er Georg Ziegler, Kürschner Breisacher (1639–?), den Tischmacher Sprüngli (1649–1713) und Heinrich Locher besucht. Er habe sich auch oft bei Heinrich Römer in Hottingen aufgehalten.116 In einem späteren Verhör mit Ziegler kam dann zum Vorschein, dass Römer der Gastgeber von Wolther war; jener logierte für acht bis vierzehn Tage auf dessen Landgut.117 Die Examinatoren entlockten dem Barbiergesellen weiter, dass Wolther auch finanziell unterstützt wurde. Er erzählte, dass er vor einiger Zeit einen Wechsel von zwanzig Reichstalern nach Augsburg gebracht und ihn ihm dort übergeben habe.118 Die Herkunft der Gelder scheint die Befrager nicht interessiert zu haben, zumindest ist hierüber in den Akten nichts verzeichnet; wir dürfen aber annehmen, dass hier die wohlhabenden Kaufleute unter den Pietisten, namentlich Heinrich Römer, ihren Teil beisteuerten. Für die Mehrheit der Pietisten geht der erste Pietistenprozess glimpflich aus. Sie kommen ohne Sanktionen davon. Nur gegen Ziegler und Speyer werden Strafen verhängt: Speyer wird des Landes verwiesen, und Ziegler muss seine perfektionistische Wiedergeburtslehre schriftlich widerrufen.119 Doch der Friede hält nicht lange. Etwas mehr als ein Jahr später bricht der Konflikt erneut auf. Stein des Anstoßes ist wiederum Georg Ziegler. Am 21. Januar 1692 wird im Konvent der Examinatoren der Fall erneut aufgerollt und die Befürchtung geäußert: „daß H. Georg Ziegler der Exspectant mit seinen Schwöstern und noch anderen widerum stark treibe ihre besonderbare Glaubens=übungen. [. . .] Sei auch zusorgen, es möchten noch andere mehr angestekt werden.“120 Ziegler wurde am 28. Januar im Rathaus in Untersuchungshaft genommen und mehrfach nach seinen pietistischen Kontakten („Bruderschafft“) befragt. Vorgeworfen wurde ihm zudem sein brieflicher Kontakt zu Wolther – der sich inzwischen in Hamburg aufhielt – sowie zu Speyer in Stuttgart.121 Erneut wurde Georg Ziegler in kurz aufeinanderfolgenden zermürbenden Verhören über seine Mitstreiter befragt. Die Examinatoren erstellten einen 116 Die Aussagen zur Frage, warum sich Speyer in Römers Haus aufgehalten habe, fielen für die Examinatoren sehr widersprüchlich aus: „Dieser Gesell [=Speyer] gebt für, er sei in Hn Römers Hauß gegangen, ihn zu barbiern, da doch H. Wagner ihn barbiert und bedient. H. Römer gefragt, warum dieser Pfälzer so vil in sein Hauß wandlete, gab zur antwort, er sei zu seiner Fraue komen, von ihr das Kräutlen zu lernen. Sind also ihre Antworten ungleich“ (ZBZ Ms B 185, Bl. 93v). 117 StAZH E II 423, 42 u. 65 [Verhör mit Georg Ziegler vom 02.02.1692]. 118 ZBZ Ms B 185, Bl. 93r. 119 ZBZ Ms B 185, Bl. 101r–102v; Paul Wernle: Der schweizerische Protestantismus im XVIII Jahrhundert. Bd. 1. Tübingen 1923, 131. 120 ZBZ Ms B 185, Bl. 164r. 121 StAZH E II 423, 43 u. 45 [Verhöre mit Georg Ziegler vom 01. und 02.02.1692].

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„Catalog der gläubigen“ und wollten genau wissen, wer Zieglers perfektionistische Ansichten teile. Die Rede kam auch auf Locher und Römer. Über sie berichtete der ‚Exspectant‘, Heinrich Römer teile den Glauben an die Impekkabilität nicht. Er habe es nicht gerne gesehen, dass sein „Datum“ darin sei, was wohl bedeutet, dass Römer nicht gerne in diese Geschichte hineingezogen wurde. Bezüglich Lochers sagte Ziegler aus: Herr Heinrich Locher Zum Blumengschÿr seÿ darumb kein bruder weile selbiger per contritionem durch Zerknirschung seiner selbs[t] sie aber per elevationem durch erhebung ihrer selbs[t] und hiermit durch ungleiche principio handlind.122

Diese Aussagen Zieglers decken sich mit jenen der Befragungen von 1689, Römer und sein Neffe standen der perfektionistischen Wiedergeburtslehre kritisch gegenüber. Es wird deutlich, dass es innerhalb der pietistischen Bewegung verschiedene Anschauungen und Wege gab, wie das Seelenheil zu erlangen sei. Als nächster geriet Johann Ludwig Breisacher (1645–1709), Pfarrer in Veltheim, wegen Privatzusammenkünften ins Fadenkreuz der Fahndung. Er wurde „der Sonderbaren Meinung und Übungen halben der so genannten Perfectisten oder Böhmisten am 28. Januar befraget“.123 Die Winterthurer Geistlichen, welche die Visitation durchführten, interessierten sich zuerst für den Bücherschrank. Sie berichteten nach Zürich: Der verdächtigen Büchern oder Schriften halb bekennt Er daß Er etwan im Böhm geläsen, halte Ihn für einen gudten Physicum. In Theologia gefalle er ihm nit. Deßen Bücher Er nit habe, Sonder Sÿn Bruder. So haben wir bei Ihm gesehen einen nit gar dicken Tractat in 8. deße[n] Titul: α & ω. Erster Theil der Christlichen gheimen Epistlen oder Sendbriefen. So Ehemals durch den ÿnfluß des geists, in ein[em] mäßigen leben, vnder dem Verborgenen Namm Hiel herußgegeben A. 1687 Von welchem Buch Er Hr Brÿsacher sagte: Er habe in Zwejen jahren nit darinn geläßen; wann wir wöllind, sollind wirs mit nemmen, oder Er wölle daßellbige hinthun, wo wir wöllind.124

Die beiden Winterthurer Geistlichen fragten bei ihrem Kollegen in Veltheim offensiv nach dessen Verhältnis zu Böhme. Die Lektüre der Schriften des Görlitzers wurde nun als Teil der pietistischen Identität eingeschätzt. Darin erblickte die Geistlichkeit offenbar eine Quelle der neuen Irrlehre. Dementsprechend ist auch nicht mehr die Rede von Labadisten oder Quietisten, wenn es um die Bezeichnung der neuen heterodoxen Bewegung geht; nun wird von ‚Perfectisten‘ oder ‚Böhmisten‘ gesprochen. Dass Böhme zu einem Erkennungsmerkmal für einen Pietisten werden könnte, hat auch 122

StAZH E II 423, 67 [Verhör mit Georg Ziegler vom 03.02.1692]. StAZH E II 423, 17. 124 StAZH E II 423, 17 f. [Brief von Hans Jakob Meister (1631–1711), Pfarrer in Oberwinterthur, an Antistes Klingler vom 28.01.1692]. 123

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Johann Ludwig Breisacher intuitiv erfasst, indem er ihn verdoppelt und das Naturphilosophische und Alchemistische vom Theologischen scheiden will. Die Bücher, die Römer und Locher über ihr pietistisches Korrespondenzund Beziehungsnetz heimlich verbreiteten und teilweise mitfinanzierten, tauchten nun in den Prozessakten an die Oberfläche: Der Pfarrer Breisacher und sein Bruder lasen oder besaßen Böhme und Hiël; bei Ziegler fand man neben Hoburg erneut auch Hiël, und der Barbiergeselle Speyer verbrannte in religiösem Eifer die Schriften Böhmes und Hiëls.125 Bezeichnend für die neue, auf die Lektüre häretischer Bücher gerichtete Fahndungsstrategie der Examinatoren ist die Episode um einen französischen Glaubensflüchtling. Eine Episode, in der sich Römer und Locher verstrickten. Die Untersuchung im Rahmen des Pietistenprozesses kam durch Inspektor Johann Friedrich Utzinger (1637–1708) ins Rollen. Wahrscheinlich machte er eine Selbstanzeige und wurde dann durch die Kanzlei befragt. Der Gegenstand war seine Bekanntschaft mit dem Pariser Mediziner Aubertin. Er hatte von seinem Schwager, Bernhard Freitag, erfahren, dass dieser Aubertin „sonderbare Meinungen“ habe, worauf er ihn besuchte. In der Befragung stellte sich heraus, dass Aubertin Bücher von Böhme besessen hatte. Utzinger beteuerte in seiner Einvernahme, er sei auf Distanz zu Aubertin gegangen.126 Die Tatsache, dass ein hugenottischer Arzt auf der Durchreise Bücher des Görlitzers mit sich führte, war für die Kirchenleitung ausreichend, um weitere Untersuchungen anzustellen. Am 8. Februar wurde der Weber Bernhard Freitag verhört, weil er Aubertin ein halbes Jahr vorher für mehrere Monate beherbergt hatte. Der Gastgeber gestand freimütig, dass die Miete jeweils durch Heinrich Römer bezahlt worden sei. Über die Kontakte seines Gastes erzählte er: Dr. Aubertin erhielte oft Besuch von Ziegler, Heinrich Locher und von Heinrich Römer. Sie hätten ihm oft versiegelte Bücher gebracht.127 Noch am selben Tag erging der Befehl, dass Locher und Römer im Zusammenhang mit dem sogenannten ‚Zieglerischen Handel‘ zu vernehmen und ganz besonders über die Gespräche mit Aubertin zu befragen seien.128 Die Rolle Heinrich Römers beschränkte sich aber nicht bloß auf jene des Doyens der Bewegung, der die eifrigen Pietisten wie Wolther und Speyer bei sich zu Hause empfing, beherbergte und gegebenenfalls auch finanziell unterstützte oder die Gleichgesinnten mit heterodoxer Untergrundliteratur versorgte. Von ihm ist auch bekannt, dass er mindestens eine Privatzusammen-

125 Auch in Bern tauchten Hiël und Böhme in den pietistischen Kreisen auf. Die 16 Thesen gegen den Pietismus von 1696 verurteilen unter der fünften These den mystischen Zugang zur Bibel, „wie solches in den Büchern Hiels/ Böhms/ und andern/ zu sehen“ sei. Vgl. Dellsperger, Anfänge [s. Anm. 56], 150. 126 StAZH E II 423, 77. 127 StAZH E II 423, 85. 128 StAZH E II 423, 89. Die Verhörprotokolle sind leider nicht mehr auffindbar.

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kunft beim Pfarrer am Fraumünster und Bruder des späteren Antistes Johann Heinrich Zeller (1654–1699) regelmäßig besuchte.129 Der Pietistenprozess endete für Georg Ziegler nicht mehr so glimpflich wie noch ein Jahr zuvor. Er wurde am 6. und 9. Februar theologisch in die Mangel genommen. Die Disputation über den richtigen Glauben wurde von der Geistlichkeit als „Colloquium“ bezeichnet und in Form eines ausführlichen Traktates durch Johann Heinrich Heidegger niedergeschrieben.130 Darin wurden nochmals die Verfehlungen festgehalten und namentlich der schädliche Einfluss der spiritualistischen Literatur wie Schwenckfeld, Paracelsus, Weigel und Böhme gegeißelt.131 Ziegler wurde angehalten, den Traktat als sein neues Glaubensbekenntnis zu unterschreiben.132 Er zog die Emigration vor.133

5. Der Zürcher Pietismus erhielt Impulse von außen. Deutlich wird dies am Auftreten des Wanderpredigers Christian Theodor Wolther. Die exogenen Einflüsse wurden begierig aufgenommen und fielen auf einen fruchtbaren Boden. Aber der Nukleus für die pietistische Bewegung war bereits vorher vorhanden – er bildete sich in den spiritualistischen Kreisen. In der Limmatstadt existierte eine längere deviante Tradition, die sich bis in die 30er Jahre des 17. Jahrhunderts zurückverfolgen lässt. Michael Zingg kann als Vorläufer oder Wegbereiter bezeichnet werden und Heinrich Römer als eine Person zwischen spiritualistischer Strömung und pietistischer Bewegung. Doch es lassen sich weitere Kontinuitäten beobachten: Wo Obrigkeit und Geistlichkeit in ihrer Sorge über die Abweichler hinblickten, fanden sie die Werke Jakob Böhmes. Ein Teil der Kontinuität ist die hohe Bedeutung der klandestinen Netzwerke, welche die beiden Bewegungen zusammenhielten und belebten und letztendlich auch verbanden. Was zuerst mit zirkulierenden Abschriften von Hoburg, Hiël oder Böhme über ein unbekanntes Netzwerk begann, wurde später beispielsweise über das ausgedehnte Korrespondenznetz Loth Fischers fortgesetzt. Die Verbreitung der Schriften Böhmes und verwandter Literatur blieb in beiden Netzwerken dominant. Waren die spiritualistischen Netzwerke eher klein und verbanden wenige Liebhaber untereinander, so war die Breitenwirkung des pietistischen Netzwerkes um einiges größer. In ihm 129

ZBZ Ms E 136, 246; Bütikofer, Früher Pietismus [s. Anm. 5], 78. Johann Heinrich Heidegger: Schrifftmässiger Bericht | Von der | Unvollkommenheit der | Widergeburt | Gläubiger Kinderen Gottes | hie in Zeit. [. . .]. Zürich 1692. 131 Heidegger, Schrifftmässiger Bericht [s. Anm. 130], iiv. 132 ZBZ Ms B 185, Bl. 167r. 133 Zu Zieglers weiterem Lebensweg vgl. Bütikofer, Früher Pietismus [s. Anm. 5], 419 f. 130

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konnte die Verbreitung von Druckschriften organisiert werden: Die Editionen von Böhme (1682) und Hiël (1687/1690) sind heute noch in zahlreichen Bibliotheken nachweisbar.134 Am Übergang vom Spiritualismus zum Pietismus lassen sich auch Diskontinuitäten erkennen: beispielsweise im Auftreten von prophetischen Visionen. Chiliastische Elemente sind im Spiritualismus wenig ausgeprägt. Bei Jakob Böhme ist zwar eine Wiederbringung aller Dinge im Kern angelegt, aber nicht entwickelt. Im Pietismus wird hingegen die chiliastische Zukunftserwartung zu einem wesentlichen Merkmal.135 Bei den frühen Zürcher Pietisten scheint dieses Element wohl weniger über Johann Heinrich Alsted (1588– 1638) oder Christian Knorr von Rosenroth (1636–1689) Eingang gefunden zu haben, sondern mehr über den comenianischen Chiliasmus.136 Spätestens 1674 kam Heinrich Römer mit den Prophezeiungen von Stephan Melisch in Kontakt, und er finanzierte deren Verbreitung, so wie er auch später die prophetische Schrift seines Freundes Heinrich von Schönau oder die Allversöhnungslehre von Jane Leade finanziell förderte. Der Einfluss von Stephan Melisch auf die Entwicklung chiliastischer Momente im frühen Pietismus dürfte aber nicht singulär auf Zürich beschränkt gewesen sein, auch wenn die deutsche Übersetzung kaum eine weitreichende Wirkung entfalten konnte.137 Es ist zu vermuten, dass Melischs Visionen mehr indirekt wirkten, denn es bildete sich um Comenius und nach dessen Tod um seinen Sohn Daniel ein Freundeskreis, der lebhaft Anteil nahm an diversen Propheten und namentlich an Stephan Melisch. Zu den Empfängern der in kleiner Auflage gedruckten oder handschriftlich verbreiteten Visionen des tschechischen Sehers zählten neben Redinger: Benedict Bahnsen, Antoinette Bourignon (1616–1680), Friedrich Breckling (1629–1711),138 Samuel Hartlib (um 1600–1662), Christian Hoburg, Jean de Labadie (1610– 1674), Georg Lorenz Seidenbecher (1623–1663) und Petrus Serrarius (1600–

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Hamilton, The Family of Love [s. Anm. 61]. Wolf Friedrich Schäufele: Geschichtsbewusstsein und Geschichtsschreibung um 1700. In: Geschichtsbewusstsein und Zukunftserwartung in Pietismus und Erweckungsbewegung. Hg. v. Wolfgang Breul u. Jan Carsten Schnurr. Göttingen 2013, 29–55, hier 43. 136 Alsted beeinflusste jedoch mit seinem Millenarismus auch seinen berühmtesten Schüler: So bezieht sich Comenius in seiner Sammlung prophetischer Visionen Lux in tenebris auch auf Alsted. Vgl. Wilhelm Schmidt-Biggemann: Apokalyptische Universalwissenschaft. Johann Heinrich Alsteds „Diatribe de mille annis apocalypticis“. In: PuN 14, 1988, 50–71, hier 67. 137 Schader schätzt die Auflage der Himelische Zeitungen auf 3000 Exemplare. Der größte Teil der Auflage wurde aber durch die Obrigkeit konfisziert und vermutlich vernichtet. Vgl. Schader, Redinger [s. Anm. 27], 68 f. 138 Zu den Verbindungen zwischen dem Chiliasmus Brecklings und jenem von Comenius vgl. Magdolna Veres: Johann Amos Comenius und Friedrich Breckling als „Rufende Stimme aus Mitternacht“. In: PuN 33, 2007, 71–83 sowie Jonathan Strom: Krisenbewusstsein und Zukunftserwartung bei Friedrich Breckling. In: Geschichtsbewusstsein und Zukunftserwartung [s. Anm. 135], 84–102. 135

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1669). Später soll auch noch Johannes Rothe (1628–1702)139 in den Kreis aufgenommen worden sein. Das Interesse an den Visionen Melischs war auch um 1676 ungebrochen.140 Mit dem Chiliasmus kommt auch eine politische Komponente ins Spiel, die im Spiritualismus so nicht vorhanden war. Die Naherwartung setzt auch ein aktives Hinarbeiten des Gläubigen auf die Wiederkehr Christi voraus. Deutlich wird dies bei Redinger, aber auch ganz besonders bei von Schönau. Er wartet nicht bloß auf die reformatorische Kraft Frankreichs, sondern fordert auch Zürich aktiv auf zu kirchlichen und politischen Reformen. Der Übergang vom Spiritualismus zum frühen Pietismus ist geprägt von einer ambivalenten Haltung zu Büchern. Michael Zingg weckt mit seinen Sammelbänden mit spiritualistischen Texten den starken Eindruck, dass er begierig alles, was er erhalten konnte, las und kopierte. Die Schriften von Böhme, Hiël, Hoburg, Rous oder Sudermann stießen ihm das Tor zu einer neuen Welt auf. Und diese neue spiritualistische Welt fußte auf Büchern. Anders präsentiert sich das Bild rund vierzig Jahre später. Obwohl auch der junge Pietismus mit einer beachtlichen Buchkultur einhergeht, so bestehen nun dem Buch gegenüber Skrupel. Auch Heinrich Römer ist durch das Auftreten von Christian Theodor Wolther in den Bann der ambivalenten Einstellung zu Büchern gezogen worden. Eine Ambivalenz, die Heinrich von Schönau in der autobiographischen Einleitung seiner Schrift sehr klar zum Ausdruck bringt, wenn er einerseits berichtet, wie er den befreienden Beschluss fasste, nur noch die Bibel zu lesen und alle anderen Bücher in einem Schrank wegzusperren, während er doch selbst Autor einer umfangreichen exegetischen Schrift ist. Er wendet sich an den Leser und versucht das Paradoxon aufzulösen. Dank diesem entlastenden Schritt habe ihm Gott zur Erforschung von dessen Geheimnissen gute Gedanken eingegeben, begründet er seine Autorschaft. Er entschuldigt sich: Wenn ich nicht durch vielerley Merck=zeichen versichert gewesen were/ daß diese Begierd/ durch den Truck unter die Menge hinauß zu gehen/ von Gott herkäme/ so wurde ich solche für eine Versuchung angesehen haben.141 139 Angesichts des Einflusses Rothes auf Quirinus Kuhlmann sowie der Nähe zu Breckling sind einige Parallelen zwischen dem Duo Redinger/Melisch und Kuhlmann wohl nicht bloß ein Zufall. Vgl. Walter Dietze: Quirinus Kuhlmann. Ketzer und Poet: Versuch einer monographischen Darstellung von Leben und Werk. Berlin 1963, 155; Wilhelm Schmidt-Biggemann: Erlösung durch Philologie. Der poetische Messianismus Quirinus Kuhlmanns. In: Der Magus: Seine Ursprünge und seine Geschichte in verschiedenen Kulturen. Hg. v. Anthony Grafton u. Moshe Idel. Berlin 2001, 107–146, hier 112 f. 140 Bickerich, Melisch [s. Anm. 69], 263 f. u. 284 f. 141 Johann Heinrich von Schönau: Betrachtungen | Uber die geheimbe Fürbilder/ der | Sechs Tage der Welt=Erschaffung | und des siebenden Tages der Ruhe/ gedeutet | auff die vielfältigen Bedienungen und Begeg=|nissen der Kirch/ von Anfang biß ans Ende der Welt; und auff die Wege/ welche Gott hält/ in Bekehrung und Heiligung eines | jeden Gläubigen. Basel 1688, Bl. 7r [Vorrede].

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Das Verhältnis der inneren Frömmigkeit zum äußerlichen Buch ist nun mit einer schier unauflöslichen Ambiguität behaftet. Sinnbild für diese Entwicklung ist Heinrich Römers Wandel zum „Bücherfeind“. In den Pietistenakten von 1689 und 1692 wird diese Bruchlinie zwischen einer spiritualistischen Tradition des 17. Jahrhunderts und dem Pietismus greifbar.

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SIGLIND EHINGER

„. . . sie gehen [. . .] vor ihm her, wie der Morgen-Glantz vor der Sonne“ Die Reformation Martin Luthers und ihre ‚Vorläufer‘ im Kirchengeschichtswerk des württembergischen Pietisten Georg Konrad Rieger (1687–1743) Das im Titel dieses Beitrags angeführte Zitat stammt aus Georg Konrad Riegers monumentalem erbaulichen Kirchengeschichtswerk zu den Böhmischen Brüdern. Der Stuttgarter Theologe veröffentlichte es in den Jahren 1734 bis 1740 unter dem Titel Die Alte und Neue Böhmische Brüder, Als deren Merckwürdige und erbauliche Historie Zur Erkenntniß und Wiederholung, besonders bey gegenwärtiger Zeit, der Kirchen Gottes wieder nothwendig zu werden scheinet.1 Er spricht hier von den sogenannten Vorreformatoren2 wie dem englischen Theologen John Wyclif und dem tschechischen Reformator Jan Hus sowie ihren Anhängern, die vor Martin Luther hergingen „wie der Morgen-Glantz vor der Sonne“.3 Rieger machte sich im 18. Jahrhundert vor allem innerhalb Württembergs einen Namen als begabter Prediger und Erbauungsschriftsteller.4 Die meisten seiner Predigten wurden posthum veröffentlicht und erfreuten sich bis ins späte 19. Jahrhundert hinein hoher Beliebtheit, wie etwa die zahlreichen Veröffentlichungen seiner Matthäus-Predigten zeigen. Zwischen 1843 und 1846 erschien eine dreibändige Zusammenstellung aller bisher veröffentlichten 1 Georg Cunrad Rieger: Die Alte und Neue Böhmische Brüder, Als deren Merckwürdige und erbauliche Historie Zur Erkenntniß und Wiederholung, besonders bey gegenwärtiger Zeit, der Kirchen Gottes wieder nothwendig zu werden scheinet, Aus richtigen Urkunden also hergeleitet, Daß es zugleich zu einer verlangten Fortsetzung des ehmaligen Saltz-Bundes dienen kan. Züllichau 1734–1740. Der vorliegende Aufsatz beruht in Teilen auf Siglind Ehinger: Glaubenssolidarität im Zeichen des Pietismus. Der württembergische Theologe Georg Konrad Rieger (1687– 1743) und seine Kirchengeschichtsschreibung zu den Böhmischen Brüdern. Wiesbaden 2016. 2 Theodor Mahlmann: ‚Vorreformatoren‘, ‚vorreformatorisch‘, ‚Vorreformation‘. Beobachtungen zur Geschichte eines Sprachgebrauchs. In: Reformer als Ketzer. Heterodoxe Bewegungen von Vorreformatoren. Hg. v. Günter Frank u. Friedrich Niewöhner. Stuttgart, Bad Cannstatt 2004, 13–55. 3 Rieger, Böhmische Brüder [s. Anm. 1], Anhang zum 24. Stück, 556. 4 Martin Brecht: Der württembergische Pietismus. In: Geschichte des Pietismus. Bd. 2: Der Pietismus im achtzehnten Jahrhundert. Hg. v. dems. u. Klaus Deppermann. Göttingen 1995, 225–295, hier 243–245.

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Sammlungen dieser Predigten unter dem Titel Predigten über auserlesene Stellen des Evangeliums Matthäi.5 Der erste Band, der die erstmals im Jahr 1744 publizierte Sammlung Richtiger und Leichter Weg zum Himmel enthält, erreichte 1845 eine zweite und 1854 eine dritte Auflage.6 Rieger wurde aber auch über Württemberg hinaus bekannt: Es existieren beispielsweise Predigtübersetzungen ins Sorbische und Schwedische.7 Uns soll hier aber nicht sein Predigtwerk, sondern seine Kirchengeschichtsschreibung zu den Böhmischen Brüdern interessieren. Der vorliegende Beitrag ist folgendermaßen aufgebaut: Zunächst soll Rieger als Vertreter des frühen Pietismus in Württemberg eingeführt werden, wobei es sich der gebotenen Kürze halber nur um einen Abriss seiner Biographie handeln kann. Im zweiten Teil wird seine BrüderGeschichte vorgestellt. Daran schließen sich einige Überlegungen zu Riegers Wahrnehmung und Darstellung der Reformation in seiner BrüderGeschichte an. Rieger wurde am 7. März 1687 in Cannstatt bei Stuttgart und damit im selben Jahr wie sein berühmterer Kollege Johann Albrecht Bengel geboren.8 Sein Vater war Gerichtsverwandter, wie er in seinem Lebenslauf festhielt,9 und Weingärtner. Rieger durchlief den typischen Ausbildungsweg eines württembergischen Pfarrers um 1700: Zuerst besuchte er die Cannstatter Lateinschule, im Anschluss die sogenannten Klosterschulen in Blaubeuren, Maulbronn und Bebenhausen.10 In Maulbronn nahm er, wie es im Lebenslauf heißt, am „Privat-Collegio pietatis“ des Präzeptors Wilhelm Konrad Haselmajer teil, den er als seinen geistlichen Vater bezeichnete.11 In Bebenhausen lehrte der von Rieger verehrte Prälat Johann Andreas Hochstetter, der sich in Württemberg für die Umsetzung des pietistischen Programms im Sinne Philipp Jakob Speners einsetzte.12 Im Jahr 1706 kam Rieger an die Universität Tübingen, wo er als

5 Georg Conrad Rieger: Predigten über auserlesene Stellen des Evangeliums Matthäi. Bd. 1–3. Stuttgart 1843– 1846. 6 Vgl. hierzu die Bibliographie von Riegers Schriften bei Gottfried Mälzer: Die Werke der württembergischen Pietisten des 17. und 18. Jahrhunderts. Verzeichnis der bis 1968 erschienenen Literatur. Berlin, New York 1972, 302–316. 7 Vgl. Mälzer, Werke [s. Anm. 6], 309–311. Bei Mälzer fehlt die 1751 in Bautzen erschienene sorbische Kleine Herz-Postille. Vgl. M. Jurja Cunrada Rjegera wßwojim czaßu Superintendenta a Prjedarja w Stutgarczi mala wutrobna Postilla, kpschisporenju teho wjerneho kscheszjanstwa we wjeri a ziwenju, aby Prjedowanja [. . .]. Bautzen 1751. 8 Lebens-Lauf Des seeligen Autoris, Wie ihn derselbige auf seinem Krancken-Bette selbs angegeben, Und Jetzo mit wenigen Anmerckungen begleitet wird. In: Georg Cunrad Riegers [. . .] Richtiger und Leichter Weg zum Himmel [. . .]. Hg. v. Wilhelm Jeremias Jacob Cleß. Stuttgart 1744, 797–829, hier 797. Der Taufeintrag vom 8.03.1687 findet sich in einem Cannstatter Kirchenbuch. Vgl. Landeskirchliches Archiv Stuttgart, KB 349, Bd. 3. 9 Lebens-Lauf Des seeligen Autoris [s. Anm. 8], 797. 10 Lebens-Lauf Des seeligen Autoris [s. Anm. 8], 798–802. 11 Lebens-Lauf Des seeligen Autoris [s. Anm. 8], 801 f. 12 Lebens-Lauf Des seeligen Autoris [s. Anm. 8], 802; Brecht, Der württembergische Pietismus [s. Anm. 4], 228.

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Angehöriger des Evangelischen Stifts zunächst das zweijährige Grundstudium an der artistischen Fakultät und im Anschluss sein Theologiestudium absolvierte. Sein theologisches Examen konnte er im Frühjahr 1710 ablegen.13 Zu den pietistisch gesinnten Theologen an der Fakultät gehörte zu Riegers Studienzeit Andreas Adam Hochstetter, dessen Unterricht er laut seinem Schwiegersohn, dem Pfarrer Wilhelm Jeremias Jakob Cleß, besonders genoss.14 Als ein weiterer Lehrer Riegers ist Johann Wolfgang Jäger zu nennen. Er war ein entschiedener Vertreter der Orthodoxie, wenn er auch mit Spener zumindest in Teilen sympathisierte. Jäger warnte vor Separatismus und Chiliasmus, lehnte die Privatversammlungen ab und bekämpfte die seiner Meinung nach zu toleranten Pietisten-Edikte. Insofern stellte er sich gegen die pietistische Hochstetter-Fraktion in der Landeskirche.15 Auf Jägers Seite stand der Theologe Johann Christoph Pfaff, der Vater des für seine Kirchenunionsbestrebungen bekannten Christoph Matthäus Pfaff.16 Ihm stand Rieger theologisch offensichtlich näher als dem Vater. In seiner Brüder-Geschichte hat er jedenfalls des Öfteren seine Schriften herangezogen. Nach seinem theologischen Examen wurde Rieger Hauslehrer in der Familie des Tübinger Rechtswissenschaftlers Ferdinand Christoph Harpprecht. Dafür wurde er, abgesehen von wenigen Aushilfsdiensten, von Vikariatsverpflichtungen befreit.17 Im Jahr 1713 trat er eine Repetentenstelle am Stift an.18 In dieser Funktion hatte er mit den Studenten in erster Linie die Vorlesungen zu repetieren. Anschließend versah Rieger das Stadtvikariat in Stuttgart. In den ersten beiden Jahren war er an der Stiftskirche beschäftigt, die zugleich Hofkirche war, danach für ein halbes Jahr an den Stadtkirchen, der St. Leonhard- und der Hospitalkirche.19 Quellen zu Rieger aus dieser Zeit sind rar; vom 31. Oktober 1717 ist immerhin eine Abendpredigt anlässlich des evangelischen Jubelfestes zur zweihundertjährigen Reformation erhalten. Bei der in der fürstlichen Hofkapelle in Stuttgart gehaltenen Predigt über Kol 1,12–14 handelt es sich wahrscheinlich um Riegers erste gedruckte Predigt.20 Des Weiteren liegt in zwei handschriftlich verschiedenen, inhaltlich aber 13

Lebens-Lauf Des seeligen Autoris [s. Anm. 8], 803 f. Lebens-Lauf Des seeligen Autoris [s. Anm. 8], 803. 15 Brecht, Der württembergische Pietismus [s. Anm. 4], 230, 234. 16 Vgl. hierzu Wolf-Friedrich Schäufele: Auf dem Weg zur himmlischen Akademie. Christoph Matthäus Pfaff als Pionier der innerprotestantischen Union. In: BWKG 99, 1999, 81–89; ders.: Christoph Matthäus Pfaff (1686–1760) als Tübinger Universitätskanzler und Professor. In: Die Universität Tübingen zwischen Orthodoxie, Pietismus und Aufklärung. Hg. v. Ulrich Köpf. Ostfildern 2014, 123–156, hier 137–141. 17 Lebens-Lauf Des seeligen Autoris [s. Anm. 8], 804. 18 Lebens-Lauf Des seeligen Autoris [s. Anm. 8], 804. 19 Lebens-Lauf Des seeligen Autoris [s. Anm. 8], 805. 20 Georg Conrad Rieger: Abend-Predigt An dem Andern Evangelischen Jubel-Fest In HochFürstlicher Hof- Capell Zu Stuttgardt gehalten [. . .]. In: Celebrirung Des zweyten Evangelischen Jubel-Festes Den 31. Octobr. MDCCXVII Zu Ludwigsburg und Stuttgardt [. . .]. Stuttgart 1719, 201–240. Die Predigt wurde bereits 1717 als Einzeldruck veröffentlicht. 14

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identischen Fassungen ein Bericht über ein persönliches Gespräch Riegers mit August Hermann Francke in Stuttgart vor, das ebenfalls im Herbst 1717 stattfand.21 Im Jahr darauf trat Rieger sein Amt als zweiter Pfarrer in Urach an. In Berg bei Stuttgart heiratete er Regina Dorothea Scheinemann.22 Auch für diese Zeit gibt es kaum Quellen zu Rieger. Aus dem Jahr 1719 ist jedoch eine historisch motivierte Predigt über Mt 9,1–8 erhalten, in der er einen 1479 erstellten Ablassbrief von Papst Sixtus IV. vorstellte. Anhand der Quelle verdeutlichte Rieger seinen Zuhörern die Errungenschaften der Reformation und die Vorzüge der lutherischen Konfession. Zwang und Werkgerechtigkeit seien durch den wahren Glauben abgelöst worden, wofür der evangelische Christ sich jedoch größtenteils undankbar erzeige. So ermahnte er gegen Ende der Predigt seine Gemeinde, dabei Kol 1,12 miteinbeziehend: So gehet jezt dann heim [. . .] mit Entsetzen über die Irrthümer des Papsttums: mit Furcht, daß euch Gott um eurer Undankbarkeit willen nicht wieder darunter fallen lasse: mit Verwunderung, wie ihr vor so viel tausenden Barmherzigkeit erlanget habt: und endlich mit Lob und Preiß Gottes, der euch tüchtig gemacht hat zum Erbtheil der Heiligen im Licht.23

Im Jahr 1721 wurde Rieger zum Professor am Stuttgarter Gymnasium ernannt,24 wo er unter anderem Poetik und Rhetorik und anscheinend auch Kirchengeschichte unterrichtete.25 Parallel zur Gymnasialprofessur wurde er als Mittwochsprediger an die Stiftskirche berufen um das Matthäusevangelium auszulegen.26 In Stuttgart war Rieger jahrelang mit der bekannten Pietistin Beata Sturm befreundet, deren Seelsorger er zugleich war. Sturms vorbildhafte Frömmigkeit veranlasste ihn dazu, kurz nach ihrem Tod im Jahr 1730 ihre Biographie unter dem Titel Die Würtembergische Tabea zu schreiben. Die Lebensbeschreibung Beata Sturms war als Erbauungsbuch außerordentlich beliebt und erlebte allein sieben Stuttgarter Auflagen, die dritte bereits 21 Iter Franckianum 1717/1718. Württembergische Landesbibliothek Stuttgart, Cod. hist. fol. 1002, 14, 22r-23r; Franckiana. Stuttgardt 1717 (Relation des M. Rieger). In: Miscellan-Nachrichten, von demjenigen, was sich bey der von dem Professore Theologiae Halensi August Hermann Francke in anno 1717/18 durch Schwaben, und Würtemberg vorgenommenen Gesundheits-Raise [. . .] zugetragen. Württembergische Landesbibliothek Stuttgart, Cod. hist. qt. 137, 2. 22 Lebens-Lauf Des seeligen Autoris [s. Anm. 8], 810 f. 23 Georg Cunrad Rieger: Der Urachischen Stifts-Kirchen zu St. Amand merkwürdiger Ablaßund Freyheits-Brief von Papst Sixto IV. ehmals ertheilet, Nunmehro aber aus dem MSto ans Licht gebracht [. . .] zur Erkentnis des grosen Unterschieds der vorigen und jezigen Zeiten [. . .]. In: M. Georg Cunrad Riegers [. . .] auserlesene Casual-Predigten über verschiedene Fälle und Sprüche heiliger Schrift. Hg. v. Wilhelm Jeremias Jacob Cleß. Stuttgart 1755, 198–273, hier 255. 24 Lebens-Lauf Des seeligen Autoris [s. Anm. 8], 805 f. 25 Gustav Lang: Geschichte der Stuttgarter Gelehrtenschule von ihren ersten Anfängen bis zum Jahre 1806. Stuttgart 1928, 208 f.; Schwäbisches Magazin von gelehrten Sachen 7, 1776, 611– 615. 26 Lebens-Lauf Des seeligen Autoris [s. Anm. 8], 806 f.

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1737, also noch zu Lebzeiten Riegers. Im Jahr 1745 wurde die Geschichte Beatas zudem in die 1698 von Johann Heinrich Reitz begonnene pietistische Sammelbiographie Historie der Wiedergebohrnen aufgenommen,27 im Jahr 1816 in eine weitere Sammelbiographie, die bereits im Zeichen der Erweckungsbewegung stand: Johann Arnold Kannes Leben und aus dem Leben merkwürdiger und erweckter Christen.28 Seit Beginn der 1730er-Jahre trat Rieger überhaupt zunehmend durch literarische Veröffentlichungen in Erscheinung. Gänzlich unbekannt blieb bisher, dass Rieger im Jahr 1732 eine theologisch-philosophische und zugleich humoristische Abhandlung über das Erscheinen von Vampiren in Serbien verfasste, die er allerdings unter dem in seiner Bedeutung unentschlüsselten Pseudonym „W. S. G. E“ veröffentlichte.29 In den Jahren 1732/33 veröffentlichte Rieger auch sein erstes kirchenhistorisches Werk unter dem Titel Der SaltzBund Gottes Mit Der Evangelisch-Saltzburgischen Gemeinde.30 Zur Niederschrift wurde er durch die Emigration der Salzburger Protestanten motiviert, die 1732 auch durch Württemberg zogen. Das Werk handelt jedoch weniger von den Salzburger Protestanten als vielmehr fast ausschließlich von der Geschichte und Vertreibung der Waldenser.31 Die Schicksale der Salzburger Exulanten und der Waldenser werden gewissermaßen zueinander analog gesetzt. Im Februar 1733 wurde Rieger zu dem mit viel Arbeit verbundenen Stadtpfarramt an der Stuttgarter St. Leonhardkirche berufen, wo er bis zum Jahr 1742 verbleiben sollte.32 Als er infolge seiner Versetzung beim Schreib- und Publikationsprozess seines ersten kirchenhistorischen Werks in Verzug geriet, 27 [Johann Conrad Kanz]: Historie der Wiedergebohrnen, Oder Exempel gottseliger [. . .] Christen, Männlichen und Weiblichen Geschlechts, In Allerley Ständen, Wie Dieselbe erst von Gott gezogen und bekehret, und nach vielen Kämpffen und Aengsten, durch Gottes Geist und Wort, zum Glauben und Ruh ihres Gewissens gebracht seynd. VII. Theil. Berleburg 1745, 166–231. 28 Johann Arnold Kanne: Leben und aus dem Leben merkwürdiger und erweckter Christen aus der protestantischen Kirche. Teil 1. Leipzig 21842 [1816], 55–110. Zu Riegers Biographie Beata Sturms und ihrer Publikationsgeschichte vgl. Hans-Jürgen Schrader: Kanonische neue Heilige. Sammelbiographien des Pietismus und der Erweckungsbewegung. In: Geschichtsbewusstsein und Zukunftserwartung in Pietismus und Erweckungsbewegung. Hg. v. Wolfgang Breul u. Jan Carsten Schnurr. Göttingen 2013, 303–338, hier 331–335. 29 W. S. G. E. [Georg Konrad Rieger]: Curieuse Und sehr wunderbare Relation, von denen sich neuer Dingen in Servien erzeigenden Blut-Saugern oder Vampyrs, aus authentischen Nachrichten mitgetheilet, und mit Historischen und Philosophischen Reflexionen begleitet. O. O. 1732. 30 Georg Cunrad Rieger: Der Saltz-Bund Gottes Mit Der Evangelisch-Saltzburgischen Gemeinde Oder Außführliche und erbauliche Erzehlung, Von dem ersten Ursprung und wunderbarer Erhaltung Wie auch Allen andern merckwürdigen Schicksaalen derer von einem halben Jahr her aus dem Ertz-Bistum Saltzburg emigrirenden Evangelischen Christen, Aus zuverläßigen Urkunden der alten Zeiten hergeführet, und biß auf diesen Tag fortgesetzet. Stuttgart 1732/33. 31 Darauf hat bereits Albert de Lange hingewiesen. Vgl. Albert de Lange: Der Beitrag der Waldenser zur Kultur in Württemberg im 18. Jahrhundert. In: BWKG 110, 2010, 47–79, hier 76 f. 32 Lebens-Lauf Des seeligen Autoris [s. Anm. 8], 807–809.

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wandte er sich an die Kirchenleitung. Im Juli bat Rieger darum, vom Kommunizieren der zum Tode verurteilten Delinquenten und von der Seelsorge im Lazarett befreit zu werden – beides Aufgaben, für die er als Stadtpfarrer zuständig war.33 Der ersten Bitte wurde stattgegeben, den Dienst im Lazarett sollte Rieger aber nur ausnahmsweise an einen Diakon abgeben dürfen.34 Die Reduktion seiner Aufgaben als Seelsorger ermöglichte es ihm, das Werk fortzusetzen und sich der Geschichte der Böhmischen Brüder zuzuwenden. Im Juli 1734 konnte er das erste, bereits im Druck vorliegende Stück der BrüderGeschichte zusammen mit Teilen des weiteren Manuskripts zur Zensur beim Konsistorium einreichen. Anbei bat er erneut und diesmal erfolgreich um die Entbindung von der Seelsorge im Lazarett.35 Daraufhin beschwerte sich Diakon Christoph Konrad Heller, der den Lazarettsdienst zu übernehmen hatte: Rieger wälze wegen seines Buchprojekts – eines Privatvergnügens, das finanziellen Gewinn abwerfe, – die beschwerliche Arbeit auf ihn allein ab. Er sehe nicht ein, dass „um der Böhmischen Brüder willen die arme Württembergische Brüder und Schwestern Christi zu dem hiesigen Lazaretthaus Noth leiden sollten“, da letztere Pfarrer Rieger doch wesentlich mehr angehen sollten.36 Heller hatte mit seinem Einspruch aber offensichtlich keinen Erfolg, denn Rieger war auch in den nächsten Jahren literarisch produktiv. Noch im selben Jahr gab Rieger beispielsweise ein voluminöses pietistisch geprägtes Kirchengesangbuch heraus, das unter anderem Lieder von Nikolaus Ludwig von Zinzendorf enthielt.37 Im Frühjahr 1742 wurde Rieger schließlich auf die Stelle des Hospitalpredigers versetzt, womit zugleich das Amt des Spezialsuperintendenten verbunden war.38 Als Spezial, wie man verkürzt sagte, war Rieger Aufsichtsperson über die Pfarrer von Stadt und Amt Stuttgart sowie in Denkendorf. Die Berufung wurde als besondere Auszeichnung und Würde verstanden, die üblicherweise herausragenden und verdienten Kirchenmännern zukam. Von dieser Stelle rückte man in der Regel auf die des Stiftspredigers vor. Dieser war als Vertreter der städtischen Geistlichkeit auch Inhaber einer Prälatur und

33 Georg Konrad Rieger an Eberhard Ludwig von Württemberg und württembergisches Konsistorium, Stuttgart, 21.07.1733. Landeskirchliches Archiv Stuttgart, A 29, Nr. 4350, 123a, 40. 34 Württembergisches Konsistorium an Johann David Frisch, Stuttgart, 13.08.1733. Landeskirchliches Archiv Stuttgart, A 29, Nr. 4350, 123a, 41. 35 Georg Konrad Rieger an Karl Alexander von Württemberg und württembergisches Konsistorium, Stuttgart, 15.07.1734. Landeskirchliches Archiv Stuttgart, A 29, Nr. 4350, 123a, 42; Württembergisches Konsistorium an Johann David Frisch, Stuttgart, 16.07.1734. Landeskirchliches Archiv Stuttgart, A 29, Nr. 4350, 123a, 43. 36 Christoph Konrad Heller an Karl Alexander von Württemberg und württembergisches Konsistorium, Stuttgart, 3. August 1734. Landeskirchliches Archiv Stuttgart, A 29, 4350, 123a, 44. 37 Vgl. hierzu Karl Eberhard Oehler: Der neu eröffnete Andachtstempel. Ein württembergisches Gesangbuch von 1734. In: Württembergische Blätter für Kirchenmusik 3, 2002, 2–10. 38 Lebens-Lauf Des seeligen Autoris [s. Anm. 8], 809.

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gehörte einem der Landschaftsausschüsse an.39 Hier hätte Rieger also auch kirchenpolitisch Einfluss nehmen können. Seine Arbeit im damals einwohnerreichsten Stadtteil Stuttgarts und die mit vielen Reisen verbundene Visitationstätigkeit auf dem Land waren aber wohl noch anstrengender als seine bisherige Arbeit als Stadtpfarrer. So sollte er sein Amt insgesamt nur ein knappes Jahr lang ausführen: Nach einem gesundheitlichen Zusammenbruch im März des Jahres 1743 starb Rieger am 16. April im Alter von 56 Jahren,40 seine Ehefrau und vier erwachsene Kinder hinterlassend. Das im Oktober 1743 erlassene General-Rescript, betreffend die Privat-Versammlungen der Pietisten, mit dem der Pietismus langfristig innerhalb der württembergischen Landeskirche etabliert werden konnte, verpasste er damit um ein halbes Jahr. Im Folgenden wenden wir uns Riegers Geschichte der Böhmischen Brüder und ihrer Wirkung zu. Von Riegers Zeitgenossen und auch noch im 19. Jahrhundert wurde sein Kirchengeschichtswerk durchaus mit Interesse wahrgenommen. Dies zeigen neben zahlreichen Bezugnahmen in kirchengeschichtlichen Schriften diverse Rezensionen der einzelnen Teile des Buchs in gelehrten und erbaulichen Journalen, beispielsweise in dem von Valentin Ernst Löscher initiierten Organ der lutherischen Orthodoxie Unschuldige Nachrichten von Alten und Neuen Theologischen Sachen in den Jahren 1733 bis 1738 und in der pietistischen Erbauungszeitschrift Sammlung Auserlesener Materien zum Bau des Reichs Gottes in den Jahren 1735 bis 1742. Von der deutschsprachigen Forschung wurden Riegers Kirchengeschichtswerke bislang allerdings größtenteils übergangen. Der Stuttgarter Pfarrer wurde fast ausschließlich in seiner Tätigkeit als Prediger und Erbauungsschriftsteller wahrgenommen, wobei seine Kirchengeschichtsschreibung unbeachtet blieb, die von Rieger jedoch selbst als Erbauungsschrifttum klassifiziert wurde. Die Literatur zur württembergischen Kirchengeschichte – vom späten 19. Jahrhundert bis in die 90er-Jahre des 20. Jahrhunderts hinein – hat insgesamt das Bild Riegers als eines einfachen, bescheidenen und wissenschaftlich unambitionierten Pfarrers geprägt – eine Vorstellung, die der Korrektur bedarf. Es sind aber freilich auch Ausnahmen zu verzeichnen: Mit Riegers Kirchengeschichtswerken beschäftigten sich beispielsweise Albert de Lange41 und Dietrich Meyer.42 Hervorzuheben ist außerdem Dietrich Blaufuß, der sich in

39 Paul Sauer: 500 Jahre Hospitalkirche. Stuttgart 1993, 57; Christoph Kolb: Zur kirchlichen Geschichte Stuttgarts im 18. Jahrhundert. In: BWKG 2, 1898, 49–85 und 145–163, hier 58–61. 40 Lebens-Lauf Des seeligen Autoris [s. Anm. 8], 815 f., 829; Karl Heinrich Rieger an Johann Albrecht Bengel, Stuttgart, 20. April 1743. Württembergische Landesbibliothek Stuttgart, Cod. hist. fol. 1002, 40, Bl. 1027. 41 Lange, Beitrag der Waldenser [s. Anm. 31]. 42 Dietrich Meyer: Jan Hus und der Pietismus. In: Jan Hus – 600 Jahre Erste Reformation. Hg. v. Andreas Strübind u. Tobias Wagner. München 2015, 107–131.

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einem Beitrag zu Jan Hus im Pietismus bislang am intensivsten mit Riegers Brüder-Geschichte auseinandergesetzt hat.43 Riegers gut 2.800 Oktavseiten zählendes Werk erschien in den Jahren 1734 bis 1740 in einzelnen Lieferungen, verteilt auf 24 sogenannte Stücke und einen umfangreichen Anhang, beim Verlag des Waisenhauses im neumärkischen Züllichau. Es war einerseits als Fortsetzung seiner WaldenserGeschichte gedacht, wie im Langtitel zu lesen ist, konnte aber auch unabhängig von dieser gelesen werden, wie der Autor versichert.44 Bereits im Titel bezeichnet er das Werk als „erbauliche Historie“– ein Hinweis, den er im ersten Stück wieder aufnimmt: dort heißt es, es handle sich bei seinem Werk nicht um eine „critische Historie“, die Vollständigkeit beanspruche, sondern lediglich um eine „erbauliche Auswahl“ aus der Kirchengeschichte.45 Er gedachte demnach mit seinem Buch einen Beitrag zur allgemeinen Kirchengeschichte zu leisten, löste sich aber – zumindest vordergründig – vom Anspruch einer gelehrten Kirchengeschichtsschreibung. Ohnehin schlossen sich für Rieger Erbauung und Wissensvermittlung keinesfalls aus; vielmehr ergänzten sich beide Anliegen seiner Meinung nach gegenseitig. Inhaltlich konstruiert Rieger in seinem Werk eine Art europäisches Netz aus sichtbaren Gruppen vermeintlicher evangelischer Glaubens- und Wahrheitszeugen (testes veritatis). Hintergrund ist der vorgebliche Abfall der römisch-katholischen Kirche von der Wahrheit des Evangeliums, der sich vor allem in der gewaltsamen Verfolgung Andersgläubiger gezeigt habe. Das Netz aus Wahrheitszeugen wird sowohl in chronologischer als auch in geographischer Hinsicht von zwei untereinander verknüpften Strängen zusammengehalten, die jeweils an Martin Luther anschließen. Der eine Strang verbindet von Osten her kommend die griechisch-orthodoxe Kirche, die im 9. Jahrhundert Böhmen christianisiert habe und die als das wahre Vermächtnis der Apostel anzusehen sei, den tschechischen Reformator Jan Hus und seine Anhänger, die Hussiten, und die Böhmischen Brüder. Auch der andere Strang geht von den Aposteln aus und verkettet aus westlicher Richtung her kommend unter anderem die piemontesischen Tal-Gemeinden in den Alpen, Petrus Waldus aus Lyon und die Waldenser. Letztere breiteten sich Rieger zufolge bis nach Böhmen und nach England aus, um dort auf John Wyclif und dessen Anhänger zu treffen. Wyclif wirkte durch seine Schriften wiederum auf den Prager Magister Jan Hus. Die beiden Hauptstränge bauen insgesamt weniger auf einzelnen Personen als vielmehr auf ganzen Gemeinden auf, mit deren Leben und Lehre sich Rieger jeweils auseinandersetzt, und münden zentral in die Reformation Martin Luthers. 43 Dietrich Blaufuß: Jan Hus im Pietismus. Zwischen Kirchenkritik und Kirchenmodell. In: Ders.: Korrespondierender Pietismus. Ausgewählte Beiträge. Hg. v. Wolfgang Sommer u. Gerhard Philipp Wolf. Leipzig 2003, 195–210. 44 Rieger, Böhmische Brüder [s. Anm. 1], 1. Stück, 3. 45 Rieger, Böhmische Brüder [s. Anm. 1], 1. Stück, 5.

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Zu Beginn seines Werks schreibt Rieger, es sei sein Ziel, „eine beständige und ununterbrochene Succession und Reyhe sichtbarer Evangelischer Gemeinden von den ersten Apostolischen Kirchen an bis auf unsere Zeiten darzustellen“.46 Die ununterbrochene Abfolge von Gemeinden einer vorlutherischen protestantischen Kirche sollte das apostolische Altertum des Protestantismus und seiner Lehre, vor allem der lutherischen, beweisen. Die Grundthese dieses Geschichtsbildes lautete, dass nicht die evangelische, sondern die römisch-katholische Kirche von der ursprünglichen Wahrheit abgewichen sei. Mittels der Konstruktion einer eigenen protestantischen Kontinuitätsgeschichte und einer protestantischen Martyrologie sollte die katholische Vorstellung von der Neuerung der Evangelischen umgekehrt, die katholische Geschichtsschreibung gewissermaßen dekonstruiert werden.47 Im zweiten Stück heißt es dementsprechend: Und was wir künftig von dem Seegen unter und nach Hussen hören werden, ist nicht ein neuer und plötzlicher Anbruch der Wahrheit, oder eine neue KirchenSammlung: sondern eine Umkehr zu dem reinen Gottes-Dienst ihrer Vorfahren, der alten Griechen gewesen. So haben wir demnach eine Apostolische Griechische in Böhmen gepflanzte beständig fortwährende Kirche! So bliebe denn auch unter dem grösten Druck und Verfall noch ein Hauffen aus den alten übrig bis auf Hussen, der sie wieder stärckte, ansehnlich vermehrte und in die alte Gemeinschaft samlete! Von Hussen aber bis auf Lutherum seynd noch hundert Jahr, inner welchen genug sichtbahre Haufen von Zeugen der allertheuresten Wahrheiten wider das Papstthum aneinander aufgetretten sind. Und von Luthero bis hieher bedarf es keines Beweises. Ich wüste also nicht, was dieser kirchlichen Succession von den Aposteln bis auf den heutigen Tag manglen solte.48

Insgesamt war für Rieger dabei weniger von Bedeutung, wer die evangelische Lehre auf wen und wann genau übertragen habe. Es ging ihm vielmehr um den großen Zusammenhang, also um die Verknüpfung der verschiedenen Glaubensgemeinschaften untereinander und die Entstehung neuer evangelischer Gemeinden, wobei er freilich in erster Linie die Lutheraner im Blick hatte. Mit der apologetischen Zielrichtung unter Einbeziehung des Verfallsgedankens der Kirche und der gegen den Verfall ankämpfenden Wahrheitszeugen behielt Rieger die wesentlichen Züge der reformatorischen Kirchengeschichtsschreibung bei.49 Sein Werk steht somit noch in der Tradition der 46

Rieger, Böhmische Brüder [s. Anm. 1], 1. Stück, 2 f. Thomas Fuchs: Reformation, Tradition und Geschichte. Erinnerungsstrategien der reformatorischen Bewegung. In: Protestantische Identität und Erinnerung. Von der Reformation bis zur Bürgerrechtsbewegung in der DDR. Hg. v. Joachim Eibach u. Marcus Sandl. Göttingen 2003, 71– 89, hier 82. 48 Rieger, Böhmische Brüder [s. Anm. 1], 2. Stück, 149 f. 49 Zu den Grundzügen reformatorischer Kirchengeschichtsschreibung vgl. Klaus Wetzel: Theologische Kirchengeschichtsschreibung im deutschen Protestantismus 1660–1760. Gießen, Basel 1983, 415–418; Irena Backus: Historical Method and Confessional Identity in the Era of the Reformation (1378–1615). Leiden, Boston 2003, 343–350; Matthias Pohlig: Zwischen Gelehrsam47

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sogenannten Magdeburger Centurien und des Catalogus Testium Veritatis von Matthias Flacius Illyricus. Rieger gedachte jedoch das Konzept der Wahrheitszeugen entscheidend zu erweitern: Wahrheitszeugen waren für ihn nur noch solche Personen und Personengruppen, die sich von der römisch-katholischen Theologie in den Fundamentallehren unterschieden, sich von der Papstkirche äußerlich sichtbar getrennt und mit anderen Gläubigen im Sinne der lutherischen Ekklesiologie eine Gemeinschaft gebildet hatten – eine Gemeinschaft, in der das Evangelium rein gepredigt und die Sakramente einsetzungsgemäß gespendet wurden. Das geschichtstheologische Konzept vom Verfall der Kirche einerseits und von den Wahrheitszeugen andererseits erlebte um 1700 im lutherischen Pietismus, aber auch in der lutherischen Orthodoxie, eine Renaissance. Von den Pietisten wurde es allerdings in bedeutsamer Weise modifiziert: Sie – in radikalster Form sicherlich Gottfried Arnold mit seiner Unparteyischen Kirchen- und Ketzer-Historie – sahen den Verfall der Kirche keinesfalls als beendet an, sondern verorteten diesen auch in der evangelischen Kirche.50 Rieger als Vertreter eines eher gemäßigten kirchlichen Pietismus entzog sich dieser Modifizierung in seiner Brüder-Geschichte zwar scheinbar, indem er die Wahrheitszeugen größtenteils in der Zeit vor Luther, also als sogenannte Vorreformatoren thematisierte. Für die Böhmischen Brüder gilt das jedoch nicht: ihre Geschichte verfolgte Rieger in seinem Werk auch noch in der Zeit nach der Reformation. Insofern nahm er hier die pietistische Auffassung von der unvollendeten Reformation und damit einhergehende Beanstandungen vor allem im Bereich der christlichen Lebensführung auf. Dem Titel seines Werks zufolge hat Rieger auch eine Einbeziehung der Herrnhuter Brüdergemeine als der erneuerten Unitas Fratrum und damit eine Berücksichtigung zumindest eines Teils der pietistischen Bewegung seiner Zeit geplant. Von diesem Plan rückte er innerhalb des Werks allerdings zunehmend ab und fand zu keiner eindeutigen Position.51 Wie die thematischen Schwerpunkte zeigen, geht es Rieger in seinem Kirchengeschichtswerk weniger um die Reformation Martin Luthers selbst, als vielmehr um das, was er als deren Vorgeschichte und Vorbereitung begreift. Mithin nimmt er die Reformation als eine Entwicklung wahr, deren unbestrittener Höhepunkt allerdings Luther darstellt. Die im Titel dieses Beitrags zitierte Formulierung aus der Brüder-Geschichte fällt im Kontext der Frage, von welcher Zeit an es in Polen-Litauen Protestanten gegeben habe, wenn keit und konfessioneller Identitätsstiftung. Lutherische Kirchen- und Universalgeschichtsschreibung 1546–1617. Tübingen 2007, 294–341. 50 Wetzel, Kirchengeschichtsschreibung [s. Anm. 49], 421–426; Ulrich Gäbler: Geschichte, Gegenwart, Zukunft. In: Geschichte des Pietismus, Bd. 4: Glaubenswelt und Lebenswelten. Hg. v. Hartmut Lehmann. Göttingen 2004, 19–48, hier 30 f. 51 Zu den Hintergründen vgl. Siglind Ehinger: German Pietists between the Ancient Unity of Brethren and the Moravian Church: The Case of the Württemberg Pastor Georg Konrad Rieger (1687–1743) and his History of the Bohemian Brethren. In: Journal of Moravian History 14/1, 2014, 51–72.

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man von den Hussiten absehe. Rieger interessiert das im Zusammenhang mit der religiösen Orientierung der Böhmischen Brüder zur Zeit ihrer Ankunft in Polen um 1548. Rieger behandelt die Frage, ob sie dort zuerst auf Reformierte oder auf Lutheraner gestoßen seien. Rieger, der dafür hält, „daß die Unsern die Erstlinge gewesen sind in Christo“52 – polnische Lutheraner hätten schon seit etwa 1523 gewirkt – zieht in diesem Kontext eine Bemerkung Valentin Ernst Löschers heran. Der streitbare Vertreter der lutherischen Orthodoxie äußert in der betreffenden Passage seine Zweifel darüber, ob man die Hussiten überhaupt als Evangelische bezeichnen könne.53 Rieger positioniert sich in diesem Zusammenhang kritisch gegenüber den Bedenken Löschers und seiner Mitstreiter, denen er unbegründete Ängstlichkeit zum Schaden des Protestantismus vorwirft. Zugleich wendet er sich gegen die Herabsetzung der Vorreformatoren: Darnach wenn ich mit diesem Büchlein [Rieger meint hier seine gut 2.800 Seiten starke Brüder-Geschichte, d. Vf. n] von denen venerablen Vätern unserer Kirche nur erhalten könnte, daß sie nicht immer zwischen den Zeugen der Wahrheit vor Luthero, und zwischen Luthero selbs einen Gegensatz machten oder fürchteten. Niemahlen seynd sie weder singuli noch universi dem unvergleichlichen Luther entgegen zu setzen, sondern sie gehen nur vor ihm her, wie der Morgen-Glantz vor der Sonne. Hundert mal haben sich die Waldenser, Wiclefiten, Hußiten Evangelisch genennt; sie seynd auch wahrhafftig vor der übrigen Christenheit die depositarii der Evangelischen Wahrheit gewesen, welche ja noch irgendwo hat beygelegt seyn müssen, wenn wir nicht unnöthiger Weise Luthero zu schmeicheln sagen wollen, das Evangelium seye gar auf Erden verschwunden und von Luthero erst wieder auf ein neues vom Himmel gebracht worden. Nein, das Evangelium ist irgendwo geblieben, und die es behalten haben, seynd Evangelische Leute gewesen, ob ihnen gleich Lutherus, da ihre Lampen verlöschen wollten, zur Hülffe gekommen, und das Evangelium in ein grössers und reiners Licht, mit einem ungemeinen Vorzug vor andern, gesetzet hat; Mich dünckt, das seye ein grössre Ehre Lutheri, daß er ein unaufhörliches Evangelium, das weder aufgehöret hat, noch aufhören wird, verkündiget hat, als wenn wir ihn so plötzlich in der Kirche Gottes aufstellen, und damit uns in keine geringe anderwärtige Schwürigkeiten verwickeln. Kurtz, je mehr Evangelische ich vor Luthero zeigen könnte, je lieber wäre es mir, und Luthero selbs unter dem Boden.54

Luther, der alles überstrahlende Verkünder des wahren Evangeliums, tritt in dieser Passage als Sonne auf, die Vorreformatoren und ihre Anhänger, namentlich die Waldenser, Wyclifiten und Hussiten, sind Aurora, der Morgenglanz.55 Sie kündigen den Sonnenaufgang direkt an. Auch sie haben das 52

Rieger, Böhmische Brüder [s. Anm. 1], Anhang zum 24. Stück, 555. Rieger, Böhmische Brüder [s. Anm. 1], Anhang zum 24. Stück, 555. 54 Rieger, Böhmische Brüder [s. Anm. 1], Anhang zum 24. Stück, 555 f. 55 Für eine Bezugnahme Riegers auf das von Christian Knorr von Rosenroth stammende Lied Morgenglantz der Ewigkeit gibt es keine Hinweise. Das Lied ist auch nicht in Riegers Gesangbuch Neu-eröffneter Andachts-Tempel erhalten. Ebenso verhält es sich mit Jakob Böhmes erstem Buch Morgenröthe im Aufgang, später Aurora betitelt. 53

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Evangelium unter dem Druck der Verfolgung verkündet, wenngleich nicht in der reinen Form wie Luther. Ein weiteres Bild, das Rieger hier verwendet, ist das der allmählich verlöschenden Lampen der Vorreformatoren, denen Luther zu Hilfe gekommen ist, der das Feuer vor dem Verlöschen gerettet und erneuert – „in ein grössers und reiners Licht [. . .] gesetzet“56 habe. Rieger ist überzeugt davon, dass die evangelische Kirche als die wahre Kirche schon seit jeher sichtbar war und nicht erst seit dem Auftreten Luthers, der sie jedoch freilich unübersehbar gemacht habe. Das Reich Gottes überall zu erkennen, wo man es gar nicht vermutet habe, sei denn auch der eigentliche Sinn und Zweck des Lesens von Kirchengeschichte, schreibt er, und dies besonders in Zeiten des Zweifels und der Anfechtung. Damit überträgt Rieger den Kirchenhistorikern die Aufgabe, das immerwährende Reich Gottes bzw. die wahre Kirche für andere sichtbar zu machen. Das liest sich zuweilen als Kritik an Gottfried Arnold, mit dem sich Rieger ansonsten kaum auseinandersetzt. Die Vorstellung einer unsichtbaren wahren Kirche, wie Arnold sie pflegte, lehnte Rieger als zu pessimistisch ab. Er versuchte hingegen, die prinzipielle Sichtbarkeit des lückenlosen und lediglich zum Teil oder nur scheinbar verborgen liegenden Reichs Gottes nachzuweisen – insbesondere in den Böhmischen Ländern, deren protestantische Untertanen zur Zeit der Entstehung des Werks von den nicht abreißenden Rekatholisierungsmaßnahmen der Habsburger betroffen waren. Mit seinem Versuch, eine Kontinuitätsgeschichte des Protestantismus, insbesondere des Luthertums, jedoch unter Berücksichtigung der Reformierten, zu schreiben, positionierte sich Rieger freilich auch gegenüber einzelnen Werken aus katholischer Feder. Namentlich wandte er sich gegen die im Jahr 1688 erschienene Histoire des variations des églises protestantes des jesuitischen Theologen Jacques-Bénigne Bossuet, mit der er sich in seinem Werk wiederholt auseinandersetzt. Wie bereits angedeutet, benutzt Rieger zur Visualisierung der wahren Kirche unter anderem die Metaphorik von Licht und Feuer. Die Helligkeit kontrastiert dabei mit der „Dunkelheit“ der Papstkirche. Rieger folgt damit einem biblischen Motiv, das Gott mit den Attributen Licht und Wahrheit versieht. Nach der Beschreibung von massenhaften Hinrichtungen unter den Hussiten, etwa durch öffentliche Verbrennungen auf dem Scheiterhaufen, heißt es, die grausamen Geschehnisse positiv umdeutend: „Dieses seynd ja sichtbahre hell-leuchtende Kirchen!“57 Die Leiden der verfolgten Waldenser und der griechisch-orthodoxen Christen in Böhmen kommentiert er ähnlich: „Das meyne ich, sey eine sichtbare Lutherische Kirche vor Luthero! deren Scheiterhaufen brennen ja so helle, daß die Blinden sie sehen solten.“58 Bei der

56 57 58

Rieger, Böhmische Brüder [s. Anm. 1], Anhang zum 24. Stück, 556. Rieger, Böhmische Brüder [s. Anm. 1], 14. Stück, 593. Rieger, Böhmische Brüder [s. Anm. 1], 1. Stück, 94.

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Beschreibung heimlicher nächtlicher Zusammenkünfte der Böhmischen Brüder zur gemeinsamen Erbauung fragt Rieger rhetorisch: „Ist das nicht eine schöne denen Feinden zwar unsichtbare, aber doch beym Feuer gnugsam hellleuchtende sichtbare Kirche?“59 Zugleich gibt er damit zu verstehen, dass er einen zeitweise geheim gelebten Protestantismus einzelner Glaubensgemeinschaften nicht verurteile. Mit der grundsätzlichen Propagierung der Sichtbarkeit der wahren Kirche korrespondiert auch das Motiv der hinterlassenen Fußspuren Christi, das im Pietismus häufig begegnet. In prominenter Form ist es bei August Hermann Francke zu finden, der die Entstehung der Glauchaschen Anstalten bekanntlich unter dem Titel Segens-volle Fußstapfen des noch lebenden und waltenden liebreichen und getreuen Gottes, Zur Beschämung des Unglaubens und Stärckung des Glaubens darstellte. Von „Fußstapfen“ spricht Rieger zum Beispiel, als er auf den Umstand mangelnden Quellenmaterials zu den Waldensern zu sprechen kommt: Man hat freylich nach dem Unglück der damaligen Zeiten die historischen Urkunden nicht so in der Wahl und Überfluß, wie man wünschen könte. Aber dieses übrig gebliebene ist aufmercksamen, und des verborgenen Reichs Jesu Christi kundigen Seelen schon genug, die beständigen Fußstapfen des in Böhmen wandelnden Königs Jesu Christi zu erkennen, und demüthig zu verehren.60

An anderer Stelle heißt es, es sei eines der wichtigsten Ziele seiner Erzählung der Geschichte von Jan Hus, „die im Staub verdeckte Fußtapfen Gottes aufzusuchen“.61 Diese entdeckten Spuren des Reichs Gottes wolle er mit anderen Spuren aus der Kirchengeschichte in einen Zusammenhang bringen.62 Ein weiteres, nicht weniger schönes Bild benutzt Rieger, als es um die Bedeutung des englischen Theologen Wyclif für die protestantische Kirchengeschichte geht. Er spricht vom Reich Gottes als einer durch Mauern geschützten Stadt. Dabei bilden die Wahrheitszeugen die Stadtmauern: „Und so füllet denn Wyclef eine weite Lücke in der Kirchen-Historie aus, die ich nicht gern offen stehen, oder unangeschlossen an die andere Mauren der Stadt oder Reiches Gottes bleiben lassen möchte.“63 Sowohl die thematische Auswahl als auch die sprachliche Vermittlung dieser Auswahl in seiner Brüder-Geschichte zeigen, dass Rieger die Reformation als langwierigen und immerwährenden Prozess begreift. Dieser ist zwar ständigen Schwankungen und Rückfällen ausgesetzt, lässt sich aber in seinem Lauf nicht aufhalten. Innerhalb dieser alle Zeiten umfassenden Entwicklung nimmt Luther insofern eine Sonderstellung ein, als die Sichtbarkeit der wahren Kirche nicht mehr geleugnet werden kann. Trotz der Verdienste des 59 60 61 62 63

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Rieger, Böhmische Brüder [s. Anm. 1], 21. Stück, 32. Rieger, Böhmische Brüder [s. Anm. 1], 1. Stück, 36. Rieger, Böhmische Brüder [s. Anm. 1], 13. Stück, 509. Rieger, Böhmische Brüder [s. Anm. 1], 13. Stück, 509. Rieger, Böhmische Brüder [s. Anm. 1], 5. Stück, 470.

deutschen Reformators um die Hebung der Frömmigkeit, gegen deren Schmälerung durch manche Pietisten Rieger protestiert,64 betrachtet er Luther vor allem als Höhepunkt hinsichtlich der wahren evangelischen Lehre. Die Böhmischen Brüder mit ihrer vorbildlichen Kirchenzucht wiederum stellen einen deutlichen Höhepunkt hinsichtlich eines wahrhaft christlichen Lebens im Sinne der apostolischen Kirche dar. Wenn nun die Reformation ein nicht abgeschlossener Prozess war, stellte sich freilich die Frage nach der weiteren Zukunft. Als Pfarrer der lutherischen Landeskirche in Württemberg hatte Rieger die Vorzüge der lutherischen Konfession zu verteidigen und sich an den lutherischen Bekenntnisschriften zu orientieren, die den Calvinismus verwarfen; als Pietist wusste er sich, besonders in Fragen der christlichen Lebensführung, auch mit Vertretern der Reformierten verbunden. Zwar ist der Stuttgarter Theologe nicht als Ireniker hervorgetreten; deren Wunsch nach der Vereinigung von Lutheranern und Reformierten auf Grundlage der bestehenden Übereinstimmung in den Fundamentalartikeln hat er jedoch geteilt und zumeist zwischen den Zeilen, bisweilen aber auch direkt, formuliert. Als Rieger etwa die Frage behandelt, ob die Waldenser theologisch eher den Reformierten oder den Lutheranern zuzurechnen seien, entscheidet er sich zwar für die Lutheraner. Damit wolle er sich jedoch keinesfalls gegen die Reformierten positionieren, lautet es dann in einer für ihn recht deutlichen Formulierung, mit der er sich als Freund einer zukünftigen Kirchenunion zu erkennen gibt: „Doch ist dies alles von mir nicht gemeynet, die Union unserer beyden Kirchen schwerer zu machen, welche ich salva veritate heute geschehen zu seyn lieber wünschte, als erst morgen.“65

64 65

Rieger, Böhmische Brüder [s. Anm. 1], 22. und 23. Stück, 192–199. Rieger, Böhmische Brüder [s. Anm. 1], 2. Stück, 153.

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LUBINA MAHLING

Alphabetisierung und Pluralisierung Zur Wirkung des Pietismus unter den Sorben im 18. Jahrhundert Seit der Reformation war das sorbische Ethnikum1 in den beiden Lausitzen konfessionell gespalten. Ein kleiner Teil im Einflussbereich des Bautzner Domstifts und der Lausitzer Klöster verblieb beim althergebrachten Glauben, der überwiegende Großteil jedoch wandte sich unter der Führung der jeweiligen Ortsherrschaft der Lehre Luthers zu. Damit einhergehend bildeten sich aus der evangelisch-sorbischen Geistlichkeit die Anfänge einer sorbischen Gelehrtenschicht, zudem kam es zu ersten Übersetzungen ins Sorbische. Als erster obersorbischer Druck erschien 1597 der Kleine Katechismus, 1627 folgte diesem eine Ausgabe der Sieben Bußpsalmen.2 Ein größerer sorbischer Buchmarkt entwickelte sich jedoch erst unter Einfluss des Pietismus am Anfang des 18. Jahrhunderts. Das Siedlungsgebiet der Sorben in der Oberlausitz umfasste in diesem Zeitraum etwa 7000 Quadratkilometer. Frido Mětšk geht nach eigenen Schätzungen für das Jahr 1767 von höchstens 200 000 Sorben in rund 1000 Dörfern der Oberlausitz aus.3 Diese waren überwiegend im dörflichen Bereich sozialisiert und teilweise in unterschiedlichen Formen der Leibeigenschaft gebun-

1 Einen aktuellen Überblick zur sorbischen Geschichte und Kultur bieten Gerald Stone: Slav outposts in Central European history: the Wends, Sorbs and Kashubs. London, New York 2016 und Sorbisches Kulturlexikon (im Folgenden: SKL). Hg. v. Franz Schön u. Dietrich Scholze. Bautzen 2014. 2 Die vorliegende Untersuchung konzentriert sich geographisch auf die Oberlausitz. Um der besseren Lesbarkeit willen wird im Folgenden weitestgehend darauf verzichtet, diese räumliche Beschränkung durch die Konkretisierung „obersorbisch“ bzw. „Obersorben“ zu markieren, und allein die Bezeichnung. „sorbisch“ bzw. „Sorben“ gebraucht. Zum Pietismus in der Niederlausitz sei hingewiesen auf: Michael Mehlow: Die Beziehungen der Lausitz zur Universitätsstadt Halle im 18. Jahrhundert. Dargelegt anhand ausgewählter Beispiele. Dipl.-Arb. [masch.], Halle, 1990. Mehlows Arbeit beruht auf den Vorarbeiten von Alfred Mietzschke: Lusatica aus dem Anfang des 18. Jahrhunderts. Ein Beitrag zur Geschichte des Pietismus in der Lausitz. In: ZSlP 17, 1941, 123– 142. 3 Geschichte der Sorben. Bd. 1. Von den Anfängen bis 1789. Hg. v. Jan Brankačk u. Frido Mětšk. Bautzen 1977, 307. Zum sorbischen Siedlungsgebiet sei verwiesen auf die Zusammenstellung sorbischer Kirchspiele in Christian Knauthe: Derer Oberlausitzer Sorberwenden umständliche Kirchengeschichte [. . .]. Görlitz, gedruckt bey Joh. Friedr. Fickelscherer 1767. ND Köln 1980, 352–366.

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den. Doch gab es daneben auch eine nicht zu vernachlässigende Schicht freier Bauern, Handwerker und Gewerbetreibender sowie ein zunächst noch kleines, jedoch wachsendes sorbischsprachiges Bürgertum in den Lausitzer Städten. Im Hinblick auf die Sprachsituation wird in der Regel eine weitgehende sorbische Einsprachigkeit angenommen: Ein Großteil der Sorben verfügte über keine bzw. nur rudimentäre Deutschkenntnisse.4 Diese Einsprachigkeit wurde im Laufe des 18. Jahrhunderts, wie im Folgenden gezeigt werden soll, auch durch pietistische Einflüsse, zur sorbisch-deutschen Zweisprachigkeit erweitert. Neben der wachsenden Bilingualität – die nach Hartmut Zwahr „das Ende der frühneuzeitlichen Geschichte der Sorben“ markiert5 – sind im Umfeld des Pietismus weitere Modernisierungstendenzen beobachtbar. In erster Linie ist hier auf das Vordringen von Buch und Schrift in die bis dahin weitestgehend von Mündlichkeit geprägte sorbische Gesellschaft zu verweisen. Gleichzeitig fand eine Ausdifferenzierung der sorbischen Gesellschaft statt: Prozesse der Inklusion und zunehmenden Verflechtung sind ebenso zu beobachten wie die Loslösung aus traditionellen Bindungen (wie etwa aus dörflichen oder ständischen Strukturen), also Exklusion. Diese Prozesse sowie die zunehmende Zweisprachigkeit unter den Sorben werden im Folgenden unter dem Begriff der Pluralisierung6 zusammengefasst. Ausdifferenzierung und zunehmende Verschriftlichung standen dabei in einer engen, untrennbaren Wechselbeziehung.7 Beide Entwicklungen sind maßgeblich mit dem Eindringen des Pietismus in die sorbische Gesellschaft verbunden und sollen in dieser Studie näher untersucht werden. Der Pietismus erreichte die Lausitz am Anfang des 18. Jahrhunderts.8 Verhältnismäßig gut erforscht ist, wie Henriette Catharina (1648–1726) und ihr Ehemann Nikol II. von Gersdorf (1629–1702) um 1700 aus pietistischer 4 Hartmut Zwahr: Eine terra incognita. Die Lausitzer Sorben in der Frühen Neuzeit. In: Historische Anthropologie. Kultur – Gesellschaft – Alltag 6, 1998, 388–400, hier 389. 5 Zwahr, Terra incognita [s. Anm. 4], 390. 6 Zu Pluralisierung als Konzept zur Erfassung der Frühen Neuzeit vgl. die verschiedenen Publikationen des Münchner SFB 573 „Pluralisierung und Autorität in der Frühen Neuzeit“, insbesondere: Pluralisierungen: Konzepte zur Erfassung der Frühen Neuzeit. Hg. v. Jan Dirk Müller [u. a.]. Berlin 2010. Im Hinblick auf die Kirchengeschichte sei verwiesen auf: Andreas Holzem: Christentum in Deutschland 1550–1850. Konfessionalisierung – Aufklärung – Pluralisierung. 2 Bde. Paderborn 2015. 7 Vgl. dazu maßgeblich: Rudolf Schlögl: Kommunikation und Vergesellschaftung unter Anwesenden. Formen des Sozialen und ihre Transformation in der Frühen Neuzeit. In: Geschichte und Gesellschaft 34, 2008, 151–224 sowie allgemeiner: Jan Assmann: Religion und kulturelles Gedächtnis. München 32007. 8 Im Hinblick auf die Sorben und den Pietismus sei auf folgende Arbeiten verwiesen: Jan Malink: Art. „Brüdergemeine“. In: SKL, 60–62 und ders.: Art. „Pietismus“. In: SKL, 315–317. Beide Artikel beruhen größtenteils auf der letztlich nicht eingereichten Dissertation Ernst Goltzsch: Der Pietismus und die Sorben der Oberlausitz im 18. Jahrhundert. Der Einfluß Speners, Franckes, besonders aber Herrnhuts. 2 Bde. Leipzig 1970.

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Gesinnung heraus und auf Vermittlung Philipp Jakob Speners (1635–1705) hin den Druck der ersten obersorbischen Bücher – kirchlicher Grundlagenliteratur, nicht jedoch spezifisch pietistischer Schriften – finanzierten.9 So erschien 1693 Luthers Kleiner Katechismus, 1695 die Perikopen und 1696 die Agende in sorbischer Sprache. Ferner unterstützten Gersdorfs den Druck biblischer Bücher, so des Römer- und Galaterbriefs 1693, des Psalters 1703 und des Neuen Testaments 1706. Schließlich erschien 1710 das erste sorbische Gesangbuch und 1728 die gesamte Bibel in obersorbischer Übersetzung. Zum wirkmächtigen Zentrum pietistischer Glaubensvermittlung unter den Sorben stieg wenige Jahre später Herrnhut auf. Die 1722 gegründete Siedlung lag am Südostrand des sorbischen Siedlungsgebietes, insofern verwundert es kaum, dass auch viele Sorben neugierig nach Herrnhut pilgerten bzw. dort Erbauung suchten. Unterstützt wurde diese Bewegung von Friedrich Caspar Graf von Gersdorf (1699–1751),10 einem engen Verwandten Nikolaus Ludwig von Zinzendorfs (1700–1760). Gersdorf förderte die schon bald reichsweit Aufsehen erregende Gründung seines Vetters politisch wie finanziell und nahm sich der religiösen Erweckungen in der sorbischen Lausitz an.11 Dieses Engagement ist in den Kontext der 1723 erfolgten Erhebung zum Reichsgrafen des zu diesem Zeitpunkt jungen Friedrich Caspar von Gersdorf einzuordnen, profilierte er sich doch mit seinen Unternehmungen zugunsten der Sorben zunehmend als „frommer Reichsgraf“, der in Verbindung mit den pietistischen Höfen in Sorau (pln. Żary), Muskau und Ebersdorf/Vogtland stand. Als Friedrich Caspar von Gersdorf 1730 zum Oberamtshauptmann der Oberlausitz gewählt wurde, verstärkte er seine Bemühungen zur Förderung der „Reich-Gottes-Arbeit“ unter den Sorben. Bis zu seinem frühen Tod 1751 war Gersdorf der höchste Regierungsvertreter in der Oberlausitz und zugleich Patron und Mäzen der brüderischen Bewegung, vor allem im Hinblick auf ihre Arbeit unter den Sorben. Die beiden Arbeits- bzw. Wirkfelder als Oberamtshauptmann und als Förderer Herrnhuts waren aufgrund der politisch wie religiös umstrittenen Stellung Herrnhuts nicht immer leicht miteinander zu vereinbaren.12 Dennoch war Gersdorf für ein Vierteljahrhundert 9 Vgl. hierzu: Karl Röseberg: Leben und Wirken von Michael Frentzel. In: Beiträge zur sächsischen Kirchengeschichte 39, 1930, 30–112; Robert Langer: Pallas und ihre Waffen. Wirkungskreise der Henriette Catharina von Gersdorff. Dresden 2008, 93–109 sowie Ulrike Witt: Bekehrung, Bildung und Biographie. Frauen im Umkreis des Halleschen Pietismus. Tübingen 1996, 151–167. 10 Zu Gersdorfs Werk vgl. einführend: Hans Mirtschin: Friedrich Caspar von Gersdorf und Kleinwelka. In: UnFr 63/64, 2010, 39–52. 11 Vgl. hierzu den Briefwechsel zwischen Gersdorf und Zinzendorf in: Unitätsarchiv Herrnhut (UA) R.5.A.20. 12 Ferdinand Körner: Die kursächsische Staatsregierung dem Grafen Zinzendorf und Herrnhut gegenüber bis 1760. Nach den Acten des Hauptstaatsarchivs Dresden. Leipzig 1878; Friedrich Sigwart Hark: Der Konflikt der kursächsischen Regierung mit Herrnhut und dem Grafen von Zinzendorf 1733–1738. In: NASG 3, 1882, 1–65; ders.: Des Grafen von Zinzendorf Rückkehr nach Sachsen und die Hennersdorfer Kommission 1747–1748. In: NASG 6, 1885, 264–307 sowie Irina

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der entscheidende Organisator und Finanzier der pietistischen Bewegung unter den Sorben und hat durch seine zahlreichen Aktivitäten13 – Gründung einer sorbischen Predigerkonferenz, Aufbau der sorbischen Laienarbeit sowie Gründung mehrerer Schulen, zum Teil nach dem Vorbild der Glauchaschen Anstalten vor Halle – die Entwicklung der sorbischen Gesellschaft maßgeblich beeinflusst. In der Spanne seines Lebens, der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, fanden wesentliche, von Gersdorf mitgestaltete Transformationsprozesse (zunehmende Zweisprachigkeit und Alphabetisierung, Verschriftlichung des Sorbischen, Ausdifferenzierung) statt, die zur Pluralisierung der sorbischen Gesellschaft beitrugen. Anhand der drei Themenfelder Laienarbeit, Schulwesen sowie religiöse Publizistik soll diese These im Folgenden vertieft werden. 1. Laienarbeit Bereits kurz nach 1700 sind kleinere, lokal begrenzte Erweckungen in den sorbischen Parochien greifbar. Diese erfuhren durch die Gründung Herrnhuts entscheidende verstärkende Impulse, so dass bis etwa 1780 immer wieder aufflammende religiöse Erweckungen registriert werden können, die an verschiedenen Orten und zu verschiedenen Zeiten von unterschiedlicher Qualität und Intensität waren. Sammelpunkte dieser Bewegung waren zunächst die näher an Herrnhut liegenden Parochien Löbau, Kittlitz und Hochkirch, später auch die Dörfer, in denen Graf Gersdorf Grundherr war. Um die Mitte des 18. Jahrhunderts sind die ersten größeren Erweckungen in der Niederlausitz zu beobachten. Gersdorf förderte die Bewegung, indem er von Beginn an die aktive Mitarbeit von Laien unterstützte. Dies stellt ein Novum innerhalb der sorbischen Kirchenpolitik dar. Denn bisher war meist versucht worden, durch Schaffung zusätzlicher (Diakonats-)Stellen oder das Abhalten von Katechismuspredigten – also durch Intensivierung amtskirchlicher Momente – die Sorben zu einem intensiveren Glaubensleben anzuregen. Etwa seit 1730 ließ Gersdorf in Herrnhut geeignete Sorben zu Laienarbeitern ausbilden, die dann in der ganzen Oberlausitz religiöse Versammlungen organisieren und anleiten sollten. Ihre Arbeit sicherte er oftmals dadurch ab, dass er diese Laienarbeiter bzw. Stundenhalter als Lehrer14 oder Gutsverwalter15 auf seinen Gütern einModrow: Dienstgemeine des Herrn. Nikolaus Ludwig von Zinzendorf und die Brüdergemeine seiner Zeit. Hildesheim [u. a.] 1994. 13 Vgl. dazu die Abschnitte Sec. I und II in: UA R.6.C.a.2.1.a.1 Historische Nachricht von Wendisch-Niska. 14 UA R.5.A.20.b.31 Friedrich Caspar von Gersdorf an Nikolaus Ludwig von Zinzendorf, Leichnam [Spreewiese], 24.08.1734: Gersdorf sandte Georg Jäncke, der „destinieret [ist] auf einem meiner Dörffer Schulmeister zu werden“ nach Herrnhut zur Ausbildung. Schwerpunkt der Ausbildung in Herrnhut bildete jedoch keineswegs die Vorbereitung auf Jänckes Lehramt, vielmehr bat Gersdorf, Jäncke möge in Herrnhut für sein Amt als Stundenhalter geschult werden:

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stellte. 1742 erbte Gersdorf das Gut Teichnitz vor den Toren Bautzens,16 das er bald zielgerichtet zum Zentrum der Laienarbeit ausbaute. Er stellte einen Absolventen der Theologie an, der dort religiöse Versammlungen hielt und die Laienarbeit koordinierte. Die Teichnitzer Arbeit entwickelte sich rasch zum Zentrum der Brüdergemeine unter den Sorben, aus dem heraus nach Gersdorfs Tod 1751 die sorbische Brüderkolonie in Kleinwelka gegründet wurde.17 Soweit der ereignisgeschichtliche Verlauf. Die Tiefen- und Breitenwirkung der durch Herrnhut ausgelösten Massenbewegung unter den evangelischen Sorben lässt sich hier nur grob nachzeichnen. Zahlreiche für die Entstehung einer modernen Gesellschaft relevante Prozesse wie Vergesellschaftung, Integration und Verflechtung,18 aber auch Exklusion, sind hier für die sorbische Gesellschaft unter pietistischen Vorzeichen zu beobachten. Zunächst lösten die Erweckungen weiträumige Wanderungsbewegungen aus: Man pilgerte nach Herrnhut und Teichnitz, traf sich in Sozietäten vor Ort und suchte erwecklich predigende Pfarrer auf.19 Diese räumliche Mobilität ließ über die „Nunmehro aber wünschte daß dieser [Jäncke, d. Vf. n] mehr praepariert würde absonderlich daß man ihm die jenige Weißheit beybrächte welche mit denen bösen Pfarrern zu gebrauchen nöthig ist, und ihm wohl ins Herz zu prägen ist, daß man sich in nichts von dem geschrieben Wort entfernen, oder seinen imaginationen und meinungen nach zu hangen habe.“ 15 Vgl. dazu etwa den Lebenslauf von Peter Böhmer in UA R.6.C.a.2.1.a.1 Historische Nachricht von Wendisch-Niska, Sec. II §2 oder von Matthäus Lange in UA R.22.29.14. Darin schreibt Lange, er habe von Gersdorf und dem Klixer Diakon Johann Gottfried Kühn den Auftrag bekommen, „denen erweckten Seelen in der Gegend herum Erbauungsstunden zu halten, welchen Auftrag ich auch mit großen Vergnügen annahm und nach aller Treue besorgte“. 16 UA UVC XV 100 Acta das Gut Teichnitz betr. 1742 sowie Walter von Boetticher: Geschichte des Oberlausitzischen Adels und seiner Güter 1635–1815. 4 Bde. Görlitz 1912–1923, hier Bd. 1, 446 und Bd. 3, 453 f. 17 Vgl. zu diesem Prozess die Darstellung in UA R.6.C.a.2.1.a.1 Historische Nachricht von Wendisch-Niska. 18 So schufen religiöse Konventikel und brüderische Sozietäten Strukturen, die erste Merkmale des Vereinswesens trugen. Vgl.: Ota Wićaz: Runočasna powěsć wo nabožnych zjednoćenstwach mjez evangelskimi Serbami. In: Łužica 43, 1928, 19 f. 19 Vgl. hierzu etwa den Lebenslauf von Andreas Benade in UA R.22.16.12. Nachdem Benade erweckt wurde, ging er, „wo ich gute Prediger hörte, Sonntags früh ging ich weg, und kam Montags früh wieder, bis Br[uder] Hersen nach Teichniz kam, von da an ging ich alle Sonntage dahin [. . .] Alle 4 Wochen ging ich nach Herrnhuth auf die Bettage und blieb oft drey Tage da.“ Ähnliches berichtet Johann Georg Gruner in seinem Lebenslauf (UA R.22.28.11). Der 1725 in Hoyerwerda geborene Gruner besuchte regelmäßig die Versammlungen in seiner Heimatstadt sowie einen frommen Hufschmied in Litschen. Zu Ostern 1749 machte er sich auf den Weg nach Herrnhut: „u[nd] ich kam gerade am Ostermorgen daselbst an, als die Gemeine auf dem Gottesacker war. Da ich sie von ferne erblickte, kann ich es nicht ausdenken wie mir zu Muthe war, ich war sehr vergnügt darüber. Und als ich mit derselben noch haussen auf dem Platz im Kreise stund, so durchging mich etwas, dass ich niemals habe vergessen können. Die Brüder [. . .], die dazumal die Fremdendiener waren, nahmen mich sehr liebreich auf, welches mir recht wohl gefiel. [. . .] Nach der Zeit bin ich öfters die 8 Meilen [rund 70 km, d. Vf. n] ganz allein in einem Tage gelaufen, u[nd] bin manchmal recht müde gewesen. So bald ich aber Herrnhut erblickte, so verlor sich alle Müdigkeit. Zuweilen habe ich mich daselbst ganze 8 Tage aufgehalten.“ Später besuchte Gru-

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bisherigen Dorf-, Sprach- und Standesgrenzen hinweg neue Netzwerke entstehen. Im Betsaal des Teichnitzer Schlosses versammelten sich Adlige, Bürger, Bauern und Tagelöhner, Sorben und Deutsche vereint in Tränen „vor dem Lamm liegend“.20 Eine ähnliche Aufhebung der Standes- und Sprachgrenzen ist in Klix zu beobachten, wo der damalige Tagelöhner und spätere Rittergutsbesitzer Matthäus Lange [Matej Dołhi] (1704–1786) im Pfarrhaus predigte: Des Sonntags Nachmittags hielt ich eine zahlreiche Versammlung von Freunden, Bekannten und Gelehrten in dem Hause des Herrn Pfarrers Wiederholungsstunde der Vormittagspredigt, welche ich eine geraume Zeit mit Beyfall continuierte.21

Anwesend waren nicht nur die Erweckten der Umgebung, sondern auch der örtliche Diakon Johann Gottfried Kühn [Jan Bohuměr Kühn] (1706– 1763) sowie die Studenten des Klixer Seminars. Klarer lässt sich das aufregend Neue der von Herrnhut ausgehenden Bewegung nicht fassen: Ein zugereister Tagelöhner, Matthäus Lange, predigt vor Gelehrten und Studenten. Im Namen der neuen Brüderlichkeit wurden hier eindeutig herkömmliche Grenzen überschritten. Der horizontalen, räumlichen Mobilität folgte oftmals eine mentale Mobilität und dieser wiederum eine vertikale, soziale Mobilität. Für viele war die Begegnung mit der Brüdergemeine Anlass, die Grenzen der sorbischen Einsprachigkeit zu überwinden. So berichtet Johannes Voll (1711–1780) über seine ersten Besuche in Herrnhut: „Weil ich der deutschen Sprache noch wenig mächtig war, so verdolmetschte mein sel. Vetter selbiges, was hier [in Herrnhut, d. Vf. n] geredet wurde.“22 In der Folge schloss sich Voll der Brüdergemeine an. Über Marienborn und den Herrnhaag kam er nach Neudietendorf und erlernte die deutsche Sprache, wie sein selbst verfasster Lebenslauf bezeugt. Andere Menschen bewog die Begegnung mit der Gemeine ner die Versammlungen in Teichnitz und zog schließlich 1753 mit seiner Frau nach Kleinwelka. 1776 übernahm Gruner mit seiner Frau das Amt des Diasporaarbeiters für die Niederlausitz und wohnte für sechs Jahr in Burg/Spreewald und später in Limberg. Vgl dazu auch UA R.22.76.19 Lebenslauf Magdalena Gruner. Magdalena Gruner wurde 1725 in Buchwalde geboren und 1748/ 49 erweckt. Seitdem besuchte sie gegen den Willen ihrer Eltern die Versammlungen in Teichnitz und lief „öfters bey Nacht und Nebel, Hitze und Kälte, und sehr schlechte Witterung und Wege ganz allein“ nach Herrnhut. Nach ihrer Heirat mit Georg Gruner und ihrer Niederlassung in Kleinwelka übernahm sie als Mutter von sieben Kindern das Amt der Krankenbesucherin und wurde Besucherin der Geschwister um Altlöbau, bevor sie mit ihrem Mann den Diasporadienst in der Niederlausitz übernahm. 20 Vgl. hierzu die von den Mitarbeitern der Brüdergemeine akribisch geführten Diarien: UA R.6.C.a.1.5.a Diarium Teichnitz; UA R.6.C.a.1.5.b Diarium Teichnitz sowie UA R.6.C.b.1.a Diarium Teichnitz/Kleinwelka. Zum Besuch von Adligen in Teichnitz zudem: UA R.19.B.a.2.a.1 Einige propositiones zum gegenwärtigen Synodo [1747] sowie die Einträge in UA R.6.C.a.5a Diarium Teichnitz, 14.01.1748 und UA R.6.C.a.5b Diarium Teichnitz, 06.02.1748. 21 UA R.22.29.14 Lebenslauf Matthäus Lange. 22 UA R.22.18.125 Lebenslauf Johannes Voll.

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Lesen und Schreiben zu lernen, so etwa Martin Förster (1697–1759), der in seiner Jugend Versammlungen eines frommen Mannen in Bautzen besuchte, bei welchen jener aus der Bibel vorlas. Nach dessen Tod wurde er [Martin Förster, d. Vf. n] sehr verlegen, da er selbst nicht lesen konnte. Er fing daher an selbst lesen zu lernen, u[nd] war Tag und Nacht unermüdet, den Sinn Gottes mit seinem eigenen Augen zu lesen [. . .]. Wie er’s konnte, so rief er die Leute, mit welchen er ehedem zu dem frommen Meister gegangen zu sich, u[nd] laß ihnen eben so die Bibel vor.23

Beispielhaft ist hier zu erkennen, wie das Buch in die Mitte der sorbischen Gesellschaft vordrang; es wurde gelesen, ausgelegt, diskutiert, gelernt24 – und mitunter selbst hergestellt: Im Umfeld der Brüdergemeine schrieb der Halbbauer Hanso Nepila (1766–1856) aus Rohne in Druckbuchstaben das Druckbild nachahmend, religiöse Gebrauchsliteratur – Lieder, Gebete und Traktate – für die Menschen seiner Umgebung und später einen von Herrnhut inspirierten, äußerst umfangreichen Lebenslauf.25 Das dynamische Potenzial der in sorbischer Sprache gedruckten Erbauungsliteratur wird auch im Lebenslauf des Schäfers Martin Winkler (1714–1791) aus Schwarzkollm greifbar, wenn er schreibt: „Ao. 1743 entstand in der Gegend eine Erweckung, durch des Pastor [Johann] Pechs Schriften, die wir zu lesen bekamen.“26 Darüber hinaus sind auch pädagogische Initiativen im Umfeld der Brüdergemeine zu beobachten: So gründeten Anhänger der Brüdergemeine in Döhlen bei Hochkirch27 und in Neida bei Hoyerswerda28 eigene Schulen, um ihren Kindern eine spezifisch pietistische Erziehung zu ermöglichen. Beide Einrichtungen wurden mit Lehrern aus Herrnhut besetzt. 23

Archiv der Brüdergemeine Kleinwelka (AKW) PA II R.7.1 Lebenslauf Martin Förster. Wilhelm Biefer, Arbeiter der Gemeine in Kleinwelka, berichtet über die Erweckten um Hoyerswerda, sie haben „etwa ein Stück von einem Anhang unseres Gesangbuchs und dazu 11. oder 12., oder die 1. Zugabe erwischt, und das ist so zerrissen und verzackt und zu Rathe gehalten, wies Johann Arnds im Feuer gewesene Paradiesgärtlein [. . .] und das ehren sie wie ein Orakel, und nähren sich daraus.“ Diarium Kleinwelka, 26.01.1753, zit. nach Goltzsch, Pietismus [s. Anm. 8] 2, 78. 25 Peter Milan Jahn: Vom Roboter zum Schulpropheten. Hanso Nepila (1766–1856). Bautzen 2010. Meines Erachtens hätte Jahn Nepila konsequenter in biblischer wie brüderischer Tradition stehend interpretieren müssen, denn nur auf diese Weise erschließen sich Nepilas selbstverfasste Traktate und Schriften. Spricht Nepila zum Beispiel von der „einen Mutter“, die die Gemeinschaft der Versammelten stiftet, so ist darin kein Rudiment altsorbischer matriarchaler Abstammungsmythen zu sehen (65). Vielmehr ist diese Redewendung auf Zinzendorf zurückzuführen, der von dem Mutteramt des Heiligen Geistes eben in diesem Sinne spricht. 26 UA R.22.30.30 Lebenslauf Martin Winkler. Johann Pech, Diakon an der Michaeliskirche in Bautzen, zählt mit seinen zahlreichen religiösen Veröffentlichungen, deren Erscheinen vermutlich durch Friedrich Caspar von Gersdorf gefördert wurde, zu den aktivsten sorbischen Publizisten der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts. 27 UA R.6.C.a 2.1.a Historische Nachricht von Wendisch-Niska, Sec. III §3. 28 UA R.22.66.14 Lebenslauf Magdalena Clemens sowie UA R.22.114.62 Lebenslauf Matthes Zschippank. 24

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Zugleich mit den Bildungsprozessen konnte der Anschluss an die Gemeine für den Einzelnen auch den sozialen Aufstieg bedeuten. Frauen und Männer übernahmen innerhalb der Gemeine verschiedene Ämter, die ihnen eine verantwortungsvolle Position und Anerkennung boten; darüber hinaus erschlossen sich Handwerkern und Gewerbetreibenden innerhalb der Gemeine auch wirtschaftlich neue Möglichkeiten.29 Nicht zu vergessen sind jene, denen die Gemeine eine solide handwerkliche Ausbildung oder gar ein Studium ermöglichte.30 Hingewiesen sei hier allein auf das schon die Zeitgenossen bewegende Leben des bereits erwähnten Matthäus Lange, der unter Gersdorfs Förderung vom Tagelöhner zum Stundenhalter und Rittergutsbesitzer aufstieg. Nicht zuletzt bedeutete der Anschluss an die Gemeine auch den Zugang zu einer internationalen Gemeinschaft. Nachrichten aus den zahlreichen Missionsstandorten wurden auch in Lausitzer Sozietäten mit großem Interesse gelesen, die weite Welt schien innerhalb der Brüdergemeine ganz nah.31 So begaben sich mehrere Sorben selbst in die Mission.32 Bekanntester unter den sorbischen Missionaren ist wohl der Gröditzer Johann August Miertsching [Jan Awgust Měrćink] (1817–1875), der in Labrador und Südafrika wirkte. Der Kontakt zur Gemeine konnte also in zahlreichen Fällen den sozialen Aufstieg befördern. Langfristig entscheidend war für die sorbische Gesellschaft jedoch, dass im Umfeld der Gemeine der Umgang mit Buch und Schrift eingeübt und zur Gewohnheit wurde.33 29 So arbeitete der Grieshändler Peter Lehmann auf der Seidau auch für die Gemeinanstalten in Niesky. Vgl. UA R.6.C.b.1.a Diarium Teichnitz/Kleinwelka, 01.11.1751. 30 Aus der Menge der Beispiele vgl. etwa: UA R.22.35.46 Lebenslauf Johann Andreas Würgatsch. 31 Zur Gemeine als internationaler Gemeinschaft vgl. Gisela Mettele: Weltbürgertum oder Gottesreich. Die Herrnhuter Brüdergemeine als globale Gemeinschaft 1727–1857. Göttingen 2009. 32 Trudla Malinkowa: Art. „Mission“. In: SKL [s. Anm. 1], 251–254. 33 Gelesen wurden im sorbischsprachigen Umfeld der Brüdergemeine überwiegend die Bibel selbst und verschiedene bereits gedruckt vorliegende sorbischsprachige Erbauungsbücher sowie handschriftlich verbreitete Gemeinnachrichten und -predigten. (So schreibt Johann Lischke in seinem Lebenslauf UA R.22.105.99: „konnte ich auch meiner Nation mit Übersetzung der Reden und Gemeinnachrichten ins wendische dienen“.) Erst ab etwa 1750 lagen erste Gemeinschriften in sorbischer Sprache gedruckt vor. Dazu zählen u. a. Ernst August Hersens (1714–1750) Gesangbuch Loß teje Newesty Jesußoweje (1750); Spangenbergs Predigten (Jakub Jatzwauk: Sorbische (wendische) Bibliographie. Berlin 21952, Nr. 5752), Zinzendorfs Reden an die Diaspora (Jatzwauk, Sorbische Bibliographie, Nr. 5729); das Gesangbuch Evangelske Stuczki (Jatzwauk, Sorbische Bibliographie, Nr. 5548) und vier Predigten in niedersorbischer Sprache (Jatzwauk, Sorbische Bibliographie, Nr. 5705–5708). Neben diesen explizit aus dem Umfeld der Brüdergemeine stammenden Schriften sind weitere Drucke des 18. Jahrhunderts dem brüderischen Spektrum zuzurechnen, so u. a. die Evangelische Gnadenordnung von David Hollaz von 1743 (Jatzwauk, Bibliographie, Nr. 5722) und ein großer Teil der Übersetzungen der beiden Lehrer Georg Lahode [Jurij Łahoda] (1730–1817) und Andreas Gedan [Handrij Gědan] (1728–1783) zur brüderischen Literatur zu zählen. So übersetzte Lahode beispielsweise zwei Predigten Christoph Friedrich Steinhofers (Jatzwauk, Sorbische Bibliographie, Nr. 5623) sowie eine Predigt Ernst Gottlieb Woltersdorffs (Jatzwauk, Sorbische Bibliographie, Nr. 5648), Gedan dagegen übertrug zahlreiche Erbauungsschriften und religiöse Traktate ins Sorbische. (Vgl. dazu auch

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So bedeutete die persönliche Begegnung mit der Gemeine für viele Betroffene einen tiefen biographischen Einschnitt, der dazu anregte, territoriale, mentale und soziale Grenzen zu überwinden. Die von Friedrich Caspar von Gersdorf geförderte Bewegung trug wesentlich zur Dynamisierung und Pluralisierung der sorbischen Gesellschaft bei, denn es blieb nicht bei den Frommen, die sich Herrnhut anschlossen. Im Umfeld der brüderischen Bewegung sind zahlreiche Gruppierungen zu beobachten, teils radikalerer,34 teils moderaterer Art, die miteinander konkurrierten, teilweise auch zusammenarbeiteten35. So berichtet beispielsweise Andreas Benade [Handrij Benada] (1709– 1780): Um 1750 war eine Verwirrung unter den Wendischen Brüdern und es waren viele Partheien. Ich hielt mich 1 Jahr zu einem gewissen Hasche in Pomriz [Pommritz] einen gesetzlichen Mann, der gut predigen konnte, mit dem habe ich oft auf den Knien gebetet, er wollte gern eine Gemein aufrichten und eiferte über der anderen leichten Glauben, ich kriegte aber hernach was gegen ihn, weil er mir immer gesetzliche sachen predigte.36

Weitere separatistische Gruppierungen werden im Lebenslauf von Johann Wujnatz [Jan Wujanc] (1718–1762) greifbar. Nach seiner Erweckung gerieth er unter eine Sorte Seperatisten, welche Kirche und Abendmahl gering hielten, und allein durch den Glauben selig zu seyn vorgaben. Wenn andere Leute in die Kirche gingen, so ging er auf die Arbeit. In dieser Gesinnung kam er einmal in seinem Zimmerschurz hierher [Kleinwelka, d. Vf. n] auf den Saal, und wurde sogleich von der Gnade in Jesu Blute so kräftig überzeugt, dass er seinen Sinn änderte. Er wurde sodann in die Societaet aufgenommen, und zum Genuß der heil. Abendmahls in der Kirche zu Berthelsdorff admittiert.37

Quasi institutionalisiertes Zeichen der Konkurrenz innerhalb des frommen Lagers sind die nur zwei Kilometer voneinander entfernten Orte Klein- und die entsprechenden Angaben bei: Korla Awgust Jenč: Spisowarjo hornjołužiskich evangelskich Serbow, wot 1598 hać 1800. In: Časopis Maćicy Serbskeje 28, [1875], 1–42.) 34 Um 1733 sind in der Parochie Hochkirch radikale, separatistische Tendenzen zu beobachten. So agitierte Christoph Bartusch, dass der Hochkircher Pfarrer „Gottes Wort nicht recht predigte, und sie bey [s]einer Lehre nicht könnten selig werden.“ Weiter habe Bartusch gesagt: „Kirchen: gehn ist nichts nütze, ihr könnt auch zu Hause so viel erbitten als in der Kirche.“ Denn die Kirche wäre kein besonderes Gotteshaus, sondern ein gewöhnliches gemauertes Haus. Martin Kieslich hingegen habe die Kirche gar mit einem „Schweine Stall“ verglichen. UA R.6.A.a.34a.1 Vorforderungen wendischer Geschwister aus Hochkirch und anderen Orten. 35 Als Wilhelm Biefer im Sommer 1751 die Stelle des Diasporaarbeiters in Teichnitz antrat, sah er sich mit einer gegen ihn gerichteten Allianz konfrontiert. Deren führende Köpfe waren der Klixer Pfarrer Johann Gottfried Kühn und der ehemalige äußerst erfolgreiche Stundenhalter Friedrich Caspar von Gersdorfs Georg Böhmer: UA R.6.C.b.1.a Diarium Teichnitz/Kleinwelka, 28.06.1751. Vgl. dazu ferner die Darstellung in UA R.6.C.a.2.1.a.1 Historische Nachricht von Wendisch-Niska, Sec. II § 5. 36 UA R.22.16.12 Lebenslauf Andreas Benade. 37 UA GN 1762.B.VI (I.5.1) Ex.A*S. 550–551 Lebenslauf Johann Wujantz.

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Großwelka in unmittelbarer Nähe zum damaligen brüderischen Zentrum Teichnitz. Beide Orte standen nicht nur zueinander in Konkurrenz, sondern bemühten sich jeweils auch die verschiedenen separatistischen Gruppierungen zu integrieren. Da abzusehen war, dass die brüderischen Versammlungen in Teichnitz nach Gersdorfs Tod enden würden, hatte Gersdorf seinen engen Vertrauten Matthäus Lange beim Erwerb des Rittergutes Kleinwelka 1746 unterstützt.38 Kurz zuvor hatte Gersdorfs damaliger Freund39 August Adolph von Below (1715–1787) das Gut Großwelka erworben.40 Vermutlich sollten beide Käufe dazu dienen, die religiöse Bewegung in dieser Region herrschaftlich abzusichern. Doch Below, der anfänglich der Brüdergemeine nahegestanden hatte, wandte sich unter dem Einfluss des Taubenheimer Pfarrers Christian Friedrich Sylm41 (†1752) nach 1746 dem Pietismus Hallescher Prägung42 zu und entwickelte sich zum vehementesten Gegner der Brüdergemeine in der Oberlausitz.43 Dementsprechend baute er Großwelka zielgerichtet zum geistlichen Gegenzentrum zu Teichnitz bzw. ab 1751 zu Kleinwelka aus.44 Unterstützt wurde Below dabei von den in Halle ausgebildeten Hofmeistern seiner Kinder, unter denen besonders Wilhelm Adolph Janicaud (1745–1814) und Johann Gottlob Schmeißer (1751–1806) hervorzuheben sind. Ersterer 38 UA R.6.C.a.1.6.b Wilhelm Biefer: Relation vom wendischen Plan an Zinzendorf, 1751 sowie UA R.6.C.b.No.1.c.1772 Diarium Kleinwelka, Lebenslauf Andreas Lange. 39 Vgl. dazu etwa die Schilderung in: Staatsfilialarchiv Bautzen (StaFilAB) 50128–48 Friderice Dorothea Charlotte von Zezschwitz: Bericht von der Bekanntschaft des sel. Graf Gersdorfs mit unserem Hause, Leichnam, 07.04.1754 oder die Einträge im Diarium Heinrichs XXIX. von Reuß-Ebersdorf (UA R.9.A.b.1.a.b) zwischen dem 08.08 und dem 19.10.1744, sowie die Einträge zum 16.12.1745 und am 04.04.1746. 40 Zu Leben und Vermächtnis August Adolph von Belows vgl. Wilhelm Adolph Janicaud: Das Bild eines Christen, der zu seiner Zeit dem Willen Gottes gedienet hat, [. . .]. Budissin [1787] sowie von Boetticher: Geschichte 1 [s. Anm. 16], 126 f. und Georg Müller: Südlausitzer Schulbücher. In: NASG 21, 1900, 168–187, hier 178 f. 41 Sylm unterhielt lose Kontakte ins Hallesche Waisenhaus, vgl. Archiv der Franckeschen Stiftungen Halle AFSt/M 3 H 33 : 87 Christian Friedrich Sylm an [Gotthilf August Francke], Taubenheim 27.09.1748. 42 AFSt M 2 J 8 Briefwechsel zwischen Gotthilf August Francke und August Adolph von Below in der Erbschaftsangelegenheit Thomas Jeremias. AFSt/M 1 B 64 : 124 Gottlieb Anastasius Freylinghausen an Herrn von Below, Halle, 14.03.1775 und AFSt/M 1 B 64 : 61 Gottlieb Anastasius Freylinghausen an Herrn von Below, Halle, 26.07.1775. 43 UA R.5.A.2.b.60 Acta die von dem H. Cammer Juncker und Gegenhändler H. August Adolph von Below auf Groß Welke beym Landtage Elisabeth den 27. Nov: 1748 contra die sogenannten Hhuter eingegebene Vorstellung betr. Vgl. dazu ferner die Briefe Nr. 12, 46, 47, 51 und 64 Friedrich Caspar von Gersdorfs an seinen ehemaligen Privatsekretär und nunmehrigen Mitarbeiter der Brüdergemeine Johann Friedrich Köber in UA R.21.A.46. 44 Diese Entwicklung fand auch ihren Eingang in die sorbische Volkskultur, wie die zwei folgenden Sprichwörter zeigen: „Wjelkowčenjo tež pśeńca bjez pluwow njejsu. [Die Welkaer sind auch kein Weizen ohne Spreu]“ und „Wjelkow tež žanych rěblow do njebjes nima. [Welka hat auch keine Leitern in den Himmel]“. Vgl. Přisłowa a přisłowne hrónčka a wusłowa Hornjołužiskich Serbow. Zběrał a zhromadźił Jan Radyserb-Wjela. Hg. v. Gerhard Wirth. Budyšin 1997, Nr. 4486 und 4487.

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war maßgeblich an der Ausarbeitung der Oberlausitzer Schulordnung von 1777 beteiligt,45 die dadurch ein deutlich pietistisches Gepräge erhielt, und letzterer wurde 1781 von Großwelka aus zum Pfarrer der lutherischen Gemeinde in Lunenburg/Nova Scotia berufen. Zuvor jedoch sinnierte Schmeißer noch über die Frage: „Ob es Pflicht für mich sey, das Studium in der Wendischen Sprache weiter fortzusetzen, oder etwas anderes, zum meinem künftigen Amte wichtigeres vorzunehmen“?46 In Konkurrenz zu dem umfangreichen geistlichen Leben in Teichnitz/Kleinwelka ließ Below eigene Versammlungen auf seinem Rittergut halten. So schildert Mathias Dudah [Matej Dudah] (1737–1813), der in Großwelka geboren war: Mein Vater war anfangs nicht ganz damit zufrieden, daß ich öfters nach Kleinwelke in die Versammlungen ging, und sagte, daß ich dieselben ja auch in Groß-Welke gehalten würden, und ich eben sowol auch hier selig werden könnte. Dadurch kam ich besonders auch um meines äußeren Durchkommens willen, weil ich, wenn ich mich nach Kleinwelke halten wollte alsdann mein Nahrung in Groß-Welke nach seinem Sinn verkaufen sollte, in große Verlegenheit.47

Mittelpunkt der Bemühungen Belows um die religiöse Prägung seiner Untertanen stellte die von ihm 1746 errichtete Schule dar, die bald auch schon von auswärtigen Kindern rege genutzt wurde.48 Unter dem Einfluss der Halleschen Hofmeister entwickelte sich diese Schule zu einer Anstalt nach Halleschem Vorbild, gekennzeichnet durch die Verschränkung von Ortsschule, Pensionsanstalt und Lehrerbildungsseminar. Da die Schülerzahl stetig zunahm ließ Below 1765, mitten im 7-jährigen Krieg, ein zweites, weit größeres Schulgebäude erbauen.49 1787 zählte die Großwelkaer Schulanstalt 120 Schüler, davon 38 Untertanen Belows, die Übrigen waren Auswärtige. 40 von diesen wohnten unter der Aufsicht des Schulhalters und der Präparanden im Schulgebäude.50 Nach Belows Tod im Jahr 1787 wurde die Schule in eine 45

Müller, Schulbücher [s. Anm. 40], 177. AFSt/M 5 C 6 : 18 Johann Gottlob Schmeißer an [Sebastian Andreas Fabricius], Großwelka, 24.08.1781. 47 UA R.22.21.13 Lebenslauf Matthias Dudah. 48 Zur Schule in Großwelka vgl. in chronologischer Reihenfolge Knauthe, Kirchengeschichte [s. Anm. 3], 314; Janicaud, Das Bild eines Christen [s. Anm. 40], 12–16; Gustav Hermann Hilbrig: Die Schulgemeinde Großwelka. Geschichtliche Nachrichten bis zum Jahre 1910 zur Erhaltung und Förderung der Liebe zur Heimat. O. O. [Bautzen] o. J. [1915]; Pawoł Jenka: Ze stawiznow wučerskeho seminara we Wulkim Wjelkowje. In: Serbska Šula 9, 1959, 558–561 sowie Paul Schkade: Die Schule Grosswelka. Anfang und Ende [Manuskript]. Knauthe gibt als Gründungsjahr der Schule 1752 an, Janicaud dagegen 1746. Nach dem Bericht Belows in Müller, Südlausitzer Schulbücher [s. Anm. 40], 179 ist Janicaud zu folgen, so auch Hilbrig, Jenka und Schkade. 49 Janicaud, Das Bild eines Christen [s. Anm. 40], 13. Das 1746 errichtete Schulgebäude wurde 1997 abgerissen, die 1765 errichtete Schule gehört der Stadt Bautzen, soll aber verkauft werden. Bildliche Darstellungen beider Schulen befinden sich in: Schkade, Die Schule Grosswelka [s. Anm. 48]. 50 Janicaud, Das Bild eines Christen [s. Anm. 40], 13. 46

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reguläre Dorfschule umgewandelt. Zahlreiche sorbische Dorflehrer wurden an dieser Einrichtung ausgebildet, bekanntester unter diesen ist Michael Haupt [Michał Haupt] (1750–1799), der einige Schriften Luthers und Bengels übersetzte sowie geistliche Gesänge ins Sorbische übertrug. Der Druck dieser Bücher wurde von Below unterstützt.51 Zudem ließ Below verschiedene Schriften Halles großzügig unter den Schülern und seinen Untertanen verteilen.52 Der enge Zusammenhang zwischen einer pietistisch orientierten Schulpolitik und der Förderung der Laienarbeit wird nicht nur an Belows Beispiel deutlich, auch die weiteren Ausführungen verweisen darauf.

2. Schulwesen Friedrich Caspar von Gersdorf förderte in besonderer Weise auch das sorbische Schulwesen. Auf vielen Dörfern seiner weitläufigen Herrschaft richtete er Dorfschulen ein.53 Von großer kulturgeschichtlicher Bedeutung sind das Klixer Seminar und die daraus hervorgegangenen Uhyster Anstalten. An beiden Einrichtungen wurde neben der Bildung von Schülern auch die Ausbildung sorbischsprachiger Lehrer und Pfarrer verfolgt, um die für Gersdorf unbefriedigende Personalsituation zu verbessern. Zwar gab es zu diesem Zeitpunkt genügend ausgebildete lutherische Theologen die des Sorbischen mächtig waren, doch entsprachen sie in ihrer frömmigkeitlichen Prägung nicht Gersdorfs Vorstellungen. Das von Gersdorf 1737 in Klix gegründete Seminar arbeitete nach dem Vorbild der Glauchaschen Anstalten vor Halle. Die führenden Köpfe dieser Einrichtung waren der aus Böhmen stammende und in Halle ausgebildete Georg Petermann (1710–1792)54 sowie der Klixer Diakon 51

Jenč, Spisowarjo [s. Anm. 33], 13. AFSt/M 5 C 6 : 12 Johann Gottlob Schmeißer an Sebastian Andreas Fabricius, Großwelka, 28.02.1781. AFSt/M 5 C 6 : 13 Bücherbestellung von Johann Gottlob Schmeißer an die Buchhandlung des Waisenhauses Halle, Großwelka, 27.04.1781. Schmeißer bestellte im Auftrag Belows 20 Hallesche kleine Bibeln, 10 Neue Testamente, 4 Schatzkästlein, 50 Katechismen sowie 12 Gesangbücher. Es ist anzunehmen, dass Below diese Bücher an seine Untertanen bzw. an die Bewohner der umliegenden Dörfer verteilen ließ. Vgl. Janicaud, Bild [s. Anm. 40], 19. 53 Knauthe, Kirchengeschichte [s. Anm. 3], 311. 54 Eine kurze Biografie Petermanns findet sich in: Karl Gottlob Dietmann: Die gesamte der ungeänderten Augsp. Confeßion zugethane Priesterschaft in dem Churfürstenthum Sachsen [. . .]. Dresden, Leipzig Bd. 1 1752, 58–61. Diese Darstellung basiert auf einem autobiographischen Bericht, den Dietmann „auf Verlangen [. . .] des H[er]rn Pastors beybehalten, und nur aus der ersten die 3te Person gemacht“ hat. Neuere biografische Skizzen befinden sich in Frank Metasch: Exulanten in Dresden. Einwanderung und Integration von Glaubensflüchtlingen im 17. und 18. Jahrhundert. Leipzig 2011, 246–248 sowie in Hubert Rösel: Die tschechischen Drucke der Hallenser Pietisten. Würzburg 1961, 80 f. und Edita Štěřiková: Exulantská útočiště v Lužici a Sasku. Praha 2004, 503. Zum Teil wird Georg Petermann in diesen Darstellungen mit seinem gleichnamigen Vetter, der als Geistlicher in Zibelle (sorb. Cybalin; pol. Niwica) wirkte, verwechselt; 52

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Johann Gottfried Kühn55. Am Klixer Seminar wurden schwerpunktmäßig Absolventen der Theologie in einer Art Prediger- und Sprachseminar auf den Pfarrdienst in der sorbischen Lausitz vorbereitet. Zugleich hatten sie jüngere Knaben zu unterrichten, um sie auf das Studium der Theologie vorzubereiten. Daneben wurden auch Lehrer für sorbische Dorfschulen ausgebildet.56 Die Absolventen der Theologie kamen überwiegend aus Halle, die zehn Schüler gingen nach ihrer Schulzeit in Klix direkt nach Halle, um sich auf das Studium der Theologie vorzubereiten. Unter diesen Schülern ist Georg Möhn [Jurij Mjeń] (1727–1785) besonders hervorzuheben, gilt er doch als Begründer der sorbischen weltlichen Dichtung. 1743 wurde das Klixer Seminar nach Uhyst/Spree verlegt und inhaltlich neu ausgerichtet. Schwerpunkt der Arbeit war jetzt nicht mehr die Ausbildung von Theologen, sondern die Bildung der sorbischen Jugend. Neben einer Knabenanstalt stiftete Gersdorf in Uhyst auch eine Mädchenanstalt. Diese stellt mit ihrem Anstaltscharakter für Jahrzehnte eine Ausnahme in der sorbischen Schulgeschichte dar. Den Mädchen und Jungen wurde in Uhyst eine profunde berufs- bzw. studienvorbereitende Bildung geboten, die sich an den damals neuesten pädagogischen Konzepten orientierte. Die Uhyster Knabenanstalt, für die Gersdorf ein großzügiges Schulgebäude errichten ließ, wurde 1756 nach Niesky verlegt. Die Mädchenanstalt dagegen wurde bereits 1751, wenige Monate nach Gersdorfs Tod, geschlossen.57 Neben der Ausbildung von Laienarbeitern investierte Gersdorf also auch in die Ausbildung professioneller Glaubensvermittler. Zwei Generationen von Geistlichen und Lehrern sind aus dem Klixer Seminar und seiner Nachfolgeinstitution in Uhyst hervorgegangen. Damit beförderte Gersdorf nicht nur die Professionalisierung und Vernetzung des sorbischen Lehr- und Pfarrstandes,58 sondern schuf auch zwei Schulen, die ihresgleichen in der Oberlausitzer Bildungslandschaft suchen.59 zudem werden in keiner dieser Darstellungen Petermanns Verdienste für die Ober- und Niedersorben gewürdigt. Vgl. dazu Petermanns Briefe in AFSt/H C 473 Briefwechsel von Georg Petermann mit Gotthilf August Francke. Brief von Johann Georg Knapp an Georg Petermann (1735– 1769). 55 Zu Kühn vgl. Lubina Malinkowa: „Nutyrny Kühna, tón je Evangelion cyły a syje wšudźom zbóžnosće symjo!“ In: Pomhaj Bóh 9, 2013, 6 f. 56 Vgl. dazu UA UVC XV 108 Johann Gottfried Kühn: Verzeichnis der Studiosorum Theologiae und Praeparanten, welche sich in Klix seit Anno 1737 bis 1751 aufgehalten, Februar 1763, 77–80. Eine leicht veränderte Abschrift dieses Verzeichnisses befindet sich im Sächsischen Hauptstaatsarchiv in Dresden und ist abgedruckt in Georg Müller: Die ersten wendischen Seminaristen des 18. Jahrhunderts. In: Beiträge zur sächsischen Kirchengeschichte 24, 1910, 8–14. Diesen Aufsatz Müllers hat Ota Wićaz zusammenfassend ins Sorbische übertragen: Ota Wićaz: Klukšanscy seminarisća. In: Łužica 1912, 19 f. und 28. 57 Vgl. hierzu in erster Linie: UA R.6.C.a.1.6.c Bruder Wilhelms Conferenz gehalten in Uhyst d. 6. Nov. 1751 sowie UA R.4.B.IV.c.2.a Alte Uhyster Anstaltsdiarien 1754–1756. 58 Im Hinblick auf die Professionalisierung des Pfarrstandes vgl.: Friedrich Pollack: Die Entdekkung des Fremden. Wahrnehmung und Darstellung der Lausitzer Sorben im gelehrten Schrifttum des 17. und 18. Jahrhunderts. Bautzen 2012, 46–63. 59 Bildung und Gelehrsamkeit in der frühneuzeitlichen Oberlausitz. Hg. v. Lars-Arne Dannen-

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3. Religiöse Publizistik Das Klixer Seminar glich den Glauchaschen Anstalten vor Halle auch in einem weiteren Punkt: Wie das Waisenhaus profilierte sich das Klixer Seminar mit einer für den sorbischen Druckmarkt unvergleichlichen Publikationsoffensive. Dadurch erzielte das Seminar über die Ausbildung von Pfarrern und Lehrern hinaus eine besondere Breitenwirkung. Folgende sieben Bücher sind in den sieben Jahres des Bestehens des Seminars entstanden: 1737 1738 1739 1739 1740

Karl Heinrich von Bogatzky, Güldenes Schatzkästlein Johann Arndt, Wahres Christentum, Buch 1–3 Johann Arndt, Wahres Christentum, Buch 4–6 August Hermann Francke, Der heilige und sichere Glaubensweg Christoph Albrecht Lösecke, Der zergliederte Katechismus Martin Luthers 1740 Johann Arndt, Paradiesgärtlein 1741 revidiertes und erweitertes Gesangbuch60 1742 revidierte Bibel nach Vorbild der Cansteinschen Bibelanstalt in Halle Als Übersetzter und Redakteur bzw. Herausgeber dieser sieben Bücher gilt gemeinhin Johann Gottfried Kühn,61 doch ist meines Erachtens solch umfangreiches Werk ohne die Mitarbeit der Seminaristen bei Übersetzung, Redaktion und Schreibarbeiten nicht denkbar. Zu beachten ist, dass Kühn selbst erst im Sommer 1735 angefangen hatte, Sorbisch zu lernen. Es ist schwer vorstellbar, dass er innerhalb so kurzer Zeit die sorbische Sprache erlernt und teilweise so umfangreiche Werke wie die Bücher Johann Arndts (1555–1621) selbst übersetzt und redigiert hat. Weiterhin fällt auf, dass alle Bücher, deren Übersetzer und Herausgeber Kühn ist, in den Jahren zwischen 1737 und 1742 erschienen, also genau in dem Zeitraum, in dem das Klixer Seminar bestand. Nachdem das Seminar nach Uhyst verlegt worden war, sind keine weiteren religiösen Bücher und Übersetzungen mehr unter der Autorschaft Johann Gottfried Kühns erschienen.62 Einen Hinweis auf die studentische Mitarbeit berg u. Tino Fröde. Görlitz 2011. Der darin auf den Seiten 143 bis 158 enthaltene Aufsatz von Marianne Doerfel, Das Adelspädagogium in Uhyst und Großhennersdorf, enthält leider zahlreiche Ungenauigkeiten und wird den Uhyster Anstalten kaum gerecht. 60 Aufbau und Gliederung des Gesangbuchs entsprechen dem Kirchen= und Haus= Gesang=Buch, [. . .] Zum Gebrauch der Evangelisch=Lutherischen Gemeinden im Hertzogthum Magdeburg von Johann Adam Steinmetz aus dem Jahr 1738. 61 Vgl. hierzu die zeitgenössischen Bibliografien Knauthe, Kirchengeschichte [s. Anm. 3], 386– 426 sowie Christoph Friedrich Faber: Verzeichniß aller edirten wendischen Schriften. In: Acta Historico-Ecclesiastica. Oder Gesammelte Nachrichten von denen neuesten Kirchen=Geschichten [. . .]. Weimar bey Siegmund Heinrich Hoffmann. Bd. 10, 1746, 518–550. 62 Allein im Jahr 1751 verfasste Kühn noch ein Vorwort zur sorbischen Ausgabe von Conrad Riegers Kleine Herzpostille, die der Königswarthaer Pfarrer Johann Gottfried Schultz besorgt hatte. Vgl. Jatzwauk, Sorbische Bibliographie [s. Anm. 33], Nr. 5620.

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bietet der zeitgenössische Kirchengeschichtler Christian Knauthe (1706– 1784), der feststellte, dass Kühn bei der Neuausgabe der Bibel „verschiedene der wendischen Sprache kundige Studiosos Theologiae und Candidatos Ministerii zu Gehülfen gehabt“ habe.63 Dies macht es wahrscheinlich, dass die Theologiestudenten auch bei der Übersetzung und Bearbeitung der anderen Bücher behilflich waren. Es ist insofern davon auszugehen, dass die Übersetzung religiöser bzw. pietistischer Schriften als sprachpraktische Übung zur regulären Arbeit des Klixer Seminars gehörte. Eine Parallele dazu stellt das Litauische Seminar in Halle dar.64 Dort lernten durch einen Freitisch finanzierte Theologiestudenten Litauisch und übersetzten zur Übung einige Andachtsbücher in diese baltische Sprache. Ob und inwieweit die Tätigkeit des Klixer Seminars nicht nur ideell und personell, sondern auch materiell von Halle unterstützt und gefördert wurde, ist heute nicht mehr nachzuvollziehen, da sich im Archiv der Franckeschen Stiftungen keine Akten dazu finden. Anders als die personale Vermittlung von Inhalten in Unterricht, Predigt und Gespräch (Anwesenheitskommunikation) ermöglichte es das Medium Buch, pietistische Inhalte über zeitliche und örtliche Grenzen hinweg an eine breitere sorbische Öffentlichkeit zu vermitteln. Als Materialien für die Laienarbeit leisteten diese Publikationen einen wichtigen Beitrag zur (sorbischen) Alphabetisierung und zur Bildung der Bevölkerung. Zugleich boten die Übersetzungen der sorbischen Leserschaft Zugang und Anschluss zu den pietistischen Diskursen ihrer Zeit. Schrift und Schriftlichkeit drangen zunehmend in die weitestgehend von Mündlichkeit dominierte sorbische Kultur ein und verwandelten diese von innen heraus. Dieser Prozess ist nach dem Konstanzer Historiker Rudolf Schlögl das herausragende Merkmal der Epoche der Frühen Neuzeit.65 Für die sorbische Gesellschaft verlief diese revolutionäre Transformation im Wesentlichen unter pietistischen Vorzeichen. Dabei ist festzuhalten, dass der Gebrauch von Druckmedien immer schon Ausweis eines gewissen Differenzierungs- und Modernisierungsgrades ist, zugleich beschleunigt er diese Prozesse jedoch generell. Grundlegend für Schlögls Überlegungen ist die Unterscheidung von Anwesenheitskommunikation und schrift-basierter Kommunikation. Rudolf Schlögl stellt fest, dass Anwesenheitskommunikation relativ hohem Konformitätsdruck untersteht, Verschiedenheit und Pluralität sind hier auf Dauer 63

Knauthe, Kirchengeschichte [s. Anm. 3], 405. Zum Litauischen Seminar vgl. Vincentas Drotvinas: Das Seminarium Lituanicum an der Universität Halle (1727–1740) in seinem Einfluß auf die Herausbildung der litauischen Philologie. In: Halle und Osteuropa. Zur europäischen Ausstrahlung des hallischen Pietismus. Hg. v. Johannes Wallmann u. Udo Sträter. Tübingen 1998, 157–171 sowie Christiane Schiller: Das Litauische Seminar in Halle (1727–1740) und seine Mitglieder. Auf der Spurensuche. In: Acta Baltica 32, 1994, 195–223. 65 Schlögl, Kommunikation [s. Anm. 7], 157 sowie ders.: Politik beobachten. Öffentlichkeit und Medien in der Frühen Neuzeit. In: Zeitschrift für Historische Forschung 35, 2008, 581–616. 64

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nur schwer realisierbar.66 Dagegen ermöglichen Schriftmedien eine größere Diversität und Komplexität. Schriftgebrauch beschleunigt damit den Wandel jeder Gesellschaft, mit zunehmendem Schriftgebrauch wird Kultur vielschichtiger und spannungsreicher. Deshalb muss eine Gesellschaft, die sich auf wachsenden Schriftgebrauch einlässt, lernen, mit zunehmenden Alternativen umzugehen, denn Schriftgebrauch vergrößert automatisch das Themenspektrum der öffentlich verhandelten Topoi. Im Hinblick auf den Einzelnen dagegen ist festzustellen, dass Schrift die Selbstwahrnehmung des Lesers zu erweitern vermochte, stellte sie ihn doch in einen größeren Verstehenszusammenhang und brachte dadurch neue soziale Bezüge hervor. In den zahlreichen Konventikeln verschiedenster Couleur und den bald in jedem größeren sorbischsprachigen Dorf versammelten brüderischen Sozietäten sind also die Anfänge einer entstehenden sorbischen Mediengesellschaft zu sehen, die nicht nur von einer kleinen geistlichen Elite getragen wurde. Friedrich Caspar von Gersdorf unterstützte allerdings nicht nur die Publikationen des Klixer Seminars, sondern vermutlich auch die Schriften weiterer Pfarrer in seinem Umfeld wie Johann Pech [Jan Pjech] (1707–1741) oder Christoph Friedrich Faber [Kryšan Bjedrich Faber] (1682–1748). In diesem Sinne war der Pietismus eine publizistische Kampagne, auf die es von Seiten seiner Gegner zu reagieren galt. Ein Großteil der Lausitzer Geistlichen hatte (in nachvollziehbarer Weise) gegen die brüderische Bewegung massive Bedenken. Führten doch die Erweckungen zu leeren Kirchen und religiösen Überspanntheiten, spalteten die Gemeinden und untergruben, so die Sicht der Gegner, letztlich die Autorität des Pfarrers. Diese Entwicklung gefährdete neben der kirchlichen Einheit vor Ort auch die öffentliche Ordnung, waren doch im Wesentlichen die Geistlichen im Rahmen der Kirchen- und Sittenzucht für die Sozialdisziplinierung der Bevölkerung zuständig.67 Wenn jedoch der disziplinarische Ausschluss vom Abendmahl keine Strafe mehr bedeutete, da der Verzicht ohnehin bereits praktiziert wurde, konnte dies die Grundfesten der frühneuzeitlichen kommunalen Ordnung erschüttern. Insofern sahen verschiedene Vertreter der weltlichen wie geistlichen Obrigkeit in der Lausitz den Pietismus nicht nur als Gefahr für die kirchliche, sondern auch für die kommunale Ordnung und damit den gesamtgesellschaftlichen Konsens. Solange Friedrich Caspar von Gersdorf Oberamtshauptmann der Oberlausitz war, waren den Gegnern der frommen Bewegung jedoch die Hände gebunden. So blieben die Eingaben des Hochkircher Pfarrers Samuel Gotthold Krüger (1701–1739) 1733 an das Bautzener Oberamt ohne Erfolg, denn Gersdorf ließ sie kurzerhand abschreiben und nach Herrnhut weiterleiten,

66 67

Schlögl, Kommunikation [s. Anm. 7], 178–201. Heinz Schilling: Aufbruch und Krise. Deutsche Geschichte von 1517 bis 1648. Berlin 1988,

369.

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damit man dort Gegenmaßnahmen ergreifen könne.68 Auch der Malschwitzer Pfarrer Adam Zacharias Schirach [Hadam Zacharias Šěrach] (1693–1758) musste einsehen, dass Widerstand vergeblich war, solange Gersdorf als Oberamtshauptmann der Lausitz vorstand. Er ließ den brüderischen Stundenhalter Matthäus Lange verhaften. Lange wurde nach seinem Bericht von den dasigen Gerichten in Arest genommen und in die Ketten geschlossen. Dieses geschahe auf den Befehl des Pfarrern in Malschwitz, welcher den Sonntag vorher auf der Kanzel die Leute um Gotteswillen gebeten hatte, mich doch ja wo sie mich träfen in gerichtlichen Verhaft zu nehmen um meiner Herrnhutischen Lehre zu wehren.69

Als Pfarrer Schirach die Verhaftung gemeldet und gefragt wurde, wie mit dem Gefangenen weiter zu verfahren sei, soll er geantwortet haben: ja, es wäre ein schlimmes Ding, er wüsste es auch nicht. Er wollte es wol bey dem Ober=Amte melden; aber der Herr Graf wäre ja selber den Leuten gewogen, und man würde nicht viel ausrichten; sie sollten mich nur wieder los machen.70

Matthäus Lange wurde freigelassen und kam seinem Auftrag als Stundenhalter und Besucher unter dem Schutz Gersdorfs weiter nach. Die Auseinandersetzung zwischen Erweckten und den der bisherigen kirchlichen Ordnung Verbundenen verlagerte sich – da polizeiliche Maßnahmen kaum erfolgten – zunehmend auf das Feld der Publizistik.71 So polemisierte der Daubitzer Pfarrer Christoph Gabriel Fabricius [Krystof Gabriel Fabricius] (1684–1757),72 ein erklärter Gegner der Brüdergemeine, 1756 in der Vorrede zur dritten Auflage seiner Kindergebete73 gegen das brüderische Gesangbuch Loß teje Newesty Jesußoweje von 1750, dessen Druck Friedrich Caspar von Gersdorf unterstützt hatte. GOTT behüte alle annoch reine Kirchen=Gemeinden vor dem heillosen H[errn] H[utischen] Lehrgebäude, und einer Allermanns Religion. Ihr aber, meine hertzge68 UA R.6.A.a.34a.1 Vorforderungen wendischer Geschwister aus Hochkirch und anderen Orten. 69 UA R. 22.29.14 Lebenslauf Matthäus Lange 70 UA R. 22.29.14 Lebenslauf Matthäus Lange. Auch Mathes Schippan wurde auf Betreiben des Magistrats von Hoyerswerda wegen der frommen Versammlungen inhaftiert. Nach der Intervention Friedrich Caspar von Gersdorfs und seines Sekretärs Johann Friedrich Köber jedoch wieder freigelassen. (AKW PA II.R.7.4.6 Lebenslauf Mathes Schippan.) 71 Für die Niederlausitz vgl. etwa: Gottlob Friedrich Guda: Unterschejd jadnogo wernego Kschescżana a jadnogo Herrnhutera aus dem Jahr 1778. Vgl. Jatzwauk, Sorbische Bibliographie [s. Anm. 33], Nr. 5729. Dabei handelt es sich um eine Übersetzung von Gudes Schrift: Abhandlung von dem Unterscheide eines Wahren Christen und eines Herrnhuters. Dritte und vermehrte Aufl. Leipzig und Lauban, Verlegt von Nicolaus Schillen 1749. 72 Fabricius zählte zu den eifrigsten Kritikern der Brüdergemeine in der Lausitz und verfasste mehrere Schriften gegen die Gemeine. Eine Auflistung seiner Schriften findet sich in Gottlieb Friedrich Otto: Lexikon der seit dem funfzehenden Jahrhunderte verstorbenen und jetztlebenden Oberlausizischen Schriftsteller und Künstler [. . .]. Bd. 1. Görlitz 1800, 299 f. 73 Jatzwauk, Sorbische Bibliographie [s. Anm. 33), Nr. 5493.

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liebten Kirchen= und Seelen=Kinder, hütet euch vor allen dergleichen Gift und Büchern.74

Eine weitere gegen Herrnhut gerichtete Schrift mit dem vielsagenden Titel Geheimes Schreiben eines Herrnhuters an einen seiner ehemaligen guten Schulfreunde: von ihren Ehelotterien, Ehesacrament, Eheviertelstunden, Ehechor-Abendmahle, und Ehefußwäsche publizierte Adam Gottlob Schirach [Hadam Bohuchał Šěrach] (1724–1773), ein Sohn des bereits genannten Malschwitzer Pfarrers im Jahr 1757. Als Adam Gottlob Schirach zwei Jahre später das Lied Es glänzet der Christen inwendiges Leben des Hallenser Arztes Christian Friedrich Richter (1676–1711) aus der von ihm verantworteten Neuauflage des sorbischen Gesangbuchs wegließ, entspann sich darüber eine publizistische Debatte, aus der die Pietisten als Sieger hervorgingen. Schirach wurde vom Oberamt beauftragt, das Lied wieder ins Gesangbuch aufzunehmen.75 Charakteristisch für die innerprotestantische Konkurrenzsituation ist der Postillenwettstreit des Jahres 1751. Johann Gottfried Schultz [Jan Bohuměr Šołta] (1723–1756), zunächst Diakon in Neschwitz und ab 1750 Pfarrer in Königswartha, übersetzte – wohl im Auftrag Gersdorfs – die Predigtsammlung Kleine Herzpostille des württembergischen Pietististen Georg Conrad Rieger (1687–1743) ins Sorbische.76 Vermutlich von seinem Patron Gersdorf und vom Übersetzer gedrängt, verfasste Johann Gottfried Kühn widerwillig ein Vorwort zu diesem in der sorbischen Publizistik bislang einmaligen Werk: Dokelż ja tak derje wot teho Knesa pschełożerja, jako tesch wot teho, kiż tu Postillu je dał cżischcżecż, proscheny ßym, so bych tußamu sjenej predy=recżu pschewodżił; da ßym ßo dał narecżecż. Ja pak newjem, hacż moje meno tutym kniham schkodne aby ßłużobne bycż może. Boh jo wje.77

Möglicherweise war sich Kühn darüber im Klaren, dass sein Ruf weder bei den Anhängern Herrnhuts, von dem er sich mittlerweile abgewandt hatte, noch bei seinen Amtskollegen den Absatz des Buches befördern würde. Geschickt ließ er seinen verlegenen Worten eine Übersetzung von Martin Luthers Vorrede zu dessen Kirchenpostille folgen. Dieser Kunstgriff, so vermutlich Kühns Überlegungen, würde seine lutherische Rechtgläubigkeit erweisen und den Lesern unterschiedlichster Prägung eine Brücke bauen. Als Antwort und in Konkurrenz auf die pietistischen Predigten Riegers arbeite74

Christoph Gabriel Fabricius: Deutsch und Wendische Kinder=Gebete, Vorrede. Vgl. dazu Knauthe, Kirchengeschichte [s. Anm. 3], 422 f. sowie Kurt Sygusch: Das sorbische evangelische Gesangbuch. Seine Entstehung und seine Schicksale. In: Herbergen der Christenheit 12, 1979/80, 35–62, hier 45. 76 Jatzwauk, Sorbische Bibliographie [s. Anm. 33], Nr. 5620. 77 Johann Gottfried Kühn: Vorrede. In: Johann Gottfried Schultz: M. Georg Conrad Riegers weyl. Superintendentens und Predigers in Stuttgard Kleine Herz=Postille [. . .]. Budissin 1751: „Weil ich sowohl von dem Herrn Übersetzer, als auch von dem, der diese Postille hat drucken lassen, gebeten wurde, dass ich dieselbe mit einem Vorwort begleite, habe ich mich dazu überreden lassen. Ich weiß aber nicht, ob mein Name dem Buch nützlich oder schädlich sein wird. Gott weiß dies.“ (O. P.) 75

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ten die Geistlichen um Adam Gottlob Schirach mit Hochdruck an der Übersetzung von Martin Luthers Hauspostille, die nur wenige Monate später erschien.78 Interessanterweise beriefen sich die Herausgeber der Hauspostille in ihrem Vorwort auf die pietistische Trias Johann Arndt, Philipp Jakob Spener und August Hermann Francke, um die Autorität Luthers herauszustellen. Beide Predigtsammlungen haben einen Umfang von knapp 1000 Seiten. Doch war der Postillenwettstreit keine Verschwendung von intellektuellen oder finanziellen Ressourcen, sondern Ausweis der neuen Zeit: Innerhalb des sorbischen Luthertums etablierte sich ein Wettstreit der Deutungen. War es Anfang des 18. Jahrhunderts die konfessionelle katholisch-evangelische Konkurrenz, die die sorbische Buchproduktion angeregt hatte,79 so war es nun die innerprotestantische Konkurrenz. Die Frontlinien verliefen allerdings nicht nur zwischen Erweckten und Nicht-Erweckten, sondern auch innerhalb des frommen Lagers selbst, wie die publizistischen Aktivitäten Großwelkas aufzeigen. In einer Art zweiten Konfessionalisierung führte der Pietismus somit zu einer Ausdifferenzierung der sorbischen Lutheraner, zu einer innerprotestantischen Konkurrenzsituation, die sich produktiv auf den sorbischen Buchmarkt auswirkte und die sorbische Gesellschaft nachhaltig prägte. Zusammenfassung Die Rede von einer „in blinder Leibeigenschaft befangenen“ sorbischen Bevölkerung80 und vom deutschen Rittergutsbesitzer, der diese unterdrückt und ausbeutet, ist auch ein Vierteljahrhundert nach der politischen Wende von 1989/90 noch ein gängiges Klischee in der sorbischen Geschichtserzählung81 und -schreibung82. Dagegen zeichnet die vorliegende Untersuchung 78

Jatzwauk, Sorbische Bibliographie [s. Anm. 33], Nr. 5387. So beispielsweise Peter Kunze: Geschichte und Kultur der Sorben in der Oberlausitz. Ein kulturhistorischer Abriß. In: Geschichte der Oberlausitz. Herrschaft, Gesellschaft und Kultur vom Mittelalter bis zum Ende des 20. Jahrhunderts. Hg. v. Joachim Bahlke. Leipzig 2001, 267–315, hier 285; Edmund Pech: Zur Geschichte der Sorben in der Oberlausitz. In: Oberlausitz. Hg. v. Winfried Müller [u. a.]. Leipzig 2011, 141–185, hier 151; Franz Schön: Art. „Buchdruck“. In: SKL [s. Anm. 1], 62–64, hier 62 und Anja Pohontsch: Art. „Obersorbisch“. In: SKL [s. Anm. 1], 291– 294, hier 292. Ein beredtes Zeugnis für die Stimmungslage in der Lausitz bietet der Brief des sorbischen Jesuiten Jakub Xaver Ticin (1656–1693) an den Crostwitzer Pfarrer Georgius Franciscus Sende (1672–1706). Darin drängt er zum Druck eines sorbischen katholischen Perikopenbuchs, „damit wir in dieser Angelegenheit des Druckes der Evangelien nicht von den Pseudochristen und Affenpredigern der Gosse überholt werden, was diese, wie ich der Vorrede zu Frentzels Taufstein entnehme, vorhaben.“ (Zit. nach: Aus der Korrespondenz J. X. Ticins (V). Hg. v. Frido Michałk. In: Lětopis A 37, 1990, 60–93, hier 90) 80 Jahn, Roboter [s. Anm. 25], 479. 81 Vgl. hierzu etwa die äußerst stereotype Darstellung des Lausitzer Adels in: Elke Nagel: Hawštynec Marja. Bautzen 2010. (= Dies.: Hausteins Marja. Erzählung aus der Lausitzer Heide – frei nach einem Gerichtsprotokoll von 1799. Rostock 2009), oder die Sommerinszenierung 2014 des Sorbischen National-Ensembles „Hochzeitsnächte – Herrenrechte“. 82 Verwiesen sei hier auf neuere wissenschaftliche Publikationen wie: Jahn, Roboter [s. 79

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das Bild einer sich selbst organisierenden sorbischen Bevölkerung und eines deutschen Adels, der durch Förderung von Buchdruck und Schulwesen zur Modernisierung der sorbischen Gesellschaft beitrug. So setzte Reichsgraf Friedrich Caspar von Gersdorf mit seinem vielfaltigen Engagement nachhaltige Impulse, die die sorbische Gesellschaft entscheidend prägten. Die von ihm gegründeten Schulen, seine Unterstützung der Laienarbeit und die von ihm geförderte religiöse Literatur beschleunigten die Alphabetisierung der Bevölkerung und ermöglichten eine (sprachliche) Öffnung bzw. Vernetzung mit der deutschsprachigen pietistischen Öffentlichkeit. Um dem pietistischen Leseangebot eine Alternative entgegenzusetzen, lancierten der Aufklärung verbundene Geistliche den Druck lutherisch orientierter Literatur. Belebend auf den sorbischen Buchmarkt wirkte sich ferner die Konkurrenz zwischen Halleschem und Herrnhutischem Pietismus aus, forcierten doch die Anhänger beider Lager je eigene Druckschriften. So stieg die Auswahl an sorbischen Druckerzeugnissen im Laufe des 18. Jahrhunderts rasant und der sorbische Leser konnte aus einem wachsenden Angebot wählen.83 Gleichzeitig ist eine Ausdifferenzierung der sorbischen Gesellschaft zu beobachten. Hier separierten sich nicht nur Erweckte von Nicht-Erweckten, sondern innerhalb des frommen Lagers entstanden verschiedene Gruppierungen, die sich im Wettstreit der Deutungen ständig neu formierten, spalteten und gelegentlich auch wieder vereinten. Mit Unmut äußerte sich deshalb August Gottlieb Meissner (1753–1807) 1778 über die Religionsverhältnisse in der Lausitz. Es gäbe dort eine Anm. 25]; Martin Walde: Wie man seine Sprache hassen lernt. Sozialpsychologische Überlegungen zum deutsch-sorbischen Konfliktverhältnis. Bautzen 22012; Peter Kunze: Art. „Bauernaufstände“. In: SKL [s. Anm. 1], 23–26; ders.: Art. „Leibeigenschaft“. In: SKL [s. Anm. 1], 218–220. Vor allem die einseitige Darstellung im sorbischen Geschichtslehrbuch von Ludwig Zahrodnik: Serbske stawizny wot spočatkow hač do lěta 1800. Šulerski zešiwk za 6./7. lětnik na serbskich šulach [Sorbische Geschichte von den Anfängen bis zum Jahr 1800. Schülerheft für die Klassenstufen 6/7 an sorbischen Schulen]. Budyšin 21994 sowie ders. u. Achim Brankačk: Serbske stawizny 1. Wot spočatkow stawiznow Serbow hač do spočatka 20. lětstotka. Wučbnica stawiznow za 5., 6. a 7. lětnik na serbskich srjedźnych šulach a Serbskim gymnaziju [Sorbische Geschichte 1. Von den Anfängen der Geschichte der Sorben bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts. Geschichtslehrbuch für die 5. 6. und 7. Klasse an den sorbischen Mittelschulen und dem Sorbischen Gymnasium]. Bautzen 2009 gibt zu denken. Vermittelt doch das Schulbuch als eine Art „nationale Autobiographie“ (Wolfgang Jacobmeyer: Das Schulgeschichtsbuch – Gedächtnis der Gesellschaft oder Autobiographie der Nation? In: Geschichte, Politik und ihre Didaktik 26, [1998], 26–35, hier 26) die Grundannahmen über die Vergangenheit, über die gesellschaftlicher Konsens herrscht. In kritischer Sicht auf das genannte sorbische Unterrichtsbuch vgl. auch die Rezension von Měrko Šołta: Kritiske přispomnjenja k wučbnicy stawiznow [Kritische Anmerkungen zum Lehrbuch Geschichte]. In: Rozhlad 7/8, 2013, 44–48. 83 Vgl. hierzu die grafische Darstellung bei Pollack, Entdeckung [s. Anm. 58], 38. Vor 1700 waren insgesamt neun Bücher in obersorbischer Sprache – alle ausschließlich religiösen Inhalts – gedruckt worden. Bis 1719 folgten 13 und bis 1739 nochmals 35 obersorbische Drucke. Im weiteren Verlauf des 18. Jahrhunderts erschienen zwischen 1740 und 1759 19 und bis 1779 24 sowie bis 1799 26 Bücher religiös-erbaulichen Inhalts, wobei Neuauflagen nicht mit gezählt wurden.

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Menge Sekten, die Städte und Dörfer füllt. Es gibt Örter, wo beinah jeder Geistliche auch seinen Anhang hat, der nur seine Predigten besucht, in Kleinigkeiten die wichtigsten Unterschiede findet, auf eingebildete Christenpflicht den Brüderhaß gründet und eben diejenigen am meisten verketzert, die nur durch fast unmerkliche Abweichungen in der Denkungsart sich unterscheiden. Herrnhuter, Klein- und Großwelkianer, Stille im Lande, Martinsbrüder und der gleichen mehr, das sind Namen, die man so oft und in so verschiedener Bedeutung gebraucht sieht.84

Es ist anzunehmen, dass sorbische Druckmedien auch ohne den Pietismus langsam vorgedrungen wären und die Zweisprachigkeit im Laufe des 18. Jahrhunderts auch ohne pietistische Einflüsse zugenommen hätte. Doch vermutlich wären diese Pluralisierungsprozesse später und weniger intensiv verlaufen. Gesellschaftliche Pluralisierung und zunehmende Schriftlichkeit sind jedoch keine zufällig zeitgleich verlaufenden Prozesse, sondern aufs Engste miteinander verwoben. Sie bedingen einander und bringen einander hervor. Sie prägten die sorbische Gesellschaft am Vorabend der Moderne und waren damit für die Entwicklung der sorbischen Lausitz im 19. Jahrhundert von tragender Bedeutung. Das Einüben von Schrift und schriftlichkeitsbasierter Kommunikation ist als eine unabdingbare Vorraussetzung für die nationale Neuformierung der Sorben im 19. Jahrhundert anzusehen. Nicht ohne Grund hatte Ota Wićaz vor knapp einhundert Jahren festgestellt, dass die ersten sorbischen Volksdichter eben aus jenen erweckten Gruppen hervorgingen.85 Ob, wie von Wićaz behauptet, die ersten sorbischen Patrioten tatsächlich aus dem Kreis der Erweckten stammten und es ohne die religiöse Erweckung im 18. Jahrhundert keine nationale Erweckung im 19. Jahrhundert gegeben hätte, sei dahingestellt.86 Wichtiger erscheint im Kontext dieser Studie, dass die pietistischen Erweckungen Strukturen und Bedingungen geschaffen haben, auf die später aufgebaut werden konnte. Andererseits kann die nationale Einigungsbewegung des 19. Jahrhunderts auch als Gegenbewegung verstanden werden, um die (inner-)konfessionelle Differenzierung87 aufzuheben. Wo nicht der Glaube eint, eint die Sprache. Allerdings widersetzten sich gerade viele im Pietismus verwurzelte Sorben dieser Bewegung: Die sorbische lutherische Bevölkerung blieb in sich gespalten.

84 August Gottlieb Meissner an Heinrich Christian Boie, Dresden, 12.05.1778, zit. nach Meine Landsleute. Die Sorben im Zeugnis deutscher Zeitgenossen. Von Spener bis Pieck. Hg. v. Hartmut Zwahr. Bautzen 21990, 75. 85 Ota Wićaz: Wo serbskim ludowym basnistwje. In: Serbska ludowa knihownja 12, 1922, 1– 43. 86 Ota Wićaz: Ochranowska Bratrowska Jednota. In: Předźenak 1931, 47–53, hier 53. 87 Hingewiesen sei hier etwa auf die Ablehnung einer verbindlichen neuen Rechtschreibung durch verschiedene Kreise erweckter Sorben im 19. Jahrhundert, da diese von der „biblischen“ Rechtschreibung des 18. Jahrhunderts abwich, und auf die Hinwendung zahlreicher Sorben zum Altluthertum und ihre Auswanderung nach Übersee: Jan Kilian. Pastor, Poet, Emigrant. Hg. v. Trudla Malinkowa. Bautzen 2014.

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VERONIKA ALBRECHT-BIRKNER

„Ich verspreche Ihnen nochmals feyerlich, das Wort Pietist nie wieder im übelen Sinne zu gebrauchen . . .“ 1

Fromme Identitätsfindung im späten 18. Jahrhundert*0 1. „Pietismus“ oder nicht? Überlegungen in frommen Kreisen am Ende des 18. Jahrhunderts

Am 16. Oktober 1796 saß Johann Heinrich Jung, genannt Stilling, in seinem geräumigen Fachwerkhaus in der Marburger Oberstadt und schrieb einen Brief nach Basel. Seit 1787 hatte der mittlerweile 56-jährige, in dritter Ehe verheiratete und die Geburt seines 13. Kindes erwartende Jung eine Professur für ökonomische Wissenschaften an der Universität Marburg inne. Sein Brief war adressiert an Friedrich Adolf Steinkopf – einen jungen Mann, der im Jahr zuvor sein Theologiestudium in Tübingen abgeschlossen hatte und seitdem Sekretär der Deutschen Christentumsgesellschaft mit Sitz in Basel war.1 Jung korrespondierte zu diesem Zeitpunkt seit fast zwei Jahren mit der Christentumsgesellschaft, die 1780 von Johann August Urlsperger als „Deutsche Gesellschaft thätiger Beförderer reiner Lehre und wahrer Gottseligkeit“ gegründet worden war. Urlsperger hatte schon in den 1780er Jahren um Jungs Mitarbeit in der Christentumsgesellschaft geworben. Das lag nahe, denn Jung war in den 1770er Jahren – damals noch Augenarzt in Elberfeld – als Verfasser von Trak* Vortrag im Rahmen des Festaktes zum 85. Geburtstag von Ernst Koch in der Forschungsbibliothek Gotha am 26.02.2016. 1 Johann Heinrich Jung-Stilling an Karl Friedrich Adolf Steinkopf in Basel, Marburg, 16.10.1796 (UB Basel Archiv ChristG, D V 16, 138), abgedruckt in: Ders.: Briefe. Hg. v. Gerhard Schwinge. Gießen 2002, 187–189. – Vgl. Die Christentumsgesellschaft. Bd. 1: Die Christentumsgesellschaft in der Zeit der Aufklärung und der beginnenden Erweckung. Texte aus Briefen, Protokollen und Publikationen. Hg. v. Ernst Stähelin. Basel 1970; Die Basler Christentumsgesellschaft (= PuN 7, 1981); Horst Weigelt: Der Pietismus im Übergang vom 18. zum 19. Jahrhundert. In: Geschichte des Pietismus. Bd. 3: Der Pietismus im 19. und 20. Jahrhundert. Hg. v. Ulrich Gäbler. Göttingen 2000, 701–754; Gerhard Schwinge: Jung-Stilling und seine Beziehung zur Basler Christentumsgesellschaft. In: Ders.: Johann Heinrich Jung-Stilling (1740–1817). „Patriarch der Erwekkung“. Siegen 2014, 33–49.

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taten in Erscheinung getreten, in denen er die zeitgenössische Kirchen- und Religionskritik scharf bekämpft hatte.2 Zudem hatte er die ersten drei Teile seiner Autobiographie veröffentlicht, in denen er nicht nur von seiner Herkunft aus einem frommen Lehrerhaushalt im Siegerland berichtet, sondern sein Leben überhaupt als unter unmittelbarer göttlicher Führung stehend zu beschreiben begonnen hatte.3 Seine Autobiographie hatte er zudem unter dem Pseudonym „Stilling“ publiziert, das er später als Namenszusatz verwendete. Mit dieser Namenswahl wollte er möglicherweise eine Verbindung herstellen zu den „Stillen im Lande“ – und dies war im 18. Jahrhundert in Anlehnung an Psalm 35,20 bekanntlich eine übliche Bezeichnung für fromme Leute. Jung aber war auf Urlspergers Werben nicht eingegangen. Er hatte sich bis 1795 nicht einmal auf briefliche Kontakte, geschweige denn auf eine Mitgliedschaft in der Christentumsgesellschaft eingelassen. Als inhaltlichen Grund hierfür nannte er im Rückblick, dass er „aus eigener Erfahrung“ gewusst habe, „wie leicht solche Verbindungen in falsche Pietisterey, geistlichen Stolz und Pharisäismus ausarten“.4 Unter „dem Worte Pietist“, so erläuterte Jung dann im Juli 1795, verstehe er „immer und in allen meinen Schriften den selbstgerechten Mystiker. Von dem gilts, nicht von dem wahren Christen, den man zum Schimpf mit diesem Namen belegt“.5 Dieses „an sich edle Wort“ sei „nun einmal so verhast, wie die Wörter Aufklärung, Jesuit, Illuminat etc. die doch auch alle gute Bedeutungen haben, aber gemisbraucht sind. Wir sind keine Pietisten in diesem Sinne und wollen auch keine seyn, und wer uns so nennt, der verstehts in obigem bösen Sinn.“ Ähnlich meinte der mit Jung befreundete Zürcher Pfarrer und Schriftsteller Johann Caspar Lavater im Blick auf die Christentumsgesellschaft im Jahre 1800, „man würde sie vielleicht ehemals mit dem gehässig seyn sollenden Namen Pietisten bezeichnet haben“.6 Im Oktober 1796 hingegen in jenem eingangs genannten Brief betonte Jung gegenüber dem Sekretär der Christentumsgesellschaft: 2 Johann Heinrich Jung: Die Schleuder eines Hirtenknaben gegen den hohnsprechenden Philister, den Verfasser des Sebaldus Nothanker. Frankfurt/Main 1775; ders.: Die Theodicee des Hirtenknaben als Berichtigung und Vertheidigung der Schleuder desselben. Frankfurt/Main 1776; ders.: Die große Panacee wider die Krankheit des Religionszweifels. Frankfurt/Main 1776. Es handelte sich hier v. a. um Auseinandersetzugen mit Christoph Friedrich Nicolai: Das Leben und die Meinungen des Herrn Magister Sebaldus Nothanker. Berlin, Stettin 1773–1776. 3 Henrich Stillings Jugend. Eine wahrhafte Geschichte. Berlin, Leipzig 1777; Henrich Stillings Jünglings-Jahre. Eine wahrhafte Geschichte. Berlin, Leipzig 1778; Henrich Stillings Wanderschaft. Eine wahrhafte Geschichte. Berlin, Leipzig 1778. 4 Johann Heinrich Jung an Johann Martin Mayer in Basel, Marburg, 25.01.1795 (UB Basel Archiv ChristG, D V 15, 19; abgedruckt in: Ders., Briefe [s. Anm. 1], 170–173, Zitat 172). 5 Johann Heinrich Jung an Johann Martin Mayer, Marburg, 07.07.1795 (UB Basel Archiv ChristG, D V 15, 131; abgedruckt in: ders., Briefe [s. Anm. 1], 175–177, Zitat 176). Hier auch das folgende Zitat. 6 Aus Johann Caspar Lavaters Brief über „Aufenthalt und Verrichtungen in Basel“, Zürich, 17.10.1800, abgedruckt in: Stähelin, Christentumsgesellschaft [s. Anm. 1], 445 f., hier 445.

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„Ich verspreche Ihnen nochmals feyerlich, das Wort Pietist nie wieder im übelen Sinne zu gebrauchen“, und er fuhr fort: „sondern wenn ich Mängel anzeigen muß, solches in Liebe und unter dem wahren ächten Namen zu thun [. . .]“.7 Was war los in der frommen Szene am Ende des 18. Jahrhunderts? Ohne bereits alle Einzelheiten zu kennen, können wir feststellen, dass es Spannungen gab – und zwar solche, die sich um die eigene Identität, genauer um die Bezeichnung „Pietist“ drehten. Offensichtlich ging es um unterschiedliche Meinungen darüber, ob das ein positiver Begriff sei, der zur Selbstbezeichnung taugte, oder aber ein ‚übler‘, von dem man sich distanzieren musste. Und offensichtlich brauchte insbesondere Johann Heinrich Jung lange, um sich zu einem positiven Begriff von „Pietist“ durchzuringen und damit auch der Basler Christentumsgesellschaft anzunähern, deren Mitglieder sich mit dem Begriff offenbar problemlos identifizierten und deshalb gegen einen negativ besetzten Pietismusbegriff waren. Die Frage ist: Wie aber lassen sich diese Auseinandersetzungen erklären? Waren es nur spitzfindige Wortklaubereien oder steckte mehr dahinter? 2. Der pejorative Pietismusdiskurs in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts Um es vorweg zu nehmen: „Pietist“ und „Pietismus“ waren seit ihrem Aufkommen als Schimpfworte im späten 17. Jahrhundert vermutlich zu keiner Zeit einfach neutrale Begriffe.8 Es schwang immer etwas mit von „Frömmler“ und „Frömmelei“ und allem, was man damit assoziieren kann. Im Laufe des 18. Jahrhunderts hatte sich diese Sicht allerdings in einer Weise verdichtet und zugespitzt, die es zweifellos sehr unattraktiv machte, zu dieser Gruppierung gezählt zu werden. Beispielhaft werfen wir einen Blick in die knapp 100 Seiten umfassende Abschilderung der Pietisten derer Kennzeichen bewiesen und aus ihren eigenen Schrifften heraus gezogen sind zu Steuer der Wahrheit zum Druck befördert, erschienen 1751 in Frankfurt/Main und Leipzig.9 Der anonyme Verfasser – wohl der ansonsten kaum bekannte, aus Ungarn stammende Wittenberger Theologe Jeremias Severin – hatte es hier unternommen, „die Kennzeichen der heutigen Neulinger oder Pietisten, welche hier 7

Jung an Steinkopf, 16.10.1796 [s. Anm. 1], S. [1]. Vgl. Veronika Albrecht-Birkner: „Reformation des Lebens“ und „Pietismus“ – ein historiografischer Problemaufriss. In: PuN 41, 2015, 126–153. Exemplarisch deutlich wird die Ambivalenz des Begriffs „Pietisten“ in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts z. B. in der Abhandlung über Pietisten, wahre und falsche, erschienen in der Bibliothek für Denker und Männer von Geschmack 2, 1784, 99–117, die Hartmut Lehmann 1983 ausgewertet hat (vgl. Hartmut Lehmann: Zwischen Pietismus und Erweckungsbewegung. Bemerkungen zur Religiosität der Emkendorfer. In: Aufklärung und Pietismus im dänischen Gesamtstaat 1770–1820. Hg. v. dems. u. Dieter Lohmeier. Neumünster 1983, 267–279, hier 272 f.). 9 Die folgenden Seitenangaben im Text in Klammern beziehen sich auf diese Publikation. 8

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und da einzeln zu finden sind“, zusammenzufassen (9). Dabei war das erste Kapitel den Kennzeichen hinsichtlich des „Lebens=Wandels“ (11–66) und das zweite denen „in Ansehung der Lehre“ (67–98) gewidmet. Die 13 Paragraphen über den Lebenswandel betrafen insbesondere den Vorwurf der „Scheinheiligkeit und Scheinfrömmigkeit“ (17). Es heißt: „Niemals“ sei „eine Secte gefunden worden, welche in der Scheinheiligkeit und Scheinfrömmigkeit die neue Heiligen oder Pietisten übertroffen, so daß es noch zu zweiffeln ist, ob auch die Pharisäer ihre Schalckheit und Tücke so künstlich verbergen gekonnt, als wie diese [. . .].“ (ebd.) Es sei „die Boßheit der Pietisten so hoch gestiegen, daß sie die allerschändlichsten und greulichsten Laster verüben und begehen, welche sie aber mit dem Deck=Mantel der Frömmigkeit bedecken, und unter dem Schein der Heiligkeit entschuldigen und vertheidigen wollen [. . .].“ (7 f.) Diese „Kunst anders zu reden und anders zu dencken“ (63), sei charakteristisch für die Pietisten, „die Aufrichtigkeit“ sei „von ihnen verbannt, und ins Elend geschickt“ (63 f.). Hiermit verband sich der Vorwurf „der falschbrüderlichen Liebe“, aufgrund derer die Pietisten die aus Sicht des Verfassers notwendige theologische Auseinandersetzung „unter den odiösen Nahmen, Zänckerey, Zancksucht, und so mehr bey jedermann verhaßt zu machen, und hernach abzuschaffen“ versucht hätten (23 f.). Dabei sei es ihnen aber nur darum gegangen, dass „ihre schändliche Laster und Bübereyen nicht entdecket, und der irrigen Lehre Meynung allen und jeden bekannt würde“, woher auch ihre Liebe zu privaten „Zusammenkünffte[n] oder Conventicula“ rühre (24). Zu den theologischen Irrtümern der Pietisten zählte der Verfasser u. a. „das Tausend-Jährige Reich, oder die Hoffnung der besseren Zeiten“ (37), einen Hang zur „Theologia Comparativa oder Pacifica“ und „Mystica“ (73), die Auffassung, die Seelen der Menschen seien „aus dem göttlichen Wesen heraus geflossen“ (80), sowie die Lehre „Von der Erleuchtung / Heiligung und heilsamen Verzweiffelung“ (92). Der nach „Meynung aller Orthodoxorum“ erste Irrtum der Pietisten aber sei, dass bei einem nicht wiedergeborenen Lehrer „kein wahrer habitus Theologiae seyn“ könne (68), sondern dass der Theologe von einem „innerlichen Liechte oder Empfindlichkeit“ erfüllt sein müsse (69). Hatte Severin sich in seiner Publikation von 1751 von „Pietismus“ als Gegenstück zur orthodoxen, also der reinen theologischen Lehre abgegrenzt, gerieten in den 1780er Jahren „Orthodoxie“ und „Pietismus“ gemeinsam in das Kreuzfeuer der Kritik. Das hierfür maßgebliche Werk im Umfang von reichlich 600 Seiten publizierte 1787 in Halle der aus Württemberg stammende Heilbronner Pfarrer Christian Friedrich Duttenhofer unter dem Titel Freymüthige Untersuchungen über Pietismus und Orthodoxie.10 Entsprechend seiner Herkunft hatte Duttenhofer vor allem die Württembergische Szenerie im Blick. Seine These lautete: 10

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Die folgenden Seitenangaben im Text in Klammern beziehen sich auf diese Publikation.

Was ehemals Spener und seine ersten Anhänger für die Beförderung des wahren praktischen Christenthums würkten und litten, das würken und leiden itzt Semler, Spalding, Teller und andere in ihre Fußstapfen tretende Gottesgelehrte. Ehemals war die Orthodoxie im Kampfe wider den Pietismus: aber heut zu Tag hat dieser sich aufs genaueste und engste mit jener wider die sogenannten Heterodoxen vereiniget. Ehemals war es der sogenannten Pietisten ihr ganzes ehrwürdigstes und rühmlichstes Geschäft, den todten Buchstaben zu beleben, den beinahe entschlafenen Geist des wahren thätigen Christenthums wieder zu wecken, und das aus blos spekulativen, unfruchtbaren, nur Zank gebährenden Dogmen zusammengesetzte Lehrgebäude der Theologie für Herz und Leben brauchbar und anwendbar zu machen. Und wer thut dieses in unsern Tagen mehr, als die von jenen verschriene Neologen und neue Reformatoren? (IV)

Duttenhofers Kritik galt also in erster Linie den Pietisten seiner Gegenwart, die er von den ‚guten‘, ursprünglichen Pietisten unterschied und als die ‚neuen Orthodoxen‘ einordnete. Gleichzeitig wollte er sich von seinen Landsleuten aber auch nicht den Vorwurf einhandeln, „die Worte Pietismus und Pietist“ wie „verächtliche Schimpfnamen“ zu verwenden. (III) So betonte er, dass „Pietismus und Heucheley oder affektierte eitle Scheinheiligkeit“ für ihn nicht „blosse Synonymen“ seien (V). Auch neutral ansetzende Definitionsversuche mündeten aber stets in Kritik, wie z. B.: „Durch Pietismus verstehe ich blos diejenige Gattung oder Art des subjektiven Christenthums, die auf andächtige, fromme Gefühle, so wie auch auf äusserliche andächtelnde Formen und Gebräuche mehr hält, als sie an und vor sich selbst werth sind; die der Spenerschen Erbauungsmethode, bei allen bessern Anstalten und Vorschlägen, die wir itzt haben, noch immer eigensinnig folgt, und dadurch nicht selten der weitern Aufklärung [. . . ] und dem Geist der christlichen Freyheit und Freude unabsichtlich schädlich wird.“ (VI) Es gehe ihm darum, diesen „Parthiegeist“ der Pietisten „so viel möglich zurechte zu weisen und aufzuklären“ (VIII). Duttenhofers Buch gliedert sich in sechs Abschnitte, von denen gleich der erste „Ueber die Erbauungsstunden oder Privatversammlungen der sogenannten Pietisten“ handelt. Das zweite Kapitel „Ueber die Erbaulichkeit in Vorträgen der Religion“ läuft hinaus auf die Feststellung: „Gegen alle diese Regeln [für erbauliche Vorträge, d. Vf.in] aber stößt die heutige Lehrart der sogenannten Pietisten sehr oft an; sie verhindern also würklich wahre, vernünftige Erbauung, indem sie solche fördern wollen.“ (XII) Auch in den Kapiteln drei, vier und fünf (über „Lehrvorstellungen der christlichen Religion“, „Bekehrung, Glauben, Heiligung“ sowie „natürliche Religion, Moral, Werth der Moral“) geht es im Kern stets um die Widerlegung der falschen Auffassungen der Pietisten als den ‚neuen Orthodoxen‘. Dazu bildet das sechste Kapitel: „Ueber die unter den sogenannten Pietisten herrschenden Charaktere und Sitten“ eine Art Finale: Duttenhofer präsentiert „Pietismus“ hier als ein umfassendes Vorwurfsprofil, das von „eine[r] sehr engherzige[n] partheyische[n] Bruderliebe“ mit „Verachtung, Mistrauen, Gleichgültigkeit“ und „lieblose[r] 187

Verleumdungssucht gegen Andere“ über mangelnde Toleranz, „Bekehrsucht“, „zurückhaltendes, scheues, finsteres und menschenfeindliches Bezeugen“, „steifsinnige Abhängigkeit an gewisse Lehrer und [. . .] Herrschsucht, die sie zuweilen ausüben, wenn sie zu bedeutenden Aemtern gelangen“, „unweise oft zu ängstliche Kinderzucht“, Verhinderung von „fleißiger und emsiger Abhaltung des zeitlichen Berufs“ bis zu „geistlich=stolze[r] Afterdemuth oder affektierte[r] Ziererey“ und „religiöse[m] Bagatellengeist“ reicht (XVIII). Im Zusammenhang der „neue[n] Absonderung und Unterscheidung“ sei auch die „ascetische Gesellschaft der Beförderer reiner Lehre und wahrer Gottseligkeit“ – gemeint ist die Christentumsgesellschaft – abzulehnen (ebd.). Als Beleg zu seiner Untersuchung von 1787 legte Duttenhofer zwei Jahre später noch eine weitere Publikation speziell mit Fokus auf Württemberg vor, und zwar die Würtembergische Heiligen-Legende oder das Leben der heiligen Tabea von Stuttgart in einer Neuedition.11 Als Beispiel für die von ihm diagnostizierte Verbindung von Orthodoxie und Pietismus führte er im Vorwort erneut die Christentumsgesellschaft an (insofern es dieser ja um die Beförderung „reiner Lehre und wahrer Gottseligkeit“ ging, s. o.), und verglich sie nun mit dem Jesuitenorden (XIf). Dort, in Basel, vermutete der Verfasser „das hohe Directorium unserer Kirche“, das „bereits über Wahrheit und Reinheit der Lehre, was und wie viel dazu gehören solle, auf eine unabänderliche Weise abgeurthelt [!], und allen weitern Untersuchungen und Aufklärungen das non plus ultra vorgesteckt“ habe (XII). Das „Joch der Hierarchie“, dem dieses sich anstelle Roms unterwerfen würde, bestehe in „Andächtlern und Schwärmern, die, wie unser brave Luther sagte, auch ihren Pabst im Herzen“ hätten (XIII). „Pietisten und Altgläubige“ gerieten laut Duttenhofer letztlich auf ähnliche „Abwege“ – dies zeige sich beispielhaft an der Verehrung der Württembergischen Tabea (Beata Sturm) als ‚Heiliger‘ (XV). Deren Lebensbeschreibung publiziere er mit neuen Kommentaren, um „den großen Unterscheid“ zu zeigen „zwischen Frömmigkeit und Frömmeley [. . .], zwischen einem unaffectirten, freyen und fröhlichen Christenthum, und [. . .] dem eigensinnig=geformten, finstern und schwermüthigen Pietismus“ (XXVIII). Sein kritischer Blick auf den Pietismus hatte sich also durchaus noch verschärft. Es lag in der Logik von Duttenhofers Argumentation, dass sie gerade in Württemberg Entgegnungen provozierte, die ebenfalls Pietismus und Orthodoxie zusammensahen und folglich mit letzterer implizit auch ersteren verteidigten. Dies geschah z. B. in der 1789 in Tübingen erschienenen Bescheidene[n] Prüfung der Lehrvorstellungen der Christlichen Religion, in Herrn M. Chr. Fr. Dut11 Christian Friedrich Duttenhofer: Würtembergische Heiligen=Legende oder das Leben der heiligen Tabea von Stuttgart, als ein Belege zu Herrn Pred. Duttenhofers Untersuchungen über Pietismus und Orthodoxie. Nebst einem Anhang von der hl. Paula. Halle 1789. Die folgenden Seitenangaben im Text in Klammern beziehen sich auf diese Publikation.

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tenhofers, Predigers bei Nicolai zu Heilbronn, Freymüthigen Untersuchungen über Pietismus und Orthodoxie von Philipp Fridrich Binder, Pfarrer in Haberschlacht in Württemberg.12 Binder betonte ausdrücklich, dass es ihm eigentlich nur um die Verteidigung der christlichen Lehre gehe. Nebenbei bemerkte er aber, dass „etwas mehr Sanftmuth und Bescheidenheit, besonders gegen die sogenannte Pietisten, denen er [Duttenhofer, d. Vf.n] doch meistens Redlichkeit und Unsträflichkeit in dem Wandel nicht absprechen“ könne, schon wünschenswert gewesen wäre (2). „Die so genannte Pietisten“ hätten – so meinte Binder darüber hinaus – „sich freilich an die Orthodoxen angeschlossen und verfechten nun mit denselben das bisher angenommene Lehr=System, weil es offenbar war, was die neue Verfechter der Vernunft und ihrer Freiheiten in Erklärung der Religions=Wahrheiten für eine Verwüstung anrichteten.“ (6) Und er stellte schließlich klar: „Die Pietisten giengen nie so weit von der Orthodoxie ab, daß nicht ihre Vereinigung leicht war, und es wurde von Anfang vieles von den Orthodoxen für gefährlicher angesehen, als es an sich war und fiele bald von selbst weg.“ (6) Württembergisches Insiderwissen über „Pietisten“ verriet auch die 1787 ohne Ortsangabe erschienene Jugendschrift des späteren dortigen Finanzministers Ferdinand August Weckherlin mit dem Titel Wirtemberg. Pietismus. Schreiber. Schulen. Und Erziehung und Aufklärung überhaupt.13 Geboren in Schorndorf bei Stuttgart, hatte der 20-jährige Autor – so lässt es seine Publikation vermuten – im Blick auf ‚die Pietisten‘ einiges abzuarbeiten. Mit feiner Ironie konstatierte er im Kapitel „Der Pietiste“: „Pietisten sind demnach, wenn man den Wirtemberger fragt, blose Andächtige, Eiferer im Dienste Luthers, stille Enthusiasten im öffentlichen und gesellschaftlichen Gottesdienste, und im Privat Religionsexerziz büssende Seufzer“ (13 f). Es resultiere aus „Lieblosigkeit“ oder auch „Unzufriedenheit mit der Singularitätssucht dieser Leute“, dass man sie allgemein als „Kopfhenker“ bezeichne (14). In der folgenden Beschreibung der Pietisten wird der Ton schärfer und geht über in teils beißenden Spott, wenn Weckherlin z. B. schreibt: „Langsam und ernst ist der Gang der Pietisten, besonders ein gewisser leiser, bedächtlicher Tritt ist ihm eigen. Gehen mehrere in Gesellschaft, so ist es mehr ein Schleichen, als ein Gang.“ (17) Zu seiner äußerlichen „Auszeichnungssucht“ (16) gehöre auch seine Sprache: Das dritte Wort ist beim Pietisten: der liebe Gott, der liebe Heiland, ach und o, und diß wechselt bis zum Ekel ab. Liebe scheint das Signal zu seyn, und man hörte schon den Ausdruk: der liebe Heiland segne der lieben Schwester die liebe Kartoffeln, die er mir auf meinem lieben Mistbeete nach seiner Liebe beschehret hat. (24) 12

Die folgenden Seitenangaben im Text in Klammern beziehen sich auf diese Publikation. Dieses Werk existiert in zwei verschiedenen Ausgaben, die gleichlautende Titelblätter aufweisen, aber vom Umfang her unterschiedlich sind: Eine Ausgabe umfasst 124, die andere 102 Seiten. Die folgenden Seitenangaben im Text in Klammern beziehen sich auf die 102–seitige Ausgabe. 13

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Nebenbei erfährt man Konkretes über den Ablauf und die Atmosphäre der Versammlungen, „die jedem“, so der Verfasser, „der sie besucht, vollends das öffentliche Siegel des Pietismus aufdrüken“ (26). Auch wenn „das Publikum“ von der „ganz falschen Art von Tugend“ der Pietisten, „einen ausgezeichneten Vortheil“ und „tausendfachen Nuzen“ ziehe (36), so resümiert der Verfasser, seien diese dem Staat wesentlich weniger „brauchbar und zwekmäßig“ (43) als „der, der Moral und ihre Pflichten übt“ als „Edler, Guter Christ“ (46). Der Pietist bedenke nicht, „daß Pietismus Auswuchs der Religiosität ist, dessen erster Grund in falsch verstandenen Säzen der Christusmoral, in Stolz und Schwärmerei“ liege (38). 3. Annäherungen an eine ‚Pietismus-Identität‘ im mitteldeutschen Raum ab den 1770er Jahren Eine Verteidigungsschrift aus der Feder eines bekennenden Pietisten des späten 18. Jahrhunderts habe ich in Württemberg nicht gefunden – wohl aber in Mitteldeutschland. 1774 erschien in Göttingen und Gotha unter dem Pseudonym „Theophilus“ eine 32 Seiten umfassende Abgelehnte Beschuldigung, daß die sogenannten Pietisten keine irrige Lehrsätze haben, sondern wahre Christen zu werden sich befleißigen.14 Gleich eingangs teilte der anonyme Verfasser seinem anonymen Adressaten mit: Ich habe erfahren, daß Sie die so genannten Pietisten vor Sonderlinge halten und glauben, daß solche irrige Lehrsätze hätten. Ich halte es daher vor meine Pflicht Ihnen das Gegentheil zu beweisen; umso mehr, da ich mir vorgenommen allen denen, welche von uns irrige Begriffe haben, zur Steuer der Wahrheit nach I Petr. durch eine kleine Apologia den Grund unserer Hoffnung anzuzeigen. (3)

Und er fügte sogleich hinzu: „Vorläufig muß ich Ihnen anzeigen, daß wir uns nach unsern aus der Mode gekommenen Catechismo richten; als auch, daß die wahren Christen was besonders seyn, und von denen Weltkindern in Ansehung Gott rechtschaffen zu dienen, und durch ihren Wandel sich distinguiren müssen, sonst wäre unter solchen und den Weltkindern kein Unterscheid.“ (ebd.) Damit war das apologetische Programm des anonymen Verfassers bereits umrissen: Er wollte herausstellen, dass die Pietisten der reinen (lutherischen) Lehre verpflichtet seien, dass es ihnen darüber hinaus aber um Unterscheidung von der Welt gehe, und dass sich dies insbesondere am Lebenswandel 14 Abgelehnte Beschuldigung, daß die sogenannten Pietisten keine irrige Lehrsätze haben, sondern wahre Christen zu werden sich befleißigen / In einem Schreiben an N. N. Auf Kosten des Verfassers. Göttingen, Gotha 1774. Das von mir eingesehene Exemplar befindet sich in der Bibliothek der Franckeschen Stiftungen in Halle. Darüber hinaus sind Exemplare, so weit bislang bekannt, nur in Göttingen und Leipzig überliefert. – Die folgenden Seitenangaben im Text in Klammern beziehen sich auf diese Publikation.

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festmachen müsse. In der Verteidigung privater Erbauungsversammlungen, die sich wie ein roter Faden durch das Buch zieht, kam beides zusammen. So heißt es z. B.: „So lange als uns niemand einen bessern Rath geben kann, womit wir die Zeit nach geendigten öffentlichen Gottesdienst hinbringen können; so lange werden wir dabey [bei den Versammlungen, d. Vf.n] beharren [. . .]“, anstatt „die Zeit mit unnützen Worten, Scherz, Narrenteidungen, faulen, zeitverderbenden Geschwätz, Fressen, Saufen, Spielen u. d. gl.“ zu verbringen (5). Oder: „Wenn wir einander in der Woche besuchen; so erinnern und ermahnen wir einander zur beständigen Treue gegen unsern Heyland, und suchen Hochdenselben immer besser kennen zu lernen, und seinem Bilde ähnlicher zu werden: Da wir wissen, daß der Wandel das eigentliche, Christum vor den Menschen bekennen, ist [. . .].“ (7) Im Blick auf die Forderung, „daß ein Christ die guten Werke als Glaubensfrüchte an sich haben müsse“ (4), gab der Verfasser schließlich pragmatische Anweisungen wie z. B.: Wenn ich nun wissen will, worin die Nachfolge Jesu bestehet, so dienet mir dazu die heilige Schrift, und wenn solche Fälle vorkommen, welche nicht darin enthalten sind; so prüfe ich solche, ob der Herr Jesus dergleichen wohl würde gethan haben, als zum Exempel Tanzen, Spielen u. d. gl.; so mache ich den richtigen Schluß, daß solches Hochderselbe nicht thun würde. Solte man auf einen schmalen Wege wohl tanzen können? – Nein! Auf einen breiten doch wohl? O ja! (15)

Wer „in der Widergeburt“ stehe „und den Heiligen Geist empfangen“ habe, sei auch in der Lage, andere auf ihre Sünden hinzuweisen (19). „Wer noch größere Feinde haben will“, solle „den fleischlich gesinnten, unbekehrten Predigern“ sagen: „sie sollen nicht allein die Leute dazu anhalten, daß sie die Lehren des Catechismi ausübten, denn die bloße Wissenschaft könne nichts helfen, sondern sollten sich erst selbst bekehren, und die Vorbilder der Heerde werden [. . .].“ (19 f.) Der Verfasser schloss seine Abhandlung mit einer ausführlichen Definition wahren Christseins unter der Überschrift Abbildung eines durch die Wiedergeburth erneuerten Christen (27–32). Eine im Folgejahr in Greifswald erschienene Rezension zu dieser Verteidigungsschrift fragte lediglich: „warum [. . .] dies aufs neue hervorgesucht? warum wieder Gelegenheit gegeben zu manchen Erinnerungen, die sonst vielleicht nicht mögten entstanden seyn?“15 Und: „warum muß [. . .] die Sprache, die den wahren Christen vertheidigen soll, grade eine so niedrige Sprache sein? oder wird der Christ dadurch in den Augen der Weltkinder ehrwürdiger?“ (142) Dass es der Verfasser gut gemeint habe, stellte der Rezensent übrigens nicht in Zweifel, fragte jedoch: „aber warum schreiben alle gutmeinende Leute sogleich?“ (141) Er hatte also offenbar nicht viel mehr als ein halbwegs wohlwollendes Lächeln für die Verteidigung der Pietisten übrig – wobei er auf den Begriff gar nicht erst einging. 15 Neueste critische Nachrichten. Bd. 1. Greifswald 1775, 141 f. Zitat 141. Die folgenden Seitenangaben im Text in Klammern beziehen sich auf diese Publikation.

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Gerade im Bereich der Rezensionen tat sich im Blick auf „Pietismus“ in den 1770er Jahren aber auch noch anderes. Und zwar war bereits 1773 in dem in Berlin und Stettin erscheinenden Rezensionsorgan Allgemeine deutsche Bibliothek eine ausführliche Besprechung über die von August Gottlieb Spangenberg verfasste Biographie Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorfs abgedruckt worden.16 Hier hieß es im Blick auf „die Wittenbergischen Theologen“ des späten 17. und frühen 18. Jahrhunderts: Ihre Heftigkeit, ihre Ketzermacherey, die unfruchtbare scholastischen Wortstreite machte sie dem gemeinen Christen gar bald gleichgültig. Die Welt war dieses elenden unchristlichen theologischen Wörterkrieges müde, und alle Herzen öffneten sich den warmen Empfehlungen eines thätigen Christenthums, womit sich Pietisten hervorthaten, mit Vergnügen. Die Anführer dieser Parthey waren Männer von glänzenden Gaben, von einnehmender Beredtsamkeit, duldsam, sanftmüthig, herablassend und nachgebend. Sie verbanden mit der äussersten Demuth und Einfalt in ihrem Betragen den brennendsten Eifer nicht bloß für alle Arten geistlicher Uebungen, sondern auch für alle gemeinnützigen Unternehmungen. (101 f.)

Soweit ich derzeit sehe, handelt es sich hier um das in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts früheste Beispiel für eine neue, offensiv positive Pietismusrezeption, die diesen Begriff explizit aufgreift, dabei den Schwerpunkt auf den Aspekt des ‚tätigen Christentums‘ legt und mit einer klischeehaften Abgrenzung von der streitsüchtigen, dem Christentum im Grunde schadenden ‚Wittenberger Theologie‘ arbeitet. Dass dies gerade in einer Rezension zu einer Zinzendorfbiographie und somit zum Herrnhutertum geschieht, dürfte angesichts der Beliebtheit Herrnhuts im 18. Jahrhundert (im Gegensatz zum „Pietismus“) kein Zufall sein.17 In der Rezension ist zwar auch davon die Rede, dass „sich die Wogen der wilden Orthodoxie der Wittenbergischen Schule“ an den Halleschen Pietisten „brachen“ und dass man den Hallensern dies „als kein kleines Verdienst anrechnen“ müsse (102). Man müsse „aber auch gestehen, daß es dieses größtentheils alles“ sei, „was man ihnen zu danken“ habe (ebd.). Das „Herzens-christenthum, das sie an die Stelle des scholastischen Christenthums“ gestellt hätten, sei „aus lauter Andachtsgefühlen und mystischen Uebungen zusammengesetzt“ gewesen, „die immer noch von der Religion des erleuchteten Christen sehr verschieden“ seien (ebd.). Auch für die Hallenser, die neben den Württembergern im 18. Jahrhundert 16 Rezension über August Gottlieb Spangenberg, Leben des Herrn Nicolaus Ludwig Grafen von Zinzendorf und Pottendorf, Teil 1–3, [Barby ca. 1772] in: Allgemeine deutsche Bibliothek. Bd. 20, 1. Stück. Berlin, Stettin 1773, 99–128. Die folgenden Seitenangaben im Text in Klammern beziehen sich auf diese Publikation. 17 Die Herrnhuter Brüdergemeine wurde zeitgenössisch und auch in der Eigenwahrnehmung eher nicht unter „Pietismus“ subsumiert (vgl. Albrecht-Birkner, „Reformation des Lebens“ [s. Anm. 8], 129 f. u. 151). Der Verfasser der besprochenen Zinzendorfbiographie, A. G. Spangenberg, stand in persona für die traditionellen Spannungen zwischen Halle und Herrnhut (vgl. Udo Sträter: Spangenbergs Vertreibung aus Halle. In: UnFr 61/62, 2009, 23–42).

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zweifellos das Paradebeispiel für „Pietismus“ abgaben, lag die Zukunft pietistischer Identitätsfindung nach dem Tod von G. A. Francke (1769) und J. G. Knapp (1772) in der Abgrenzung von einer pejorativ besetzten „Orthodoxie“. Dabei galt es, mit dem „Pietismus“-Begriff selbst allerdings äußerst vorsichtig zu agieren. Genauer findet er sich in Halle vor den 1780er Jahren gar nicht. Die Werbung für die auf A. H. Francke zurückgehende Hallesche Tradition begann in den 1770er Jahren in Gestalt der Publikation exemplarischer Predigerbiographien, wobei vor allem die in sechs Bänden erschienenen Nachrichten von dem Charakter und der Amtsführung rechtschaffener Prediger und Seelsorger (Halle 1775–1779) zu erwähnen sind.18 Ph. J. Spener und A. H. Francke z. B. werden hier als in besonderer Weise vorbildgebend dargestellt, wobei der Ausdruck „Pietist“ bzw. „Pietismus“ vollständig vermieden wird. Statt explizit „Pietisten“ zu loben, werden deren Biographien so in Biographien von Theologen des 16. bis 18. Jahrhunderts und der Alten Kirche eingebettet, dass sie prima vista gar keine herausragende Rolle spielen. Sie alle habe verbunden, so wird der Eindruck vermittelt, dass es ihnen auch auf die ‚Übersetzung‘ der richtigen Lehre in das Leben angekommen sei. Damit aber war ein neuartiger Weg der Wiederanknüpfung an das, was als „Pietismus“ verschrien war, beschritten: Man plädierte für eine Orientierung an exemplarischen Vertretern vorbildhaften Lebens in Übereinstimmung von Glauben und Lehre und somit an einem adäquaten Praxisbezug von Theologie. Es ging nicht um „Pietisten“, sondern um vorbildliche Pfarrer, die bereits Generationen zuvor zeitgenössischen Idealen der 1770er Jahre entsprochen hätten – insbesondere dem Ideal der Aufrichtigkeit als Übereinstimmung von Außen und Innen des Menschen und dem der Toleranz gegenüber Andersdenkenden. Mit diesem Denkkonstrukt aber, das statt auf einen Schulterschluss mit der ebenfalls in Verruf geratenden Orthodoxie auf einen Anschluss an aktuelle aufklärerische Ideale setzte, arbeitete man in Halle höchst effektiv am Abbau des Vorwurfsprofils, das sich unter dem Stichwort „Pietismus“ etabliert hatte.19 Dies betraf insbesondere den Vorwurf der Nichtübereinstimmung von religiösem Anspruch und tatsächlicher Lebensführung im Sinne von Unaufrichtigkeit und Heuchelei. Ein unentbehrlicher Bestandteil dieser Argumentationsstrategie war die Forderung, durch Wiederanknüpfung an die Gründerväter zu den Wurzeln zurückzukehren. Denn diese seien gut gewesen, wogegen sich in der Zwischenzeit manches eingeschlichen habe, was nicht gut sei.20 Nur aus Letzterem aber konstituiere sich der pejorative Pietismusbegriff. Entsprechend dieser 18 Als Herausgeber gaben sich erst im letzten Band der Glauchaer Diakon David Gottlieb Niemeyer, der Hamburger Hauptpastor Christoph Christian Sturm und Johann Gottlieb Schäler, Pfarrer in Diesdorf bei Magdeburg, zu erkennen. 19 Vgl. unter 2. 20 Die Predigerbiographiensammlung enthielt bezeichnender Weise z. B. keinen Artikel über August Hermann Franckes Sohn Gotthilf August.

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Strategie erschienen ab den 1780er Jahren in Halle bevorzugt biographisch orientierte Artikel über August Hermann Francke,21 von Georg Christian Knapp als Beitrag zu einer „historische[n] Untersuchung über den sogenannten Pietismus“ auch ein Artikel über Philipp Jakob Spener.22 Insbesondere August Hermann Niemeyer profilierte sich nun als geschickter Stratege der Etablierung einer zur Identitätsfindung geeigneten pietistischen Tradition. So zitierte er z. B. in seiner 1788 erschienenen Uebersicht von August Hermann Frankens Leben und Verdiensten um Erziehung und Schulwesen aus der 1773 in der Allgemeinen deutschen Bibliothek erschienenen Rezension über die Zinzendorfbiographie,23 verschwieg aber die dort angeschlagenen kritischen Töne gegenüber Halle.24 Zudem sprach er nicht einfach von „Pietisten“, sondern von der „neue[n], mit dem Namen der Pietisten bezeichnete[n] Parthey“, und verzichtete auf den Begriff „Orthodoxie“.25 Franckes Frömmigkeit sei es gewesen, so Niemeyer, „die ihn zu allen trieb, was er unternahm“, und die „nicht jene düstere in sich verschlossene, blos seufzende Frömmigkeit werden“ konnte, „die hinterher seiner Schule oft einen übeln Namen gemacht“ habe (9). Die Vorwürfe, die man Francke später gemacht habe, träfen insofern gar „nicht ihn, sondern den Zustand seiner Stiftungen in spätern Zeiten, oder Personen, die, ohne von seinem Geist beseelt zu seyn, sich an ihn und seine Werke anschlossen, oder zufällige Folgen und Misbräuche des Guten, die jede nützliche Sache erwarten muß“ (11 f.). In seiner Artikelserie über Leben und Stiftungen Franckes berichtete Niemeyer 1794, dass das Misstrauen, das Francke z. B. auf seiner Reise ins Reich 1717/ 18 begegnet sei, aus dem Kampf der Wittenberger Schule gegen Francke resultierte, denn diese habe „die polemisch=dogmatischen Spitzfindigkeiten selbst von dem Unterricht des Volks nicht abgesondert wissen“ wollen und „über die Neologie der hallischen Pietisten in Journalen und eignen Streitschriften ein lautes Geschrey“ erhoben.26 So sei Francke in Schwaben, Hessen 21 Vgl. August Hermann Niemeyer: Uebersicht von August Hermann Frankens Leben und Verdiensten um Erziehung und Schulwesen. Nebst fortgesetzter Nachricht von den bisherigen Ereignissen und Veränderungen im Königl. Pädagogium. Halle 1788; ders.: Artikelserie „Leben und Stiftungen Franckes“ in: Frankens Stiftungen. Eine Zeitschrift zum Besten vaterloser Kinder. Hg. v. Johann Ludwig Schulze [u. a.]. 3 Bde. Halle 1792–1796; ders.: Geschichte des königlichen Pädagogiums seit seiner Stiftung bis zum Schluß des ersten Jahrhunderts. Halle 1796. 22 Georg Christian Knapp: Ueber D. Philipp Jakob Spener’s Leben, Verdienste und Streitigkeiten. In: Wöchentliche Hallische Anzeigen 1783, Nr. X, 145–153; Nr. XI, 161–166; Nr. XII, 177–183, Zitat 183. 23 S. Anm. 16. 24 G.Ch. Knapp argumentierte im Gegensatz zu A. H. Niemeyer noch mit explizit-polemischer Abgrenzung gegen Herrnhut und unmittelbarer Übereinstimmung mit der lutherischorthodoxen Tradition (Knapp, Über Spener [s. Anm. 22], v. a. 146 u. 150). 25 Niemeyer, Übersicht [s. Anm. 21], 14. Die folgenden Seitenangaben im Text in Klammern beziehen sich ebenfalls auf diese Publikation. 26 Niemeyer, Leben und Stiftungen [s. Anm. 21], in: Frankens Stiftungen 2, 1794, 149. Ebd. auch das folgende Zitat.

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und anderswo noch immer eine „Partey“ begegnet, „welche vor jeder Art von Neuerung in der Theologie erschrack, und beständig das nach und nach gebildete kirchliche System, mit der beseligenden Lehre Jesu verwechselte“. Plakativer als durch die Übertragung des Neologievorwurfs des späten 18. Jahrhunderts auf die Pietisten des frühen 18. Jahrhunderts konnte Niemeyer kaum deutlich machen, dass die zeitgenössischen theologischen Anliegen mit denen der Pietisten im Wesentlichen übereinstimmten und ihren gemeinsamen Hauptgegner in der ‚Partei‘ der Orthodoxen hatten. Bevorzugt stellte Niemeyer A. H. Francke als zukunftsweisenden Pädagogen dar. So betonte er z. B. 1796 in seiner Geschichte des Königlichen Pädagogiums: Parallel zur Ausbreitung von Franckes gutem Ruf als Pädagoge vermehrte sich in Deutschland die Partey derer, welche an der Lehrart Speners und der hallischen Theologen mehr Wohlgefallen, als an der bisher auf den Canzeln fast allgemein herrschenden, trocknen, polemisch=dogmatischen Methode fanden. Der große Ernst im thätigen Christenthum, den jene Männer durch ihre seltne Uneigennützigkeit und Unbescholtenheit ihres ganzen Lebens bewährten, gewann ihnen und vorzüglich Franken gleichfalls viele Freunde und Anhänger.27

Zwar sei nicht alles erfolgreich gewesen. Niemeyer gesteht ein: Es mag auch zu den eigenthümlichen Fehlern der religiösen Partey, welche man, entweder weil ihnen Pietät über alles heilig war, oder weil man glaubte, sie übertrieben die Sache, mit dem Namen der Pietisten bezeichnete, gehören, daß sie bey der Methode der inneren Besserung eine Gleichförmigkeit für nothwendig hielt, bey welcher die Empfänglichkeit und die Bedürfnisse jugendlicher Herzen, mit denen der Erwachsenen oder schon verwilderter Gemüther verwechselt wurden. (18 f.)

Auch mögen später manche gut gemeinten Vorschläge übertrieben „und oft bis zur Heucheley gemißbraucht worden seyn“ – aber dafür sei nicht Francke verantwortlich zu machen. (19) Niemeyer forderte: „[. . .] man sey nur gerecht genug, den Mann, in welchem kein Falsch war, von allem was seine Gesinnung verdächtig machen könnte, frey zu sprechen, und den Fond von Religiosität, welcher durch seinen eignen frommen Sinn in so viele seiner Zeitgenossen gebracht ist, für wohlthätiger zu halten, als den Leichtsinn und die Verwilderung, welche von dieser Seite so manche ältere und neuere Schulen auszeichnet.“ (Ebd.) Hier deutete sich im Blick auf A. H. Francke zugleich eine gewisse Tendenz zum Personenkult an, die sich nicht scheute, auch „Franckens Geist“ zu besingen, „der auf dem Flügel / Der Ewigkeit um seine Urne [das 1788 errichtete Denkmal für Francke, d. Vf.n] schwebt“ (59) und seines „Wohlthuns / Himmlische[n] Kranz“, der „in Ewigkeit“ blühe (62). Franckes „verklärtes Auge“ erblicke „das Erndtefeld, / Das seiner Hand entblüht“, dichtete Nie27 Niemeyer, Geschichte Pädagogium [s. Anm. 21], 8. Die folgenden Seitenangaben im Text in Klammern beziehen sich ebenfalls auf diese Publikation.

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meyer, und „sein großer Geist“ genieße „von Ewigkeit / Zu Ewigkeit [. . .], / Was nie ein menschlich Ohr gehört, / Kein Auge je gesehn!“ (63) Sein Gedicht mündete in den direkten Aufruf: „Brüder, wir wollen / Menschen erfreun, wie Er! / Auf und gelobt es: / Wohlthun wie Er!“ (64) Bei der in Halle zu beobachtenden deutlichen Tendenz zur Bildung einer „Pietismusidentität“ im Schulterschluss mit der Aufklärung in gleichzeitiger Abgrenzung von einem pejorativen Orthodoxiebegriff darf man natürlich nicht übersehen, dass dieser Strategie starke Impulse aus Berlin zugute kamen. Im Jahre 1788 war bekanntlich das Woellnersche Religionsedikt erschienen, das sich sowohl gegen die erneute Ausbreitung „der längst wiederlegten Irrthümer der Socinianer, Deisten, Naturalisten und anderer Secten mehr“ „durch den äußerst gemißbrauchten Namen: Aufklärung“ als auch gegen die Abhaltung von „Conventicula“, „die unter dem Nahmen gottesdienstlicher Versammlungen gehalten werden“ – gegen das zentrale Merkmal pietistischer Bewegungen also – wandte.28 Stattdessen sollte die christliche Religion [. . .] bey ihrer ganzen hohen Würde und in ihrer ursprünglichen Reinigkeit, so wie sie in der Bibel gelehret wird und nach der Ueberzeugung einer jeden Confession der Christlichen Kirche in ihren jedesmaligen Symbolischen Büchern einmal vestgesetzt ist, gegen alle Verfälschung

geschützt werden. Dieser weitgehend als unzeitgemäß empfundene Versuch, Orthodoxie politisch zu verordnen, führte freilich eher zu noch wachsenden Abneigungen gegen dieselbe.29 Indem das Edikt dabei aber gegen pietistische Traditionen und Aufklärung argumentiert hatte, hatte es gewissermaßen eine Steilvorlage abgegeben für die Suche nach einem Schulterschluss zwischen Pietismus und Aufklärung in Abgrenzung zur Orthodoxie. Anlässlich des 100-jährigen Jubiläums der Universität Halle 1794 hat der Berliner Oberkonsistorialrat Wilhelm Abraham Teller in der Berlinischen Monatsschrift dieses Konzept in eine Darstellung der Geschichte des ersten Jahrhunderts der Universität Halle umgesetzt.30 In Gestalt August Hermann Franckes beschrieb er „Pietismus“ hier als den Beginn einer Erfolgsgeschichte, die die Theologen Sigmund Jakob Baumgarten und Johann Salomo Semler dann fortgesetzt hätten. Die Pietisten hätten sich „an keine menschliche Auto28 Friedrich Wilhelm II. von Preußen: Edict, die Religions=Verfassung in den Preußischen Staaten betreffend. De Dato Potsdam, den 9ten Juli 1788, zit. n. der Publikation in: Wöchentliche Hallische Anzeigen, Nr. 60, 28.07.1788, 241–243 und Nr. 61, 31.07.1788, 245–247, Zitate 242 f. Das folgende Zitat S. 243. 29 Vgl. hierzu zuletzt Uta Wiggermann: Woellner und das Religionsedikt. Kirchenpolitik und kirchliche Wirklichkeit im Preußen des späten 18. Jahrhunderts. Tübingen 2010. 30 Wilhelm Abraham Teller: August Hermann Franke, Siegmund Jakob Baumgarten, Johann Salomon Semler. Des ersten Jahrhunderts der Friedrichs=Universität zu Halle, in wohlthätiger Stufenfolge aufeinander, der Theologie öffentliche Lehrer, Ehrwürdigsten Ruhmvollen Andenkens. Der Hochwürdigen Theologischen Fakultät daselbst aus besondrer Ergebenheit vorzüglich gewidmet, am Stiftungstage der gedachten Universität. In: Berlinische Monatsschrift 24, 1794, 1– 38. Die folgenden Seitenangaben im Text in Klammern beziehen sich auf diese Publikation.

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rität“ gebunden und nicht auf „das wilde tobende Geschrei über Abweichung von den symbolischen Büchern, von der reinen Lehre der seligmachenden Lutherischen Religion“ geachtet, welches ihnen entgegengekommen sei (10). Teller lobte insbesondere die Ausrichtung auf das Praktische der Religion und die entsprechend fokussierte Theologenausbildung, die ihr Zentrum in einer verbesserten Predigtmethodik gehabt habe. Im Grunde hätten die Pietisten bereits das gefördert, was auch in Tellers eigener Gegenwart als gut und richtig gelte – einschließlich der Öffnung für die Philosophie und für ein neues Verständnis des Neuen Testaments. Nur die Begriffe seien zeitgemäß noch andere gewesen. Interessanter Weise behauptete Teller in Umkehrung der historischen Vorgänge dann auch, der Begriff „Pietisten“ sei ursprünglich positiv konnotiert gewesen und habe erst nachträglich eine pejorative Bedeutung zugeschrieben bekommen: Man hätte es den Gegnern „verwiesen“, „wenn sie den guten Namen eines Pietisten in einen Schimpfnamen verwandelten, ohne doch sie deswegen Orthodoxisten zu schelten“ (ebd.). Zudem setzte Teller noch einen neuen Akzent, indem er das Verhältnis von Spener, Francke und deren Schülern zu den „kleinern schwärmerischen Parteien der Theosophisten und Böhmisten, der Chiliasten, Separatisten und Rosenkreuzer, Gichtelianer und Dippelianer“ erläuterte und hierzu feststellte, dass die Pietisten diese „gewissermaßen hegten und, wenn auch noch so leise, zum Theil in Schutz nahmen“ (23). Dies sei aber nicht – wie traditionell üblich – negativ zu bewerten, sondern es sei „ganz natürlich“ gewesen, denn alle diese „Parteien und die ihnen ähnlichen treffen auf dem einen Mittelpunkte zusammen, daß sie die Praxis der Religion einer schulgerechten Theorie vorziehen [. . .]“ (ebd.). Die Pietisten hätten nur diejenigen geduldet, „die gleicher Herkunft dem Geiste nach und mit ihnen in der Hauptsache Eins waren“ (ebd.). So rehabilitierte Teller kirchliche Pietisten ebenso wie heterodox-separatistische Strömungen als richtungsweisend – in Abgrenzung zur vermeintlich praxisfernen und deshalb für gänzlich unzulänglich erklärten Orthodoxie. 4. Fromme Identitätssuche bei Johann Heinrich Jung-Stilling „Pietismus“, so können wir also feststellen, gewann im späten 18. Jahrhundert trotz schwer belasteter Vorgeschichte (s. 2.) jedenfalls in Mitteldeutschland (s. 3) und in Basel (Christentumsgesellschaft, s. 1.) unter Beschwörung unterschiedlicher Allianzen (mit der Orthodoxie, s. 1.; mit der Aufklärung, s. 3.) bei den so Bezeichneten zunehmend an Attraktivität. Wie das Beispiel des eingangs zitierten Johann Heinrich Jung, genannt Stilling, zeigt, traf dies aber nicht auf alle zu: Jung musste zu einer positiven Verwendung des Ausdrucks „Pietist“ offensichtlich regelrecht überredet werden. Wie klar die Dinge an diesem Punkt für ihn zuvor waren, zeigt auch ein Brief vom April 1791, in dem er im Blick auf seine Familie ausrief: „Gott, was ist das für eine Familie! 197

so rein, so ganz lauter und vortreflich hab ich noch keine angetroffen, alles ein Herz und eine Seele, alles fromm ohne Pietismus [. . .].“31 Die Frage, die nun noch zu klären wäre, lautet: Warum wollte Jung-Stilling eigentlich nichts mit „Pietismus“ zu tun haben, wo andere Fromme damit doch auch kein Problem hatten, sondern darin sogar eine sehr zukunftsträchtige Perspektive erblickten? Eine erste Spur zu einer Antwort auf diese Frage bildet Jungs 1784/85 in Leipzig in zwei Teilen erschienener Roman Theobald oder die Schwärmer. Im „Vorbericht“ zu diesem autobiographischen Roman beschreibt Jung-Stilling die religiöse Prägung, die er durch seinen Vater und sein ‚schwärmerisches‘ Siegener Vaterland bekommen habe, als eine Art Gratwanderung zwischen Kirchlichkeit und einem Mystizismus, der sich für viele mit einem Hang zu Separation verbunden habe. Als Kind und junger Erwachsener habe er im Siegerland und dann im Bergischen Land so viele „Schwärmereien“ kennengelernt, dass er „gleichsam durch meine Erfahrungen dazu berechtigt“ sei, „eine Geschichte der Schwärmer dieses Jahrhunderts zu schreiben“.32 Sein Vater, meint Jung, sei „ehemals in gewisse Verhältnisse mit verwickelt“ gewesen, doch niemals in fanatische, nicht einmal in ganz schwärmerische, obgleich viele Männer von allerhand Schlag uns besuchten; er liebte alle, die Werk von der Religion machten, und ließ sich auch mit allen in Gespräche ein; doch aber weiß ich mich nicht zu besinnen, daß er einmal pietistischen Versamlungen beygewohnt hätte, er gieng von jeher in die Kirche, war nie ein Separatist, und doch hieng er auch den Symbolen nicht an, und las zugleich allerhand mystische Schriften, so daß er eigentlich ein Mittelding zwischen einem Mystiker und evangelisch reformirten Christen war [. . .]. (5 f.)

Dem eigentlichen Roman stellte Jung-Stilling als „erste[s] Hauptstück“ dann eine Art ‚Kirchengeschichte von unten‘ für den Protestantismus seit der Reformation voran, in der er in chronologischer Folge zentrale Gestalten und Werke (krypto-) heterodoxer Traditionsstränge erläuterte. Für Jung rangierten diese vorzugsweise unter „Mystik“ bzw. „Mystizismus“, teils aber auch unter „Pietismus“, „Separatismus“ oder „Schwärmerei“, wobei er zugleich einen „reinen“ von einem „schwärmerischen Pietismus“ unterschied (52). Der Ausdruck „Pietismus“ bzw. „Pietist“ war für Jung in der Mitte der 1780er Jahre also eine offenbar gängige Bezeichnung für kirchliche und nichtkirchliche Fromme, auch wenn ihm die Bezeichnungen „Mystik“ bzw. „Mystizismus“ und „Mystiker“ wohl wesentlich geläufiger waren. In der ersten Auflage seiner 1795 zunächst anonym veröffentlichten Szenen aus dem Geister31 Johann Heinrich Jung an Justus Christoph Kraft in Frankfurt/Main, Marburg, 06.04.1791, abgedruckt in: ders., Briefe [s. Anm. 1], 148 f., hier 148. 32 Heinrich Stilling: Theobald oder die Schwärmer. Eine wahre Geschichte. Mittelmaß die beste Straß. 2 Bde., Frankfurt/Main, Leipzig 1784/85, hier Bd. 1, 7. Die folgenden Seitenangaben im Text in Klammern beziehen sich auf diesen Band.

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reich publizierte er dann aber ein „im Schattenreich“ spielendes Kapitel über „Die Pietisten“, das scharfe Kritik an denselben transportierte.33 Der Leser wurde hier Zeuge eines Treffens der verstorbenen Pietisten Elon, Jathir und Meraja, während dessen diese zu der schmerzhaften Erkenntnis gelangen, dass ihr Leben als Erweckte keineswegs geradlinig in die ewige Herrlichkeit führt. Nach einer kurzen Diskussion mit einem Engel über die Frage „was erweckt seyn ist“ (267), müssen sie sich von diesem schwere Vorwürfe anhören: Ihr vermiedet die groben Ausbrüche der Sünden, aber die feineren viel schlimmeren Unarten, geistlichen Stolz, erheuchelte Demuth, Verachtung und Verurtheilung derer, die besser waren als ihr, die hegtet und pflegtet ihr nicht allein, sondern ihr sahet sie als Eifer um das Haus Gottes an; ihr habt euch immer bemüht das zu wissen, was man thun müsse, um Gott zu gefallen, und dieses Wissen setztet ihr an statt des Thuns. Ihr bildetet euch ein Religionssistem aus Wahrheit, Unsinn, Empfindeley und Phantasie; dieses ausbreiten, nanntet ihr dem Herrn Seelen zuführen, und darinnen suchtet ihr die Erfüllung der Liebespflichten gegen den Nächsten: wer es nun nicht annahm, den hieltet ihr des Reichs Gottes nicht würdig. [. . .] So lang Ihr den Quell des Hochmuths und der Verurtheilung Anderer noch nicht in euch verstopft habt, könnt ihr nicht seelig werden. (271–273)

„Du bist vierzig Jahre erweckt“, muss Elon sich sagen lassen, „hast die ganze Zeit über dich im Anhangen an Gott im Wandel in der Gegenwart Gottes und im Bekehren deiner Brüder geübt, und noch nicht einmal die erste und unerläßlichste Pflicht des Christen: Niemand zu hassen, erfüllt.“ Von der Christentumsgesellschaft auf dieses unvorteilhafte Pietistenporträt kritisch angesprochen, meinte Jung im Juni 1796: Man sollte mir doch nicht zur Last legen, daß ich dadurch wahre Erweckte und erleuchtete Christen an den Pranger stellte. Sondern weil ich weis, daß es unter den Erweckten gar viele Pharisäer giebt, die eben darum, weil sie sich als Christen darstellen, unendlich schaden, so hab ich geglaubt, gegen diese vorzüglich zeugen zu müßen. Christus grif keine Menschenclaße schärfer an als die fromm Scheinenden. Und warlich! ich habs erfahren, daß es diese gefährliche Menschen unter den Gesellschaften der Erweckten mehr giebt, als man glaubt. Indessen will ich in Zukunft statt Pietist christlicher Pharisäer sagen.34

Um dies zu untermauern, titulierte Jung ab der 1800/01 dann in zwei Bänden erschienenen zweiten Auflage seiner Scenen aus dem Geisterreich das vormals mit „Die Pietisten“ überschriebene Kapitel um in „Die Pharisäer“ und erläuterte dazu, dass er „das Wort Pietisten in christliche Pharisäer verwandelt“ 33 [Johann Heinrich Jung:] Scenen aus dem Geisterreiche. In meines Vaters Haus giebts viele Wohnungen. Frankfurt/Main 1795, 260–274. Die folgenden Seitenangaben im Text in Klammern beziehen sich auf diese Publikation. 34 Johann Heinrich Jung an Karl Friedrich Adolf Steinkopf, Marburg, 12.06.1796, abgedruckt in: Ders., Briefe [s. Anm. 1], 183 f. Das folgende Zitat 184. Vgl. auch Jung an Steinkopf, Marburg, 12.02.1797 und 08.09.1797 (ebd., 194–196, 215 f.).

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habe, „weil der falsche Pietist im eigentlichen Verstand des Worts ein christlicher Pharisäer“ sei.35 Zudem präsentierte er ein neues Kapitel „Die Pietisten“, in dem sich deren Jenseitsaussichten zwar wesentlich günstiger, aber auch noch keineswegs konfliktfrei gestalteten.36 Jungs eigene Präferenzen wurden hier insofern ganz deutlich, als Gerhard Tersteegen in der neuen jenseitigen Szene als ultimativ wahrer Christ und Vermittler zwischen den um wahres Christsein konkurrierenden Pietisten auftrat. Seine weiterhin bestehenden Probleme mit dem Begriff „Pietisten“ erläuterte er im Vorwort so: Ich wünschte so sehr, daß man immer die Sache bey dem rechten Namen nennte – wer die Lehre Christi treu befolgt, und an Ihn, als den eingebohrnen Sohn Gottes und Welt-Erlöser glaubt, der soll nicht Pietist sondern Christ heißen, und das deswegen, weil man mit dem Wort Pietist den Begriff eines Frömmlers, das ist eines Menschen verbindet, der sich äußerlich durch fromme Gebärden, Reden und Heiligenschein auszeichnet, innerlich aber ein Grab voller Moder und Verwesung ist. Da nun die große Welt überhaupt das Wort in diesem Sinn nimmt, so finde ich es äußerst unschicklich, wenn wahre Christen Pietisten heißen wollen, und es mir übel nehmen, daß ich aus eben dem Grunde dies Wort an den Pranger stellte.37

Im Dezember 1797 hatte er bereits nach Basel geschrieben: „Jezt nun kein Wort mehr! – ich will das Wort Pietisten gar nicht mehr, nicht mündlich, nicht schriftlich brauchen; ists ja doch ein SectenName geworden. Forthin solls nur Nichtchristen, Namchristen, Scheinchristen und Christen geben. Alle gewisse Partheyen bezeichnende Namen sollten vermieden werden.“38 Jungs großes Versprechen vom Oktober 1796, „das Wort Pietist nie wieder im übelen Sinne zu gebrauchen“, hatte also nicht lange gehalten. Letztlich hielt er es doch nicht für realistisch, die eingeschliffene pejorative Bedeutung zu überwinden. Zur Beschreibung wahren Christseins bevorzugte Jung weiterhin den Ausdruck „Mystik“ und verfasste als Vorrede zu der 1799 erschienenen und in frommen Kreisen sehr beliebten Pilgerreise zu Wasser und zu Lande seines Siegerländer Landsmanns Johann Christian Stahlschmidt eigens auch eine „Berichtigung der gewöhnlichen Begriffe von der Mystik“.39 Hier setzte er 35 Heinrich Stilling: Scenen aus dem Geisterreiche. Zweyte vermehrte u. verbesserte Ausgabe. In meines Vaters Haus giebts viele Wohnungen. Bd. 1, Frankfurt/Main 1800, Vorrede vom 03.01.1799, zit. n. ders.: Sämmtliche Werke. Bd. 2. Stuttgart 1841, 5–8, hier 6. 36 Es handelte sich um das 8. Kapitel des 1801 erschienenen 2. Bandes der 2. Auflage der Szenen aus dem Geisterreich (241–260). 37 Jung-Stilling, Vorrede zur 2. Auflage der Szenen aus dem Geisterreich [s. Anm. 35], 6 f. 38 Johann Heinrich Jung an Karl Friedrich Adolf Steinkopf, Marburg, 17.12.1797, abgedruckt in: Ders., Briefe [s. Anm. 1], 218–220, Zitat 219. 39 Johann Heinrich Jung: Vorrede. Berichtigung der gewöhnlichen Begriffe von der Mystik [26.06.1799], in: [Johann Christian Stahlschmidt]: Pilgerreise zu Wasser und zu Lande oder Denkwürdigkeiten der göttlichen Gnadenführung und Fürsehung in dem Leben eines Christen [. . .]. Nürnberg 1799, III-XXXVI. Die folgenden Seitenangaben im Text in Klammern beziehen sich auf diese Publikation.

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„Mystik“ gleich mit wahrem und zugleich vernunftgemäßem evangelischem Glauben und bezog sich dabei wieder auf Gerhard Tersteegen, den er als „wahre[n] Reformator der Mystick“ bezeichnete (XV). Auch die Herrnhuter hätten solchen wahren Glauben, meinte Jung, würden sich nur anders ausdrücken. Und der wahre Pietist, dem es um „die Vereinigung, oder innere Geistesgemeinschaft und Verbrüderung zwischen allen Kindern Gottes“ ginge, gehöre auch dazu (XIX).40 5. Ausblick: Die weitergehende Diskussion im 19. Jahrhundert Ausblickend sei erwähnt, dass „Pietismus“ auch im 19. Jahrhundert eine umstrittene Kategorie blieb41 und dass man deshalb in Kreisen, die weiterhin an pietistische Traditionen anzuknüpfen suchten, mit dem Begriff nach wie vor vorsichtig umging. Jung-Stilling z. B. bemerkte gegenüber der Christentumsgesellschaft 1800 erfreut: „Die Erweckungen nehmen zu, und die Gemeine des Herrn wächst intensive und extensive.“42 In seiner populären Zeitschrift Der Graue Mann sprach er außer von den „Erweckten“ am liebsten von Tersteegianern, Mystikern und Herrnhutern.43 Auch August Hermann Niemeyer in Halle griff 1809 auf den Ausdruck „Mystiker“ zurück und meinte damit „alle wahrhaft fromme Charaktere, die das ganze innerste Wesen der Religion in sich aufgenommen haben, das eben sowohl auf Empfindungen als Vorstellungen, auf einem Ahnden wie auf einem Erkennen, auf einem Glauben wie auf einem Wissen beruht“.44 Diese wollte er von „Schwärmerey oder [. . .] einem sinnlosen Mysticismus“ aber deutlich unterschieden wissen. Auf eine solche Unterscheidung von wahrer und falscher Mystik griff 1828 auch der Berliner Pfarrer Wilhelm Hossbach als erster Verfasser einer Geschichte des Pietismus in Gestalt einer Biographie Philipp Jakob Speners zurück.45

40 Vgl. hierzu auch Johann Heinrich Jung an Johann Ball, Marburg, 01.03.1800 (Stadtarchiv Siegen Sammlung 342, Nr. 22). 41 Vgl. u. a. Georg Wilhelm Krause: Historische und psychologische Bemerkungen über Pietisten u. Pietismus. Crefeld 1804; Karl Weihe: Gottreich Ehrenhold Hartog, der als wohlverdienter Prediger auf der Radewig in Herford, nach funfzigjähriger Amtsführung im 78sten Lebensjahre den 2ten Januar 1816 gestorben, in seinem Leben und Wirken geschildert: nebst Beantwortung einiger Fragen über Pietismus. Herford 1820 (Neuedition Leipzig 2010); Christian Märklin: Darstellung und Kritik des modernen Pietismus. Ein wissenschaftlicher Versuch. Stuttgart 1839. 42 Johann Heinrich Jung an die Christentumsgesellschaft in Basel, Marburg, 08.05.1800 (UB Basel Archiv ChristG, D V 20, 100; abgedruckt in ders., Briefe [s. Anm. 1], 244–246, Zitat 245). 43 Vgl. z. B. Der Graue Mann, Heft 24, 1811. 44 August Hermann Niemeyer: Leben Charakter und Verdienste Johann August Nösselts. Halle 1809, XIIIf. Das folgende Zitat XIII. 45 Peter Wilhelm Heinrich Hossbach: Philipp Jakob Spener und seine Zeit. 2 Bde. Berlin 1828 (21853; 31861).

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In seiner Halleschen Universitätsgeschichte von 1817 arbeitete auch Niemeyer vorübergehend offensiv mit dem Begriff „Pietismus“ – nicht aber, ohne eine abschließende Beurteilung desselben dezidiert dem Kompetenzbereich des Ewigen zuzuweisen: Wie viel aber dadurch wirklich erreicht, und in die Gesinnungen und das Leben der Menschen übergegangen, wie weit es dem Pietismus gelungen ist, echte Pietät unter den Lehrern und Gliedern der Kirche zu verbreiten, die Sitten zu bessern und so die ersehnte bessere Zeit herbeyzuführen, dieß steht geschrieben in dem Buche dessen, der allein das Herz des Menschen kennt, und ungetäuscht von der sichtbaren Form menschlicher Handlungen, den innersten Geist derselben durchschaut.46

46 Vgl. August Hermann Niemeyer: Die Universität Halle nach ihrem Einfluß auf gelehrte und praktische Theologie in ihrem ersten Jahrhundert, seit der Kirchenverbesserung dem dritten. Der Säcularfeyer der Reformation gewidmet [. . .]. Halle, Berlin 1817, LVI.

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REZENSIONEN

Andreas Holzem: Christentum in Deutschland 1550–1850. Konfessionalisierung. Aufklärung. Pluralismus. 2 Bde. Paderborn: Ferdinand Schöningh 2015. – 1485 S. Ziel dieser Rezension ist es nicht, das beeindruckende neue Werk des Tübinger Kirchenhistorikers Andreas Holzem insgesamt zu würdigen: drei Jahrhunderte Christentumsgeschichte in Deutschland von der Mitte des 16. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts und somit die ganze Wegstrecke von der Konfessionalisierung bis hin zum Pluralismus. Es kann im Rahmen dieser Besprechung nur darum gehen, den Teil zu würdigen, den Holzem dem Pietismus gewidmet hat, das ist das sechste Kapitel mit einem Umfang von 54 Seiten (weniger als fünf Prozent des Gesamtwerks und deutlich weniger als das siebte Kapitel, das 127 Seiten umfasst, in dem Holzem das Thema Aufklärung erörtert) . Originell ist der Einstieg, den Andreas Holzem wählt. Er nähert sich dem Thema Pietismus, indem er schildert, wie Christine Rosine Barbara Roos, die Ehefrau des Bengelschülers Magnus Friedrich Roos, ihr schweres Schicksal auf sich nahm und religiös deutete. Anschließend stellt Holzem Christine Roos die Bengeltochter Rosine Williardts gegenüber, die mit ihrem nicht minder schweren Schicksal zeitlebens haderte – zwei Episoden, zudem zwei Episoden, in denen Frauen im Zentrum stehen, die in der Lebenswelt des Pietismus fest verankert waren. Ehe Holzem aber weiter auf die Bedeutung des Pietismus eingeht, lässt er seine Leser wissen, dass der Pietismusbegriff schon zu Speners Zeiten umstritten war und dass auch in jüngster Zeit eine prinzipielle Kontroverse über Umfang und Charakteristika des Pietismus zwischen den Herausgebern der vierbändigen Geschichte des Pietismus auf der einen Seite und Johannes Wallmann auf der anderen Seite entstanden sei. Er fügt an, wenn er in seiner Darstellung des Pietismus mit einem Abschnitt über Spener beginne, dann nicht, um „in diesen Auseinandersetzungen um den Pietismusbegriff Position zu beziehen“. Mit seiner Konzeption widerspreche er nicht der Geschichte des Pietismus. Vielmehr werde sich „pragmatisch zeigen müssen, welcher Zugriff auf Dauer besser geeignet ist, die komplexen Linien der Forschung plausibel zu organisieren“. In seinem Buch werde „eher ein religionsphänomenologischer Weg gewählt, um den Pietismus als Verschränkung von Theologie und Religiosität, kirchlichen und sozialen Projekten, Vergesellschaftungsformen und Lebensentwürfen nachzuzeichnen“ (670). Das klingt vielversprechend. Holzems „religionsphänomenologischer Weg“ verläuft in zwei Etappen, wobei er die erste Etappe wiederum in drei Abschnitte gegliedert hat: In einen längeren Abschnitt über „Die ecclesiola in ecclesia und die ‚Hoffnung besserer Zeiten‘. Pietismus als Wirkungsgeschichte Philipp Jakob Speners“, in einen weiteren, ebenfalls längeren Abschnitt über „Wiedergeburt und Waisenhaus: Der Halle’sche Pietismus und seine Prägung durch August Hermann Francke“ sowie in einen etwas kürzeren Abschnitt mit dem Titel „Separatisti205

sche Konventikel und kirchliche Integration: Das württembergische Pietismusmodell“. Holzems Fazit: „Blieb Speners Pietismus nach dem Scheitern der Frankfurter Collegia ein vorwiegend literarisches und auf den Ausbau von Personennetzwerken ausgerichtetes Projekt, stand Francke für den Zusammenhang von Sozialfürsorge und Erziehung, so realisierte sich in Württemberg ein drittes Modell: Hier wurde der Pietismus im Lauf des 18. Jahrhunderts eine in die Landeskirche eingebettete Lebensform in relativ friedfertiger Koexistenz mit der Orthodoxie“ (695). Holzem geht es also darum, Profile zu charakterisieren, Differenzen und Varianten zu markieren, Wesentliches herauszuarbeiten und zu analysieren. Mit Gewinn hat er die neuere Pietismusliteratur ausgewertet. Seine Darstellung ist anregend, konzis und auf der Höhe der Forschung. Eigentlich hätte Holzem nicht von drei, sondern von vier „Modellen“ sprechen müssen. Denn ein weiteres Kapitel widmet er dem „Pluralismus pietistischer Gruppenbildungen und Geschichtsentwürfe“, also „Philadelphia“, „Unpartheiische“ Historie und „Blut und Wunden“. Nach Holzems Darlegungen kann kein Zweifel daran bestehen, dass der „Radikalismus, der durch seinen kirchenfernen Separatismus, durch seine bekenntnisfernen Heterodoxien und durch seine Tendenz zum sozialen Nonkonformismus bestimmte“ eigene Lebenswelten besaß (701). Holzem ist aber der Überzeugung, dass in den „gängigen Pietismus-Handbüchern“ den Radikalen zu viel Platz eingeräumt werde. Deshalb beschränkt er sich in seiner Darstellung dieser Gruppierungen auf wenige Seiten, so zum Beispiel da, wo er über die Herrnhuter Brüdergemeine schreibt, auf gerade einmal zwei Seiten. Da werden dann viele Fragen gar nicht angeschnitten und andere bleiben offen. Dass viele der separatistischen Pietisten in die Neue Welt auswanderten und dort versuchten, ihr Leben ganz ohne staatliche Einflüsse zu organisieren, thematisiert er nicht. Ebenso wenig geht er auf die Gründung der Christentumsgesellschaft ein und auf die zahlreichen Aktivitäten, die von Basel aus, aber in enger Kooperation mit erweckten Kreisen in Süddeutschland auf den Weg gebracht wurden. Der Erweckungsbewegung widmet er in den Kapiteln über das 19. Jahrhundert nur einige wenige Zeilen. Holzems eigener Zugriff auf das Thema Pietismus wird am deutlichsten im Kapitel „Pietismus als Lebensform“. Hier analysiert er „Heiligung und Wiedergeburt“, „Vergemeinschaftung in der Absonderung“, „Geistliches Leben“, „Private Autorschaft“, „Frauen im Pietismus“ sowie die „Hoffnung besserer Zeiten“. Hier gelingt es ihm, die wesentlichen Charakteristika pietistischer Lebensweise prägnant herauszuarbeiten und die Leser in die eigenartige, faszinierende und von klaren Glaubensvorstellungen geprägte Lebenswelt der Pietisten einzuführen. Hier zeigt sich, wie reich der wissenschaftliche Ertrag ist, wenn sich ein kluger, an den systematischen Fragen der Religionssoziologie interessierter Kirchenhistoriker einem Thema wie dem Pietismus nähert. Nicht übersehen seien allerdings auch die Defizite einer solchen Vorgehensweise. Denn je stärker Holzem bestimmte besondere Eigenarten und Denk206

weisen „der“ Pietisten herausarbeitet, desto stärker treten die historischen Kontexte in den Hintergrund. Anders formuliert: Holzem ist es bei seinem Bemühen, die Besonderheiten des Pietismus zu erfassen, nicht immer gelungen, deren Leben konsequent in die historischen Zusammenhänge einzubetten und damit zu historisieren. Zwei Desiderata seien abschließend angemerkt. Obwohl Holzem etwa in den Kapiteln über die Konfessionalisierung die Veränderungen in beiden großen Konfessionen beschreibt, fragt man sich als Leser, ob es denn im späten 17. und im frühen 18. Jahrhundert innerhalb des deutschen Katholizismus nicht auch Frömmigkeits- und Erneuerungsbewegungen gab, die sich in einer gewisse Parallele zum Pietismus entwickelten, so etwas wie einen „deutschen Jansenismus“ oder einen „deutschen Quietismus“. Von einem katholischen Kirchenhistoriker wie Holzem hätte ich mir gerade an dieser Stelle einige weiterführende Hinweise erhofft. Wenn es solche Bewegungen im damaligen deutschen Katholizismus nicht gab, hätte er zumindest erklären können, warum dies so war. Das ist der eine Punkt. Ferner hätte ich mir gewünscht, dass Holzem den Pietismus mit seinen verschiedenen Varianten in einen größeren Rahmen, in den Rahmen einer europäischen Christentumsgeschichte stellt. Was unterschied den Pietismus vom Puritanismus, was von den Quäkern, was vom Methodismus? Welche Ähnlichkeiten und welche persönlichen und literarischen Querverbindungen gab es zwischen Pietisten und den Anhängern des Jansenismus und den Vertretern des Quietismus? Wenn Holzem zu diesen Fragen nur wenige Abschnitte geschrieben hätte, hätten die Leser erfahren können, wie bedeutend – oder auch wie unbedeutend – die Geschichte des mitteleuropäischen Pietismus tatsächlich war. Eine Antwort auf diese Frage erwarten doch alle: diejenigen, die sich heute noch in der Tradition des Pietismus sehen und die anderen, die diese Tradition nach bestem Wissen zu erforschen versuchen. Hartmut Lehmann

Kiel

Jürgen Büchsel: Gottfried Arnolds Weg von 1696 bis 1705. Sein Briefwechsel mit Tobias Pfanner und weitere Quellentexte. Halle 2011 (Hallesche Quellenpublikationen und Repertorien, 12). – X, 279 S.; Ill. Gottfried Arnold dürfte einer der bekanntesten und auf jeden Fall wirkmächtigsten Vertreter des radikalen Flügels des Pietismus sein. Schon sehr bald, nachdem sich die wissenschaftliche Kirchengeschichtsforschung intensiver mit der Erforschung des Pietismus beschäftigte, wurde ihm eine erste größere Monographie gewidmet, nämlich diejenige von Franz Dibelius aus dem Jahr 1873. Eine ganze Reihe von Untersuchungen folgte – zuletzt vor allem 207

diejenigen von Hans Schneider, die u. a. in Bd. 1 seiner Gesammelten Aufsätze zusammengestellt sind. Der Vf. des vorliegenden Werkes hatte sich schon in seiner Dissertation aus dem Jahr 1970 mit Gottfried Arnold beschäftigt, so dass die jetzige Beschreibung des Abschnittes der arnoldschen Biographie, die in die für ihn sehr turbulente Zeit zwischen 1696 und 1705 einführt, eine späte Nachlese der vierzig Jahre zurückliegenden Arbeit darstellt (XI). Nach einer knappen Einleitung, die den Leser überblicksartig mit der gesamten Biografie Arnolds und den hier vorgelegten Texten bekannt macht, teilt sich die Arbeit in drei Hauptteile. Zunächst wird „Arnolds Weg in der Zeit von 1699 bis 1702“ vorgestellt (17–99), es folgt im zweiten Teil (101– 142) eine Interpretation des Briefwechsels zwischen Arnold und Pfanner, bevor dann im dritten Teil (153–254) die vorher besprochenen Quellentexte ediert werden. Dazwischen schiebt sich ein kleiner Abschnitt mit „Abschließende[n] Bemerkungen zu Arnolds Biographie“ (143–151). Im Anhang werden zu guter Letzt die mehr als 400 Blätter umfassende Arnold-Akte in der Forschungsbibliothek Gotha (Chart. 420) mit ihren 58 Einzelnummern genau aufgelistet. Das Gleiche gilt auch für die Arnold betreffenden Teile aus Bd. VI der Handakte von Johann Heinrich Sprögel, die unter der Signatur AFSt/H D 56 f. im Archiv der Franckeschen Stiftungen zu Halle zu finden ist. Als Drittes schließt sich noch die Zusammenstellung der Stücke an, die aus der Akte „Rep. A 22, Nr. 156“ im Landeshauptarchiv Sachsen-Anhalt in Magdeburg verwendet wurden. Diese Listen sind hervorragende Ergänzungen zu der Liste der Arnold-Literatur, die von Hans Schneider erstellt wurde (Gottfried Arnold. Hg. v. Dietrich Blaufuß u. Friedrich Niewöhner. Wiesbaden 1995, 415–424). Selbstverständlich fehlen weder Personen- und Ortsregister, noch Angaben zu den benutzten Quellen und der Sekundärliteratur. Etliche Faksimile verschiedener Briefe und Abbildungen von Gottfried Arnold und Tobias Pfanner runden den Band ab. Gottfried Arnold (1666–1714), dessen 350. Geburtstag im Jahr 2016 gefeiert wurde, ist vor allem bekannt durch seine voluminöse, vierbändige Unpartheyische Kirchen- und Ketzerhistorie, die drei Auflagen, jeweils mit allerlei Ergänzungen, erlebte und die schon Goethe als junger Mann gelesen hat. Obwohl der schon erwähnten ersten wissenschaftlichen Biographie zu Arnold einige (teilweise unveröffentlichte) Monographien und zahlreiche Aufsätze, Artikel und längere Erwähnungen in Büchern zu verschiedenen Themen des Wirkens folgten, zu der auch die schon genannte Dissertation des Autors der vorliegenden Arbeit zu rechnen ist, fehlt nach wie vor eine umfassende biographische Abhandlung. Auch mit dem hier besprochenen Werk wird lediglich ein Teilabschnitt behandelt, der durch den edierten und kommentierten Briefwechsel mit Tobias Pfanner Quellen, die der Vf. schon in seiner Dissertation erwähnt hat, bereitstellt und sich insbesondere auf die kritischen Phasen in Arnolds Leben und die sog. „Brüche“ in seinem Leben konzentriert. Sie setzt bald nach der Veröffentlichung der Kirchen- und Ketzerhistorie ein, auf 208

die Tobias Pfanner in einem Bedencken (1700) antwortet. Pfanner (1641– 1716), Jurist und nach verschiedenen Stationen seit 1699 Hofrat in Gotha, war vielseitig, vor allem an der Kirchengeschichte, interessiert und unterhielt einen umfangreichen Briefwechsel. Zu seinen Korrespondenten gehörten Pietisten wie August Hermann Francke ebenso wie der Gegner des Pietismus Ernst Salomo Cyprian (5–9). Diesem kündigte er sein Bedencken an, in dem er Arnolds Darstellung, vor allem der Alten Kirche und der neueren Zeit, widerlegen wollte (7), wenngleich er der Ketzerhistorie auch nicht grundsätzlich widersprach. Eng verwoben mit der Debatte zwischen Pfanner und Arnold um die Ketzerhistorie ist auch die Auseinandersetzung mit Johann Friedrich Corvinus (gest. 1724), die bisher in der Forschung noch keine hinreichende Berücksichtigung gefunden hat (51). Aus der gesamten Darstellung des behandelten Lebensabschnitts sei hier lediglich auf eine bedeutsame Neuinterpretation der Ereignisse um Arnolds Hochzeit und die Annahme einer Pfarrstelle aufmerksam gemacht. Der Vf. nimmt die „bis heute gängige“ (80) Annahme auf, Arnold habe heiraten wollen und sei deswegen genötigt gewesen, sich nach einem Pfarramt umsehen zu müssen. Beides wird als Bruch mit seinen bis dahin veröffentlichten Ansichten zu Ehe und kirchlichem Dienst bewertet. Der Vf. weist anhand der von ihm untersuchten Quellen nach, dass der Ausgang die Auseinandersetzungen in Quedlinburg waren, die Arnold zwangen, sich anderswo eine neue Aufgabe zu suchen. Durch die Mitglieder der dort eingesetzten königlichen Kommission Paul Anton und Johann Samuel Stryk sei er darauf aufmerksam gemacht worden, dass die verwitwete Herzogin Sophie Charlotte von Sachsen-Eisenach (1671–1717) einen Hofprediger suche (76 f.). Für die Übernahme dieses Amtes sei es jedoch unabdingbar gewesen, verheiratet zu sein (81). Entsprechend plädiert der Vf. dafür, „die Reihenfolge der beiden Ereignisse“ gegenüber der bisherigen Arnoldforschung umzukehren (80). In den folgenden Abschnitten wird ausführlicher dargelegt, was der Vf. schon in seiner Dissertation skizziert hatte: Die argumentative „Begleitung“ seiner Schritte zur Ehe und ins Kirchenamt, die Gegnern und Freunden Unverständnis hervorrief. Am Ende wiederholt er seine These von der „inneren Kontinuität“, die Arnold trotz der scheinbaren „äußeren Brüche“ beibehält (147). Beide Gedanken finden sich schon in der Dissertation des Vf. (dort: 118), werden hier jedoch durch das edierte Quellenmaterial belegt und breiter dargestellt. Der letzte große Abschnitt des vorliegenden Bandes erhält neben den 17 Briefen aus der Zeit vom August 1700 bis zum Dezember 1702, die zwischen Arnold und Pfanner gewechselt wurden (153–191), Briefe Arnolds an andere Adressaten: Johann Heinrich May in Gießen (diese sind schon an anderer Stelle publiziert worden), an August Hermann Francke (aus den Beständen des Archivs der Franckeschen Stiftungen), an Ernst Salomo Cyprian (aus der Forschungsbibliothek Gotha), an die königliche Kommission in Quedlinburg (aus dem Landeshauptarchiv Magdeburg) und schließlich an Joachim Lange 209

(aus dem Archiv der Franckeschen Stiftungen). Diese Briefe werden ergänzt durch weitere Quellenpublikationen, die für den im Band dargestellten Lebensabschnitt Arnolds bedeutsam sind, darunter die Briefe, die zwischen Corvinus und Pfanner gewechselt wurden. Eine Edition des Quedlinburger Separatismusedikts vom 31. Juli 1700, das einen vollständigeren Text als Dibelius bietet und zudem diplomatisch getreu ist, wird hinzugefügt (238 f.). Der Brief Arnolds an Spener vom 31. Oktober 1700, den dieser am 25. Januar 1701 beantwortet (Philipp Jakob Spener: Letzte Bedencken. Bd. 3. Halle 1711, 582–588), wird anhand der in Gotha vorliegenden Abschrift ediert. Bei der Lektüre des Bandes wird deutlich, was der Vf. schon in seinem Vorwort äußert: Die vorliegende Arbeit schließt an seine Dissertation an und belegt die dortigen Thesen mit den hier edierten Texten und stellt sie ausführlich dar. Dass der Briefwechsel zwischen Arnold und Pfanner gerade zum Verständnis dieser Zeit der „größten inneren und äußeren Kämpfe“ in Arnolds Leben eine interpretatorische „Schlüsselfunktion“ innehat, wird beeindruckend gezeigt. Für die weitere Arnold-Forschung und vor allem für eine am Ende vielleicht einmal zu schreibende Biografie bietet die vorliegende Arbeit einen wichtigen Baustein. Klaus vom Orde

Halle a. d. Saale

Tim Christian Elkar: Leben und Lehre. Dogmatische Perspektiven auf lutherische Orthodoxie und Pietismus. Studien zu Gerhard, König, Spener und Freylinghausen. Frankfurt am Main: Peter Lang 2015. – 347 S. Die hier anzuzeigende Marburger Dissertation gliedert sich in fünf Teile, deren erster (A. Einleitung, 15–51) in Forschungsstand und Methode einführt, um in den beiden folgenden zunächst (B) die „historische[n]“ (53–70) und (C) die „dogmatische[n] Rahmenbedingungen“ (71–104) zu beschreiben. Im Hauptteil (D. Das Heil, 105–293) unternimmt der Verfasser einen materialdogmatischen Vergleich zwischen den beiden orthodoxen Dogmatiken von Johann Gerhard (Loci theologici, 1610–1622) und Johann Friedrich König (Theologia positiva acroamatica, 1664) einerseits und den pietistischen Glaubenslehren Speners (Die Evangelische Glaubenslehre, 1688) und Johann Anastasius Freylinghausens (Grundlegung der Theologie, 1703). Dabei werden nach einleitenden Überlegungen (Vergleich der theologischen Methoden, 105–127, systematische Neuordnung der dogmatischen Begriffe zur besseren Vergleichbarkeit, 127–138) im Einzelnen besprochen: der Heilsrahmen (Christologie und Pneumatologie) (138–184), der „Weg zum gerechtfertigten Sünder“ (Buße, Rechtfertigungslehre, Gnadenelemente [herkömmlich so genannter ordo salutis]) (184–216), die „Heilsmittel“ (Wort und Sakramente) (216–245), die Wirklichkeit Gottes im Menschen (Glaube, gute Werke, 210

Kreuz, Gebet, Buße) (245–264), die „Ekklesiologie“ (264–278) und die „Eschatologie“ (278–293). Eine Zusammenfassung E (295–316) und ein Quellen- und Literaturverzeichnis (F) (317–347) beschließen das Buch. Die Arbeit versteht sich als ein „Beitrag zur Dogmatik“ (Vorwort, 7), weshalb sich der rezensierende Kirchen- und Theologiehistoriker schwer tut, den wissenschaftlichen Ertrag der Arbeit gerecht zu beurteilen. Der Autor hat es sich zum Ziel gesetzt, die historisch-abständige Materie kritisch zu durchdenken (vgl. Vorwort, 7). Sein materialdogmatischer Vergleich kann vielleicht in apologetischer Hinsicht (vgl. Vorwort, 7: „Leben und Lehre sind zwei Grundkategorien der Dogmatik wie der Theologie insgesamt. Die Vermittlung der beiden ist Aufgabe jeglicher theologischer Wissenschaft wie der gemeindlichen Praxis.“) ein befriedigendes Ergebnis zeitigen, für die historische Perspektive ist er weniger tauglich, weil die allgemeinen historischen, mentalitäts- und sozialgeschichtlichen Umstände nicht in die Betrachtung einbezogen werden und gerade mehr die Kontinuität betont, als die Besonderheit der historischen Phänomene scharf konturiert wird. Es nimmt daher nicht Wunder, dass sich die anfangs aufgestellten fünf Thesen (49–51) materialdogmatisch verifizieren lassen (s. „Zusammenfassung“), dass nämlich (1) methodisch orthodoxe und pietistische ‚Dogmatiken‘ je eine gemeinsame theologische Perspektive aufweisen, die als solche zu vergleichen sind, dass sich ferner die Eigenart der lutherischen Orthodoxie (2) als historisch geforderte Ausdifferenzierung und Präzisierung der theologischen Lehre erfassen lässt, die der Pietismus (3) weitgehend übernimmt, sie aber letztlich (4) anthropologisch zuspitzt. Zusammenfassend könnte man dann sagen (5), dass in der lutherischen Orthodoxie „die Beziehung der Lehre zum Leben etwas zu kurz kommt“, im Pietismus „die Rechtfertigung aus dem Glauben in eine gewisse Abhängigkeit vom christlichen Leben zu geraten“ droht (51). Dass ich das historisch zu harmlos finde, bedarf hier keiner weiteren Begründung. Überhaupt zeigt die Arbeit, wie schwierig es ist, sich in die ganz fremde theologische und historische Gedankenwelt des 16. und 17. Jahrhunderts einzuarbeiten. Das betrifft die genaue Beschreibung der theologischen Termini, deren mitgedachte Kontexte, aber auch schon eine historisch korrekte Wiedergabe der Sachverhalte. Markus Matthias

Amsterdam

Roger E. Olson u. Christian T. Collins Winn: Reclaiming Pietism. Retrieving an Evangelical Tradition. Grand Rapids, MI/Cambridge, U. K.: William B. Eerdmans Publishing Co. 2015. – 190 S. Neuere Forschungsergebnisse über den Pietismus enthält dieser schmale Band nicht. Alle, die sich für den Pietismus interessieren, sollten ihn jedoch 211

trotzdem zur Kenntnis nehmen. Denn die beiden Autoren stellen die weithin negative Einschätzung des Begriffs Pietismus in der englischsprachigen Welt in Frage und wollen diese durch eine positive Würdigung ersetzen. Ihr Ziel ist es also, dass ihre Leser den eigentlichen Pietismus wieder entdecken („rediscover“), dass sie dessen Lehren wieder herstellen („recover“) und dass sie in die Lage versetzt werden, sich die Glaubenslehren des Pietismus wieder anzueignen und sich zu eigen zu machen („reclaim“ und „retrieve“). Warum ein, wie sie betonen, lange Zeit guter Begriff wie der Begriff Pietismus einen so schlechten Ruf bekam, ist Inhalt ihrer Überlegungen im ersten Kapitel. Sie erwähnen nicht, dass die Bezeichnung „Pietist“ schon zu Speners Zeiten kein Lob bedeutete. Vielmehr seien Albrecht Ritschl und Karl Barth an der pejorativen Bedeutung des Namens Pietismus schuld, und alle jene, die Ritschl und Barth ohne nachzudenken folgten. Wie reich und wichtig die Tradition des Pietismus jedoch sei, erfahren die Leser in den folgenden Kapiteln. Den Vorläufern des Pietismus vom späten Mittelalter bis ins späte 17. Jahrhundert gilt das zweite Kapitel. Die beiden Autoren machen ihre Leser hier mit den in der Pietismusliteratur bekannten Namen von Thomas von Kempen über Johann Arndt und Jakob Böhme bis zu Jean de Labadie vertraut. In den nächsten beiden Kapiteln beschäftigen sie sich mit dem, was sie als den klassischen Pietismus („classical pietism“) bezeichnen: Spener und seine Pia Desideria, Francke und seine Stiftungen in Halle, die radikalen Kreise, Zinzendorf und die Herrnhuter, schließlich die württembergischen Pietisten um Bengel und Oetinger. Im folgenden Kapitel unternehmen Olson und Collins Winn den Versuch, die wesentlichen Elemente des Pietismus („authentic hallmarks“) zu charakterisieren. Entscheidend seien (hier summarisch genannt und etwas frei übersetzt) die Herzensfrömmigkeit, die Bekehrung zu einem lebendigen Christentum, die Liebe zur Bibel, die Gemeinschaft der wahren Gläubigen und deren Wille, die Welt zu verändern, auch deren Offenheit für die Ökumene aller Kinder Gottes. Dass diese Punkte nicht für alle Strömungen des Pietismus zutreffen, scheint den beiden Autoren nicht relevant. Ebenso wenig werden die Leser in die diversen pietistischen Streitereien eingeführt. Das folgende Kapitel, in dem Olson und Collins Winn darlegen, wie viele pietistische Gruppen in die Neue Welt auswanderten und wo sie sich dort niederließen, dürfte für amerikanische Leser besonders interessant sein. Deutsche Leser werden sich dagegen wahrscheinlich mehr dem nächsten Kapitel zuwenden, in dem die beiden Autoren die „Neuerfindung“ („Reinvention“) des Pietismus im 19. Jahrhundert erörtern. Schleiermacher und Kierkegaard spielten dabei eine wichtige Rolle, wie sie darlegen. Noch wichtiger sei aber die Erweckungsbewegung gewesen. Mehr Einfluss als Schleiermacher und Kierkegaard hätten Tholuck und Wichern gehabt sowie Blumhardt Vater und Sohn. Im letzten Kapitel stellen Olson und Collins Winn vier Theologen als Beispiele dafür vor, wie pietistisches Gedankengut auch im 20. Jahrhundert namhafte evangelische Theologen beeinflusste: Drei Amerikaner, die in Deutschland kaum bekannt sein dürften und einen hierzulande 212

sehr wohl bekannten deutschen Theologen – Donald G. Bloesch, Richard Foster, Stanley J. Grenz und Jürgen Moltmann. Für Olson und Collins Winn hilft das reiche Erbe des Pietismus, sich auch heute noch auf angemessene Weise mit den wichtigen Fragen der evangelischen Theologie zu beschäftigen. Auf verschiedene Punkte legen sie besonderen Wert. Wer sich in der pietistischen Tradition auskenne, sich gar mit den Lehren der Pietisten identifiziere, handle wie ein Seelsorger und nicht wie ein Lehrer, vermeide unnötige Spekulationen und konzentriere sich auf die biblischen Texte, bemühe sich um ökumenische Offenheit und lasse sich bei seinen theologischen Erwägungen von Gebet und Erbauung leiten. Geschehe dies, könne der Pietismus auch heute noch eine Quelle für die religiöse Erneuerung der evangelischen Christenheit sein. Gegenstimmen erfahren die Leser nicht. Von der neueren deutschen Literatur zur Geschichte des Pietismus haben die beiden Autoren nur den kleineren Teil ausgewertet. In der entsprechenden amerikanischen Forschung kennen sie sich besser aus. Doch darauf kommt es nicht eigentlich an. Wichtiger ist der von ihnen unternommene Versuch, den Begriff des Pietismus im Englischen von pejorativen Bewertungen zu befreien und damit für Wissenschaft wie Gemeindeleben wieder attraktiv zu machen. Zu fragen ist, was ihre Initiative bedeutet. Erinnern wir uns: Vor einigen Jahren hat der inzwischen verstorbene große englische Kirchenhistoriker Reginald Ward vorgeschlagen, den gesamten älteren Pietismus in die Rubrik „Early Evangelicalism“ aufzunehmen, also bei internationalen Diskussionen auf den Pietismusbegriff möglichst ganz zu verzichten. Wie Ward betonte, können die Evangelikalen von heute auf diese Weise erfahren, wer eigentlich ihre geistigen Vorfahren waren. Meines Erachtens war Wards Vorschlag jedoch nicht unproblematisch, weil der Begriff „Evangelikalismus“ im Deutschen einen durchaus eigenen kirchenpolitischen Sinn hat und deshalb in wissenschaftlichen Werken über den Pietismus nicht ohne weiteres verwendet werden könnte. Auch im Englischen ist der Sinn des Begriffs „Evangelicalism“ durchaus nicht eindeutig. Sollten Olson und Collins Winn mit ihren Ausführungen viele Kirchenhistoriker überzeugen, wäre nun jedoch zu fragen, ob in Forschungsarbeiten über den Pietismus im Englischen/Amerikanischen künftighin nicht mehr Wards Begriff „Early Evangelicalism“ verwendet werden sollte, sondern eben doch „Pietism“ - Pietismus ohne jeden pejorativen Klang. In jedem Fall haben Olson und Collin Winns eine Debatte eröffnet, deren Ergebnisse für die internationale Pietismusforschung von großem Interesse sein dürften. Hartmut Lehmann

Kiel

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Paul Peucker: A Time of Sifting. Mystical Marriage and the Crisis of Moravian Piety in the Eighteenth Century. University Park: The Pennsylvania State University Press 2015. – 248 S. In diesem Buch erhellt Paul Peucker trotz bescheidener Quellenlage eines der umstrittensten und dunklen Kapitel in der Geschichte der Herrnhuter Brüdergemeine. Leser und Leserinnen, die mit dem Begriff „Sichtungszeit“ nicht vertraut sind, tun gut daran, mit dem letzten Kapitel des Buchs zu beginnen, das sich erstens mit der allgemeinen Frage nach dem Umgang mit archivalischen Quellen und zweitens mit der besonderen Problematik der Quellen für dieses Buch auseinandersetzt. Weil die Quellenfrage bei dieser Studie besonders wichtig ist, könnte es für einige Leser hilfreich sein, das Quellenproblem zu verstehen, bevor sie das Buch lesen. Ein Thema, das der Verfasser in dem genannten Kapitel behandelt, ist die Zuverlässigkeit archivalischer Quellen. Dass polemische Schriften von Gegnern hermeneutische Fragen aufwerfen, wie die nach ihrer Glaubwürdigkeit, macht der Verfasser deutlich: Archivalische Quellen sind alles andere als objektiv. Im Gegenteil, sie sind Resultat eines Selektions- und Redaktionsprozesses. Die Quellen, die in die Bestände einer Institution aufgenommen werden, werden in erster Linie wegen deren vermeintlicher Relevanz für die Institutionsgeschichte aufgenommen. Das kann dazu führen, dass Materialien, die wenig relevant oder gar schädlich für das Andenken einer Institution sind, nicht aufgenommen oder sogar vernichtet werden. So wird das Kollektivgedächtnis einer Institution durch den Archivar gelenkt und gestaltet. Im konkreten Fall der Sichtungszeit sind drei Redaktionsphasen zu beobachten: 1. die frühen 1750er Jahre, 2. kurz nach Zinzendorfs Tod (1760), 3. 1802, wo das einzige erhaltene Bündel von Quellen zu den Ereignissen der Sichtungszeit verbrannt wurde, mit der Absicht jede Erinnerung daran endgültig aus der Welt zu schaffen. Die Quellen, die übriggeblieben sind und die die Grundlage der vorliegenden Untersuchung bilden, werden in Kapitel 4 aufgelistet. Es sind dies: 1. Zinzendorfs Mahnbrief vom 10. Februar 1749, 2. die Protokolle der Synode zu Barby und Gnadenberg, 3. das Tagebuch des Theologischen Seminars in Marienborn, 4. die Diskurse von Johannes von Watteville über die Probleme der 1740er Jahre, 5. die Streitschriften der Nicht-Herrnhuter und Ex-Herrnhuter. In der Einleitung stellt Peucker die These auf, dass die Sichtung nicht bloß eine Zeit von Anomalien und Verirrungen war, die das gesamte Jahrzehnt der 1740er Jahre überspannt. Sie war vielmehr ein eher kurzes oder besser: Sie war das Schlussereignis, das eine lange vorbereitende Zeit beendete. Die Sichtung war „the culmination of Moravian piety of the late 1730s and 1740s“ (79). Diese Sicht steht im Gegensatz zur bisherigen Forschung, die die Sichtungszeit mit den 1740er Jahren gleichsetzt und in der Sichtung alles finden 214

will, das nach der Meinung des jeweiligen Forschers als anstößig gelten kann. Das daraus resultierende Bild der Sichtungszeit ist entsprechend unscharf. Peucker will es schärfen, und das ist ihm – trotz spärlicher Quellenlage – weitgehend gelungen. Peucker schließt sich Forschungsergebnissen von Craig Atwood an, der 1996 Zinzendorfs Mahnbrief kommentiert und herausgegeben hat. Atwood stellte fest, dass Zinzendorf diejenigen Aspekte herrnhutischer Frömmigkeit gar nicht kritisierte, die frühere Forscher als zentral für die Exzesse der Sichtungszeit betrachtet hatten. Insbesondere wird die Blut-und-Wunden-Theologie nicht als Ursache der Exzesse kritisiert; im Gegenteil, sie wird von Atwood und von Peucker als die Lösung für die Sichtung gesehen. Das erste Kapitel, „Herrnhut and Herrnhaag“, bietet einen Überblick über die Theologie und Frömmigkeit der Brüdergemeine in den ersten Jahrzehnten sowie über die Gründung der ersten zwei Siedlungen der Herrnhuter. Ein Vergleich der Theologie und Frömmigkeit der Herrnhuter und der Hallenser will zeigen, wo die Wurzeln der Sichtung in der Theologie und in Frömmigkeitspraktiken lagen. Für Zinzendorf waren die beiden Gruppen diametral entgegengesetzt: Nach ihm praktizierten die Hallenser eine Art negativer Frömmigkeit und negativer Sozialkritik und waren um rechtschaffene Verhaltensweisen bemüht. Sie vermieden pompöse Kleidung, tanzten und rauchten nicht und spielten keine Karten. Dagegen betonten die Herrnhuter die Freude des christlichen Lebens. Peucker zeigt in einer überzeugenden Weise, dass die Wertschätzung der Freude am christlichen Leben direkt zu Verspieltheit, Albernheit und letztlich zu den Exzessen der Sichtungszeit in den 1740er Jahren führte (19). Verspieltheit und Albernheit waren zentral für die Sichtungszeit, und in seiner Diskussion der Blut-und-Wunden-Theologie Herrnhuts zitiert Peucker einen Brief von Andreas Graßmann, Ältester der Gemeine in Herrnhut, in dem er Johannes Langguth (später Johannes von Watteville) wegen der Schlichtheit seiner Predigten kritisiert, in denen Letzterer die Platitude „one has to fully get into the wounds of Jesus“ bloß wiederholte (27). Der Brief ist von 1742, auf dem Höhepunkt der Blut-und-Wunden-Theologie. Besonders aufschlussreich und bezeichnend für eine fundamentale Spannung innerhalb der herrnhutischen Theologie ist Graßmanns Beobachtung, dass „whoever is simple will receive a blessing from it, but whoever uses his mind and wants to get to the core of the Bible will not agree with all of these expressions and phrases“ (27). Graßmann kontrastiert Langguths Einfalt mit der Anwendung des Verstands zum Verstehen der Bibel. Hier fasst Peucker zwei allgegenwärtige Aspekte der herrnhutischen Frömmigkeit bis zum Tod Zinzendorfs 1760 zusammen: Anti-Intellektualismus und Anti-Biblizismus. Was Letzteren betrifft, bestand die herrnhutische Frömmigkeit – vor allem in den 1740er Jahren – aus Praktiken, die nirgends in der Bibel zu finden sind, während pietistische Theologie anderer Ausprägungen oft biblizistisch und anti-traditionell war. Solche Bräuche führten zu Lehren, die – wie Peucker zeigt – eben215

falls nirgendwo in der Bibel zu finden sind. Was den Vorwurf des Anti-Intellektualismus betrifft, ist auffällig, dass der Entscheidungsprozess in der Brüdergemeine in den Händen von theologischen Laien lag. Ein Aspekt der herrnhutischen – oder genauer gesagt – zinzendorfischen Theologie, der eine nähere Betrachtung verdient, ist das Offenbarungsverständnis. Der Autor zeigt, dass unter den Herrnhutern die Meinung herrschte, dass sie im Begriff wären, eine progressive Offenbarung Gottes zu empfangen. Nach dem Tod Zinzendorfs 1760 erlebte die Brüdergemeine nicht nur eine Führungs-, sondern auch eine Autoritätskrise, denn der „conduit“ (Zinzendorf) zwischen Gott und der Gemeinde war verschwunden. Im zweiten Kapitel untersucht Peucker das Problem einer Definition der Sichtungszeit und die bisherige Historiographie. Die absichtliche Unschärfe früherer Historiker – zusammen mit dem Mangel an Quellen, von denen viele mutwillig zerstört worden waren – macht es schwierig, präzise Aussagen zu machen. Folglich haben Historiker die Sichtungszeit bisher nach ihren Antipathien definiert. Am häufigsten wurde sie „identified with the excesses of the blood-and-wounds theology“ (33). Ein zweites Thema, das Peucker hier aufgreift, ist die unterschiedliche Art und Weise, wie kontinentaleuropäische und angloamerikanische Historiker die Rolle Zinzendorfs interpretiert haben. Wieder wird Craig Atwood zitiert, der für Deutschland die Tendenz beschreibt, zwischen einem orthodox-lutherischen Zinzendorf der früheren Jahre und einem schwärmerischen Zinzendorf der 1740er Jahre zu unterscheiden. Zugleich zeige sich, so Atwood, in England und Amerika die Tendenz, zwischen der wahren mährischen Kirche und Zinzendorfs „bizarrer“ Theologie zu unterscheiden (36). Im 19. Jahrhundert waren die Herrnhuter in England und Amerika bemüht, ihre Unabhängigkeit von Herrnhut durchzusetzen, das bis 1857 die Oberaufsicht über die Weltkirche ausübte. Sie suchten ihre Identität nicht in der eher „deutschen“ Geschichte von Herrnhut, sondern in der früheren Geschichte der Unitas Fratrum und distanzierten sich von Zinzendorfs Reorganisation der Brüder (37). Eine Ausnahme von dieser Regel ist der amerikanische Historiker John Taylor Hamilton, der nicht Zinzendorf, sondern sentimentale Pietisten, die sich mit den Herrnhutern in der Wetterau verbanden, für die Sichtungszeit verantwortlich macht. Viele Historiker haben die Sichtungszeit als ein Sprach- und Verstehensproblem verstanden, wo allzu bildliche und fanatische Beschreibungen des Leidens Christi die Überhand gewannen. Es dauerte bis ca. 1900, dass die 1740er Jahre eine positivere Einschätzung erfuhren, wobei man zwischen den frühen und späten Jahren des Jahrzehnts unterschied. Die deutschen herrnhutischen Kirchenhistoriker Paul Kölbing und Wilhelm Bettermann betrachteten die 1740er Jahre als die reichste und kreativste Phase von Zinzendorfs Theologie überhaupt (41). Kapitel 3 und 4 befassen sich mit Zinzendorfs Mahnbrief vom 10. Februar 1749. Von den 23 Kritikpunkten in dem Brief nennt Peucker elf, wo Zinzen216

dorf Autoritätsfragen aufgreift. Für Zinzendorf entstanden die Exzesse der Sichtungszeit vor allem durch die Einführung von Lehren, Bräuchen und Strukturen durch Menschen, die dazu keine Autorität von den Ältesten erhalten hatten. Z. B. sei das Los ohne die richtige Autorität eingesetzt gewesen. Zinzendorf behielt für sich das Recht, zu entscheiden, wann das Los eingesetzt würde. Am Ende betrachtete Zinzendorf die Krise als eine Verschwörung mit dem Ziel, ihn abzusetzen (58 f.). Im Kapitel 5 setzt Peucker die Aufzählung von Innovationen während der Sichtungszeit fort und analysiert die neuen Lieder, die in der Zeit entstanden und für die Zeit charakteristisch sind. Viele der Lieder waren bisher nur aus Schriften der Gegner der Herrnhuter bekannt, bis vor kurzem ein kleines handgeschriebenes Liederbuch in dem Archiv in Herrnhut entdeckt wurde, das die Echtheit der Lieder bestätigte. Die Theorie, dass die Blut-und-Wunden-Theologie im Zentrum der Sichtungszeit lag, wurde durch diesen Fund widerlegt. Stattdessen ist das beherrschende Thema der Lieder die Seitenhöhle Christi als Zuflucht der Gläubigen. Die Seitenhöhle ist im Sprachgebrauch Herrnhuts Christus geworden. Die Texte sind außerdem voll von Brautmystik und reichlich ausgestattet mit Diminutivformen wie „Schätzel“, „Herzel“ und „Schätzelein“. Das Küssen, Spielen und Kuscheln nehmen in den Liedern einen zentralen Platz ein. Kapitel 6 setzt sich mit „the actual Sifting“ auseinander und beschäftigt sich mit der zweimonatigen Zeitspanne vom 6. Dezember 1748, als die ledigen Männer Herrnhaags von Christian Renatus von Zinzendorf feierlich zu „Schwestern“ erklärt wurden, bis zu Zinzendorfs Mahnbrief vom 10. Februar 1749, der die Sichtung zu einem abrupten Ende brachte. Peucker skizziert die Entscheidungen und Ereignisse dieser Zeit, während derer die Brautmystik derart gesteigert wurde, dass ledige Männer – wie ihre Schwestern – „in the arms of the husband-savior“ liegen konnten (113 f.). Die Ehe mit Christus wurde so plastisch dargestellt, dass das herrnhutische Konzept der „seligen Sünderschaft“ (ähnlich wie Luthers simul iustus et peccator) aufgelöst wurde und dem Gemeineglied alle vergangenen und künftigen Sünden vergeben wurden (117). In diesem Kontext untersucht Peucker die Möglichkeit, dass die Brüder und Schwestern, die nun alle Schwestern waren, der stark erotischen Sprache Taten folgen ließen, d. h. ob in Anlehnung an die intensivierte Brautmystik hetero- und homosexuelle Handlungen zwischen den Gemeinegliedern stattfanden (122–128). Nach Peucker hatte Zinzendorf selbst während der von beiden Geschlechtern gemeinsam gefeierten Abendmahlsfeier am 6. Mai 1747 den Grundstein für die Sichtung gelegt. Da das herrnhutische Frömmigkeitsverständnis immer die Gemeine in den Mittelpunkt stellte, überrascht es nicht, dass die Sichtung gruppendynamische Konsequenzen hatte. Die alte Struktur, in der die Gemeine nach Geschlecht und Familienstand organisiert war, wurde aufgelöst, und ein einziger Chor wurde formiert. Die Erneuerungen in Herrnhaag wurden rasch nach Herrnhut, Marienborn und Zeist verbreitet und teil217

weise implementiert. Für die Sichtung an sich macht Peucker in erster Linie Christian Renatus von Zinzendorf und Joachim Rubusch verantwortlich. Kapitel 7 beschäftigt sich mit der Zeit nach der Sichtung und den korrigierenden Maßnahmen, die unternommen wurden. Die Lösung war paradoxerweise eine Rückkehr zu der Blut-und-Wunden-Theologie, die die Krise ausgelöst hatte. Der entscheidende Unterschied war, dass man nun bemüht war, das ganze Leiden Christi im Blick zu behalten. Bilder aus dieser Zeit zeigen beispielsweise den ganzen Körper des gekreuzigten Jesus und nicht bloß die Seitenwunde. Das achte Kapitel befasst sich mit der Post-Zinzendorf-Ära, den Änderungen in der Brüdergemeine und der Gestaltung der Erinnerung der Herrnhuter an deren Vergangenheit im Allgemeinen und insbesondere an die Sichtungszeit. Nach Zinzendorfs Tod 1760 verloren Frauen rasch die Autorität, die sie einst in der Gemeine inne gehabt hatten. Die Brüdergemeine entwickelte sich zu einer protestantischen Denomination, und ihr Erscheinungsbild nach außen wurde immer konventioneller (155 f., 164). Eine neue Edition von Zinzendorfs Werken, in der „the truth, but not the whole truth“ stehen sollte, wurde ediert. Im letzten Kapitel fasst Peucker die wichtigsten Ergebnisse seiner Studie zusammen. Statt einer Sichtungszeit, die man vage als „the 1740s“ versteht, konzentriert sich Peucker auf die kurze Zeit von Dezember 1748 bis Februar 1749, wo die Lehren und Bräuche des Jahrzehnts in Ritualen mündeten, die so unaussprechlich waren, dass die Herrnhuter versuchten, die Zeugen darüber zum Schweigen zu bringen, sogar durch die Zerstörung schriftlicher Quellen. Trotz der dünnen Quellenlage ist es Peucker gelungen, Licht in dieses dunkle Kapitel der herrnhutischen Geschichte zu bringen. Mit der Akribie eines Archivars zeigt er, dass die Vorwürfe in polemischen Schriften nicht bloß als Erfindungen der Gegner abgewiesen werden sollten, sondern nach Möglichkeit mit den Äußerungen der Betroffenen verglichen werden müssen. Dass er diesen Vergleich trotz der systematischen Zerstörungen von Quellen machen konnte, ist sein Verdienst als Archivar und als Forscher. Die Studie ist ein wichtiger Beitrag zur Geschichte der Herrnhuter Brüdergemeine in einer kritischen Phase ihrer frühen Entwicklung. Für alle, die sich mit dieser Zeit beschäftigen wollen, ist sie Pflichtlektüre. Gerald MacDonald

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Bochum

Elmar Spohn: Zwischen Anpassung, Affinität und Resistenz. Die Glaubensund Gemeinschaftsmissionen in der Zeit des Nationalsozialismus. Berlin: Lit Verlag 2016 (Beiträge zur Missionswissenschaft / Interkulturellen Theologie, 34). – 496 S. Die 2013 an der University of South Africa in Pretoria abgeschlossene und jetzt geringfügig überarbeitet im Druck vorliegende Dissertation von Elmar Spohn ist eine herausragende wissenschaftliche Leistung. Zu diesem Votum veranlassen mich verschiedene Gründe. Erstens: Indem er die Haltung der pietistisch-erwecklich orientierten Missionsgesellschaften zum Nationalsozialismus untersucht, bewegt sich d.Vf. in ein bisher von der Forschung weitgehend vernachlässigtes Gebiet der kirchlichen Zeitgeschichte. Allein schon darin liegt ein großes Verdienst. Vielleicht noch wichtiger war zweitens die Entscheidung d.Vf., nicht nur die im Rückblick beschämenden, weil unverzeihlich begeisterten Ausführungen führender Missionsfunktionäre über die „nationale Erhebung“ zu sammeln und zu bewerten, sondern die Frage zu stellen, wie diese gleichen Personen ihr Engagement für Hitlers Herrschaft nach 1945 relativierten und entschuldigend einordneten. Der Titel von Spohns Arbeit ist insofern nicht ganz richtig. Denn das, was er über die Jahre und Jahrzehnte nach 1945 recherchiert hat, ist nach meiner Einschätzung ebenso aufschlussreich wie seine Beobachtungen über die Zeit davor. Zu loben ist drittens die methodische Sorgfalt d.Vf. In jedem Kapitel seiner Studie, in jedem Abschnitt, prüft er kritisch, ob die Quellen seine Aussagen tatsächlich stützen. Jedwede Simplifizierung, auch jedwede simple anklagende Attitüde ist ihm fremd. Umso mehr Gewicht besitzen deshalb seine Ergebnisse. Umso bedrückender sind aber auch seine Befunde. Kurzum: Was Elmar Spohn vorlegt, ist ein bahnbrechendes Werk. In seinem einleitenden Kapitel rekapituliert d.Vf. zunächst den traurigen Stand der einschlägigen Forschung. Präzise versucht er außerdem zu klären, welche Organisationen zu den Glaubens- und Gemeinschaftsmissionen gehörten. Von zentraler Bedeutung ist dann sein zweites Kapitel. Hier untersucht er, auf welche Weise die Herrschaft der Nationalsozialisten in pietistischerwecklichen Publikationsorganen kommentiert wurde, von der als „nationale Erhebung“ apostrophierten Machtergreifung bis in die Zeit des Zweiten Weltkriegs. Getragen von einem vehementen Antibolschewismus wurde Hitler mit wenigen Ausnahmen als Retter und Führer aus nationaler und religiöser Not begrüßt, was besonders erstaunt, weil Hitler von christlicher Mission nichts hielt und sich dazu auch unmissverständlich äußerte. Im Kirchenkampf stellten sich viele Vertreter der Glaubens- und Gemeinschaftsmissionen zunächst auf die Seite der Deutschen Christen. Viele wollten aber später in die Auseinandersetzungen zwischen Deutschen Christen und der Bekennenden Kirche nicht hineingezogen werden. Als Ergänzung zu dem bisher Ausgeführten ist Spohns drittes Kapitel besonders interessant, denn in diesem Kapitel erörtert er in acht biographi219

schen Skizzen, wie sich führende Vertreter der Glaubens- und Gemeinschaftsmissionen in dieser kritischen Phase der Geschichte des Christentums politisch und kirchenpolitisch positionierten. Jede dieser Skizzen verdiente eigentlich eine besondere Würdigung. „Der Umgang mit der NS-Vergangenheit und die Schuldfrage“ stehen im Zentrum des vierten Kapitels. Sorgfältig analysiert Spohn Akten zur Entnazifizierung, die sogenannte „Hausliteratur“ der pietistisch-erwecklichen Missionseinrichtungen, sowie Beiträge, die aus Anlass von Jubiläen entstanden. „Schuldbekenntnis und Sündenvergebung sind in gewisser Weise Hauptinhalte erwecklicher Theologie und Frömmigkeit“, schreibt er. „Vor diesem Hintergrund ist es merkwürdig“, setzt er hinzu, dass „die Propria von Schuldbekenntnis und Sündenvergebung im Zusammenhang mit der NS-Vergangenheit“, von wenigen Ausnahmen abgesehen, „in den Jubiläumsbeiträgen der Glaubens- und Gemeinschaftsmissionen keine Rolle spielten“ (331). Zu ähnlichen Ergebnissen kommt er nach Auswertung biographischer und autobiographischer Zeugnisse. Selbstkritische Stimmen mehrten sich erst in den 1980er und 1990er Jahren, erst eigentlich nach der großen Rede, die Bundespräsident Richard von Weizsäcker aus Anlass der vierzigjährigen Wiederkehr des Kriegsendes im Jahr 1985 hielt. Eine besondere Leistung der vorliegenden Studie sehe ich darin, dass es d.Vf. nicht bei der Erhebung des historischen Befunds beließ, so wichtig und aufregend diese Ergebnisse auch sind. Ich bin aber sicher nicht der einzige Leser, der ihm für sein fünftes Kapitel besonders dankbar ist. Denn in diesem Kapitel bemüht sich d.Vf. um eine „Auswertung“. Er unterscheidet dabei „theologische Deutungsmuster“, „missionswissenschaftliche Positionierungen“ sowie „Tendenzen politischer Ethik“. Zutreffend charakterisiert er das, was er als „Veilchenmentalität“ bezeichnet, die weit verbreitete Meinung der Gemeinschaftsleute nämlich, sie seien doch so klein und unbedeutend gewesen und hätten, selbst wenn sie es versucht hätten, Schlimmes nicht verhindern können. Diese „Veilchenmentalität“ war nach Spohn von einem deterministisch-eschatologischen Geschichtsverständnis durchdrungen, von der Überzeugung nämlich, Gott lenke die Geschicke der Welt und ihm gelte es sich anzuvertrauen. Wer so dachte, bei dem „verflüchtigte sich“ nach Spohn „die persönliche Verantwortlichkeit gänzlich“ (358), der sah nicht ein, warum er im Kirchenkampf Position beziehen sollte. Wie Spohn zeigen kann, waren viele der Missionare, mit denen er sich beschäftigte, stark von „völkischen“ Ideen beeinflusst. Zwar lehnten sie die Lehre von einem „artgemäßen Christentum“ ab: „Stets hielt man dort daran fest, dass Menschen jedweder Rasse durch eine Bekehrung zu Jesus Christus bekehrt werden können“ (361). Wohl aber war man der Überzeugung, Gott greife direkt in die Geschichte ein. Als ein solcher Moment, als eine solche „Gottesstunde“ galt die „nationale Erhebung“ 1933, von der „einige in Kreisen des pietistisch-erwecklichen Protestantismus“ nicht weniger als „eine sittlich-religiöse Erweckung des deutschen Volkes“ erwarteten (363). „Grundsätzlich“ schreckte man nach Spohn außerdem „davor zurück, sich mit 220

gesellschaftlich benachteiligten Gruppen zu solidarisieren“, mit den Sinti und Roma im Rahmen der sogenannten Zigeunermission ebenso wie mit den Juden. Spohn kann somit konstatieren, „dass im Missionsverständnis der Glaubens- und Gemeinschaftsmissionen Themen wie Versöhnung, Gerechtigkeit und Frieden keine bedeutende Rolle spielten“ (365). Der Frage, warum das so war, widmete Spohn die letzten Abschnitte seines fünften Kapitels. Eine „apolitische Grundhaltung“, die dazu führte, dass man in den Missionspublikationen „heikle politische Themen“ aussparte (367) wurde seiner Einschätzung nach dabei ergänzt durch einen naiven Obrigkeitsgehorsam, der sich auf die Bibelstelle Röm 13, 1–3 berief. In seinem Ausblick, den er unter das Motto „Erinnern – Umdenken – Umkehren“ stellt, zieht Spohn vier bemerkenswerte Schlussfolgerungen. Buße sei „ein Prozess des Umdenkens und Umkehrens“. Daraus folge für die Glaubens- und Gemeinschaftsmissionen, dass sie erstens „ihre Archive der Forschung zugänglich halten“, dass sie zweitens „bezüglich der ‚schlimmen Vergangenheit‘ weitere Forschungen anregen“, dass sie drittens „die Ergebnisse der Forschung wahrnehmen und theologisch bewerten“ und dass sie viertens „wenn nötig Verhaltensänderungen einleiten“ (374). Die schon 1949 von Karl Hartenstein an die Vertreter der Glaubens- und Gemeinschaftsmissionen gerichtete Forderung, „dass man ‚in aller Klarheit‘ die ‚Irrwege‘ der NS-Vergangenheit in öffentlicher ‚Buße zum Ausdruck‘ bringen solle“, so Spohn abschließend, bleibe „von ungebrochener Aktualität“ (377). Dem ist nichts hinzuzufügen außer dem Dank an den Autor für dieses äußerst verdienstvolle Werk. Hartmut Lehmann

Kiel

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BIBLIOGRAPHIE

CHRISTIAN SOBOTH UND OLIVER SEIDE

Pietismus-Bibliographie unter Mitarbeit von: Brigitte Klosterberg (Halle/Saale) und Claudia Mai (Herrnhut)

Anschrift für Bibliographie- und Rezensionsteil des Jahrbuchs: Prof. Dr. Udo Sträter, c/o Interdisziplinäres Zentrum für Pietismusforschung der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Franckeplatz 1, Haus 24, 06110 Halle a. d. Saale

Gliederung der Bibliographie: I. Allgemeines I.01 I.02 I.03

Bibliographien, Forschungsberichte Sammelwerke, Festschriften Gesamtdarstellungen, Gesamtwürdigungen

II. Vorgeschichte, begleitende Strömungen III. Deutschland III.01 III.02 III.03 III.04 III.05 III.06 III.07 III.08 III.09 III.10 III.11

Frömmigkeitsbewegung seit Johann Arndt Philipp Jakob Spener August Hermann Francke und der hallische Pietismus Radikaler Pietismus Reformierter Pietismus Zinzendorf und die Herrnhuter Brüdergemeine Württembergischer Pietismus Regionalgeschichte Orthodoxie und Aufklärung in ihren Beziehungen zum Pietismus Übergang zur Erweckungsbewegung Strömungen und Entwicklungen nach 1830

IV. Andere Länder IV.01 IV.02 IV.03 IV.04 IV.05 IV.06 IV.07

England und Schottland Niederlande Schweiz Skandinavien Nordamerika Östliches Mitteleuropa, Osteuropa, Südosteuropa Sonstige

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V. Übergreifende Themen V.01 V.02 V.03 V.04 V.05 V.06 V.07 V.08 V.09

Theologie und Frömmigkeit Sozial- und Staatslehre, Pädagogik Ökumene, Mission und Diakonie Philosophie, Literatur, Kunst, Architektur und Musik Medizin, Naturwissenschaften und Psychologie Ökonomie, Industrialisierung Buch-, Bibliotheks- und Verlagsgeschichte, Medien und Kommunikation Gender Geschichtsbewusstsein und -konstruktion

Es gelten die Abkürzungen des Abkürzungsverzeichnisses der TRE. Im Folgenden bedeutet: ABQ AGP AHR AKG ARG ARPs ASKG ASNS ASSR BHTh BLT BPfKG BSHPF BSHST BWKG ChH ChM CrSt CScR CTQ CV DeP DNR DtPfrBl EMKG.M EnglSt ERT ETR EvQ EvTh FBPG FiHi

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American Baptist Quarterly Arbeiten zur Geschichte des Pietismus American Historical Review Arbeiten zur Kirchengeschichte Archiv für Reformationsgeschichte Archiv für Religionspsychologie Archiv für schlesische Kirchengeschichte Archiv für das Studium der neueren Sprachen Archives de sciences sociales des religions Beiträge zur historischen Theologie Brethren life and thought Blätter für pfälzische Kirchengeschichte und religiöse Volkskunde Bulletin de la Société de l'Histoire du Protestantisme Français Basler und Berner Studien zur historischen und systematischen Theologie Blätter für Württembergische Kirchengeschichte Church history Churchman Cristianesimo nella storia Christian scholar’s review Concordia Theological Quarterly Communio viatorum Doctrina et Pietas Documentatieblad Nadere Reformatie Deutsches Pfarrerblatt Evangelisch-methodistische Kirche Geschichte. Monographien English studies Evangelical review of theology Études théologiques et religieuses The Evangelical quarterly Evangelische Theologie Forschungen zur brandenburgischen und preußischen Geschichte Fides et historia

FKDG FZPhTh GeGe GlLern HerChr HJ HThR HoLiKo HS HSR HTS JBBKG JBLG JEH JES JETh JETS JGNKG JGPrÖ JHKGV JLT JRH JSKG JWKG KHÅ KTP KuD LKW LuthBei LuThK LuthQ MdKI MEKGR MennQR MethH MGB Miss MoTh MSR MuK MWF NAKG NEQ NZfM ÖEBB OGE OiC

Forschungen zur Kirchen- und Dogmengeschichte Freiburger Zeitschrift für Philosophie und Theologie Geschichte und Gesellschaft Glaube und Lernen Herbergen der Christenheit Historisches Jahrbuch Harvard theological review Homiletisch-liturgisches Korrespondenzblatt Historische Studien Historical Social Research/Historische Sozialforschung Hervormde teologiese studies Jahrbuch für Berlin-Brandenburgische Kirchengeschichte Jahrbuch für brandenburgische Landesgeschichte Journal of ecclesiastical history Journal of ecumenical Studies Jahrbuch für evangelikale Theologie Journal of the Evangelical Theological Society Jahrbuch der Gesellschaft für Niedersächsische Kirchengeschichte Jahrbuch für die Geschichte des Protestantismus in Österreich Jahrbuch der Hessischen Kirchengeschichtlichen Vereinigung Journal of literature and theology Journal of religious history Jahrbuch für schlesische Kirchengeschichte Jahrbuch für westfälische Kirchengeschichte Kyrkohistorisk årsskrift Kleine Texte des Pietismus Kerygma und Dogma Lutherische Kirche in der Welt Lutherische Beiträge Lutherische Theologie und Kirche Lutheran Quarterly Materialdienst des Konfessionskundlichen Instituts Bensheim Monatshefte für evangelische Kirchengeschichte des Rheinlandes The Mennonite quarterly review Methodist history Mennonitische Geschichtsblätter Missiology Modern theology Mélanges de science religieuse Musik und Kirche Missionswissenschaftliche Forschungen Nederlands archief voor kerkgeschiedenis The New England Quarterly. A Historical Review of New England Life and Letters Neue Zeitschrift für Musik Ökumenische Existenz in Berlin-Brandenburg Ons geestelijk erf One in Christ. A catholic ecumenical review

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PH PosLuth PuN PWS QBGHM QSt QuHi Ref. RestQ RExp RGG RHE RHPhR RHR RKZ RoJKG RSLR SCJ SDLKG SKGNS SVRKG SVSHKG ThBeitr ThFPr ThLZ ThR ThRv ThRef ThZ TJT TRE TrSt TrZ.B TThZ TynB UnFr VDWI VMPIG WeZ WThJ WTJ WuD ZBKG ZfG ZGO ZHF ZKG

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Paedagogica historica Positions Luthériennes Pietismus und Neuzeit Pietist and Wesleyan studies Quellen und Beiträge zur Geschichte der Hermannsburger Mission Quaderni storici Quaker History Reformatio Restoration quarterly Review and expositor Religion in Geschichte und Gegenwart Revue d’histoire ecclésiastique Revue d’histoire et de philosophie religieuses Revue de l’histoire des religions Reformierte Kirchenzeitung Rottenburger Jahrbuch für Kirchengeschichte Rivista di storia e letteratura religiosa The Sixteenth century journal Studien zur deutschen Landeskirchengeschichte Studien zur Kirchengeschichte Niedersachsens Schriftenreihe des Vereins für Rheinische Kirchengeschichte Schriften des Vereins für Schleswig-Holsteinische Kirchengeschichte Theologische Beiträge Theologie für die Praxis Theologische Literaturzeitung Theologische Rundschau Theologische Revue Theologia reformata Theologische Zeitung Toronto journal of theology Theologische Realenzyklopädie Trinity studies. Trinity Evangelical Divinity School Trierer Zeitschrift für Geschichte und Kunst des Trierer Landes . . . Beiheft Trierer theologische Zeitschrift Tyndale bulletin Unitas Fratrum Veröffentlichungen des Diakoniewissenschaftlichen Instituts Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte Wereld en Zending Westminster Theological Journal Wesleyan Theological Journal Wort und Dienst. Jahrbuch der Kirchlichen Hochschule Bethel Zeitschrift für bayerische Kirchengeschichte Zeitschrift für Geschichtswissenschaft Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins Zeitschrift für Historische Forschung Zeitschrift für Kirchengeschichte

ZMiss ZNThG ZPT ZRGG ZSKG ZSRG.K ZThK Zwing. ZWLG

Zeitschrift für Mission Zeitschrift für neuere Theologiegeschichte Zeitschrift für Pädagogik und Theologie Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte Zeitschrift für schweizerische Kirchengeschichte Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte. Kanonistische Abteilung Zeitschrift für Theologie und Kirche Zwingliana. Zürich Zeitschrift für württembergische Landesgeschichte

I. Allgemeines I.01 Bibliographien, Forschungsberichte 1. Böß, Stephanie: Eine Sache des Zugangs – kulturwissenschaftliche Ansätze in der Pietismusforschung am Beispiel von Lebensläufen der Herrnhuter Brüdergemeine. In: Reine Glaubenssache? Neue Zugangsdaten zu religiösen und spirituellen Phänomenen im Prozess der Säkularisierung. Hg. v. Eike Lossin u. Jochen Ramming. Würzburg: Königshausen & Neumann 2016, 37–53. 2. Blaufuß, Dietrich: 35 Jahre „Philipp Jakob Spener: Schriften“: Band I bis XVI (1979–2014): ein Rückblick. In: Berliner Predigten 1693–1701[s. Nr. 50], 665– 685. 3. Brückner, Jörg: Quellen zu Adel und Pietismus im Landesarchiv Sachsen-Anhalt. In: Wie pietistisch kann Adel sein? [s. Nr. 19]. 4. Groenendijk, L.F.: „Nieuwe inzichten moeten door feitelijk bewijsmateriaal gedragen worden.“ Samenspraak over de bijdrage van prof. dr. W.J. op ’t Hof aan het onderzoek van het gereformeerd piëtisme. In: Pietas reformata [s. Nr. 13], 279–293. 5. Klosterberg, Brigitte: Handschriften und alte Drucke auf einer Rechercheplattform: das DFG-Projekt „Francke-Portal“ am Studienzentrum August Hermann Francke der Franckeschen Stiftungen zu Halle. In: Neue Wege ins Archiv – Nutzer, Nutzung, Nutzen. Hg. v. VdA. Fulda: Selbstverlag des VdA 2016, 121–132. 6. McCullough, Thomas J.: The Most Memorable Circumstances: Instructions for the Collection of Personal Data from Church Members, circa 1752. In: Journal of Moravian History 15, 2, 2015, 158–175. 7. Soboth, Christian u. Oliver Seide: Pietismus-Bibliographie. In: PuN 41 [s. Nr. 14], 307–327.

I.02 Sammelwerke, Festschriften 8. Aufgeklärte Lebenswelten. Hg. v. Ole Fischer. Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2016. – 242 S. – [enth. Nr. 109, 163] 9. Dellsperger, Rudolf: Zwischen Offenbarung und Erfahrung. Gesammelte Aufsätze zur historischen Theologie. Zürich: Theologischer Verlag Zürich 2015. – 307 S.

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10. „Dir hat vor den Frauen nicht gegraut“: Mystikerinnen und Theologinnen in der Christentumsgeschichte. Hg. v. Mariano Delgado u. Volker Leppin. Stuttgart: Kohlhammer, Fribourg: Academic Press Fribourg 2015. – 403 S. – [enth. Nr. 66, 229] 11. Medizin- und kulturgeschichtliche Konnexe des Pietismus: Heilkunst und Ethik, arkane Traditionen, Musik, Literatur und Sprache. In memoriam Christa Habrich. Hg. v. Irmtraut Sahmland u. Hans-Jürgen Schrader. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2016. – 428 S. – [enth. Nr. 62, 74, 115, 117 f., 161, 198, 212–221] 12. Mysticism and reform: 1400 – 1750. Hg. v. Sara S. Poor. Notre Dame: Univ. of Notre Dame Press 2015. – 408 S. – [enth. Nr. 40, 120, 171] 13. Pietas reformata: religieuze vernieuwing onder gereformeerden in de vroegmoderne tijd. Feestbundel voor prof. dr. W. J. op ’t Hof bij zijn afscheid als bijzonder hoogleraar in de geschiedenis van het gereformeerd piëtisme vanwege de Hersteld Hervormde Kerk aan de Faculteit der Godgeleerdheid van de VU te Amsterdam. Hg. v. Jan van de Kamp. Zoetermeer: Uitg. Boekencentrum 2015. – 320 S. – [enth. Nr. 4, 47, 122, 132, 134–136, 138–143, 147, 156 f., 159 f., 228] 14. Pietismus und Neuzeit. Jahrbuch zur Geschichte des neueren Protestantismus. Bd. 41. Im Auftrag der Historischen Kommission zur Erforschung des Pietismus hg. v. Udo Sträter [u. a.]. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2015. – 343 S. – [enth. Nr. 7, 56, 80, 108, 110, 169, 203, 233] 15. Religion as an Agent of Change: Crusades – Reformation – Pietism. Hg. v. Per Ingesman. Leiden, Boston: Brill 2016. – 279 S. – [enth. Nr. 119, 168, 176, 232] 16. Religion und Aufklärung. Akten des Ersten Internationalen Kongresses zur Erforschung der Aufklärungstheologie (Münster, 30. März bis 2. April 2014). Hg. v. Albrecht Beutel u. Martha Nooke. Tübingen: Mohr Siebeck 2016. – 732 S. – [enth. Nr. 51, 72, 104, 106 f., 162, 178, 188] 17. Territorialkirchen und protestantische Kultur: 1648–1800. Hg. v. HermannPeter Eberlein. Bonn: Habelt 2015. – 608 S. – [enth. Nr. 29, 67, 94, 98 f., 105] 18. Überliefern – Erforschen – Weitergeben. Festschrift für Hans Otte zum 65. Geburtstag. Hg. v. Inge Mager. Hannover: Ges. für Niedersächsische Kirchengeschichte 2015. – 408 S. – [enth. Nr. 34, 38, 73, 173, 231] 19. Wie pietistisch kann Adel sein? Hallescher Pietismus und Reichsadel im 18. Jahrhundert. Hg. v. Andreas Pečar [u. a.]. Halle/Saale: Mitteldeutscher Verlag 2016. – 160 S. [enth. Nr. 3, 52 f., 55, 57, 59, 101, 103, 227] 20. Schönes Denken: A.G. Baumgarten im Spannungsfeld zwischen Ästhetik, Logik und Ethik. Hg. v. Andrea Allerkamp u. Dagmar Mirbach. Hamburg: Felix Meiner Verlag 2016. – 424 S. – [enth. Nr. 197, 204 f., 208] 21. „. . . dort im andern Leben“. Das Paradies bei Paul Gerhardt, in seiner Zeit und heute. Hg. v. Günter Balders u. Christian Bunners. Berlin: Frank & Timme, Verlag für wissenschaftliche Literatur 2016. – 147 S. – [enth. Nr. 35, 37, 43, 206] 22. Jan Hus. Wege der Wahrheit: das Erbe des böhmischen Reformators in der Oberlausitz und in Nordböhmen. Hg. v. Marius Winzeler. Görlitz: Verlag Gunter Oettel 2015. – 272 S. – [enth. Nr. 36, 83, 96] 23. Jane Lead and her Transnational Legacy. Hg. v. Ariel Hessayon. London: Palgrave Macmillan 2016. – 304 S. – [enth. Nr. 64, 121, 123–131, 170] 24. Schule und Bildung in Frauenhand: Anna Vorwerk und ihre Vorläuferinnen. Hg. v. Gabriele Ball u. Juliane Jacobi. Wiesbaden: Harrassowitz Verlag 2015. – 284 S. – [enth. Nr. 184, 186 f.]

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I.03 Gesamtdarstellungen, Gesamtwürdigungen 25. Holzem, Andreas: Der Pietismus. In: Ders.: Christentum in Deutschland 1550– 1850. Bd. 2. Paderborn: Ferdinand Schöningh 2015, 667–723. 26. Jaspert, Bernd: Christliche Frömmigkeit. Bd. 2: Vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Teil I: Studien. Nordhausen 2015. – 773 S. 27. Ders.: Christliche Frömmigkeit. Band 2: Vom 16. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Teil II: Texte. Nordhausen 2015. – 495 S. 28. Kirn, Hans-Martin u. Adolf Martin Ritter: Geschichte des Christentums IV. Konfessionelles Zeitalter – Pietismus – Aufklärung. Stuttgart [u. a.]: Kohlhammer 2016. – 430 S. 29. Kuhn, Thomas K.: Pietismus. In: Territorialkirchen und protestantische Kultur [s. Nr. 17], 287–346. 30. Pietas et eruditio. Pietistische Texte zum Theologiestudium. Hg. v. Klaus vom Orde. Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2016. – 313 S.

II. Vorgeschichte 31. Weaver-Zercher, David L.: Martyrs Mirror: A Social History. Baltimore: Johns Hopkins University Press 2016. – 434 S. 32. Bornkamm, Heinrich: Luther und Böhme. Berlin, Boston: De Gruyter 2015. – 300 S. 33. van Ingen, Ferdinand: Jacob Böhme in seiner Zeit. Stuttgart: frommann-holzboog 2015. – 341 S. 34. Bunners, Christian: Paul Gerhardt und der Pietismus. Eine Skizze. In: Überliefern – Erforschen – Weitergeben [s. Nr. 18], 143–156. 35. Ders.: Himmlischer Garten, schönes Haus, Freudenmusik, Umarmungen . . . Paul Gerhardts Vorstellungen vom Ewigen Leben. In: „. . . dort im andern Leben“ [s. Nr. 21], 53–72. 36. Metzig, Gregor M.: Von Jan Hus zu den Herrnhutern: die Erben der böhmischen Reformation in der Oberlausitz. In: Jan Hus [s. Nr. 22], 77–106. 37. Bunners, Christian: Leonhart Hütters Lehrstück Vom Ewigen Leben (1610/1613) mit einigen Erläuterungen vorgestellt. In: „. . . dort im andern Leben“ [s. Nr. 21], 29–42. 38. Sommer, Wolfgang: Gottes geistliches und weltliches Regiment bei Luther und seinen Erben. In: Überliefern – Erforschen – Weitergeben [s. Nr. 18], 105–116. 39. Karnitscher, Tünde Beatrix: Der vergessene Spiritualist Johann Theodor von Tschesch (1595–1649). Untersuchungen und Spurensicherung zu Leben und Werk eines religiösen Nonkonformisten. Göttingen [u. a.]: Vandenhoeck & Ruprecht 2015. – 398 S. 40. King, Alana: Gelassenheit and Confessionalization: Valentin Weigel reads Meister Eckhart. In: Mysticism and reform [s. Nr. 12], 49–83.

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III. Deutschland III.01 Frömmigkeitsbewegung seit Johann Arndt 41. Zimmerling, Peter: Evangelische Mystik. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2015. – 283 S. 42. Geyer, Hermann: Verborgene Weisheit: Johann Arndts „Vier Bücher vom Wahren Christentum“ als Programm einer spiritualistisch-hermetischen Theologie. 2 Bde. ND von 2001. Berlin, Boston: De Gruyter 2015. – 821 u. 545 S. 43. Mager, Inge: Johann Arndts Vorstellungen vom Paradies. In: „. . . dort im andern Leben“ [s. Nr. 21], 43–52. 44. Steiger, Johann Anselm: Geistliche Lyrik als Medium der Restituierung des wahren Christentums sowie des interkonfessionellen Ausgleichs. Zu Johann Rists Sympathien für Johann Arndt und Georg Calixt. In: Zeitschrift für SchleswigHolsteinische Kirchengeschichte 2, 2015, 39–55. 45. Chafe, Eric Thomas: „Arndtian Pietism“ and „Spiritual Orthodoxy“: Joachim Lütkemann, Heinrich Müller, Christian Scriver. In: Ders.: Tears into wine. J. S. Bach’s Cantata 21 in musical and theological context. Oxford [u. a.]: Oxford Univ. Press 2015, 186–250.

III.02 Philipp Jakob Spener 46. Matthias, Markus [u. a.]: Einleitung. In: Berliner Predigten 1693–1701[s. Nr. 50], 9*–82*. 47. Baars, A.: Wedergeboorte en homiletiek. Enkele kanttekeningen bij de homiletische inzichten van Spener en Francke. In: Pietas reformata [s. Nr. 13], 91–102. 48. Philipp Jacob Spener. Die Anfänge des Pietismus in seinen Briefen. Hg. v. Markus Matthias. Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2016. – 279 S. 49. Schmitz, Christian: Die Leichenpredigt des Berliner Propstes Philipp Jakob Spener (1635–1705) auf den kurfürstlich-brandenburgischen Kammergerichtsadvokaten und Berliner Bürgermeister Martin Friedrich Elerdt (1644–1693). Historisch-kritische und kommentierte Edition. In: Jahrbuch für die Geschichte Mittel- und Ostdeutschlands 61, 2015, 99–145. 50. Spener, Philipp Jakob: Berliner Predigten 1693–1701. Hg. v. Dietrich Blaufuß u. Erich Beyreuther. Hildesheim [u. a.]: Georg Olms Verlag 2015. – 685 S. – [enth. Nr. 2, 47]

III.03 August Hermann Francke und der hallische Pietismus 51. Spankeren, Malte van: Das Ende des Pietismus in Halle. In: Religion und Aufklärung [s. Nr. 16], 605–622. 52. Zaunstöck, Holger: Wie pietistisch kann Adel sein? Hallescher Pietismus, Reichsadel und Landesgeschichte – Einleitung. In: Wie pietistisch kann Adel sein? [s. Nr. 19]. 53. Breul, Wolfgang: „In dem Waldeckischen lande sind itzo 20 Gräfinnen, welche die warheit erkennen und lieben“. August Hermann Francke, die waldeckischen

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60.

Gräfinnen und die pietistische Reform. In: Wie pietistisch kann Adel sein? [s. Nr. 19]. Der Hallesche Theologe und Pietist August Hermann Francke 1718. In: Reisen und Reisende in Bayerisch-Schwaben und seinen Randgebieten in Oberbayern, Franken, Württemberg, Vorarlberg und Tirol. Hg. v. Helmut Gier. Weißenhorn: Anton H. Konrad Verlag 2015, 328–419. Grunewald, Thomas: August Hermann Francke und das Haus Reuß: Pietistische Politik in Thüringen? In: Wie pietistisch kann Adel sein? [s. Nr. 19]. Matthias, Markus: Gewissheit und Bekehrung. Die Bedeutung der Theologie des Johannes Musaeus für August Hermann Francke. In: PuN 41 [s. Nr. 14], 11–31. Pečar, Andreas: Was hatte August Hermann Francke mit einem geächteten Reichsfürsten zu schaffen? Über seine Korrespondenz mit Carl Leopold von Mecklenburg. In: Wie pietistisch kann Adel sein? [s. Nr. 19]. Schloms, Antje: Die Erfurter Waisenhäuser und ihr Einfluss auf August Hermann Francke. In: Mitteilungen des Vereins für die Geschichte und Altertumskunde von Erfurt 76, 2015, 145–181. Trauzettel, Holger: „Der Herr Graf von Assenheim hat bisher einen wiedrigen Begriff von Halle und dem Herrn Professor gehabt“. Die Beziehung der Wetterauer Grafen zu A. H. Francke im Spiegel der Reise ins Reich (1717/18). In: Wie pietistisch kann Adel sein? [s. Nr. 19]. Yoder, Peter James: Pietas et apologia: August Hermann Francke’s 1689 „Defensions-Schrift“ and the attack of pietism. In: Verteidigung als Angriff: Apologie und ‚Vindicatio‘ als Möglichkeiten der Positionierung im gelehrten Diskurs. Hg. v. Michael Multhammer. Berlin [u. a.]: De Gruyter 2015, 121–143.

III.04 Radikaler Pietismus 61. Kühlmann, Wilhelm: Geschichtsrevision und Radikalismus: zum ambivalenten Profil Gottfried Arnolds. In: Toleranzdiskurse in der Frühen Neuzeit. Hg. v. Friedrich Vollhardt. Berlin, Boston: de Gruyter 2015, 161–176. 62. Matthias, Markus: Geistliche Liebestöne. Beobachtungen zur Lyrik Gottfried Arnolds (1666–1714). In: Medizin- und kulturgeschichtliche Konnexe des Pietismus [s. Nr. 11], 255–278. 63. Vogel, Lothar: Pietismus und Gewissensfreiheit. Konstantin und die Folgen im kirchengeschichtlichen Werk Gottfried Arnolds. In: Religiöse Toleranz: 1700 Jahre nach dem Edikt von Mailand. Hg. v. Martin Wallraff. Berlin, Boston: De Gruyter 2016, 247–283. 64. Martin, Lucinda: ‘God’s Strange Providence’: Jane Lead in the Correspondence of Johann Georg Gichtel. In: Jane Lead and her Transnational Legacy [s. Nr. 23], 187–212. 65. Fabre, Pierre-Antoine: Lire Jean de Labadie (1610–1674): fondation et affranchissement. Paris: Classiques Garnier 2016. – 297 S. 66. Albrecht, Ruth: Pietismus und Mystik: Verknüpfung von Bibellektüre und visionärem Erleben bei Johanna Eleonora Petersen. In: „Dir hat vor den Frauen nicht gegraut“ [s. Nr. 10], 196–216.

233

III.05 Reformierter Pietismus 67. Benrath, Gustav Adolf: Gerhard Tersteegen und die Tersteegenianer. In: Territorialkirchen und protestantische Kultur [s. Nr. 17], 347–396. 68. Burkardt, Johannes: „Anweisung“ – „Aanwyzing“ – „Unterricht“. Drei bislang nicht bekannte Frühformen von Gerhard Tersteegens „Anweisung zum rechten Verstand und nützlichen Gebrauch der Heiligen Schrift“ aus den Jahren 1731 bis 1734. In: JWKG 111, 2015, 57–77. 69. Kaufhold, Barbara: Pietismus im Zeitalter der Aufklärung – Gerhard Tersteegens Erwiderung auf den „Antimachiavell“ von Friedrich II. In: Zeitschrift des Geschichtsvereins Mülheim a. d. Ruhr 89, 2015, 75–103.

III.06 Zinzendorf und die Herrnhuter Brüdergemeine 70. Böß, Stephanie: Gottesacker-Geschichten als Gedächtnis: eine Ethnographie zur Herrnhuter Erinnerungskultur am Beispiel von Neudietendorfer Lebensläufen. Münster, New York: Waxmann 2016. – 481 S. 71. Clemens, Theo: Das Bischofsamt in der Herrnhuter Brüdergemeine. Seine Entwicklungen und Veränderungen. In: UnFr 73/74, 2016, 115–123. 72. Gruner, Marita: Die Begleitung frisch Vermählter in der Brüdergemeine im 18. Jahrhundert. In: Religion und Aufklärung [s. Nr. 16], 623–639. 73. Kröger, Rüdiger: Die Anfänge der Diasporaarbeit der Brüdergemeine in der Stadt Hannover. In: Überliefern – Erforschen – Weitergeben [s. Nr. 18], 181–196. 74. Ders.: Die Gemeintage, Form und Funktion Beobachtungen zu einer Textsorte des Herrnhuter Pietismus. In: Medizin- und kulturgeschichtliche Konnexe des Pietismus [s. Nr. 11], 303–316. 75. Ders.: Mennonitisches in den Lebensläufen von Herrnhutern in Amsterdam. In: UnFr 73/74, 2016, 9–22. 76. Motel, Hans-Beat: Winti. Afro-amerikanische Religion und Herrnhuter Brüdergemeine. In: UnFr 73/74, 2016, 51–64. 77. Petterson, Christina: „A Plague of the State and the Church“: A Local Response to the Moravian Enterprise. In: Journal of Moravian History 16, 1, 2016, 45–60. 78. Von Goethe bis Grass: Herrnhuter in der Literatur. Ein Lesebuch. Hg. v. Peter Vogt. Dresden: kultur.wissen.bilder.verlag 2016. – 318 S. 79. Noller, Matthias: Kirchliche Historiographie zwischen Wissenschaft und religiöser Sinnstiftung: David Cranz (1723–1777) als Geschichtsschreiber der Erneuerten Brüder-Unität. Wiesbaden: Harrassowitz 2016. – 184 S. 80. Teigeler, Otto: „Ich leide hier viel Hohn und Schmach“. Die Biographie des Herrnhuter Bruders Georg Kunz. In: PuN 41 [s. Nr. 14], 78–111. 81. Kröger, Rüdiger: Zinzendorf und der preußische Hof unter Friedrich Wilhelm I. In: UnFr 73/74, 2016, 145–164. 82. Ders.: Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf und die Evangelische Brüder-Unität: von Herrnhut in die Welt. In: Oberlausitz 29, 2016, 58–62. 83. Meyer, Dietrich: Zinzendorf und die böhmisch-mährischen Brüder. In: Jan Hus [s. Nr. 22], 120–129. 84. Rudolph, Hartmut: Daniel Ernst Jablonski und die Bischofsweihe Zinzendorfs. In: UnFr 73/74, 2016, 125–144.

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85. Teigeler, Otto: Die Aristotelesrede des Schülers Zinzendorf 1715. In: UnFr 73/74, 2016, 165–180. 86. Vogt, Peter: The Masculinity of Christ according to Zinzendorf: Evidence and Interpretation. In: Journal of Moravian History 15, 2, 2015, 97–135. 87. Zinzendorf, Nikolaus Ludwig von: Bibel und Bibelgebrauch. Bd. 1: Bibelübersetzung. Hg. v. Dietrich Meyer. Göttingen [u. a.]: Vandenhoeck & Ruprecht 2015. – 523 S. 88. Zinzendorf, Nikolaus Ludwig von: Bibel und Bibelgebrauch. Bd. 2: Zinzendorfs Übersetzung des Neuen Testaments, Evangelien und Apostelgeschichte. Hg. v. Dietrich Meyer. Göttingen [u. a.]: Vandenhoeck & Ruprecht 2015. – 741 S.

III.07 Württembergischer Pietismus 89. Mußgnug, Tabea: „Siehe, Gott hat dir Glück bei deinem Bilde gegeben“. Der württembergische Pietismus im Spiegel der schwäbischen Kunst des 19. Jahrhunderts. Heidelberg, Univ. Diss., 2015. – 188 S. 90. Ehinger, Siglind: Glaubenssolidarität im Zeichen des Pietismus. Der württembergische Theologe Georg Konrad Rieger (1687–1743) und seine Kirchengeschichtsschreibung zu den Böhmischen Brüdern. Wiesbaden: Harrassowitz Verlag 2016. – 275 S. 91. Fritz, Eberhard: „Nicht sogleich wiederum zurück, sondern weiter und weiter!“ Die „Inspirations-Reisen“ des Johann Friedrich Rock nach Württemberg und in südwestdeutsche Reichsstädte. In: BWKG 115, 2015, 35–70.

III.08 Regionalgeschichte 92. Kindermann, Nora: Der Gutsgarten Berthelsdorf/Oberlausitz. Eine Spurensuche durch vier Jahrunderte. In: UnFr 73/74, 2016, 95–114. 93. Lückel, Ulf: Adel und Frömmigkeit. Die Berleburger Grafen und der Pietismus in ihren Territorien. Siegen: Vorländer 2016. – 248 S. 94. Magen, Ferdinand: Die brandenburg-preußischen Territorien am Niederrhein. In: Territorialkirchen und protestantische Kultur [s. Nr. 17], 1–42. 95. Mahling, Lubina: Der Pietismus und die Sorben. Modernisierung durch Glauben. In: Lětopis 62, 2015, 2, 15–33. 96. Noller, Matthias: Wege böhmischer Glaubensflüchtlinge in und durch die Oberlausitz in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts. In: Jan Hus [s. Nr. 22], 107–119. 97. Philipps, Albrecht: Diaspora im Münsterland. Vorgeschichte, Gründung und Entwicklung evangelischer Kirchengemeinden in Westfalen im 19. und 20. Jahrhundert am Beispiel Ochtrups. Bielefeld: Luther-Verl. 2015. – 415 S. 98. Rosenbrock, Gerd: Jülich und angrenzende Territorien. In: Territorialkirchen und protestantische Kultur [s. Nr. 17], 83–108. 99. Sagebiel, Hertha: Die Mennoniten. In: Territorialkirchen und protestantische Kultur [s. Nr. 17], 527–542. 100. Stone, Gerald: Slav outposts in Central European history: the Wends, Sorbs and Kashubs. London [u. a.]: Bloomsbury Academic 2016. – 398 S.

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101. Brademann, Jan: Lutherische Opposition und die Herrschaftsambitionen einer Aufsteigerin: Fürstin Gisela Agnes von Anhalt-Köthen (1669–1740) und der Pietismus. In: Wie pietistisch kann Adel sein? [s. Nr. 19]. 102. Peters, Christian: Halle – Herrnhut – Mülheim? Ludwig Friedrich Graf zu Castell-Remlingen (1707–1772), ein Verwandter Zinzendorfs, erweckt Solingen und Elberfeld (1737) und mobilisiert die rheinisch-westfälischen Pietisten. In: JWKG 111, 2015, 79–126. 103. Fingerhut-Säck, Mareike: „. . . daß die Glückseligkeit vieler andern Menschen zu befördern die besondere Bestimmung und Absicht Ihres Standes ist“. Sophie Charlotte und Christian Ernst zu Stolberg-Wernigerode als Begründer des Pietismus in ihrer Grafschaft. In: Wie pietistisch kann Adel sein? [s. Nr. 19].

III.09 Orthodoxie und Aufklärung in ihren Beziehungen zum Pietismus 104. Claussen, Johann Hinrich: Einfachheit. Über ein Grundmotiv des aufgeklärten Protestantismus. In: Religion und Aufklärung [s. Nr. 16], 133–152. 105. Mennecke, Ute: Orthodoxie und Rationalismus. In: Territorialkirchen und protestantische Kultur [s. Nr. 17], 227–268. 106. Schwaiger, Clemens: Alexander Gottlieb Baumgartens Begriff der Religion im Spannungsfeld von Wolffianismus und Pietismus. In: Religion und Aufklärung [s. Nr. 16], 437–448. 107. Schmitt-Maaß, Christoph: Die Geburt der literaturkritischen Apologie aus dem Geiste der juristischen und pietistischen Verteidigungslehre um 1700. Einige Beobachtungen zum Verhältnis von August Hermann Francke und Christian Thomasius. In: Religion und Aufklärung [s. Nr. 16], 285–294. 108. Grote, Simon: Religion and Enlightenment revisited: Lucas Geiger (1682–1750) and the allure of Wolffian philosophy in a pietist orphanage. In: PuN 41 [s. Nr. 14], 32–56. 109. Kraack, Detlev: Kanonisches Wissen, ethisch-moralische Besserung und Erbauung für die Jugend und das gemeine Volk. Der „Schleswig-Holsteinische Gnomon“ des Theologen und Pädagogen Claus Harms (1778–1855). In: Aufgeklärte Lebenswelten [s. Nr. 8], 213–234. 110. Caflisch-Schnetzler, Ursula: Fromme Freundschaften: Johann Caspar Lavater, Johann Heinrich Füssli und Felix Hess. In: PuN 41 [s. Nr. 14], 112–125. 111. Vermeulen, Han F.: Enlightenment and Pietism: D.G. Messerschmidt and the Early Exploration of Siberia. In: Before Boas. The genesis of ethnography and ethnology in the German Enlightenment. Lincoln, London: University of Nebraska Press 2015, 87–130.

III.10 Erweckungsbewegung 112. Eißner, Daniel: Erweckte Handwerker im Umfeld des Pietismus. Zur religiösen Selbstermächtigung in der Frühen Neuzeit. Halle/Saale: Verlag der Franckeschen Stiftungen 2016. – 384 S. 113. Gäbler, Karl Ulrich u. Marlon Ronald Fluck: Tempo de despertar – Pregadores do reavivamento do século XIX. Curitiba: Cia de Escritores 2015. – 218 S.

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114. Kannenberg, Michael: Von chiliastischer Erwartung und Missionsfesten: Wandlungen der Erweckung in Württemberg. In: Interkulturelle Theologie 42, 2016, 2/3, 168–181. 115. Grundmann, Christoffer H.: „Jesus ist Sieger!“ Heilungen im Wirken des Pfarrers Johann Christoph Blumhardt (1805–1880). In: Medizin- und kulturgeschichtliche Konnexe des Pietismus [s. Nr. 11], 235–254. 116. Brennecke, Hanns Christof: Die Rezeption von Luthers „Judenschriften“ in Erweckungsbewegung und Konfessionalismus. In: Martin Luthers „Judenschriften“: die Rezeption im 19. und 20. Jahrhundert. Hg. v. Harry Oelke [u. a.]. Göttingen; Bristol, CT, U.S.A.: Vandenhoeck & Ruprecht 2016, 85–105. 117. Albrecht, Ruth: Blut-Theologie und Blut-Mystik bei Charles Huddon Spurgeon, Elias Schrenk und Adeline Gräfin Schimmelmann. In: Medizin- und kulturgeschichtliche Konnexe des Pietismus [s. Nr. 11], 341–372.

III.11 Strömungen und Entwicklungen nach 1830 118. Breymayer, Reinhard: „Dees ischd a’ Abbild dessa’ davon . . .“ Zum pietistischen Sprachgebrauch in einer schwäbischen Erbauungsstunde des 20. Jahrhunderts. In: Medizin- und kulturgeschichtliche Konnexe des Pietismus [s. Nr. 11], 373–400. 119. Jung, Martin H.: The Impact of Pietism on Culture and Society in Germany. In: Religion as an Agent of Change [s. Nr. 15], 211–230.

IV. Andere Länder IV.01 England und Schottland 120. Gertz, Genelle C.: Quaker Mysticism as the Return of the Medieval Repressed: English Women Prophets before and after the Reformation. In: Mysticism and reform [s. Nr. 12], 177–197. 121. Laborie, Lionel: Philadelphia Resurrected: Celebrating the Union Act (1707) from Irenic to Scatological Eschatology. In: Jane Lead and her Transnational Legacy [s. Nr. 23], 213–239. 122. van Valen, L.J.: Was de Schotse episcopaalse theoloog John Forbes of Corse (1593–1648) een gereformeerde piëtist? In: Pietas reformata [s. Nr. 13], 167–182. 123. Apetrei, Sarah: Mystical Divinity in the Manuscript Writings of Jane Lead and Anne Bathurst. In: Jane Lead and her Transnational Legacy [s. Nr. 23], 167–186. 124. Capern, Amanda L.: Jane Lead and the Tradition of Puritan Pastoral Theology. In: Jane Lead and her Transnational Legacy [s. Nr. 23], 91–117. 125. Hessayon, Ariel: Introduction: Jane Lead’s Legacy in Perspective. In: Jane Lead and her Transnational Legacy [s. Nr. 23], 1–13. 126. Ders.: Lead’s Life and Times (Part One): Before Widowhood. In: Jane Lead and her Transnational Legacy [s. Nr. 23], 13–37. 127. Ders.: Lead’s Life and Times (Part Two): The Woman in the Wilderness. In: Jane Lead and her Transnational Legacy [s. Nr. 23], 39–69. 128. Ders.: Lead’s Life and Times (Part Three): The Philadelphian Society. In: Jane Lead and her Transnational Legacy [s. Nr. 23], 71–90.

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129. Johnston, Warren: Jane Lead and English Apocalyptic Thought in the Late Seventeenth Century. In: Jane Lead and her Transnational Legacy [s. Nr. 23], 119–142. 130. Lockley, Philip: Jane Lead’s Prophetic Afterlife in the Nineteenth-Century English Atlantic. In: Jane Lead and her Transnational Legacy [s. Nr. 23], 241–266. 131. Salvadori, Stefania: The Restitution of ‘Adam’s Angelical and Paradisiacal Body’: Jane Lead’s Metaphor of Rebirth and Mystical Marriage. In: Jane Lead and her Transnational Legacy [s. Nr. 23], 143–165. 132. Vries, P. de: De betekenis van de triniteit voor de godsvrucht bij John Owen (1616–1683). In: Pietas reformata [s. Nr. 13], 47–58.

IV.02 Niederlande 133. de Heer, J.M.D.: Een rijk gezegend dienstwerk. In: DNR 40, 2015, 1, 15–21. 134. Heijting, W.: Protestantse bestsellers in de Republiek rond het begin van de achttiende eeuw. In: Pietas reformata [s. Nr. 13], 233–246. 135. Huisman, F.W.: Pietas in zicht? In: Pietas reformata [s. Nr. 13], 261–276. 136. Meeuse, C.J.: Nadere Reformatie: een projectie of een historische beweging? In: Pietas reformata [s. Nr. 13], 105–116. 137. Theile, Martin: Brüdergemeine Amsterdam – Geschichte der ersten surinamischen Gemeinde in Europa. In: UnFr 73/74, 2016, 23–50. 138. van Campen, M.: Het gereformeerde Piëtisme en het Jodendom in de vroegmoderne tijd. In: Pietas reformata [s. Nr. 13], 219–230. 139. van der Pol, F.: Een gereformeerd-orthodoxe, piëtistische benadering van remonstrantse posities en Geneefse mysteries. In: Pietas reformata [s. Nr. 13], 79– 90. 140. van Lieburg, F.A.: Een egodocument vol emoties. Gereformeerde vromen in Willemstad in 1757. In: Pietas reformata [s. Nr. 13], 153–164. 141. van Veen, M.G.K.: Tegen „papery en slaverny“. Gereformeerde geschiedschrijvers over de Nederlandse reformatie. In: Pietas reformata [s. Nr. 13], 37–46. 142. Goudriaan, A.: ‚Genade heeft geen wapens nodig‘: Melchior Leydeckers commentaar op Augustinus’ geschrift Ad catholicos fratres. In: Pietas reformata [s. Nr. 13], 25–36. 143. Hoek, P.C.: De leer als bron van de lof. Melchior Leydecker (1642–1721) en de Nadere Reformatie. In: Pietas reformata [s. Nr. 13], 59–68. 144. van der Woude, R.E.: Bracht Johannes Martinus (1603–1665) de Nadere Reformatie naar Groningen? In: DNR 39, 2015, 2, 160–177. 145. Pol, Frank van der: Simon Oomius on the elderly: a seventeenth-century pietist as spiritual guide. In: Church history and religious culture 95, 2015, 2/3, 256–273. 146. Tippe, K.: Sporen van Bremens piëtisme en Nadere Reformatie? Henricus Reuter (1634–1663) in het licht van zijn omgeving. In: DNR 40, 2015, 1, 44–66. 147. Visser, P.: De doopsgezinde kruisbestuiving van uitgever en vertaler Marten Schagen met Engelse ‚zielstigters‘ als James Hervey, Thomas Green en Benjamin Bennet. In: Pietas reformata [s. Nr. 13], 203– 230. 148. Bisschop, R.: „De schapen zijn de wol schuldig, niet de huid“. Smijtegelt en de overheid. In: DNR 39, 2015, 2, 136–154. 149. Meeuse, C.J.: Leven en werk van Smytegelt tot en met Goes. In: DNR 39, 2015, 2, 99–116.

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150. Post, S.D.: Leven en werk van Smytegelt te Middelburg. In: DNR 39, 2015, 2, 117–125. 151. van Campen, M.: Smytegelt en de Joden. In: DNR 39, 2015, 2, 126–135. 152. van den Broeke, W.: Smytegelt en de slavernij. In: DNR 39, 2015, 2, 155–159. 153. Verboom, W.: Smytegelt en zijn catechismuspreken. Een bewogen pastor. In: DNR 40, 2015, 1, 2–14. 154. Mouthaan, J.N.: Johannes Teellinck (1623–1674) in context (1). In: DNR 39, 2015, 2, 178–190. 155. Ders.: Johannes Teellinck (1623–1674) in context (2). Turbulente jaren in Utrecht (1655–1660). In: DNR 40, 2015, 1, 22–43. 156. Uil, H.: „de roeckelooste van ’t gansche eylant“. Willem Teellinck in zijn eerste gemeente: Haamstede en Burgh, 1606–1613. In: Pietas reformata [s. Nr. 13], 129–140. 157. van Vlastuin, W.: Gods verborgenheid bij Teellinck: een nadere analyse. In: Pietas reformata [s. Nr. 13], 69–78. 158. van der Woude, R.E.: Johan Verschuir (1680–1736) en het Kort onderrigt der kleyn-wetende. In: DNR 40, 2015, 1, 67–75. 159. Niet, C.A. de: „God heeft ons deze rust geschonken“. Klassieke teksten in Voetius’ leerplan voor de theologie en andere geschriften. In: Pietas reformata [s. Nr. 13], 141–152. 160. van den Belt, H.: Antonius Walaeus en de grenzen van de Nadere Reformatie. In: Pietas reformata [s. Nr. 13], 117–128.

IV.03 Schweiz 161. Messerli, Alfred: Das Tagebuchführen bei Ulrich Bräker zwischen jüdisch-christlichen Voraussetzungen und pietistischer Schreibpraxis. In: Medizin- und kulturgeschichtliche Konnexe des Pietismus [s. Nr. 11], 317–340. 162. Kohler, Daniela: Der Zürcher Chiliasmus im Kreis von Johann Caspar Lavater und dessen Bekämpfung durch Heinrich Corrodi. In: Religion und Aufklärung [s. Nr. 16], 539–551.

IV.04 Skandinavien 163. Engelhardt, Juliane: Hallischer Pietismus in Dänemark in den 1720er und 1730er Jahren: Zwischen Erweckung und Disziplinierung. In: Aufgeklärte Lebenswelten [s. Nr. 8], 41–53. 164. The Swedish Pietists: a reader: excerpts from the writings of Carl Olof Rosenius and Paul Peter Waldenström. Hg. v. Mark Safstrom. Eugene, Or.: Pickwick Publ., 2015. – 237 S. 165. Claesson, Urban: Kris och kristnande. Olof Ekmans kamp för kristendomens återupprättande vid Stora Kopparberget 1689–1713: pietism, program och praktik. Göteborg, Stockholm: Makadam 2015. – 265 S.

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IV.05 Nordamerika 166. Froese, Brian: California Mennonites. Baltimore: Johns Hopkins University Press 2015. – 334 S. 167. Peucker, Paul: The Haube Revolt: Conflict and Disagreement in the Moravian Community of Nazareth, Pennsylvania, 1815. In: Journal of Moravian History 15, 2, 2015, 136–157. 168. Wolffe, John: Crusading, Reformation and Pietism in Nineteenth-Century North Atlantic Evangelicalism. In: Religion as an Agent of Change [s. Nr. 15], 231–256. 169. Wegewitz, Markus: „Alles wie im Waysenhaus“: Johann Ulrich Drießler und der hallische Pietismus in Frederica, Georgia. In: PuN 41 [s. Nr. 14], 57–77. 170. Jacobs, Bridget M.: ‘A Prophecy Out of the Past’: Contrasting Treatments of Jane Lead Among Two North American Twentieth-Century Millenarian Movements: Mary’s City of David and the Latter Rain. In: Jane Lead and her Transnational Legacy [s. Nr. 23], 267–289. 171. Wiggin, Bethany: Sister Marcella, Marie Christine Sauer (d. 1752), and the Chronicle of the Sisters at Ephrata. In: Mysticism and reform [s. Nr. 12], 295–320. 172. Westerholm, Stephen u. Martin Westerholm: The Pietists and Wesley. In: Dies.: Reading sacred scripture. Voices from the history of biblical interpretation. Grand Rapids, Michigan: Eerdmans Publishing Company 2016, 270–297.

V. Übergreifende Themen V.01 Theologie und Frömmigkeit 173. Albrecht, Ruth: Konzepte einer elitären geistlichen Priesterschaft im Umfeld des Pietismus unter Berufung auf Melchisedek. In: Überliefern – Erforschen – Weitergeben [s. Nr. 18], 157–168. 174. Holzem, Andreas: Typen der Heiligung als Modelle von Gemeinsinn: tridentinischer Katholizismus – lutherische Orthodoxie – Pietismus. In: Vielfältiges Christentum. Dogmatische Spaltung – kulturelle Formierung – ökumenische Überwindung? Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2016, 105–153. 175. Lehmann, Hartmut: Saving One’s Soul in an Age of Crises. In: Journal of Early Modern Christianity 1, 2014, 2, 207–218. 176. Lieburg, Fred van: Piety or Pietism? A Comparison of Early Modern Danish and Dutch Examples of Interconfessional Religiosity. In: Religion as an Agent of Change [s. Nr. 15], 189–210. 177. Quantin, Jean-Louis: Paradoxes of Christian Solitude in the Seventeenth Century. In: Journal of Early Modern Christianity 1, 2014, 2, 219–233. 178. Szyrwińska, Anna: Zur Rezeption der molinistischen Lehre von der scientia media im Pietismus. Joachim Langes Theorie des göttlichen Wissens. In: Religion und Aufklärung [s. Nr. 16], 479–488.

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V.02 Sozial- und Staatslehre, Pädagogik und Erziehung 179. Aebi, Sara: Mädchenerziehung und Mission. Die Töchterpension der Herrnhuter Brüdergemeine in Montmirail im 18. Jahrhundert. Köln [u. a.]: Böhlau Verlag, 2016. – 426 S. 180. Beims, Klaus-Dieter: Die notwendigen Sünder – Autorenlektüre und Erziehung zur lateinischen Aktivsprachlichkeit im Halleschen Pietismus. In: Wissenschaftliche Erziehung seit der Reformation: Vorbild Mitteldeutschland. Beiträge des 5. Erfurter Humanismuskongresses 2015. Hg. v. Rudolf Bentzinger u. Meinolf Vielberg. Erfurt: Verlag der Akademie gemeinnütziger Wissenschaften zu Erfurt 2016, 115–136. 181. Brand, Itzhak: On Suspicion: Justice, Ethics, and Society – between Rationalism and Pietism. In: Jewish Law Annual 21, 2015, 19–46. 182. Choral, Cantor, Cantus firmus. Die Bedeutung des lutherischen Kirchenliedes für die Schul- und Sozialgeschichte. Hg. v. Erik Dremel u. Ute Poetzsch. Halle/Saale: Verlag der Franckeschen Stiftungen, Wiesbaden: Harrassowitz 2015. – 184 S. 183. Schmid, Pia: Auffallende Kinder im beginnenden 18. Jahrhundert: die Herrnhuter Kindererweckung 1727 und das schlesische Kinderbeten 1707/08. In: Hexenkinder – Kinderbanden – Straßenkinder. Hg. v. Wolfgang Behringer u. Claudia Opitz-Belakhal. Bielefeld: Verlag für Regionalgeschichte 2016, 349–364. 184. Wunder, Heide: Schule halten in der Frühen Neuzeit. Eine Einführung. In: Schule und Bildung in Frauenhand [s. Nr. 24], 45–77. 185. „Gottes furcht“ und „honnêteté“: die Erziehungsinstruktionen für Friedrich Wilhelm I. von Brandenburg-Preußen durch August Hermann Francke und Gottfried Wilhelm Leibniz. Hg. v. Christoph Schmitt-Maaß. Halle/Saale: Verlag der Franckeschen Stiftungen 2016. – 101 S. 186. Witt, Ulrike: Henriette Catharina von Gersdorff (1648–1726) und das hallesche Gynäceum: ein pietistischer Bildungsversuch. In: Schule und Bildung in Frauenhand [s. Nr. 24], 191–201. 187. Jacobi, Juliane: Eine europäische Modellschule: Madame de Maintenon (1635 –1719) und Saint-Cyr. In: Schule und Bildung in Frauenhand [s. Nr. 24], 175– 191. 188. Erickson, Peter: „Ist es rathsam Missethäter durch Geistliche [. . .] zur Hinrichtung begleiten zu lassen?“ Gotthilf Samuel Steinbart’s Critique of Pietist Conversion Narrative. In: Religion und Aufklärung [s. Nr. 16], 243–253.

V.03 Ökumene, Mission und Diakonie 189. Hüsgen, Jan: Mission und Sklaverei. Die Herrnhuter Brüdergemeine und die Sklavenemanzipation in Britisch- und Dänisch-Westindien. Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2016. – 236 S. 190. Křížová, Markéta: „Stadt auf dem Berg“: Missionen der Brüder-Unität in vergleichender Perspektive. In: UnFr 73/74, 2016, 75–94. 191. Michael Markert: Ein Herr und tausend Kirchen? Ökumenische Kirchenkunde. Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2015. – 135 S. 192. Yaswinski, Lanie: How One Spends a Useful Visit: The Letters of Friederica Göttlich Braun in the Eastern West Indies. In: Journal of Moravian History 15, 2, 2015, 177–191.

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193. Henke, Lucia: Von Niesky nach Australien: der Missionar Nikolaus Hey und die Gründung von Mapoon in North Queensland. In: Neues lausitzisches Magazin 138, 2016, 85–98. 194. Müller-Bahlke, Thomas u. Alexander Wieckowski: Heinrich Melchior Mühlenberg und der Katharinenhof zu Großhennersdorf. Dresden: Neisse-Verl. 2015. – 234 S.

V.04 Philosophie, Literatur, Kunst, Architektur und Musik 195. Aikin, Judith P.: The self-reflective gaze: Devotional art between new piety and pietism in Lutheran Schwarzburg-Rudolstadt. In: The sixteenth century journal: the journal of early modern studies 46, 2015, 4, 853–890. 196. Graulich, Gerhard: Zwischen Pietismus und Aufklärung: zur Programmatik der Ludwigsluster Skulpturen im 18. Jahrhundert. In: Schloss Ludwigslust. Hg. v. Staatlichen Museum Schwerin, Ludwigslust, Güstrow und den Staatlichen Schlössern und Gärten Mecklenburg-Vorpommern. Berlin: Deutscher Kunstverlag 2016, 112–127. 197. Grote, Simon: Vom geistlichen zum guten Geschmack? Reflexionen zur Suche nach den pietistischen Wurzeln der Ästhetik. In: Schönes Denken [s. Nr. 20], 365–380. 198. Miersemann, Wolfgang: „anstößige und höchst verdächtige Redens=Arten“. Orthodoxe Kritik an sprachlicher „Neurung“ in Liedern des Pietismus. In: Medizin- und kulturgeschichtliche Konnexe des Pietismus [s. Nr. 11], 279–302. 199. Moser, Nelleke: Performing Pietism in the Peatlands. Songs in the Manuscript Miscellany of a Village Schoolmaster in the Dutch Republic between 1750 and 1800. In: Identity, intertextuality, and performance in early modern song culture. Hg. v. Dieuwke van der Poel [u. a.]. Leiden, Boston: Brill 2016, 59–92. 200. Mussgnug, Tabea: Mittagsgebet und Scheunenpredigt. Spuren des Pietismus in den Werken württembergischer Maler. In: BWKG 115, 2015, 139–154. 201. Rosenroth, Christian Knorr von: Neuer Helicon mit seinen Neun Musen. Hg. v. Rosemarie Zeller und Wolfgang Hirschmann. Beeskow: ortus musikverlag 2016. – 233 S. 202. Seebach, Helmut: Die geheime Bildersprache des Pietismus. Christliches Leben zwischen Reformation und Inquisition. Mainz: Bachstelz-Verlag 2016. – 268 S. 203. Stengel, Friedemann: Was ist Humanismus? In: PuN 41 [s. Nr. 14], 154–211. 204. Aichele, Alexander: Ding und Begriff. Wirklichkeit und Möglichkeit in A.G. Baumgartens Theorie ästhetischer und szientifischer Erkenntnis. In: Schönes Denken [s. Nr. 20], 117–126. 205. Peres, Constanze: Die Doppelfunktion der Ästhetik im philosophischen System A.G. Baumgartens. In: Schönes Denken [s. Nr. 20], 89–116. 206. Lorbeer, Lukas: „Er wird uns fröhlich leiten ins ewig Paradeis“. Ewigkeitslieder im Liedgut vor Paul Gerhardt. In: „. . . dort im andern Leben“ [s. Nr. 21], 9–28. 207. Kohler, Daniela: Eschatologie und Soteriologie in der Dichtung. Johann Caspar Lavater im Wettstreit mit Klopstock und Herder. Berlin: De Gruyter 2015. – 383 S.

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208. Asendorf, Christoph: Veranschaulichte Welt. Der Orbis Pictus, das wissenschaftliche Theater von Leibniz und die Vermittlungsstrategien in den Franckeschen Stiftungen. In: Schönes Denken [s. Nr. 20], 381–393. 209. Dal, Noémie: Die 1739-geschriebenen Trauergedichte von Johann Conrad Lichtenberg (1689–1751) im Raum des Pietismus und der gemischten madrigalischen Kantate. Brussel: Vrije Universiteit 2015. – 117 S.

V.05 Medizin, Naturwissenschaften und Psychologie 210. Die gesammelte Welt. Studien zu Zedlers „Universal-Lexicon“. Hg. v. Kai Lohsträter u. Flemming Schock. Wiesbaden: Harrassowitz 2013. – 329 S. 211. Midelfort, H. C. Erik: Medicine, Theology, and the Problem of Germany’s Pietist Ecstatics. In: God in the Enlightenment. Hg. v. William J. Bulman u. Robert G. Ingram. New York: Oxford University Press 2016, 236–256. 212. Bach, Jeff: Heilung, Medizin und Alchimie in Ephrata, Pennsylvania. Conrad Beissel, Samuel Eckerlin, Jacob Martin. In: Medizin- und kulturgeschichtliche Konnexe des Pietismus [s. Nr. 11], 211–222. 213. Lagny, Anne: Adam Bernds Selbstanalyse seiner Leibesanfechtungen und Heilungsbemühungen im Lichte pietistischer Psychagogik (Eigene Lebensbeschreibung, 1738). In: Medizin- und kulturgeschichtliche Konnexe des Pietismus [s. Nr. 11], 165–178. 214. Sahmland, Irmtraut: Das „Decorum Medici von denen Machiavellischen Thorheiten gereinigt“ – eine medizinethische Anleitung von Johann Samuel Carl. In: Medizin- und kulturgeschichtliche Konnexe des Pietismus [s. Nr. 11], 19–44. 215. Kinzelbach, Annemarie u. Marion Maria Ruisinger: Pietistische Medizin? Die Praxis des Nürnberger Arztes Johann Christoph Götz (1688–1733). In: Medizinund kulturgeschichtliche Konnexe des Pietismus [s. Nr. 11], 91–112. 216. Schrader, Hans-Jürgen: Vom ekstatisch-prophetischen zum magnetischen Beispielfall: Hemme Hayen. In: Medizin- und kulturgeschichtliche Konnexe des Pietismus [s. Nr. 11], 179–210. 217. Grutschnig-Kieser, Konstanze: „Tingire du uns noch mit göttlicher Tinctur / Und heile durch und durch Natur und Creatur!“ Zum Wirken des inspirierten Mediziners Johann Philipp Kämpf (1688–1753). In: Medizin- und kulturgeschichtliche Konnexe des Pietismus [s. Nr. 11], 113–142. 218. Lückel, Ulf: Medizinisch-alchimistische Traditionsmitgiften im Pietismus. Friedrich Christoph Oetinger – Johann Friedrich Metz – Johann Wolfgang Goethe. In: Medizin- und kulturgeschichtliche Konnexe des Pietismus [s. Nr. 11], 223–234. 219. Faßhauer, Vera: „Ô stultam sapientiam!“ Zum Verhältnis von pietistischer Selbsterkenntnis und weltlicher Gelehrsamkeit in den Tagebüchern des jungen Johann Christian Senckenberg. In: Medizin- und kulturgeschichtliche Konnexe des Pietismus [s. Nr. 11], 45–68. 220. Marschall, Veronika: Johann Christian Senckenberg (1707–1772) und die „Pietas Medici“. In: Medizin- und kulturgeschichtliche Konnexe des Pietismus [s. Nr. 11], 69–90. 221. Wöbkemeier, Rita: Johann Friedrich Struensee (1737–1772) als Arzt und Mediziner. In: Medizin- und kulturgeschichtliche Konnexe des Pietismus [s. Nr. 11], 143–164.

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V.06 Ökonomie, Industrialisierung 222. Cantoni, Davide: The economic effects of the Protestant Reformation: testing the Weber hypothesis in the German lands. In: Journal of the European Economic Association 13, 2015, 4, 561–598. 223. Gordon, Scott Paul u. Robert Paul Lienemann: The Gunmaking Trade in Bethlehem, Christiansbrunn, and Nazareth: Opportunity and Constraint in Managed Moravian Economies, 1750–1800. In: Journal of Moravian History 16, 1, 2016, 1–44.

V.07 Buch-, Bibliotheks- und Verlagsgeschichte, Medien und Kommunikation 224. Bruun, Mette Birkedal [u. a.]: Withdrawal and Engagement in the Long Seventeenth Century: Four Case Studies. In: Journal of Early Modern Christianity 1, 2014, 2, 249–343. 225. Lohsträter, Kai: Die Entzündung der Geister: Kommunikation, Medien und Gesellschaft in der Ruhrregion im 18. Jahrhundert. Zugleich ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Provinzpresse in der Frühen Neuzeit. Bremen: edition lumière, 2016. – 585 S. 226. Müller-Bahlke, Thomas: Reisewissen weitergeben: die Kunst der Kommunikation gegen das Risiko des Reisens im Halleschen Pietismus. In: Reisekulturen in Europa. Hg. v. Rüdiger Fikentscher. Halle/Saale: Mitteldt. Verl. 2015, 82–93. 227. Schmalz, Bjorn: Bücherschmuggel als Diasporahilfe. Friedrich Heinrich von Seckendorff in Ungarn. In: Wie pietistisch kann Adel sein? [s. Nr. 19]. 228. van de Kamp, J.: Netwerken als stimulans van een geïntegreerde lees- en schrijfpraktijk: de gereformeerde predikant Theodor Undereyck (1635–1693). In: Pietas reformata [s. Nr. 13], 247–260.

V.08 Gender 229. McGinn, Bernard: „Das Schwache in der Welt“. Mystikerinnen als Theologinnen (1150–1700). In: „Dir hat vor den Frauen nicht gegraut“ [s. Nr. 10], 13–33. 230. van Gent, Jacqueline: Gendered Power and Emotions: The Religious Revival Movement in Herrnhut in 1727. In: Gender and emotions in medieval and early modern Europe: destroying order, structuring disorder. Hg. v. Susan Broomhall. Farnham: Burlington; Ashgate 2015, 215–233. 231. Jakubowski-Tiessen, Manfred: Scheidung auf pietistisch. Die gescheiterte Ehe Johanna Dorothea und Christian Ludwig Scheidts. In: Überliefern – Erforschen – Weitergeben [s. Nr. 18], 169–180.

V.09 Geschichtsbewusstsein und -konstruktion 232. Amundsen, Arne Bugge: Religion as an Agent of Change – Concluding Remarks. In: Religion as an Agent of Change [s. Nr. 15], 257–270. 233. Albrecht-Birkner, Veronika: „Reformation des Lebens“ und „Pietismus“ – ein historiografischer Problemaufriss: Ernst Koch zum 85. Geburtstag. In: PuN 41 [s. Nr. 14], 126–153.

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234. Härle, Gerhard: Reinheit der Sprache, des Herzens und des Leibes: Zur Wirkungsgeschichte des rhetorischen Begriffs puritas in Deutschland von der Reformation bis zur Aufklärung. Tübingen: Max Niemeyer Verlag 2015. – 293 S.

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REGISTER

Personenregister Die gerade gesetzten Seitenzahlen verweisen auf den Haupttext, die kursiv gesetzten auf die Anmerkungen, die Nr.-Angaben auf die Bibliographie. Achilles, Andreas 81 Aebi, Sara Nr. 179 Aeschylus 58 Aichele, Alexander Nr. 204 Aikin, Judith P. Nr. 195 Alberti, Martin 23 Albrecht, Georg 100 Albrecht, Ruth Nr. 66, 117, 173 Albrecht-Birkner, Veronika Nr. 233 Allerkamp, Andrea Nr. 20 Alsted, Johann Heinrich 145 Ambach, Melchior 94, 101 Amundsen, Arne Bugge Nr. 232 Andrae, Johann Valentin 47 Andriesen, Franz 136 Anna Dorothea Prinzessin von SachsenWeimar, Äbtissin des Reichsstifts Quedlinburg 65 f., 68 f., 71, 73, 75–80, 83–86 Anna Maria Pfalzgräfin von Neuburg und Herzogin von Sachsen-Weimar 60 Anna Sophia Pfalzgräfin von ZweibrückenBirkenfeld, Äbtissin des Reichsstifts Quedlinburg 70 Anna-Sophia II. Prinzessin von HessenDarmstadt, Äbtissin des Reichsstifts Quedlinburg 65 Apetrie, Sarah Nr. 123 Arndt, Johann 47, 175, 180, 212; Nr. 43, 44 Arnold, Gottfried 157, 159, 207–210; Nr. 61–63 Asendorf, Christoph Nr. 208 Asseburg, Gertraud Margarete von der 81 Asseburg, Rosamunde Juliane 81 Avicenna 23 Baars, A. Nr. 47 Bach, Jeff Nr. 212

Bahnsen, Benedict 145 Balders, Günter Nr. 21 Ball, Gabriele Nr. 24 Barrefelt, Hendrik Jansen van (Pseudonym Hiël) 125, 129 f., 143–146 Barth, Karl 212 Bartisch, Christoph 170 Bathurst, Anne Nr. 123 Baumgarten, Alexander Gottlieb Nr. 20, Nr. 106, Nr. 204, Nr. 205 Baumgarten, Sigmund Jakob 196 Becker, Otto Heinrich 108 Beer, Johann 89 Beerensprung, Siegmund 100 Beets, Hendrick 127 Behringer, Wolfgang Nr. 183 Beims, Klaus-Dieter Nr. 180 Beissel, Conrad Nr. 212 Below, August Adolph 171 f. Belt, H. van den Nr. 160 Benade, Andreas 166, 170 Bengel, Johann Albrecht 149, 173, 212 Bennet, Benjamin Nr. 147 Benrath, Gustav Adolf Nr. 67 Bentzinger, Rudolf Nr. 180 Bernd, Adam Nr. 213 Berner, Johann 40 Besold, Christoph 38 Betke, Heinrich 127 Bettermann, Wilhelm 216 Beutel, Albrecht Nr. 16 Beyreuther, Erich Nr. 50 Biefer, Wilhelm 168, 170 Binder, Philipp Friedrich 189 Birckner, Johann 31, 38, 50 Bischoff, Johann Jakob 44, 50 f. Bisschop, R. Nr. 148

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Blaufuß, Dietrich Nr. 2, 50 Blumhardt, Friedrich 212 Blumhardt, Johann Christoph 212, Nr. 115 Bogatzky, Karl Heinrich von 175 Böhme, Jakob 117, 122, 124–126, 128– 131, 142–146, 212; Nr. 32, 33 Böhmer, Georg 170 Bohnstedt, David Sigismund 105 Bornkamm, Heinrich Nr. 32 Böß, Stefanie Nr. 1, Nr. 70 Bossuet, Jacques-Bénigne 159 Bötticher, Johann Heinrich 83 Bourignon, Antoinette 145 Boxbart, Abraham 61 Brademann, Jan Nr. 101 Bräker, Ulrich Nr. 161 Brand, Itzhak Nr. 181 Breckling, Friedrich 145, 146 Breisacher 141, 143 Breisacher, Johann Ludwig 142 Breithaupt, Joachim Justus 81, 83–86 Brennecke, Hanns Christof Nr. 116 Breul, Wolfgang Nr. 53 Breymayer, Reinhard Nr. 118 Bringer, Johann 40 Brocke, Heinrich Matthias von 102 Broeke, W. van den Nr. 152 Brömel, Christian Heinrich 100 Broomhall, Susan Nr. 230 Brückner, Hieronymus 34, 35 Brückner, Jörg Nr. 3 Bruun, Mette Birkedal Nr. 224 Bucer, Martin 10, 12 Bulman, William J. Nr. 211 Bunners Nr. 21, 34, 37 Burkhardt, Johannes Nr. 68 Caflisch-Schnetzler, Ursula Nr. 110 Calixt, Georg Nr. 44 Calvisius, Seth 76 f. Campen, M. van Nr. 138, Nr. 151 Cantoni, Davide Nr. 222 Capern, Amanda L. Nr. 124 Capito, Wolfgang 10 Carl Leopold Herzog zu MecklenburgSchwerin Nr. 57 Carl, Johann Samuel Nr. 214 Cellarius, Christoph 58, 61 Chafe, Eric Thomas Nr. 45 Chemlin, Caspar 52, 54

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Christian Ernst Graf zu Stolberg-Wernigerode Nr. 103 Christian II. Pfalzgraf und Herzog von Pfalz-Zweibrücken-Birkenfeld 70 Christian Theophilus 41–64 Christine Elisabeth Prinzessin von Schleswig-Holstein-Sonderburg 65 Chytraeus, David 16 Claesson, Urban Nr. 165 Clausen, Jakob 130 Claussen, Johann Hinrich Nr. 104 Clemens, Theo Nr. 71 Cleß, Wilhelm Jeremias Jakob 150 Collin, Friedrich Eberhard 100 Comenius, Daniel 145 Comenius, Johann Amos 118, 122 f., 131, 134, 145 Corrodi, Heinrich Nr. 162 Corvinus, Johann Friedrich 209 f. Crasselius, Johann 102 Croll, Oswald 34 Crusius, David 30 f. Cyprian, Ernst Salomo 209 Dal, Noémie Nr. 209 Delgado, Mariano Nr. 10 Dellsperger, Rudolf Nr. 9 Dibelius, Franz 207 Dieterich, Conrad 54 Drabík, Niklaus 123 Dremel, Erik Nr. 182 Dreßel, Wolfgang 109 f. Dresser, Matthäus 17 Drießler, Johann Ulrich Nr. 169 Duchesne, Joseph 34 Dudah, Mathias (Matej) 172 Duttenhofer, Christian Friedrich 186–188 Ebenritter, Simon 14 Eberlein, Hermann-Peter Nr. 17 Eckerlin, Samuel Nr. 212 Ehinger, Siglind Nr. 90 Eißner, Daniel Nr. 112 Ekman, Olof Nr. 165 Elerdt, Martin Friedrich Nr. 49 Elers, Heinrich Julius 107 Engelhardt, Juliane Nr. 163 Erastus, Thomas 34 Erickson, Peter Nr. 188

Ernst Casimir Graf von Ysenburg-Büdingen 108 Faber, Christoph Friedrich 177 Fabre, Pierre-Antoine Nr. 65 Fabricius, Christoph Gabriel 178 Faßhauer, Vera Nr. 219 Fäusius, Kaspar 126 Felgenhauer, Paul 55, 126 Fernando Álvarez de Toledo Herzog von Alba 119 Fikentscher, Rüdiger Nr. 226 Fingerhut-Säck, Mareike Nr. 103 Fischer, Ole 129 f., 144; Nr. 8 Flach, Jacob 22 f., 30 Fluck, Marlon Ronald Nr. 113 Forbes of Corse, John Nr. 122 Förster, Herbord 34, 35, 168 Foscher, Loth 128 Franck, Sebastian 125, 130 Francke, August Hermann 53–60, 81 f., 85, 96–98, 101, 104, 108, 151, 160, 175, 180, 193–197, 205, 209, 212; Nr. 47, 107, 185 Francke, Gotthilf August 193 Francke, Johann 40 Freigius, Johann Thomas 61 Freitag, Bernhard 143 Freylinghausen, Johann Anastasius 210 Friedrich Caspar Graf von Gersdorf 164– 166, 168, 170 f., 173 f., 177 f., 181 Friedrich Graf von Fürstenberg 10 Friedrich II. König von Preußen Nr. 69 Friedrich III. Kurfürst von Brandenburg 12 Friedrich Wilhelm I. König in Preußen Nr. 185 Friedrich, Daniel 125 Fries, Johann Heinrich 136 Fritz, Eberhard Nr. 91 Froese, Brian Nr. 166 Frommer, Michael 35 Füssli, Heinrich Nr. 110 Gäbler, Karl Ulrich Nr. 113 Galenus 23, 34 Geiger, Lucas Nr. 108 Gent, Jacqueline van Nr. 230 Gerbel, Nikolaus 10 Gerhard, Johann 210

Gerhard, Paul Nr. 21, Nr. 34, Nr. 35, Nr. 206 Gertz, Genelle C. Nr. 120 Geyer, Hermann Nr. 42 Gichtel, Johann Georg Nr. 64 Gier, Helmut Nr. 54 Gisela Agnes Prinzessin von Anhalt-Köthen Nr. 101 Goethe, Johann Wolfgang 208; Nr. 78, 218 Gordon, Scott Paul Nr. 223 Göttlich Braun, Friederica Nr. 192 Götz, Johann Christoph Nr. 215 Goudriaan, A. Nr. 142 Christian Ludwig Graf von Waldeck und Pyrmont 108 Gramann, Johannes 28–31 Grass, Günter Nr. 78 Graßmann, Andreas 215 Graulich, Gerhard Nr. 169 Green, Thomas Nr. 147 Greiff, Sebastian 28–30 Groenendijk, L.F. Nr. 4 Grosse, Henning 40 Grote, Simon Nr. 108, 197 Grundmann, Christoffer H. Nr. 115 Gruner, Georg 167 Gruner, Johann Georg 166 Gruner, Magdalena 167 Gruner, Marita Nr. 72 Grunewald, Thomas Nr. 55 Grutschnig-Kieser, Konstanze Nr. 217 Hagen, Johann Georg 25 Halbmaier, Simon 40 Härle, Gerhard Nr. 234 Harms, Claus Nr. 109 Harpprecht, Ferdinand Christoph 150 Hartenstein, Karl 221 Hartlib, Samuel 145 Hartmann, Johann 25 Hartmann, Konrad 121 Hartmann, Margareta 121 Hassel, Johann Heinrich 94 Hasselmajer, Wilhelm Konrad 149 Haupt, Michael 173 Hayen, Hemme Nr. 216 Heer, J.M.D. de Nr. 133 Heidegger, Johann Heinrich 144 Heijting, W. Nr. 134

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Heinrich II. Graf von Reuß-Obergreiz 106 f., 109 f. Heinrich X. Graf von Reuß-Ebersdorf 112 Heinrich XXIV. Graf von Reuß-Köstritz 107, 112 Heller, Christoph Konrad 153 Helmund, Egidius Günther 100 Henke, Lucia Nr. 193 Henriette Katharina Gräfin von Gersdorf 163; Nr. 186 Herder, Johann Gottfried Nr. 207 Hermes Trismegistos 42, 47 Hervey, James Nr. 147 Hess, Felix Nr. 110 Hessayon Nr. 23, 125–128 Hetzel, Andreas 16, 17 Hey, Nikolaus Nr. 193 Hiël s. Barrefelt Hirschmann, Wolfgang Nr. 201 Hitler, Adolf 219 Hoburg, Christian 122, 125, 131, 143–146 Hochmann von Hohenau, Ernst Christoph 112 Hochstetter, Johann Andreas 149 f. Hoek, P.C. Nr. 143 Hoffmann, Jacob 15, 19 Hoffmann, Laurentius 22 Holzem, Andreas Nr. 25, 174 Holzhalb, David 116 Hornung, Sebastian 23 f., 26 f., 59 f. Horstius, Gregor 27 Hossbach, Wilhelm 201 Huber, Samuel 17 Hübner 30, 39 Huisman, F.W. Nr. 135 Hünefeldt, Andreas 39 Hunnius, Ägidius 17 f., 21, 23 Hus, Jan 148, 155, 160; Nr. 22, Nr. 36 Huser, Johann 31 Hüsgen, Jan Nr. 189 Hütter, Leonhart Nr. 37 Hippokrates 23 Illyricus, Matthias Flacius 157 Ingesman, Per Nr. 15 Ingram, Robert G. Nr. 211 Jablonski, Daniel Ernst Nr. 84 Jacobi, Juliane Nr. 24, 187 Jacobi, Justus 26

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Jacobs, Bridget M. Nr. 170 Jäger, Johann Wolfgang 150 Jakubowski-Tiessen, Manfred Nr. 231 Jäncke, Georg 165 f. Janicaud, Wilhelm Adolph 171 Jaspert, Bernd Nr. 26, 27 Johann Ernst Herzog v. Weimar 31 Johann Ernst II. Herzog von Sachsen-Weimar 65 Johann Georg I. Kurfürst von Sachsen 31 Johann Philipp Herzog von Sachsen-Altenburg 61 Johnston, Warren Nr. 129 Joris, David 125 Jung, Johann Heinrich, gen. Stilling 183– 185, 197–201 Jung, Martin H. Nr. 119 Kamp, Jan van de Nr. 13, 228 Kämpf, Johann Philipp Nr. 217 Kanne, Johann Arnold 152 Kannenberg, Michael Nr. 114 Kartnitscher, Tünde Beatrix Nr. 39 Kaufhold, Barbara Nr. 69 Kaufmann, Paul 20 Kellner von Zinnendorf, Johann Wilhelm 102 f. Kempen, Thomas von 212 Kessler, Johann Konrad 98 Kierkegaard, Søren 212 Kindermann, Nora Nr. 92 King, Alana Nr. 40 Kinzelbach, Annemarie Nr. 215 Kirn, Hans-Martin Nr. 28 Klingler, Antistes Anton 137 Klopstock, Friedrich Gottlieb Nr. 207 Klosterberg, Brigitte Nr. 5 Knapp, Johann Georg 193 f. Knauthe, Christian 176 Knorr von Rosenroth, Christian 145; Nr. 201 Kohler, Daniela Nr. 162, 207 Kölbing, Paul 216 König, Johann Friedrich 210 Konstantin der Große Nr. 63 Kopfstadt, Johann Gottfried 105 Köprülü, Ahmet 123 Kotter, Christoph 123 Kraack, Detlev Nr. 109 Křížová, Markéta Nr. 190

Kröger, Rüdiger Nr. 73–75, 81 f. Krüger, Samuel Gotthold 177 Kuhlmann, Quirinius 146 Kühlmann, Wilhelm Nr. 61 Kühn, Johann Gottfried 166, 167, 170, 174–176, 179 Kuhn, Thomas K. Nr. 29 Kunrath, Henricus 34 Kunz, Georg Nr. 80 Labadie, Jean de 145, 212; Nr. 65 Laborie, Lionel Nr. 121 Lagny, Anne Nr. 213 Lange, Joachim 114, 171, 209; Nr. 178 Lange, Johann Christian 98 Lange, Johann Wilhelm 111 Lange, Matthäus 178, 167 Latermann, Wolfgang 22 Lautensack, Paul 125 Lavater, Johann Caspar 184; Nr. 110, 162, 207; Nr. 162 Lead, Jane 117, 128, 131, 145; Nr. 23, 64, 123–131, 170 Lehmann, Hartmut Nr. 175 Lehmann, Peter 169 Leibniz, Gottfried Wilhelm Nr. 185, 208 Leppin, Volker Nr. 10 Leydecker, Melchior Nr. 142, 143 Libavius, Andreas 30, 34, 38 f. Lichtenberg, Johann Conrad Nr. 209 Lieburg, Fred A. van Nr. 140, Nr. 176 Lienemann, Robert Paul Nr. 223 Lipsius, David 39 Lischke, Johann 169 Locher, Johann Heinrich 116–119, 127– 129, 131, 135 f., 137, 138 f., 141–143 Lockley, Philip Nr. 130 Löhner (Nadler) 110 f. Lohsträter, Kai Nr. 210, Nr. 225 Lorbeer, Lukas Nr. 206 Löscher, Valentin Ernst 154, 158 Lösecke, Christoph Albrecht 175 Lossin, Eike Nr. 1 Lucius, Hieronymus 25 Lückel, Ulf Nr. 93, 218 Lüders, Justus 84–86 Ludwig V. Landgraf von Hessen-Darmstadt 26 Ludwig VI. Kurfürst von der Pfalz 13

Ludwig Friedrich Graf zu Castell-Remlingen Nr. 102 Luther, Martin 9–11, 16–18, 42 f., 47, 51, 53, 63, 148, 155, 157–162, 164, 173, 179 f.; Nr. 32, 38, 116 Lütkemann, Joachim Nr. 45 Magdalena Sibylle Kurfürstin von Sachsen 67 Magdalena Sophia Prinzessin von Schleswig-Holstein-Sonderburg 79, 82, 84 Magen, Ferdinand Nr. 94 Mager, Inge Nr. 18, 43 Mahling, Lubina Nr. 95 Maintenon, Mme de Nr. 187 Mair, Georg 63 Marbach, Johann 10 Markert, Michael Nr. 191 Marschall, Veronika Nr. 220 Martin, Jacob Nr. 212 Martin, Lucinda Nr. 64 Martinus, Johannes Nr. 144 Matthias, Markus Nr. 46, 48, 56, 62 May, Johann Heinrich 209 McCullough, Thomas J. Nr. 6 McGinn, Bernard Nr. 229 Meeuse, C.J. Nr. 136, 149 Meissner, August Gottlieb 181 Meister Eckhart Nr. 40 Melanchton, Philipp 11, 12, 16, 18, 51, 63 Melisch (Meliš), Stephan 123, 131 f., 134 f., 145 f. Mennecke, Ute Nr. 105 Mentzer, Balthasar 26 Merck, Andreas 50 Messerli, Alfred Nr. 161 Messerschmidt, D.G. Nr. 111 Metz, Johann Friedrich Nr. 218 Metzig, Gregor M. Nr. 36 Meyer, Dietrich Nr. 83, Nr. 87 f. Meyer, Gerhard 82, 85 Midelfort, H.C. Erik Nr. 211 Miersemann, Wolfgang Nr. 198 Miertsching, Johann August 169 Mirbach, Dagmar Nr. 20 Möhn, Georg (Jurij Mjeń) 174 Moser, Nelleke Nr. 199 Moritz Landgraf v. Hessen-Kassel 25 Motel, Hans-Beat Nr. 76 Mouthaan, J.N. Nr. 154, Nr. 155

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Mühlenberg, Heinrich Melchior Nr. 194 Müller, Georg 174 Müller, Heinrich Nr. 45 Müller-Bahlke, Thomas Nr. 190, 226 Multhammer, Michael Nr. 60 Musaeus, Johannes Nr. 56 Mußgnug, Tabea Nr. 89, Nr. 200 Mylau, Johann 111 Nepila, Hanso 168 Nerreter, David 84 Niemeyer, August Hermann 194 f., 201 f. Niemeyer, David Gottlieb 193 Niet, C.A. de Nr. 159 Nikol II. von Gersdorf 163 Noller, Matthias Nr. 79, Nr. 96 Nollius, Heinrich 24, 25, 47, 52 Nooke, Martha Nr. 16 Oelke, Harry Nr. 116 Oettinger, Friedrich Christoph 212, Nr. 218 Oomius, Simon Nr. 145 Opitz-Belakhal, Claudia Nr. 183 Orde, Klaus vom Nr. 30 Orthelius, Vitus 20 Ovid 58 Owen, John Nr. 132 Panckow, Thomas 38 Papst Sixtus IV. 151 Paracelsus 23, 29, 34, 40, 42, 47, 49, 52, 63, 122, 125, 144, Pasch, Johann Georg 99 Paul, Anton 209 Pečar, Andreas Nr. 19, 57 Pech Johann 168, 177 Peres, Constanze Nr. 205 Petermann, Georg 173, 174 Peters, Christian Nr. 102 Petersen, Johanna Eleonora Nr. 66 Petterson, Christina Nr. 77 Peucker, Paul Nr. 177 Pfaff, Christoph Matthäus 150 Pfanner, Tobias 208–210 Philipps, Albrecht Nr. 97 Phrygion, Paul 9 Piscator, Petrus 23 Plato 42 Platter, Felix 28 Poel, Dieuwke van der Nr. 199

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Poetzsch, Ute Nr. 182 Pol, Frank van der Nr. 139, Nr. 145 Poniatowska, Christina 123 Poor, Sara S. Nr. 12 Possel, Johann 17 Post, S.D. Nr. 150 Pythagoras 42 Quantin, Jean-Louis Nr. 177 Quernt, Joachim 29 f. Ramming, Jochen Nr. 1 Redinger, Johann Heinrich 118 f., 122 f., 131–135, 145 f. Reichard Herzog von Pfalz-Simmern 13 Reiser, Anton 89 Reitz, Johann Heinrich 152 Reuter, Henricus Nr. 146 Rhenanus, Beatus 10 Richter, Christian Friedrich 179 Rieger, Georg Konrad 148, 179; Nr. 90 Ritschl, Albrecht 212 Ritter, Adolf Martin Nr. 28 Röbock, Johann 39, 44, 50 f. Rock, Johann Friedrich Nr. 91 Römer, Franz 117–119 Römer, Franz d. J. 120 Römer, Johann 120 Römer, Magdalena 116 Roos, Christine Rosine Barbara 205 Roos, Magnus Friedrich 205 Rosenbrock, Gerd Nr. 98 Rosenius, Carl Olof Nr. 164 Rösner, Jakob 77 f. Rost, Georg 55–57 Rothe, Johannes 146 Rous, Francis 125, 146 Rubusch, Joachim 218 Rudolf, Hartmut Nr. 84 Ruisinger, Marion Maria Nr. 215 Safstrom, Mark Nr. 164 Sagebiel, Hertha Nr. 99 Sagittarius, Caspar 24, 97 Sagittarius, Thomas 22 Sahmland, Irmtraut Nr. 11, Nr. 214 Salvadori, Stefania Nr. 131 Sauer, Marie Christine Nr. 171 Scaliger, Julius Caesar 34 Schagen, Marten Nr. 147 Schäler, Johann Gottlieb 193

Schalling, Azarias 11–14, 63 Schalling, Georg 21 Schalling, Jakob 19–64 Schalling, Johannes 11 f. Schalling, Ludwig 49, 60, 62 Schalling, Martin 9, 12 f., 19, 21, 24, 35, 58, 64 Schalling, Melchior 19 Schamelius, Johann Martin 100 Scharschmidt, Christian Friedrich 80 Scheidt, Christian Ludwig Nr. 231 Scheidt, Johanna Dorothea Nr. 231 Scheinemann, Regina Dorothea 151 Schelwig, Samuel 114 Schimmelmann, Adeline Gräfin Nr. 117 Schirach, Adam Gottlob 179 f. Schirach, Adam Zacharias 178 Schleiermacher, Friedrich Daniel Wilhelm 212 Schloms, Antje Nr. 58 Schmalz, Björn Nr. 227 Schmeißer, Johann Gottlob 171, 173 Schmid, Pia Nr. 183 Schmidt, Conrad 105 Schmidt, Jacob 81 Schmitt-Maaß, Christoph Nr. 107, 185 Schmitz, Christian Nr. 49 Schock, Flemming Nr. 210 Schönau 136, 137, 138, 141, 145 f. Schönau, Heinrich von 129, 135 Schrader, Hans-Jürgen Nr. 11, 216 Schrenk, Elias Nr. 117 Schröter, Philipp Jakob 23, 30 Schultz, Johann Gottfried 179 Schürer, Thomas 40 Schwaiger, Clemens Nr. 106 Schweizer 137 Schwenckfeld, Kaspar von 122, 128, 144 Scriver, Christian 77 f., 80, 82 f.; Nr. 45 Seckendorff, Friedrich Heinrich von Nr. 227 Seebach, Helmut Nr. 202 Seide, Oliver Nr. 7 Seidel, Bruno 29 Seidel, Christoph Matthäus 102 Seidenbecher, Georg Lorenz 145 Seltzer, Dieterich 54 f. Seltzer, Ludwig 54 Semler, Johann Salomo 196 Senckenberg, Johann Christian Nr. 219, 220

Sende, Georgius Franciscus 180 Serrarius, Petrus 145 Severin, Jeremias 185 f. Seyfried, Johannes 25 Silberschlag, Georg 34 Simmler, Barbara 123 Simmler, Johann Wilhelm 123 Smytegeld, Bernardus Nr. 148–153 Soboth, Christian Nr. 7 Solinus 58 Sommer, Wolfgang Nr. 38 Soner, Ernst 59 Sophie Charlotte Herzogin von SachsenEisenach 209 Sophie Elisabeth Herzogin von SachsenZeitz 84 Sophie-Charlotte Gräfin zu Stollberg-Wernigerode Nr. 103 Sophie Herzogin zu Mecklenburg 55 Spankeren, Malte van Nr. 51 Spener, Philipp Jakob 65 f., 68–73, 75–81, 83–86, 95, 149, 164, 180, 193 f., 197, 201, 205, 210, 212; Nr. 47–50 Speyer, Friedrich 137, 138–141, 143 Sprögel, Johann Heinrich 65 f., 72, 78–86, 208 Sprüngli, Jakob 137, 141 Sprüngli, Barbara 137 Spurgeon, Charles Huddon Nr. 117 Stahlschmidt, Johann Christian 200 Starck, Andreas 28 Steiger, Johann Anselm Nr. 44 Steinbart, Gotthilf Samuel Nr. 188 Steinkopf, Friedrich Adolf 183 Stengel, Friedemann Nr. 203 Stephan, Paul 15, 19 Stiefel, Michael 49 Stöckel, Hans Endres 63 Stone, Gerald Nr. 100 Starck, Heinrich 30 Sträter, Udo Nr. 14 Strauß, Christoph 110 Struensee, Johann Friedrich Nr. 221 Stryk, Johann Samuel 209 Sturm, Beata 151, 188 Sturm, Christoph Christian 193 Sudermann, Daniel 125, 146 Sulzbach, Christian August von 117 Sylm, Christian Friedrich 171 Szyrwińska, Anna Nr. 178

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Tauler, Johannes 47, 125 Teellinck, Johannes Nr. 154 f. Teellinck, Willem Nr. 156, Nr. 157 Teigeler, Otto Nr. 80, Nr. 85 Teller, Wilhelm Abraham 196 f. Tersteegen, Gerhard 201; Nr. 67–69 Theile, Martin Nr. 137 Theodoricus, Sebastian 20 Tholuck, August Gotttreu 212 Thomasius, Christian Nr. 107 Thucydides 58 Ticin, Jacub Xaver 180 Tippe, K. Nr. 146 Toma, Cornelius 120 Toma, Magdalena 120 Tostlöwe, Christoph 100, 101 Trauzettel, Holger Nr. 59 Trew, Christoph Jacob 38 Tschesch, Johann Theodor von Nr. 39 Tschirnhaus, Ehrenfried Walther von 103 Uil, H. Nr. 156 Ulrike Eleonore Königin von Schweden 78 Undereyck, Theodor Nr. 228 Urlsperger, Johann August 183 f. Utzinger, Johann Friedrich 143 Vadian, Joachim 10 Valen, L.J. van Nr. 122 Varus 30 Varus, Anton 23, 30 Veen, M.G.K. van Nr. 141 Velhorn, Margareta 13 Verboom, W. Nr. 153 Vermeulen, Han F. Nr. 111 Verschuir, Johan Nr. 158 Vielberg, Meinolf Nr. 180 Visser, P. Nr. 147 Vockerodt, Gottfried 89 Voetius, Gijsbert Nr. 159 Vogel, Lothar Nr. 63 Vogt, Johann 39 Vogt, Peter Nr. 78, 86 Voigt, Gottfried Christian 70 Voll, Johannes 167 Vollhardt, Friedrich Nr. 61 Vorwerk, Anna Nr. 24 Vries, P. de Nr. 132 Wagner, Georg 17 Wagner, Paul 17

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Waldenström, Paul Peter Nr. 164 Walaeus, Antonius Nr. 160 Wallenberger, Valentin 50, 57 Wallraff, Martin Nr. 63 Watteville, Johannes von (J. Langguth) 214 f. Weaver-Zercher, David L. Nr. 31 Weckherlin, Ferdinand August 189 Wegewitz, Markus Nr. 169 Weigel 40, 47, 51–53, 122, 125, 144; Nr. 40 Weise, Friedrich 85 Weitman, Modestinus 34, 35, 51 Weizsäcker, Richard von 220 Werdmüller 119 Werner, Balthasar 52, 55 Westen, Heinrich Engelbert zur 105 Westerholm, Martin Nr. 162 Westerholm, Stephen Nr. 172 Weyer, Matthaeus125 Wichern, Heinrich 212 Wieckowski, Alexander Nr. 194 Wiederkehr, Hans Heinrich 121 Wiegleb, Johann Hieronymus 98 Wiggin, Bethany Nr. 171 Wilhelm Graf von Fürstenberg 10 Williardts, Rosine 205 Winckelmann, Johann 26, 52, 54 Winckler, Johann 89, 168 Winzeler, Marius Nr. 22 Witt, Ulrike Nr. 186 Wöbkemeier, Rita Nr. 221 Wolffe, John Nr. 168 Wolther, Christian Theodor 139, 140 f., 143 f., 146 Woude, R.E. van der Nr. 144, Nr. 158 Wujnatz, Johann 170 Wunder, Heide Nr. 184 Wyclif, John 148, 155, 160 Wyss (Kürschner)140 Yaswinski, Lanie Nr. 192 Yoder, Peter James Nr. 60 Zadel 21, 24, 59 Zaunstöck, Holger Nr. 52 Zeidler, Aegidius 58 Zeller, Johann Heinrich 144 Zeller, Rosemarie Nr. 201 Zembsch, Johann Conrad 111, 113

Ziegler, Georg 137, 138 f., 141–144 Ziegler, Johann Georg 137 Zimmerling, Peter Nr. 41 Zingg, Michael 118 f., 121 f., 124, 126, 127, 130, 144, 146 Zinzendorf, Christian Renatus von 217 f.

Zinzendorf, Nikolaus Ludwig von 102, 153, 164, 192, 212, 214–218; Nr. 81–88 Zopf, Johann Heinrich 105 Zühl, Eberhard Philipp 104 Zwingli, Huldrych 10

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Ortsregister Die gerade gesetzten Seitenzahlen verweisen auf den Haupttext, die kursiv gesetzten auf die Anmerkungen, die Nr.-Angaben auf die Bibliographie. Aachen 119 Altdorf 21, 24, 35, 59 Altenburg 49 Altgomla 111 Altlöbau 167 Amberg 12–14, 58 Amsterdam 120 f., 123, 126, 131, 134–136, 138; Nr. 137 Antwerpen 129 Arnsgrün 111 Baden 140 Barby 214 Basel 10, 27, 28, 30, 136, 183, 188, 197, 200 Bautzen 166, 168, 177 Bayreuth 94 Bebenhausen 149 Berg 151 Berlin 82, 84, 192 Bern 128, 139 f. Bernsgrün 111 Berthelsdorf Nr. 92 Bethlehem (USA-Pennsylvania) Nr. 223 Blaubeuren 149 Böhlitz 100 Breisach 9 Bremen Nr. 146 Buchwalde 167 Burg (Spree) 167 Cannstatt 149 Christiansbrunn Nr. 223 Cleve 27, 59 Coburg 39 Crostwitz 180 Cunßdorf 110

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Danzig 39 Daubitz 178 Dessau 31 Döhlen 168 Dornburg/Saale 34, 60 Dresden 31, 66, 72, 73, 78, 99 Durbach 9 Ebersdorf 164 Elberfeld 183; Nr. 102 Elsterberg 109 Ephrata Nr. 171, 212 Epries (Ungarn) 77 Erbsengrün 111 Erfurt 27 f., 30 f., 36, 39 f., 44, 49, 60, 81, 96, 97; Nr. 58 Essen 105 Franckenthal 123 Frankfurt/Main 29, 39 f., 50, 94 f., 119– 121, 126, 185 Frederica (USA-Georgia) Nr. 169 Freiberg 72 Fröbersgrün 111 Gablau 111 Gahma 111 Genf 18, 93 Gera 112 Gießen 24–27, 30 f., 34, 54 f., 59, 77, 209 Glaucha 97 Gnadenberg 214 Goes Nr. 149 Goslar 39 Gotha 89, 190, 209 Göttingen 190 Greifswald 191

Greiz 109–111 Groningen Nr. 144 Groß-Gerau 104 Großhennersdorf Nr. 194 Großwelka 171 f. Haamstede in Burgh Nr. 156 Halberstadt 81, 85 Halle/Saale 12, 50, 81–84, 98, 104, 107, 165, 171, 173–176, 186, 193 f., 196, 201; Nr. 51, 102 Hamburg 73, 89, 104, 141 Hannover Nr. 73 Hebersdorff 112 Heidelberg 9, 18, 126 Helmstedt 83 Hermsdorf 77 Herrnhaag 215, 217 Herrnhut 164 f., 167, 177, 215, 217; Nr. 102, 230 Hochkirch 165, 168, 170 Hottingen 121, 128, 141 Hoyerswerda 168 Jena 21, 23, 26 f., 30, 34, 55, 59 f. , 77, 97, 112 Jerusalem 37 Kieslingswalde 102 Kittlitz 165 Klein-Reinßdorf 111 Kleinwelka 166, 170–172 Klix 167, 173–177 Köln 129 f. Königswartha 179 Kretscham 103 Lauingen 58 Leipzig 30, 39 f., 50, 74, 77, 81, 104, 112 Leszno (Lissa) 134 Leutschau 77 Limberg 167 Löbau 165 Locarno 120 Lübz/Elde 55, 57 Lüneburg 83 Lunenburg (Nova Scotia ) 172 Lyon 155 Maastricht 119 Magdeburg 209, 40, 77, 80

Malschwitz 178 f. Mansfeld 55 Mapoon (Australien) Nr. 193 Marburg 25 f., 30, 54, 183 Marienborn 217 Maulbronn 149 Meiningen 138 Mildenfurth 110 Montmirail Nr. 179 Montpellier 27 Mühlhausen 28 Mülheim Nr. 102 Muskau 164 Nazareth (USA-Pennsylvania) Nr. 223 Neida 168 Neschwitz 179 Neudietendorf 167 Neugernsdorf 110 Neu-Hanau 119 Niesky 174 Nürnberg 17, 21, 24, 35, 40, 55, 57, 60 Oettingen 84 Offenburg 9 Padua 27, 29 Parchim 55 Pöllwitz 111 Quedlinburg 65–67, 70–72, 78 f., 77, 81– 83, 85, 209 Ravensburg 36 Regensburg 11 f. Rendsburg 77 Rinteln 31 Rohne 168 Rom 135 Rostock 77, 106 Rothenburg/Tauber 30, 60 Rudolstadt 78 Saara bei Altenburg 102 Saint-Cyr Nr. 187 Schaffhausen 123, 139 f. Schlettstadt 9 Schönbach 109, 111 Schönstett 28 Schwarzkollm 168 Simmern 13

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Solingen Nr. 102 Sorau 164 Sprockhövel 105 St. Gallen 10, 93, 121 f. Stendal 77 Stettin 192 Stolp 79 Straßburg 10 f., 20, 30 f. Stuttgart 141, 149–151, 153 f.

Veltheim 142 Venedig 120

Taubenheim 171 Teichnitz 166 f., 170, 171 f. Titschendorf 112 Tübingen 149

Weimar 31, 65 Weingarten 10 Weißenfels 89 Weitersweiler 10 Werben 79 Wieuwerd 138 Windsheim 9, 14, 21, 25, 26, 35, 57, 59–62 Wittenberg 12 f., 16, 18, 20 f., 23, 27, 30, 77 Wolfenbüttel 83 f. Wolkenburg 102

Uhyst 174 f. Urach 151 Urdorf 123 Utrecht 129, 136

Zeist 217 Züllichau 155 Zürich 116 f., 119–124, 126, 128, 130, 133, 135 f., 140, 144, 146

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