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German Pages [389] Year 2019
Pietismus und Neuzeit
PuN 42
Pietismus und Neuzeit ein jahrbuch zur geschichte des neueren protestantismus
EDQG
ISBN 978-3-525-55914-7
www.v-r.de
32989
PIETISMUS UND NEUZEIT EIN JAHRBUCH ZUR GESCHICHTE DES NEUEREN PROTESTANTISMUS Im Auftrag der Historischen Kommission zur Erforschung des Pietismus Herausgegeben von Rudolf Dellsperger, Ulrich Gäbler, Manfred Jakubowski-Tiessen, Anne Lagny, Fred van Lieburg, Hans Schneider, Christian Soboth, Udo Sträter, Jonathan Strom und Johannes Wallmann Band 43 – 2017
VANDENHOECK & RUPRECHT
Geschäftsführender Herausgeber Prof. Dr. Udo Sträter, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, c/o Interdisziplinäres Zentrum für Pietismusforschung, Franckeplatz 1, Haus 24, 06110 Halle a.d. Saale Redaktion Dr. habil. Christian Soboth, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Interdisziplinäres Zentrum für Pietismusforschung, Franckeplatz 1, Haus 24, 06110 Halle a.d. Saale Anschriften der Autorinnen und Autoren Prof. Dr. Ruth Albrecht, IKD, Fachbereich Ev.Theologie, Gorch-Fock-Wall 7, 20354 Hamburg • Dipl. theol. Claudia Drese, Christianstr. 52, 06406 Bernburg • Dr. Sabine Gruber, Projekt „Religion – Wissen – Literatur“, Deutsches Seminar, Universität Tübingen, Wilhelmstr. 50, 72074 Tübingen • Thomas Grunewald, M.A., Stabsstelle Forschung der Franckeschen Stiftungen zu Halle, Franckeplatz 1, Haus 24, 06110 Halle a.d. Saale • Prof. Dr. Mark Häberlein, Lehrstuhl für Neuere Geschichte unter Einbeziehung der Landesgeschichte, Universität Bamberg, Fischstr. 5/5, 96045 Bamberg • Dr. Veronika Helfert, Institut für Österreichische Geschichtsforschung, Universität Wien, Universitätsring 1, A-1010 Wien • Dipl. theol. Marcus Heydecke, Forschungsstelle „Edition der Spenerbriefe“, Sächsische Akademie der Wissenschaften, Franckeplatz 1, Haus 24, 06110 Halle a.d. Saale • Thomas Hübner, Theologische Fakultät, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Franckeplatz 1, Haus 30, 06110 Halle a.d. Saale • Prof. em. Dr. Christel Köhle-Hezinger, Wiflingshauserstr. 139, 73732 Esslingen • Prof. Dr. Thomas K. Kuhn, Lehrstuhl für Kirchengeschichte, Theologische Fakultät, Universität Greifswald, Am Rubenowplatz 2/3, 17489 Greifswald • PD Dr. Stefan Laube, Institut für Kulturwissenschaft, Humboldt-Universität zu Berlin, Unter den Linden 6, 10099 Berlin • Dr. Ulf Lückel, In der Odeborn 5, 57319 Bad Berleburg-Girkhausen • Prof. Dr. Markus Matthias, Protestant Theological University Amsterdam – Groningen, A De Boelelaan 1105, NL-1081 HV Amsterdam • Dipl. theol. Claudia Neumann, Forschungsstelle „Edition der Spenerbriefe“, Sächsische Akademie der Wissenschaften, Franckeplatz 1, Haus 24, 06110 Halle a.d. Saale • Dr. Thea Olsthoorn, Zwanenveld 7122, NL-6538 RG Nijmegen • Martin Rosenkranz, Buchsbaumweg 2, 22299 Hamburg • Prof. em. Dr. Sibylle Rusterholz, Hohliebiweg 5, CH-3067 Boll • Dr. Christoph Rymatzki, Hügelstraße 6a, 07749 Jena • Dr. Gerhard Schwinge, Wille-Wörner-Weg 19, 76448 Durmersheim • Mathias Sonnleithner, wissenschaftlicher Mitarbeiter des Rektoratsbeauftragten für das Reformationsjubiläum 2017, Projekt Spurenlese, Martin-LutherUniversität Halle-Wittenberg, 06099 Halle a.d. Saale • Prof. Dr. Christoph Spehr, Lehrstuhl für Kirchengeschichte, Theologische Fakultät, Friedrich-Schiller-Universität Jena, Fürstengraben 6, 07743 Jena • Dr. Andres Straßberger, Fichtestr. 47, 09126 Chemnitz • Prof. hon. François Walther, ch. du Palatinat 25, CH-1700 Fribourg • Claudia Weiß, M.A., appr. Apothekerin, Stabsstelle Forschung der Franckeschen Stiftungen zu Halle, Franckeplatz 1, Haus 24, 06110 Halle (Saale)
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar. © 2019, V andenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Satz: Satzpunkt Ursula Ewert GmbH, Bayreuth Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2197-3180 ISBN 978-3-666-55915-0
Vorwort Am 17. Januar 2018 verstarb 85-jährig der in Görlitz geborene Theologe, Pfarrer, Dozent und Oberkonsistorialrat der Evangelischen Kirche der Kirchenprovinz Sachsen Dr. Peter Schicketanz. Seine zahlreichen Kirchenämter und sein kirchenpolitisches Engagement, vor allem als Begleiter der Wehrdienstverweigerer in der DDR, können hier nicht angemessen dargestellt werden. Kurz gewürdigt werden soll jedoch sein vielfältiges institutionelles und wissenschaftliches Engagement in der Pietismusforschung. Seit 1963 bis kurz vor seinem Tod war Peter Schicketanz Mitglied der Historischen Kommission zur Erforschung des Pietismus und von der konstituierenden Sitzung im März 1996 bis 2011 Mitglied des Internationalen wissenschaftlichen Beirates des Interdisziplinären Zentrums für Pietismusforschung der Martin-Luther-Universität HalleWittenberg in Verbindung mit den Franckeschen Stiftungen zu Halle. Eine der zentralen Aufgaben der Historischen Kommission war und ist nach wie vor die Herausgabe der wichtigen Schriften der Gründerfiguren des Pietismus. Im Anschluss und in Fortsetzung seiner 1967 im Luther Verlag veröffentlichten Dissertation über Carl Hildebrand von Cansteins Beziehungen zu Philipp Jakob Spener hat Peter Schicketanz 1972 den Briefwechsel zwischen Canstein und August Hermann Francke kritisch herausgegeben. Wer einmal versucht hat, Cansteins Handschrift zu lesen, weiß, wie viel paläographische Könnerschaft, Aufmerksamkeit und Fleiß in diesem Buch stecken, wie viel Kenntnis der näheren und ferneren historischen Umstände und Bedingungen, um sich auf manche briefliche Ungereimtheit einen sachkundigen Reim zu machen. Dieser Edition verdankt die Pietismusforschung wesentliche Kenntnisse über die schwierige Frühzeit des in Halle institutionalisierten Pietismus. Deutlich wird, dass Canstein und Francke nicht in allem und jedem einer Meinung waren und an einem Strang gezogen haben. Cansteins Bibelanstalt hatte für seinen Begründer einen ungleich höheren Stellenwert, als dies für Francke der Fall gewesen zu sein scheint.Trotz weiterer wissenschaftlicher Interessen ist Peter Schicketanz der Pietismusforschung stets treu geblieben. 1987 hat er in der Nachdruckreihe von Speners Werken Die Letzten Theologischen Bedenken und andere Brieffliche Antworten (1711) mitherausgegeben und eingeleitet. In der Reihe Kirchengeschichte in Einzeldarstellungen hat er 2001 den Band über den Pietismus von 1675 bis 1800 vorgelegt und 2002 in den Halleschen Forschungen die monographische Studie Carl Hildebrand Freiherr von Canstein. Leben und Denken in Quellendarstellungen. 2005 erschien in den Akten des Ersten Internationalen Kongresses für Pietismusforschung von 2001 der Beitrag über das Verhältnis von Pietismus und Aufklärung in Halle während der ersten Hälfte des 18. Jahrhun-
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derts. Die hier von Peter Schicketanz für die Forschung formulierte Aufgabe, für die Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert das Gegen-, aber auch das Miteinander der beiden wirkmächtigen Reformbewegungen systematisch und historisch zu untersuchen, ist noch nicht annähernd eingelöst und hat für die Zukunft weiterhin Gültigkeit. Die Herausgeber werden Peter Schicketanz ein dankbares und ehrendes Andenken bewahren. *** Bereits am 13. August 2017 verstarb in Urach im Alter von 73 Jahren der Philologe, Pietismusforscher und Rhetorikexperte Reinhard Breymayer. Breymayer, Schüler von Hugo Moser und Walter Jens, ist nach dem Studium der Germanistik, der Allgemeinen Sprachwissenschaft und der Allgemeinen Rhetorik an den Universitäten Tübingen, Köln, Bonn und Bochum als wissenschaftlicher Mitarbeiter an den Pädagogischen Hochschulen Heidelberg und Schwäbisch Gmünd tätig gewesen sowie am Landeskirchlichen Archiv in Stuttgart und für die Historische Kommission zur Erforschung des Pietismus. Breymayer war ein hingebungsvoller Detaillist und akribischer Buch- und Bibliotheksliebender, sowohl als Pietismusforscher als auch als herausragender Kenner der schwäbischen Romantik. Ihm stellten sich Forschungsaufgaben und -herausforderungen dort, wo kein anderer sie vermutet hat und wohl auch nicht entdeckt und zu lösen versucht hätte. Neben vielen anderen Funden und Erkenntnissen dankt ihm die Pietismusforschung, die Breymayer mit etwa 200 Veröffentlichungen bereichert hat, die teilweise Auffindung und Rekonstruktion der Privatbibliotheken führender Pietisten mit Hilfe von Auktionskatalogen, darunter aus der ersten und zweiten Generation Philipp Jakob Spener, August Hermann und Gotthilf August Francke sowie von Gottfried Arnold. Dank dieser Trouvaillen und ihrer Auswertung hat Breymayer weiterführende Einsichten in die Denk- und Glaubenswelten der genannten Theologen gewinnen können. Den ersten und den dritten Band der historisch-kritischen Edition des Pietisten und Theosophen Friedrich Christoph Oetinger hat Breymayer mitherausgegeben, ebenso die Chronologisch-systematische Bibliographie 1707– 2014 von Oetingers Werken. Mit Oetinger und mit dem sogenannten Schwabenvater Philipp Matthäus Hahn, mit Friedrich Schiller und den schwäbischen Romantikern sowie als Kern-Ort immer wiederkehrend dem Tübinger Stift ist das schwäbische Kraftfeld umrissen, aus dem Breymayer seine Forschungsenergie bezogen und auf das er diese immer wieder angewendet hat. Die Herausgeber werden Reinhard Breymayer ein dankbares und ehrendes Andenken bewahren. *** Der vorliegende Pietismus und Neuzeit-Band bespielt mit seinen Beiträgen die gesamte historische Palette dessen, was ebenso nur versuchsweise wie schwerlich unter dem Sammelbegriff Pietismus zu fassen ist – von Thomas
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Hübners Studie zur frommen Anagramm-Dichtung des Fraunstädter Diakons Johannes Timaeus bis zu Ruth Albrechts und Martin Rosenkranz‘ Porträt der extravaganten Evangelistin Adeline Gräfin von Schimmelmann, vom Vorpietismus zum Nachpietismus, von der lutherischen Frömmigkeitsbewegung im 17. Jahrhundert zur Erweckungsbewegung. Die lutherische Frömmigkeitsbewegung hatte in Fraustadt und in der stark verinnerlichten Jesusfrömmigkeit des Timaeus‘ einen wichtigen Ausgangspunkt. Hübner kann zeigen, dass und wie Gelehrsamheit und Frömmigkeit sich bei Timaeus verschränken und wechselseitig legitimieren. Andres Straßberger blättert ein weiteres, diesmal enthusiastisches Kapitel aus der Geschichte der Homiletik in Halle im Übergang von der Frühen Neuzeit und vom Pietismus zur beginnenden Moderne und zur Aufklärung auf. Konzentriert auf das Moment des Enthusiasmus rekonstruiert Straßberger die Dynamiken und Umschichtungen in der Homiletik als theologischer Disziplin und in einzelnen homiletischen Lehrpositionen. Markus Matthias wendet sich dem chiliastisch perspektivierten Enthusiasmus und der Begeisterung unter den Mägden und Weibern im Umkreis des Quedlinburger Theologen und Lehrer am dortigen Stiftsgymnasium Johann Heinrich Sprögel zu. Daran schließt der Beitrag von Christoph Rymatzki an, der David Israel Dimpel als Sprögels Mitarbeiter in Stolp vorstellt und dessen Kontakte zum Halleschen Pietismus nach Sprögels Tod. Unter der Überschrift Göttliche Arzneien oder Häresie? untersucht Claudia Weiß die alchemistischen Pharmaka und ihre Herstellung am Halleschen Waisenhaus in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Leitend ist die Frage, ob es diese Medikamente überhaupt geben durfte.Weiß bearbeitet mit Christian Friedrich und mit Samuel Richter ein wesentliches, ausgesprochen einträgliches Kapitel halleschpietistischer Medizin- und Pharmaziegeschichte, wird doch ebenfalls ein erhellender Blick auf die Waisenhaus Ökonomie geworfen. Einen ganz anderen Aspekt theologisch-politischen Handelns und diplomatischen Manövrierens untersucht Thomas Grunewald mit seinem Beitrag, der mit der ‚Kirchbergaffäre‘ die im Umkreis des (Halleschen) Pietismus durchaus häufiger auftretende Problematik der Mesalliance aufgreift. Gezeigt wird, wie schwer sich Carl Hildebrand von Canstein und August Hermann Francke mit einer nach damaligen Maßstäben unschicklichen, wenn nicht skandalösen Beziehung in ihrem unmittelbaren persönlichen Umfeld getan haben.Von Missliebigkeiten, Erschwernissen und familiärem Unglück berichtet auch Mark Häberlein in seiner Studie zu Vater und Sohn Heinrich Schleydorn, dem ersten Amerikaner, der 1752 von Philadelphia zur Ausbildung an die Glauchaschen Anstalten geschickt wurde. An seinem dramatischen Aufstieg und Fall werden auch Arbeitsweise und Funktionstüchtigkeit des genau informierten von und nach Halle ausstrahlenden transatlantischen Kommunikationsnetzes deutlich. Kommunikationsversuche, -schwierigkeiten und -abbrüche der ganz anderen, elementareren Art untersucht Thea Olsthoorn am Beispiel der Fremderfahrungen von Herrnhuter Brüdern in den kalten nördlichen Regionen der Inuit. Scharf geraten die sprachlichen, die kulturellen und weltanschaulichen Grenzen missionarischen Han-
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delns in den Blick. Im letzten Beitrag lassen Ruth Albrecht und Martin Rosenkranz das Aufsehen erregende Leben von Adeline Gräfin von Schimmelmann im Spiegel vor allem der US-amerikanischen Presse Revue passieren. Als selbsternannte Evangelistin und bejubelt von ihren Anhängerinnen und Anhängern in Europa konnte sie auch in den Vereinigten Staaten von Amerika als religiöser Star reüssieren. Zumindest zeitweise gelang es ihr, das amerikanische Publikum zu bestricken, nicht zuletzt aufgrund des Nimbus ihrer adligen Herkunft und ihrer angeblichen Verbundenheit mit dem deutschen Kaiserhaus. Rezensionen, die Pietismus-Bibliografie sowie die Personen- und Ortsregister beschließen den Band. Ein ausdrücklicher Dank für die redaktionelle Mitarbeit gilt stud. phil. Maria Junker und stud. theol. Antje Trost. Für die Herausgeber: Udo Sträter und Christian Soboth
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Inhalt Thomas Hübner: ANTE OMNIA IESVS. Die fromme AnagrammDichtung des Fraustädter Diakons Johannes Timaeus. . . . . . . . . . . . . . . 13 Andres Straßberger: „… reden und predigen nach dem, was der Geist Gottes eingibt“. Aspekte der Theorie und Praxis der homiletischen Ausbildung an der Universität Halle zurzeit August Hermann Franckes. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 Markus Matthias: Der Geist auf den Mägden. Zum Zusammenhang von Enthusiasmus und Geschichtsauffassung im mitteldeutschen Pietismus. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 Christoph Rymatzki: David Israel Dimpel (1678–1740) als Mitarbeiter Sprögels in Stolp und die Beziehungen zum Halleschen Pietismus nach Sprögels Tod. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 Claudia Weiß: Göttliche Arzneien oder Häresie? Alchemistische Pharmaka am Halleschen Waisenhaus in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 Thomas Grunewald: Die Kirchbergaffäre. Der Hallesche Pietismus und die Problematik von Mesalliancen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 Mark Häberlein: Der erste Amerikaner in Halle. Die Causa Schleydorn und das transatlantische Kommunikationsnetz der Halleschen Pietisten um die Mitte des 18. Jahrhunderts. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 Thea Olsthoorn: Fremderfahrungen „warmherziger“ Herrnhuter Brüder in kalten Regionen der Erde. Darstellungen interkultureller Kontakte und Konflikte mit den Inuit in Grönland und Labrador. . . . . . 214 Ruth Albrecht / Martin Rosenkranz: Repräsentantin des Adels und extravagante Evangelistin – Adeline Gräfin von Schimmelmann im Spiegel der internationalen Presse nach 1900. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249
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Rezensionen Philipp Jakob Spener: Berliner Predigten 1693–1701. Eingeleitet v. Markus Matthias, Andres Straßberger, Alexander Bitzel, Peter Schicketanz. 35 Jahre „Philipp Jakob Spener: Schriften“ Band I bis XVI (1979–2014) Ein Rückblick von Dietrich Blaufuß. Hildesheim [u. a.]: Olms 2015 (Ph.J. Spener: Schriften. Hg. v. Erich Beyreuther u. Dietrich Blaufuß. Bd. X): Claudia Neumann, Claudia Drese, Marcus Heydecke. . . 291 August Hermann Francke: Tagebuch 1714. Hg. v. V eronika AlbrechtBirkner u. Udo Sträter in Zusammenarbeit mit Carola Wessel und Viktoria Franke. Halle: Vrlg. der Franckeschen Stifungen 2014 (Hallesche Quellepublikationen und Repertorien, 13) „O Herr, erbarme dich mein“. Die Tagebücher von Carl BrennerSulger im Kontext des Basler Pietismus. Hg. u. komm. von einer studentischen Arbeitsgruppe des Historischen Seminars der Universität Basel. Basel: Schwabe 2010 (Selbst-Konstruktion. Schweizerische und Oberdeutsche Selbstzeugnisse 1500–1850, 4) „Heute war ich bey Lisette in der Visite“. Die Tagebücher der Basler Pfarrersfrau Ursula Bruckner-Eglinger 1816–1833. Hg. u. komm. von Bernadette Hagenbuch. Basel: Schwabe 2014 (Selbst-Konstruktion. Schweizerische und Oberdeutsche Selbstzeugnisse 1500–1850, 6): Veronika Helfert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 Pietas et eruditio. Pietistische Texte zum Theologiestudium. Hg. v. Klaus vom Orde. Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2016 (EPT, 8): Christoph Spehr . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 Bekehrung unterm Galgen. Malefikantenberichte. Hg. v. Manfred Jakubowski-Tiessen. Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2011 (EPT, 3): François Walter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303 Christian Knorr von Rosenroth: Neuer Helicon mit seinen neun Musen. Hg. v. Rosmarie Zeller und Wolfgang Hirschmann. Beeskow: ortus Musikverlag 2016: Sabine Gruber . . . . . . . . . . . . . . . . . 305 Tünde Beatrix Karnitscher: Der vergessene Spiritualist Johann Theodor von Tschesch (1595–1649). Untersuchungen und Spurensicherung zu Leben und Werk eines religiösen Nonkonformisten. Göttingen:Vandenhoeck & Ruprecht 2015 (AGP, 60): Sibylle Rusterholz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 308 Daniel Eißner: Erweckte Handwerker im Umfeld des Pietismus. Zur religiösen Selbstermächtigung in der Frühen Neuzeit. Halle 2016 (Hallesche Forschungen, 43): Christel Köhle-Hezinger. . . . . 313
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Elizabeth Harding: Der Gelehrte im Haus. Ehe, Familie und Haushalt in der Standeskultur der frühneuzeitlichen Universität Helmstedt. Wiesbaden: Harrassowitz Verlag 2014 (Wolfenbütteler Forschungen, 139): Mathias Sonnleithner. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 318 Kelly Joan Whitmer: The Halle Orphanage as Scientific Community. Observation, Eclecticism, and Pietism in the Early Enlightenment, Chicago: The University of Chicago Press 2015: Stefan Laube . . . . . . . . 322 Otto Teigeler: Zinzendorf als Schüler in Halle 1710–1716. Persönliches Ergehen und Präformation eines Axioms. Halle 2017 (Hallesche Forschungen, 45): Ulf Lückel. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327 Hermann Wellenreuther: Heinrich Melchior Mühlenberg und die deutschen Lutheraner in Nordamerika, 1742–1787. Wissenstransfer und Wandel eines atlantischen zu einem amerikanischen Netzwerk. Münster: LIT Verlag 2013 (Atlantic Cultural Studies, 10): Jonathan Strom. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 332 Johann Heinrich Jung-Stilling: „… weder Calvinist noch Herrnhuter noch Pietist“. Fromme Populartheologie um 1800. Hg. v. V eronika Albrecht-Birkner. Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2017 (EPT, 11): Gerhard Schwinge. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 335 Ursula Broicher: Die Übersetzungen der Werke von Johann Heinrich Jung-Stilling (1740–1817). Ihre Verlage, Drucker und Übersetzer. Siegen: Jung-Stilling-Gesellschaft 2017 (Jung-Stilling-Studien, 7): Gerhard Schwinge. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 342 Sara Janner: Zwischen Machtanspruch und Autoritätsverlust. Zur Funktion von Religion und Kirchlichkeit in Politik und Selbstverständnis des konservativen alten Bürgertums im Basel des 19. Jahrhunderts. Basel: Schwabe Verlag 2012 (Basler Beiträge zur Geschichtswissenschaft, 184): Thomas S. Kuhn. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 346 Bibliographie Christian Soboth: Pietismus-Bibliographie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 353 Register Ortsregister. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 375 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 379
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Thomas Hübner
ANTE OMNIA IESVS Die fromme Anagramm-Dichtung des Fraustädter Diakons Johannes Timaeus* Nachdem er bis dahin an mehreren Orten als Schulrektor gewirkt hatte und nun unter dem berühmten Pfarrer, Erbauungsschriftsteller und Dichter Valerius Herberger (1562–1627) das Diakonat in Fraustadt antreten sollte, schrieb der heute zu Unrecht vergessene Johannes Timaeus (1567–1614), der sich dabei selbst als Theologe und Dichter (theologus et poëta) bezeichnet, am 30. April des Jahres 1602 seinem Freunde Martin Kolberg (1565–1628), Pfarrer in Wittgendorf bei Zittau, den folgenden Hexameter ins Stammbuch: Musae noster amor, dulcisque ante omnia Iesus. [„Die Musen sind unsere Liebe, und geliebt über alles ist Jesus.“]1
Mit der doppelten Liebe zu den Musen und zu Jesus Christus, die sich in den Worten amor und dulcis [„süß“ im Sinne von „geliebt“] ausdrückt, fasst Timaeus in einem einzigen Vers das Konzept gelehrter lutherischer Dichtung zusammen: Als Inhalt steht, der reformatorischen Formel solus Christus entsprechend, Jesus Christus vor und über allem2 anderen, während die Musen, zu denen sich jegliche frühneuzeitliche Gelehrsamkeit und gelehrte Dichtung bekennt, die Form vorgeben. Timaeus erweist sich damit als ein früher Vertreter der Frömmigkeitsbewegung, die die lutherische Orthodoxie über das ganze 17. Jahrhundert hin erfasste, eine umfangreiche Erbauungs- bzw. pietas-Literatur hervorbrachte3 und * Es handelt sich hier um eine stark erweiterte Fassung von ANTE OMNIA IESVS. Pobożne wiersze anagramatyczne wschowskiego diakona Johannesa Timaeusa. In: V erbum Domini manet in aeternum. Wschowski Syjon – centrum wielkopolskiego protestantyzmu. Katalog wystawy, Muzeum Ziemi Wschowskiej. Hg. v. Marta Małkus. Wschowa 2017, 75–88 [stark gekürzte polnische Übersetzung des Aufsatzes mit deutscher Zusammenfassung]. 1 Christian-Weise-Bibliothek Zittau, Mscr. B 146, f. 276r. Die Medaillons des prachtvollen Ledereinbandes zeigen Christus als Pantokrator auf dem Vorderdeckel und Martin Luther auf dem Rückendeckel. 2 ante omnia ist hier im komparativen Sinn zu verstehen und nicht als schöpfungstheologische Präexistenzaussage. 3 Zur Frömmigkeitsbewegung in der lutherischen Orthodoxie vgl. den Aufsatz von Johannes Wallmann: Pietas contra Pietismus. Zum Frömmigkeitsverständnis der lutherischen Orthodoxie. In: Ders.: Pietismus-Studien. Gesammelte Aufsätze II. Tübingen 2008, 105–117.
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auch in der lateinischen Dichtung greifbar ist. Im Widmungsgedicht zur 1607 erschienenen Anagrammatum Coronis ergänzt er den Hexameter zu einem vollständigen Distichon.4 Im Pentameter Huic curas, illis ocia nostra sacro [„Diesem weihe ich unsere Besorgungen und jenen die Mußestunden.“] stehen Jesus und die Musen nun für zwei getrennte Bereiche, indem die Pflichten der kirchlichen Amtstätigkeit von der Dichtung als Freizeitbeschäftigung unterschieden werden. Dass Timaeus gleich darauf mit einem Anagrammgedicht auf Jesus einsetzt, zeigt jedoch, dass dies eine formale Unterscheidung bleibt und Jesus auch für die Dichtung Hauptinhalt ist. Der Hexameter selbst ist in seinen Bestandteilen allerdings keine eigenständige Schöpfung des Dichters, sondern wurde von ihm nur durch die Einfügung des Namens Jesus „christianisiert“. In der Gestalt Musae noster amor, dulcesque ante omnia Musae begegnet er bereits ein halbes Jahrhundert zuvor als Umschrift zum Signet des Straßburger Druckers Jakob Fröhlich (latinisiert Jucundus).5 Dieser Hexameter wiederum stellt eine Kombination aus zwei Vergilversen dar: Nymphae, noster amor, Libethrides, aut mihi carmen6
und Me vero primum dulces ante omnia Musae7,
wobei die Nymphae Libethrides eine gelehrte Umschreibung für die Musen sind. Die Worte ante omnia Iesus sind für Johannes Timaeus jedoch nicht nur christliche Vergildeutung, sondern vielmehr Lebensmotto in Form eines Anagramms, das sich durch die Vertauschung der Buchstaben seines eigenen Namens (in latinisierter Form IOANNES TIMAEVS) ergibt: ANTE OMNIA IESVS. Insofern geben die letzten drei Worte des Hexameters gleichzeitig auch den verschlüsselten Namen des Einträgers in Kolbergs Stammbuch wieder. In der Leichenpredigt, die Valerius Herberger am 4. Advent des Jahres 1614 für seinen Amtskollegen Johannes Timaeus hielt, beschreibt er dessen große Freude über dieses in seinem Namen verborgene omen: „Für etlichen Jahren die / hat sich (noch damals in seiner blüenden Jugend) der jetzo weise und Wolgeachtete Herr Bartholomaeus Sachs / Senator und Scholae inspector, uber den Namen des Herrn Timaei gesetzt / und nach der Anagrammatisten art aus den Buchstaben JOANNES TIMAEUS, diese wort gefunden: ANTE OMNIA JESUS. Das war
4 In Kombination mit einem anderen Pentameter (Haut frustra haec quisquis Numina amarit, amat [„Wer auch immer diese Gottheiten liebt, liebt nicht vergebens.“]) begegnet der Hexameter bereits 1601 in Mensium Ianuarius, A8r. 5 Vgl. Friedrich Kapp: Geschichte des Deutschen Buchhandels bis in das siebzehnte Jahrhundert. Leipzig 1886, 826. Das Signet zeigt einen geigenden Schwan. 6 Vergil, Eclogae 7,21. 7 Vergil, Georgica 2,475.
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dem lieben Manne aus der maßen lieb / daß ers immer im Munde und in seinen Briefen oben an setzte.“8 Timaeus hat sich nicht nur selbst immer wieder dieses Anagramms bedient, sondern auch viele Gelehrte aus seinem Umkreis darum gebeten, lateinische Epigramme auf dieses Anagramm zu dichten, die er dann gesammelt herausgegeben hat. Die Verse des Liegnitzer Pfarrers und Gelehrten Simon Grunaeus (1564–1628) ließ er sich sogar über die Haustür schreiben.9 Die Einzigartigkeit dieser 1603 unter dem Titel Ante omnia Iesus. Anagramma Ioannis Timaei epigrammatis virorum et poëtarum bonorum celebratum auf 1½ Oktavbögen erschienenen Sammlung von mehr als 40 Anagrammgedichten „guter Männer und Dichter“ besteht darin, dass die Gelehrten hier ihre eigene Erfindungsgabe zugunsten des bereits vorliegenden und nicht zu übertreffenden Anagramms zurückgestellt und sich mit dessen dichterischer Kommentierung begnügt haben. In vergleichbaren Sammlungen finden sich entweder verschiedene Anagramme auf denselben Namen,10 oder das gemeinsame Motto, auf das sich die Epigramme beziehen, ist kein Anagramm, wofür die Epigrammata ad Casparis Cunradi symbolum Domini est salus das berühmteste Beispiel sind, die ab 1606 in einzelnen Zenturien im schlesischen Oels erschienen und später unter dem Titel Theatrum symbolicum herausgegeben wurden: Der Breslauer Arzt und Dichter Caspar Cunradi (1571–1633) sammelte Gedichte von ca. 1000 Gelehrten auf seinen biblischen Wahlspruch Domini est salus [„Das Heil ist des Herrn.“] (Ps 3,9). Mit Cunradis Vernetzung in der gelehrten Welt kann es Timaeus zwar nicht aufnehmen, doch konnte er Cunradi ebenso als Beiträger für seine Sammlung gewinnen, wie er selbst zu dessen Sammlung beitrug.11 Von dieser Wechselseitigkeit in der dichterischen Kommunikation der Gelehrten zeugt auch, dass Johannes Timaeus für ca. zwei Drittel der Verfasser von Epigrammen zu seinem Namensanagramm und Lebensmotto selbst Anagrammgedichte verfasst hat. Einschließlich der Nachträge auf Titelseiten späterer Gedichtbände hat Timaeus von insgesamt ca. 50 Gelehrten Epigramme zu ANTE OMNIA IESVS veröffentlicht. So dichtete z. B.Valerius Herberger:
Valerius Herberger: Ehrenpreiß Trewhertziger Seelsorger. Leipzig 1616, 44f. Vgl. Herberger, Ehrenpreiß [s. Anm. 8], 45f. und Samuel Friedrich Lauterbach:Vita, Fama et Fata Valerii Herbergeri. Leipzig 1708, 132. 10 So bietet der Anhang zur Reusnerschen Anagrammsammlung (Nikolaus Reusner: Anagrammatographia. Jena 1602) über 250 verschiedene Anagramme verschiedener Dichter auf Nikolaus Reusner. 11 Cunradi vermerkt bei jedem Epigramm das Jahr und oft auch das genaue Datum der Abfassung bzw. Mitteilung. Timaeus’ Distichen zu Domini est salus, die in der ersten Zenturie (Oels 1606, A8v) abgedruckt sind, wurden demnach im Jahre 1602 verfasst. Bei Timaeus sind sie in der ersten Dekade der Symbola sacra unter Nr. 4 zu finden. 8 9
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Sit mihi lux fidei, dux vitae ANTE OMNIA IESVS; O fidei et vitae regula sancta meae! [„Des Glaubens Licht und des Lebens Führerin sei mir die Regel „Jesus über alles“; o heilige Regel meines Glaubens und Lebens!“]12
Johannes Timaeus selbst wiederum verwendet die Formel in einem Lobgedicht auf Herbergers Magnalia Dei. De Iesu scripturae nucleo et medulla [„Die Großtaten Gottes. Über Jesus als Kern und Mark der Schrift“], eine ab 1601 erscheinende umfangreiche Sammlung deutschsprachiger erbaulicher Meditationen über Hinweise auf Jesus im Alten Testament. Nachdem Timaeus diese Bücher mit den für ihn ebenso wie für Herberger zusammengehörigen Begriffen pietas und doctus als Ausdruck gelehrter Frömmigkeit bzw. frommer Gelehrsamkeit gepriesen hat, erscheint deren Lektüre im zweiten Distichon geradezu als Weg der Verwirklichung seines Lebensmottos: Cum legis hos, scopus esto legenti ante omnia Iesus; Et tibi, post lectos, omnia Iesus erit. [„Wenn du diese Bücher liest, soll das Ziel beim Lesen vor allem Jesus sein; und nachdem du sie gelesen hast, wird Jesus für dich alles sein.“]13
Auch das folgende Distichon, das die pietas als eine tiefe innere Liebe zu Jesus beschreibt, stammt von Timaeus selbst: Mi venus est PIETAS, amor est ante omnia IESVS. In corde hunc studio suspicit illa meo. [„Meine Liebe ist Frömmigkeit, mein über alles Geliebter ist Jesus. In meinem Herzen blickt jene hingebungsvoll zu ihm auf.“]14
Das Epigramm seines Zittauer Rektoratskollegen Samuel Junius verbindet hingegen wie Timaeus’ eingangs zitierter Stammbucheintrag die für den poëta doctus, den gelehrten Dichter, stehenden Musen (hier mit gelehrter Anspielung auf ihre böotische Herkunft als Aonides bezeichnet) mit der Jesusfrömmigkeit: Aonides, pietas, magnusque ANTE OMNIA IESVS Sunt scopus in studiis, care Timaee, tuis. Ergo tibi fatum quod spondet nominis omen, Iesus id, et pietas Aonidesque probent.
Ante omnia Iesus. Anagramma Ioannis Timaei, A2v. Micae sacrae, C3r. 14 Epigrammatum variorum Sylloge, A2r. 12 13
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[ „Musen, Frömmigkeit und der große Jesus vor allem sind, lieber Timaeus, das Ziel in deinen Studien. Mögen also Jesus, Frömmigkeit und Musen dieses Omen des Namens bestätigen, das dir das Schicksal verheißt.“]15
Und im Epigramm des Liegnitzer Schulrektors Nikolaus Ludwig heißt es u. a.: Omnibus in dictis factisque ANTE OMNIA IESVS Regula Christicolis firma sequenda piis. Hanc vita, hanc studiis, hanc Iesum rite docendo Sectari, cura est una,Timaee, tibi. [„In allen Worten und Werken müssen fromme Christen die feste Regel „Jesus über alles“ befolgen. Dieser im Leben, in den Studien und in der rechten Verkündigung Jesu zu folgen, ist für dich, Timaeus, die einzige Sorge.“]16
Nach einem kurzen biographischen Abriss17 soll im Folgenden das dichterische Werk von Timaeus im Kontext seines gelehrten Umfeldes betrachtet werden, vor allem jedoch seine Anagramm-Dichtungen. Johannes Timaeus wurde am 26. März 1567 im schlesischen Kauffung als Sohn eines evangelischen Pfarrers geboren, der zuletzt Superintendent in Schwedt/Oder war. Nach dem frühen Tod seiner Eltern wuchs er bei seiner Großmutter in Frankfurt/Oder auf und absolvierte auch die dortige Universität. Anschließend ging er für ca. sieben Jahre als Schulrektor nach Marienwerder im Herzogtum Preußen. In diese Zeit fällt auch seine Hochzeit mit der Thorner Pfarrerstochter Sophia Wenzel. Aus der Ehe gingen neun Kinder hervor, darunter der bedeutende Mediziner Balthasar Timaeus von Güldenklee (1600–1667). Aus Marienwerder kam Timaeus als Schulrektor nach Fraustadt, das zwar zum Königreich Polen gehörte, aber wie das nahe Schlesien einen hohen Anteil an deutschsprachiger protestantischer Bevölkerung hatte. Nach ca. zwei Jahren in diesem Amt sollte er als Diakon und zweiter Prediger unter Valerius Herberger zur Fraustädter Kirchgemeinde wechseln, wurde aber abgelehnt und folgte daher einem Ruf als Konrektor neben Samuel Junius an das Gymnasium in Zittau, wo er ebenfalls ca. zwei Jahre verbrachte. Am 20. August 1601 wurde Johannes Timaeus von dem 15 Ante omnia Iesus. Anagramma Ioannis Timaei, A5v und (bereits zwei Jahre zuvor) Mensium Ianuarius, Titelblatt. 16 Anagrammatum Pericula, Titelblatt. 17 Quellen für die Biographie sind vor allem die Leichenpredigt (Herberger, Ehrenpreiß [s. Anm. 8], 43–47) einschließlich des im unpaginierten Anhang abgedruckten, von Timaeus selbst an seinem 47. Geburtstag in Hexametern verfassten Lebenslaufes sowie die Abschnitte zu Timaeus in Lauterbach, Vita Herbergeri [s. Anm. 9], 132–137 und Samuel Friedrich Lauterbach: Fraustädtisches Zion. Leipzig 1711, 358–371. Seinen Geburtstag hat Timaeus offenbar häufiger zum Anlass dichterischer Reflexion genommen. In seinen veröffentlichten Werken finden sich Gedichte zum 36. (Epigrammatum variorum Sylloge, A7v/8r), zum 43. (Micae sacrae, C4r) und zum 44. Geburtstag (Micae sacrae, D8r/v), denen der Gedanke gemeinsam ist, dass er die ihm noch verbleibende Lebenszeit demütig in Gottes Hand legt.
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berühmten Dichter Paul Schede Melissus (1539–1602) zum Poëta laureatus gekrönt.18 Im Jahre 1602 wurde er schließlich doch noch Diakon in Fraustadt und übte dieses Amt bis zu seinem Tode am 17. oder 18. Dezember 1614 aus. Eine modernen Ansprüchen genügende Werkübersicht zu Timaeus existiert bisher nicht. Auch alte Gelehrten-Lexika haben dazu nur lückenhafte Angaben mit wenigen Titeln, die nicht über das hinausgehen, was der Fraustädter Pfarrer Samuel Friedrich Lauterbach (1662–1727) in seiner Herberger-Biographie und seiner (protestantischen) Fraustädter Kirchengeschichte ein knappes Jahrhundert nach dessen Tod über die Werke des Johannes Timaeus schreibt: „Von seiner Erudition und Poësie zeigen seine so genandten Menses und andere Schriften reichlich.“19 „Unterschiedenes ist von ihm in Druck gegeben worden, als seine Menses, deren mir nur zwey vorkommen, als Januarius und Martius. Item, Symbola S., Anagrammata et Epigrammata, die Horas subcesivas dedicirte er Valerio Herbergero Anno 1599.“20 Wie der Titel der heute noch vorhandenen Schrift Mensium Januarius [„Von den Monaten der Januar“] nahelegt, waren die Menses offenbar auf zwölf Teile angelegt, die jedoch heute nicht mehr nachweisbar sind. Einige „Monate“ sind vielleicht nie geschrieben oder gedruckt worden, zumal auch Lauterbach nur zwei Teile kennt. Im Anschluss folgt eine Zusammenstellung aller Schriften des Schlesiers Johannes Timaeus (zur Unterscheidung von anderen Autoren gleichen Namens bezeichnet sich der gebürtige Schlesier Johannes Timaeus auf den Titelblättern stets als Ioannes Timaeus Silesius), die in heutigen Katalogen ausfindig gemacht werden konnten.21 Timaeus hat vor allem etliche Gedichtsammlungen im Oktavformat veröffentlicht, die jedoch zumeist nur einen geringen Umfang haben. Ihre (Kurz-)Titel lauten nach der Reihenfolge ihres Erscheinens: 1. Horae subcesivae (Liegnitz 1599)22, 2. Mensium Ianuarius (Görlitz 1601)23,
18 Das Krönungsgedicht von Paul Schede Melissus, abgedruckt Ante omnia Iesus. Anagramma Ioannis Timaei, B3v/B4r, ist mit diesem Datum und der Ortsangabe Heidelberg versehen. Es ist allerdings nicht sicher, dass Timaeus zur Krönung persönlich nach Heidelberg gereist ist. So soll im selben Jahr dem Görlitzer Rektor Martin Mylius der Dichterlorbeer von Schede aus Heidelberg zugesandt worden sein; vgl. John L. Flood: Poets Laureate in the Holy Roman Empire. A Biobibliographical Handbook. Berlin, New York 2006, 1402. 19 Lauterbach,Vita Herbergeri [s. Anm. 9], 132. 20 Lauterbach, Fraustädtisches Zion [s. Anm. 17], 366. 21 Es war dem Verfasser dieses Beitrags vergönnt, alle diese Schriften in Augenschein zu nehmen. 22 Der Titel (eigentlich horae subsicivae [„abfallende Stunden“]) ist in Anlehnung an Plinius, Historia naturalis praef. 18, der die gelehrte „Musentätigkeit“ als Nachtarbeit bezeichnet, ein in der Frühen Neuzeit beliebter Titel für vermischte Dichtungen oder Essays und drückt aus, dass die hauptberufliche Tätigkeit nicht durch die dichterische Betätigung beeinträchtigt wird. Timaeus bietet hier im Umfang von einem Bogen Gedichte in verschiedenen Versmaßen, darunter auf Herbergers Amtsantritt als Fraustädter Pfarrer, auf das Fraustädter Wappen und auf den Stadtbrand im Jahre 1598, außerdem auch einige Anagrammgedichte. Der gleiche Titel begegnet später übrigens auch bei dem mit Timaeus bekannten Dichter Johann Heermann (Glogau 1607). 23 Das einen Bogen umfassende Bändchen bietet vermischte Gedichte, einiges davon passend zum Monat Januar (über das Jesuskind, die Geschenke der Magier, den Kindermord zu Bethle-
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3. Disticha evangelica (Görlitz 1602)24, 4. Anagrammata maxime symbolica (Görlitz 1602), 5. Ante omnia Iesus. Anagramma Ioannis Timaei (Liegnitz 1603), 6. Epigrammatum variorum Sylloge (Frankfurt/Oder 1603)25, 7. Gnomologia sacra (Frankfurt/Oder 1605)26, 8. Decas una Symbolorum sacrorum (Glogau 1606), 9. Decas II. Symbolorum sacrorum (Glogau 1607)27, 10. Anagrammatum Pericula (Glogau 1607), 11. Anagrammatum Sylva (Glogau 1607), 12. Anagrammatum Coronis (Glogau 1607), 13. Anagrammatum Decas peculiaris (Glogau 1610), 14. Anagrammatum Paralipomena (Glogau 1610), 15. Micae sacrae (Glogau 1612)28 und postum 16. Cerei et Placentae Saturnales (Beuthen/Oder 1619).29 hem, aber auch über den Beginn des neuen [17.] Jahrhunderts). Im Gedicht auf den hochheiligen Namen Jesu spielt Timaeus mit dem Pentameter Nominibus iungam te, mea vita, meis [„Ich will dich, mein Leben, mit meinem Namen verbinden.“] auf sein eigenes anagrammatisches Motto an (A4v). 24 Die einen Bogen umfassenden und, wie es auf dem Titelblatt heißt, „für Kinder nützlichen“ Evangeliumsverse fassen die jeweilige Lehre aus den Evangeliumslesungen der einzelnen Sonnund Feiertage des Kirchenjahres jeweils in einem lateinischen Distichon und vier deutschen paarweise gereimten achtsilbigen Versen zusammen und sollten offenbar memoriert werden. 25 Die Sammlung vermischter Epigramme umfasst einen Bogen und bietet u. a. Paraphrasen zu Bibelstellen, kurze Lebensweisheiten und Grabepigramme (z. B. auf Vater, Mutter und Schwiegervater). 26 Diese Sammlung christlicher „Lehrsprüche“ von insgesamt vier Bögen Umfang stellt eine Erweiterung der Disticha evangelica [vgl. Anm. 24] dar, die hier ebenfalls unverändert enthalten sind. Dazu kommen nun in gleicher Weise lateinische und deutsche Verse auf die Epistellesungen des Kirchenjahres und auf die Festtagsperikopen. Außerdem werden die 66 Kapitel des Jesajabuches mit je zwei Distichen und zwei deutschen Reimpaaren bedacht, wobei in zumeist christologischer Deutung oft nur ein einzelner Gedanke herausgegriffen wird. 27 In den beiden je einen Bogen umfassenden Dekaden der symbola sacra [„geheiligte Wahlsprüche“] dichtet Timaeus jeweils etliche erbauliche Distichen auf die Wahlsprüche von 20 Gelehrten (Theologen, Juristen, Ärzte und Dichter) aus seinem Umfeld, deren Mehrzahl auch in den Anagramm-Bänden begegnet. 28 Die micae sacrae [wörtlich „geheiligte Krümel“] fallen, wie das Widmungsgedicht ausführt, während des Gemeindedienstes gelegentlich für Timaeus’ Dichterherz ab. Der 4½ Bögen umfassende Band versammelt verschiedene Gedichte fast ausschließlich im elegischen Versmaß, darunter V erse zu einzelnen Bibel- und Kirchenväterstellen, auf biblische Gestalten und an verschiedene Adlige, Dichter, Gelehrte, Freunde und Verwandte. Mehrere Gedichte sind u. a. an Valerius Herberger oder dessen Sohn Zacharias, an Caspar Cunradi und an Friedrich Taubmann adressiert, eines an Johann Heermann. Zwei Seiten sind mit frommen Eteostichen gefüllt, in denen die Buchstaben, die römische Zahlzeichen darstellen, in ihrer Summe jeweils das Erscheinungsjahr 1612 ergeben. Eines davon steht auch auf der Titelseite anstelle des Erscheinungsjahres, der Pentameter seMper aDes Verbo ChrIste benIgne tVo [„Gütiger Christus, steh uns immer bei mit deinem Wort!“]. 29 Das Bändchen umfasst einen Bogen und bietet vermischte Gedichte, darunter auch einige (zum Teil deutsche) Anagramme.
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Hinzu kommen noch als Gelegenheitsdichtungen zu besonderen Anlässen: Syncharma Pierium (Liegnitz 1603) zur Hochzeit des Zittauer Stadtarztes Martin Holtsheuser und Ad lacrumas Bucretianas in funere desideratissimae Emmeliae adfusio (Leipzig 1614) zum Tod der Ehefrau des Breslauer Stadtarztes und Dichters Daniel Bucretius (1562–1621). Außerdem erscheint Johannes Timaeus als Beiträger zu Werken anderer Autoren. So ist z. B. Valerius Herbergers Jungfraw-Kräntzlin (Leipzig 1613) ein lateinisches Gedicht auf den Jungfernkranz vorangestellt. Ein kurzes Epos von knapp 100 Hexametern zum Ruhme Martin Luthers und der Protestanten ist Herbergers Gloria Lutheri et Evangelicorum. Deß seligen Herrn D. Lutheri und aller Evangelischen Hertzen Ehrenkrone (Leipzig 1608) als Anhang beigegeben. Es setzt mit den Worten ein, dass Luther die Schrift, den Glauben und die Gebote aus der Finsternis ans Licht geholt habe,30 und endet mit einem dreifachen gloria in Bezug auf Luther, auf die Protestanten (evangelici) und auf Fraustadt, dessen Ruhm die alleinige Bemühung um das Evangelium sein möge.31 Dieser Aufruf gewinnt um so mehr an Bedeutung, da er auch einen Reflex auf die Ereignisse des Jahres 1604 darstellt, als die Fraustädter Protestanten ihre Kirche an die Katholiken zurückgeben mussten und mit dem „Kripplein Christi“ eine neue evangelische Kirche errichteten.32 Neben dem recht umfangreichen und größtenteils lateinischsprachigen dichterischen Werk hat Timaeus auch zwei biblische Traktate in deutscher Sprache herausgegeben: Beata permutatio maledictionis in benedictionem. Seliger Wechsel des Fluchs in den Segen (Glogau 1609) [über Gal 3,13] und Vita triumphans in Christi resurrectione. Des Lebens Sieg in Christi Aufferstehung (Glogau 1609) [über Hiob 19,25].Vieles blieb jedoch ungedruckt. So heißt es in Lauterbachs Herberger-Biographie über Timaeus: „Seiner geschriebenen Sachen sind noch viel verhanden, und werden von dessen UhrEnckel, Herrn Frantz Teschnern, Pastore Mega-Pritschinensi, als ein großer Schatz auffgehoben.“33 Dass es sich dabei um (vermutlich deutschsprachige) Prosa und nicht um Dichtung handelt, macht Lauterbach an anderer Stelle deutlich: „Er muß ein über die maße fleißiger Mann gewesen seyn, wie aus seinen noch verhandenen Schrifften zu ersehen, unter denen gantze Auslegungen über etliche Psalmen, und gewisse Biblische Bücher, auch so sauber geschrieben, daß nichts mehr ermangelt, als ein Verleger, der sie zum Druck befördern wolte.“34 Das dichterische Werk von Johannes Timaeus steht im Kontext barocker neulateinischer Dichtung. Im 16. und 17. Jahrhundert gab es kaum einen europäischen Gelehrten, der sich innerhalb der über politische und nationalsprachliche Grenzen hinweg zusammenhängenden lateinischsprachigen „Republik der Ge-
30 Venit, et e tenebris, extremo vespere mundi, | Scripturam, fidei methodum, praeceptaque vitae, | Divina virtute, in aperta luce locavit | Ille, tuum sidus Germania dulce, Lutherus. 31 Vera ab Evangelio ceu gloria parta Luthero est, | Gloria Evangelii sic propria Evangelicorum est. | Gloria Fraustadii sit Evangelii unica cura. 32 Vgl. Lauterbach, Fraustädtisches Zion [s. Anm. 17], 326–336. 33 Lauterbach,Vita Herbergeri [s. Anm. 9], 133. 34 Lauterbach, Fraustädtisches Zion [s. Anm. 17], 361.
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lehrten“, der sogenannten Respublica litteraria, nicht lateinischer Briefe und Epigramme als Kommunikationsmittel bedient hat.35 Die Fähigkeit, solche Epigramme zu verfassen und zu verstehen, diente dabei der Selbstvergewisserung und Selbstdefinition „as a humanist writer and member of the Respublica litteraria“36. Die beiden wesentlichen Merkmale des Epigramms sind nach der maßgeblichen neulateinischen Poetik von Julius Caesar Scaliger brevitas [„Kürze“] und argutia [„Scharfsinnigkeit“].37 Die Kürze lässt sich dabei zwar nicht über ein bestimmtes Maß an Versen definieren, meist handelt es sich jedoch um einige Distichen. Das elegische Distichon, bestehend aus einem Hexameter und einem Pentameter, ist überhaupt das gebräuchlichste Metrum für das Epigramm. Auch müssen Epigramme keine Pointe im engeren Sinne einer unerwarteten Wendung haben, typisch sind jedoch versteckte Anspielungen und die geistreiche Platzierung gelehrter Zitate und Inhalte in neuem Kontext oder überhaupt das geistreiche Spiel mit Worten und Bedeutungen. Eine spezielle Form des Epigramms ist das Anagrammgedicht, das formal an die frühneuzeitliche Emblematik angelehnt ist. Den drei Teilen des Emblems inscriptio [„Überschrift“], pictura [„Bild“] und subscriptio [erklärende „Unterschrift“ in Form eines Epigramms] entsprechen hier der Name als Überschrift, das daraus durch Buchstabenvertauschung gewonnene Anagramm als (mitunter rätselhaftes) „Bild“ und dessen Erklärung im Epigramm. Die Barockzeit gilt als die Blütezeit der AnagrammDichtung.38 Es war ein beliebtes Spiel, die vorhandenen Buchstaben eines Namens zu einer sinnvollen Aussage umzustellen und so dessen „geheime“ Bedeutung zu erschließen. Nach dem zuerst 1586 in Rom erschienenen und 1602 der umfangreichen Anagrammatographia39 des Universalgelehrten und Dichters Nikolaus Reusner vorangestellten Libellus de ratione anagrammatismi von Guillaume Le Blanc, einer der frühesten theoretischen Abhandlungen über die Anagrammatik, liegen die Ursprünge des Anagramms in der hebräischen kabbalistischen Buchstabenmystik und seien in der Antike durch Lykophron von Chal35 Vgl. Karl Enenkel: Introduction. The Neo-Latin Epigram. Humanist Self-Definition in a Learned and Witty Discourse. In: Susanna de Beer, Karl Enenkel, David Rijser: The Neo-Latin Epigram. A Learned and Witty Genre. Leuven 2009, 1–23, hier 1f. 36 Enenkel, Introduction [s. Anm. 35], 3. 37 Julius Caesar Scaliger: Poëtices libri septem. Lyon 1561, 170a: Brevitas proprium quiddam est, argutia anima ac quasi forma. 38 Vgl. Anselm Haverkamp: Art. „Anagramm“. In: ÄGB 1, 2000, 133–153, hier 143: „Man könnte versucht sein, die ganze Epoche anagrammatisch zu nennen.“ Der Bibliograph Martin Lipenius führt in seinem thematisch geordneten Bücherkatalog, der berühmten Bibliotheca Realis, unter der Rubrik Anagrammatismi immerhin 41 Titel auf, davon fünf vor 1600 (Bibliotheca Realis Philosophica, Tom. 1. Frankfurt/Main 1682, 43f.); zahlreiche weitere Titel lassen sich mit entsprechenden Suchbegriffen in modernen Katalogen finden. Zur Geschichte des Anagramms vgl. außerdem Thomas Brunnschweiler: Magie, Manie, Manier. Versuch über die Geschichte des Anagramms. In: Die Welt hinter den Wörtern. Zur Geschichte und Gegenwart des Anagramms. Hg. v. Max Christian Graeff. Alpnach 2004, 17–86. 39 Reusners Anagrammatographia [s. Anm. 10] enthält über 500 Seiten mit Anagrammgedichten von Reusner und anderen Verfassern auf zahlreiche Adlige und Gelehrte.
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kis40 vom Hebräischen auf das Griechische übertragen worden.41 Le Blanc diskutiert ausführlich verschiedene Freiheiten im Umgang mit dem Buchstabenmaterial (insbesondere die Erlaubnis, den Buchstaben H wegzulassen). Außerdem soll ein Anagramm geistreich (argutus) sein und mit einigen Versen erläutert werden.42 Jedoch dürfe man aus Anagrammen ebenso wie aus den Namen selbst keine sicheren Aussagen über den Namensträger ableiten, was schon daraus ersichtlich ist, dass es oft konträre Möglichkeiten gibt.43 Dennoch seien Anagramme geeignet, in einem Namen ein gutes omen zu finden: Si bonum nomen bonum in se omen habet, cur non et bonum anagramma? [„Wenn ein guter Name ein gutes Omen mit sich bringt, warum nicht auch ein gutes Anagramm?“]44 Abschließend urteilt Le Blanc, dass die Anagrammatik eine lobenswerte, bewundernswerte und zur Schärfung des Geistes und Übung des Fleißes geeignete Freizeitbeschäftigung sei, über der man jedoch die anderen Studien nicht vernachlässigen sollte.45 In der insgesamt mittleren bzw. gemäßigten Position Le Blancs klingen schon die beiden Pole an, zwischen denen sich die Bewertung der Anagrammatik in der Barockzeit bewegte und die sich auch in den Titeln entsprechender Sammlungen zeigen, die neben dem Begriff des Anagramms mitunter Worte wie ludus bzw. lusus [„Spiel“] oder oraculum, sortilegium bzw. vaticinium [„Prophezeiung“] enthalten. Mögen letztere Begriffe, die zumindest erahnen lassen, dass den Anagrammen durchaus prophetische Kraft zugeschrieben wurde, auch eher scherzhaft oder panegyrisch gemeint sein, so bleiben trotz aller spielerischer Leichtigkeit dennoch sowohl die ruhmheischende Leistung des Dichters bzw. Anagramm-Finders als auch der geradezu unvermeidliche Glaube an ein gutes omen bestehen, wenn es einmal ausgesprochen ist.
40 Lykophron von Chalkis soll im 3. Jh. v. Chr. dem ägyptischen König Ptolemaios II. mit einem panegyrischen Anagramm geschmeichelt haben und gilt daher als der erste Anagrammatiker. 41 Reusner, Anagrammatographia [s. Anm. 10], A4v/5r. 42 Reusner, Anagrammatographia [s. Anm. 10], B7v.Vgl. auch die deutschsprachige Definition des Anagramms bei Justus Georg Schottel: Ausführliche Arbeit Von der Teutschen HaubtSprache. Braunschweig 1663, 971f.: „Ein Letterwechsel oder Anagramma ist / wan die Letteren in einem / oder mehr Wörteren umgesetzet und verwechselt werden / also daß da heraus ein gantz anderes Wort / oder gantz andere Meynung entstehen müsse.“ Gewisse Freiheiten im Umgang mit dem vorhandenen Buchstabenmaterial sind nur zulässig, „wan die Meynung nachdenklich und anmuhtig wird“, aber „die Letter H / weil dieselbe nur ein Hauch / kan ohn Tadel ausgelassen […] werden.“ 43 Reusner, Anagrammatographia [s. Anm. 10], C3v. Als gleichsam alchemistische Suche nach der Quintessenz eines Namens wird die Technik des Anagramms hingegen von dem englischen Historiker William Camden beschrieben, Remaines of a Greater Worke Concerning Britaine. London 1605, 150: „The only Quint-essence that hitherto the Alchimy of wit coulde draw out of names, is Anagrammatisme or Metagrammatisme, which is a dissolution of a Name truly written into his Letters, as his Elements, and a new connexion of it by artificiall transposition, without addition, substraction, or change of any letter into different words, making some perfect sence appliable to the person named.“ 44 Reusner, Anagrammatographia [s. Anm. 10], C6r. 45 Reusner, Anagrammatographia [s. Anm. 10], C6v.
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In diesem Spannungsfeld ist auch die Anagramm-Dichtung des Johannes Timaeus zu sehen. Bereits der Titel Anagrammata maxime symbolica seiner 1602 erschienenen ersten Sammlung von Anagrammgedichten verdeutlicht das Vertrauen des Autors auf die in den Namen verborgene und durch die Technik des Anagramms zum Vorschein gebrachte große Symbolkraft. Den Zweck der frommen Anagramm-Dichtung bringt implizit ein Epigramm zum Anagramm IN SECLA NOMEN IESV (IOANNES MENCELIVS) [„Der Name Jesu für alle Zeiten.“] auf den Namen des Glogauer Stadtarztes Johannes Menzel zur Sprache. Der an sich nichtige Personenname wird durch den im Anagramm zum Vorschein kommenden heiligen Namen Jesu selbst geheiligt: Omnia cunctarum vanissima nomina rerum Somnia sunt, fato corruitura suo. Nomen dulce, manens in secla perennia Iesu, Numine sanctificat nomina nostra suo. [„Alle Namen aller Dinge sind höchst nichtige Traumbilder, die dem Untergang geweiht sind. Der geliebte Name Jesu bleibt für ewige Zeiten und heiligt unsere Namen durch seine Göttlichkeit.“]46
Wenn Timaeus jedoch im ersten Vers seines Widmungsgedichtes an den Glogauer Advokaten Caspar Drotse seine „reinen“, also bis auf die Freiheit im Umgang mit dem Buchstaben H alle Buchstaben des Namens verwendenden Anagramme (anagrammata pura) als „Spiele eines bescheidenen Geistes“ (lusus ingenii modesti) bezeichnet, ist das nicht einfach die übliche Bescheidenheitstopik, sondern auch Ausdruck des Bewusstseins, dass es sich dabei letztlich um ein spielerisches und sich selbst trotz des überwiegend erbaulichen Inhalts nicht zu ernst nehmendes Genre handelt.47 Dennoch dürfte es nicht nur scherzhaft, sondern im christlichen Verständnis durchaus ernst gemeint sein, wenn Timaeus zum Anagramm FERENS CLARE SVDAS (ANDREAS SC[H]EFLERVS) [„Im Erdulden schwitzt du ruhmvoll.“] auf den Marienwerder Pfarrer Andreas Scheffler den Pentameter Sed magnum imponit nominis omen onus [„Aber die Vorbedeutung deines Namens hat dir eine große Last auferlegt.“]48 dichtet und in den folgenden Distichen erklärt, dass diese irdische Last durch den himmlischen Lohn erleichtert werde. Der Band Anagrammata maxime symbolica enthält neben dem Titel-Anagramm ARS MEA NI BONA (IOANNES R[H]AMBA) auf den Görlitzer Buchdrucker Johannes Rhamba (erklärt durch den Vers Ars mea ni bona sit, reliquas situs Anagrammata maxime symbolica, A3r. Vgl. auch das Widmungsgedicht zu Anagrammatum Pericula, wo es am Ende heißt: Lusus ne despice honestos; | Ardua tempus habent, ludicraque ista suum [„Verachte diese ehrenhaften Spielereien nicht; Hochragendes hat seine Zeit und ebenso das Kurzweilige.“]. 48 Anagrammata maxime symbolica, A8r. Im Anagramm fehlt hier allerdings das zweite S von SVDAS. Der Fehler ist korrigiert im Wiederabdruck von Anagramm und Epigramm (Anagrammatum Sylva, C3r). 46 47
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obruat artes [„Wenn meine Kunst nicht gut ist, verschimmeln die übrigen Künste.“]) und einem Anagramm auf den Widmungsempfänger Anagramme auf 50 Gelehrte,49 die zumeist als doctissimus, oft auch als humanissimus, also als überaus gelehrt und gebildet bezeichnet werden. Die Anagramme in diesem Band wie auch in den fünf weiteren Bändchen von 1607 und 161050 werden durch Epigramme erklärt, die zumeist aus mehreren Distichen bestehen. Insgesamt hat Johannes Timaeus ca. 130 Personen mit Anagramm-Dichtungen bedacht, ca. 20 Gelehrte aus dem ersten Band begegnen in späteren Bänden noch einmal, teils mit neuem Anagramm, teils mit neuem oder auch nur überarbeitetem Epigrammtext zum bereits bekannten Anagramm. Neben gelehrten Absolventen der vier klassischen universitären Fakultäten finden sich auch Studenten sowie Ratsherren und andere angesehene Bürger, die offenbar keine Universität besucht haben.Viele Gelehrte bekleiden ein kirchliches oder schulisches Amt, dazu kommen etliche Juristen und Ärzte in städtischen Diensten und einige Universitätsprofessoren. Fast alle Personen stammen aus Timaeus’ engerem oder weiteren Umfeld (darunter auch einige Verwandte). Bis auf wenige Ausnahmen leben und wirken sie dort, wo auch Johannes Timaeus sein Leben verbrachte (Frankfurt/Oder, Marienwerder,Thorn, Zittau sowie Fraustadt und Umgebung51), oder in Görlitz und verschiedenen schlesischen Städten wie Breslau, Glogau, Goldberg, Guhrau und Liegnitz. Eine eigene Gruppe bilden hingegen die zehn Adligen, denen sich das Bändchen Anagrammatum Decas peculiaris widmet, darunter Kaiser Rudolf II. und der polnische König Sigismund III.Wasa, für den Timaeus das Anagramm REGNI NOSTRI SOLIVM DEVS, IVS ET PAX (SIGISMVNDVS TERTIVS REX POLONIAE) [„Der Thron unserer Herrschaft sind Gott, Recht und Frieden.“]52 fand. 20 Gelehrte werden von Timaeus mit dem Titel poëta bezeichnet, darunter Theologen, Juristen, Ärzte und Philologen in kirchlichen, schulischen oder universitären Ämtern. Es liegt nahe, dass es sich dabei um den offiziellen Titel Poëta Laureatus Caesareus handelt, mit dem in der Frühen Neuzeit viele Gelehrte für ihre Versdichtungen ausgezeichnet wurden.53 Da auch Timaeus zu dieser Gruppe gehörte, dürfte er den Begriff poëta wohl zur Stolz erfüllten Abgrenzung dieser besonderen Gruppe innerhalb der „Republik
49 Mindestens zwei von diesen sind bereits vor Timaeus mit eigenen Sammlungen von Anagrammgedichten an die Öffentlichkeit getreten: Christoph Pelargus: Lusus Poëticus Anagrammatum. Frankfurt/Oder 1595; Matthäus Rudinger: Decades Anagrammatum. Frankfurt/Oder 1595. 50 Alle sechs Bände zusammen umfassen im Oktavformat acht Bögen. 51 Das Bändchen Anagrammatum Pericula ist ausschließlich Fraustadt gewidmet. 52 Anagrammatum Decas peculiaris, A2v. 53 Der Titel wird schon bei Timaeus selbst und auch sonst unterschiedlich abgekürzt (P.L.C. oder P.L. oder P.C.).Von den 20 poëtae, die Timaeus mit Anagrammen bedacht hat, sind immerhin 17 in dem vier Bände umfassenden Handbuch von Flood, Poets Laureate [s. Anm. 18] aufgeführt, das biographische und bibliographische Daten zu über 1300 Dichtern bietet, die im Gesamtzeitraum von 1355 bis 1804 gekrönt wurden, aber aufgrund der unüberschaubaren Materialfülle mit Sicherheit unvollständig ist. Einige weitere Poëtae Laureati gehören zu den Beiträgern von Epigrammen auf Timaeus’ Anagramm ANTE OMNIA IESVS.
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der Gelehrten“ verwendet haben, von denen quasi jeder lateinische Verse verfasst hat, aber eben nicht jeder zum Dichter gekrönt wurde.54 Neben den Anagrammgedichten auf zeitgenössische Personen finden sich auch drei Anagramme auf den Namen IESVS (VIS ES / IVS ES / VISES [„Du bist Kraft. / Du bist Recht. / Du wirst (mich) ansehen.“])55 sowie Anagramme auf die Namen der Städte Fraustadt56, Breslau57, Thorn58 und Guhrau. Der christlich-erbauliche Inhalt der Gedichte in Timaeus’ Anagramm-Bänden zeigt sich in den meisten Fällen bereits im Vorkommen eines Gottesnamens (Deus, Ihova, Iesus, Christus; manchmal auch schon in den Anagrammen). Das Idealbild für das Leben in der Welt wird mit Schlüsselbegriffen wie sanctus und sacer [„heilig“], pius und pietas [„fromm“ bzw. „Frömmigkeit“], iustus [„gerecht“], rectus [„recht“], probus [„rechtschaffen“], bonus [„gut“], verus [„wahr“], virtus [„Tugend“] sowie den drei christlichen Tugenden fides [„Glaube“], spes [„Hoffnung“] und amor [„Liebe“] gezeichnet. Oft wird der Beschreibung der zeitlichen irdischen Mühen der Ausblick auf das ewige himmlische Heil (salus) gegenübergestellt, das seinen Ausdruck auch in der Antithese von Gesundheit, Frieden oder Licht zu Krankheit, Krieg oder Finsternis findet. Einige Beispiele sollen diese jenseitige Ausrichtung illustrieren, die gleichzeitig Anleitung und Trost für das irdische Leben gibt. So lautet ein Distichon zum Anagramm O SPES SACRA SALVTIS (ZAC[H]ARIAS POSSELTVS) auf den Zittauer Prediger Zacharias Posselt:
54 Dafür, dass Timaeus nur gekrönte Dichter als poëta bezeichnet, sprechen außerdem folgende Gründe: Mehrfach heißt es in den Anagramm-Bänden auch dann nur schlicht poëta, wenn der Genannte zu dieser Zeit mit Sicherheit schon Poëta Laureatus war und Timaeus ihn an anderer Stelle auch als P.L.C., P.L. oder P.C. tituliert. Andererseits wird der von Timaeus für seine Dichtungen hoch geschätzte junge Johann Heermann, der zur Zeit der Abfassung der beiden an ihn gerichteten Epigramme noch nicht gekrönt war, sondern die Dichterkrone erst 1608 durch Caspar Cunradi erhielt, entsprechend auch nicht poëta genannt (so heißt es Anagrammatum Sylva, letzte Seite ad poësin natus iuvenis [„zur Dichtkunst geborener Jüngling“] und Micae sacrae, D5v/ D6r laurum poëticam ambiens [„Bewerber um dichterischen Lorbeer“]). 55 Anagrammatum Coronis, A2r. 56 Anagrammatum Pericula, A2r/v. Die letzten beiden Distichen zum Doppel-Anagramm FIAT, DVRAMVS / FIDVS AMATVR (FRAVSTADIVM) fassen beide Anagramme zusammen und sind auch als Reminiszenz an die für die Fraustädter Protestanten dramatischen Ereignisse des Jahres 1604 zu verstehen: FIAT, quod nobis decernet dia voluntas; | DVRAMVS, vires suppeditante Deo. | Utque bonis, qui FIDVS agit, constanter AMATVR, | Sic urbes fidas sit sat amare Deum. [„Was der göttliche Wille für uns bestimmen wird, möge geschehen. Wir halten aus, weil Gott uns die Kräfte verschafft. Und wie, wer sich treu verhält, von den Guten beständig geliebt wird, so mag es für treue Städte genug sein, Gott zu lieben.“]. 57 Anagrammatum Paralipomena, A2r. Zum Anagramm VIA SALVTARI (VRATISLAVIA) heißt es im letzten Vers Perge SALVTARI ad celica regna VIA [„Geh weiter auf deinem heilsamen Weg zum Himmelreich!“]. 58 Anagrammatum Paralipomena, A2v. Das vorletzte Distichon zum Anagramm A TRIVNO (TORVNIA) lautet: A solo, quodcumque meum est, sum nacta TRIVNO; | Acceptum ergo fas omne referre DEO. [„Alles, was mein ist, habe ich nur vom Dreieinigen erlangt. Daher ist es recht, Gott alles Empfangene zurückzugeben.“].
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Vana prophanaque opum spes; O spes sacra salutis; Illa perit; ferit haec astra, secuta fidem. [„Nichtig und gottlos ist die Hoffnung auf Reichtum; o heilige Heilshoffnung; jene vergeht; aber diese folgt dem Glauben und reicht bis an die Sterne.“]59
Den Gegensatz zwischen irdischem Reichtum und himmlischem Heil thematisiert auch das Epigramm zum Anagramm PARS TVA SALVS (PAVLVS [H]ASSART) [„Dein Teil ist das Heil.“] für den angesehenen Glogauer Bürger Paul Hassart. Hier heißt es im letzten Distichon: Divitias aliis et opes tu, Paule, relinquas; Pars tua sit Christi sanguine parta salus. [„Schätze und Reichtum magst du, Paulus, anderen überlassen; dein Teil soll das durch Christi Blut erworbene Heil sein.“]60
Die Vorläufigkeit des Lebens in der Welt zeigt der Gegensatz von Handeln und Denken im ersten Distichon zum Anagramm RES CVRO, MENTE CELIS (MELC[H]IOR TESC[H]ENERVS) [„Ich besorge die Dinge, mit den Gedanken im Himmel.“] auf den Fraustädter Theologiestudenten (und späteren Kantor und Pfarrer) Melchior Teschner: Sic terris curo res, mente perennia celis Ut scruter, summi cultu et amore boni. [„Auf Erden besorge ich die Dinge so, dass ich in Gedanken die ewigen Dinge im Himmel aufsuche, in Verehrung des Höchsten und Liebe zum Guten.“]61
Die Wortwahl ist zwar zur erbaulichen Absicht passend in vielen Epigrammen eher schlicht und ungekünstelt, es finden sich aber auch gelehrte Anspielungen wie z. B. in den beiden Distichen zu dem Anagramm A CVRIS SVDAMVS (ADAMVS CRVSIVS) [„Wir schwitzen vor Mühen.“], das Timaeus für seinen Amtsvorgänger als Fraustädter Diakon Adam Crusius gefunden hat: A curis Christum sudamus in orbe professi, Sudat ut Elaeo cursor anhelus agro. Quod requiem, aeternam quod spondes, Christe, coronam, Sudor ab hoc, cursus, curaque lenis erit. [„Wir schwitzen vor Mühen, wenn wir Christus in der Welt bekennen, wie keuchend ein Läufer auf Elischem Felde schwitzt. Im Hinblick darauf, dass du, Christus,
59 Anagrammata maxime symbolica, A7r.Wie er selbst vermerkt (Z in S mutata, et elisa aspiratione) hat Timaeus bei der Bildung dieses Anagramms nicht nur von der Freiheit im Umgang mit dem Buchstaben H Gebrauch gemacht, sondern auch das Z in ein S verändert. 60 Anagrammata maxime symbolica, B5r/v. 61 Anagrammatum Pericula, B2v.
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Ruhe und eine ewige Krone verheißt, werden Schweiß, Lauf und Mühe jedoch leicht sein.“]62
Der Vergleich mit einem Läufer bei Olympischen Spielen im zweiten Vers ist eine Paraphrase zu Vergil, Georgica 3,202f., wo allerdings ein Pferd auf der olympischen Rennbahn schwitzt, gleichzeitig wird aber auch das paulinische Bild vom Stadionläufer evoziert, der nach einer unvergänglichen Krone strebt (1Kor 9,24f.). Manche Anagramme sind elliptisch und ohne das erklärende Epigramm rätselhaft wie MORS NVLLIVS ARTEM (MARTINVS MOLLERVS) auf Martin Moller, den Hauslehrer der Adelsfamilie von Maxen in Jeser. Das zugehörige Distichon ergänzt zum Anagramm das Prädikat curat und spielt dann mit dem Begriff ars, der allgemein für Kunst und Wissenschaft steht, hier aber von der ars moriendi abgelöst wird, der guten Vorbereitung auf den Tod als Abschluss des irdischen Lebens. Gegenüber dieser Sterbekunst, die in der lutherischen Erbauungsliteratur ein wichtiges Thema ist, erscheinen auch die hohen Künste als nichtig, die von der Respublica litteraria betrieben werden: Cuncta premit fatum, curat mors nullius artem. Vive Deo, atque mori disce, sat artis habes. [„Auf allem lastet das Schicksal, der Tod kümmert sich um niemandes Kunst. Lebe für Gott und lerne zu sterben, dann hast du Kunst genug.“]63
Den hohen Stellenwert der ars moriendi zeigen exemplarisch auch das von Johannes Timaeus gedichtete Kirchenlied Wenn mein Gesundheit leidet Noth, das Herberger in seiner Leichenpredigt für Timaeus innerhalb der ausführlichen Darstellung des vorbildlichen gottesfürchtigen Sterbens64 seines Diakons überliefert, oder der Eintrag von Timaeus’ Kollegen im Zittauer Rektorat Samuel Junius im eingangs erwähnten Stammbuch, der in der Datumsangabe die Jahreszahl 1603 mit dem Chronogramm o ChrIste Da pIe MorI [„O Christus, gib ein frommes Sterben!“]65 verschlüsselt. Andererseits erschließt sich der erbauliche Inhalt nicht weniger Anagramme bereits ohne das sich freilich auch hier anschließende erläuternde Epigramm, so z. B. MI TRINVS ASYLVM (MARTINVS MYLIVS) [„Der Dreieinige ist mir Zuflucht.“]66 für den Rektor des Görlitzer Gymnasiums Martin Mylius; SVB CRVCE DOLOR, SED FVGIT (GODTFRIEDVS BVC[H]OLCERVS)
Anagrammata maxime symbolica, A8v/B1r. Anagrammata maxime symbolica, B8r. 64 Vgl. Herberger, Ehrenpreiß [s. Anm. 8], 47–57. 65 Christian-Weise-Bibliothek Zittau, Mscr. B 146, f. 186r. 66 Anagrammata maxime symbolica, B3r; trinus (wörtlich „dreifach“) hier aus technischen Gründen für triunus („dreieinig“). 62 63
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[„Unter dem Kreuz ist Schmerz, aber er vergeht.“]67 für den Görlitzer Stadtschreiber Gottfried Bucholzer; SAT, SI RECTA TVEMVR (MATT[H]AEVS RIC[H]TERVS) [„Es genügt, wenn wir das Rechte bewahren.“]68 für den Fraustädter Notar Matthäus Richter; RES SVMMAE IN CELIS (MIC[H]AEL MEISSNERVS) [„Die höchsten Dinge sind im Himmel.“]69 für den Fraustädter Richter Michael Meissner; ADDICTVS IESV (DAVID TESCIVS) [„Jesu verpflichtet“]70 und DEVS LARGITVR MERE BONA (BARTOLEMAEVS RVDINGER) [„Gott schenkt nur Gutes.“]71 für die Fraustädter Assessoren David Teske und Bartholomäus Rudinger; TIBI LVCERNA DEVS (DANIEL BVCRETIVS) [„Gott ist dir eine Leuchte.“]72 für den Breslauer Stadtarzt Daniel Bucretius und HVMILITAS SIT ZONA (MATTHIAS NIZOLIVS) [„Demut sei mein Gürtel.“]73 für den Rektor des Thorner Gymnasiums Matthias Nizolius. Einige Anagramme und vor allem die dazugehörigen Epigramme gehen jedoch auch über die allgemeinen Topoi lutherischer Erbauungsliteratur hinaus und entfalten dogmatische Lehrsätze reformatorischer Theologie. So fasst Timaeus mit dem Epigramm zum Anagramm AB LEGE AD CHRISTVM (MICHAEL GEB[H]ARDTVS) [„Vom Gesetz zu Christus“] auf den Guhrauer Prediger Michael Gebhardt, das geradezu die Form eines Glaubensbekenntnisses hat, die lutherische Rechtfertigungslehre zusammen: Quid doceam, quae sit fidei confessio nostrae, Nominis exponit dulce anagramma mei. Ab lege ad Christum; irato de numine, ad aram Mortis, Christe, tuae vox mea ducit oves. Scripturae scopus est lex, Christus; lex praeit ira; Ab lege ad Christum gratia sternit iter. Lex damnat, Christus salvat, lex vulnera monstrat, Salvificam Christus sanguine praestat opem. Haec doceo. Hoc coeli me ducat ad astra meosque, Ab lege ad Christum quo properamus, iter. [„Was ich lehre, was das Bekenntnis unseres Glaubens ist, erklärt das liebliche Anagramm meines Namens.Vom Gesetz zu Christus, weg von der erzürnten Gottheit hin zum Altar deines Todes, Christus, führt meine Predigt die Schafe. Die Kernaussage der Schrift besteht im Gesetz und in Christus; das Gesetz geht voraus mit Zorn; vom Gesetz zu Christus ebnet die Gnade den Weg. Das Gesetz verdammt, Christus rettet, das Gesetz zeigt die Wunden, mit seinem Blut leistet Christus heilende Hilfe.
Anagrammata maxime symbolica, B5r. Anagrammatum Pericula, A7v. 69 Anagrammatum Pericula, A8r. 70 Anagrammatum Pericula, A8r. 71 Anagrammatum Pericula, B1r. 72 Anagrammatum Coronis, A2v. 73 Anagrammatum Coronis, A7v. 67 68
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Dies lehre ich. Dieser Weg, auf dem wir vom Gesetz zu Christus eilen, möge mich und die Meinen zu den Sternen des Himmels führen.“]74
Das reformatorische Schriftprinzip sola scriptura klingt im Anagramm LARGVS RES ERVE VERBI (VALERIVS [H]ERBERGERVS) [„Erkunde reichlich den Gehalt des Wortes!“] auf Valerius Herberger an, das Timaeus u. a. mit folgenden Versen erklärt: Dum res et succum thesauro ex ubere verbi Eruis, esuriem sic satiando piam. [„Indem du aus dem reichhaltigen Schatz des Wortes den Gehalt und Saft zutage förderst und so den frommen Hunger stillst.“]75
Das Wort ist dabei das Wort Gottes in der Heiligen Schrift, auf die allein sich reformatorische Theologie bezieht. Indem Herberger von einem „frommen Hunger“ getrieben wird, die res zu erkunden, die durch das biblische Wort bezeichnet werden, erweist er sich als guter lutherischer Theologe. Ohne Erklärung rätselhaft bliebe das Anagramm SOL EXORTVS, AMABO (BART[H]OLOMEVS SAXO) [„Die Sonne ist aufgegangen, ich werde lieben“] auf den Fraustädter Ratsherrn Bartholomäus Sachs, der etliche Jahre zuvor das Anagramm ANTE OMNIA IESVS in Timaeus’ Namen entdeckt hatte. Das zugehörige, auch durch die doppeldeutige Verwendung von sol und durch die Alliterationen kunstvolle Epigramm identifiziert jedoch in Anlehnung an die Lichtmetaphorik des Prologs zum Johannesevangelium (Joh 1,4–9) die Sonne mit Christus und erinnert an den reformatorischen Lehrsatz von der der Rechtfertigung vorausgehenden Liebe Gottes bzw. Christi, die im Glauben angenommen und erwidert wird: Sol est exortus, qui nos in luce beata E tenebris, solo motus amore, locat. Et, quid ego? Solem vitae vel solus amabo; Nam merus ipse amor est, et coli amore cupit. Sol o Christe, tui radiis me suscita amoris, Sole oriente ut te, sole cadente, sonem. [„Eine Sonne ist aufgegangen, die uns aus der Finsternis in seliges Licht setzt, allein von Liebe bewegt. Und ich? Auch ich werde allein diese Sonne des Lebens lieben. Denn sie ist reine Liebe und will in Liebe verehrt werden. O Sonne Christus, erwecke mich mit den Strahlen deiner Liebe, dass ich dich bei Sonnenaufgang und -untergang preise.“]76
Anagrammata maxime symbolica, A8v. Anagrammatum Pericula, A3r. 76 Anagrammatum Pericula, B2r/v. 74 75
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In etlichen, zumeist auch in der Wortwahl anspruchsvolleren Gedichten stehen die Musen als Göttinnen der Gelehrsamkeit und vor allem der Dichtkunst im Vordergrund, wobei auch hier wie im eingangs zitierten Stammbucheintrag deren Verbindung mit Jesus Christus bzw. Gott als zentralem Inhalt begegnet. So wird z. B. der Frankfurter Pfarrer und Theologieprofessor und Onkel von Timaeus’ Ehefrau Andreas Wenzel als Christi et Musarum sacerdos [„Priester Christi und der Musen“]77 bezeichnet.Vom Glogauer Syndikus Joachim Gobius heißt es: Hoc ibo Musis, ac Musis calle vigebo; | Meta erit, et cursum diriget ipse Deus. [„Auf diesem Pfad werde ich zu den Musen gehen und meine Lebenskraft den Musen widmen; Gott selbst aber wird das Ziel sein und den Lauf lenken.“]78 Eine doppelte Spitze gibt Johannes Timaeus dem Epigramm zum Doppel-Anagramm ARS ALIT, MVSA BEAT / ALMA TRIAS, TV BEAS (BALTASAR TIMAEVS) auf seinen Bruder Balthasar, der ihm im Rektorat in Marienwerder nachgefolgt war: Ars sua quemque alit, egregio sed culta labore; Emeritos fama perpete Musa beat. Quis neget, ingenii haec patrimonia splendida honesti, Cui sors Attalicas parca negavit opes? Splendidior coeli restat thesaurus in arce; Alma Trias miseros quod bonitate beas. [„Jeden bringt seine Kunst voran, doch nur wenn sie mit außerordentlicher Anstrengung gepflegt wird; die Verdienten beschenkt die Muse mit dauerndem Ruhm. Wer könnte leugnen, dass dies das glänzende Erbe eines ehrenhaften Geistes ist, dem das knausernde Schicksal attalischen Reichtum verweigert hat? Ein noch glänzenderer Schatz wartet jedoch in der Himmelsburg, weil du, segenspendende Dreifaltigkeit, die Armen gütig beschenkst.“]79
Der von der Muse geschenkte dauernde Ruhm macht deutlich, dass es sich bei der ars culta im ersten Vers um die fein ausgebildete Gelehrsamkeit in Dichtung und Wissenschaft handelt. Das zweite Distichon bezeichnet diesen Ruhm nun als glänzendes (immaterielles) Erbe, das auch das Fehlen eines materiellen Erbes aufwiegt, und spielt mit den opes Attalicae (der pergamenische König Attalus hatte die Römer zu Erben seines Reichtums eingesetzt) in gelehrter Weise auf Horaz, Carmina 2,18,5f. an, wo ebenfalls die materielle Armut des Dichters im Gegensatz zu seinen reichen Geistesgaben thematisiert wird. Christlich-erbaulich wird das Gedicht jedoch erst durch die zweite Spitze im dritten Distichon: Noch glänzender als der glänzende, von der Muse geschenkte und materiellen Reichtum überdauernde, aber eben doch irdische Ruhm des Dichters und Gelehrten ist der vom dreieinigen Gott geschenkte himmlische Schatz.
Anagrammata maxime symbolica, A3r. Anagrammata maxime symbolica, A4r. 79 Anagrammata maxime symbolica, B5v. 77 78
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Zusammenfassend bleibt festzuhalten, dass der Fraustädter Diakon Johannes Timaeus in seinem epigrammatischen Werk, vor allem aber in den Anagrammgedichten den Anspruch gelehrter Dichtung mit tiefer Jesusfrömmigkeit verbindet, die den reformatorischen Grundgedanken solus Christus persönlich verinnerlicht und nicht nur den Verstand, sondern vor allem das Herz erfasst. Diese Verinnerlichungstendenz bei gleichzeitigem Interesse an der Vermittlung lutherischer Lehre zeigt sich an der häufigen Verwendung von Begriffen wie cor bzw. pectus [„Herz“], amor [„Liebe“] und dulcis [„lieblich“ bzw. „geliebt“] sowie pius bzw. pietas zur Beschreibung des Verhältnisses zu Jesus Christus.80 Mit Valerius Herberger und Johannes Timaeus wurde Fraustadt am Beginn des 17. Jahrhunderts zu einem wichtigen Ausgangspunkt der pietas-Bewegung, die u. a. durch den berühmten schlesischen Liederdichter Johann Heermann (1585–1647) weitergetragen wurde, der 1602 als junger Mann nach Fraustadt kam und Hauslehrer für Herbergers Sohn Zacharias war. Durch seinen auf Gegenseitigkeit beruhenden literarischen Austausch mit anderen überwiegend derselben Generation angehörigen Dichtern und Gelehrten steht Timaeus aber auch exemplarisch für die Zugehörigkeit zur Respublica litteraria. Aus seinen Versen81 spricht dabei allerdings das Bewusstsein, dass der das Leben überdauernde und durchaus erstrebenswerte Ruhm des gelehrten Dichters dennoch in der irdischen Sphäre verbleibt und nichtig ist im Vergleich zum himmlischen Heil. Im frommen Inhalt seiner Dichtung, der über das Irdische hinaus auf das Himmlische weist, sieht Timaeus jedoch offenbar die Legitimation dafür, sich mit der an sich nichtigen Dichtkunst zu befassen und damit zur Respublica litteraria zu gehören. Sein Kreis ist zwar eher regional beschränkt, umfasst aber neben Herberger und Heermann auch weitere Berühmtheiten wie den Wittenberger Klassischen Philologen und Dichter Friedrich Taubmann (1565–1613) und den Breslauer Arzt und Dichter Caspar Cunradi.82 In der zu großen Teilen auf Caspar Cunradis Prosopographia melica zurückgehenden und aus dem Nachlass seines Sohnes Johann Heinrich Cunradi herausgegebenen Silesia Togata mit Distichen auf berühmte Schlesier wird Johannes Timaeus mit folgendem Verspaar bedacht: Sacras
80 Neben einigen bereits diskutierten Versen [vgl. z. B. Anm. 1 und 14] bieten das umfangreiche Epigramm zum dreifachen Anagramm auf IESVS [vgl. Anm. 55], den Timaeus als „größte Kraft seines Herzens“ (vis huius maxima cordis) bezeichnet, und das Anagrammgedicht auf Simon Grunaeus (Anagrammata maxime symbolica, A7v) weitere Beispiele dafür. Im Epigramm zum Anagramm AGNI MVNVS SERO (SIMON GRVNAEVS) [„Ich säe die Gabe des Lammes.“] heißt es: Agne Dei, via, vita, salus.Tam nobile munus | Ut semen sacris consero cultor agris. | Pectora da semen capiant. [„Lamm Gottes, Weg, Leben und Heil. Als Landmann säe ich so edle Gabe wie Samen auf heilige Felder. Gib, dass die Herzen den Samen aufnehmen!“]. 81 Beispielsweise in den Anagrammgedichten auf Martin Moller [vgl. Anm. 63] und Balthasar Timaeus [vgl. Anm. 79]. 82 Cunradi veröffentlichte ebenfalls Anagrammgedichte: Anagrammatismorum Centuria. Oels 1606. Ebenso auch Heermann: Poëtica anagrammatum messis. Frankfurt/Oder 1605; Sortilegia Lycophrontica. Glogau 1614 (Nachdruck als Buch IX der Epigrammatum libelli IX. Jena 1624).
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ex Haemo celesti colligo micas; | Hinc mysta et vates non moriturus ovo [„Ich sammle geheiligte Krümel vom himmlischen Haimos; dort jubele ich als Eingeweihter und unsterblicher Dichter.“].83 Der Haimos, auf den sich im Mythos der den Musen nahestehende Sänger und Dichter Orpheus zurückgezogen haben soll, ist eine gelehrte Anspielung auf Horaz, Carmina 1,12,5f., wo Haimos zusammen mit Helikon und Pindos als Musenberg genannt wird, und in den micae sacrae begegnet der Titel der umfangreichsten Epigrammsammlung des Dichters Timaeus. Ebenso groß ist die Hochschätzung, die Timaeus in zwei Gedichten Johann Heermanns erfährt, die sich in dessen gesammelten Epigrammen finden.84 Im ersten heißt es (freilich auch mit selbstbewusstem Eigenlob), dass Heermann in seiner Fraustädter Zeit kaum Timaeus’ Haus betreten habe, weil ein Haus nicht zwei große Dichter erdulden könne, so wie der Himmel zwar viele Sterne, aber keine zwei Sonnen oder Monde erträgt.85 Im zweiten, einem Grabepigramm, bezeichnet Heermann Timaeus im letzten Vers ganz schlicht als bonus theologus und bonus poëta und meint, dass es ausreichen würde, nur den Namen des Verstorbenen zu nennen, da seine beneidenswerte Gelehrsamkeit niemandem unbekannt sei.86
Johann Heinrich Cunradi: Silesia Togata. Liegnitz 1706, 310. Umgekehrt drückt auch Timaeus in seinen beiden Epigrammen auf Johann Heermann seine Bewunderung für dessen bereits in jungen Jahren vorhandene große dichterische Begabung aus (Anagrammatum Sylva, letzte Seite und Micae sacrae, D5v/D6r). 85 Johann Heermann: Epigrammatum libelli IX. Jena 1624, 130. 86 Heermann, Epigrammatum libelli IX [s. Anm. 85], 404. 83 84
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Andres Strassberger
„… reden und predigen nach dem, was der Geist Gottes eingibt“ Aspekte der Theorie und Praxis der homiletischen Ausbildung an der Universität Halle zurzeit August Hermann Franckes1 1. Am Anfang … Wer verstehen möchte, welches Hauptmoment die hallisch-pietistische Sicht auf die Predigt bzw. die universitäre Ausbildung im Predigen strukturierte, der muss den Blick noch vor der Beschäftigung mit den Quellen zum homiletischen Unterricht an der Fridericiana zurück nach Leipzig richten. Denn dort liegt der Erfahrungshorizont von dem, was im Halleschen Theologiestudium predigtbezogene Ausgestaltung erfahren hat. Etliche der an der 1694 neugegründeten kurbrandenburgischen Universität versammelten Studenten und Professoren waren zuvor direkt oder indirekt in jenes religiöse Gruppenereignis involviert gewesen, das als „Leipziger Unruhen“ die kursächsische Messestadt und ihre Alma mater von August 1689 bis zum kurfürstlichen Konventikelverbot im März 1690 erschütterte und das in der Folge zum Ausgangspunkt einer starken Ausbreitung der pietistischen Bewegung im mittleren und nördlichen
1 Der vorliegende Beitrag wurde zuerst am 28. Mai 2013 als Abschlussvortrag eines Fritz Thyssen-Forschungsstipendiums (Thema: Methodus homiletica Augustiniana. Die Hallesch-pietistische Predigtkonzeption und ihre akademische Vermittlung am Beispiel Paul Antons [1661– 1730]) am Interdisziplinären Zentrum für Pietismusforschung in Halle/S. unter dem Titel gehalten: „Grundzüge der homiletischen Ausbildung an der Universität Halle zur Zeit August Hermann Franckes“. Für den Druck wurden die Ausführungen überarbeitet und um die Anmerkungen ergänzt. Eine gedrängte Zusammenfassung der hier behandelten Thematik findet sich auch bei Andres Straßberger: Predigt. In: Pietismus Handbuch. Hg. v. Wolfgang Breul [u. a.]. Tübingen: Mohr Siebeck (Reihe Handbücher Theologie) [erscheint 2018]. – Den Zuhörerinnen und Zuhörern des Abschlussvortrags, insbesondere Jonathan Strom (Atlanta, GA), danke ich sehr herzlich für ihre kritisch-konstruktiven Hinweise. Für die vielfältige, überaus freundliche und ungemein sachkundige Unterstützung bei meinen Forschungsaufenthalten in Halle/S. danke ich außerdem ganz besonders Herrn Dr. Jürgen Gröschl (Studienzentrum August Hermann Francke, Archiv und Bibliothek).
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Deutschland wurde.2 Der hier greifbaren pietistischen „Frömmigkeitsexplosion“, die sich in teils radikalen Phänomenen äußerte,3 lag im Wesentlichen eine neue Form der Bibellektüre und -interpretation zugrunde.4 Für diese hat im Falle von „klassischen“ Radikalpietisten das Attribut „enthusiastisch“ gelegentliche Anwendung gefunden.5 Was aber ist mit Francke und seinen Anhängern? Inwiefern beeinflusste das neue Frömmigkeitserlebnis deren Predigtverständ-
2 Hans Leube: Die Geschichte der pietistischen Bewegung in Leipzig. Ein Beitrag zur Geschichte und Charakteristik des deutschen Pietismus. (1921) In: Ders.: Orthodoxie und Pietismus: Gesammelte Studien. Bielefeld 1974, 153–267; Christian Peters: „Daraus der Lärm des Pietismi entstanden“: Die Leipziger Unruhen von 1689/1690 und ihre Deutung durch Spener und die hallischen Pietisten. In: PuN 23, 1997, 103–130; Martin Gierl: Pietismus und Aufklärung. Theologische Polemik und die Kommunikationsreform der Wissenschaft am Ende des 17. Jahrhunderts. Göttingen 1997; Martin Brecht: Philipp Jakob Spener, sein Programm und dessen Auswirkungen. In: Geschichte des Pietismus. Bd. 1: Der Pietismus vom siebzehnten bis zum frühen 18. Jahrhundert. Hg. v. dems. Göttingen 1993, 278–389, hier 333–338; Ryoko Mori: Begeisterung und Ernüchterung in christlicher Vollkommenheit. Pietistische Selbst- und Weltwahrnehmung im ausgehenden 17. Jahrhundert. Tübingen 2004, bes. 15–24; Klaus vom Orde: Der Beginn der pietistischen Unruhen in Leipzig im Jahr 1689. In: Die Universität Leipzig und ihr gelehrtes Umfeld 1680–1780. Hg. v. Hanspeter Marti und Detlef Döring. Basel 2004, 359–378; Susanne Schuster: Johann Benedikt Carpzov und August Hermann Francke. „Orthodoxe“ und „pietistische“ Grenzziehungen im Zusammenhang der „Leipziger Unruhen“. In: Eruditio – Confessio – Pietas. Kontinuität und Wandel in der lutherischen Konfessionskultur am Ende des 17. Jahrhunderts. Das Beispiel Johann Benedikt Carpzov (1639–1699). Hg. v. Stefan Michel u. Andres Straßberger. Leipzig 2009, 183–202. 3 So wird u. a. (m.E. glaubhaft) berichtet (Gerichtliches Leipziger Protocoll In Sachen die so genannten Pietisten betreffend […] Im Jahr Christi 1692. In: August Hermann Francke: Streitschriften. Hg. v. Erhard Peschke. Berlin, New York 1981, [1]-111), dass Leipziger Theologiestudenten ihre philosophischen Bücher und Kollegmitschriften verkauft oder verbrannt hätten (ebd., 36f.) und nun nur noch in der Bibel läsen (ebd., 38); außerdem gäbe es der pietistischen Bewegung zugerechnete Studenten, die durch eine bestimmte Art sich zu kleiden und zu frisieren im Verbund mit einer hängenden Kopfhaltung ihrer Bußgesinnung auf diese Weise öffentlich Ausdruck verliehen (ebd., 29). – Einen Überblick über die Phänomenologie der neuen Frömmigkeit aus der Sicht der orthodoxen Kritiker und aus pietistischer Selbstsicht verschafft Patrick Wulfleff: Die Freiheit der Gläubigen. Umstrittene Tendenzen der Frömmigkeit in den Anfängen von Chassidismus und Pietismus. Göttingen 2012, 171–310. 4 Mori, Begeisterung und Ernüchterung [s. Anm. 2], 15–24. 5 Markus Matthias: ‚Enthusiastische‘ Hermeneutik im Pietismus, dargestellt an Johanna Eleonora Petersens „Gespräche des Hertzens mit GOTT“ (1689). In: PuN 17, 1991, 36–61. – In einem späteren Beitrag zur Bibelhermeneutik Franckes hat derselbe Autor seine Sicht auf den Waisenhausgründer ausgedehnt; s. ders.: Die Grundlegung der pietistischen Hermeneutik bei August Hermann Francke. In: Hermeneutik, Methodenlehre, Exegese. Zur Theorie der Interpretation in der Frühen Neuzeit. Hg. v. Günther Frank u. Stephan Meier-Oeser. Stuttgart, Bad Cannstatt 2011, 189–202. Am Ende seiner Ausführungen äußert Matthias angesichts der frappanten Übereinstimmungen in der Bibelhermeneutik Franckes und der Petersen die Überlegung/Frage (ebd., 202): „Offenbar ging die pietistische Praxis der pietistischen Theorie voraus. Muss man also grundsätzlicher von einem Mentalitätswandel (im 17. Jahrhundert) sprechen?“ In homiletischer Perspektive, wo derselbe Befund bezüglich der enthusiastischen Predigt zu konstatieren ist, wird man die Frage bejahen können.
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nis? War dieses analog zur neuen Bibelinterpretation ebenfalls in irgendeiner Weise enthusiastisch konfiguriert?6 Rückblende: Als mehr oder minder zufälliger Kristallisationspunkt der Leipziger Unruhen erwies sich bekanntlich eine Leichenpredigt des Theologieprofessors Johann Benedikt Carpzov [d.J.] (1639–1699) auf einen der pietistischen Bewegung nahestehenden studiosus theologiae sowie ein aus Anlass dieses Todesfalls zufällig, wenngleich nicht absichtslos publiziertes Leichencarmen Joachim Fellers (1638–1691).7 In diesem Gedicht, dessen erste Zeilen häufig zitiert werden, weil sie die pointierte Frage stellen und beantworten, was eigentlich ein Pietist sei, finden sich weiter hinten und seltener zitiert auch einige Aussagen, die die Differenz zwischen einer – aus der Sicht des Poeten – falschen und richtigen, aus unserer heutigen Sicht „orthodoxen“ und „pietistischen“ Predigtweise zum Ausdruck bringen. Dort heißt es: Denn dieses machts nicht aus / wenn man / nach Rhetoristen Und DisputantenArt / sich auf der Cantzel ziert, Und nach der Lehre nicht lebt heilig / wie gebührt / Die Pietät die muß vor aus im Hertzen nisten.8
Hier wird in gedrängter Kürze und in sichtlich antithetischem Gestus ein Predigtideal formuliert, das nicht auf rhetorische Kunst und polemische Fertigkeit („nach Rhetoristen Und DisputantenArt“), sondern auf Frömmigkeit („Pi-
6 Inwieweit das pietistische Frömmigkeitserlebnis im Falle der Lüneburger Bekehrung August Hermann Franckes zu einem enthusiastischen Predigtverständnis führte, habe ich dargelegt in: Andres Straßberger: „Ich glaube, darum rede ich“. Zur Konzeption einer ‚Homiletik des Affekts‘ im hallischen Pietismus. In: „Aus Gottes Wort und eigener Erfahrung gezeiget“. Erfahrung – Gauben, Erkennen und Handeln im Pietismus. Beiträge zum III. Internationalen Kongress für Pietismusforschung 2009. Hg. v. Christian Soboth und Udo Sträter. Halle 2012, Bd. 1, 257–270. Die gegenwärtigen Ausführungen schließen konzeptionell und inhaltlich an diese Ausführungen an, indem sie versuchen, die akademische Etablierung des neuen Predigtverständnisses als kollektive Leistung im Halleschen Theologiestudium transparent zu machen. Für mein Verständnis einer ursprünglich enthusiastischen, im Laufe der Zeit allerdings immer mehr „verkirchlichten“ Konzeption der Predigt im hallischen Pietismus bilden die Überlegungen zu Franckes „Homiletik des Affekts“ die theoretische Grundlage, die zusammen mit der hier vorgelegten Darstellung als sachliche Einheit zu lesen sind. 7 Vgl. hierfür mit weiterführender Literatur bei Andres Straßberger: Memoria. Zur homiletischen Relevanz einer psychischen Kategorie in der lutherischen Orthodoxie und ihre Kritik in Pietismus und Frühaufklärung. In: Eruditio – Confessio – Pietas [s. Anm. 2], 261–314, hier 295–298. 8 Joachim Feller: Sonnet. In: Luctuosa desideria. Wiedergefundene Gedenkschriften auf den Leipziger pietistischen Studenten Martin Born (1666–1689). Mit Gedichten von Joachim Feller, August Hermann Francke und anderen. Teil 1: „Luctuosa desideria“ und „Vetterliche und Freund-verbundenen Letzte Pflicht“. Text. Hg. v. Reinhard Breymayer. Tübingen 2008, 12; ebenfalls zitiert bei Udo Sträter: Predigt. Neuzeit. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik 7, 2005, 65–84, hier 70.
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etät“) fokussiert, und zwar als der entscheidenden Voraussetzung für den Predigtdienst. Ausgehend von Carpzovs Leichenpredigt und Fellers Leichencarmen konzentrierte sich der weitere Gang der Leipziger Ereignisse dann vor allem auf das von Paul Anton und August Hermann Francke geleitete Collegium Philobiblicum.9 Beide Männer avancierten wenige Jahre später zu den zwei ersten maßgeblichen homiletischen Lehrern an der Halleschen Theologischen Fakultät (s. u. 5. und 6.), und auch Joachim Lange, der ab 1709 Verantwortung für die homiletische Ausbildung an der Fridericiana übernahm (s. u. 7.), war zu eben jener Zeit ein Leipziger Theologiestudent, der in Kontakt zur pietistischen Bewegung stand. Berücksichtigt man die Zielstellung und den institutionellen Kontext der ursprünglich gelehrte Interessen verfolgenden Sozietät, so handelte es sich hierbei seit Franckes Lüneburger Bekehrung und seinem damit verbundenen Perspektivwechsel auf die akademische Theologenausbildung10 um das Instrument und die Speerspitze eines im Geiste Speners reformierten Theologiestudiums.11 Dieses wird nun konzeptionell – ähnlich zentral wie die Predigt in Fellers Gedicht – auf pietas (Frömmigkeit) abgestellt.12 Damit zeigen sich freilich keine zufälligen Koinzidenzen, sondern in theologisch-enzyklopädischer Hinsicht bedingten die von pietistischer Seite betriebene Reform der homiletischen Lehre und die Reform des Theologiestudiums einander bzw. das erste war in das zweite eingelagert. Das Skandalon der pietistisch-homiletischen Reformbestrebungen begegnet aus einigem Abstand sodann in einer 1692 veröffentlichten antipietistischen Streitschrift, zwar polemisch konnotiert, sachlich aber durchaus zutreffend. Der anonyme Verfasser (ob Johann Benedikt Carpzov oder der mit ihm in Verbindung stehende Gabriel Christoph Marquart sei dahingestellt)13 referiert die predigtreformerischen Anliegen Franckes und seines Kreises in einer gewissen in-
Dazu zuletzt Schuster, Carpzov und August Hermann Francke [s. Anm. 2], 184–186. Den Perspektivwechsel dokumentiert eindrücklich und macht zugleich in seinen individuellen Folgen für die Predigt anschaulich Franckes Lebenslauf; vgl. dazu Straßberger, „Ich glaube, darum rede ich“ [s. Anm. 6], bes. 257–260. 11 Die für den weiteren Gang der Ereignisse entscheidende Weichenstellung, im Collegium philobiblicum von einer exegetisch-wissenschaftlichen zu einer erbaulich-praktischen Beschäftigung mit dem Bibeltext überzugehen, erfolgte auf Initiative Speners; vgl. dazu mit den Einzelheiten bei Ernst Koch: Johann Benedikt Carpzov und Philipp Jakob Spener. Zur Geschichte einer erbitterten Gegnerschaft. In: Eruditio – Confessio – Pietas [s. Anm. 2], 161–182, hier 164. 12 Grundlegende Einsichten hierfür vermitteln Erhard Peschke: A.H. Franckes Reform des theologischen Studiums. In: August Hermann Francke. Festreden und Kolloquium über den Bildungs- und Erziehungsgedanken bei August Hermann Francke aus Anlaß der 300. Wiederkehr seines Geburtstages. Halle-Wittenberg 1964, 88–115; Friedrich de Boor: A. H. Franckes paränetische Vorlesungen und seine Schriften zur Methode des theologischen Studiums. In: ZRGG 20, 1968, 300–320; Chi-Won Kang: Frömmigkeit und Gelehrsamkeit. Die Reform des Theologiestudiums im lutherischen Pietismus des 17. und des frühen 18. Jahrhunderts. Gießen 2001, 330–424 (zur Homiletik ebd., 394–396). 13 Zur Verfasserfrage vgl. Schuster, Carpzov und August Hermann Francke [s. Anm. 2], 200f. 9
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haltlichen Analogie zum Gedicht Fellers (zumindest was die offenbare Nähe von Kanzelrhetorik und akademischer Disputation betrifft)14 aus seiner Sicht wie folgt: s wurden die Exercitia Disputatoria für eitel Zänckereyen ausgeschryen / dafür E sich junge Leute mit Fleiß hüten solten. Es wurden die Collegia Concionatoria15 für ein Greuel geachtet / unter dem Fürwand / daß man nur menschliche Beredsamkeit darinnen lernete / wie man eine Predigt wohl disponiren / und seine Worte nach Redner Kunst einrichten solle / da ein Prediger doch nicht nach der Kunst menschlicher Weißheit und Beredsamkeit / sondern nach dem reden und predigen müsse / was ihm der Geist GOttes eingäbe.16
Räumen wir dieser Sicht, die hinsichtlich des den Pietisten unterstellten Predigtideals Bezug nimmt auf eine biblische Aussage zur Art und Weise der paulinischen Verkündigung in 1Kor 2,4f., zumindest arbeitshypothetische Plausibilität ein, gewinnt die Frage nach dem Profil der homiletischen Ausbildung an der Theologischen Fakultät in Halle von hier aus eine konkrete Ausrichtung. Demnach wäre danach zu fragen, inwiefern eine in der unmittelbaren Erfahrung des „Geistes Gottes“ wurzelnde, insofern als enthusiastisch17 zu bezeichnende
14 Der innere Zusammenhang von Disputation und Predigt als zwei rhetorischen Praxisfeldern akademisch-theologischer Ausbildung um 1700 spiegelt sich auch in den Reformvorschlägen von Speners Pia Desideria (4.Vorschlag: Einschränkung der konfessionellen Polemik; 5.Vorschlag: Reform des Theologiestudiums; 6. Vorschlag: Predigtreform). Im Hintergrund steht der im konfessionellen Zeitalter von den Pfarrern in der Predigt häufig praktizierte Kanzelelenchus (Kanzelpolemik) zur Widerlegung falscher Lehrmeinungen. Für Speners Ausführungen zur akademischen Disputationspraxis siehe bei Spener: Pia desideria (Die Werke Philipp Jakob Speners. Studienausgabe. Hg. v. Kurt Aland. Bd. I/1. Gießen, Basel 1996), 216,21–220,26; 232,22–234,21 (Forderung nach Disputationen in deutscher Sprache). 15 Zur ersten Orientierung in rhetorikgeschichtlicher Perspektive siehe Björn Hambsch: Predigerkollegien. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik 7, 2005, 39–45. Zu den beiden großen Leipziger Predigerkollegien, dem Montägigen (gegr. 1624) und dem Donnerstägigen (gegr. 1640), sowie weiteren Leipziger Predigerkollegien s. Andres Straßberger: Die „Leipziger Predigerkunst“ im (Zerr-)Spiegel der aufklärerischen Kritik. Plädoyer für eine geschichtliche Betrachtung orthodoxer Homiletik. In: Die Theologische Fakultät der Universität Leipzig: Personen, Profile und Perspektiven aus sechs Jahrhunderten Fakultätsgeschichte. Hg. v. Andreas Gößner. Leipzig 2005, 162–218, hier 176f., 210–214; ders.: Johann Christoph Gottsched und die „philosophische“ Predigt. Studien zur aufklärerischen Transformation der protestantischen Homiletik im Spannungsfeld von Theologie, Philosophie, Rhetorik und Politik.Tübingen 2010, 171f. Anm. 240. 16 [Anonym:] Ausführliche Beschreibung Des Unfugs / Welchen Die Pietisten zu Halberstadt im Monat Decembri 1692. umd die heilige Weyhnachts=Zeit gestifftet. Dabey zugleich von dem Pietistischen Wesen in gemein etwas gründlicher gehandelt wird. Anno 1693, 24; im Zusammenhang eines größeren Textauszuges auch abgedruckt in: Pietismus. Eine Anthologie in Quellen des 17. und 18. Jahrhunderts. Hg. v. Veronika Albrecht-Birkner [u. a.]. Leipzig 2017, 621–624, hier 622. 17 Den Begriff verwende ich im Anschluss an Straßberger, „Ich glaube, darum rede ich“ [s. Anm. 6], bes. 262 mit Anm. 18, wo ich das Predigtverständnis August Hermann Franckes als „Homi-
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Frömmigkeit18 und darauf aufbauende Homiletik, die sich der Unterstützung Speners sicher sein konnte,19 im Halleschen Theologiestudium akademisch institutionalisiert und ausgeformt wurden. Dabei kann im Anschluss an die kirchengeschichtliche Rekonstruktion einer radikalen Phase des frühen Francke20 eine dementsprechende radikal-homiletische Positionierung, zumindest für die Anfangszeit, durchaus in Betracht gezogen werden. Eine analog zur Bibelhermeneutik enthusiastische, primär der Wirksamkeit des Heiligen Geistes verpflichtete Homiletik könnte sich auch deswegen ins Bild fügen, insofern anfangs der – von pietistischer Seite aus nachvollziehbaren Gründen abgewiesene – Vergleich mit einem neuen Pfingsten, mithin einer neuen Ausgießung des Heiligen Geistes (Act 2), zur Deutung der Leipziger Vorkommnisse im Raum stand.21
letik des Affekts“, d. h. als eine vom Heiligen Geist affektierte und insofern enthusiastische Homiletik rekonstruiert habe; zur Terminologie vgl. im Kontext der pietistischen Bewegung auch bei Oskar Föller: Pietismus und Enthusiasmus-Streit unter Verwandten. Geschichtliche Aspekte der Einordnung und Beurteilung enthusiastisch-charismatischer Frömmigkeit. Wuppertal 1998 (zu Speners, Franckes und Langes Position gegenüber enthusiastischen Äußerungen ebd., 56– 91). 18 Vgl. bei Eberhard Winkler: Die Spiritualität August Hermann Franckes (1663–1727). In: Handbuch Evangelische Spiritualität. Bd. 1: Geschichte. Hg. v. Peter Zimmerling. Göttingen 2017, 359–376, der auf den gegen Francke „erhobene[n] Vorwurf des Enthusiasmus“ (ebd., 371), seine „Sympathie für die Dynamik des Geistes“ (ebd., 372) sowie dessen „Offenheit für spiritualistische Gedanken“ (ebd.) verweist. 19 Philipp Jakob Spener: V orrede, Zu denen von ihm aus des sel. D. Dannhauers Hodosophie gefertigten Tabellen,Von den Hindernissen der Gottesgelahrtheit, aus dem Lateinischen ins Teutsche übersetzet. In: Ders.: Kleine geistliche Schriften.Theil 1, Bd. 2. ND der Ausgabe Magdeburg, Leipzig 1741. Hildesheim [u. a.] 2000 (Spener: Schriften. Hg. v. Erich Beyreuther. Bd. IX/1,2), 1010–1079, hier 1053f. (Hervorhebung i. O.): „Man möchte daher fragen, ob ich denn dafür hielte, daß die Predigt=Kunst gar keinen Nutzen hätte? das [!] will ich zwar nicht sagen, so viel aber unterstehe ich mich zu behaupten, daß der nutze nicht so groß sey, wie sich die meisten einbilden. Ich wünschte, daß man in den meisten Predigten mehr Beweisung des Geistes und der Kraft, als der Kunst und überredenden Worten menschlicher Weisheit antreffen möchte.“ Die kursiv gesetzte Passage beinhaltet dieselbe Anspielung auf 1Kor 2,4f. wie das Zitat bei Anm. 16. – Ein Auszug aus der V orrede nach der zitierten Übersetzung (in leicht angepasster Schreibweise) jetzt auch in: Pietas und eruditio. Pietistische Texte zum Theologiestudium. Hg. v. Klaus vom Orde. Leipzig 2016, 29–59, hier 50,13–20; ein längerer Auszug aus dem lateinischsprachigen Original inklusive der zitierten Passage (mit eigener Übersetzung des V f.) bei Albrecht Haizmann: Erbaulichkeit als Kriterium der Predigt bei Philipp Jakob Spener. In: Klassiker der protestantischen Predigtlehre: Einführungen in homiletische Theorieentwürfe von Luther bis Lange. Hg. v. Christian Albrecht u. Martin Weeber. Tübingen 2002, 48–74, hier 60–65 (die zitierte Stelle ebd., 62). 20 Veronika Albrecht-Birkner u. Udo Sträter: Die radikale Phase des frühen August Hermann Francke. In: Der radikale Pietismus: Perspektiven der Forschung. Hg. v. Wolfgang Breul [u. a.]. Göttingen 2010, 57–84. 21 Vgl. hierfür insbesondere das von Johann Benedikt Carpzov als Rektor der Leipziger Universität veröffentlichte Pfingstprogramm auf das Jahr 1691; abgedruckt (lat./dt.) in: Eruditio – Confessio – Pietas [s. Anm. 2], 411–430, hier 415f.; vgl. dazu auch in den Beiträgen von Koch, Carpzov und Spener [s. Anm. 11], 166f.; Schuster, Carpzov und August Hermann Francke [s. Anm. 2], 190–194.
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2.Was sagen die Statuten? Zunächst ist es erhellend, das zur Kenntnis zu nehmen, was die Statuten der neugegründeten Halleschen Universität als grundsätzliche Richtungsangabe zur Stellung der Homiletik innerhalb der Architektur des Theologiestudiums mitteilen. Denn bei allen Kontinuitäten und Gemeinsamkeiten, die sich in der lutherisch-orthodoxen und hallisch-pietistischen Predigtausbildung auch nachweisen lassen, darf hinsichtlich der Bedeutung und des Gewichts der homiletischen Schulung ein basaler Unterschied nicht übersehen werden. Denn während im Leipziger Theologiebetrieb die Homiletik als Krone des Studiums galt und eine entsprechende Vorrangstellung behauptete,22 verliert sie diese an der Halleschen Universität. Die von Breithaupt entworfenen,23 auf den 1. Juli 1694 datierten Statuten der Theologischen Fakultät bringen die zwar nicht qualitative, aber sachliche Abwertung der homiletischen Studieninhalte mit folgenden Worten klar zum Ausdruck: „Homiletica denique non primo sed posteriori loco habeantur […]“.24 Dies hat seinen Grund in einer völlig neuen Architektur und Zielstellung der theologischen Ausbildung insgesamt: Zum einen wird das Studium vom überwiegend technischen Erwerb theologischer Wissensbestände auf die Kultivierung geistlicher Erfahrung, vom orthodoxen Ideal des „erudierten“ (gelehrten), auf den „frommen“ Theologen umgestellt,25 was sich in der umfassenden Fokussierung der Studieninhalte auf eine primär praktische (erbauliche) Beschäftigung mit der Bibel greifen lässt (s. u. 8.).26 Zum anderen wird das Studium auf ein neues pastorales Leitbild ausgerichtet. In dessen Mittelpunkt stehen nun nicht mehr der vorrangige Erwerb homiletischer Kompetenz, sondern vielmehr
22 Das Leipziger Theologiestudium zur Zeit August Hermann Franckes war auf direkte landesherrliche Anweisung hin mit Rücksicht auf arme Studenten, die nicht lange studieren konnten, primär auf eine Ausbildung zum Prediger zugeschnitten; die Homiletik stand daher im Zentrum des Studiums; vgl. dazu Leube: Die Geschichte der pietistischen Bewegung in Leipzig [s. Anm. 2], 173. 23 So Friedrich August Eckstein: Chronik der Stadt Halle.Tl. II: Chronik der Friedrichs-Universität. Halle 1842, 32. 24 Wilhelm Schrader: Geschichte der Friedrichs-Universität zu Halle. Tl. 2. Berlin 1894, 398– 408 (Statuta Facultatis Theologicae in Universitate Fridericiana), hier 403: „Homiletica denique non primo sed posteriori loco habeantur, supponentia notitiam rerum dogmaticarum et practicarum, quarum coram populo proponendarum ratio et selectio in locis singulis theologicis distincte cum terminis conventionibus communicetur primum, et tum disponendi methodus ex contextuum et rerum visceribus petenda ostendatur, tandemque reliquia praecepta ad elaborandum et eloquendum spectantia.“ 25 Vgl. dazu auch Martin Schmidt: Das pietistische Pfarrerideal und seine altkirchlichen Wurzeln. (1973) In: Ders.: Der Pietismus als theologische Erscheinung. Gesammelte Studien zur Geschichte des Pietismus. Band 2. Göttingen 1984, 122–155. 26 Grundlegend dafür August Hermann Francke: Timotheus Zum Fürbilde Allen Theologiae Studiosis fürgestellet. Halle 1695 (u. ö.) [A.H. Francke 1663–1727: Bibliographie seiner Schriften. Bearb. v. Paul Raabe und Almut Pfeiffer. Tübingen 2001, C 14.1 (-5)].
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die Aneignung und Ausbildung von seelsorgerlichen, vor allem aber auch katechetischen, also religionspädagogischen, Fähigkeiten.27 Den Hintergrund dieser Entwicklung bildet nicht nur eine im 17. Jahrhundert breit geführte Diskussion über die Ursachen der faktischen Wirkungslosigkeit der Predigt, die v. a. „in der mangelnden Individualisierbarkeit ihrer Applikation“28 gesehen wird, sondern auch der pietistische Erziehungsoptimismus, der sich etwa in Franckes Erwartung ausdrückt, dass insbesondere mit einem von Kindesbeinen an im „wahren Christentum“ erzogenen „neuen Menschen“ die erhoffte Weltveränderung viel besser zu bewerkstelligen sei als mit den nur bedingt veränderungsfähig eingeschätzten Erwachsenen.29 Wie aber gestaltete sich unter diesem Vorzeichen die homiletische Ausbildung in Halle konkret?
3. Eine Werbeschrift für das Hallesche Theologiestudium von 1702 Im Sommer des Jahres 1702, acht Jahre nach der offiziellen Eröffnung der Universität, erschien eine Broschüre, die auf 24 Seiten ein ideales Bild vom Halleschen Theologiestudium zeichnet.30 Als Autor der anonym publizierten Schrift wird – durchaus plausibel – der Adjunkt der Theologischen Fakultät und spätere Hallesche Theologieprofessor Johann Daniel Herrnschmidt (1675– 1723) genannt.31 Über das Motiv seiner Publikation, hinter der man Francke, vielleicht auch die gesamte Theologische Fakultät vermuten darf, lässt sich nur Dies läst sich ablesen am Anforderungsprofil der 1699 erlassenen Magdeburgischen Examensordnung: Seiner Chur=Fürstl. Durchlaucht. zu Brandeburg / etc. Gnädigste Verordnung / Welchergestalt sich die Candidati Ministerii im Hertzogthum Magdeburg zum Examine bereiten sollen (Halle / den 23. Mart. 1699.).Vgl. auch Erhard Peschke: Studien zur Theologie August Hermann Franckes. Bd. 2. Berlin 1966, 163: „Noch größeres Gewicht als auf die Ausbildung in der Predigt legt Francke auf die katechetischen Übungen.“ 28 Udo Sträter: Predigt. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik 7, 2005, 70. 29 Vgl. hierfür die Perspektive, die Francke im Großen Aufsatz (1704) aufmacht; August Hermann Franckes Schrift über eine Reform des Erziehungs- und Bildungswesens als Ausgangspunkt einer geistlichen und sozialen Neuordnung der Evangelischen Kirche des 18. Jahrhunderts. Der Große Aufsatz. Mit einer quellenkundlichen Einführung. Hg. v. Otto Podczeck. Berlin 1962. 30 [Johann Daniel Herrnschmidt:] Warhafftiger Bericht V on dem jetzigen Zustand der Löblichen Theologischen Facultät Auf der weitberühmten Königlich=Preussischen Universität zu Halle / In einem Send=Schreiben an einen Christlichen Freund entworffen / Durch einen / der von allem gnugsame eigene Erfahrung hat; Nunmehr aber Zu Beförderung des gemeinen Nutzens im Druck mitgetheilet. Gedruckt im Jahr Christi MDCCII. (24 S.) Das Sendschreiben ist am Ende auf den 01.07.1702 datiert. 31 So in einem Exemplar der Bibliothek der Franckeschen Stiftungen (Sign.: 76 D 7 [7]) aus dem Besitz von Heinrich Milde (1676–1739), wo Herrnschmidts Verfasserschaft auf dem Titelblatt notiert ist. – Zu Herrnschmidts Berufung auf die Hallesche Theologieprofessur siehe Claudia Drese: Franckes Kronprinz. Zur Installation Johann Daniel Herrnschmidts In: Hallesches Waisenhaus und Berliner Hof. Beiträge zum Verhältnis von Pietismus und Preußen. Hg. v. Holger Zaunstöck [u. a.]. Halle 2017, 19–35. 27
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spekulieren.32 Zum Thema enthält Herrnschmidts Fakultätsbeschreibung überaus interessante weiterführende Erkenntnisse. So lassen seine Ausführungen vor allem erkennen, dass man bei der Vermittlung und Ausbildung homiletischer Kompetenz in Halle zwar prinzipiell dem alten Dreischritt der Rhetorik, wie er auch die Predigerausbildung im konfessionellen Zeitalter bestimmt hat, verpflichtet bleibt. Allerdings wird dieser nun eingebettet in ein umfassendes Programm der geistlichen Lebensführung; die Abstellung des gesamten Theologiestudiums auf „Frömmigkeit“ stellt die homiletische Ausbildung faktisch auf eine völlig neue Grundlage (s.u. 8).33 Der Dreischritt rhetorischer und homiletischer Schulung,34 der sich nicht nur aus Herrnschmidts Ausführungen abstrahieren lässt, sondern der von ihm später auch in einer Homiletikvorlesung, die sich als Vorlesungsnachschrift im Archiv der Franckeschen Stiftungen erhalten hat, explizit formuliert wurde,35 beinhaltete demnach folgende Aspekte:
32 Vielleicht kann man den Text als Zeugnis dafür interpretieren, dass die Konstitutionsphase des Halleschen Theologiestudiums nunmehr zu ihrem Abschluss gekommen ist, was mittels dieser Publikation öffentlichkeitswirksam kommuniziert werden soll. Damit korreliert der Befund, dass sowohl ältere als auch neuere Arbeiten zur Universitätsgeschichte in ihren Darstellungen ebenfalls eine Zäsur um 1700 annehmen; Wilhelm Schrader: Geschichte der Friedrichs-Universität zu Halle. Tl. 1. Berlin 1894 (Kap. 1: Gründung und Befestigung der Universität, 1690– 1700; Kap. 2: Die Blüte von 1700–1730); Marianne Taatz-Jacobi: Erwünschte Harmonie. Die Gründung der Friedrichs-Universität Halle als Instrument brandenburg-preußischer Konfessionspolitik. Motive, Verfahren, Mythos (1680–1713). Berlin 2014 (Kap. 3: 1688–1700; Kap. 4: 1700–1713). 33 [Herrnschmidt,] Warhafftiger Bericht [s. Anm. 30], 7–16. 34 Vgl. Gert Ueding: Grundriß der Rhetorik: Geschichte – Technik – Methode. 5., aktualisierte Aufl. Stuttgart; Weimar 2011, 329–333. – Ohne Hinweis auf die rhetorischen Tradition referiert den Dreischritt schon Peschke, Studien II [s. Anm. 27], 162f.: „Francke warnt vor einem allzu zeitigen Besuch der homiletischen Vorlesungen“; „gab es in Halle auch Exercitia homiletica, die zur Übung in der Predigt anleiten“; „empfiehlt Francke die Predigten der Professoren zu besuchen“ um den „‚modum & methodum concionandi practice zu erlernen‘, wodurch ‚weit mehr ausgerichtet wird, als durch alle Praecepta Homiletica‘“. 35 Johann Daniel Herrnschmidt: Collegium homileticum (1718/19) [Vorlesungsnachschrift; Manuskript]. Bd. 1, 15 (Sign.: AFSt/H H 24a): „Die media diesen habitum [sc. einer anständigen und veritablen Beredsamkeit, d.Vf.] zu erlangen können in 3. Classes eingetheilet werden: 1. gehören dazu praecepta 2. imitatio 3. muß endlich das complementum geben exercitatio.“ Und ebd., 117f.: „Sie [sc. die Eloquentia sacra, d.Vf.] kommt mit der Beredsamkeit überhaupt darinn überein, daß sie gleichfalls ist habitus accquisitus den man erlangen muß per certa media. […] Gleichwie nun oben gezeigt, daß ad habitum Eloquentiae comparandum 3 Stück erfordert werden 1. Praecepta seu institutio 2. imitatio 3[.] Exercitatio.“ – Zu dieser Homiletikvorlesung Herrnschmidts vgl. meinen demnächst erscheinenden Beitrag: Andres Straßberger: Aufklärung im Pietismus. Zum Neuheitsanspruch einer Homiletikvorlesung Johann Daniel Herrnschmidts (Manuskript abgeschlossen und eingereicht; erscheint voraussichtlich 2019 in einem von Hanspeter Marti herausgegebenen Dokumentationsband zur Hallenser Universitätsgeschichte).
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1. praecepta,36 also die Vermittlung und Aneignung homiletisch-theoretischen Wissens, vorzugsweise durch Vorlesungen bzw. das Selbststudium homiletischer Lehrbücher; 2. exercitatio,37 d. h. praktische Predigtübungen unter Anleitung eines Lehrers bzw. Professors; und 3. imitatio,38 mithin die Kenntnisnahme und individuelle Nachahmung mustergültiger Vorbilder, und zwar durch deren Anhörung, also Gottesdienstbesuch, bzw. Lektüre und Studium von deren gedruckten Predigten. Das Angebot homiletischer Lehrstunden (praecepta) erwähnt „Franckes Kronprinz“ (Claudia Drese) in seiner Fakultätsbeschreibung im Kontext einer Aufzählung des akademischen Vorlesungsangebots wie folgt: „Uberhaupt von dem Inhalt der Collegiorum kürtzlich etwas zu melden / so werden von Zeit zu Zeit gehalten: Thetica, Antithetica, Paraphrastica, Exegetica, Homiletica, item Historiam Ecclesiasticam, in certos libros N[ovi] T[estamenti] &c.“39 Ein Blick in die ab 1694 überlieferten Lektionskataloge40 der Universität bestätigt die hier behauptete Regelmäßigkeit eines homiletischen Lehrangebots. Die Verantwortlichkeit dafür lässt klare Zuständigkeiten erkennen, die im Laufe der Zeit wechseln.
Vgl. Johannes Engels: Praeceptum. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik 7, 2005, 12–22. Vgl. Manfred Kraus: Exercitatio. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik 3, 1996, 71–123. 38 Vgl. Nicola Kaminski: Imitatio. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik 4, 1998, 235–285. 39 [Herrnschmidt:] Warhafftiger Bericht [s. Anm. 30], 10. 40 Für meine Forschungen habe ich eine gebundene Sammlung der fotokopierten Vorlesungsverzeichnisse (überwiegend Einblattdrucke, gelegentlich auch als ausführliche Vorlesungsverzeichnisse der Theologischen Faklultät in Broschürenform vorhanden) der Universität Halle im Universitätsarchiv Halle-Wittenberg benutzt (Bandtitel: Codex Lectionum Annuarum, Bd. 1). Die originale Sammlung befindet sich in der Universitäts- und Landesbibliothek Halle und wird im Opac unter folgendem Titel verzeichnet: V orlesungsverzeichnisse der Academia Fridericiana Halensi[s] – Friedrichs-Universität zu Halle, der Universitate Litteraria Fridericiana Halensi cum Vitebergensi Consociata – Königlichen Vereinigten Friedrichs-Universität Halle-Wittenberg und der Vereinigten Friedrichs-Universität Halle-Wittenberg des Zeitraumes vom 08.07.1694 bis zum Sommersemester 1932 im Bestand der Abteilung Sondersammlungen der Universitätsund Landesbibliothek Sachsen-Anhalt in Halle an der Saale / [Universitäts- und Landesbibliothek Sachsen-Anhalt. Zsgest. v. Markus Lucke]. Aus praktischen Erwägungen zitiere ich die hier zusammengetragenen Vorlesungsverzeichnisse (Einblattdrucke) nur unter Angabe des jeweiligen Sommer- oder Wintersemesters, ggf. unter Angabe einer im Vorlesungsverzeichnis befindlichen Datierung; die wenigen ausführlichen Vorlesungsverzeichnisse zitiere ich unter Angabe ihres Titels und Erscheinungsjahres. 36 37
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4. Joachim Justus Breithaupt (1658–1732) Demnach bot Joachim Justus Breithaupt41 als erster ordentlicher Theologieprofessor an der neuen Universität erstmals42 im Sommer 1694 eine homiletische Vorlesung unter dem Titel einer Institutio Homiletica ex libris Quatuor Augustini de Doctrina Christiana an. Im Wintersemester 1698/99 tat er dies – zumindest nach Ausweis der Vorlesungsverzeichnisse – zum zweiten und letzten Mal. Man wird bereits aus dieser Beobachtung schließen können, dass Breithaupt als Lehrer der homiletischen Theorie eine personale Übergangslösung der Anfangszeit darstellte. Als praktischer Predigtlehrer behauptete er allerdings eine Dauerstellung, indem er bereits im Herbst 1692 ein homiletisches Seminar an der Schulkirche installierte, dessen Übungsstunden fast jedes Semester im Vorlesungsverzeichnis angezeigt werden, und zwar selbst dann noch, als er als neu ernannter Abt des Klosters Berge (1709) kaum noch in Halle weilte und sich bei diesen Übungsstunden dauerhaft vertreten ließ.43 Dieses homiletische Seminar an der Schulkirche (ehemals Barfüßerkirche),44 das mit einem ihm (Breithaupt) unterstehenden Theologischen Seminar verbunden war, geriet mit seinen Predigtübungen, in denen die Studenten in Gegenwart des Professors ihre Übungspre-
41 Zu Breithaupts Leben und Wirken siehe den instruktiven Sammelband: Joachim Justus Breithaupt (1658–1732): Aspekte von Leben, Wirken und Werk im Kontext. Hg. v. Reimar Lindauer-Huber u. Andreas Lindner. Stuttgart 2011; zu dessen Berufung nach Halle hier bes. der Beitrag von Andrea Lehmann (ebd., 129–139); vgl. dazu auch Taatz-Jacobi, Erwünschte Harmonie [s. Anm. 32], 142–151; Udo Sträter: „Drei Kollegen, als zu Halle Breithaupt, Anton und Francke …“. In: Die Universität zu Halle und Franckens Stiftungen. Hg. v. Ralf-Torsten Speler. Halle 1998, 24–38, hier 26f. – Breithaupt und Francke kannten sich von Kieler Studienzeiten (1681–1683) her, wo sie Stubengenossen waren; später lernte Breithaupt in Frankfurt Spener kennen, der ihn für den Pietismus gewann. „Schicksalhaft“ (U. Sträter) wurde für ihn seine Berufung (1689) zum Senior des Evangelischen Ministeriums und als Professor für Theologie in Erfurt, wo er 1691 wieder mit Francke zusammenkam und beide in die hiesigen pietistischen Streitigkeiten verwickelt wurden. An der Theologischen Fakultät in Halle wirkte er bis zu seinem Tod als Professor primarius; zu seinem Wirken als Professor theologiae siehe auch Schrader, Geschichte der FriedrichsUniversität zu Halle. Tl. 1 [s. Anm. 32], 47f. 42 Breithaupt wurde bereits 1691 auf die Theologieprofessur berufen; bis zur Inaugurierung der Universität am 01.07.1694 lehrte er die Theologie allein. Die Überlieferung der Vorlesungsverzeichnisse setzt erst im Sommersemester 1694 ein. 43 Vgl. dazu Andreas Lindner: Einleitung. In: Joachim Justus Breithaupt [s. Anm. 41], 18f. 44 Zu diesem von Breithaupt bis zu seinem Tod geleiteten Theologischen Seminar siehe bei Johann Christoph von Dreyhaupt: Pagus Neletici Et Nudzici, oder Ausführliche diplomatisch-historische Beschreibung des […] Saal-Creyses, und aller darinnen befindlichen Städte […] Zweiter Theil. Hg. im Auftrag der Arbeitsgemeinschaft für mitteldeutsche Familienforschung e. V., Arbeitskreis Halle und Umgebung, von Uwe Meißner. [ND der Ausgabe Halle 1750.] Halle 2002, 31–33; Adolf Wuttke: Zur Geschichte des theologischen Seminars der Universität Halle. Aus den Acten des Facultätsarchivs. Oster-Programm der Univ[ersität] Halle für das Jahr 1869. Halle 1869, bes. 1–6; Zu den örtlichen Gegebenheiten siehe Angela Dolgner: Der Universitätsplatz. In: Historische Plätze der Stadt Halle an der Saale. Hg. v. Verein für hallische Stadtgeschichte in Verbindung mit Angela Dolgner. Halle 2007, 169–189, hier 171–173.
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digten hielten,45 anfangs in Konflikt mit den Redeübungen des angrenzenden Gymnasiums.46 Der Streit um den gemeinsam genutzten Raum wurde jedoch bald beigelegt. Dass Breithaupt für die Vermittlung der homiletischen praecepta nur in der Anfangsphase des Studienbetriebs verantwortlich war, dürfte nicht zuletzt auch dem Umstand geschuldet gewesen sein, dass das homiletische Lehrbuch, welches er seinen Vorlesungen zugrunde legte, im Wesentlichen noch ein Produkt seiner Kieler Tätigkeit als Homiletikprofessor in den Jahren 1684 bis 1686 war.47 Breithaupts Programm einer pietistischen Predigtreform war dem Anschein nach – es fehlen diesbezüglich aussagefähige Untersuchungen – von Spener und von seinem Kieler theologischen Lehrer Christian Kortholt (1633–1694) inspiriert und wies keine Einflüsse der in den „Leipziger Unruhen“ gemachten Geisterfahrungen auf.48 Obschon er im Einklang mit seinen anderen Halleschen Fakultätskollegen den wahrhaftig bekehrten Prediger einforderte und auch einer Predigt gemäß dem apostolischen Ideal nach 1Kor 2,4 als eines „Erweis[es] des Geistes und der Kraft“ das Wort redete,49 schlugen sich diese beiden Mo Breithaupts allererste Ankündigung einer homiletischer Vorlesung und Predigtübung in der Schulkirche erfolgte im Vorlesungsverzeichnis für das Sommersemester 1694 wie folgt: „privatim, hora pomeridiana quarta diebus Iovis & Veneris tractatur Institutio Homiletica ex libris Quatuor Augustini de Doctrina Christiana: accedet iterum Exercitatio Homiletica Practica in AEde sacra, die Mercurii hora pomeridiana secunda“. – Noch im ausführlichen Vorlesungsverzeichnis für das Sommersemester 1717 wird eine zweimal wöchentlich stattfindende Predigtübung Breithaupts in der Schulkirche (bei der er sich seit 1709 üblicherweise vertreten ließ) mit folgenden Worten angekündigt (Conspectvs Lectionvm, Qvas Collegivm Theologicorvm In Academia Regia Fridericiana Instanti Semestri Aestivo, […] Anno Ecclesiae Evangelicae Secvlari MDCCXVII, 4): „In AEde Scholasticâ Conciones Germanicae à provectioribus habentur publicè, diebus Mercurii & Saturni; quas statim Censurae excipit eodem in loco.“ 46 Hermann Hering: Der akademische Gottesdienst und der Kampf um die Schulkirche in Halle a. S. Ein Beitrag zur Geschichte der Friedrichs-Universität daselbst von ihrer Gründung bis zur Erneuerung durch Friedrich Wilhelm III. Halle 1909, bes. 9–11; vgl. auch zur Verweigerung des Zugangs zur Schulkirche den Eintrag im Tagebuch Franckes bei Gustav Kramer: Beiträge zur Geschichte August Hermann Francke’s. Halle 1861, 181; Taatz-Jacobi, Erwünschte Harmonie [s. Anm. 32], 191–195. 47 Zu Breithaupts Kieler Homiletikprofessur siehe Walter Bülck: Geschichte des Studiums der praktischen Theologie an der Universität Kiel. Inaugural-Dissertation zur Erlangung der theologischen Lizentiatenwürde bei der Theologischen Fakultät Kiel. Kiel 1921, 17 f. 48 Zu Breithaupt als begeistertem Leser von Speners Pia desideria siehe Taatz-Jacobi, Erwünschte Harmonie [s. Anm. 32], 142f. – Zu Kortholt als Vermittler „pietistischer Anregungen“ siehe Bülck, Geschichte des Studiums der praktischen Theologie [s. Anm. 47], 7–13, Zitat 7; zu den Verbindungen von Breithaupt zu Kortholt ebd., 17f.; Jendris Alwast: Geschichte der Theologischen Fakultät an der Christian-Albrechts-Universität Kiel 1665–1865. Norderstedt 2008, 79–82; zu Kortholts praktisch-theologischen Reformbestrebungen (ohne Berücksichtigung von dessen predigtreformerischen Anliegen) siehe Wilhelm Halfmann: Christian Kortholt. Ein Bild aus der Theologie und Frömmigkeit im Ausgang des orthodoxen Zeitalters. Kiel 1930, 49–65. Vgl. auch Erhard Peschke: Die Theologie Christian Kortholts. In: ThLZ 96, 1971, 641–654. 49 Zum ersten Aspekt siehe das aufschlussreiche Referat einer 1697 unter Breithaupt verteidigten Disputation bei Martin Schian: Orthodoxie und Pietismus im Kampf um die Predigt. Ein Beitrag zur Geschichte des endenden 17. und des beginnenden 18. Jahrhunderts. Gießen 1912, 45
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mente in seiner homiletischen Konzeption nicht so nieder, wie es bei Francke und seinen Anhängern der Leipziger Zeit der Fall war. In seiner Kieler Antrittsvorlesung De homileticis difficultatibus betonte Breithaupt, so wie auch Spener, deshalb vor allem den Vorrang des Studiums der Heiligen Schrift vor der weltlichen Rednerkunst.50 Diesen Gedanken arbeitete er nachfolgend in einer V orlesung aus, deren Grundriss er auf 42 Kleinoktavseiten unter folgendem Titel drucken ließ: Institutio Hermenevtico-Homiletica, hoc est, Praecepta interpretandi Scripturam Sacram & concionandi, ex Divi Augustini De Doctrina Christiana Libris Quatuor Conquista, illustrata atque ad usum accommodata.51 Selbsterklärtes Ziel dieser Homiletik war es, „die Academische Jugend zum erbaulichen predigen an[zu]leite[n]“.52 Möglicherweise rekurrierte er damit auf Speners Erbauungsverständnis,53 was allerdings noch im Einzelnen zu untersuchen wäre. Sein homiletisches Interesse zielte vor allem darauf, der als artifizialistisch beurteilten Homiletik der Orthodoxie das Konzept einer oratio popularis gegenüberzustellen, für die ihm Augustins Homiletik als Referenz diente.54 88. Zum zweiten Aspekt vgl. in der unter Breithaupt abgehaltenen und von Heinrich Lysius 1702 verteidigten Exercitatio inauguralis De Studio Theologico, Auszug in: Pietas et eruditio [s. Anm. 19], 107–140, hier 140. 50 Joachim Justus Breithaupt: Oratio solennis De Homileticis Difficultatibus quam Illustri Christian-Albertina die V Sept. Anno 1684, cum Professionem Homileticam Clementissimo jussu atque auctoritate sibi commissam auspicaretur, habuit […] Kiloni [1684]. – Vgl. dazu die zwar knappen, aber instruktiven Ausführungen bei Volker Kapp: Rhetorik und Poesie an der Universität Kiel um 1680. Daniel Georg Morhof – mit einem Blick auf seine Schüler Breithaupt und Francke. In: Joachim Justus Breithaupt [s. Anm. 41], 113–127, hier 126f. 51 Kiloni 1685. – Eine Inhalts- und Gliederungsübersicht dieser Homiletik bietet Joseph S. Freedman: Central European Academic Texts on Preaching and Sermons during the Final Quarter of the Seventeenth Century: In the Service of Pietist Preaching? In: Erfahrung – Glauben, Erkennen und Handeln im Pietismus [s. Anm. 6], 227–255, hier 253; vgl. dazu auch Kapp, Rhetorik und Poesie [s. Anm. 50], 117. 52 Joachim Justus Breithaupt: Des seligen Herrn Abt Breithaupts eigenhändig aufgesetzter Lebens=Lauf. In: Joachim Justus Breithaupt [s. Anm. 41], 23–53, Zitat 31; Ebd. bemerkt Breithaupt zu seiner Kieler Lehrtätigkeit zusammenfassend, dass er „den meisten Fleiß darauf [wendete], daß [ich] mit gewissen Auditoribus die ganze Bibel Alt= und Neuen Testaments homiletice durch excerpirete“. Möglicherweise lässt sich diese Äußerung dahin interpretieren, dass seine Lehrtätigkeit mehr auf eine Unterweisung in die homiletisch-praktische Erschließung des Bibeltextes und weniger auf die Vermittlung einer konsistenten homiletischen Theorie zielte. 53 Philipp Jakob Spener: Pia desideria (Die Werke Philipp Jakob Speners. Studienausgabe. Hg. v. Kurt Aland. Bd. I/1. Gießen; Basel 1996), 244,18–20 im 6. Reformvorschlag: „Vornemlich aber [sollten die Studiosis] in den Predigten sich also zu üben / daß ihnen bald gezeigt werde / wie sie alles in solchen Predigten zu der erbauung einzurichten.“ – Zu Speners (homiletischem) Erbauungsbegriff und -verständnis vgl. Albrecht Haizmann: Erbauung als Aufgabe der Seelsorge bei Philipp Jakob Spener. Göttingen 1997; ders.: Erbaulichkeit als Aufgabe der Predigt bei Philipp Jacob Spener [s. Anm. 19], 48–74. 54 Philipp Jakob Spener: Allgemeine Gottesgelahrtheit (1680). In: Ders.: Studienausgabe. Hg. v. Kurt Aland u. Beate Köster. Bd. I: Die Grundschriften, Teil 2. Gießen 2000, [21]-351 bezog im Zusammenhang mit Ausführungen zu einer auf die Wirksamkeit des Heiligen Geistes ausgerichteten Theologie auch zur Predigt Stellung (ebd., 161–195). Seine Position untermauerte er hier mit zwei substantiellen Bezugnahmen auf Augustins De Doctrina christiana (ebd., 190f.).
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Dieser Vorlesungsgrundriss bildete dann auch die Grundlage seiner eingangs erwähnten Halleschen Homiletikvorlesung, für die die Institutio HermeneuticoHomiletica in den 1690er Jahren hier neu aufgelegt wurde.55 Im Vergleich zur Erstauflage war diesem Druck lediglich ein Anhang mit homiletikrelevanten Passagen aus Speners im Umfeld der „Leipziger Unruhen“ publizierten Vorrede De impedimentis studii theologici (Über die Hindernisse des theologischen Studiums) beigefügt.56 Diese Vorrede spielte nicht nur im Verlauf der Geschichte der Leipziger pietistischen Bewegung eine Schlüsselrolle,57 sondern sie erlangte auch für die pietistische Reform des Theologiestudiums in Halle insgesamt eine überragende Bedeutung.58 Trotz dieser partiellen Aktualisierung seiner Homiletik konnte Breithaupt sein im Vergleich zu Francke abweichendes, weil im Kern noch immer positives Verhältnis zur Schulrhetorik in homileticis nicht verleugnen. Dieses drückte sich beispielhaft in der anerkennenden Würdigung der Rhetorik seines einstigen Helmstedter Lehrers Christoph Schrader (1601–1680) aus. Dieser hatte die Rhetorik des Aristotelis auf die Auslegung der Heiligen Schrift appliziert, was Breithaupt in seinem später in Halle geschriebenen Lebenslauf beifällig vermerkte.59 Mit seiner grundsätzlichen Wertschätzung orthodoxer Homiletik, an
55 Joachim Justus Breithaupt: Institutio Hermenevtico-Homiletica, hoc est, Praecepta interpretandi Scripturam Sacram & concionandi, ex Divi Augustini De Doctrina Christiana Libris Quatuor Conquista, illustrata atque ad usum accommodata. Halae: Johann Friedrich Zeitler. [O.J.] [um 1697]. 56 Zu Entstehung und Inhalt von Speners Vorrede vgl. insbesondere bei Dietrich Blaufuß: „Scibile et pie“: Adam Rechenbergs und Philipp Jacob Speners theologische Studienanleitungen Wegweiser zur Aufklärung? In: Die Universität Leipzig und ihr gelehrtes Umfeld [s. Anm. 2], 329–358, bes. 344–349; vom Orde, Nachwort. In: Pietas et eruditio [s. Anm. 19], 246f. 57 Vgl. Blaufuß, Scibile et pie [s. Anm. 56], 344f.; Koch, Carpzov und Spener [s. Anm. 11], 165f.; Straßberger, Memoria [s. Anm. 7], 298–304. 58 Vom Orde bewertet De impedimentis mit Recht „neben den ‚Pia Desideria‘ […] [als] eine[n] der grundlegendsten Texte Speners überhaupt“ (Pietas et eruditio [s. Anm. 19], 247 [Nachwort]). Ergänzend merkt er an (ebd., in Anm. 25): „In allen wichtigen Veröffentlichungen zum Theologiestudium von Pietisten des frühen 18. Jahrhunderts wird auf Speners Schrift hingewiesen.“ 59 Breithaupt, Lebens=Lauf [s. Anm. 52], 25 (Redeübungen bei Schrader 1676/77) und ebd., 27: „A. 1679 und 1680 begegnete mir Gelegenheit zu Wolfenbüttel und Braunschweig, was in Eloquentia Sacra ex meritissimi Schraderi ore, und dessen nimmer gnug gepriesenem Commentario de sensu & vsu Rhetoricae Aristotelis empfangen hatte, noch genauer zu prüfen e praxi der beyden Kirchen=Oratorum, Herrn D. Brandani Daetrii, Abtes und Generalissimi zu Wolfenbüttel, und Herrn Caspari Crusii, Ducalis Ecclesiastae Primarii zu Braunschweig; bevorab da diese beyde methodum diuersam führeten, der letztere concisam und coloratam, der erste hingegen periodicam und ponderosam. Ich folgete aber dem exemplo Daetrii vornemlich, und imitierte denselben, wie in andern Stücken, also zugleich in actione, so gar, daß, wer D. Brandanum (so nannte man zu der Zeit den theuren Theologum) gehöret, dessen Art und Weise in meinem predigen gantz eigentlich merckete. (Conf. Poem. Miscell. P.I.c.XIX. XII.)“ – Zum Hintergrundverständnis von Breithaupts Position, die späthumanistische und pietistische Intentionen vereint, vgl. den erhellenden Beitrag von Jean-Luc Le Cam: Justus Joachim [sic] Breithaupt als Schüler von Christoph Schrader und des Helmstädter Späthumanismus. In: Joachim Justus Breithaupt [s. Anm. 41],
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der er lediglich deren Auswüchse verurteilte, unterschied er sich eklatant von Francke, dem die homiletischen Bestrebungen der Orthodoxie vom Standpunkt seines Bekehrungserlebnisses aus als ein einziger großer Irrweg erschienen.60
5. Paul Anton (1661–1730) Folgen wir der Chronologie der Lektionskataloge, erscheint Paul Anton, der am 9. August 1695 durch Vermittlung Speners zum Theologieprofessor und Konsistorialrat nach Halle berufen wurde, als zweiter homiletischer Lehrer innerhalb der im Werden und Wachsen begriffenen Theologischen Fakultät.61 Obwohl er für deren Geschichte von erheblicher Bedeutung ist, hat er kaum Aufmerksamkeit über seinen Tod hinaus gefunden.62 Er gilt als Desiderat der Pietismusforschung, worauf Dietrich Blaufuß zu Recht mit Nachdruck hinweist.63 Im Wintersemester 1696/97 kündigte Anton im Vorlesungsverzeichnis erstmals eine „Introductio […] in praecepta homiletica ex Augustini de Doctr[ina] Christ[iana] libris collecta“ an. Im anschließenden Sommersemester setzte er diese Vorlesung fort, und in den darauffolgenden zwei Semestern wiederholte er diesen Zyklus. Aller Wahrscheinlichkeit nach legte Anton diesen Vorlesungen die Institutio Hermeneutico-Homiletica seines Kollegen Breithaupt zugrunde, die er freilich nach eigenen, in den „Leipziger Unruhen“ geformten homiletischen Grundsätzen erläutert haben dürfte.64 Parallel dazu arbeitete er an einer alterna-
79–112; zu Breithaupt Predigtweise vgl. auch die (allerdings wenig aussagekräftigen) Ausführungen bei Hering, Der akademische Gottesdienst [s. Anm. 46], 13–17. 60 Vgl. dazu nochmals Straßberger, „Ich glaube, darum rede ich“ [s. Anm. 6], bes. 260–266. – Auch Breithaupts ausgesprochen positives Urteil über die aristotelisch-scholastische Lehrart des von ihm absolvierten Theologiestudiums unterscheidet sich erheblich von Franckes Sicht auf dieselbe Sache; Breithaupt, Lebens=Lauf [s. Anm. 52], 26f. 61 Zu seiner Berufung s. Taatz-Jacobi, Erwünschte Harmonie [s. Anm. 32], 222–225; über seine Person orientieren ADB 1, 1875, 498 (Herzog); BBKL 1, 1990, 190 (Friedrich Wilhelm Bautz); Sträter, Drei Kollegen [s. Anm. 41], 27–30; Dietrich Blaufuß: Halle – „eine neu angelegte academie“: Philipp Jacob Speners Programm des Theologiestudiums und Paul Antons „Elementa Homiletica“. V ortrag gehalten am 23.11.2016 im IZEA Halle/S.,Veröffentlichung wird vorbereitet. 62 Eine der wenigen postumen Publikationen ist: [Paul Anton:] Pastoral=Sentenzen, eine starke und gesunde Speise für Prediger. Herausgegeben von G.C. Silberschlag. Auf ’s Neue ans Licht gezogen. Heilbronn 1823 (32 S.; zuerst: Berlin 1779; spätere Ausgabe: Basel 1862). – Zu den „Sentenzen“ Antons, „ein[es] ehemalige[n] vortrefliche[n] Lehrer[s] der Gottesgelahrtheit auf der Universität Halle“ (ebd. 3), teilt der Herausgeber in der Vorrede wenig präzise mit, er „habe sie irgendwo gefunden“ (ebd.); es gibt starke Hinweise darauf, dass die „Sentenzen“ der Nachschrift einer Vorlesung Antons über den Timotheusbrief entnommen sind. 63 Blaufuß, Halle – „eine neu angelegte academie“ [s. Anm. 61]. 64 Paul Anton: Elementa Homiletica, in materiam ac usum cum praelectionum, tum exercitiorum & censurarum in hoc genere, consignata a Paulo Antonio. Accedunt, ad verum finem eo
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tiven, die predigtreformerischen Ansichten des Leipziger Francke-Kreises adäquat aufnehmenden Homiletik. Eine von ihm abgefasste und am 13. April 1697 unter seinem Vorsitz verteidigte Dissertation präsentierte der akademischen Öffentlichkeit dann erstmals seinen originellen Lösungsansatz. Unter dem Titel von Monita Homiletica e Commentariis Francisci Lamberti Avenionensis de prophetia, collecta65 versuchte der Francke-Vertraute die zuerst 1526 erschienene Schrift De Prophetia66 des einstigen Luther-Schülers sowie zeitweise in Straßburg wirkenden und danach vor allem für das Hessische Reformationswerk Bedeutung erlangenden Franz Lambert von Avignon (1487–1530)67 für die Homiletik fruchtbar zu machen. Dieser erste Lösungsansatz fand wenige Jahre später Ausformung in einem Vorlesungsentwurf, der 1700 zum ersten und 1707 zum zweiten Mal gedruckt wurde. Der Titel dieser allerersten genuin hallischpietistischen Homiletik lautete: Elementa Homiletica, in materiam ac usum cum praelectionum, tum exercitiorum & censurarum in hoc genere, consignata; die Monita Homiletica von 1697 waren hier dem homiletischen Theorieteil angehängt.68 certius assequendum, MONITA HOMILETICA, e Fr. Lamberti de Prophetia Commentariis fideliter collecta. Halae Magdeburgicae: Christ. Andr. Zeitler, 1700 (80. S.), Praemonitio Bl. a3rv: „Coepi primas lineas ducere Lipsiae [an dieser Stelle in der Ausgabe 1707 eine Anm. *: * confer scriptum meum, Ienae excusum A. 1693. contra famosum libellum Unfug. p. 104. sq.], cum compulsus a juvenibus cogitarem de modo adhibendo, easque ipsas recensui, quatuor fere abhinc annis, in Alma Hallensi nostra, alio praeter ea consilio. nempe ut introductionis loco essent in Institutionem hermeneutico-homileticam, sive praecepta, ex Augustini de doctrina Christiana libris, conquisita a venerando collega D. J. J. Breithauptio, Institutionibus credendorum & agendorum subjuncta. Quae Augustini institutiones homileticae, quas etiam audio prelum novum expectare, occasionem dedere mihi ostendere auditoribus, quàm ardua res haec fuerit priscis ecclesiae Doctoribus, etiam illo adhuc tempore, quo ars jam intraverat in ecclesiam; quoq(ue) frustra versemur circa verba, si simus sine rebus.“ – Inwiefern sich hier seine Leipziger pro-loco-Disputation einfügt, bliebe weiteren Forschungen vorbehalten; Paul Anton: Fundamento artis oratoriae in logica impetrato superiorum consensu altera vice pro loco disputauit […] Lipsiae 1684 (BFSt/Halle: 76 C 7: 42). Auf den ersten Blick ist diese Dissertation v. a. von rhetorikgeschichtlichem Interesse. 65 Paul Anton (Präs.) / Otto Wilhelm Schüßler (Resp.): Monita Homiletica e Commentariis Francisci Lamberti Avenionensis de Prophetia, collecta […] Placido eruditorum examini, una cum praefatione, summariis ac notis quibusdam ad d. XIII. Aprilis An. M. DC. XCVII subjicit […]. Typis Christoph. Andreae Zeitleri, Acad. Typ. (3 Bl. [Vorr.], 24 S.). – Bei der Schrift handelt es sich, wie der Titel bereits notiert, ganz überwiegend um eine mit Stellennachweisen versehene Zusammenstellung von homiletikrelevanten Passagen aus Lambert (ebd., 1–23), dem einige Thesen (Corollaria: ebd., 23f.) angehängt sind. 66 Franciscus Lambertus Avenionensis: Commentarij de Prophetia, Eruditione & Linguis, deq(ue) Litera et Spiritu. Argentorati 1516 [i. e. 1526] [VD16 L 135]. 67 Grundlegend noch immer die Arbeit von Gerhard Müller: Franz Lambert von Avignon und die Reformation in Hessen. Marburg 1958; vgl. ferner die Überblicke in RE3 11, 1902, 220–223 (Carl Mirbt); NDB 13, 1982, 435–437 (Gerhard Müller); TRE 20, 1990, 415–418 (Gerhard Müller; ebd., 416,36–46 zu De prophetia); BBKL 4, 1992, 1015–1020 (Hans-Josef Olszewsky). 68 Anton, Elementa Homiletica [s. Anm. 64], Bl. a2r-6v (Praemonitio, datiert auf den 23.08.1700), 1–39 (Elementa homiletica Sive Introductio in Praecepta interpretandi Scripturam S. &. concionandi Augustiniana), 40–72 (Monita Homiletica e Commentariis Francisci Lamberti), 73–80 (Anhang mit vier längeren Testimonien, u. a. von Luther); 21707. Abgesehen von kleinen Veränderungen im Titel sowie einer neu hinzugefügten Anmerkung in der Vorrede (s. o. in Anm.
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Die predigttheoretische Beanspruchung von Lamberts Schrift, deren Titel ins Deutsche sinngemäß übersetzt ungefähr lautet Von der Schriftauslegung,69 der Gelehrsamkeit und den Sprachen sowie vom Buchstaben und vom Geist, für die hallischpietistische Predigtreform ist als höchst bemerkenswert einzuschätzen. Unter den zahlreichen Schriften Lamberts zählt sie zu den von der deutschsprachigen (reformationsgeschichtlichen) Forschung nur wenig, von der französischsprachigen (v. a. literaturwissenschaftlichen) Forschung hingegen deutlich stärker beachteten Schriften.70 Was findet Anton in Lamberts Schrift, die bis dato in der lutherischen theologischen Tradition im Allgemeinen und in der homiletischen im Besonderen keine markante Rolle spielte? Die Druck- und Rezeptionsgeschichte des Werks gibt darauf allenfalls vage Hinweise. Drei, möglicherweise vier71 Drucke der Schrift erschienen nach einer langen Phase publizistischer Abstinenz plötzlich in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts am Buchmarkt: eine Ausgabe mit Druckort Quedlinburg 1666/1668,72 64) kann ich keine erheblichen Differenzen im Vergleich zur Erstausgabe feststellen. – Eine Inhalts- und Gliederungsübersicht der Elementa homiletica bei Freedman, Central European Academic Texts on Preaching [s. Anm. 51], 254 (vgl. auch ebd., 235f. mit einigen Erwähnungen von Antons Homiletik). 69 Auf die praktische, homiletische Dimension der Schriftauslegung (prophetia) verweist Johann Wilhelm Baum: Franz Lambert von Avignon. Nach seinen Schriften und den geschichtlichen Quellen dargestellt. Straßburg, Paris 1840, indem er für „(De) Prophetia“ einmal die Übersetzung „(Vom) Predigtamt“ (ebd, 176), andermal „vom Predigen“ (ebd., 102) wählt. 70 In der neueren deutschsprachigen Literatur einige wenige Ausführungen zu De prophetia bei Müller, Franz Lambert von Avignon und die Reformation in Hessen [s. Anm. 67], 25f.; für die hier interessierende Perspektive weniger aussagekräftig desselben Bemerkungen in TRE 20, 416,36–46. – In der französischsprachigen Forschung finden sich mehrere, z. T. substantielle Bezugnahmen auf De prophetia, die das pietistische Interesse am homiletischen Gehalt der Schrift verständlich machen können, bei: R. Gérald Hobbs: François Lambert sur les langues et la prophétie. In: Pour Retrouver François Lambert: bio-bibliographie et études. Ed. par Pierre Fraenkel. Baden-Baden 1987, 273–301, hier 283–285; Olivier Millet: Éloquence des prophètes bibliques et prédication inspirée: La „prophétie“ réformée au XVIe Siècle. In: Prophètes et prophéties au XVIe siècle. Paris 1998 (Cahiers V.-L. Saulnier 15), 65–82, bes. 74f.; ders.: La Réforme protestante et la rhétorique (circa 1520–1550). In: Histoire de la rhétorique dans l’Europe moderne 1450– 1950 publiée sous la direction de Marc Fumaroli de l’Académie française. Paris 1999, 259–312, bes. 296; ders.: Réforme du sermon et métamorphose du prédicateur (de Surgant à Lambert d’Avignon et Érasme): Tèmoignage évangélique et fiction romanesque dans ‘L’Heptaméron‘ de Maguerite de Navarre. In: Annoncer l’Evangile: permanences et mutations de la prédication. Ed. par Matthieu Arnold. Paris 2006, 363–380, bes. 374; erhellend auch (wenngleich ohne direkten Bezug auf De prophetia) Theodore G. Van Raalte: François Lambert d’Avignon: Early Ecclesial Reform and Training for the Ministry at Marburg. In: Church and School in Early Modern Protestantism: Studies in Honor of Richard A. Muller on the Maturation of a Theological Tradition. Ed. by Jordan J. Ballor [et al.]. Leiden; Boston 2013, 81–93, bes. 88–92. 71 Baum, Franz Lambert von Avignon [s. Anm. 69], 176 erwähnt eine Ausgabe Helmstedt 1678, die ich aber über die bekannten Bibliotheksverbünde in keinem Bestandsexemplar nachweisen kann; Müller (TRE 20, 416,39) spricht sogar von fünf Ausgaben im 17. Jahrhundert. 72 Lambertus Redevivus hoc est Francisci Lamberti Avenionensis Tractatus De Prophetia, Litera ET Spiritu, Ad veram in omni scibili cognitionem & praxin utilis. […] Denuo edit. Qvedlinburgi, Typis Johann. Ockelii, Anno 1666 (74 S. = Tract. I-III); Francisci Lamberti A Venionen-
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eine mit Druckort Amsterdam und Frankfurt am Main 167573 sowie ein Nachdruck der Quedlinburger Ausgabe innerhalb einer Sammelpublikation bei einem Leipziger Drucker und Buchhändler im Jahr 1693.74 Über die Initiatoren und Hintergründe der Drucke lässt sich bislang nur spekulieren. Ist es zum Beispiel von predigtgeschichtlicher Bedeutung, dass sich ein Exemplar der Ausgabe von 1666 im Besitz Friedrich Brecklings (1629–1711) befand,75 des prominenten Vertreters eines spiritualistischen Predigtideals?76 Und wie ist es zu bewerten, dass der Druck von 1675 durch den spiritualistischen Kreisen nahestehenden niederländischen Drucker und Buchhändler Heinrich Betke (auch: Hendrick Beets, 1625?-1708), den Bücherlieferanten von Johann Jacob Schütz, erfolgte, und zwar ausgerechnet oder auch nur zufällig im Jahr des Erscheinens von Speners Pia Desideria?77 Welche Bedeutung ist dem Umstand beizumessen, dass die Leipziger Ausgabe von 1693 nicht nur in unmittelbarer zeitlicher und räumlicher Nähe zu den „Leipziger Unruhen“, sondern auch im Verbund mit sis Commentarii De Prophetia, Eruditione Et Lingvis, Deqve Litera Et Spiritu Ad veram in omni scibili cognitionem & praxin utiliss. […] In commodum omnium Facultatum, Disciplinarum & Artium edit. Qvedlinburgi, Typis Johannis Ockelii, Anno M DC LXVIII (208 S. = Tract. IV-V). – Bibliographiert nach dem Exemplar der Bibliothek der Franckeschen Stiftungen (Halle/S.): 31 E 10 [3]. 73 Francisci Lamberti Avenionensis commentarii de prophetia, eruditione et linguis, deque litera et spiritu: ad veram in omni scibili cognitionem & praxin utilissim; adeoquè propter singularem in omni literaturâ, eruditione & doctrinâ utilitatem. Denuò ed. Amstelodami; Francofurti ad Mœnum: Betkius, 1675. 74 Balthasar Meisner: De Praestantia ac Dignitate Christiani […] Oratio, cum annexa Disputatione D. Arnoldi Meng[e]ringii De Impedimentis Conversionis Et Salutis Humanae. Additi insuper habentur Francisci Lamberti Commentarii De Prophetandi Ratione, cum nonnullis aliis eo facientibus, Et Commendatione doctrinae Christianae in Scholis tradendae. Lipsiae, abud Joh. Heinichen, 1693 (Exemplar aus dem Besitz Paul Antons mit dessen Marginalien: BFSt/Halle: 52 D 6). 75 BFSt/Halle: 31 E 10 [3]. – Vgl. Brigitte Klosterberg: Libri Brecklingici. Bücher aus dem Besitz Friedrich Brecklings in der Bibliothek des Halleschen Waisenhauses. In: Interdisziplinäre Pietismusforschungen. Beiträge zum Ersten Internationalen Kongress für Pietismusforschung 2001. 2 Bde. Hg. v. Udo Sträter [u. a.]. Tübingen 2005, 871–881. 76 Zu Breckling s. im vorliegenden Zusammenhang bei Jonathan Strom: Jacob Fabricius, Friedrich Breckling und die Debatte um Visionen und neue Offenbarungen. In: Der radikale Pietismus [s. Anm. 20], 249–270; zur spiritualistischen bzw. radikalpietistischen Predigt s. auch ders.: Pietism and Revival. In: Preaching, Sermon and Cultural Change in the Long Eighteenth Century (A New History of the Sermon, 4). Ed. by Joris van Eijnatten. Leiden 2009, 173–218, hier 178–180, 194–199. 77 Erwähnung dieser Ausgabe bei Willem Heijting: Profijtelijke boekskens: boekcultuur, geloof en gewin. Historische Studies. Hilversum 2007, 237. Vgl. auch die Erwähnungen Betkes bei Andreas Deppermann: Johann Jakob Schütz und die Anfänge des Pietismus. Tübingen 2002, 346; Johannes Wallmann: Theologie und Frömmigkeit im Zeitalter des Barock. Gesammelte Aufsätze. Tübingen 1995, 274. – Lambert findet mit seinem Apokalypsen-Kommentar beiläufige Erwähnung im Anhang von Speners Pia desideria (Die Werke Philipp Jakob Speners. Studienausgabe. Hg. v. Kurt Aland. Bd. I/1. Gießen; Basel 1996, 390,14; 391,11); ausführlichere Berücksichtigung findet Lambert bei Werner Bellardi: Die Vorstufen der Collegia pietatis bei Philipp Jacob Spener. Gießen 1994, 65–71.
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der Neuauflage einer Disputation Arnold Mengerings (1596–1647), die dem Thema der Bekehrung gewidmet war, erfolgte?78 Und schließlich: Spielte bei der pietistischen Rezeption von Lamberts Schrift eine bereits 1684 erschienene Verteidigungsschrift der von orthodoxer Seite als „neue Enthusiasten“ diffamierten Quäker eine Rolle, die im Zuge ihrer Behandlung des Predigtthemas einen umfangreichen Auszug aus De prophetia zitierte, und zwar als Zeugnis für die Legitimität der quäkerischen Predigtweise?79 Nähere Aufschlüsse gibt eine inhaltliche Analyse von Lamberts Schrift bzw. der umfangreichen Auszüge bei Anton. Deutlich ist zu erkennen, dass sich nicht nur eine radikale Gelehrsamkeitskritik, wie sie unter den Leipziger Pietisten samt ihrem Anführer Francke80 vertreten wurde, sondern auch ein enthusiastisch eingefärbtes Predigtideal auf die Ausführungen des Straßburger Reformators stützen konnten.81 Vertrat Lambert, dem Löschers Unschuldige Nachrichten
78 Heinrich Heppe: Geschichte des Pietismus und der Mystik in der reformierten Kirche der Niederlande. ND der Ausgabe Leiden 1879. Goudriaan 1979, 496f. sieht Mengering den Tendenzen Speners „unmittelbar[…] verwandt“ und führt dazu aus: „In einer ganzen Reihe von Schriften suchte derselbe seine Zeitgenossen an den Gedanken zu fesseln, dass die Bekehrung zu Gott der einzige Rettungsanker in der entsetzlichen Noth der Zeit sei.“ Heppe nennt im Weiteren einige dahin gerichtete Schriften Mengerings, nicht aber die Disputation. 79 Vgl. Robert Barclay: Eine Apologie Oder Vertheidigungs=Schrifft / Der Recht=Christlichen Gottes=Gelehrtheit / Wie solche Unter denen Leuten / die in dem Englischen und Teutschen spöttisch […] QUAKER benahmet seynd / gehalten und gelehret wird. […] Denen Ausländern zur Nachricht in Latein Geschrieben und heraus gegeben […], So aber hernacher / […] in das Englische / und nunmehr aus beeden ins Teutsche übersetzet ist. Gedruckt im Jahr 1684, 288f. [ein längerer Auszug aus diesem sehr umfangreichen Lambert-Zitat unten in Anm. 152]; ein zweites Zitat aus Lambert ebd., 215. – Zur Verbreitung von Barclays Schrift unter den Frankfurter Pietisten s. Deppermann, Johann Jakob Schütz und die Anfänge des Pietismus [s.Anm. 77], 323f. Spener beklagt in einem Brief an Francke (17.05.1692), dass, wie ihm berichtet werde, Barclays Apologie unter den Pietisten in Halle „sehr starck under ihnen herum gehe“ (Philipp Jakob Spener: Briefwechsel mit August Hermann Francke 1689–1704. Hg. v. Johannes Wallmann u. Udo Sträter in Zusarb. mit Veronika Albrecht-Birkner. Tübingen 2006, 114–116, hier 115,28–32). Aufschlussreich ist auch der Hinweis von Hans Schneider: Der radikale Pietismus im 18. Jahrhundert. In: Geschichte des Pietismus. Bd. 2: Der Pietismus im 18. Jahrhundert. Hg. v. Martin Brecht u. Klaus Deppermann. Göttingen 1995, 107–197, hier 178 Anm. 155, dass Hochmann von Hochenau einem Leipziger Studenten im Jahr 1711 die Lektüre von Barclays Buch empfahl. 80 Vgl. hierfür insbesondere die an Schärfe und Kompromisslosigkeit kaum zu überbietenden Ansichten, die Francke in seiner 1698 gehaltenen Streitpredigt Von den falschen Propheten geäußert hat, in: August Hermann Francke: Werke in Auswahl. Hg. v. Erhard Peschke. Berlin 1969, 304–335, hier bes. 316f. 81 Damit ist nicht gesagt, dass eine solche Sicht der Intention Lamberts entspricht, aber sie lässt sich mit ihm aus pietistischer Perspektive in Verbindung bringen. Müller, Franz Lambert von Avignon [s. Anm. 67], 25f. notiert zur Intention Lamberts unter Verwendung eines Zitats von Ernst Benz etwa: „Die heilige Schrift kann ohne menschliche Gelehrsamkeit verstanden werden, vor allem ohne den Aristoteles; nur Gottes Geist ist nötig. Lambert wollte sich damit nicht gegen das Studium der Sprachen und die Wissenschaft wenden, die nicht vom Glauben losgelöst ist, sondern gegen ‚die Emanizpation des humanistischen vom christlichen Bildungsideal‘.“ – Sowohl antiintellektuelle als auch enthusiastische Momente als Charaktistika von Lamberts Homiletik hebt hingegen hervor Gábor Kecskeméti: A kora újkori magyarországi prédikációirodalom
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zumindest in der Abendmahlslehre ungebrochene Treue zu Luthers Lehre attestierten,82 doch die Ansicht, „[m]an könne sehr gelehrt seyn im Buchstaben, in den Sprachen der Heiligen Schrift, deren Studium übrigens nicht zu verwerfen seye, ohne darum auch den Geist derselben erfaßt zu haben, und umgekehrt: es könne jemand sehr erfahren im Geiste seyn, was die Hauptsache [ist], ohne ein so großer Sprachkenner zu seyn“.83 Im Verbund mit anderen Aussagen seiner Schrift,84 lässt sich Lambert in pietistischer Lesart daher als reformatorischer Kronzeuge für den Vorrang des Geistbesitzes vor aller Gelehrsamkeit im Blick auf die Befähigung zum Predigen in Anspruch nehmen. Das homiletiktheoretische Potential von De prophetia in Richtung einer vor allem in der reformierten Tradition wirksam gewordenen Konzeption einer „prophetischen Predigt“85 unterstreicht das. Den mit Lambert in Verbindung gebrachten Zusammenhang von Gelehrsamkeitskritik und enthusiastischem Predigtideal kann man daher auch in einer von Anton geäußerten Definition, der zufolge das Predigen nicht als Kunst oder Handwerk, sondern als Gabe und Frucht des Geistes anzusehen
kutatásának eredményei és jövöbeni irányai. In: Studia Litteraria: Irodalom és Kultúratudományi Intézetének kiadványa, Debrecen, 2013/3–4, 12–19, hier 16 (ebd., 19 engl. Abstract: Results and Future Tendencies in the Research of Early Modern Sermon Literature in Hungary); ebd., 17 auch ein Hinweis auf die Rezeption Lamberts im hallischen Pietismus (P. Anton). Für die Übersetzung aus dem Ungarischen bin ich Eva und Dr. Markus Hein (Leipzig) zu herzlichem Dank verpflichtet. 82 [Anonym:] Francisci Lamberti Leben. In: Unschuldige Nachrichten von Alten und Neuen Theologischen Sachen 1709. Leipzig 1710, 17–25, hier 23f. 83 Baum, Franz Lambert von Avignon [s. Anm. 69], 102. 84 In der Vorrede zur Erstausgabe von 1526, die in den Drucken des 17. Jahrhunderts fehlt, hat sich Lambert über die Zielrichtung seiner Schrift selbst dahingehend erklärt, dass diese „adversum eos qui literam nimium adorant, Spiritus ferme obliti“ („gegen diejenigen gerichtet sei, die nahezu geistvergessen den Buchstaben anbeten über alle Maßen“; Übersetzung d.Vf.); zit. nach dem Abdruck der Vorrede bei Jan Rott / Olivier Millet: Miettes Histroriques Strasbourgeoises. In: Actes du colloque Guillaume Farel: Neuchâtel 29 septembre – 1er octobre 1980/ publiés par Pierre Barthel [u. a.]. Tome I: Communications. Genève 1983, 258–261, hier 260. Diese Aussage konnte von Pietisten auf die homiletische Fixierung der lutherischen Orthodoxie auf das biblische Wort in seiner textuellen Gestalt gelesen werden, was in der lutherisch-orthodoxen Predigtpraxis, v. a. in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts, zu diversen homiletischen Techniken geführt hatte, die nun als Wortspielereien kritisiert wurden. 85 Vgl. hierfür bes. Millet, Éloquence des prophètes [s. Anm. 70], 65–82 (unter bes. Berücksichtigung von J. Calvins, H. Bullingers und Lamberts Ansichten). – In Hinsicht der hallisch-pietistischen Konzeption eines „vom Heiligen Geist affektierten“ Predigers zeigen sich frappante Übereinstimmungen mit Calvins Verständnis eines rechten Propheten, wofür Jon Balserac: Establishing the Remnant Church in France: Calvin’s Lectures on the Minor Prophets, 1556–1559. Leiden 2011, 70–79, elf Kennzeichen herausgearbeitet hat.Von diesen konvergieren etliche auffallend mit hallisch-pietistischen Intentionen. Zur Charakterisierung des „prophetic preaching“ s. auch Hughes Oliphant Old: The Reading and Preaching of the Scriptures in the Worship of the Christian Church. Vol. 1: The Biblical Period. Grand Rapids (Michigan) 1998, 16; zur Einordnung von Lavaters Predigttätigkeit während der Revolutionszeit als „prophetic preaching“ s. ders.: dass.Vol. 5: Moderatism, Pietism, and Awakening. Grand Rapids (Michigan) 2004, 62f.
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sei,86 widergespiegelt sehen. Sein diesbezügliches Interesse an Lambert formulierte Anton in seinen erwähnten Schriften freilich deutlich vorsichtiger,87 musste er doch darauf bedacht sein, den orthodoxen Kritikern Halles in der um 1700 heiß laufenden Pietismuskontroverse keine Angriffsfläche zu bieten.88 Daher macht vor allem ein Rekurs Gottfried Arnolds (1666–1714) auf Lambert (und auf Luther, was hier jedoch beiseite bleiben kann) die mit ihm auch auf hallisch-pietistischer Seite in Verbindung gebrachte enthusiastische Akzentuierung der Homiletik noch einmal unverhüllt anschaulich. Arnold schreibt in seiner wirkungsgeschichtlich bedeutsamen Pastoraltheologie (1704): oraus denn auch ferner folget / daß es ein wahrer Bote GOttes nicht auf blosses W Reden oder Schwatzen dürffe ankommen lassen / sondern auch selber in der Gemeinschafft des Geistes mit GOTT stehen und darinn alles nach GOTTes Wort prüfen und einrichten müsse / damit nicht ers sey / der da rede / sondern der H. Geist (als der Geist des Vaters) es sey / der durch ihn rede / Matth. X, 19.20. Zu welchem Ende der eigene Geist / oder das falsche eigenliebige Leben nothwendig an das Creutz JEsu gehefftet und ertödtet seyn muß / damit man nicht mit denen tollen Propheten aus seinem eigenen Hertzen weissage und predige / Ezech. XIII, 3.Von diesem Hauptgrund aber aller wahren Lehre nemlich der Erleuchtung / Regierung und Wirckung des H. Geistes / ist schon oben im V. und folgenden Capiteln zur Gnüge gemeldet worden: und denen Gelehrten kann zum Zeugniß genug seyn / wenn sie nechst Lutheri Vorrede über die Teutsche Theologie und anderen Schrifften / des Francisci Lamberti Commentarios de Prophetia & Prophetis nachlesen.89
Angesichts dieser und anderer Bezugnahmen auf Lamberts Schrift nicht nur, aber eben auch und vor allem im Zusammenhang der pietistischen Predigtreform dürfte das Urteil eines verdienten deutschen Lambert-Forschers, der dessen Bedeutung für den Pietismus als „gering“ eingestuft hat, hinfällig sein.90 86 Anton, Elementa homiletica [s. Anm. 64],Vorwort Bl. a2v: „non artem esse, quae concionatorem bonum constituat, sed gratiam & unctionem Spiritûs S[ancti]“. 87 Anton / Schüßler: Monita Homiletica [s. Anm. 65], Vorwort Bl. [A4]r: „Nullum enim post Lutherum ego quidem hactenus legi, qui internum animi conditionem, quae solet ante velin [= vel in; freundlicher Hinweis von Dr. Michael Beyer, Schönbach] concionibus habendis sese prodere simplicius veriusq(ue) exposuerit; […]“ („Denn ich habe in der Tat nach Luther bis jetzt keinen [Autor] gelesen, der den inneren Zustand der Seele, der sich gewöhnlich vor oder während des Predigthaltens mitteilt, so einfach und wahrhaftig beschrieben hätte“; Übersetzung d.Vf. unter Verwendung eines freundlichen Hinweises von Dr. Michael Beyer). 88 Vgl. zur zeitlichen Verortung von Antons homiletischen Schriften nochmals Gierl, Pietismus und Aufklärung [s. Anm. 2], 193–205. 89 Gottfried Arnold: Die geistliche Gestalt Eines Evangelischen Lehrers Nach dem Sinn und Exempel Der Alten Auff vielfältiges Begehren Ans Licht gestellet. Halle: In Verlegung des Wäysen=Hauses, 1704, 440 (Cap. XIV:Von den Verrichtungen eines Predigers / und insonderheit von dem Lehren, Abschn. XXI). 90 Müller (TRE 20, 417,23–25) meinte: „Auch für den Pietismus ist trotz der Aufmerksamkeit, die seine Commentarii de prophetia, eruditione et linguis fanden, seine Bedeutung gering.“ Diese Fehleinschätzung ist insofern überraschend, als Müller, Franz Lambert von Avignon [s. Anm. 67],
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Wenn Anton seine Homiletik zudem als Praecepta homiletica concionandi Augustiniana, als „Anweisung auf Augustinische Weise zu predigen“, einführt,91 verweist er damit zunächst auf den auch für Breithaupts homiletische Konzeption vorbildgebenden Kirchenvater und dessen Homiletik. Inwiefern eine in Zedlers Universal-Lexicon gegebene Erläuterung der Methodus Augustiniana in ihrer Applikation auf homiletische Kontexte für Antons Predigtverständnis aussagefähig ist, müsste im einzelnen noch untersucht werden.92 Ob der Hallesche Theologe mit seinem Hinweis auf die „augustinische Predigtmethode“ außerdem einen bekehrungstypologischen Aspekt im Auge hatte, für den der Kirchenvater prototypisch steht und der im hallischen Pietismus seine auch homiletisch bedeutsame Renaissance erlebte (s. u. 6.), bliebe ebenfalls noch zu klären. Trotz der offenen Fragen ist in Antons Homiletik der auch für Lambert zentrale Punkt in der Betonung der Geistwirkung und des Geistbesitzes im Predigen erkennbar: die Ausrichtung auf das biblische Wort.93 Denn das Interesse des hallischen Pietismus an der homiletischen Aktivierung des Heiligen Geistes zielte nicht auf neue Offenbarungen oder Visionen, sondern war auf die sprachliche Auslegung des offenbarten Wortes und seine Wirkung in der Predigt ausgerichtet. Unter dieser Voraussetzung griffen daher auch in Franckes Hermeneutik die geistlichen Affekte der Bibel und die enthusiastisch akzentuierte Geistrhetorik homiletisch ineinander.94 Welche Bedeutung Antons Elementa im halleschen Studienbetrieb insgesamt erlangten, ist momentan schwer abzuschätzen. Nach Ausweis der Lektionskataloge las Anton 1698 zum letzten mal publice eine Homiletik, mithin angeblich nie selbst über seine aus Lambert geschöpften praecepta (was schwer zu glauben ist). Eine im Archiv der Franckeschen Stiftungen befindliche studentische Mit25f. Anm. 177, selbst den rezeptionsgeschichtlich wichtigen, auf Winfried Zeller zurückgehenden Hinweis gegeben hatte, dass sich Gerhard Tersteegen in seiner Lehre von der Heiligen Schrift (Gerhard Tersteegen: Weg der Wahrheit […] Cleve 41768, 51 Anm. a) auf Lamberts Commentarii de Prophetia stützt. 91 Anton, Elementa homiletica [s. Anm. 64], 1 stellt seine Ausführungen unter die Überschrift: „Elementa Homiletica Sive Introductio in Praecepta interpretandi Scripturam S. & concionandi Augustiniana“. 92 Zedler 20, 1739, 1293f.: „Methode (Augustinische) Methodus Augustiniana ist eine gewisse Lehr=Art, nach welcher man in denen Streitigkeiten mit der Römischen Kirche, bloß aus denen Worten der heiligen Schrifft, ohne Hülffe der aus der Vernunfft fliessenden Folgerungen [Kursivsetzung d.Vf.], wider sie disputiren, und einiger Falschheit überführen muß.“ 93 Vgl. im Falle Lamberts hierfür bes. im Aufsatz von Millet, Eloquence des prophetes [s. Anm. 70], 374. 94 Hanspeter Marti: Die Rhetorik des Heiligen Geistes: Gelehrsamkeit, poesis und sermo mysticus bei Gottfried Arnold. (1986) In: Gottfried Arnold: Radikaler Pietist und Gelehrter. Jubiläumsgabe von und für Dietrich Blaufuß und Hanspeter Marti. Hg. v. Antje Mißfeld. Köln [u. a.] 2011, 15–76, hier 52 weist darauf hin, dass in Antons Elementa homiletica mehrfach auf die Affekthermeneutik Franckes Bezug genommen wird. Er zitiert in diesem Zusammenhang eine Stelle aus Franckes Manuductio, die für das Verständnis des Zusammenhangs von biblischer Affekthermeneutik und enthusiastischer Geistrhetorik erhellend ist (ebd., bei Anm. 120): „Affectus spirituales principium habent ipsum Spiritum Sanctum, & sunt fructus spiritus.“
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schrift aus dem Jahr 1705 belegt immerhin, dass er zumindest privatim entsprechende Vorlesungen anbot.95 Wie oft und wie lange er das tat, ist unbekannt. Stattdessen zeigen die Vorlesungsverzeichnisse, dass ab 1700 zunächst Francke und ab 1709 schließlich Joachim Lange in die Rolle der für die Homiletik verantwortlichen Professoren eintraten und in dieser Funktion mehrfach über Antons Elementa homiletica lasen.
6. August Hermann Francke (1663–1727) Über August Hermann Franckes Rolle innerhalb der homiletischen Ausbildung in Halle gäbe es freilich sehr viel zu sagen. Mit ihm ist die charismatische Führungsfigur des hallischen Pietismus im Blick, die nicht zuletzt als Prediger in pietistischen Kreisen einen überragenden Ruf genoss.96 Für die akademische Umsetzung der pietistischen Predigtreform an der Universität Halle ist er als maßgeblicher Taktgeber einzuschätzen. Aus Platzgründen beschränke ich mich hier auf einige wenige Bemerkungen und verweise zur Ergänzung auf bereits erschienene bzw. geplante Studien.97 Im Herbst 1698 zum Theologieprofessor ernannt, bot Francke im Sommersemester 1699 erstmals98 privatim eine homiletische Vorlesung und eine dazuge95 AFSt/H A 99 [3]: Collegium in elementa homiletica Dn. D. Pauli Antonii. ab ipso Auctore habitum & in calamu(m) ex discursu exceptum a Io. Henrico Grischouio ostendam Halberstadtensi. Halle 1705 (Manuskript; 31 Bl.). 96 Zu Francke als Prediger vgl. angesichts des Mangels von Arbeiten, die dem neueren Stand der Francke- und Predigtforschung entsprechen, einstweilen die aus etlichen Quellen gearbeiteten Ausführungen bei Clemens Gottlob Schmidt: Geschichte der Predigt in der evangelischen Kirche Deutschlands von Luther bis Spener in einer Reihe von Biographien und Characteristiken. Gotha 1872, 156–164; Gustav Kramer: August Hermann Francke. Ein Lebensbild.Tl. II. Halle 1882, 361–374; Schian, Orthodoxie und Pietismus [s. Anm. 49], 66–68. 97 Grundlegend zu Franckes Homiletik sind die zwar treffenden, aber doch recht knappen Ausführungen bei Peschke, Studien II [s. Anm. 27], 162f.; ferner Kang, Frömmigkeit und Gelehrsamkeit [s. Anm. 12], 394–396 (im Wesentlichen auf Peschke basierend); Straßberger, „Ich glaube, darum rede ich“ [s. Anm. 6]; zu Francke als Prediger im Kontext der pietistischen Predigt zuletzt Strom: Pietism and Revival [Anm. 76], 187–194. – Ich plane, demnächst eine Studie zur Homiletik Franckes auf der Grundlage seiner im Archiv der Franckeschen Stiftungen befindlichen Nachschrift eines von ihm gehaltenen Collegium homileticum vom Wintersemester 1700/01 (s. u. in Anm. 102) vorzulegen. 98 Eine wichtige, weil sehr frühe, von der Forschung aber vernachlässigte Quelle zu Franckes Homiletik ist ein erstmals von Nebe edierter Text, der vor Franckes Berufung zum Theologieprofessor (Herbst 1698) zu datieren ist: Rechtschaffen=neue Prediger Kunst M. A. H. Franckens. In: August Nebe: Neue Quellen zu August Hermann Francke. Gütersloh 1927, 14–25 (dazu ebd., XII-XVI die einleitenden Bemerkungen des Herausgebers). Dass Francke sich in diesem Text, der sich in einer Abschrift im Archiv der Franckeschen Stiftungen befindet (AFSt/H D 80, 520–535), als Magister tituliert, legt nahe, dass er vor 1698 geschrieben wurde. Dass der Text schon in Erfurt geschrieben sein soll (1690/91), geht aus der Argumentation Nebes (ebd. XIII) keineswegs zwingend hervor. Da im Manuskript am oberen Rand einer jeden Seite vom Ab-
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hörige Predigtübung in der Glauchaischen Kirche an.99 Im anschließenden Wintersemester las er über biblische Hermeneutik, die er mit der Homiletik verband.100 Über die einzelnen Inhalte dieser beiden homiletischen Vorlesungen wissen wir nichts weiter. Die Überlieferungssituation ändert sich ab Wintersemester 1700/1701 jedoch grundlegend: In diesem Semester fand eine erste Lektion über die im Spätsommer des Jahres gerade eben erst erschienenen Elementa homiletica Paul Antons statt.101 Von dieser Vorlesung existiert im Archiv der Franckeschen Stiftungen eine fast 1500seitige Nachschrift, angefertigt von dafür dienstverpflichteten Studenten.102 Da diese intentional wortwörtliche Mitschrift im Archivkatalog bis vor kurzem irrtümlich als eine Homiletikvorlesung Paul Antons deklariert war, ist die mit Abstand umfangreichste Quelle zur Predigtlehre Franckes – allzumal aus der Anfangszeit seiner Halleschen Theologieprofessur – der Forschung bislang entgangen. Eine Erschließung dieser Mitschrift, die aufgrund ihres Umfangs derzeit noch nicht zum Abschluss gekommen ist, wird mit detaillierten Einsichten zur homiletischen Konzeption Franckes um 1700 aufwarten können. Hier mag zu Illustrationszwecken lediglich auf eine einzige ausgewählte Passage hingewiesen sein, in der sich der Waisenhausgründer sehr viel kritischer als Breithaupt über die Rhetorik-Homiletik Schraders
schreiber des Texts das Wort „Halle“ notiert ist, könnte man auch an eine Abfassung in Halle in der Zeit vor 1698 denken. 99 A.H. Francke (Vorlesungsverzeichnis SS 1699, 29.04.): „Privatim, hora vespertina VI, suggeret monita & homiletica &, iis mensis circiter spatio absolutis, hermenvtica; interea selectis quibusdam studiosis locum etiam daturus in AEde Glauchensi sermones sacros recitandi, quibus suam libere censuram adjiciet.“ 100 A.H. Francke (Vorlesungsverzeichnis WS 1699, 01.10.): „Privatim quoque lectiones hermeneuticas, quas homileticis subjunxit, brevi absolvere studebit“. 101 A.H. Francke (Vorlesungsverzeichnis WS 1700, 10.10.): „Privatim finitis lectionibus hermenvticis, adhuc explicat elementa homiletica.“ – Diese Vorlesungsankündigung (wie auch die bereits zitierten) auch abgedruckt in: August Hermann Francke: Schriften zur biblischen Hermeneutik I. Hg. v. Erhard Peschke (†) zum Druck befördert von Udo Sträter u. Christian Soboth. Berlin; New York 2003, 30. 102 [August Hermann Francke:] Collegium homileticum Dr. P. Antonii, Tom. 1. 2. 3. (Manuskript; AFSt/H H 22a-c). – Bereits auf der ersten Textseite des Manuskripts findet sich eine anderslautende, den Inhalt präziser wiedergebende Überschrift: „In Elementa Homiletica Ven. Dn. D. Antonii:“ Damit ist klar, dass es sich um eine Vorlesung über Paul Antons Elementa homiletica handelt. Franckes Autorschaft ergibt sich aus der Kombination der zitierten Vorlesungsankündigung im WS 1700 („explicat elementa homiletica“; s. o. Anm. 101), der damit korrelierenden, im Manuskript notierten Laufzeit des Homiletikkollegs (September 1700 bis Februar 1701) und inhaltlichen Erwägungen. Für detailliertere Nachweise verweise ich auf die geplante Publikation zur Homiletik Franckes auf der Grundlage dieser Vorlesung. – Zur Praxis der im Manuskript begegnenden kollektiven Art des Mitschreibens von Franckes Vorlesungen und Predigten s. einstweilen Gustav Kramer: V ier Briefe August Hermann Francke’s zur zweiten Säcularfeier seines Geburtstags. Halle 1863, 28–76 (A.H. Francke an Samuel Stryck, 27.04.1700), hier 33f.; Peter Menck: Die Erziehung der Jugend zur Ehre Gottes und zum Nutzen des Nächsten. Die Pädagogik August Hermann Franckes. Halle 2001, 138–142.
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äußert,103 was eine inhaltliche Entsprechung in Ausführungen seines (Franckes), zu Lebzeiten allerdings nie veröffentlichten Lebenslaufes hat.104 Den Lektionskatalogen ist weiterhin zu entnehmen, dass Francke in den beiden drauffolgenden Semestern wiederum Homiletikvorlesungen anbot. 1702 findet sich dann die Ankündigung einer erneuten Lektion über Paul Antons Elementa homiletica, nun mit dem erläuternden Zusatz, dass dafür Beispiele aus der Apostelgeschichte herangezogen und das Ganze in einer homiletischen Übung auch praktisch angewandt würde.105 Im selben Jahr wie diese Vorlesungsankündigung erschien Herrnschmidts oben erwähnte Beschreibung der Theologischen Fakultät, in der Francke – nach allem, was wir eben sahen, mit Fug
103 [Francke,] Collegium homileticum,Tom. I [s. Anm. 102], 104f.: „[…] andere sind auf andere weege gerathen, und haben mancherley Methode erfunden, sind auf den Aristotelem kommen, und haben die Leuthen aus dem Aristotele predigen gelernet, also daß ja Aristoteles das dominium möge behalten, nicht allein in der Philosophie, sondern auch auf der Cantzel stehe und predige mit seiner Kunst, und sind auf diese weise manche bücher herausgegeben. Zum exempel es ist auf diese weise die Rhetorica Aristotelis selbst heraus gegeben cum commentario Schraderi und sind alle die praecepta Rhetorica Aristotelis mit den Exemplis der Patrum illustriert und gezeiget worden, wie man nach der Methode predigen solle, und ich bin selbst auf universitäten nach der Methode deß Aristotelis zu predigen angeführet worden, wieviel davon bey mir übrig blieben ist, weiß ich nicht, aber zum wenigsten habe ichs nicht gesuchet, und auch nicht gesehen, wie die sache ein fundament hätte, sondern es wird nur ein Heydnisches wesen, und mann hat dazu noch ein solch fundament darin gesetzet alß wären, ich weiß nicht was für künste darinnen zu finden […].“ 104 Herrn M. August Hermann Franckens […] Lebenslauff. In: Lebensläufe August Hermann Franckes. Hg. v. Markus Matthias. Leipzig 1999, 11,7–14 (im Kontext mit Ausführungen zu Franckes, teilweise zusammen mit Breithaupt absolvierten Kieler Theologiestudium): „Daneben wolte ich auch predigen lernen, und gerieth über den von einigen so genanten methodum Helmstadiensem, lase zu dem Ende fleissig Rhetoricam Aristotelis cum Commentario Schraderi, machte auch secundum methodum Schraderi locos communes Biblicos, und getrauete mich auch in öffentlicher Gemeine in der Stadt und auff dem Land zu predigen, welches aber wol nicht aus dem Grunde geschehen, wie Paulus erfordert 2. Cor: IV. Ich gläube, darum rede ich, wiewohl ich damahls meiner meynung nach gar recht dran thäte.“ 105 A.H. Francke (Vorlesungsverzeichnis 1702): „Privatim vero Elementorum Homileticorum, exemplis ex Actis Apostolorum depromptis, applicationem ad praxin homileticam docendo pariter & examinando hora vespertina VIta tractabit.“ – In einem 1713 gehaltenen und postum publizierten Collegium pastorale hatte Francke zum homiletischen Gehalt der Apostelgeschichte folgendes bemerkt (August Hermann Francke: Collegivm Pastorale über D. Ioh. Ludouici Hartmanni Pastorale Euangelicum. Erster Theil […] Mit einer Vorrede herausgegeben von Gotthilf August Francken. Halle 1741, 441f.): „Wenn einer ein recht Collegium Homileticum haben will, so lese er die Acta Apostolorum, und sehe, wie sie es gemacht, oder was sie für einen modum zu predigen gebraucht haben, und bitte GOtt, daß er ihm da die Augen öffne, damit er recht weisliche reflexiones darüber machen lerne. Wie ich mich denn erinnere, daß ich in Collegiis Homileticis einige Anweisung dazu gegeben und gezeiget habe, was die Apostel für eine Lehr=Art gebrauchet haben. Daraus können wir gewiß in der rechten realität mehr lernen, als sonst aus hundert Collegiis Homileticis. Man kan freylich daraus keine disposition machen lernen. Darauf ist es auch nicht angefangen. Aber was die realität betrifft, und wie man logon sofiaV, ein Wort der Weisheit reden solle, das kan man aus der Apostel Predigten am besten ersehen.“
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und Recht – als der homiletische Lehrer Halles vorgestellt wird. Herrnschmidt teilte dazu mit: ie Collegia hermeneutica, exegetica & homiletica pflegt Herr Professor Francke D zu halten. Und gleich wie von ihm bekandt genug ist / daß er zum Predigen seine besondere Gaben von GOtt empfangen / also wissen es auch alle / die ihn recht kennen / daß sein Studium Academicum mit Fleiß und Nachdruck vornehmlich auff die exegesin und hermeneuticam sacram gerichtet gewesen.Weßwegen er auch in diesen Studiis mit grossem Nutzen der Auditorum dociret. Anbey wird in der Kirche zu Glaucha ein Collegium homileticum practicum beständig fortgesetzt / in welchem solche Studiosi, die in Thesi schon wohl gegründet seyn / nacheinander am Mittwochen frühe öffentlich predigen; und nach dem Beschluß der Predigt wird eine Censur angestellet / worbey der gantze numerus der jenigen / die im circulo sind / zu gegen seyn muß. In der Censur selbst aber wird hauptsächlich darauff gesehen / daß die Dispositio und Elaboratio tota möge verständlich und der Gemeine erbaulich seyn; Solten auch sonsten in Elocutione und Actione Fehler vorkommen / so geschicht deretwegen gleichfalls freundliche Erinnerung. Aber die Rhetorische Prediger=Künste / wormit sich manche groß düncken / werden von dieser Ubung ausgeschlossen / weil man darfür hält / daß sie mehr zum Ruhm deß Predigers als zum Nutzen der Zuhörer gebrauchet werden.106
Abgesehen davon, dass diese Mitteilung nicht nur einen anschaulichen Einblick in die praktische Dimension der Halleschen Predigtausbildung, insbesondere die Übungspraxis (exercitatio), gibt, klingt hier auch einmal mehr die Francke kennzeichnende entschiedene Ablehnung jeglicher „rhetorischen Predigerkunst“ an.107 Außerdem fällt die beinahe selbstverständliche Anwendung
106 [Herrnschmidt,] Warhafftiger Bericht (wie Anm. 30), 11 f. – Zum Reglement der Predigtübungen führt Heinrich Ernst Ferdinand Guerike (August Hermann Francke. Eine Denkschrift zur Säcularfeier seines Todes. Halle 1827, 222 f. Anm. *) ergänzend aus: „Zu den praktischen Uebungen wurden aber nur solche zugelassen, die in der Theologie schon einen guten Grund gelegt hatten; die Uebrigen hörten, bis sie selbst auch reifer geworden waren, bloß den Vorträgen jener und den Censuren des Lehrers darüber zu.“ Vgl. dazu auch G[eorg] C[hristian] Knapp: Spener’s und Frankens Klagen über die Mängel der Religionslehrer und Lehrinstitute in der lutherischen Kirche, ihre Verbesserungsvorschläge, und Anstalten zur Ausführung derselben in Halle (Beschluss). In: Frankens Stiftungen. Eine Zeitschrift zum Besten vaterloser Kinder. Bd. 2. Halle 1794, 161–220, hier 200–205. 107 Im Zusammenhang mit Franckes erstem Streit mit der Halleschen Stadtgeistlichkeit und der in diesem Zusammenhang am 18.11.1692 eingesetzten und von Veit Ludwig von Seckendorff geleiteten Untersuchungskommission räumte Francke ein, die homiletische Praxis der orthodoxen Pfarrer Halles verächtlich eine „Quackelhomiletik“ genannt zu haben, bei welcher Gelegenheit er auch aus seiner Ablehnung der orthodoxen Homiletik insgesamt keinen Hehl machte (Johann Heinrich Callenberg: Neueste KirchenHistorie von 1689. an. vol. IV. 1692, Bl. 93v94r [Manuskript; AFSt/H F 30 d]): „(2.) Die Homiletic habe ich genennet eine QuackelHomiletic, so viel ich meiner Worte erinnert werde. Ich halte nichts von der Homiletic, verstehe wie sie heüte zu Tage von den Studiosis nur als eine Menschen=Kunst pfleget angesehen zu werden.“ Vgl. Friedrich August Gotttreu Tholuck: Geschichte des Rationalismus. 1. Abth.: Geschichte des
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rhetorischer Kategorien im Zusammenhang der praktischen Predigtausbildung auf. Mit Herrnschmidts ebenso beiläufigen wie selbstverständlichen Hinweisen auf die rhetorischen bzw. homiletischen Produktionsstufen (Erwähnung finden dispositio, elaboratio, elocutio und actio) wird sichtbar, dass das Verhältnis des hallischen Pietismus zur Rhetorik108 durch eine Doppelbewegung von Kritik und Erneuerung gekennzeichnet ist, und zwar, wie der Vergleich mit Breithaupt zeigt, in individuell durchaus unterschiedlicher Ausformung. Zentral für Francke ist zu dieser Zeit (und bleibt es auch zeitlebens), dem Wirken des Geistes als dem eigentlichen „Meister der Homiletik“ im Rahmen der von ihm verantworteten homiletischen Ausbildung weniger durch Vermittlung einer Theorie (praecepta), als vielmehr durch sein Predigtvorbild (imitatio)Wirkung zu verschaffen.109 In seiner Rechtschaffen=neue[n] Prediger=Kunst fasst er sein homiletisches Credo dementsprechend wie folgt zusammen: In Summa predigen ist keine Kunst, sondern ein Werk des H. Geistes, und solts ja eine seyn, so muß doch der H. Geist der Meister seyn, der einem die Kunst lehret, und man muß allezeit sein Jünger bleiben, und nie selbst der Predigt Meister werden, sonst wird man es verderben, und wenn man es aufs beste macht. So schreibet Paulus: dieweil wir denn aber denselben Geist des Glaubens haben, wie geschrieben stehet; ich gläube darum rede ich, so gläuben wir auch darum reden wir auch (2. Cor. IV).110
Diese Worte zielten studienkonzeptionell auf die Etablierung und Vermittlung einer Geistrhetorik, die in Gottfried Arnold ihren wirkmächtigsten, von der Forschung in seiner Bedeutung zwar grundsätzlich erkannten, aber immer noch zu wenig gewürdigten Theoretiker gefunden hat.111 Außerdem lassen Franckes Worte in der Einseitigkeit ihrer Betonung des Wirkens des Heiligen Geistes gegenüber menschlichen Kunstregeln (ars)112 eine auffällige Überein-
Pietismus und des ersten Stadiums der Aufklärung. Berlin 1865 (ND Aalen 1970), 57. – Seinen schärfsten Angriff gegen die orthodoxe Predigtpraxis (Predigtkunst) unternahm Francke, wie bereits oben erwähnt [s. Anm. 80], in seiner 1698 gehaltenen Streitpredigt Von den falschen Propheten. 108 Vgl. dazu den Überblick von Reinhard Breymayer: Pietismus. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik 6, 2003, 1191–1214. 109 Mehr dazu s. u. 8. 110 Francke, Rechtschaffen=neue Prediger=Kunst [s. Anm. 98], 15. 111 Bahnbrechend in dieser Hinsicht die Studie von Hanspeter Marti: Die Rhetorik des Heiligen Geistes [s. Anm. 94]. 112 In rhetorikgeschichtlicher Perspektive vertritt Dietmar Till: Affekt contra ars: Wege der Rhetorikgeschichte um 1700. In: Rhetorica: A Journal of the History of Rhetoric. Bd. 24 (2006), 337–369 die These, „daß es um 1700 in der Rhetorikgeschichte einen Bruch gab, bei dem die traditionelle Konzeption der Rhetorik als einer ars durch die einer Affekt-Rhetorik abgelöst wird“ (ebd., 337 [Abstract]). Damit korreliert die homiletische Entwicklung, wie ich in meinem Beitrag zur Konzeption einer „Homiletik des Affekts“ am Beispiel A. H. Francke gezeigt habe; Straßberger: „Ich glaube, darum rede ich“ [s. Anm. 6].
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stimmung mit Anton erkennen, was ein Hinweis auf deren gemeinsamen Erfahrungshorizont ist.113 Der Rekurs auf die Bibelstelle 2Kor 4,13 kann daher als Hinweis auf ein homiletisches Gruppenbewusstsein, das die Anhänger Franckes miteinander verband, verstanden werden, das – ähnlich wie es bei der Stelle 1Kor 2,4 der Fall ist – auf bestimmte Bibelstellen für gewisse Sachfragen identitätsstiftend rekurriert. Erstmals übernimmt jene Bibelstelle die Begründungsfunktion für ein enthusiastisch eingefärbtes Predigtverständnis in Franckes Bekehrungsbericht,114 und an prominenter Stelle begegnet ein Verweis auf dieselbe Stelle auch beim frühesten Homiletik relevanten Text Joachim Langes.
7. Joachim Lange (1670–1744) Bedingt durch Breithaupts faktisches Ausscheiden aus dem Lehrbetrieb 1709, stieß Lange,115 anfangs in Wahrnehmung einer V ertretungsprofessur, zur Theologischen Fakultät hinzu, wo er in der Nachfolge Franckes im zweiten und dritten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts zum maßgeblichen homiletischen Lehrer der halleschen Theologiestudenten avancierte. Vor allem durch sein Eingreifen in den Streit um die „philosophische“ Predigt in den 1730er Jahren hat er Aufmerksamkeit in der predigtgeschichtlichen Forschung gefunden.116 Von Anfang an bot er regelmäßig homiletische Vorlesungen an und beteiligte sich mit zahlreichen Druckbeiträgen117 am homiletischen Diskurs, zunächst insbesondere in Auseinandersetzung mit der lutherischen Orthodoxie. Las er zunächst noch über Antons Elementa homiletica,118 so bediente er sich doch spätestens ab 1711
Vgl. hierfür nochmals das Zitat bei Anm. 86. Straßberger: „Ich glaube, darum rede ich“ [s. Anm. 6], 258. 260. 115 Über seine Person informiert in Kürze RGG4 5, 2002, 70 (Udo Sträter); vgl. auch Rolf Dannenbaum: Joachim Lange als Wortführer des Halleschen Pietismus gegen die Orthodoxie. Diss. masch. Göttingen 1952; Joachim Lange (1670–1744), der „Hällische Feind“ oder: Ein anderes Gesicht der Aufklärung. Ausgewählte Texte und Dokumente zum Streit über Freiheit – Pietismus. Bearb. u. hg. v. Martin Kühnel. Halle 1996; Udo Sträter: Wolffs Gegner Joachim Lange im Kontext der Theologischen Fakultät. In: Christian Wolff und die europäische Aufklärung. Akten des 1. Internationalen Christian-Wolff-Kongresses, Halle (Saale), 4.–8. April 2004. Tl. 3. Hg. v. Jürgen Stolzenberg u. Oliver-Pierre Rudolph. Hildesheim 2007, 77–95. 116 Straßberger, Johann Christoph Gottsched und die „philosophische“ Predigt [s. Anm. 15], 430–439. 117 Vgl. Schian, Orthodoxie und Pietismus [s. Anm. 49], 53–55, 80f., 88–90, 153f.; hinzuzuziehen sind außerdem drei umfangreiche homiletiktheoretische Vorreden Langes aus den Jahren 1712 bis 1716, die unter der Überschrift Von der Methode erbaulicher zu predigen wichtiges ergänzendes Material bereitstellen (Bibliographie in: Joachim Dyck u. Jutta Sandstede: Quellenbibliographie zur Rhetorik, Homiletik und Epistolographie des 18. Jahrhunderts im deutschsprachigen Raum. Bd. 1. Stuttgart, Bad Cannstatt 1996, Nr. 1712/40,1–3). 118 Im ausführlichen Vorlesungsverzeichnis der Theologischen Fakultät zum Wintersemester 1709 kündigt Lange (noch in nomineller Verbindung mit Breithaupt) folgende homiletische Lehrveranstaltungen an (Collegii Theologici in Universitate Fridericiana Regia Prodromus Lec113 114
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dafür seines eigenen, noch 1707 in Berlin geschriebenen und veröffentlichten Predigtlehrbuchs. Dem Werk liegt ein im Jahr 1700 entworfener Grundriss der Homiletik zugrunde,119 dessen Entstehung wohl im Zusammenhang mit der ihm von Spener in Berlin übertragenen Tätigkeit bei der homiletischen Kandidatenfortbildung zu sehen ist.120 Auch wenn dieser homiletische Entwurf – ganz ähnlich wie Antons Elementa homiletica – auf den ersten Blick scheinbar doch nur die alte, von den ärgsten Vanitäten gereinigte orthodoxe Homiletik präsentiert, einschließlich der für die pietistische Predigtreform erwartbaren Akzentuierungen, z. B. der ausführlichen Betonung der Applikation,121 wird die darin greifbare Neuausrichtung der Homiletik verkannt (was in der älteren Forschung der Fall ist),122 insofern nämlich das Eingangs- und Schlusskapitel als Rahmung des Material- und Formalteils in ihrer homiletisch-prinzipiellen Bedeutung nicht adäquat gewürdigt werden. Indem Lange dem ersten Kapitel „Theses Praeliminares de Persona Dicentis“ voranstellt123 bzw. im Schlusskapitel „De Abusu Studii Homiletici“124 handelt, spiegeln sich vor allem hier nicht nur die zentralen homiletischen Reformanliegen Franckes (mit dem Lange seit den Leipziger Unruhen verbunden war), sondern er verankert – homiletisch-systematisch gesehen – die Predigttheorie basal in der Person des bekehrten Predigers. Damit verschafft sich in predigtgeschichtlicher Perspektive aber das konkret Ausdruck, was in kulturwissenschaftlicher Perspektive allgemein als „anthropologische Wende der Neuzeit“ beschrieben wird.125
tionum Hybernarum, significans unà illarum methodum atque usum A. C.MDCC.IX.; Bl. B3rv): „Praesente conjunctissimo Seniore nostro, aliâ horâ publice tractabit Oratoriam Sacram, dudum a se conscriptam; in docendo adhibiturus simul tum Praecepta Homiletica Antoniana, tum Institutionum Augustiniarum elementa, utraque pridem hic edita. Spectabit verò in omnibus potissimum, quae ad usum in Ecclesiasticâ quàm maximè sunt necessaria; atque idcircò ad praxin Homileticam ipso exercitio transferet, tum textus Biblicos resolvendos, & themata ex iis formanda, disponenda & elaboranda, tum ad integras Conciones ab Auditoribus habendas.“ 119 [Joachim Lange:] De Studii Homiletici Usu Et Abusu,Schediasma.2.Cor.IV.13.EPISTEUSA, DIO ELALHSA. Berolini MDCC (48 S.). Zur V erfasserschaft bekennt sich Lange in derVorrede zu seiner Oratoria Sacra (1707). 120 Sträter, Wolffs Gegner Lange [s. Anm. 115], 83: „[…] führte [Lange; d.Vf.] auf Anweisung Speners Nachholkurse für durchgefallene Examenskandidaten durch“. 121 [Lange,] De Studii Homiletici (wie Anm. 119), Cap. I. De Textus Cognitione (9–14); Cap. II. de Cogniti Textus Dispositione (14–16); Cap. III. De Textus Explicatione (17–22); Cap. IV. De Expositi Textus Applicatione (22–33); Cap.V. De Exordio (33–37). 122 Dies gilt u. a. für die mit Abstand quellenreichste und in ihrer Wirkung weitreichendste Darstellung durch Schian, Orthodoxie und Pietismus [s. Anm. 49]. Obwohl Schian dem „Streit um die Predigt des Impius“, also der Frage nach der homiletischen Relevanz einer persönlichen Bekehrung für die Predigt, ein ganzes Kapitel widmet (ebd., 86–97), erkennt er nicht den damit verbundenen homiletisch-systematischen Paradigmenwechsel, der diesem Streit zugrunde liegt (vgl. seine Ergebnisbewertung ebd., 119–123). 123 [Lange,] De Studii Homiletici [s. Anm. 119], 3–9. 124 [Lange,] De Studii Homiletici [s. Anm. 119], 37–46 (Cap.VI.). 125 Mit dem II. Internationalen Kongress für Pietismusforschung wurde diese Perspektive erstmals in den Mittelpunkt der Pietismusforschung gerückt: Alter Adam und Neue Kreatur.
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In seinem ausführlichen Berliner Predigtlehrbuch Oratoria Sacra, ab artis homileticae vanitate repurgata,126 das 1713 in Halle eine zweite Auflage erlebte, wird Franckes Haupterkenntnis der homiletischen Unabdingbarkeit eines bekehrten Predigers127 in einem ersten Abhandlungsteil breit entfaltet.128 Zugleich ist ein mutmaßlich unter dem Einfluss Speners gestaltetes Interesse, die Orthodoxie homiletisch zu beerben, spürbar. Lange sucht einen Mittelweg129 zwischen Franckes und Speners Impulsen zur pietistischen Reform der Predigt. Dabei ist er von dem Bemühen geleitet, enthusiastische Auswüchse ebenso zu vermeiden wie orthodoxe Künsteleien. Insofern spiegelt der Titel des Lehrbuchs sein homiletisches Programm adäquat wider: Es geht ihm um eine „Heilige Redekunst, die von den Eitelkeiten der homiletischen Kunst gereinigt ist“. Noch in
Pietismus und Anthropologie. Beiträge zum II. Internationalen Kongress für Pietismusforschung 2005. 2 Bde. Hg. v. Udo Sträter [u. a.]. Tübingen 2009. 126 Joachim Lange: Oratoria Sacra, ab artis homileticae vanitate repurgata, qua, praemissa dicentis Habilitate ac Fidelitate, praeter Methodum publice cum fructu docendi, etiam de usu verbi privato, nec non de praejudiciis concionatorum, ex vero agitur. Accedit Speciemen Commentarii Porismatici. Frankfurt, Leipzig 1707 (335 S.; Halle: Waisenhaus, 21713; die zweite Auflage ist, abgesehen von einer neuen Widmung, mit der Erstauflage identisch). 127 Vgl. Peschke, Franckes Reform des theologischen Studiums [s. Anm. 12], 93–97, der ebd., 93 pointiert formuliert: „Francke sieht somit in der Bekehrung das Fundament des Studiums.“ Vgl. für diesen Aspekt in dezidiert homiletischer Perspektive bei Straßberger, „Ich glaube, darum rede ich“ [s. Anm. 6], 267–270. – Zur von Luther abweichenden Forderung der Bekehrung als unerlässlicher Voraussetzung eines rechten Bibelverständnisses bei Francke s. Ulrich Barth: Luther und Francke. Einige Aspekte des Verhältnisses ihrer beider hermeneutischen Konzeptionen. In: Reformation und Generalreformation – Luther und der Pietismus. Hg. v. Christian Soboth u. Thomas Müller-Bahlke. Halle 2012, 41–49, hier 43: „Nur derjenige, der die Wiedergeburt erfahren hat, ist in der Lage, die in der Heiligen Schrift beschriebenen geistlichen Affekte zu verstehen. Für den Nichtwiedergeborenen haben alle diese Schilderungen nur theoretische Bedeutung. […] Das bedeutet, dass die Hermeneutica sacra ihrer letzten Funktionsbestimmung nach unter der Prämisse der Wiedergeburt steht. Für diese Zuspitzung findet sich bei Luther – soweit mir bekannt – keine Entsprechung.“ Zur weiteren Einordnung der pietistischen Bekehrungsforderung vgl. auch Markus Matthias: Bekehrung und Wiedergeburt. In: Geschichte des Pietismus. Bd. 4: Glaubenswelt und Lebenswelten. Hg. v. Hartmut Lehmann. Göttingen 2004, 49–79. 128 Lange, Oratoria Sacra [s. Anm. 126], 1–68 (Pars Prima: De Dicentis Habilitate ac Fidelitate). – Die Notwendigkeit einer persönlichen Bekehrung als homiletische conditio sine qua non bringt Lange auch in einer der drei oben erwähnten Vorreden [s. Anm. 117] im Zusammenhang mit Ausführungen zum Ineinandergreifen von Affekthermeneutik und Affekthomiletik (Geistrhetorik) wie folgt auf den Punkt: „Dieses aber kan ich allhier unberühret nicht lassen / daß der affectus sacer von einem unbekehrten Lehrer unmüglich recht lebendig erkant und außgedrücket werden könne. Denn der affect, oder die Gemüths=Bewegung / ist geistlich / ein solcher aber fleischlich gesinnet / der von geistlichen Dingen keine geistliche aisqhsin / keine Erfahrung und keinen Geschmack / oder Gefühle hat“ (Joachim Lange:Vorrede Von der Methode erbaulicher zu predigen. In: Philip Christoph Zeyß: Exegetische Einleitung In die vier Evangelisten und Apostel=Geschichte: Darinnen der Text ordentlich zerleget / das wichtigste erkläret / und alles zur Erbauung angewendet wird. […] Halle im Magdeburgischen 1715, 5–36 [1. Zählung], hier 13). 129 Lange, Oratoria Sacra [s. Anm. 126], Bl. †5r (Praefatio): „Viam mediam tenet haec Oratoria mea, ad libellum homileticorum numerum non augendum, sed minuendum, scripta.“
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der Mitte des 18. Jahrhunderts, also lange nach Franckes, Antons, Breithaupts und Langes Tod, wird in Verlängerung von dessen Oratoria sacra greifbaren Richtungsentscheidung die Forderung nach einem bekehrten Prediger zu einem Hauptmerkmal einer hallisch-pietistisch Homiletik gehören.130
8. In der „Schule des Heiligen Geistes“ Ohne auf die zwar nur kurze, für die Geschichte der hallisch-pietistischen Homiletik aber äußerst innovative Zeit der Wirksamkeit Johann Daniel Herrnschmidts als Theologieprofessor und Lehrer der praecepta homiletica (1716–1723) einzugehen,131 soll abschließend die bereits mehrfach132 geäußerte Aussage noch einmal aufgegriffen und konkretisiert werden, dass die homiletische Ausbildung in Halle eingebettet war in ein umfassendes Programm der geistlichen Selbstprüfung und christlichen Lebensführung.133 Man könnte zugespitzt sogar sagen, dass das Hallesche Theologiestudium zur Zeit August Hermann Franckes als eine Art „Schule des Heiligen Geistes“134 oder, wie Spener es in seinen Pia 130 Vgl. die fast schon anekdotische Schilderung bei Jacob Ludwig Schellenberg 1728–1808. Autobiographie eines nassauischen Pfarrers. Mit einer Einleitung von Hella Hennessee und einem Geleitwort von Kirchenpräsident a.D. D. Helmut Hild. 1868 als Privatdruck verlegt und neu herausgegeben von Gisela und Guntram Müller-Schellenberg. Taunusstein 1989, 66, der zufolge der Autor von seinem um die Jahrhundertmitte in Halle absolvierten Theologiestudium berichtet: „Noch hätte ich gern vor meinem Abzug von der Academie [zu Halle; d.Vf.] ein Collegium homileticum gehört, konnte aber weder die Zeit, noch den Docenten dazu finden, bis Herr Struensee, damaliger erster Pfarrer an der Ulrichskirche, der Vater des enthaupteten Grafen in Dänemark, den ich als Knabe von 14 Jahren, in meinen Classen auf dem Waisenhause hatte, einen Professor Stoll bei der Universität erhielt, und mitten im halben Jahr noch ein Homiletikum ankündigte. Ich wollte die letzten Monate noch deren profitiren; er brachte aber in dieser Zeit die Prolegomena nicht zu Ende, sondern las 7 Wochen lang täglich eine Stunde über die Frage: in wie fern ein Prediger vereregenitus [sic!] seyn müsse, oder nicht? wobei er freilich den ganzen Streit zwischen den Wittenbergern und Hallensern durchging und doch dabei nicht zu Ende kam.“ 131 Vgl. Straßberger, Aufklärung im Pietismus [s. Anm. 35]. 132 S. Abschn. 2 bei Anm. 25; Abschn. 3 bei Anm. 33. 133 [Herrnschmidt,] Warhafftiger Bericht [s. Anm. 30], 17f.: „Haben die Herren Theologi Hallenses diese Art / daß wan sie auch in dogmaticis versiren / sie doch immerzu porismata practica mit einbringen / um die Auditores zur rechtschaffenen Bußfertigkeit und wahren pietät / krafft solcher Lehren / ohne Unterlaß aufzufrischen. Worbey sie beweglich vorstellen / was für eine schwere Verantwortung ein Studiosus Theologiae auff sich lade / wann er solch Studium ohne Buß und Gottesfurcht angreiffe / oder auch dermaleins so unbereit und untüchtig in ein Amt sich eindringe / wie es die meiste zu thun pflegen.“ 134 Peschke, A. H. Franckes Reform des theologischen Studiums [s. Anm. 12], 92f. notiert ebenso erhellend wie treffend: „[Der] Unterscheidung zwischen Wissen und Erfahrung entspricht die Gegenüberstellung der ‚collegia‘ und der ‚Schule des Heiligen Geistes‘. Auch hier fallen die Akzente in gleicher Weise. Entscheidend ist das Wirken des Heiligen Geistes. Die Studien sind notwendig, aber zweitrangig. Sie sind Mittel zum Zweck, Dienst an der inneren praktischen Erfahrung. ‚Das blosse Wissen muß das Hertz nicht einnehmen; sondern der Geist
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Desideria wegweisend formuliert hatte, als eine „Werckstätte deß Heiligen Geistes“135 konzipiert war. In der Mitte standen Gebet und die intensive, auf Wiedergeburt und geistliches Wachstum ausgerichtete Beschäftigung mit der Bibel als dem offenbarten Wort Gottes. Die lutherische Trias von oratio, meditatio und tentatio erlangte unter diesemVorzeichen nicht nur in Franckes Homiletik,136 sondern in der hallisch-pietistischen Theologie- und Predigttradition insgesamt zentrale Bedeutung.137 Auf dieser Linie lagen und in dieselbe Richtung wirkten
GOttes muß das Regiement im Hertzen führen, und ratio studiorum muß darnach eingerichtet werden, daß sie dem Reich GOttes serviren, und dienen, nicht aber sie dominiren‘. Wer Theologie studiert, muß darum bemüht sein, ‚daß er nicht allein in die Collegia, sondern auch in die Schule des Heiligen Geistes gehe‘.“ „Er mag sonst tausend Collegia drüber hören, wenn ihm das nicht von GOtt in sein Hertz geschrieben wird, so wird er davon judiciren, ‚wie der Blinde von der Farbe‘.“ – Bei der Formulierung „Schule des Heiligen Geistes“ handelt es sich um eine Formulierung Franckes, die von Peschke in einer Anmerkung summarisch, zusammen mit etlichen anderen Stellenangaben nachgewiesen wird. Es hat den Anschein, als sei das Wort einer paränetischen Lektion entnommen. 135 Spener, Pia desideria [s. Anm. 77], 224,6. – Spener hatte bereits in seiner Allgemeinen Gottesgelahrtheit (1680) in seiner Auseinandersetzung mit Johann Conrad Dilfeld (ca. 1630–1684) die Theologie primär als vom Heiligen Geist getriebene Beschäftigung mit dem Bibelwort entfaltet (Philipp Jakob Spener: Studienausgabe. Hg. v. Kurt Aland u. Beate Köster. Bd. I: Die Grundschriften, Teil 2. Gießen 2000, [21]-351). Auf prinzipiell derselben Linie lag, was die Betonung des Heiligen Geistes betraf, auch eine 1687 in Leipzig gehaltene Predigt, in der Spener „[s]eine Ausführungen zum Amt und zur Wirkung des Heiligen Geistes […] abschließend auf die Studenten, insbesondere die Theologiestudenten, zu[spitzt]. […] Der Heilige Geist als Lehrer erschließe das Wort Gottes über die rein ‚historische‘ Kenntnis hinaus, so dass es von einem ‚historischen‘ Glauben zu einem Glauben, der das Leben berührt, komme“ (vom Orde: Nachwort. In: Pietas et eruditio [s. Anm. 19], 245). Zum historischen und geistesgeschichtlichen Hintergrund des Streites mit Dilfeld s. Johannes Wallmann: Spener und Dilfeld. Der Hintergrund des ersten pietistischen Streites. In: Ders.: Theologie und Frömmigkeit [s. Anm. 77], 197–219. 136 Die Trias wird im Gefolge Luthers von Francke der Reform des Theologiestudiums zugrunde gelegt, und sie spielt in predigtbezogener Applikation eine zentrale Rolle in der oben erwähnten Homiletikvorlesung im Wintersemester 1700/01. Näheres soll in der geplanten Studie zu Franckes Homiletik [s. o. Anm. 97] ausgeführt werden.Vgl. einstweilen Peschke, Studien II [Anm. 27], 114–116. 135; Kang, Frömmigkeit und Gelehrsamkeit [s. Anm. 12], 362–366; Oswald Bayer: Lutherischer Pietismus. Oratio, Meditatio, Tentatio bei August Hermann Francke. In: Religiöse Erfahrung und wissenschaftliche Theologie. FS Ulrich Köpf. Hg. v. Albrecht Beutel u. Reinhold Rieger.Tübingen 2011, 1–12; Tanja Täubner: Oratio – Meditatio – Tentatio.Theologie als Übungspraxis bei Martin Luther und August Hermann Francke. In: Erfahrung – Gauben, Erkennen und Handeln im Pietismus [s. Anm. 6], 19–32. 137 Zur Präsenz und Funktion der Trias bei Breithaupt s. Ernst Koch: Orthodoxes und pietistisches Theologieverständnis – im Blick auf Joachim Justus Breithaupt. In: Joachim Justus Breithaupt [s. Anm. 41], 141–154, hier 144–146; der Homiletik Rambachs (die, obschon postum in Gießen publiziert, im Kern aber auf Vorlesungen zurückgeht, die erstmals 1728 in Halle gehalten wurden) ist ein Frontispiz vorangestellt, welches die erwähnte Trias zentral zur Darstellung bringt (Johann Jakob Rambach: Erläuterung über die Praecepta Homiletica, von dem seligen Auctore zu unterschiedenen mahlen in Collegiis vorgetragen, nun aber aus dessen Manuscriptis heraus gegeben von Johanne Philippo Fresenio. Gießen 1736).
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daher auch die von Francke gehalten Lectiones Paraeneticae138 und ein jedes Semester angebotenes Collegium asceticum sowie die an die Studenten gerichtete Erwartung, an den täglich stattfindenden Früh- und Abendkatechisationen in der Glauchaer Kirche teilzunehmen.139 Außerdem waren die studiosi theologiae aufgefordert, sich auf den Stuben in collegia pietatis domestica bzw. sogenannten Exercitationes biblicae140 nicht nur zum Zwecke der Privaterbauung,141 sondern auch der homiletischen Schulung142 zu versammeln. In allen diesen Einrichtungen wurde ihnen vorgeführt bzw. von ihnen eingeübt, wie ein biblisches Wort
138 Friedrich de Boor: Die paränetischen und methodologischen Vorlesungen August Hermann Franckes (1693–1727). Theol. Habil. masch. Halle/S. 1968; ders.: A. H. Franckes paränetische Vorlesungen [s. Anm. 12], 300–320. 139 [Herrnschmidt,] Warhafftiger Bericht [s. Anm. 30], 16. 140 Vgl. dazu August Hermann Francke: Methodus Exercitationum Biblicarum, Quae Consilio Et Auctoritate Ordinis Theologici In aAcademia Hallensi, Inter Theologiae Studiosos, ut ea quae discunt, ad praxin viuam et futurum etiam vsum ministerialem perpetuo referant, & adhuc Institutae, & imposterum instituendae sunt: Praemissae ad Studiosos Paraenesi. Editio Secunda. Halae 1707 (zuerst: Halle 1706; A. H. Francke 1663–1727: Bibliographie seiner Schriften. Bearb. v. Paul Raabe u. Almut Pfeiffer. Tübingen 2001, B 15.1 [-4]). – In diesen Übungen (vgl. dazu ausführlicher Knapp, Spener’s und Frankens Klagen [s. Anm. 106], 205–209) übersetzten die Studenten, auf ihren Stuben zu kleinen Gruppen vereinigt, eine biblische Stelle aus der Ursprache ins Lateinische oder Deutsche, erklärten den Sinn und schlossen eine erbauliche Betrachtung daran an. Den übrigen Anwesenden stand ein tieferes Eingehen oder eine Replik auf das Gesagte frei. Nach Knapp (ebd., 205 f.) ging die Einrichtung der Exercitationes biblicae auf Anregungen Speners zurück. 141 [Herrnschmidt,] Warhafftiger Bericht [s. Anm. 30], 16f.: „Nächst diesem allem haben Gottesfürchtige Theologiae Studiosi noch eine Art der Erbauung / nach welcher sich einige zusammen thun / theils miteinander auff ihren Stuben zu beten / theils auch das Wort Gottes mit zusammen gesetzter Meditation zu betrachten.“ 142 In dieser Hinsicht aufschlussreich das autobiographische Zeugnis eines Pfarrers hinsichtlich seiner Erfahrungen mit den Collegiis biblicis im Halleschen Theologiestudium in den Jahren 1733 bis 1736, also einer Zeit kurz nach Franckes Tod, abgedruckt in: Das Leben eines evangelischen Predigers, des Christian Gottfried Aßmann, Pastors zu Hagen in Vorpommern, herausgegeben von E.M. Arndt. Berlin 1831, 77–79: „Es war in Halle eine sehr gesegnete und nützliche Anstalt des Waisenhauses, daß den studiosis theologiae, die sich ihr Christenthum wollten einen Ernst seyn lassen, und zum Dienst Gottes recht bereiten, Gelegenheit gegeben wurde, mit einigen Geübteren ein Colloquium über ein Dictum biblicum zur Erbauung öffentlich mit einander zu halten. Auf diese Weise konnten sie nicht allein in dem wahren Christenthum sich zusammen in guter Ordnung erwecken und erbauen, sondern lernten auch einen erbaulichen Vortrag aus dem Wort Gottes ex tempore thun, und bekamen durch diese Übung nach und nach eine solche nöthige Geschicklichkeit, welche ihnen zu seiner Zeit im Predigtamt einen ganz unentbehrlichen Nutzen brachte, nämlich aus der Fülle des Hertzens von den göttlichen Wahrheiten, sonderlich von der Heilsordnung, nach der apostolischen Lehre und Lehrart einen einfältigen und ungekünstelten Vortrag [Anspielung auf 1Kor 2,1–5; d.Vf.] zu thun, wodurch gewiß am allermeisten erbauet wird, nicht zu gedenken, daß einem Prediger oft solche Gelegenheiten vorfallen, wo man nicht lange Zeit hat, seine Meditation zuvor schriftlich zu verfassen, sondern gezwungen ist, sie alsbald mündlich vorzutragen, als in den heiligen Festtagen zu geschehen pflegt, wenn man zwei oder mehr Tage über verschiedene Texte predigen muß und es ganz unmöglich wird, solche Predigten alle, zumal bei andern nöthigen Nebengeschäften, von Wort zu Wort aufzuschreiben und aus dem Gedächtniß fertig herzusagen. Hat nun Studiosus nicht Gelegenheit gehabt, sich
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ad praxin, zur geistlichen Erbauung seiner Selbst und des Nächsten, anzuwenden sei. Als besonders fruchtbare homiletische Vor- und Fingerübung wurde dabei die Informatorentätigkeit am Waisenhaus propagiert, zu der alle diejenigen Studenten dienstverpflichtet waren, die das Privileg eines Freitisches genossen. Herrnschmidt notierte zu dieser Halle-spezifischen Übungseinrichtung (exercitatio): […] so werden sie [sc. die studentischen Informatoren] bey dieser Gelegenheit alsofort in eine wohleingerichtete Praxin eingeleibet / da an ihnen wahr wird / was man im Sprüchwort saget: Quod discamus docendo. Durch die Ubung der Catechisationen und deß Gebets / (mit welchem die Stunden anfangen und beschlossen werden) erlangen sie einen so auffgeraumten Verstand und deutlichen Vortrag / daß es ihnen im Predigen hernach desto leichter wird/ und erlangen sie gemeiniglich einen guten Fluß in der Rede.143
Schließlich findet sich bei Herrnschmidt auch ein interessanter Beleg für die Verankerung der imitatio-Praxis im Rahmen der homiletischen Ausbildung. Er schreibt: S o ists auch für die Studiosos insgemein gar erbaulich / daß sie die Herren Professores Theologiae alle Sonn= und Festtage in der so genanten Schul=Kirchen können predigen hören: Als woselbst Herr D. Breithaupt die Früh=Predigt ordinariè, die Nachmittags=Predigt aber Herr D. Antonius144 und Herr Professor Francke145 alternatim verrichten. Solcher gestalten haben die Studiosi Theologiae nicht nur Erbauung für ihre Seelen / sondern auch eine beständige Gelegenheit / von ihren Herren Praeceptoribus modum & methodum concionandi practicé zu erlernen.146
Trotz dieser nachdrücklichen Empfehlung der professoralen Sonn- und Festtagspredigten zum Zweck geistlicher Erbauung und homiletischer Schulung,147 darinnen in seiner Jugend beizeiten zu üben, wird es ihm hernach sehr schwer werden sich zu helfen.“ 143 [Herrnschmidt,] Warhafftiger Bericht [s. Anm. 30], 8. 144 Zur Selbstcharakteristik von Breithaupts Predigtweise vgl. nochmals das oben in Anm. 59 gegebene Zitat; zu Antons Predigtweise vgl. Hering, Der akademische Gottesdient [s. Anm. 46], 47f. 145 Peschke, Studien II [s. Anm. 27], 162f. notiert dahingehend: „Vor allem aber empfiehlt Francke, die Predigten der Professoren zu besuchen, die ‚vornehmlich zu reichlicher Erbauung‘ dienten und besonders auf den Zustand der Studenten ausgerichtet seien. Hier hätten sie ständig Gelegenheit, ‚modum & methodum concionandi practice zu erlernen‘, wodurch ‚weit mehr ausgerichtet wird, als durch alle Praecepta Homiletica‘.“ 146 [Herrnschmidt,] Warhafftiger Bericht [s. Anm. 30], 16. 147 Zur Art und Weise der geistlichen Aneignung einer professoralen Predigt zum Zwecke des für das Theologiestudium unabdingbaren Erwerbs des Heiligen Geistes bemerkte August Hermann Francke in einer paränetischen Lektion in Vorbereitung auf das Pfingstfest am 20.05.1714 (August Hermann Francke: Lectiones Paraeneticae, Oder Oeffentliche Ansprachen, An die Studiosos Theologiae auf der Vniversität zu Halle […] III.Theil. Halle 1729, 193f.: „[…] so sollen billig
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hatte die Aufforderung zur Nachahmung der gehörten Predigten gewisse Grenzen. Denn zumindest Francke, aber auch Johann Anastasius Freylinghausen (1670–1739),148 der seinen Schwiegervater bei den Predigtübungen in der Glauchaer Kirche regelmäßig vertrat,149 praktizierten eine freie Predigtweise, für die sie nur Stichworte auf einen kleinen Zettel notierten, gelegentlich sogar ganz auf einen solchen verzichteten. Diese Art zu predigen hatte Luthers Predigtweise zum Vorbild und wurde unter dem Begriff der methodus heroica seit ihrer (ersten?) historisierenden Darstellung in Christoph Schleupners150 (1566– 1635) Homiletik insbesondere von Gottfried Arnold als der dem Geiste Gottes gemäßesten und der Erbauung der Gemeinde dienlichsten Predigtweise programmatisch reaktiviert und propagiert.151 Auf formalhomiletischer Ebene war Studiosi Theologiae sich fein mit Gebet zum Fest schicken, sich fein auf ihre Knie, und auf ihr Angesicht hinwerfen, ihr Elend vor GOtt recht erkennen, und ihn bitten, daß er sie von dem Geiste dieser Welt erretten und sie seines Geistes theilhaftig machen wolle. Mit solcher Zubereitung sollen sie zur Predigt kommen, und dieselbe mit rechter Aufmercksamkeit anhören; dann die Predigten, die sie gehöret, fein mit Nachdencken wiederholen, und die ascetica, die repetitiones concionum, wo dieselbe gefunden werden, auch etwa colloquia amica dazu nehmen. Sie könten erbauliche Predigten lesen, wie z. E. Speneri Predigten, sie könten die capita & dicta scripturae, die sonderlich vom Heiligen Geist handeln, vor sich nehmen, dieselben mit einander aufschlagen und betrachten: dazu etliche Studiosi Theologiae, contubernales und die zusammen in einem Hause wohneten, in den Stunden nach der Predigt sich vereinigen könten, an statt daß andere der Welt und den Lüsten dieser Welt nachgehen, und sich in die Gelegenheit zu sündigen stürtzen. Diese incitatio fraterna würde ein gesegnetes Mittel seyn in animis studiosorum, daß sie der Gabe des Heiligen Geistes ums so viel mehr theilhaftig würden, und es würde der Segen der Predigten überschwenglich grösser seyn, als er so ist.“ 148 Zu ihm Matthias Paul: Johann Anastasius Freylinghausen als Theologe des hallischen Pietismus. Halle 2014. – Zum Eindruck, den Freylinghausen auf Zeitgenossen als Prediger hinterließ, siehe Johann August Majer: Der unter dem Exempel Timothei entworfene Character unsers Seligen. In: Wohlverdientes Ehren=Gedächtniß Des Um die Kirche Christi treuverdienten Theologi […] Johann Anastasii Freylinghausens […] Halle 1740, 131: „Es sagte einst jemand, der Ihn zu jener Zeit gekannt und gehöret: wenn Er aufgetreten, so sey es gewesen, als wenn ein Engel GOttes auf der Cantzel stünde.“ 149 Johann Athanasius Freylinghausen: Lebens=Lauf [Selbstbiographie]. In: Wohlverdientes Ehren=Gedächtniß Des um die Kirche CHristi treuverdienten Theologi […] Johann Athanasii Freylinghausens […] Halle 1740, 26–46, hier 38: „Mit den Studiosis hielt [ich] Jahr aus Jahr ein, auf Verlangen der Theologischen Facultät, exercitationes homileticas, davon gar manche bezeuget, daß sie ihnen nützlich gewesen.“ 150 Christoph Schleupner: Tractatus De Qvadruplici Methodo Concionandi, Rationem Diversi Mode Formatarum Concionum, quae potissimum in Ecclesiis, Divinitus, ministerio D. Lutheri repurgatis, in usu sunt […] Editio Tertia auctior & locupletior. Lipsiae: Typis Valentini Am Ende, Anno M. DC. XIII. Sumtibus Christophori Elligeri Bibliopolae, 5–28 (Liber Primus: De Methodo Concionandi Heroica). – Die Erstauflage von Schleupners Homiletik erfolgte 1608. 151 Schleupner hatte die methodus heroica für unnachahmlich erklärt („Imitatio Methodi Heroicae negatur“; ebd., 27). Dieser Auffassung sind lutherisch-orthodoxen Homiletiker des 17. Jahrhunderts, z. B. Johann Benedikt Carpzov I. [d. Ä.], gefolgt (J.B. Carpzov: Hodegeticum brevibus aphorismis pro collegio concionatorio conceptum: ein Wegweiser für Prediger in Leitsätzen. Lateinisch – Deutsch. Eingel., übers. u. hg. von Reiner Preul. Leipzig 2014, 70), der zur „heroischen“ Predigtweise Luthers bemerkt, „dass wir sie weder nachahmen können noch müssen“ [„quod imitari nec possumus nec debemus“]). Zur Reaktivierung der methodus heroica bei
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damit die Verabschiedung von der in der Orthodoxie bis dato quasi normativ gehandhabten Praxis der wortwörtlich ausgearbeiteten und memorierten Predigt verbunden. Auf diese Weise sollte dem spontanen Trieb des Heiligen Geistes im Vollzug der Predigt Raum geben werden, worauf im Übrigen einmal mehr bereits Lambert in De prophetia mit nachdrücklichen Worten verwiesen hatte.152 Diese freie Predigtweise nachzuahmen war den hallischen Theologiestudenten noch nicht für ihre Übungspredigten, sondern erst für ihr Pfarramt erlaubt.153 Insofern blieb dieser Aspekt im Predigtvorbild der homiletischen
Gottfried Arnold s. Marti, Die Rhetorik des Heiligen Geistes [s. Anm. 94], 68–73; vgl. auch Dietrich Blaufuß: Zur Predigt bei Gottfried Arnold. In: Ders.: Korrespondierender Pietismus. Ausgewählte Beiträge. Hg. v. Wolfgang Sommer u. Gerhard Philipp Wolff. Leipzig 2003, 279–301, hier 290–292; Straßberger, Johann Christoph Gottsched und die „philosophische“ Predigt [s.Anm. 15], 185f.; ders.: „Ich glaube, darum rede ich“ [s. Anm. 6], 264f. 152 Nach der deutschen Übersetzung bei Barclay, Apologia [s. Anm. 79], 288 (mit Verweis auf De prophetia, Trac. V, cap. III) äußert sich Lambert wie folgt (i.O. alles kursiv): „Siehe aber zu / daß du niemahlen vornehmest das eigentlich zu reden / was du vorhero meditiret oder bedacht gehabt / es sey auch was es sey / denn ob es schon wohl seyn kann / daß du einen Text / worvon du handeln wilt / fest stellest / jedoch durchaus nicht dessen Auslegung; damit du nicht / wenn du solches thust / dem H. Geist entziehest / was ihm zugehöret / nehmlich deine Rede zu regieren / damit du / um von dem Namen Gottes zu prophezeyen / von aller Gelehrtheit / Meditiren oder vorher=Bedencken / und der Erfahrenheit entblösset seyn möchtest / als hättest du gleichsam gantz nichts erlernet oder studiret; seinem Geiste solt du dein Hertz und Zunge / und dich selbst / gäntzlich übergeben / und deinem vorgehenden Studiren und Meditiren durchaus nicht trauen / sondern in einer grossen Zuversicht / wegen der göttlichen Verheissungen / in dir sagen: Der HErr wird denen / so das Evangelium predigen / ein Wort in grosser Kraft geben; vor allen Dingen aber / so hüte dich ja wohl / daß du nicht der Art der Heuchler folgest / die fast von Wort zu Wort / was sie reden wollen / aufgeschrieben / und haben die ganze Predigt auswendig gelernet / als ob sie gleichsam auf einer Schaubühne / wie die jenige die Trauer=Spiele vorstellen / etliche Reimen oder Verse wiederholen sollten / […].“ 153 Francke, Collegivm pastorale [s. Anm. 105], 385–388 handelt in Observatio LXVII ausführlich über unzeitiges Extemporieren (was vice versa als Anleitung zum rechtmäßigen Extemporieren zu verstehen ist). Er führt hier aus (ebd., 386): „Ich habe manch Collegium Homileticum selber gehalten, die praecepta Homiletica inculciret, und eine Anweisung gegeben, wie sie [sc. die Studiosi theologiae; d. V f.] verfahren sollen. Und so wird auch ietzo mit allem Fleiß die Sache erinnert, daß man sich vor dem extemporisiren hüten solle. Die Rede ist ietzt nicht von denen, die schon geübt sind und nicht allemal Zeit haben, daß sie die gantze Predigt aufschreiben, noch viel weniger, daß sie dieselbe solten memoriren können; sondern ich rede ietzo von denen, die erst den Anfang im Predigen machen.“ Der konkrete Hintergrund für diese (1713 ausgesprochene) Warnung ist folgender (ebd., 387): „Ja es ist wol geschehen, daß, wenn manche von hie [d. i. Halle; d.Vf.] wegkommen sind und anderswo die Prob=Predigt haben halten müssen, indem sie zu einem öffentlichen Amt haben sollen vociret werden, so haben sie sich auf ihr extemporisiren verlassen, und auch noch wol dazu gemeynet, wie köstlich sie es gemachet hätten; […].“ (387). – Vgl. auch Erhard Peschke: Das Collegium Pastorale August Hermann Franckes 1713. In: Reformation und Neuzeit. 300 Jahre Theologie in Halle. Hg. v. Udo Schnelle. Berlin, New York 1994, 157–193, hier 172 (mit Stellennachweisen): „Gegen das Aufschreiben der Predigten macht Francke erhebliche Bedenken geltend. […] Zu Beginn ihrer amtlichen Tätigkeit sollten die Studenten ihre Predigten zwar aufschreiben. Dann aber diesen Brauch aufgeben.“
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Lehrer der studentischen Übungspraxis weitgehend154 entzogen. Dennoch war die hallische Predigtausbildung perspektivisch auf eine solche Predigtpraxis hin ausgerichtet. Sie ist damit ein ebenso handgreiflicher wie bleibender Ausdruck für den ursprünglich enthusiastischen Kern der hallisch-pietistischen Predigtreform.
9. Ausblick Was den zuletzt genannten Punkt betrifft, wusste Francke natürlich um diese Besonderheit seiner Predigtweise.155 Freilich hütete er sich zeitlebens, diese deshalb mit dem im Ketzergeruch stehenden Attribut „enthusiastisch“ zu versehen. Ähnlich verhielt es sich bei Veit Ludwig von Seckendorff (1626–1692), der, wie Francke, das hallisch-pietistische Interesse an einer „empfindlichen“ Wirkung des Heiligen Geistes bei der (homiletischen) Schrifterklärung zwar entschieden hervorgehoben sehen, aber – aus auf der Hand liegenden Gründen – eben gerade nicht als enthusiastisch bezeichnet wissen wollte.156 Und obschon in der älteren und jüngeren Historiographie für die hallisch-pietistische Predigttradition auch andere Benennungen kursieren,157 sollte weder dieses noch die er-
154 In Richtung einer freien Predigt zielte jedoch die oben erwähnte, predigtähnliche Textauslegungspraxis in den Exercitationes biblicae, die zumindest in studentischer Wahrnehmung auch als Anleitung und Vorbereitung zum späteren ex tempore-Predigen verstanden wurde; s. dazu nochmals oben das Zitat Anm. 142. 155 Johann Heinrich Callenberg: Neueste KirchenHistorie von 1689. an. vol. IV. 1692, Bl. 94r (AFSt/H F 30d) überliefert folgendes Selbstzeugnis Franckes: „Daß ich meine Predigten mir auf einen Zettel zu concipiren pflege, ist wahr, schreibe zuweilen auch gar nichts auf, wehre es aber auch keinem, verachte deswegen auch keinen, der es gantz aufschreiben kan und wil.“ Vgl. dazu auch Tholuck, Geschichte des Rationalismus [s. Anm. 107], 57. 156 In der Gründliche[n] Beantwortung einer mit Lästerungen erfüllten Schrift / unter dem Titel ‚Außführliche Beschreibung deß Unfugs der Pietisten‘ (Frankfurt/Main 1693) erklärte von Seckendorff (zit. n. Klaus Deppermann: Der hallesche Pietismus und der preußische Staat unter Friedrich III. [I.] Göttingen 1961, 75): „Herrliche und klare Sprüche der Schrifft beweisen unhintertreiblich / dass der natürliche Mensch ohne innerliche Würckung (obgleich nicht auf enthusiastische Art empfindliche) des Heiligen Geistes / keinen heilsamen Verstand der Heiligen Schrifft haben könne.“ – Nicht zuletzt unter dem Eindruck der Ereignisse um die „begeisterten Mägde“ dürfte die Grenzziehung von Seckendorffs in dieser Richtung motiviert gewesen sein; vgl. dazu Claudia Wustmann: Die „begeisterten Mägde“. Mitteldeutsche Prophetinnen im Radikalpietismus am Ende des 17. Jahrhunderts. Leipzig 2008, 165–167 (die Ausführungen stehen unter der Überschrift: „Der Enthusiasmus“). 157 Im predigtgeschichtlichen Teil von Mosheims Homiletik bezeichnet dieser die von Spener ausgehende pietistische Predigttradition als „die biblische Art zu predigen“ (Johann Lorenz von Mosheim: Anweiung erbaulich zu predigen (1763). Neu hg. v. Dirk Fleischer. Waltrop 1998, 82). Die andere, wesentlich charakteristischere und auch verbreitetere Nomenklatur nimmt Bezug auf die oben mehrfach erwähnte Selbstcharakterisierung der paulinischen Predigt in 1 Kor 2,1–5 und firmiert unter der Bezeichnung einer Predigt nach „apostolischer Lehrart“; vgl. hierfür beispielsweise im Zitat Anm. 142; zur Diskussion dieses Predigtmodells im zweiten Viertel des
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wähnte Ablehnung Seckendorffs die heutige Predigt- und Pietismusforschung daran hindern, den hier vorgeschlagenen, von Spener auch und gerade für die Predigt grundsätzlich gerechtfertigten Begriff158 zur Kennzeichnung der in Halle etablierten homiletischen Ausbildung bzw. dem dahinter stehenden Predigtverständnis anzuwenden. Verweist doch die Vorstellung einer „enthusiastischen“ Predigt, anders als dies im Begriff der „biblischen“ oder „apostolischen“ Predigten der Fall ist, zielgerichtet auf den historischen und sachlichen Kern des hallisch-pietistischen Predigtverständnisses: die frömmigkeitsprägende und -strukturierende Erfahrung des Heiligen Geistes, sei es individuell, im Bekehrungserlebnis August Hermann Franckes, oder kollektiv, in den Ereignissen der „Leipziger Unruhen“ von 1689/90. Im Zuge des strategischen Bemühens, die pietistische Predigtreform nach 1700 mehr und mehr in kirchliche Bahnen zu lenken, wurde der anfangs durchaus radikale Zuschnitt eines enthusiastischen Predigtverständnisses zwar schrittweise abgeschwächt, aber gänzlich überdeckt und aufgegeben wurde er deshalb nicht.159 Ob und inwiefern die homiletische Entwicklung der späteren Zeit in Halle selbst wie auch in den von dort ausgehenden Wirkungen immer noch mit dem Prädikat „enthusiastisch“ zutreffend beschrieben werden kann, ist freilich eine ebenso interessante wie weiterführende Frage, deren Beantwortung jedoch auf einem anderen Blatt steht.
18. Jahrhunderts siehe bei Straßberger, J. C. Gottsched und die „philosophische“ Predigt [s. Anm. 15], 439–451. 158 Philipp Jakob Spener: Studienausgabe. Hg. v. Kurt Aland u. Beate Köster. Bd. I: Die Grundschriften, Teil 2. Gießen 2000, 195–202 diskutiert die naheliegende Frage, „Ob nicht diese lehr [d. h. sein auf die Wirkung des Heiligen Geistes fokussiertes Verständnis der Theologie; d.Vf.] Enthusiastisch […] seye“. Die Verwendung des Begriffs „in gutem verstand“ (ebd., 198,3.7), nämlich im biblisch-prophetischen Sinne, „da solche leut mit Göttlicher krafft und liecht erfüllet / nichts sowohl redeten oder thaten auß eigenem / als deß sie treibenden Geistes trieb“ (ebd., 198,4–6), wird gebilligt. Die Anwendung des Begriffs „in bösen verstand“ (ebd., 198,16 f.), als Ketzerbegriff, wird natürlich abgelehnt. 159 Vgl. hierfür auch Straßberger, „Ich glaube, darum rede ich“ [s. Anm. 6], 267.
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Markus Matthias
Der Geist auf den Mägden Zum Zusammenhang von Enthusiasmus und Geschichtsauffassung im mitteldeutschen Pietismus Friedrich de Boor zum 85. Geburtstag am 13. September 2018 dankbar zugeeignet
Einleitung Weil nach Auffassung des Christentums Gott ein Gott der Geschichte ist, muss man von jedem Theologen erwarten dürfen, dass er näher zu beschreibende eschatologische Vorstellungen hat(te). Nun bezeichnet Eschatologie neutral die Lehre von den Letzten Dingen, zu denen man auch das Ende der Geschichte zählen kann. Dieses Ende der Geschichte kann inhaltlich ganz unterschiedlich, ja gegensätzlich vorgestellt werden, wobei um 1700 drei Typen unterschieden werden können, ein orthodox-konservativer, ein pietistisch-progressiver und ein pietistisch-konservativer. Orthodox-konservativ ist die Erwartung, dass die Welt ihrem Ende zugeht, keine eigentliche Zukunft mehr hat, jedenfalls keine tiefgreifende Veränderung der Verhältnisse zu erwarten ist. Innerhalb des Pietismus lassen sich ein „subtilerer“ von einem „derben“ Chiliasmus (chiliasmus subtilior / crassus)1 unterscheiden, welche Unterscheidung in der Regel mit der Unterscheidung eines Postmillenarismus von einem Prämillenarismus (auch -millenniarismus)2 übereinkommt. Anders als die Lutherische Orthodoxie verbinden beide mit der noch ausstehenden (endlichen) „Zu-kunft“ Jesu Christi auf Erden die Erwartung eines Tausendjährigen Reiches; jener erwartet die Wiederkunft Christi nach dem Millennium, das daher selbst noch unter dem Signum des Kreuzes (der noch ausstehenden endlichen Erlösung) steht, dieser vor einem Tausendjährigen Reich, das dann ein Reich der Glorie
1 Johann GeorgWalch: Historische und Theologische Einleitung in die Religions=Streitigkeiten Der Evangelisch=Lutherischen Kirchen. Bd. 2. Jena 21733, 625. 2 Die Begrifflichkeit nach Richard Bauckham: Art. „Chiliasmus IV.“ In: TRE 2, 1982, [737– 745] 739.
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(Gottesreich auf Erden) sein wird. Während der Prämillenarismus mit seinem Gottesreich der Glorie auf Erden prinzipiell keine innerweltliche Veränderung kennt und in diesem Sinn als „pietistisch-konservativ“ bezeichnet werden kann, ließen sich vielleicht Linien vom pietistischen Postmillenarismus, wie ihn Philipp Jakob Spener vertrat, zur aufklärerischen Vorstellung einer „offenen Zukunft“ ziehen.3 Jedenfalls gibt es im Postmillenarismus Zeitraum für innerweltliche, in erster Linie freilich heilsgeschichtlich vorgesehene (Röm 9–11; Apk 18f.) Veränderungen und also eine Hoffnung besserer Zeiten. Die gegenüber der Lutherischen Orthodoxie veränderte Zeit-Wahrnehmung der Pietisten, insbesondere die von ihren Gegnern als bekenntniswidriger Chiliasmus (Confessio Augustana, Artikel 17) gebrandmarkten Zukunftserwartungen, sind für die Pietisten unverzichtbare Motivation ihres Handelns und Glaubens gewesen. Dabei war es entscheidend, in welche zeitliche Nähe man die eigene Gegenwart zur erwarteten Zukunft rückte und welche „Zeichen der Zeit“ in der eigenen Gegenwart zu entdecken waren. Vor diesem Hintergrund hat Friedrich de Boor schon früh auf die historische und innere Verbindung von Pietismus, Chiliasmus und (als Endzeitphänomen gedeutetem) Enthusiasmus im Mitteldeutschland der Neunziger Jahre des 17. Jahrhunderts hingewiesen und gegen die damals herkömmliche Geschichtsschreibung auf die Beobachtung Wert gelegt, dass „eine reinliche Scheidung zwischen Enthusiasmus, Separatismus und kirchlichem Pietismus unmöglich“4 sei, gerade wenn man die Position des frühen August Hermann Francke in Augenschein nehme. Veronika Albrecht-Birkner und Udo Sträter haben den von de Boor angesprochenen inneren, nämlich biographisch zu verfolgenden Zusammenhang von Pietismus, Chiliasmus und Enthusiasmus beim „frühen“ August Hermann Francke nachgewiesen.5 Und für den Erfurter Pietismus hat Friedrich de Boor diesen Zusammenhang am Beispiel der Anna Maria Schuchart
3 Zur Frühdatierung der Vorstellung einer „offenen Zukunft“ s. Daniel Fulda: Wann begann die „offene Zukunft“? Ein Versuch, die Koselleck’sche Fixierung auf die „Sattelzeit“ zu lösen. In: Geschichtsbewusstsein und Zukunftserwartung in Pietismus und Erweckungsbewegung. Hg. v. Wolfgang Breul und Jan Carsten Schnurr. Göttingen 2013, 141–172. – Zum Unterschied der beiden Typen des Chiliasmus im Pietismus s. Markus Matthias: Johann Wilhelm und Johanna Eleonora Petersen. Eine Biographie bis zur Amtsenthebung Petersens im Jahre 1692. Göttingen 1993, 183–193, bes. 189–193; vgl. Ulrich Gäbler: Geschichte, Gegenwart, Zukunft. In: Geschichte des Pietismus. Bd. 4. Hg. v. Hartmut Lehmann. Göttingen 2004, 19–48, hier 28f. 4 Friedrich de Boor: Pietismus, Enthusiasmus und Separatismus an der Wende des 17./18. Jahrhunderts. In: Nachrichten der Luther-Akademie. Sondershausen 1968/69, 37–41, bes. 39. 5 Veronika Albrecht-Birkner und Udo Sträter: Die radikale Phase des frühen August Hermann Francke. In: Der radikale Pietismus. Perspektiven der Forschung. Hg. v. Wolfgang Breul [u. a.]. Göttingen 2010, 57–84.Vgl. das von Gustav Kramer edierte Bruchstück eines Tagesbuchs Franckes über „A.H. Francke’s Berufung nach Halle und Anfang seiner Wirksamkeit daselbst.“ In: Gustav Kramer: Beiträge zur Geschichte August Hermann Francke’s enthaltend den Briefwechsel Francke’s und Spener’s. Halle 1861, 153–192 mit positiven Erwähnungen des mitteldeutschen Enthusiasmus (161f., 164f., 168).
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zu beantworten unternommen.6 Auch hat er gelegentlich die Frage gestellt, wie sich dieser Zusammenhang für Johann Heinrich Sprögel (1644–1722)7 als denjenigen beschreiben lässt, der im Zentrum des Geschehens rund um die „begeisterten Mägde“ in Halberstadt und Quedlinburg stand. Sprögel stammte ja aus Quedlinburg, amtierte dort lange im Lehrstand (1671–1703), bevor er nach einem Intermezzo in Werben (Altmark) (1703–1705) als Propst in Friedrich de Boors Heimatstadt Stolp (Pommern) (1705–1715) wirkte.Wie lässt sich also die von Friedrich de Boor behauptete innere Verbindung von Pietismus, Chiliasmus und Enthusiasmus für den mitteldeutschen Pietismus in seinen Anfängen verifizieren und konkret beschreiben? Inwiefern waren Chiliasmus und Enthusiasmus historisch (und sachlich) konstitutiv für den (mitteldeutschen) Pietismus? Leider bietet nun die einschlägige Monographie über Sprögel8 keine befriedigende Auskunft, wenn man dort lesen muss: „Chiliastische Gedanken spielen bei Sprögel keine Rolle. Doch stellte er sich dem Ehepaar Petersen nicht entgegen, als dieses die Quedlinburger Pietisten besuchte.“9 In der Tat sind die von Sprögel publizierten Druckschriften und auch die überlieferten anderen Zeugnisse überschaubar und bringen nur andeutungsweise pietistisch-eschatologisches Gedankengut zum Ausdruck. Anstatt mit wenig Aussicht auf Erfolg das von Martin Schulz seiner Monographie zugrunde gelegte Aktenmaterial erneut nach eschatologischen Äußerungen Sprögels zu durchforsten und mich auf ihn als Einzelgestalt zu konzentrieren, will ich allgemeiner nach dem Zusammenhang von Pietismus, Enthusiasmus und Chiliasmus fragen, wie er sich für Sprögels näheres Umfeld beschreiben lässt, nämlich für den Quedlinburger und Halberstädter Pietismus. Ich will meine Fragestellung in zwei Schritten zu beantworten suchen. (1) Zunächst will ich nachweisen, dass und wie der Halberstädter und Quedlinburger Enthusiasmus an der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert historisch durch den von den beiden Petersens, Johann Wilhelm (1649–1727) und Johanna Eleonora (1644–1724), im knapp drei Tagesreisen (200 km) entfernten
6 Friedrich de Boor: Anna Maria Schuchart als Endzeit-Prophetin in Erfurt 1691/92. In: PuN 21, 1995, 148–183; vgl. ders.: Das Auftreten der „pietistischen Sängerin“ Anna Maria Schuchart in Halle 1692. In: „Geist=reicher“ Gesang. Halle und das pietistische Lied. Hg. v. Gudrun Busch und Wolfgang Miersemann. Tübingen 1997, 81–121. 7 Biogramm in: Philipp Jakob Spener: Briefwechsel mit August Hermann Francke. Hg. v. Johannes Wallmann u. Udo Sträter in Zus.arb. mit Veronika Albrecht-Birkner. Tübingen 2006, Brief Nr. 8 Anm. 10; vgl. Pfarrerbuch der Kirchenprovinz Sachsen. Bd. 8, Leipzig 2008, 322f. 8 Martin Schulz: Johann Heinrich Sprögel und die pietistische Bewegung Quedlinburgs. Diss. theol. Halle (Saale): Martin-Luther-Univ. Halle-Wittenberg 1974. Die Arbeit war angeregt und wurde betreut von Friedrich de Boor. 9 Schulz, Sprögel [s. Anm. 8], 244.
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Lüneburg vorgelebten Enthusiasmus und Chiliasmus ausgelöst wurde.10 Ich will plausibel machen, dass die enthusiastischen Erfahrungen der „begeisterten Mägde“ und anderer, insbesondere aber ihre Wahrnehmung und Wertung durch die Pietisten, nicht als zufällige Erscheinungen zu beschreiben sind, sondern historisch aus der im Pietismus zuerst bei den Petersens zu beobachtenden Verbindung von Enthusiasmus und Chiliasmus hergeleitet werden müssen. (2) Anschließend soll am Beispiel des chiliastischen Werkes von David Israel Dimpel (1678–nach 1742), Sprögels Adjunkt in Stolp (Pommern), gezeigt werden, wie sich diese Verbindung von nun kirchlich eingebundenem Pietismus, Enthusiasmus und Chiliasmus über eine Generation hinweg erhält. Dabei scheint an die Stelle der ekstatischen Erscheinungen als Zeichen der Zeit die Erfahrung der (wissenschaftlichen) Einsicht (Erleuchtung) in die biblisch-chiliastische Chronologie zu treten, auch das ein Erbe der Petersens.
1. Die Petersens und der enthusiastische Pietismus in Halberstadt und Quedlinburg Das Auftreten der „begeisterten Mägde“11 in Mitteldeutschland soll hier weder psychologisch noch sozialpsychologisch erklärt werden. Mit der historischen Rekonstruktion der Verbindungen zwischen den Akteuren, die eine wichtige Rolle während des ersten Auftretens enthusiastischer Prophetinnen und Propheten innerhalb des Pietismus gespielt haben, soll deutlich werden, wie es konkret zu einem enthusiastischen Pietismus kam, wie nämlich Protagonisten der pietistischen Bewegung sich entweder durch enthusiastische Phänomene bestätigt sahen und so für den Pietismus rezipierten oder solche Phänomene evozierten.12 Diese wiederum begründeten oder untermauerten (grob) chilias-
10 Halberstadt ist 56 km von Magdeburg, 57 km von Niederndodeleben, Quedlinburg ist 15 km von Halberstadt entfernt. – Vgl. Ryoko Mori: Begeisterung und Ernüchterung in christlicher Vollkommenheit. Pietistische Selbst- und Weltwahrnehmungen im ausgehenden 17. Jahrhundert.Tübingen 2004, 120 Anm. 552: „Ein Zusammenhang zwischen der Lüneburgerin [Rosamunde Juliane von der Asseburg] und den drei Frauen [„begeisterte Mägde“] kann allerdings nicht schlüssig belegt werden.“ Vgl. ebd., 119 den Hinweis darauf, dass Rosamunde Juliane von der Asseburgs Erscheinung „einen Ansatz zu neuen Momenten, die chiliastischen Endzeitvorstellungen und sinnlichen Gotteserfahrungen“, dargestellt habe. 11 Die weitestgehenden (Quellen-) Angaben zu ihren Personen finden sich bei Johann Heinrich Feustking: Gynaeceum Haeretico Fanaticum, Oder Historie und Beschreibung Der falschen Prophetinnen / Qväckerinnen / Schwärmerinnen / und andern sectirischen und begeisterten Weibes=Personen / Durch welche die Kirche GOttes verunruhiget worden. Frankfurt und Leipzig 1704 (ND München 1998). – Eine Quellenauswahl findet sich in: Begeisterte Mägde. Träume, Visionen und Offenbarungen von Frauen des frühen Pietismus. Hg. v. Ruth Albrecht. Leipzig 2018. 12 Keinen Aufschluss bietet für meine Fragestellung Claudia Wustmann: Die „begeisterten Mägde“. Mitteldeutsche Prophetinnen im Radikalpietismus am Ende des 17. Jahrhunderts. Leipzig 2008; detaillierte und umfassendere Darstellung bei Mori, Begeisterung [s. Anm. 10], 104–120
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tische Erwartungen, nämlich ein erfahrbares Eingreifen Gottes zugunsten der Frommen, wodurch sie sich selbst mit ihrem Glauben ins Recht gesetzt sahen. Bei der chronologischen Rekonstruktion ergeben sich folgende Zusammenhänge: (1) Die beiden ganz von ihrer chiliastischen Interpretation der Bibel beseelten Petersens begegneten Rosamunde Juliane von der Asseburg13 (1672–1712), der ersten „enthusiastischen Prophetin“ im Pietismus, zum ersten Mal in den ersten beiden Novemberwochen des Jahres 1690 in Magdeburg, auf sie aufmerksam gemacht durch Julius Franz Pfeiffer, der in Leipzig die pietistische Bewegung kennengelernt hatte.14 (2) Nach der im Frühjahr (Ende Februar oder Anfang März) 1691 erfolgten Übersiedelung der Familie von Asseburg nach Lüneburg besuchten Mitte des Jahres 1691 zahlreiche Leipziger und Erfurter Studenten der jungen pietistischen Bewegung um August Hermann Francke15 die Petersens und die Asseburg in Lüneburg und wurden dort Zeugen der engen Verbindung von chiliastischer Bibelinterpretation und ekstatischem Prophetismus. Dazu gehörten für den mitteldeutschen Enthusiasmus so wichtige Personen wie Gebhard Levin Semmler (1665–1735) (s. u.), und Daniel Falckner (1666–ca. 1744)16, der später mit Anna Maria Schuchardt in die Neue Welt auswanderte, aber auch Adelheid Sybille Schwartz17 sowie eine tragische Figur wie Heinrich Westphal (gest. 1691).18 Sie alle wurden persönlich Empfänger von Bezeugungen der Rosamunde Juliane von der Asseburg19, die auch bei ihnen wie nachweislich bei anderen20 einen tiefen Eindruck hinterlassen haben dürfte. Es ist davon auszugehen, dass zwischen den genannten Personen und ihren Beziehungsnetzwer(R.J. von der Asseburg), 120–132 („Begeisterte Mägde“), 133–160 (weitere Personen), 160–183 (Kratzenstein). 13 Feustking, Gynaeceum [s. Anm. 11], 141–156. 14 Matthias, Petersen [s. Anm. 3], 258–260; zur anhaltenden Bedeutung des Enthusiasmus für Pfeiffer s. Mori, Begeisterung [s. Anm. 10], 263–284. 15 Francke an Spener, 07.08.1691 (Spener, Briefwechsel [s. Anm. 7], 12), zu den Personen s. Matthias, Petersen [s. Anm. 3], 268–270; zu den Reisen und Aufenthaltsorten der frühen Pietisten s. Mori, Begeisterung [s. Anm. 10], 25–31, 32–52 und die Karten 286–296. 16 Matthias, Petersen [s. Anm. 3], 268f. 17 Ernst Fritze: Adelheid Sibylla und der Maler Johann Heinrich Schwartz in Lübeck. Eine Studie zur Personengeschichte in Zusammenhang mit den Erscheinungen evangelischer Frömmigkeit zur Zeit August Hermann Franckes und Philipp Jakob Speners. In: ZVLubG 71, 1991, 81–123; Matthias, Petersen [s. Anm. 3], 256, 270, 272–276; Mori, Begeisterung [s. Anm. 10], 144– 148. 18 Matthias, Petersen [s. Anm. 3], 270; vgl. Francke an Spener, 07.08.1691 (Spener, Briefwechsel [s. Anm. 7], 12): „reiset heute“. Vor dem Hintergrund des zu vermutenden Freitodes Westphals auf Grund schwerer Anfechtungen (Albrecht-Birkner und Sträter, Phase [s. Anm. 5], 60f.) geben die Bezeugungen an ihn (s. folgende Anmerkung) zu erkennen, dass Westphal insbesondere mit dem Perfektionismus zu kämpfen hatte. 19 Universitätsbibliothek Hamburg, Cod. theol. 1234, p. 58f., 62f., 67, 71 (Westphal); 76 (Falckner); zu Semmler s.u. 20 Zu den seelsorgerlichen Wirkungen s. Matthias, Petersen [s. Anm. 3], 262–264.
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ken auch ein reger Briefwechsel über die Ereignisse stattfand, der auch mit Vervielfältigung von wichtigen Briefauszügen arbeitete.21 (3) Da August Hermann Francke im Februar 1690 auf seiner Reise nach Lübeck (bzw. im April 1690 auf seiner Reise von Lübeck nach Erfurt)22 Johann Wilhelm Petersen in Lüneburg – zusammen mit Gottlieb Kirch23 – wahrscheinlich zuletzt besucht hat, dürfte er Rosamunde Juliane von der Asseburg selbst nicht begegnet sein. Er dürfte sich damals aber schon mit Petersen über den diesem am 8. Januar 1690 überreichten Fragenkatalog ausgetauscht haben, mit dem Petersens Lüneburger Kollegen von ihm eine Stellungnahme zu der Möglichkeit von unmittelbaren Offenbarungen und zu eschatologisch-chiliastischen Fragen wie der zweifachen Auferstehung, einem Tausendjährigen Reich und einem neben Himmel und Hölle zu erwartenden dritten Ort der Läuterung verlangt hatten.24 Wie sehr Francke unter dem Eindruck dieser Gedankenwelt der Petersens stand, zeigt sein selbstbewusster Briefwechsel mit Spener über die Frage eines dritten Ortes der Läuterung in den folgenden Jahren.25 Eben dieser Briefwechsel vom Jahreswechsel 1695/1696 zeigt, wie sich biblisch begründete, eschatologisch-chiliastische Lehren hielten bzw. verfestigten, nachdem der aktuelle Enthusiasmus abgeklungen war, der aber als historisches Ereignis geeignet war, die Bibelinterpretation zu untermauern. Auch seine Interpretation von Römer 7 auf den Stand des noch nicht wiedergeborenen Christen (Paulus) hatte sich Francke 168826 durch die persönlich vorgetragene Bibelinterpretation der Petersens zumindest bestätigen lassen, wenn er sein Verständnis nicht überhaupt erst unter dem Eindruck deren Interpretation entwickelt hat.27 Seit dieser Zeit bestand jedenfalls eine Verbindung zwischen den Petersens und Francke, so dass auch der Kontakt der Petersens nach Erfurt mindestens (und nachweislich) seit Franckes Erfurter Zeit (08.06.1690–27.09.1691) bestand.28 (4) Zu den persönlichen Zeugen des Lüneburger Enthusiasmus der Rosamunde gehört auch der für die Ereignisse in Halberstadt und Quedlinburg
[Johann Benedikt Carpzov:] Außführliche Beschreibung Des Unfugs / Welchen Die Pietisten zu Halberstadt im Monat Decembri 1692. ümb die heilige Weyhnachts=Zeit gestifftet. Dabei zugleich von dem Pietistischen Wesen in gemein etwas gründlicher gehandelt wird. Anno 1693, 56. 22 Da ihn die Reise über Hamburg und Wolfenbüttel führte, muss er auch über das ca. 55 km entfernte Lüneburg gereist sein; allerdings berichtet Francke in seinem Brief an Spener vom 15.07.1690 (Spener, Briefwechsel [s. Anm. 7]) nicht darüber. 23 Spener, Briefwechsel [s. Anm. 7], 38. 24 Matthias, Petersen [s. Anm. 3], 233–235. 25 Spener, Briefwechsel [s. Anm. 7], Briefe Nr. 110, 115–117 (1695–1696). 26 Zu Franckes mutmasslichen Aufenthalten in Lüneburg s. Matthias, Petersen [s. Anm. 3], 175, 271 Anm. 77. Die persönliche Bekanntschaft dürfte zurückgehen auf den Besuch der Petersens in Hamburg bei Francke am 27.08.1688 (Matthias, Petersen [s. Anm. 3], 131). 27 Matthias, Petersen [s. Anm. 3], 175. 28 Vgl. Ruth Albrecht: Johanna Eleonora Petersen. Theologische Schriftstellerin des frühen Pietismus. Göttingen 2005, 89. 21
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wichtige Gebhard Levin Semmler,29 an den Rosamunde insgesamt fünf Bezeugungen (9. Juni, 23. Juni, 10. Juli, 27. Oktober 1691 und 3. Januar 1692)30 gerichtet hatte (und damit mehr als an andere). Obwohl wir über Semmler biographisch wenig wissen, lassen sich aus den Texten Rückschlüsse auf Semmlers seelische Verfassung ziehen, auf die sich die Bezeugungen bezogen haben und die die Voraussetzungen für ihre Wirkungen gewesen sein müssen. Da ist die Rede von als göttliche Strafe erfahrbarem Unglück, das Semmler oder seinen Verwandten zugestoßen sein mag. [ 8. Juni 1691] Liebester Freundt Ich habe dich gezüchtiget und gestäupt mit ruhten, Ich denke aber nicht mehr daran, den die ruhte ist zerbrochen, und mein Hertze ist gar liebreich gegen dir, wie solte Ich anders als freundlich mit dir thun, da mein Hetze so Jamrig und so gag31 nach dir ist, so sey nun getrost in aller zuversicht zu mir, den[n] Ich laße dich nicht, sondern neige mich zu dir mit brünstiger liebe, bin Ich nicht der Gott von alters her, von dem alle liebe und Hülffe kömbt, darumb komme Eylend zu mir, was wolte dich von mir scheiden, faße einen Muht in meiner Krafft, und halte dich unbewachtig32 an meiner Krafft, so wirdt dich nichts von mir scheiden, weder das gegenwertige noch zukünfftige, in dem andern will Ich dich schon leyten nach meinem willen, so du nicht zweiffelst; und an deine verwanten gedenken, den[n] Ich helffe allen die mich annehmen, Amen red Ich der HErr HErr.
Der hier bereits angesprochene Zweifel – offenbar in Glaubensfragen – wird in der folgenden Bezeugung aufgenommen, indem nun zum Durchhalten aufgefordert wird. [23. Juni 1691] Wollan mein Bruder, den Ich lieb hab, durch mich selbst, ringe mit mir im Glauben mit Gedult und auch Langmuht, du suchest mich, das du mich mögest umbfaßen, und siehe so wahr Ich lebe Ich stehe dir zur Seiten, das Ich dich täglich auffrichte, durch meine große Liebe, so weiche nun nicht, weder zur rechten, noch zur linken, den mein Arm stützet dich, und meine Liebe wirdt nicht müde, auch endert sich mein hertze nicht, so sey nun getrost, und unverzagt, Ich selbst wills volführen, was Ich in Dir angefangen, sey nur munter zu mir, denn Ich laße dich nicht. Amen.
Biogramm in: Spener, Briefwechsel [s. Anm. 7], Brief Nr. 10 Anm. 26; vgl. Pfarrerbuch der Kirchenprovinz Sachsen. Bd. 8. Leipzig 2008, 217: 1697 Rektor in Berg, 1698–1704 Pfarrer in Kabelitz, 1704–1735 Pfarrer und Inspektor in Großmangelsdorf. 30 Universitätsbibliothek Hamburg, Cod. theol. 1234, 23, 27 (Textverluste durch Wasserflecke), 33, 74, 97 (vgl. Matthias, Petersen [s. Anm. 3], 268–271). 31 Die Herkunft des Wortes war nicht zu ermitteln, 32 „Wachtig“ bedeutet „vorsichtig, aufmerksam“; die unbekannte Wortbildung könnte meinen: „sorglos“. 29
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Mit massiver Erwählungsrhetorik, die selbstverleugnende Passivität erwartet, müssen Semmlers Zweifel, möglicherweise ganz konkrete Laufbahnzweifel, bekämpft werden: [10. Juli 1691] Friede sey mit dir, harre meiner Güte mit Gedult und laße nicht ab, sey treu, daß du bleibest in Ewigkeit: Siehe zu, Ich habe mir dich zubereitet daß du vor mir bleiben solt, denn ich habe dich geliebet ehe der Welt Grund geleget ward, so sey nun getrost, denn Ich lasse dich nicht, Amen. bleibe wo du bist, bis Ichs weiter mit dir ordne. [27. Oktober 1691] Sihe Ich thue mit dir nach aller meiner freundlichkeit, brich nur durch in der Verleugnung deiner selbst und sey getrost in aller Einfalt und Niedrigkeit, so soltu alles ererben, ja, amen: spreche Ich der HErr HErr. [3. Januar 1692] Fürchte dich nicht, mein Schäflein, Ich will mit Dir seyn: laße, die Tauben=Einfalt nicht; Ich will dir meinen Willen noch weiter offenbahren. Fürchte dich nur nicht, und lebe wohl.33
Semmler wurde nach seinem Weggang aus Erfurt zunächst (1691) Hauslehrer bei der Familie der mit Drohprophetien bekannt gewordenen Adelheid Sybilla Schwartz in Lübeck und dann 1692 Protokollant der Visionen der „derb“ eschatologisch auftretenden Anna Margaretha Jahn in Halberstadt (s. u.). (5) Neben den in Lüneburg vorbeischauenden und untereinander korrespondierenden Studenten müssen als weiteres Mittel der Verbreitung des Chiliasmus und des Prophetismus die Reisen der Petersens (vor allem Johanna Eleonoras) in Betracht genommen werden, so (vor dem Erscheinen der Asseburg) im Mai 1690 von Lüneburg über Leipzig nach Teplice, dann vor allem Ende Juni / Anfang Juli 1691 mit der Asseburg nach Lübeck zu dem dortigen, den radikalen Pietisten zuzuschreibenden Kreis um das Ehepaar Schwartz und Johann Salomon Hattenbach (1650–1699) und Ende August und September 1691 nach Magdeburg (und später an den kurfürstlichen Hof in Ebstorf).34 (6) Kurz nach der Reise der Petersens mit Rosamunde von der Asseburg nach Magdeburg, nämlich vom 22. Oktober bis zum 9. November 1691,35 weilte der Ende September aus Erfurt ausgewiesene August Hermann Francke – nach einem Aufenthalt zuhause in Gotha – auf der Reise nach Berlin für drei Wochen (länger als geplant)36 in Quedlinburg und Halberstadt. Es ist davon auszugehen, dass Francke in dieser Zeit voller heilsgeschichtlicher Erwartungen war37 und – wie manch anderer gelehrter Theologe38 – unter tiefem Eindruck der Ereig Dieser Eintrag ist auf der betreffenden Seite nachgetragen. Matthias, Petersen [s. Anm. 3], 243–245, 272–278, 285–291. 35 Schulz, Sprögel [s. Anm. 8], 48–50. 36 Francke an Spener, 02.11.1691 (Spener, Briefwechsel [s. Anm. 7], 53). 37 „Wenn die bäume jetzt außschlagen, so mercket daß der Sommer nahe ist.“ (Francke an Spener, 07.08.1691; Spener, Briefwechsel [s. Anm. 7], 49). 38 Das gilt für Philipp Jakob Spener (Matthias, Petersen [s. Anm. 3], 259f.) und in nüchterner Weise auch für Gottfried Wilhelm Leibniz, der sich differenziert über die Visionen der Asseburg 33 34
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nisse rund um die Asseburg stand, obwohl er in seinen (wenigen überlieferten) Briefen an Spener vor dem Beginn des Jahres 1692 keine Äußerung darüber verliert. Da er aber Spener im Januar 1692 brieflich berichtete, sein Kreis habe im Dezember wieder zwei eindrückliche Bezeugungen von Rosamunde erhalten,39 muss die Lüneburger Prophetin zwischen beiden Gegenstand des persönlichen Gedankenaustausches während Franckes Besuch in Berlin im November oder Dezember 1691 gewesen sein. Außerdem muss Rosamunde von der Asseburg – wahrscheinlich vermittelt über die Petersenschen Kontakte nach Erfurt – an August Hermann Francke und seinen Kreis bereits vor seiner Reise nach Quedlinburg und Berlin Bezeugungen gerichtet haben. (7) Es stellt sich die Frage, ob wir in Francke40 eine zweite Schlüsselfigur sehen dürfen, der direkt oder indirekt mit seinen Äußerungen und Erbauungsstunden dem in Halberstadt und Quedlinburg alsbald ausbrechenden chiliastischen Enthusiasmus Vorschub geleistet hat, zumal es auch in Erfurt in derselben Zeit (Anfang Dezember) – wahrscheinlich unter dem Eindruck der nach Erfurt gerichteten Bezeugungen – zu solchen Phänomenen (Anna Maria Schuchart, die seit August / September in Erfurt lebte) kam, auch dort in einer Verbindung von Enthusiasmus und (Petersenschem) Chiliasmus.41 Immerhin stand Francke in dieser Zeit nachweislich in ständigem Kontakt mit den Hauptpersonen in Lüneburg, Erfurt, Halberstadt und Quedlinburg (vgl. den Beginn des Schreibens von Sprögel an Francke vom 15.12.1691; s. u.). Und es war sicher kein Zufall, dass es mit Franckes Wirksamkeit in Halle auch dort noch bis spätestens 1693 zu ihn faszinierenden enthusiastischen Erscheinungen kam.42 Francke und sein Umfeld waren jedenfalls für solche außerordentlichen, göttlichen Rührungen und Bekundungen Gottes innerhalb der Geschichte äußerst empfänglich, ja benötigten sie theologisch geradezu.43 Schließlich, obwohl Francke die Ei-
geäußert hat. Er wollte sie nicht als Betrügerei ansehen, sondern aus der menschlichen Einbildungskraft erklären, in welcher und durch welche Gott auch Gnade erweise, nur eben nicht auf übernatürliche Weise. Ein echter Erweis ihrer Übernatürlichkeit oder Göttlichkeit sei, ob sie die Zukunft im Einzelnen voraussagen könne. Weil nämlich der kleinste Zufall die größten Folgen für die weitere historische Entwicklung habe, sei es der unendlichen Vorsehung und dem unendlichen Geist vorbehalten, dies alles en detail vorauszuwissen (Gottfried Wilhelm Leibniz: Sämtliche Schriften und Briefe, I. Reihe: Allgemeiner politischer und historischer Briefwechsel. Bd. 7. Berlin 1964, Nr. 31). 39 „Von der Rosemunda haben wir hier wider 2 bezeugungen vom Monat December von nachdruck bekommen“ (Spener, Briefwechsel [s. Anm. 7], 60; vgl. Kramer, Beiträge [s. Anm. 5], 168). 40 Vgl. Veronika Albrecht-Birkner u. Udo Sträter, Phase [s. Anm. 5]. 41 Vgl. De Boor, Schuchart [s. Anm. 6], 161, 164f., 173–177. 42 S. Spener, Briefwechsel [s. Anm. 7], 86–88 (23.02.1692) und 211–213 (25.10.1692); vgl. Mori, Begeisterung [s. Anm. 10], 185–249. 43 Markus Matthias: Nachwort. In: August Hermann Franckes Lebensläufe. Leipzig 22016, 152–169; vgl. ders.: Gewissheit und Bekehrung. Die Bedeutung der Theologie des Johannes Musaeus für August Hermann Francke. In: PuN 41, 2015, 11–31.
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gentliche Nachricht nicht publiziert hat,44 hat er die darin kolportierten Briefe offenbar gesammelt und vermutlich das Gespräch über diese Erscheinungen gesucht, wie mit seinem Beichtvater David Ehrius († 2.11./12.1705)45 in Ammendorf. (8) Während in Halberstadt Catharina Reinecke, die Magd im Haus des Oberkommissars Johannes Prätorius46, spätestens Mitte Dezember 169147 ihre ersten ekstatischen Visionen erlebte,48 geschah die erste enthusiastische Bezeugung in Quedlinburg am 9. Dezember 1691, nahezu parallel zu denen in Erfurt der Anna Maria Schuchart49 im Dezember 1691 bei Hieronymus Brückner und der Maria Graf50. An diesem Tag hatte Sprögels Magd Magdalena Elrich gen. Schultzin (geb. 1667)51 Visionen in der Schlosskirche. Diese Bezeugungen hiel-
44 Vgl. August Hermann Francke: Entdeckung der Boßheit / So mit einigen jüngst unter seinem Nahmen fälschlich publicirten Brieffen von dreyen so benahmten begeisterten Mägden zu Halberstadt / Quedlinburg und Erffurt begangen. Coelln an der Spree 1692. – Es fällt auf, dass Francke sich hier nur über die Herausgabe der Briefe beschwert und die Verlässlichkeit der Texte allgemein in Zweifel zieht. Seine hier dargebotene Verfolgungs- oder Verschwörungstheorie überzeugt nicht, wird von ihm später auch faktisch widerrufen (s. Anm. 45). Wahrscheinlicher erscheint es, dass Francke in der Tat eine Art Dossier oder Materialsammlung zusammengestellt hat. Bekanntlich plante man ja in Erfurt, eine Geschichte zu den enthusiastischen Erscheinungen zu schreiben (De Boor, Schuchart [s. Anm. 6], 151f.). 45 August Hermann Francke: Verantwortung Gegen die so genandte Beschreibung des Unfugs der Pietisten (1694). In: Ders.: Streitschriften. Hg. von Erhard Peschke. Berlin 1981, 214f. – Zu Ehrius (Ebrius), 1684–1705 Pfarrer in Ammendorf s. Pfarrerbuch der Kirchenprovinz Sachsen. Bd. 2. Leipzig 2004, 420; vgl. Feustking, Gynaeceum [s. Anm. 11], 220, 555, 580. 46 Eigentliche Nachricht V on Dreyen Begeisterten Mägden / Der Halberstädtischen Catharinen / Qvedlinburgischen Magdalenen / und Erffurtischen Liesen / Aus Zehen unterschiedenen eingelauffenen Schreiben zusammen getragen von M. August Hermann Francken / der Zeit Pastore zu Glauche vor Halle. O.O. 1692 (ULB Halle, Zb 1885). 47 Lucia Amalia Elisabeth Schreiber (um 1657–1706) aus Halberstadt berichtet in einem nur als Kopie überlieferten Schreiben, dass Reinecke am dritten Weihnachtsfeiertag in der Kirche in Ekstase gefallen war (s. Spener, Briefwechsel [s. Anm. 7], 45 Anm. 4 und 60 Anm. 10). Das ist aber nicht ihr erstes ekstatisches Auftreten gewesen.Von einer Ekstase am 14.12. in Quedlinburg berichtet Achilles an Francke am 16.12. (Eigentliche Nachricht [s. Anm. 46], A3r-A4r). 48 Vgl. [Achilles] an [Francke], zu datieren auf einen Montag (16., 23. oder 30.11.1691): Achilles berichtet Francke mit Blick auf Catharina von der „sonderliche[n] Barmhertzigkeit“, ohne von Ekstase zu sprechen. Dabei geht Achilles offenbar davon aus, dass Francke diese als die Magd von Prätorius einordnen kann, sie also kennt (Eigentliche Nachricht [s. Anm. 46], C4r = Nr. IX; zur Datierung s. den Brief an Schreiber: Eigentliche Nachricht, C2v-C4r = Nr. IIX, Anfang); Feustking, Gynaeceum [s. Anm. 11], 220–222. 49 Vgl. De Boor, Schuchart [s. Anm. 6]; Feustking, Gynaeceum [s. Anm. 11], 537–569. 50 Wustmann: Mägde [s. Anm. 12], 131 datiert ohne Beleg auf den November 1691. S. D. Brückner an J.J. Breithaupt, 07.12. und 18.12 (Eigentliche Nachricht, B2v-B4r u. B4r-C1r = Nr. IV u.V). Zu Graf s. Feustking, Gynaeceum [s. Anm. 11], 324f. 51 Eigentliche Nachricht [s. Anm. 46]; Wahrhafftiger Bericht / Von der Quedlinburgischen Neu=begeisterten und entzückten Magd / Magdalenen Elrichs / Wie dieselbe im Novemb. und December des Jahres 1691. Jahrs zu schwärmen angefangen. Bremen 1703; Näheres s. Spener, Briefwechsel [s. Anm. 7], s.n.; Feustking, Gynaeceum [s. Anm. 11], 569–593.
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ten mindestens ein Vierteljahr52 lang an und zogen sogleich ein zahlreiches Publikum53 an. Unter anderen berichtet der Wolfenbütteler Generalsuperintendent Bartholomäus Meyer (1644–1714) an Johann Wilhelm Petersen am 31. Dezember 169154 darüber, indem er die Erscheinungen in Halberstadt und Magdeburg deutlich mit einer eschatologischen Naherwartung verbindet. Zugleich bezeugt sein Brief die brieflichen Verbindungen zwischen Rosamunde Juliane von der Asseburg und (der Frau) Sprögel. Ich komme heut von Quedlinburg undt Halberstadt zu Hause wieder, nach dem ich fast die gantze nacht gereiset, [...] Ach! wie haben wir uns doch vorgestern in Quedlinburg und gestern in Halberstadt ergetzet, in dem wir das wort des / Herrn (Glaubens) / der krafft alda gesehen. Zweene Mägde, (die eine dienet bey Herrn Sprögeln) sindt öffters außer sich selbst gesetzet in meiner gegenwart [...]. In Quedlinburg waren bey die 20 persohnen einmüthig bey einander, in Halberstadt ohn | gefehr 24 die alle gott preiseten. In Erffurth ist, wie Herr Dr Breithaubt schreibet, auch eine solche Magd. Ach der Herr Herr gieße doch ferner seinen Geist also auß über seine Knechte und Mägdte, Bruder, wie wollen undt werden wir unß nun freuen, wen es heißen wird: Sie ist gefallen55, wir senden unsere Iudicia56 nun baldt baldt weil ich, oder vielmehr der Herr in mir fleißig antreibet [...] Ein=Liegendes hab an die außerwehlte fräulein Rosamunda geschrieben, weil ich mich nicht länger enthalten konnen, nach dem ich ihrer süßen Brieff an die Frau Sprögeln in Quedlinburg geschrieben gelesen. Ach der Herr schützet unß undt stürtzet Babel. ia ia Halleluja.
Auf Grund der vorgestellten Chronologie und den persönlichen und brieflichen Kontakten der betroffenen Personen untereinander (einschließich des „außerwehlte[n] fräulein“) darf man davon ausgehen, dass diese mitteldeutschen Ereignisse durch die Nachrichten von und die Erfahrungen mit Rosamunde 52 Zum Anhalten der Erscheinungen s. die Briefe von Francke an Spener: (a) 16.01.1692: „Die magd zu Quedlinburg soll noch in ecstasibus continuiren (Spener, Briefwechsel [s. Anm. 7], 68); (b) 15.03.1692 „Von den Quedlinb[urgischen] und Halberst[ädtischen] weiß nicht anders, als daß es noch in vorigem stande ist.“ (Spener, Briefwechsel [s. Anm. 7], 92); (c) 22.03.1692: „Der ecstaticae in Erffurt sol die bißherige Gnade noch bißhero entzogen seyn, darüber sie ängstiglich thun und um Trost bitten soll. Die Halberstätische mag in vorigem zustande gar fein und stille fortgehen. Mit der Quedlinburgischen hat es harte paroxysmos gegeben, daß sie sich mit worten und auch mit Ungedult sich wider Gott versündiget. Da auch die Entzückung aussen blieben. Da man ihr aber eingeredet, ist sie in viele bußthränen gesetzet worden, hat ihre Sünden bekant, und hat sich so bald auch der vorige zustand wiedergefunden. Sonst sind noch unterschiedliche wunderbare Exempel in Quedlinburg und auch in Magdeburg mit einem Knäblein von 7 Jahren das bey [Tag] und Nacht Gesichte siehet geschehen, so nicht wieder so, wie sie mir mündlich erzehlet sind, vorzubringen weiß.“ (Spener, Briefwechsel [s. Anm. 7], 105). 53 Schulz, Sprögel [s. Anm. 8], 56. 54 Landesbibliothek Hannover, LH I, XX, Bl. 34–35: „hora 10½ versp.“ Zu befördern „Citissime“. 55 Apk 14,8. 56 Zu Petersens Sendschreiben von 1691 (Matthias, Petersen [s. Anm. 3], 320f.).
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Juliane von der Asseburg ausgelöst wurden. Wie ihre Eingebungen seit ihrem Kontakt mit den Petersens sich deren chiliastischen Erwartungen anglichen, so wurden auch die neuen Verzückungen immer im Kontext chiliastischer (prämillenniaristischer) Erwartungen erfahren, wie sie die beiden Petersens damals vertraten. Die Möglichkeit der unmittelbaren Offenbarung Gottes in den „Mägden“ (Joel 3,2) und die chiliastische Bibeldeutung erst lösten das pietistische Versprechen der verifizierbaren Erfahrung Gottes ein. Johann Heinrich Sprögels Wahrnehmung der Dinge – auf Grund seiner Besuche 1689 in Leipzig und 1690 in Erfurt57 mit Francke persönlich bekannt – erhellt aus seinem Brief an Francke vom 15. Dezember 1691, insbesondere wenn man ihn mit dem Kommentar von Andreas Achilles (1656–1721)58 kontrastiert, der zu den ersten Zeugen gehörte und der am 13. Dezember 1691 Magdalena Elrich aus Halberstadt allein und dann noch einmal zusammen mit der Halberstädter Magd Catharina Reinecke erlebt hatte.59 elobet sey der HERR / der zu Zion groß Heyl beweiset. WAs der HErr HErr G neulich zu Halberstadt in Hn. Praetorii Hause an dessen Magd erwiesen / ist demselben schon bekandt. Ich vermelde demselben anietzo ein dergleichen / wo nicht herrlicher / welches GOtt nach seiner unergründlichen Güte an meinem Hause erwiesen / und | mache ihn und alle / die in der Liebe Gottes aufrichtig wandeln / einer grossen Freude [vgl. Lk 2,10] / wie ich hoffe / theilhafftig. Es hat neulich GOtt der HERR meine Magd Magdalenen also umgewand / daß ich sie nunmehr vor eine theure Schwester in Christo halte / und ist wohl warhafftig an ihr auch erfüllet worden die Weissagung Joel. II. 28.60 Denn das sie an nechster Mittwoche / als den 9. dieses [Alten Stils] zur Predigt gehet mit meinen Kindern / und ihr das Hertz und Gewissen sehr unruhig ist / dz / wie sie berichtet / sie nicht weiß / wo sie sich lassen sol / überfällt sie alsbald nach verlesenem Text ein sehr süsser Schlaff / dessen sie sich nicht erwehren kan. In diesem Schlaf ist sie sitzen blieben / biß iederman aus der Kirchen gewesen / da sie denn von meinem Kinde angestossen worden / aufzustehen und mit zugehen / alleine man hat sie nicht auffbringen können / und weil ichs alsobald innen worden / bin ich zu ihr hingegangen / und habe sie in folgender positur angetroffen: Ihre Hände lagen gefalten in der Schoß / und ihr Angesichte war in die Höhe gerichtet mit starren offenen Augen61 / als eines / der den Himmel recht betrachtet / dabey war Spener, Briefwechsel [s. Anm. 7], 29f. (Nr. 8, Brief vom 21.08.1690). Biogramm in Spener, Briefwechsel [s. Anm. 7], Brief Nr. 8 Anm. 9; vgl. Pfarrerbuch der Kirchenprovinz Sachsen, Bd. 1. Leipzig 2003, 58: 1690–1693 Oberpfarrer an der Heilig-GeistHospitalkirche in Halberstadt, 1695–1704 Pfarrer in Dornum, seit 1704 nach Amtsenthebung wegen „Enthusiasmus“ ohne Amt Mitarbeiter im Waisenhaus in Halle. 59 Achilles an Francke, 15.12.1691 (Eigentliche Nachricht [s. Anm. 46], A2r-v = Nr. I; Begeisterte Mägde [s. Anm. 11], 87–89). 60 Heutige Zählung: Joel 3,1. 61 Vgl. die Art der Offenbarungen der Rosamunde Juliane von der Asseburg nach Matthias, Petersen [s. Anm. 3], 261f. 57 58
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eine ungemeine Freundligkeit bey ihr zu sehen / und zugleich flossen die Thränen Stromweise über die Backen. Ich redete sie an, sie solte aufstehen, sie antwortet nichts. Ich ergriff sie bey der Hand aufzurichten / alleine es war nichts zu thun / die Hände waren so schwer / als wären sie todt / und sie saß unbeweglich / und veränderte keine Mine. Als ich sie aber zum drittenmal anredete / und fragte / ob sie nicht wolte nach Hause gehen / antwortete sie / Nein; ich fuhre fort zu fragen / warum sie nicht wolte weggehen / was ihr angienge? Sie antwortet: Es wäre ja gar zu schöne / gar zu helle / der HErr JEsus glänzete ja gar zu schöne / welches sie etliche mahl mit sehr freundlichen und freudigen Worten und Thränen wiederholete. Und dieses sahen und hö- | reten mit an der Organist / Herr Werckmeister / AEdituus62. Da sonderlich der erste sie fleißig betrachtete / und darüber erstarrete. Kurtz / sie war also aus sich selbst gesetzet / daß ich sie wie ein Kind muste lassen durch einen Knaben bey der Hand nach Hause leiten. Als sie nun ins Haus kommen / und meine Frau ansichtig war / da gieng die Freude wieder an / und kunte ein Thränen dem andern kaum weichen / dabey war ihr stetes Wort: Es war ja gar zu schöne. Von derselben Stunde an / da sie ausser sich selbst gesetzet wird / und zwar also / daß sie bey offenen Augen nichts siehet / und hilfft kein schreyen / kein ruffen / kein schütteln / kein anstreichen / sie ist wie todt / nur daß der Athem gar sachte gehet / und sie gar schöne dabey aussiehet / und so bleibet sie öffters ein Viertel= offt eine halbe Stunde / öffters auch kürtzere Zeit sitzen / dabey redet sie wenig / aber wenn sie gefraget wird / antwortet sie gar verständig / und weiß die dicta Scripturae Sacrae, darauff sie sonst wenig Acht geben / (denn sie war ein grundböses Mensch / wie sie es ietzt und gar gerne und ungefragt gestehet / aber sie war es) also auff sich zu appliciren / daß sich iedermann / wer es höret / und sie vorhero gekandt hat / darüber verwundert. Sie nimmt auch fast bey allen an sie abgehenden Fragen63 Gelegenheit von der Reinigkeit des Hertzens zu reden / saget / GOtt wolle ein gantz reines Hertze haben / es müsse der Mensch an keinem eintzigen Dinge mit dem Hertzen kleben / ausser blos an GOtt / man müsse die Welt nicht lieben / noch was in der Welt ist. Sie mercket gar genau die List und Verführung des Satans / der ihr unterschiedliche Gelegenheit giebet zum Zorn und Fluchen / als welchem sie bisher gantz ergeben gewesen / und weis solches zu evitiren / sagt / Christus sey mächtiger in ihr. Ich habe sie nach dem Paroxismo gefraget / wo sie gewesen / Sie antwortet: Bey Christo. So | sind ihre Worte. Gefragt / was derselbe mit ihr geredet? Solche Wort / die kein Mensch aussprechen kan. Sie will von nichts wissen / als von Christo / der müsse im Hertzen seyn / spricht sie. Sie vermahnet / man solle nicht nur mit dem Munde / sondern mit dem Hertzen beten / der äussere Tempel und steinernes Haus mache es nicht aus / man müsse den rechten Tempel / das Hertz / mit vor GOtt bringen. [...]
Küster. Zu der Praxis, Fragen an die Ekstatikerinnen zu stellen, vgl. Matthias, Petersen [s. Anm. 3], 281–291, 296–298. 62 63
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s ist dieses ein solches Werck / dergleichen wol nicht neulich geschehen / und E gestehe ich gerne / daß meine Vernunfft hierüber zuschanden wird. Mein werther Bruder / rede doch mit den lieben Herrn D. Spenern / [...] aus dieser Sache / und lasse mir doch ohnbeschwer ihre Meynung davon wissen. [...] Der HErr HErr aber kehre aller Hertzen zu ihm / und erbaue dadurch sein werthes Zion / auf daß die Ehre seines Reichs groß / und die Herrligkeit seinees Nahmens ausgebreitet werde etc. Der HERR sey ihrer aller Schirm.64
Es fällt auf, dass Sprögel – explizit anders als Andreas Achilles – seine Magd objektiv in Ekstase wahrnimmt (vgl. 2Kor 12, 2–4). Achilles schreibt dagegen in Kenntnis des Briefes von Sprögel am 16. Dezember 1691: er Anhang / den ich auf Hn. Sprögels Verlangen darzu gesetzet / wird dem Bruder D [i.e. Francke] meine einfältige / weiß nicht / ob auch tadelhaffte Meynung anzeigen / dieses kan ich ungemeldet nicht lassen / daß ich auff Entzückung nicht sehe / wohl aber auff die Krafft der Heiligung / welche der HErr / der Barmhertzige an den Armen / seinen lieben und unmündigen Kindern erzeiget.65
Eine Entzückung, wie sie Sprögel zu erkennen glaubt, ist gegenüber der „Krafft der Heiligung“ ein außerordentliches, göttliches Gnadenmittel und setzt also ein massiveres Einwirken Gottes in der Geschichte voraus, als es bei der „Krafft der Heiligung“ der Fall ist. Sprögel sieht in seiner Magd Gott selbst unmittelbar am Werk und kann daher endigen mit dem Gebetsruf um eine allgemeine Bekehrung („aller Hertzen“) und die weitere Ausbreitung des Reiches Gottes auf Erden. Bei Sprögel, dem es bislang allein um ein ernstes Christentum (Heiligung, Intensivierung durch Privaterbauung) ging, kommen hier deutlich chiliastische Erwartungen auf. Sprögel gibt in diesem Zusammenhang denn auch zu erkennen, dass sich für ihn die biblische Prophezeiung von Joel 2,28f. (3,1f.) (vgl. Apg 2) über die Aussendung des Geistes auf Mägde und Knechte (geradezu wörtlich) an seiner Magd erfüllt hat.66 Was Sprögel ferner schreibt, erinnert stark an Franckes Bekehrungsbericht. Dazu zähle ich die von Sprögel augenscheinlich wahrgenommene Bußfertigkeit seiner Magd, deren übergroße Rührung und überschäumende Freude. Bekanntlich hat Francke zumindest für seine Person gemeint, diese starken Empfindungen allein auf Gott als unmittelbaren Urheber zurückführen zu können.
64 Sprögel an Francke, 15.12.1691 (Eigentliche Nachricht [s. Anm. 46], A4r-B2r = Nr. III; Begeisterte Mägde [s. Anm. 11], 92–98). Francke war damals noch in Berlin. 65 Achilles an Francke, 16.12.1691 (Eigentliche Nachricht [s. Anm. 46], A3r-A4r = Nr. II, hier A3r; Begeisterte Mägde [s. Anm. 11], 90f.). 66 Vgl. Schulz, Sprögel [s. Anm. 8], 55f., der das deutliche Eintreten von Sprögel für den Enthusiasmus seiner Magd als endzeitliches Phänomen nicht wahrnimmt.
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Schließlich erscheint es mir wichtig, dass Magdalena Elrich die Quedlinburger Pietisten in ihrem eigenen Kampf gegen die steinernen Götzen (Kritik an der äußeren Kirchlichkeit) bestätigt und so für Sprögel selbst zu einem Segenszeichen wird.67 Man fühlt sich durch diesen Enthusiasmus in der eigenen frommen Praxis bestätigt und kann daher nicht glauben, einem Betrug oder einer Täuschung aufgesessen zu sein. Das erklärt die später nur vorsichtig vorgetragene Distanzierung von den problematischen Auswüchsen des Enthusiasmus. Gleichwohl findet sich bei Sprögel (später), wenn man ihn mit Francke als Verfasser der deutschen Widerlegung des Imago pietismi68 sehen darf, auch eine gewisse Unterscheidung zwischen den enthusiastischen Erscheinungen und dem Kernanliegen des Pietismus, die an eine ähnlich Bemerkung von Gottfried Wilhelm Leibniz69 erinnert, die aber auch zum stereotypen Argument des kirchlichen Pietismus70 wird: Danach gehörten der pietistische Heiligungsernst und die enthusiastischen Erscheinungen nur zufällig zusammen. Der Pietismus hänge nicht an den enthusiastischen Erscheinungen.Vielmehr seien enthusiastische Erscheinungen zunächst am Wort Gottes und seinem heiligen Willen (Heiligung) zu prüfen, um überhaupt die Möglichkeit göttlichen Ursprungs in Erwägung zu ziehen. Eine Notwendigkeit, die Erscheinungen „objektiv“ als göttliche Offenbarungen anzunehmen, wird nicht behauptet; sie subjektiv als Gnadenzeichen zu sehen, wird aber auch niemandem verwehrt.71 Voraussetzung dafür ist das Bewusstsein der eigenen christlichen Integrität. Diese Unterscheidung war offenbar eine Folge der Enttäuschungen, die sich schon 1692 einstellten, als augenscheinlich fehlerhafte Aussprachen wahrgenommen wurden und vor allem als moralische Zweifel im Blick auf Inhalt und Trägerinnen der Bezeugungen aufkamen. Nichtsdestoweniger haben alle Pietisten an der Möglichkeit (und gelegentlichen Wirklichkeit) enthusiastischer Eingebungen und Verzückungen immer festgehalten (s. Anm. 93f.).
Vgl. Matthias, Petersen [s. Anm. 3], 259. [Johann Heinrich Sprögel: Abgenötigte Antwort Auff die Charteqve Ebenbild des heutigen Pietismi genant. In welcher diejenigen Irrthümer und Mißbräuche / welche man bißhero denen so genanten Pietisten gantz unverschuldeter Weise beygemessen / zu Rettung ihrer Unschuld gründlich wiederleget werden […]. O.O. 1692. – Zur Identifizierung des Autors dieser anonymen, in den Bibliothekskatalogen Andreas Achilles zugeschriebenen Schrift s. Francke an Spener, 15.03.1692 (Spener, Briefwechsel [s. Anm. 7], 91). 69 Matthias, Petersen [s. Anm. 3], 255. 70 Vgl. Francke, Entdeckung der Boßheit [s. Anm. 44]. 71 Veit Ludwig von Seckendorff: Bericht und Erinnerung Auff eine neulich in Druck Lateinisch und Teutsch ausgestreuete Schrifft / im Latein IMAGO PIETISMI, zu Teutsch aber Ebenbild der Pietisterey / genannt. O.O. 1692, 23f.; vgl. Philipp Jakob Spener: Erklärung / Was von gesichten / erscheinungen und dergleichen offenbahrungen zu halten seye / […] Samt Dessen Theologischem bedencken In sachen Henrich Kratzensteins / und dessen vorgebender offenbahrung. Frankfurt a.d. Oder 1693 (Nachdruck in: Ders.: Berliner Predigten 1693–1701. Eingeleitet von Markus Matthias, Andres Straßberger, Alexander Bitzel und Peter Schicketanz [Spener-Schriften, Bd. 10]. Hg. v. Dietrich Blaufuß. Hildesheim [u. a.] 2015). 67 68
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Auf die weitere Geschichte der begeisterten Mägde72 brauche ich hier nicht näher einzugehen. Mir ging es nur darum zu zeigen, wie sich die Verbindung des mitteldeutschen Pietismus mit Chiliasmus und Enthusiasmus konkret auf den Einfluss des Ehepaares Petersen und die Erscheinung der Rosamunde Juliane von der Asseburg zurückführen lässt. Der allgemeine Hinweis auf apokalyptische Erwartungen im Blick auf die Jahrhundertwende greift insofern zu kurz, als er damit die enge Verbindung beider Phänomene mit der pietistischen Bewegung aus den Augen verliert und sie so (mit der späteren pietistischen Deutung; s.o.) als nur zufällig versteht.Was aus Sicht der späteren (hallischen), auf die Leistungen Franckes hinzielende Historiographie als ein Rand- oder Jugendphänomen verstanden werden kann, dürfte historisch für den mitteldeutschen Pietismus (und seinen Erfolg) konstitutiv gewesen sein. Mit der Schlüsselrolle der Petersens in dem Geschehen lässt sich ferner erklären, warum es gerade die „derben“ chiliastischen Vorstellungen waren, die sich im Enthusiasmus im mitteldeutschen Pietismus Bahn brachen. Im Folgenden wird zu zeigen sein, wie sich auch deren biblisch-exegetische Geschichtsdeutung in diesen Kreisen dauerhaft etablieren und als plausibel durchsetzen konnte.
2. Chiliastische Geschichtsdeutung bei David Israel Dimpel Ich nähere mich meiner Fragestellung nun auf eine zweite Weise, indem ich mich mit zwei Veröffentlichungen von David Israel Dimpel beschäftige. Ich folge damit einer von Friedrich de Boor entdeckten Spur. Für die biographischen Einzelheiten zu Dimpel und seiner Beziehung zu Sprögel sei auf den Beitrag von Christoph Rymatzki in diesem Band hingewiesen. Die Frage, die sich mir stellt, ist, ob der konkrete, durch die Petersens und Rosamunde Juliane von der Asseburg ausgelöste, kirchenkritische und „derb“ chiliastische Enthusiasmus, wie wir ihn noch in den Wirrungen am Ende des Jahres 1692 um Anna Margaretha Jahn in Halberstadt (Lebensdaten unbekannt) beobachten können (angekündigte Totenerweckung, Heilungsversuch an einer Jüdin)73, auf längere Sicht auch die Ausbildung eines biblisch-exegetisch begründeten Chiliasmus und eine bestimmte Art, mit Geschichte zu argumentieren, maßgeblich beförderte. Ein später Vertreter dieser Verbindung von Enthusiasmus und Chiliasmus in Halberstadt und Quedlinburg könnte der zum
72 Petrus Reinisch: Kurtzer Bericht wie die Pietisten auff Chur=Fürstl. Brandenburgischen Befehl nach Inhalt des von der Theologischen und Juristen Facultäten der Universität Jena eingeholten Urthels den 21. May / Anno 1694. aus Halberstadt ausgeschaffet worden / in einem Schreiben an Hn. Constantinum Schützen / Predigern in Dantzig / mit Ubersendung der hierzu gehörigen Beylagen / eilfertig gestellet. O.O. 1694. 73 De Boor, Pietismus [s. Anm. 4], 37f. Vgl. Unfug [s. Anm. 21], 127–130; Feustking, Gynaeceum [s. Anm. 11], 371–377; Mori, Begeisterung [s. Anm. 10], 154–156.
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Freundeskreis von Sprögel gehörende David Israel Dimpel sein.74 Dimpel war nicht nur in den Jahren 1699 bis 1703 Hauslehrer bei der Familie Sprögel in Quedlinburg, sondern wurde auch von Sprögel 1705 als Adjunkt nach Stolp berufen. In den Jahren 1729 und 1730 hat David Israel Dimpel zwei Schriften75 über die Offenbarung des Johannes herausgegeben, die einander ergänzen.76 Die spätere Schrift mit Vorrede vom 12. April 1730 und Widmungszuschrift an Dubislav Gneomar von Natzmer (1654–1739) vom 24. März 1730 ist ein relativ umfangreicher Apokalypse-Kommentar und trägt den Titel: avid Israel Dimpels, || Predigers zu Veßin in Hinter=Pommern, || Exegetische D || Einleitung || in die || Heilige || Offenbarung || St. Johannis || nach Ordnung der Capitel, || mit beygefügten || Erbaulichen Moralien, || oder || heilsamen Lehren u. Nutzanwendungen. || – || Nebst einem || anderen Tractätlein || über die || Offenbarung St. Johannis, || in welchem || die Gesichte und Weissagungen derselben || in ihre Zeiten ordentlich eingewiesen werden. || = || LEIPZIG, || bey Gottlob Benjamin Fromman, || In Verlegung des Züllichowischen Waysenhauses. || 1730.
Das genannte „andere Tractätlein“ ist bereits zur Michaelismesse 1729 angekündigt77 und wohl auch erschienen78 und trägt den Titel:
74 Vgl. seine Erwähnung bei Christoph Rymatzki: Hallischer Pietismus und Judenmission. Johann Heinrich Callenbergs Institutum Judaicum und dessen Freundeskreis (1728–1736).Tübingen 2004, 329–331. 75 Das von mir eingesehene Exemplar befindet sich in der Marienbibliothek Halle a.d.S. (Bibliothek der evangelischen Kirchgemeinde Schneidingen Nr. 234; Sign. MBH Schn 234); die beiden Schriften sind jetzt auch digital zugänglich. 76 Dimpel wird bei Jöcher-Adelung 2, 1787 [ND 1960], 704 nur als Verfasser der Einleitung genannt, doch ergibt sich aus Hinweisen in den Vorreden zu beiden Schriften, dass er auch der Verfasser der zweiten Schrift gewesen ist. NB: Die dem Nachdruck von Jöcher-Adelung zugrundeliegende Ausgabe nennt als zweiten Vornamen „Christian“ statt „Israel“. Es handelt sich um einen Irrtum in dem für den Nachdruck benutzten Druck. In der in der ULB Halle vorhandenen Originalausgabe lautet der zweite Vorname Israel (vgl. ULB KR 9–28). 77 Vgl. den Hinweis in der Vorrede der Eröfneten Thür (s. folgende Fußnote) und dem Verlagskatalog des Verlages, wo beide Schriften notiert sind: CATALOGVS || Derer Bücher, || welche || in Verlegung || des Züllichower Waysenhauses || ediret und bisher herausgekommen sind. [2 unpaginierte Blätter, angebunden an Dimpel, Einleitung 1730]. Es werden 8 Titel aufgezählt, darunter an dritter Stelle Dimpels Einleitung und an achter Stelle die Eröfnete Thür [s. Anm. 78]. 78 In der Vorrede zu der Schrift Eröfnete Thür [s. Anm. 86] vom 15. August 1729 verweist der ungenannte Verfasser darauf, dass zur Ostermesse 1730 ein grösseres Werk erscheinen soll, dass die Offenbarung nach Ordnung der Kapitel behandeln und daraus Nutzanwendungen ziehen werde (ebd. A 7r). Das Werk sei von einem vornehmen Theologen einer berühmten Universität als der Analogie des Glaubens gemäß beurteilt worden (ebd., Bl. A 6v). Beide Schriften bezögen sich aufeinander. In einer Anmerkung (*) auf S. A 8r bemerkt der Verfasser, dass dies größere Werk bereits im Ostermessekatalog 1729 für die Michaelismesse 1729 angekündigt, die Veröffentlichung aber durch gewisse Umstände verhindert worden sei.
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ie durch den || Schlüssel Davids || Eröfnete Thür, || Zum Verständniß der Heil. D || Offenbarung || JESU CHRISTI. || Das ist: || Eine kurtzgefaßte, aneinanderhangende || deutliche Beschreibung || des gantzen Zustandes der || Kirchen Neuen Testaments, || so wol || In ihrer Verborgenheit und Erniedrigung, || als auch || In ihrer Offenbarung und Verherrlichung. || Nach und aus den Gesichten und Weissagungen || Der Heil. Offenbarung, || wie sie der Zeit nach auf einander folgen || und zu ordnen, || mit Zuziehung anderer || Schrifft=Oerter || erleutert und bestätiget || Von einem Mitgenoß am Trübsal, (Gesch. 14, 22.) und || am Reich (2. Tim. 4, 8.18.) und an der Gedult || (2. Tim. 2, 11.12.) JEsu Christi. (Offenb. 1, 9.) || = || Züllichow. In Verlegung des Waisenhauses, 1730. || bey Gottlob Benjamin Frommann.79
Wie die Vorrede80 der Einleitung explizit betont, folgt diese spätere, exegetische Schrift dem auszulegenden Text der Offenbarung des Johannis, während die bereits zur Michaelismesse 1729 erschienene Eröffnete Tür in der Weise gleichsam die Lehren aus der Exegese zieht, dass sie den chronologischen Verlauf der zum großen Teil zukünftigen (Kirchen-) Geschichte konstruiert, also aus den Visionen der Apokalypse eine chronologische Zukunfts-Geschichte aufbaut. Aus Dimpels Vorwort zu seiner Einleitung lassen sich einige charakteristische, geistesgeschichtliche Positionsbestimmungen81 für ihn entnehmen: (1) Dimpel legt die Johannesoffenbarung aus vor dem Hintergrund eines radikalen, nunmehr theoretischen Atheismus, dem zufolge Religion keineswegs natürlich gegeben sei, sondern nur durch Unterweisung (Tradition) weitergegeben werde, ja letztlich auf Betrug zum Zwecke der Sicherung der Machtposition82 gegenüber Untergebenen beruhe.83 Das ist eine deutlich schärfere Position als die des praktischen Atheismus aus den Anfängen des Pietismus, obwohl bereits Spener in Frankfurt solche Positionen kannte.84
79 Damit erhält der bei Rymatzki als Institutsfreund geführte Waisenbuchhändler Frommann nicht nur seine Vornamen, sondern aus dem beigefügten Bücherkatalog erfährt man auch etwas aus seinem Publikationsprogramm. Zugleich wird ein Zusammenhang zwischen den Freundeskreisen in Züllichau und Stolp erkennbar, der von Rymatzki (Judenmission [s. Anm. 74], 329) bei der Spendensammlung von Schiffert genannt, aber nicht erklärt wird. 80 Dimpel, Einleitung [s. Anm. 75],Vorrede, 73. 81 Vgl. für die frühere Zeit: Hans Schneider: Die unerfüllte Zukunft. Apokalyptische Erwartungen im radikalen Pietismus um 1700. In: Jahrhundertwenden. Endzeit- und Zukunftsvorstellungen vom 15. bis zum 20. Jahrhundert. Hg. v. Manfred Jakubowski-Tiessen [u. a.] Göttingen 1999, 187–212. 82 In der Tat sieht Dimpel die Gotteserkenntnis als Fundament für jede Moral (Dimpel, Einleitung,Vorrede, 16); vgl. seine implizite Kritik an Descartes (Dimpel, Einleitung [s. Anm. 75], Vorrede, 16). 83 Dimpel, Einleitung [s. Anm. 75],Vorrede, 4f. V gl. die Kritik am Deismus (Dimpel, Einleitung, ebd.,Vorrede, 15). 84 Vgl. Philipp Jakob Spener: Briefe aus der Frankfurter Zeit. Hg. v. Johannes Wallmann. Bd. 1. Tübingen 1996, Brief Nr. 1, Z. 79–84 (an Gottlieb Spizel, 21.09.1667).
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Dimpels traditionelle Apologie einer natürlichen Religion aus dem Gewissen85, dem Konsens der Völker und der heiligen Schrift bietet keine neuen Einsichten und war daher nicht geeignet, den radikalen Atheismus zu beeindrucken. Es liegt die Vermutung nahe, dass die in seiner Auslegung der Johannesapokalypse vorgenommene mögliche Konstruktion einer heiligen Endzeitgeschichte aus den Prophezeiungen der Offenbarungen des Johannis eine weitere Strategie gegen diesen Atheismus ist, indem sie die vorhergesagte Wiederkunft Christi historisch – und das heißt mit der wissenschaftlichen Methode der Zeit – als möglich und die Bibel als wahrhaftig zu beweisen sucht, eben als Zukunftsgeschichte. Da diese Geschichte in den Augen des Verfassers exegetisch nicht widerlegt werden kann, ist sie inhaltlich glaubhaft und – für den Gläubigen – durch die Schrift formal autorisiert. Dabei gibt sich Dimpel deutlich als Anhänger einer pietistischen Hermeneutik86 und einer Gnadentheologie87 zu erkennen.88 Wie nämlich die natürliche Gotteserkenntnis für die Seligkeit nicht ausreiche,89 so bedürften auch die Moral und die exegetische Erkenntnis einer besonderen göttlichen Gnade, die über die natürlichen Gaben hinausgehe. (2) Aufschlussreich ist in diesem Zusammenhang Dimpels Reflexion über die verschiedenen Formen der göttlichen Offenbarung (aus dem Licht der Gnade). Zunächst differenziert Dimpel zwischen ordentlichen oder mittelbaren und außerordentlichen oder unmittelbaren Offenbarungen.90 Letztere unterscheidet er nochmal mit viel biblischen Belegen in solche, die die äußerlichen Sinne (Gesicht und Gehör) affizieren, und in solche, die innerlich geschehen, nämlich in der Entzückung, im Traum oder in einer plötzlichen Erleuchtung oder in einer das Gemüt ganz erfüllenden Eingebung.91 Damit einhergehen Kriterien für falsche Prophezeiungen.92 85 Interessanterweise kehrt sich Dimpel hier gegen eine Auslegung von Röm 1, 17, die diese Kardinalstelle natürlicher Gotteserkenntnis so umdeutet, als ginge es Paulus nur um die Verurteilung derer, die das Evangelium nicht angenommen haben, nachdem es ihnen offenbart worden sei. 86 Vgl. Dimpel, Einleitung [s. Anm. 75], Vorrede, 44: „Wer nun solchen Willen thun will, der wird erkennen, ob diese Lehre von GOTT sey. (Joh. 7. v. 17.)“; vgl. Markus Matthias: ‚Enthusiastische‘ Hermeneutik im Pietismus, dargestellt an Johanna Eleonora Petersens „Gespräche des Hertzens mit GOTT“ (1689). In: PuN 17, 1991, 36–61 bes. 53–55. 87 Dimpel, Einleitung [s. Anm. 75],Vorrede, 21. 88 S. die Hinweise auf den ersten Traktat von: Johann Caspar Schade: Drey nachgefundene vortreffliche Schrifften: 1. Merckwürdige und erbauliche Erzehlung, von seinen schweren Anfechtungen, 2. Wegweiser zur Seelen-Ruhe, 3. Glaubens=Spiegel zur Hertzens=Prüfung [...]. Leipzig und Stendal 1710 (Dimpel, Einleitung [s. Anm. 75], 14) und auf das Gutachten der Kieler Theologischen Fakultät: RESPONSUM der Hochloebl. Theologischen Fakultat […] Kiel / Die Gewisheit und Versicherung der Erhoerung des Gebets betreffend/ In einem besondern Casu, auf vorhergegangene Anfrage ausgefertiget Anno 1685 Und zu allgemeiner Erbauung zum Druck befoerdert Anno 1695 (Dimpel, Einleitung, V orrede, 32; vgl. Spener, Briefwechsel [s. Anm. 7], Brief Nr. 102 Anm. 2 und 3). 89 Dimpel, Einleitung [s. Anm. 75],Vorrede, 17. 90 Dimpel, Einleitung [s. Anm. 75],Vorrede, 28ff. 91 Dimpel, Einleitung [s. Anm. 75],Vorrede, 29. 92 Dimpel, Einleitung [s. Anm. 75],Vorrede, 38–40.
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Damit macht Dimpel die einzelnen Formen göttlicher Offenbarung von der Ekstase bis zur Erleuchtung über einen Bibeltext zu unterschiedlichen Spezies der einen übernatürlichen Offenbarung Gottes. Obwohl Dimpel für den Normalfall dafür plädiert, dass die Erforschung von Gottes Willen aus dem ordentlichen Mittel, also der Bibel, zu erfolgen hat, hält er entsprechend explizit an der Möglichkeit der außerordentlichen Offenbarung „noch heutiges Tages“ fest und beruft sich dafür mit ausführlichen Zitaten auf August Hermann Francke93 und Joachim Lange.94 (3) Dimpel hält die Beschäftigung mit der Johannesoffenbarung für „erwachsene“ oder fortgeschrittene Christen für geboten. Die „Wiedergebohrnen“ sollten „nicht immer Kinder bleiben, und Grund legen der Busse von todten Wercken und des Glaubens an GOTT, von der Tauffe u.s.f. […] sondern auch starcke Speise geniessen lernen“. Für Dimpel ist die exegetische Einsicht in die zukünftigen Herrlichkeit ein wichtiges Motiv gegenwärtiger Frömmigkeit95 und zugleich ein Trost angesichts gegenwärtiger Trübsal:
August Hermann Francke: Gewissenhaffte Verantwortung gegen Hn. D. Johann Friedrich Mayers, Professoris Theologi auff der Universität zu Greiffswald, harte und unwahrhaffte Beschuldigungen, So dieser ohnlängst, bey abermaliger edirung seiner ehemals geschriebenen Warnung gegen die Anno 1695. herausgegebene Biblische Anmerckungen, In der Vorrede selbiger Warnung ausschüttet, Welche Vorrede dieser Verantwortung von Wort zu Wort vorgesetzet ist. Halle 1707, 188f. (Dimpel, Einleitung [s. Anm. 75], 45f.): §. 79. „Ja man möchte sagen / daß die Pharisäer doch noch gleichwohl einige obwol auf falschen Grunde beruhende Prüfung angestellet; Wenn aber nun vollends alle Prüfung hinweg geworffen wird / u. auf gut Atheistisch u. Epicurisch / oder damit man nur nicht für einen Fanaticum und Enthusiasten gescholten werde / dieser unlimitirte Satz gestellet wird: Die Gabe der Weissagung hat aufgehöret / oder: Gott läßt keine außerordentliche Dinge mehr geschehen / oder: alle neue Offenbahrungen / Entzückungen / Gesichter u.s.w. sind wider GOttes Wort / und Lug und Trug / oder doch Phantasey und Einbildung / oder wie man sonst die Meynung außdrücken möchte; so folget nothwendig dieses darauß / daß nicht allein alle / die diesen Satz lehren / sondern auch alle / die ihn glauben und annehmen / hinfort alles bloß hin verwerffen / und es für Blend= ja für Teufels=Werck außruffen / was sich nur von dergleichen ausserordentlichen Dingen findet / ob sie gleich nicht die allergeringste Prüfung darüber angestellet / als welche sie auch / vermöge des einmal geglaubten Satzes / im geringsten nicht für nöthig halten können.“ 94 Differenzierend, aber durchaus auch positiv zu unmittelbaren Offenbarungen ist Joachim Lange: Nöthiger Unterricht Von unmittelbaren Offenbahrungen; Und zwar Erstlich insgemein; und dann insonderheit / Von den gantz sonderbaren Agitationibus, Inspirationibus et Effatis, Leibes=Bewegungen / auch vermeinten prophetischen Ein= und Aussprachen / Welche anfangs in Cevennes / einer Landschafft in Franckreich / entstanden / und hernach durch etliche Cevenneser in Engel= und Schottland / auch Hol= und Teutschland / fortgepflantzet worden: Zur heylsamen Prüfung und Warnung; Nebst der Beantwortung eines gewissen dißfalls edirten Sendschreibens / Auf Gutbefinden der sämmtlichen Theologischen Facultät auf der Königl. Preuß. Friedrichs=Universität. Halle 1715 (Dimpel, Einleitung [s. Anm. 75], 47f.). 95 Seine eigene Erkenntnis fasst Dimpel so zusammen: „Ich kan und muß auch zum Preiß meines Heylandes bekennen, daß Er sie bey mir selbst zur Besserung gesegnet, indem ich die Tieffen der Göttlichen Gerechtigkeit, Weißheit und Liebe genauer als vormahls einschauen lernen, wodurch ich mächtig bewogen worden, niemals zu vergessen, daß niemand gecrönet werde, er kämpfe denn recht, und deßwegen mit grössern Ernst dem Ziel zum Kleinod, welches 93
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Jemehr man sich darinnen übet, desto grössere Kraft empfindet man aus denen gnädigen Verheissungen GOttes in der heiligen Schrift, und mit desto standhafterer Gedult erwartet man die gewisse Erfüllung derselben. Denn man erblicket schon vorher, wie die zeitliche und leichte Trübsal eine ewige und über alle Maase wichtige Herrlichkeit schaffe, wenn man nicht siehet auf das sichtbare, sondern auf das unsichtbare.96
Damit entsteht so etwas wie eine Theologie der Hoffnung, die sich nicht auf die (in Christus) geschehene, sondern auf eine künftige und – im Blick auf die noch ausstehenden Verheißungen – umfassendere Erlösung richtet, und diese Erlösung dabei auch als eine geschichtliche und mit der Methode der Geschichtsforschung zu erfassende erwartet. (In vergleichbarer Weise wird man später in der Erweckungsbewegung mit den Gesetzmäßigkeiten der göttlich regierten Geschichte argumentieren.) (4) So ist für Dimpel die Offenbarung Johannis das Buch, das „die väterlichen Verheissungen GOttes von der künftigen Herrlichkeit seiner Kinder so reichlich und nachdrücklich vorgestellet“.97 Der endliche Zweck der Offenbarung der zu erwartenden Zukunftsgeschichte ist die wahre Frömmigkeit, „daß wir von der Finsterniß der Sünden, die uns tumm, erschrocken und träge zu allem Guten machet, befreyet, und hingegen mit der wahren Weißheit, Freude und Geschicklichkeit, GOtt zu erkennen, und seinem | allein guten und heiligen Willen gehorsam zu seyn, begabet werden.“98 (5) Ausdrücklich wehrt sich Dimpel dabei gegen die „mit väterlichen Satzungen eingenommene[n] Gemüther“, die meinen, dass die Erfüllung aller noch ausstehenden Verheißungen im Himmel oder am Ende der Welt99 zu verorten, also keine irdische Hoffnung besserer Zeiten zu erwarten seien, und tritt für den Chiliasmus eines Gottesreiches auf Erden100 einschließlich der Wiederaufrich-
vorhält die himmlische Beruffung in Christo Jesu, nachzujaggen.“ (Dimpel, Einleitung [s. Anm. 75],Vorrede, 57). 96 Dimpel, Einleitung [s. Anm. 75],Vorrede, 52. 97 Dimpel, Einleitung [s. Anm. 75],Vorrede, 54. 98 Dimpel, Einleitung [s. Anm. 75], Vorrede, 3f. Eine ähnliche Indienstnahme der Eschatologie für die Ethik findet sich bei Johanna Eleonora Petersen (Albrecht, Petersen [s. Anm. 28], 248). 99 Dimpel, Einleitung [s. Anm. 75],Vorrede, 58. 100 Dimpel wehrt sich gegen den Verdacht, der Chiliasmus mit Aufruhr identifiziert, unter Berufung auf Caspar Ziegler (1621–1690) (Dimpel, Einleitung [s. Anm. 75],Vorrede, 60–62) und Martin Luther (1483–1546) (ebd., 63f.), indem er sich gleichwohl kritisch gegen die weltliche Obrigkeit wendet und es als ein Kennzeichen der herannahenden letzten Zukunft Christi sieht, dass sich weltliche Herrscher stehts mehr Rechte in geistlichen Sachen anmaßen (ebd., 64– 69, 69–71). Er verweist dafür auf: Johann Gustav Reinbeck: Eine kurtze Erörterung Des Haupt=Inhalts der heiligen Offenbahrung St. Johannis, An statt des Sechszehenden / Siebzehenden und Achtzehenden Beytrages Der Freywilligen Heb=Opffer Zur Prüfung übergeben. Berlin 1718, 757– 771.
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tung eines Jüdischen Königreiches in Palästina ein (unter Berufung auf Joachim Lange101 und Philipp Jakob Spener102). (6) Mit den Petersens teilt Dimpel die Vorstellung einer fortschreitenden Offenbarung Gottes, insofern nämlich auch die jeweils neue exegetische Erkenntnis (durch den „Schlüssel Davids“) gottgegeben sei: „Also ist auch die Offenbahrung des Göttlichen Wesens und Willens mancherley, und eine ist klärer und überzeugender als die andre“103. Das bezieht sich nicht auf die unterschiedliche Klarheit verschiedener Bibelstellen, sondern auf die unterschiedliche Plausibilität der verschiedenen Auslegungen der Johannesoffenbarung im Laufe der Zeit (unterschiedliche Ökonomien Gottes). Sobald man nämlich die Einsicht in die apokalyptische Zukunft als eine besondere Form göttlicher Erleuchtung und als Grund des Glaubens reklamiert, stellt sich ja die Frage nach dem Verhältnis zu früheren pietistischen Auslegungen, die ebenfalls für sich eine göttliche Erleuchtung beanspruchten. Daher muss sich Dimpel auch mit dem Vorwurf auseinandersetzen, die Auslegungen anderer als seine eigene Erkenntnis wiederzugeben. Da für ihn die Erfahrung des geschichtlichen Verständnisses der Offenbarung eine Form gnädiger Erleuchtung ist, müsste die Rezeption anderer Erklärungen damit eigentlich im Widerspruch stehen. Diesen Widerspruch will er aber nicht erkennen, vielmehr sieht er in dem Gebrauch der Auslegungen anderer nur eine Bestätigung seiner eigenen Einsichten und nur gelegentlich eine weiterführende Hilfe: Er habe ft zugesehen und gelesen / was andre über die heilige Offenbahrung geschrieben, o da ich denn in demjenigen, was mir GOTT zu erkennen gegeben, gestärcket worden, und auch wohl mannichmahl ein mehreres Licht zur Vertreibung der Nebel empfunden.104
Entscheidend ist, dass die unterschiedlichen Erklärungen als Stufen einer fortschreitenden Offenbarung (von Wissen) verstanden werden. Der Fortschritt der Offenbarung geschieht nicht „objektiv“ durch neue Offenbarungszeugnisse, sondern „subjektiv“ durch ein durch Gott neu gewirktes tieferes Verständnis der schon immer vorhandenen Offenbarungszeugnisse.
101 Joachim Lange: ANTIBARBARI ORTHODOXIAE Dogmatico-Hermeneutici, sive SYSTEMATIS Dogmatum Evangelicorum, a Pseudevangelicis temere impugnatorum, atque ita simul CONTROVERSIARUM, sub specie orthodoxiae ex impietatis affectu, adversus Theologum Orqodoxόtaton, Beat. D. PHIL. JAC. SPENERUM, […] pseudorthodoxe motarum, TOMUS SECUNDUS, sistens ac vindicans Doctrinam Evangelicam de Fide & Justificatione, nec non de Re Exomologetica, per SECTIONEM Dogmaticam & Hermeneuticam. Berlin 1709, 4, 722–725. 102 Philipp Jakob Spener: Letzte Theologische Bedencken. Halle 1711 (21721), 516f., bes. 517 (12.01.1697) sowie Carl Hildebrand von Cansteins biographische Vorrede (Dimpel, Einleitung, Vorrede, 58–60). 103 Dimpel, Einleitung [s. Anm. 75],Vorrede, 3. 104 Dimpel, Einleitung [s. Anm. 75],Vorrede, 57f.
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Vergleicht man Dimpels Auslegung und seine beiden sich ergänzenden Publikationen mit den Schriften der Petersens und insbesondere mit dem als Initial nicht hoch genug einzuschätzenden Kommentar zur Offenbarung von Johanna Eleonora Petersen105, so stechen viele Gemeinsamkeiten ins Auge.106 Bei dem Apokalypsekommentar der Johanna Eleonora Petersen handelt es sich „im Grunde nicht um einen Kommentar zur neutestamentlichen Apokalypse, sondern um einen Kommentar zu der von J.E. Petersen entwickelten Tabelle […]. Diese Tabelle ordnet die im letzten Buch des NT beschriebene Abfolge der apokalyptischen Geschehnisse zu einem linearen Prozess, der vom Beginn der christlichen Kirche bis zur Ewigkeit reicht.“107 Das Verhältnis von Tabelle und Anleitung bei Johanna Eleonora Petersen entspricht dem Verhältnis von Eröfnete Thür (Apk 3,7; vgl. Jes 22,22–24) und Einleitung bei Dimpel. Johanna Eleonora Petersen hatte in ihrerTabelle sieben „General=Rubricken“ aufgestellt, die für die Zeitalter der „langsamen Offenbarung des Reiches Christi“ stehen.108 Sie stehen (mit Ausnahme der ersten) gleichsam für die noch zu erwartenden Epochen vor dem Ende aller Geschichte (nach 1Kor 15, 28). In diese horizontal aufgeführten Generalrubriken hatte sie vertikal und nebeneinander, aber versetzt 27 „Spezial=Rubricken“ eingeordnet, die die „vornehmste und speciale Materien der Hl. Offenbarung“ wiedergeben. Diese Spezialmaterien stehen für die in der Offenbarung des Johannis angekündigten Geschehnisse, die sich nicht unbedingt mit den einzelnen Kapiteln decken müssen. Als Grundregel musste dabei beachtet werden, dass (wie bei den traditionellen Evangelienharmonien109) die Erzählabfolge der Texte selbst als chronologische Abfolge beachtet wurde, was vor allem durch die Rekapitulationstheorie110 erreicht werden konnte.Weder folgen die unterschiedlichen Geschehen (z. B. Posaunen, Schalen etc.) strikt aufeinander, noch laufen sie genau parallel, sondern sie beginnen eben versetzt und rekapitulieren die Zeiten unter verschiedenen Aspekten (Motiven).111
Johanna Eleonora Petersen: Anleitung zu gründlicher Verständniß der Heiligen Offenbahrung Jesu Christi / welche Er seinem Knecht und Apostel Johanni Durch seinen Engel gesandt und gedeutet hat / sofern Sie in ihrem eigentlichsten letzten prophetischen Sinn und Zweck betrachtet wird / Und in ihrer völligen Erfüllung in den allerletzten Zeiten / denen wir nahe kommen sind / grössten Theils noch bevorstehet / Nach Ordnung einer dazu gehörigen TABELLE, Darinnen die heilige Offenbahrung in der Harmonie der Dinge und Zeiten kürtzlich entworffen ist / Mit einer zur Vorbereitung dienlichen Vor=rede und Dreyfachem Anhange / in wohlmeynender Liebe nach dem Maaß der Gnade mitgetheilet und herausgegeben. Frankfurt, Leipzig 1696. – S. zu diesem Werk Albrecht, Petersen [s. Anm. 28], 245–264. 106 Albrecht, Petersen [s. Anm. 28], 248f. V gl. Matthias, Petersen [s. Anm. 3], 183–193. 107 Albrecht, Petersen [s. Anm. 28], 248f. 108 Petersen, Anleitung [s. Anm. 105], 2. 109 Vorbildlich dürfte hier Kaspar Hermann Sandhagens exegetische Methode gewesen sein (vgl. Matthias, Petersen [s. Anm. 3], 194–196). 110 S. Matthias, Petersen [s. Anm. 3], 183–193. 111 Vgl. Dimpel, Einleitung [s. Anm. 75], 15. 105
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Wenn Johanna Eleonora Petersen und David Isaak Dimpel von ihrer Erkenntnis des „eigentlichen prophetischen Sinnes“ sprechen,112 dann meinen sie damit, „daß abgesehen von den ersten sechs Sendschreiben (Apk 2,1–3,13)113 die ganze Apokalypse als ein noch zukünftiges (‚prophetisches‘) Geschehen interpretiert“114 werden muss, und zwar zukünftig nicht nur für den Seher Johannes, sondern auch zukünftig und prophetisch für den Ausleger der eigenen Gegenwart. Anders als der traditionelle Versuch, die apokalyptischen Bilder mit historischen Ereignissen in Verbindung zu bringen, gehören für Petersen-Dimpel die meisten Bilder einer noch zukünftigen Geschichte an. So kennt Dimpel für die Geschichte der Kirche des Neuen Testamentes sieben Abteilungen oder Zeitalter, in denen die Kirche teils in ihrer (vergangenen oder gegenwärtigen) Verborgenheit und Erniedrigung, zum übergroßen Teil aber in ihrer zukünftige Offenbarung und Verherrlichung lebt. In diese sieben Zeitalter platziert er – unter Beachtung der sachlichen Reihenfolge – die verschiedenen Materien der Offenbarung.Was wir von Johanna Eleonora Petersen als sieben geschichtliche Generalrubriken kennen, das finden wir bei Dimpel als „7. besondere Abtheilungen“ des Zustandes „der Kirchen Gottes Neuen Testaments“ zum Teil wörtlich wieder. Es sind dies: „1. Die sieben Zeiten der Erniedrigung und Uberwindung“ (Petersen: 1. Generalrubrik A: „Von den sieben Zeiten der Erniedrigung“): Apk 2–3, Apk 12–13, Apk 17. „2. Der herrliche Vorschein des Reichs Christi gegen das Ende der sieben Uberwindungs=Zeiten“ (Petersen: 2. Generalrubrik B: „Von dem Vorschein des Reiches Christi“): Apk 3,7–13, Apk 14,8, Apk 6, 1f., Apk 4, 1. „3. Der Anbruch und das Vorspiel der letzten Gerichte GOttes über die böse Welt“ (Petersen: 3. Generalrubrik C: „Von dem Anbruch der letzten Gerichte“): Apk 6,3f., Apk 7,4–8, Apk 6,5–8, Apk 8, 6–13. „4. Die letzte große Trübsal der Kirchen GOttes und völlige Offenbarung des Antichrists“ (Petersen: 4. Generalrubrik D: „Von der letzten grossen Trübsal und völligen Offenbahrung des Antichrists“): Apk 3,14–22, Apk 6,9–11, Apk 11, 3–12, Apk 12, 14, Apk 11,2, Apk 9,1–21. „5. Der große Tag des Zorns und der Zukunfft Christi zum Gerichte dieser argen Welt“ (Petersen: 5. Generalrubrik E: „Von dem grossen Tag des Zorns und der Zukunfft Christi zum Gerichte dieser Welt“): Apk 6,12–17, Apk 11,15–18, Apk 15, 1–8, Apk 16,1–21.
Matthias, Petersen [s. Anm. 3], 185f. Dimpels Zuordnung der symbolisch verstandenen Gemeinden zu bestimmten kirchenhistorischen Epochen stimmt im Wesentlichen mit der von Johanna Eleonora Petersen vorgenommenen Epocheneinteilung überein. 114 Näheres bei Matthias, Petersen [s. Anm. 3], 186–193 und Albrecht, Petersen [s. Anm. 28], 250f. 112 113
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„6. Die tausendjährige Regierung Christi mit seinen Heiligen“ (Petersen: 6. Generalrubrik F: „Von Christi tausend=jähriger Regierung mit seinen Heiligen“): Apk 8, 1, Apk 10, 7, Apk 20,1–6. „7. Die Heimführung der Braut und Uberantwortung des Reichs nach den 1000. Jahren“ (Petersen: 7. Generalrubrik G: „Von Heimführung der Braut / und Uberantwortung des Reiches“): Apk 20, 12, Apk 21–22.115 Wie bei Petersen geben für Dimpel allein Apk 2 und 3 mit den sieben Sendschreiben vergangene (nicht immer klar voneinander zu trennende) Zeiträume wieder und verbinden damit die eigene Geschichte mit der prophetisch-zukünftigen Geschichte der Offenbarung zu einem historischen Kontinuum. Dabei kommt dem vorletzten Sendschreiben oder der 6. Kirchenzeit eine besondere Rolle zu. Das ist die Philadelphische Kirchenzeit, die mit dem Anfang des 16. Jahrhunderts begonnen hat und reicht „bis auf die Zeit, da die Finsterniß zu ihrem endlichen Fall wieder aufs höchste steigen wird, so wir noch erwarten“.116 Dimpel fasst damit die Philadelphische Kirchenzeit weiter auf als nur die eigene pietistische Zeit. Freilich differenziert auch er wie die Petersen, indem er vom „Anbruch [der Philadelphischen Kirchenzeit] ... durch die Reformation“ spricht, dem der V erfall nach der Reformation (Evangelisches Papsttum) folgte, um schließlich die eigene pietistische Zeit als die wahre Philadelphische Kirchenzeit zu charakterisieren: Jedoch ging ums Ende des vorigen Jahrhunderts wieder ein neues Licht auf in der Finsterniß, zwar von kleiner Krafft, aber von großem Seegen, der sich weit und breit ausgebreitet, und der HErr that abermal, und noch ietzt, an vielen Orten eine Thür auf, die niemand zuschließen kan: indem das Licht wieder die tobende Finsterniß unter allerley Secten zu siegen anfängt, und die rechtschaffenen Hertzen, so nach der Wieder=Aufrichtung der (*) wahren Bruder=Liebe und Gemeinschafft des Geistes seufzen, dadurch in ihrer Hoffnung gestärcket werden, daß die herrliche Vollendung der Philadelphischen Gemeine vorhanden seyn müste, wovon die Reformation nur ein Vorspiel und Anbruch gewesen.117
In die Zeit der philadelphischen Gemeinde, die sich über die zweite bis vierte Zeitperiode erstreckt, fallen die Visionen von Apk 4 und 5, die ersten vier Siegel (Apk 6, 1–8) und die ersten vier Posaunen (Apk 8, 2–13). Außerdem gehören hierher Apk 10,1–11. Am Ende dieser sechsten Kirchenzeit setzt Dimpel die Bekehrung der Juden nach Apk 12, 1–6118 und den Fall Babels (Apk 18) an. Daraus erklärt sich Dimpels Einsatz für die Judenmission.
Dimpel, Eröfnete Thür [s. Anm. 78], 2; ders., Einleitung [s. Anm. 75], 8–10. Dimpel, Eröfnete Thür [s. Anm. 78], 18. 117 Dimpel, Eröfnete Thür [s. Anm. 78], 19f. 118 Dimpel, Eröfnete Thür [s.Anm. 78], 23; zu der Deutung dieser Bibelstelle auf die Bekehrung und Heimkehr der Juden nach Palästina s. Dimpel, Einleitung [s. Anm. 75], 518–525. 115 116
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Zu dem Fall Babel zählt Dimpel zunächst das durch die Reformation geistlich besiegte „grobe offenbare Papstthum“. Der Pietismus oder mit Dimpels Worten „das jüngst neu aufgegangene Licht“ würde schließlich „das subtile Babel und Papstthum“, also wohl alle Formen der Orthodoxie zum Einsturz bringen.119 So lässt sich noch in der Philadelphischen Gemeine der „herrliche Vorschein“ des Reiches Christi erkennen wie „der Frühling vor dem Sommer“ nach Hohelied 2, 11f.120 Mit der siebten, der Laodicäischen Kirchenzeit beginnt die eigentliche Zukunftsgeschichte der Offenbarung. Hierher gehöre das fünfte Siegel sowie die fünfte und sechste Posaune. Das 1000jährige Reich121 wird als noch zukünftig erwartet und man darf hoffen, „daß die Christliche Kirche sich alsdenn in einem sehr herrlichen und freudenreichen Zustand befinden werde.“122 „Insonderheit wird alsdenn das wieder aufgerichtete Königreich Jsraels und bekehrte Jüdische Kirche in der untern Kirche auf Erden blühen, und über die bekehrten Heiden auf seine heilige Weise herrschen, gleich wie hinwiederum CHristus mit den verklährten Heiligen der oberen Kirche, die untere Kirche auf eine himmlische Weise regieren wird.“123 Denn da „gehet die tausendjährige Regierung CHristi mit seinen Heiligen an, da das Reich CHristi auf dem gantzen Erdboden blühet in aller Ruhe und Friede.“124 Auch die räumliche Unterteilung des Tausendjährigen Reiches in eine obere, himmlische, „triumphirenden obern Kirche im Paradies GOttes“ und eine irdische, „noch nicht völlig trumphirende untern Kirche auf Erden“125 ist wieder bekannt aus den chiliastischen Lehren der Petersens einschließlich der von Dimpel vertretenen Lehre von der ersten Auferstehung der Gerechten zu Anfang der Tausend Jahre nach Apk 20,4f.126 In die obere Kirche gehören also die wahren Christen, die sich schon vor Christi Wiederkunft zu ihm bekannt haben, zur irdischen Kirche „die Christum in der Zeit des Creutz=Reiches nicht angenommen, sondern sich an dem Geheimnis des Creutzes geärgert haben“ sowie die „zur letzten Zeit bekehrten Juden“ und Heiden. Entsprechend gehört zu diesem leiblichen Reich Christi auch der Wiederaufbau der Stadt Jerusalem und des Tempels. Das bekehrte Israel werde sich „auf Erden sehr mehren“ entsprechend der abrahamitischen Verheissungen.127
Dimpel, Eröfnete Thür [s. Anm. 78], 23. Dimpel, Eröfnete Thür [s. Anm. 78], 27. 121 Dimpel, Einleitung [s. Anm. 75], 779–818. 122 Dimpel, Einleitung [s. Anm. 75], 788. 123 Dimpel, Einleitung [s. Anm. 75], 789. 124 Dimpel, Eröfnete Thür [s. Anm. 78], 68. 125 Dimpel, Eröfnete Thür [s. Anm. 78], 73. 126 Dimpel, Einleitung [s. Anm. 75], 806. 127 Dimpel, Eröfnete Thür [s. Anm. 78], 86. 119 120
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er neue Himmel aber ist der verneuerte Zustand der Kirchen GOttes, an welchem D neuen Kirchen=Himmel Christus als die Sonne, seine Braut als der Mond und die Lehrer der Gerechtigkeit als Sterne leuchten werden.“ „Die neue Erde ist der verneuerte herrliche Zustand des Policey=Regiments, welches von gottseligen Regenten wird geführet werden, die auch ihre Herrlichkeit in das neue Jerusalem bringen etc.128
Die Auslegung selbst (Exegetische Einleitung in die Heilige Offenbarung), die als Unterweisungsgespräche im Frage-Antwort-Schema konzipiert ist, versucht die Glaubwürdigkeit der von Dimpel vorgetragenen Deutung zu untermauern. Dabei antwortet Dimpel mit kirchenhistorischen Quellen, kirchengeschichtlichen Befunden und zahlreichen biblischen Parallelen (einschließlich biblischer Zahlensymbolik). Durch den angestrebten Aufweis der innerkanonischen Zusammenhänge ist Dimpels Arbeit gründlich und ausführlich. Wie in der Bibelauslegung der Zeit üblich, schließen sich an die eigentliche Exegese aus dem Text zu ziehende „Lehren“ an, die den Leser dazu bringen sollen, sich an der zu erwartenden Zukunft Gottes zu erbauen. Das Ziel besteht offenbar darin, einen in der zukünftigen Geschichte erfahrbaren Gott zu proklamieren, wie er sich in dem früheren Enthusiasmus anzukündigen schien. Allerdings wird diese Zukunft jetzt in eine chronologisch unbestimmte Zukunft projiziert. Auffälligerweise arbeiten ja weder Dimpel noch Johanna Eleonora Petersen mit chronologischen Berechnungen. Diese Besonderheit erhellt aus dem Vergleich mit zeitgenössischen, orthodoxen Auslegungen wie der von Caspar Heunisch (1620–1690) oder von Henning Löning (1651–1706). Walter Sparn hat Heunisch und seinem Hauptschlüssel von 1684129 eine kleine Studie gewidmet und darin Heunischs Kommentar als einen antichiliastischen Kommentar zur Offenbarung des Johannes interpretiert.130 Nach Sparn profiliert sich Heunisch, indem er seine arithmetisch-chronologische, ja im eigentlichen Sinne minutiöse Methode einer historischen entgegensetzt, bei der man versucht, die „Historien“ der Visionen mit geschichtlichen Ereignissen zu identifizieren, dabei aber vage bleiben muss, solange man seiner Interpretation keinen strengen chronologischen Rahmen unterlegen kann. Der Nachteil der traditionellen historischen Auslegung (etwa
Dimpel, Eröfnete Thür [s. Anm. 78], 70. Caspar Heunisch: Haupt=Schlüssel über die hohe Offenbahrung S. Johannis / Welcher durch Erklärung aller und jeder Zahlen / die darinnen vorkommen / und eine gewisse Zeit bedeuten / zu dem eigentlichen und richtigen Verstand Oeffnung thut. Schleusingen 1684 (ND Basel 1981), 2Frankfurt 1698. 130 Walter Sparn: „Zeit=Ordnung“. Der Antichiliastische Haupt-Schlüssel über die hohe Offenbarung S. Johannis von Caspar Heunisch (1684). In: Ders.: Frömmigkeit, Bildung, Kultur. Theologische Aufsätze I: Lutherische Orthodoxie und christliche Aufklärung in der frühen Neuzeit. Leipzig 2012, 293–317 (-318 [Nachwort]); vgl. Speners Brief an Heunisch vom 01.04.1681 (Philipp Jakob Spener: Briefe aus der Frankfurter Zeit. Hg. v. Johannes Wallmann. Bd. 5. Tübingen 2010, Brief Nr. 28). 128 129
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von Johannes Coccejus [1603–1669]) besteht ferner darin, dass damit noch keine Aussage für die Zukunft getroffen werden kann. Orthodox ist Heunischs Kommentar auf Grund der folgenden Merkmale: (1) Nach Heunisch hat das Tausendjährige Reich schon begonnen. Die Dauer der Kirchengeschichte des Neuen Testamentes seit Pfingsten (33 n.Chr.) beträgt 2400 Jahre, innerhalb deren das auf 985 Sonnenjahre umgerechnete prophetische131 Tausendjährige Reich (und das „Himmlische Jerusalem“ nach Apk 21,2 als die gegenwärtige ecclesia militans) schon um 750 n.Chr. begonnen hat, so dass er selbst darin (sowie in der Sardischen Kirchenzeit [Apk 3,1–13], der Zeit des fünften Siegels [6,9–11], der fünften Posaune [Apk 9,1–12] und der ersten Schale [Apk 16,1f.]) lebt; durch seinen späteren Ansatz des Beginns des Tausendjährigen Reiches gewinnt Heunisch noch zeitlichen Raum, um der nach dem Dreißigjährigen Krieg schwindenden apokalyptischen Naherwartung Rechnung tragen zu können. Heunisch rechnet nämlich mit dem Ende des Tausendjährigen Reiches um 1734, mit dem apokalyptischen Welten- und Zeitenende erst im Jahre 2398. (2) Orthodox ist seine Auslegung auch darin, dass er heilsgeschichtlich keine neuen Ereignisse erwartet, weder eine Judenbekehrung noch ein besonderes Gottesreich auf Erden. (3) Orthodox ist schließlich der sich auf Matthias Hoffmann († 1667) berufende Versuch, allein aus der angenommenen biblischen Zahlensymbolik eine göttliche Zeitordnung zu erheben, die als chronologischer Maßstab für die Deutung der Visionen anzunehmen ist. Entsprechend ist sein ganzer Kommentar aufgebaut als eine Auslegung der biblischen Zahlen. Das Gleiche lässt sich auch für den Offenbarungskommentar132 von Henning Löning (1651–1706) sagen, der seit 1678 Pfarrer in Borgholzhausen,133 der Heimat des bekannten Exegeten Kaspar Hermann Sandhagen (1639–1697),134 war. Während beide (spät-) orthodoxe Werke sich chronologisch wie sachlich auf das Ende der Geschichte festlegen (und daher auch Philipp Jakob Spener nicht überzeugen konnten), fehlt eine solche Festlegung bei Petersen wie Dimpel sowohl für das Weltende als auch für die Wiederkunft Christi. Beide erwarten mit der Zu-Kunft (Christi) die Erfahrung eines noch umfassenderen Heilshan-
131 Nach Apk 11,11 in Verbindung mit 11,3 und 12,6 beträgt ein prophetisches Jahr 360 Tage, also ein Sonnenjahr minus 5 Tage, 5 Stunden und 49 Minuten. 132 Henning Löning: Augenscheinlicher Beweiß auß denen Wahrbefundenen Weissagungen / daß die Bibel GOttes Wort sey. Gezeiget durch Fürstellung der Offenbahrung S. Johannis in solcher Zeit=Ordnung/ die Gott selber angewiesen. Samt einer deutlichen / und kurtzgefaßten Tabell. Verfertiget von Henning Löning / Prediger der Gemeine Gottes zu Borchholtzhausen unterm Ravensberge Anno 1684. Mense Augusto. – zu Amsterdam / gedruckt bey der Witwe von C. Cunradus. 133 Friedrich Wilhelm Bauks: Die evangelischen Pfarrer in Westfalen. Bielefeld 1980, Nr. 3783; vgl. Speners Brief an Löning vom 10.01.1689 (Philipp Jakob Spener: Briefe aus der Dresdner Zeit, Bd. 3. Hg v. Johannes Wallmann u. Udo Sträter. Tübingen 2013, Nr. 5). 134 Vgl. Matthias, Petersen [s. Anm. 3], 193–196.
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deln Gottes. Offenbar lässt das neue Zeitgefühl eine endliche Zukunft (Naherwartung eines Endes der Geschichte) nicht mehr zu. Kennzeichend für Petersen und Dimpel ist, dass sie ihre Zukunftsgeschichte im Rahmen einer Apokalyptik verorten, die eigentlich keine (Menschheits-) Geschichte mehr ist, weil sie unter dem Zeichen der Glorie Christi steht. Insofern ist diese Eschatologie pietistisch-konservativ; sie rechnet nicht mit einer innerweltlichen Gnadenzeit, sondern mit dem Ende der (alten) Geschichte durch die erste Zukunft Christi. Für Petersen wie für Dimpel gilt, dass an die Stelle der enthusiastischen Ereignisse am Ende des 17. Jahrhunderts die mit wissenschaftlichem Anspruch auftretenden, aber geistgewirkten chiliastischen Spekulationen der Wiedergeborenen getreten sind. Was wir bei Dimpel, eine Generation nach den Petersens, beobachten können, ist der anhaltende Versuch, die „Geschichtsfähigkeit“135 der Johannesapokalypse zu demonstrieren, also aufzuzeigen, dass die unter den Visionen verborgenen Prophezeiungen der Zukunft Jesu Christi sich in ein lineares historisches Endzeit-Geschehen einfügen lassen. Geschichtsschreibung und Erforschung des zu erwartenden geschichtlichen Ablaufs sind nun die Methoden der religiösen Selbstvergewisserung der Wiedergeborenen. Man hat den Eindruck, dass allein eine in den Kategorien der Geschichte zu projektierende Eschatologie gegen den (auch eigenen?) Atheismus einen Halt bieten kann. Zugleich dürfte deutlich geworden sein, dass das Ehepaar Petersen mit ihren chiliastischen „Sonderlehren“ eine enorme und dauerhafte Bedeutung als pietistisches Glaubenskonzept hatte. Für Francke bleibt zu klären, ob sich bei ihm eine (bewusste) Wendung von einem Prämillenarismus (Petersens) zu einem Postmillenarismus (Spener) beobachten lässt.
Vgl. Matthias, Petersen [s. Anm. 3], 188.
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Christoph Rymatzki
David Israel Dimpel (1678–1740) als Mitarbeiter Sprögels in Stolp und die Beziehungen zum Halleschen Pietismus nach Sprögels Tod Meinem theologischen Lehrer und Ephorus im Tholuck Konvikt Friedrich de Boor zum 85. Geburtstag, der diesen Beitrag angeregt hat Mit David Israel Dimpel kommt ein Schüler und Wegbegleiter Johann Heinrich Sprögels in den Blick, der zugleich einen Ausblick auf die Entwicklung des Pietismus in Hinterpommern nach Sprögels Tod zulässt. Ausgehend von der Vita werden zunächst Dimpels Bezüge zu Sprögel herausgestellt und seine spätere Funktion als Verbindungsperson Hinterpommerns zum Waisenhaus in Halle, insbesondere sein Engagement für die Mission. Die Würdigung seines theologischen Wirkens anhand zweier zentraler Publikationen Dimpels wird im Beitrag von Markus Matthias in diesem Band ergänzt. David Israel Dimpel wurde als erstes Kind des Pfarrers Christian Dimpel und seiner Ehefrau Barbara, geb. Werbig, am 24. Januar 1678 in Brehna bei Halle geboren, wo der Vater seit einem Jahr die Pfarrstelle innehatte. Christian Dimpel war aus Delitzsch gebürtig – was für den Sohn noch von Bedeutung sein sollte – studierte in Leipzig und Wittenberg Theologie und legte die Magisterprüfung in Leipzig 1674 ab,1 bevor er im selben Jahr seine erste Pfarrstelle in Landsberg antrat. Im Jahr darauf, am 6. September, heiratete er die Schmiedeberger Bürgermeisterstochter Barbara Werbig. Zwei Jahre später, 1677 ging er dann als Oberpfarrer nach Brehna, wo ihm außer dem Sohn noch am 12. August 1679 die Tochter Justina Sophia geboren wurde. Ein Jahr später, am 5. Juni 1680, verstarb Christian Dimpel an ‚hitzigem Fieber‘ und hinterließ den zweijährigen David Israel und dessen jüngere Schwester. Im Jahr darauf, am 14. November 1681, bekam Barbara Dimpel noch ein drittes Kind, Beate. Witwe und Kinder waren inzwischen vermutlich in die Heimat der Mutter, nach Schmiedeberg zurückgekehrt. Dorthin kam im Frühjahr 1683 ein neuer Schulrektor, der am
1 Vgl. Pfarrerbuch der Kirchenprovinz Sachsen. Hg. v. V erein für Pfarrerinnen und Pfarrer in der Evangelischen Kirche der Kirchenprovinz Sachsen. Bd. 2. Leipzig 2005, 329. In der Disputation unter Valentin Alberti in Leipzig 1674 ist Christian Dimpel als „David Dimpel“ notiert, vgl. Disputatio E Theologia Naturali De Influxu Dei; Praeside Dno. D. Valentino Alberti. 22.12.1674. Leipzig, 1674.
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6. September 1683 Barbara Dimpel heiratete. Es handelte sich um Gottfried Barth, einen Tuchmachersohn aus Torgau, der nach dortiger Schulausbildung und frühzeitigem Tod der Eltern seine Schulbildung in Braunschweig fortsetzte, wo er insbesondere eine musikalische Ausbildung genoss. 1680 ging er zum Studium nach Helmstedt, von wo er nach einem halben Jahr nach Wittenberg wechselte. Eine Krankheit, die ihn bereits von Kind an beeinträchtigte, zwang ihn jedoch 1683 zum Abbruch des Studiums und zur Annahme des Schulrektorats in Schmiedeberg. Im selben Jahr noch bewarb er sich um das Schulrektorat in Delitzsch, das er auch erhielt und am 16. Januar 1684 antrat. Zudem versah er die inzwischen vakante Stelle des Kantors mit. Das Rektorat in Delitzsch hatte er bis zum 13. Mai 1723 inne. So kam schließlich der fünfjährige David Israel Dimpel in die Heimat seines Vaters, nach Delitzsch und wuchs hier auf.2 Gottfried Barth äußerte sich rückblickend darüber gegenüber August Hermann Francke: „Sein seel[iger] Vater, gewesener Pastor in dem benachbarten Brena hat ihn nach Gottes willen in dem 2ders jahr seines kindl. Alters mit noch 2en Geschwister in kümmerlicher Dürftigkeit verlassen, und ich habe ihn vom 5ten jahr an in meiner education gehabt“.3 Dimpel wuchs somit unter dem Einfluss Barths auf, der sich als „eigensinnigher Pietiste“ von seiner Umgebung stigmatisiert sah, aber auch bewusst dazu stand.4 Wie Barth eine engere Bindung ans Hallenser Waisenhaus gewann, ist noch ungeklärt, aber ein reger, sehr vertraulicher Briefwechsel zwischen Barth und August Herrmann Francke sowie Heinrich Julius Elers aus den Jahren 1698 bis 1709 dokumentiert gute Beziehungen zu A.H. Francke und dem Waisenhaus in dieser Zeit.5 So ermutigte er Francke 1698/99 in Zeiten der Anfeindung, gratulierte zum Rektorat 1716, bezog und vertrieb Bücher vom Waisenhaus in Delitzsch, mahnte aber auch gegen Heuchelei in der Anstaltserziehung und das Nichtermöglichen eines Klavierunterrichtes für seinen Sohn in Halle. Neben Barths Übernahme der Fürsorge für Dimpel ab 1683 ist die Geburt seines leiblichen Sohnes Johann Gottfried Barth 1689 in Delitzsch belegt, der ab 1706 die Lateinschule der Anstalten besuchte und dort zumindest zeitweise freie Kost und Logis erhielt, weil – so Barth gegenüber Francke – „bey meiner mühseel. Station und starcken familie [nicht] ein Groschen zu erübrigen wäre“6 und meine „familia crepiren müße“7. Gottfried Barth und seiner Frau Barbara wurden neben den drei Kindern aus erster Ehe von 1684 bis 1696 sieben Kinder geboren, von denen nur eines als Säugling verstarb.8 Ab 1709 Vgl. Archiv des Barockschlosses Delitzsch, Bestand VIII/3 – Gottfried Barth, 1f. G. Barth an August Hermann Francke, Delitzsch, 22.06.1704, AFSt/H F 11, 412f. 4 Vgl. G. Barth an A.H. Francke, Delitzsch, 06.08.1698, AFSt/H A 166: 34b. 5 Vgl. die Briefe von Barth an AHF aus Delitzsch: AFSt/H A 166, 34a-c; F 11, 411–414; F 14, 45f. und Archiv der Berliner Staatsbibliothek, F 7/1: 4–14. 22. 26. 6 G. Barth an A.H. Francke, Delitzsch, 22.06.1704, AFSt/H F 11, 413. 7 G. Barth an A.H. Francke, Delitzsch, 08.08.1708, AFSt/H F 14, 46v. 8 18.05.1684 Eleonora Sibylla (am 12.01.1720 ledig verstorben), 26.11.1685 Elisabeth Dorothea, die 1712 einen Hallenser Juristen heiratete, 24.09.1687 Maria Christina (ledig verstorben), 2 3
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studierte Johann Gottfried Barth in Halle Theologie. Anders der Stiefsohn D.I. Dimpel, der zwölf Jahre zuvor nach Abschluss der Lateinschule an die Gießener Universität zum Theologiestudium geschickt worden war. Die Entscheidung für Gießen stand im Zusammenhang mit dem noch sieben Jahre zuvor in Delitzsch tätigen Adjunkten Johann Christoph Bilefeld (1664–1727), der inzwischen auf Vermittlung Speners als Theologieprofessor und Superintendent nach Gießen berufen wurde und zugleich als Seelsorger der Landgräfin eine pietistische Personalpolitik von Darmstadt aus über 13 Jahre in der Landgrafschaft dirigierte.9 Barth schickte Dimpel nach Gießen, weil der ehemalige Delitzscher Adjunkt Bilefeld für ihn zu sorgen versprach.10 Am 7. Mai 1697 wurde Dimpel in Gießen immatrikuliert11 und erlebte vier Monate später die programmatische Antrittsvorlesung Gottfried Arnolds als Geschichtsprofessor am 2. September 1697 in Gießen mit. Zu Arnold entwickelte Dimpel eine besondere Bindung. Als dieser im Jahr darauf Gießen verließ und nach Quedlinburg ging, zögerte Dimpel noch, verließ aber ein Jahr später 1699 die Universität ebenfalls und folgte Arnold, ohne sich darüber mit Bilefeld oder seinem Stiefvater vorher verständigt zu haben. Dieses eigenmächtige Handeln blieb ein Kritikpunkt, den Barth seinem Stiefsohn lange nachtrug. In Quedlinburg kam Dimpel als Hauslehrer bei Familie Sprögel unter und blieb dort vier Jahre, bis Sprögel 1703 zum Inspektor nach Werben berufen wurde.12 Dimpel ging nun als Informator nach Halberstadt. Nach einem Jahr aber fing Gottfried Barth verstärkt an, sich um eine Fortsetzung von Dimpels Theologiestudium zu bemühen. Nachdem bereits im Mai 1704 Sprögels Berufung als Propst nach Stolp ausgesprochen worden war, schickte Barth Dimpel im Juni 1704 mit einem Begleitschreiben zu August Hermann Francke mit der Bitte, eine Fortsetzung des Theologiestudiums in Halle durch Vermittlung einer Informatorentätigkeit am Waisenhaus oder zumindest einer anderweitigen Hauslehrerstelle zu ermöglichen, wo er mehr Möglichkeiten als in Quedlinburg habe, „in studio exegetico et Homiletico sich zu exerciren“.13 Die Vermittlung hatte offensicht16.03.1689 Johann Gottfried (verstarb nach dem Studium in Halle als Informator), 07.03.1691 Johanna Salome (später mit einem Goldschmied in Halle verheiratet), 18.05.1693 Christina Magdalena (im August 1693 verstorben), 28.01.1696 Emanuel Gottfried (nach der Ausbildung am Hallenser Waisenhaus und dem Jurastudium in Leipzig als Jurist in Schlesien tätig).Vgl. Archiv des Barockschlosses Delitzsch, Bestand VIII/3 – Gottfried Barth, 1. 9 Vgl. Martin Brecht: Philipp Jakob Spener, sein Programm und dessen Auswirkungen. In: Geschichte des Pietismus. Bd. 1: Der Pietismus vom siebzehnten bis zum frühen achtzehnten Jahrhundert. Hg. v. dems. Göttingen 1993, 343 u. 412. 10 Vgl. G. Barth an A.H. Francke, Delitzsch, 22.06.1704, AFSt/H F 11, 412. 11 „Dimpel, David Israel, Brehna-Misnicus, 07.05.1697.“ Die Matrikel der Universität Gießen 1608–1707. Hg. v. Ernst Klewitz u. Karl Ebel. (Gießen 1898). ND Nendeln/Lichtenstein 1980, 130. 12 Vgl. G. Barth an A.H. Francke, Delitzsch, 22.06.1704, AFSt/H F 11, 411f. 13 G. Barth an A.H. Francke, Delitzsch, 22.06.1704, AFSt/H F 11, 414. Zu ersten Informationen über einen Weggang Sprögels von Quedlinburg vgl. die Notiz von C.H.v.Canstein vom 29.04.1704 in: Der Briefwechsel Carl Hildebrand von Cansteins mit August Hermann Francke.
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lich keinen Erfolg, so dass Barth ein gutes halbes Jahr später noch einmal bei Heinrich Julius Elers anfragte, ob Dimpel nicht zum Studium nach Halle kommen könne und ein Viertel Jahr später, ob Elers nicht anderweitig eine Hauslehrerstelle vermitteln könne.14 Mittlerweile ergriff Sprögel die Initiative und konnte Dimpel im Mai 1705 mitteilen lassen, dass er in Stolp eine Adjunktur erhalten werde. Dieser zog im Mai 1705 über Magdeburg nach Delitzsch, um seinen Stiefvater über die Veränderung zu informieren und dessen Konsens einzuholen. Barth schlug Dimpel einen Abschiedsbesuch bei August Hermann Francke vor und schickte ihn mit einer diesbezüglichen Empfehlung nach Halle zu H.J. Elers.15 Einen Monat später wurde Sprögel in Stolp als Propst eingeführt und Dimpel blieb vermutlich zwei Jahre, bis er 1707 als Adjunkt und später als Prediger mit der Pfarrstelle Vessin in der Nähe von Stolp betraut wurde, die er für 33 Jahre bis 1740 innehatte.16 Das Gutsdorf Vessin mit angegliederten Rittersitzen und Mühlen stand unter der Verwaltung derer von Collreppen, von Woyten und von Bandemer. 1717 waren es aktuell Peter Benedict von Collrepp, die Erben der verstorbenen Frau des Wilhelm von Woyten, der Witwe des verstorbenen Kapitäns Bartholomäus Rüdiger von Collreppen und Oberst Friedrich Asmuß von Bandemer. Das Dorf bestand neben den Ritterhöfen aus nur 22 Feuerstellen und 3 Bauern. Neben einem Prediger war noch ein Küster angestellt.17 Aus den Jahren von Dimpels Amtsverrichtungen ist wenig bekannt. Im Jahr 1718 ist eine Reise nach Halle belegt, wo er in den Anstalten übernachtete.18 Zu einem seiner Patrone, Oberst F.A. von Bandemer, der Militärdienst für die Zarenarmee leistete, entwickelte sich mit den Jahren ein angespanntes Verhältnis. Gerüchte über einen nicht standesgemäßen Lebenswandel des Offiziers, „der einem Christen nicht anstehe“, nahm Dimpel
Hg. v. Peter Schicketanz. Göttingen 1972, 928 und vgl. Friedrich de Boor: Dubislav Gneomar von Natzmer (1654–1739) als Patronatsherr der Pfarre Groß Jannewitz bei Lauenburg in Hinterpommern. In: PuN 32, 2006, 148. 14 G. Barth an H.J. Elers, Delitzsch, 13.01.1705 und 07.04.1705, Staatsbibliothek Berlin, Franckenachlass 7/1:24f. 15 G. Barth an H.J. Elers, Delitzsch, 25.05.1705, Staatsbibliothek Berlin, Franckenachlass 7/1:2. 16 Die Evangelischen Geistlichen Pommerns von der Reformation bis zur Gegenwart. Auf Grund des Steinbrück’schen Manuskriptes bearbeitet. Teil 2: Der Regierungsbezirk Köslin. Die reformierten Gemeinden Pommerns. Die Generalsuperintendenten. Hg. v. Ernst Müller. Stettin 1912, 481. 17 Umständliche und historische Nachricht // von // dem gegenwärtigen Zustande // des Stolpischen Synodi und dazu gehörigen // Kirchspiele, // so viel davon aus denen bißher eingelauffenen //Relationen der Pastoren und anderen Documenten und Registraturen erfahren // werden können, // auf Befehl E. Hochw. Consist: eingesand // den 2. Febr. 1710 [o.O.], 69f. und Karl-Heinz Pagel: Der Landkreis Stolp in Pommern. Zeugnisse seiner deutschen Vergangenheit. Lübeck 1989, 990. 18 Vgl. Postskriptum von Johann Heinrich Grischow an A.H. Francke, o.D. [1718], AFSt/H C 29 : 7.
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mit Sorge auf und verbreitete sie weiter.19 Nachdem von Bandemer sich hatte scheiden lassen und eine neue Hochzeit anstrebte, musste Dimpel das Aufgebot zur Hochzeit öffentlich im Gottesdienst verlesen. Dimpel tat dies, allerdings nur mit der Missfallensbekundung „ich halte es aber für Unrecht“. Daraufhin sorgte von Bandemer für Dimpels Entlassung aus seinem Patronat. Es folgten zwei Jahre, in denen der Verbleib Dimpels ungeklärt ist. Erst 1742 wurde ihm für zwei weitere Jahre ein Pfarramt anvertraut, und zwar in Groß Brüskow, ebenfalls in der Stolper Synode. Allerdings gab es auch in der neuen Gemeinde Proteste gegen seine Amtsführung, nun von verschiedener Seite, und er erhielt drei Hilfsprediger an die Seite, um die an ihn gestellten Erwartungen erfüllen zu können.20 Über seinen Tod und die familiäre Entwicklung sind bislang keine verlässlichen Angaben zusammengestellt. Aus dem Schaffen Dimpels verdient vor allem sein Wirken als theologischer Schriftsteller und als Unterstützer von Missionseinrichtungen Beachtung. Gottfried Barth bemängelte 1704 gegenüber August Hermann Francke die ungenügende theologische Bildung von Dimpel und wünschte sich eine mehrjährige Fortsetzung des Theologiestudiums, wozu es aber nicht mehr kam.21 Dennoch hat Dimpel mindestens zwei umfangreiche exegetisch-theologische Schriften verfasst oder zumindest bearbeitet. 1729 plante er die Publikation von zwei Apokalypseauslegungen über den Verlag des Züllichauer Waisenhauses von Gottlob Benjamin Frommann mit Drucklegung in Leipzig. Da die Veröffentlichung der größeren Schrift Schwierigkeiten mit sich brachte, wurde sie 1729 zunächst anonym veröffentlicht: Die Durch den Schlüssel Davids geöffnete Thür.22 Dimpel entfaltet darin einen Entwurf zur Apokalypsedeutung. 1730 erschien dann die Exegetische Einleitung in die heilige Offenbarung St. Johannis. Die Schlüssel Davids, wurden zusammen mit letzterer Schrift noch einmal publiziert. In Ergänzung zum Entwurf einer Apokalypsedeutung, der Schlüssel Davids, bietet die fast tausendseitige Exegetische Einleitung einen erbaulichen Kommentar zur Johannesapokalypse mit exegetischen Beobachtungen, mit Zitaten aus antiken Schriftstellern, aus Philipp Jakob Spener und August Hermann Francke sowie mit erbaulichen kirchengeschichtlichen Exempeln. Die Auslegungen der einzelnen Kapitel nehmen u. a. Bezug auf die Geschichte, deuten diese und Dimpel wagt auch prophetische Prognosen.23 Desweiteren finden sich darin klassische 19 So z. B. an J.H. Callenberg: vgl. D.I. Dimpel an J.H. Callenberg,Vessin, 11.04.1736, AFSt/H K 25, 137v. 20 Vgl. Die Evangelischen Geistlichen Pommerns [s. Anm. 16], 469. 21 Vgl. G. Barth an A.H. Francke, Delitzsch, 22.06.1704, AFSt/H F 11, 411. 22 David Israel Dimpel: Die Durch den Schlüssel Davids geöffnete Thür: zum Verständnis der Heil[igen] Offenbarung Jesu Christi, das ist, eine kurtzgefasste, aneinanderhangende deutliche Beschreibung des gantzen Zustandes der Kirchen Neuen Testaments, so wohl in ihrer Verborgenheit und Erniedrigung […] von einem Mitgenoß am Trübsal […]. Züllichow. In Verlegung des Waysenhauses 1730 bei Gottlob Benjamin Frommann. 23 So z. B. wenn er in den beiden letzten noch ausstehenden Schalen des Zorns vor der 7. Schale (dem Untergang des Papsttums) als 6. Schale die Schwächung Frankreichs als Stütze des
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Themen wie die allgemeine endzeitliche Judenbekehrung, auch die Rückführung der Juden ins Gelobte Land mit Bau des Tempels wird ausgeführt.24 In der Vorrede zur Einleitung verrät Dimpel, dass er die Ausarbeitungen bereits vor vielen Jahren getätigt hatte.25 Ob die stark mit kirchenhistorischen Beobachtungen und Deutungen verknüpften Auslegungen noch aus der Quedlinburger Zeit stammen, lässt sich nicht nachweisen, aber deutlich wird, dass Gottfried Arnold bleibende theologische Spuren im Denken und Schaffen Dimpels hinterlassen hat.26 Während der Beitrag von Markus Matthias in diesem Band sich der näheren Analyse dieser Schriften Dimpels, insbesondere der Apokalypsekonzeption in Schlüssel Davids widmet, soll nunmehr auf Dimpel als pietistischen Netzwerker und Missionsförderer eingegangen werden. Mit der Entstehung des Institutum Judaicum et Muhammedicum 1728 tritt Dimpel als eifriger Missionsförderer in Hinterpommern und als Korrespondent des Hallenser Direktors Callenberg in Erscheinung. Die relativ umfangreiche Korrespondenz beider gibt einen lebhaften Eindruck von der allgemeinen Unterstützungsbereitschaft pietistischer Kreise in Hinterpommern. Doch was hat es mit diesem Institut auf sich? 1728 gründete der Privatsekretär August Hermann Franckes (1663–1727) und erster Anstaltsbibliothekar und -archivar, zugleich Philosophie- und Theologieprofessor in Halle, Johann Heinrich Callenberg (1693–1760), eine Druckerei für orientalische Traktate zur Mission von Juden und Muslimen. Die 1732 königlich-preußisch privilegierte Druckerei und Verlagseinrichtung unterhielt außerdem stets einen bis drei Reisemitarbeiter, die vor allem in Europa aber auch bis nach Ägypten umherreisten, um die Schriften unter Juden zu verteilen und zu missionieren. Im bescheidenen Umfang unterstützte Callenberg auch Konvertiten. Ein europäischer Spenderkreis von bald über 800 Personen ermöglichte diese Missionstätigkeit mit einem Jahresumsatz von 2.000 Reichsthalern. In geringerem Umfang als die Judenmission betrieb Callenberg die Muslimmission, indem er arabische, türkische, syrische und weitere fremdsprachige Traktate für Muslime publizierte und vertrieb. Der Unterstützerkreis dieser Einrichtung in Hinterpommern formierte sich zunächst aus den Freunden der Halleschen Indienmission. Der aus einer begüterten schlesischen Familie gebürtige Hauptmann E.M. von List fungierte in jener Zeit als Verteiler der indischen Missionsberichte für Pommern.27 Durch einen Halleaufenthalt 1729 wurde er auch auf die Juden-
Papsttums in einem bevorstehenden Religionskrieg sieht, aus dem die wahre Kirche gestärkt hervor gehen werde.Vgl. Dimpel, Exegetische Einleitung [s. Anm. 22], 675, 677. 24 Vgl. Dimpel, Exegetische Einleitung [s. Anm. 22], 255f., 334–338. 25 Vgl. Dimpel, Exegetische Einleitung [s. Anm. 22],Vorrede )(3b). 26 Eine dritte Schrift wird zu großen Teilen auch Dimpel zugeschrieben: Der Hyper-Physicus an Schmidts biblischen Physico. Leipzig 1731.Vgl. Jöcher/Adelung 2, 1787, 704. 27 Vgl. Versandlisten der Malabarischen Nachrichten 1730: AFSt/M (Indien) III L 1, 2r und 1731: AFSt/M (Indien) III L 3, 7v.
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und Muslimenmission aufmerksam und vermittelte einen Kontakt Callenbergs nach Stolp, indem er einen direkten Briefkontakt zwischen Callenberg und Rektor Christian Schiffert anregte. Schiffert trieb zunächst (1729 bis 1731) den Aufbau eines regionalen Freundeskreises durch jährliche Sammlungen für das Institut und die Austeilung der Institutsberichte voran. So wurde 1729 eine erste Sammelspende nach Halle vermittelt, 1730 legten 20 Personen 25 Rtl. zusammen.28 1731 erhielten alle 20 Spender die neuesten Institutsnachrichten29 über Rektor Schiffert.30 1731 organisierte Schiffert die Sammelaktion als Gemeinschaftsprojekt, bei dem zugleich für die dänisch-hallesche Mission und das Züllichauer Waisenhaus gesammelt wurde. Die Sammlung wurde vom 30. Juli 1731 bis zum 9. Januar 1732 durchgeführt, es beteiligten sich insgesamt 24 Personen daran, die für das Institutum Judaicum über 19 Rtl. zusammenlegten.31 Ab 1730 entstand bereits eine Korrespondenz zwischen Callenberg und Dimpel bezüglich der V erbreitung arabischer Traktate. Schon in dieser Zeit, vor C. Schifferts Berufung nach Königsberg Ende 1731, begann Callenberg, D.I. Dimpel über die Arbeit des Instituts näher zu informieren und ihn als Institutsvertreter für Stolp heranzuziehen.32 Dimpel warb nun Propst Franz Albert Schultz (1692– 1763) und V ikar Benschow als Institutsfreunde.33 1733 ließ Dimpel nach C. Schifferts Vorbild mittels eines Spendenaufrufes in Stolp und Umgebung für Callenbergs Institut sammeln. Im Spendenaufruf nahm Dimpel beim allgemeinen göttlichen Heilswillen für alle Menschen (1Tim 2, 4) seinen Ausgangspunkt, erläuterte die Not wendigkeit einer rechtschaffenen Bekehrung, beschrieb kurz die Traktaterstellung und den Reisedienst des Instituts, um schließlich dazu aufzurufen, den Glauben durch tätige Liebe zu beweisen. Daraufhin
28 1729 ergab die Sammlung neun Rtl. (vgl. C. Schiffert an E.M. v. List, Stolp, o.J. [Ende 1729], AFSt/H K 3, 373r und E.M. v. List an Callenberg, Halle, 29.11.1730, AFSt/H K 5, 117r). Zur Sammlung 1730 vgl. Spenderliste vom 08.03.1730, AFSt/H K 4, 53 und vgl. die Entschlüsselung der Abkürzungen auf der Spenderliste durch Schiffert: C. Schiffert an Callenberg, Stolp, 05.04.1730, AFSt/H K 4, 105r. 29 Joh. Heinr. Callenbergs [...] Andere Fortsetzung seines Berichts Von einem Versuch Das arme Jüdische Volck zur Erkäntniß der christlichen Wahrheit anzuleiten Nebst einer Continuation der Nachricht Von einer Bemühung, auch den Muhammedanern mit einem heilsamen Unterricht zu dienen. Halle: Johann Friedrich Krottendorff, 1731 (PIJ 1731,4). 30 Vgl. E.M. von List an Callenberg, o.O., 30.11.1730, AFSt/H K 5, 123 und die Liste der Spender sowie der übersandten Literatur: Callenberg an C. Schiffert, Halle, 11.04.1731, AFSt/H K 6, 198. 31 Vgl. Spendenaufruf mit Unterzeichnerliste (Kopie), 30.07.1731, versandt am 09.01.1732, AFSt/H K 7, 164–165r. Im Oktober 1731 nahm der Institutsreisemitarbeiter Johann Andreas Manitius (1707–1758) auf der Rückreise von Polen bereits einen Teil der Spende mit.Vgl. Manitius an Callenberg, Schlawe, 23.10.1731, AFSt/H K 8, 53v. 32 Vgl. Callenberg an J.C. Lerche mit Kopie u. a. für D.I. Dimpel, Halle, 17.08.1731, AFSt/H K 7, 226r. 33 Vgl. D.I. Dimpel an Callenberg, V essin, 02.11.1731, AFSt/H K 8, 76–77r. V gl. die Erwähnung Dimpels als Kontaktperson für Hinterpommern 1732: Versandliste vom 09.05.1732, AFSt/H K 10, 111v.
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spendeten 28 Gönner über 20 Rtl.34 Diese Tradition setzte Dimpel auch in den nächsten Jahren regelmäßig fort, obwohl sich bereits Anzeichen einer erlahmenden Spendenbereitschaft zeigten. Nach einigen Jahren zog Dimpel sich als Spender für das Institut langsam zurück, da er sich als Mitglied des Collegium Philadelphicum in Stolp zu einer jährlichen Witwenspende verpflichtet hatte und deshalb auch Abstand davon nahm, Spendenaufrufe an andere Landpfarrer weiterzureichen, die ebenfalls Mitglied des Collegiums waren. Beim Collegium Philadelphicum handelt es sich um eine Kasse für Predigerwitwen und -waisen, die durch Spenden aller Prediger der Stolper Synode seit 1708 unterhalten wurde.35 So ließen 1736 vor allem Prediger Johann Friedrich Lange an St. Marien in Stolp36 und Vikar Benschow, der inzwischen Prediger in Sageritz war, den Hauptanteil der Gelder in ihren Gemeinden sammeln.37 Zu den Missionsfreunden in Stolp zählten auch der reformierte Hofprediger Timotheus Christian Stubenrauch (1693–1750), der 1732 als Hofprediger nach Berlin berufen wurde und dort dem Institut ebenso verbunden blieb, wie der ans Collegium Fridericianum nach Königsberg berufene Inspektor Strobel.38 Stubenrauch unterstützte auch die Indienmission.39 Weitere Mitglieder des pietistischen Netzwerkes vom Institutum Judaicum waren der Kämmerer Krüger in der Stadtkämmerei Stolp und Angehörige der Bernsteinhändlerzunft. Die umfangreichen Spenderlisten des Institutum Judaicum für Hinterpommern geben weiterhin einen Eindruck vom Spektrum der regionalen Missionsförderer.40 So wurde das Institut in Halle von weiteren Geistlichen wie dem emeritierten Zirchower Pfarrer Philipp Christoph Zeise (1661–1737) und seinem Sohn Jacob Benjamin (* 1697), Adjunkt und Pfarrer in Zirchow41 unterstützt, von Pastor Johann Ehrenreich Linck (1695–1752) in Altenschlawe42 und seinem
34 Diese übersandte der Institutsfreund Kaufmann Gadebusch aus Stolp an Callenberg. Vgl. Spendenaufruf mit Subskribentenliste, präsent. 08.10.1733, AFSt/H K 16, 16–17r.Vgl. auch die Begleitbriefe D.I. Dimpels vom 11.08.1733, AFSt/H K 15, 188–189 und vom 23.09.1733, AFSt/H K 15, 298–299r. 35 Bis zu seinem Tod war der Diakon an St. Marien in Stolp, Friedrich Listich, Direktor des Collegiums.Vgl. Die Evangelischen Geistlichen Pommerns [s. Anm. 16], 462. 36 Lange war von 1732 bis zu seinem Tod 1741 an St. Marien tätig. 37 Die Sammlung 1736 ergab 20 Rtl. Prediger Lange und Benschow wurden bereits 1735 von Dimpel zur Spendensammlung herangezogen. 38 Vgl. D.I. Dimpel an Callenberg, Vessin, 11.08.1733, AFSt/H K 15, 189r und T.C. Stubenrauch an Callenberg, Berlin, 03.08.1735, AFSt/H K 35, 76–77. Zu T.C. Stubenrauch vgl. Die Evangelischen Geistlichen Pommerns [s. Anm. 16], 548. 39 Vgl.Versandlisten der Halleschen Berichte von G.A. Francke von 1737/38,AFSt/M (Indien) III, L 13. 40 Vgl. Spenderliste von 1728–1736, AFSt/H K 36, 58–66. 41 Hans Moderow: Die Evangelischen Geistlichen Pommerns von der Reformation bis zur Gegenwart. Bd. 2. Stettin 1903–1959, 487. J.B. Zeise war ab 1720 Adjunkt in Zirchow und ab 1737 Pfarrer. 42 Vgl. Matrikel der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg. Teil 1 (1690–1730). Halle 1960, 267.
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Schwiegervater, dem Zirchower Senior Zeche. Zu den adligen Unterstützern zählten Familie von Zitzewitz in Zitzewitz (Kr. Stolp) und anderen Orten, Frau von Wobeser in Grünenwalde (gest. 1733) als Besitzer des Lehens Zirchow (Kr. Stolp); General Casimir von Puttkammer bei Stolp, Stallmeister Dietrich von Bandemer († 1731) auf Gut Selesen bei Schmolsin43 und Oberst Friedrich Asmus von Bandemer (1684–1770) in Vessin.44 Das Engagement für die Mission umfasste im Freundeskreis von Hinterpommern nicht nur die Spendenbereitschaft, sondern auch die Unterstützung beim Versand von Missionstraktaten an Muslime. V or allem David Israel Dimpel und Christian Schiffert unterstützten die Mission Callenbergs durch die Verschickung arabischer Traktate in russisch besetzte Gebiete Persiens. Dort wirkte Dimpels Patron Oberst Friedrich Asmus von Bandemer in einem Husarenregiment, das ab 1727 an Feldzügen in Persien, auf der Krim und in der Tartarei beteiligt war. Ab 1730 war er an der persischen Grenze am Kaspischen Meer stationiert45 und versuchte dort die Traktate aus Halle an Muslime zu verteilen.46 Bereits im Sommer 1730 hatte der Obrist 100 arabische Traktate von Dimpel erhalten und versenden oder verteilen lassen, z.T. persönlich, z.T. über Kaufleute und andere deutsche Offiziere. Auch C. Schiffert verschickte arabische Traktate an v. Bandemer über Heinrich Gottlieb Nazzius (1687–1751), Pfarrer an der deutschen St. Petri-Kirche in St. Petersburg.47 Dimpel bezog nun auch weitere deutsche Offiziere in russischen Diensten in seine Unterstützung der Mission mit ein, wie zum Beispiel Generalmajor Venediger und dessen Feldprediger Vogel sowie General Casimir von Puttkammer in Wollin zur Verteilung von Traktaten an Juden und Tartaren in Litauen. Jüdische Reaktionen auf die Traktate meldete er nach Halle zurück. So zum Beispiel, dass 1733 in der Synagoge von Wilna die Institutstraktate öffentlich mit dem Bann belegt wurden.48
Dimpel an Callenberg,Vessin 02.11.1731, K 8, 76f. Vgl. Karl-Heinz Pagel: Der Landkreis Stolp in Pommern. Zeugnisse seiner deutschen Vergangenheit. Hg. im Auftrag der Heimatkreise Stadt Stolp und Landkreis Stolp e.V. Lübeck 1989, 990. 45 Als Pensionär zog sich F.A. von Bandemer auf seine pommerschen Güter zurück. V gl. [Anton Balthasar König:] Biographisches Lexikon aller Helden und Militärpersonen, welche sich in preußischen Diensten berühmt gemacht haben. Bd. 1. Berlin: Arnold Werner, 1788, 98. 46 Vgl. D.I. Dimpel an Callenberg, Vessin, 07.11.1730, AFSt/H K 4, 318. Im Dezember 1730 erhielt von Bandemer wiederum Traktate nebst einem Brief Callenbergs über D.I. Dimpel, vgl. Obrist v. Bandemer an Callenberg, Nysawai bei Baku, 15.12.1730, AFSt/H K 5, 162–165r und E.M. von List an Callenberg, o.O., 29.11.1730, AFSt/H K 5, 117r. 1732 folgten weitere Traktate, vgl. D.I. Dimpel an Callenberg,Vessin, 13.09.1732, AFSt/H K 12, 63–64 und Callenberg an D.I. Dimpel (Entwurf), Halle, 22.12.1732, AFSt/H K 13, 177r. 47 Vgl. v. Bandemer an D.I. Dimpel, 09.04.1731, AFSt/H K 6, 192r und C. Schiffert an E.M.v. List, o.O., o.J., präsent. 05.05.1730, AFSt/H K 4, 149r. 1731 erhielt Schiffert wiederum arabische und jiddische Traktate zum Verteilen und Verschicken, vgl. Callenberg an C. Schiffert, Halle, 11.04.1731, AFSt/H K 6, 198. Zu Nazzius vgl. Theodor Wotschke: Das pietistische Halle und die Auslandsdeutschen. In: Neue kirchliche Zeitschrift. Leipzig 1932, 476. 48 Vgl. C. von Puttkammer an Callenberg, Wollin, 21.11.1733, AFSt/H K 14, 50v. 43 44
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Die Missionsunterlagen des Institutum Judaicum, insbesondere die ausgedehnte Korrespondenz und die ausführlichen Freundeskreisverzeichnisse, geben Einblick in die regen Aktivitäten des Pietismus in Hinterpommern für die Zeit nach Sprögels Tod zur Unterstützung verschiedener Missionsunternehmungen. Es wurden nicht nur regelmäßige Spendensammlungen in den Gemeinden abgehalten, sondern mittels der Institutsberichte verfolgte man auch interessiert das laufende Missionsgeschehen. Doch der Freundeskreis in Hinterpommern beschränkte sich nicht nur auf die finanzielle Unterstützung von Missionsaktivitäten, sondern suchte auch nach Wegen und Möglichkeiten, selbst Traktate an Nichtchristen zu verschicken. Der Freundeskreis des Institutum Judaicum et Muhammedicum in Hinterpommern war einer der aktivsten unter den Unterstützern Callenbergs.
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Claudia Weiss
Göttliche Arzneien oder Häresie? Alchemistische Pharmaka am Halleschen Waisenhaus in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts1 Als ein „zur Ausbreitung göttlicher Ehre sehr bequemes Werck“2 bezeichnete der Mediziner und Pharmazeut3 Christian Friedrich Richter (1676–1711) die Behandlung der Kranken mit der Waisenhaus-Arznei Essentia Dulcis, deren Entwickler er war. Denn „weil die Menschen nichts höher lieben als ihr Leben […] und [ihre, d. Vf.n] Gesundheit“, gebe es kein besseres Mittel „die Gemüter der
1 Der folgende Beitrag beruht im Wesentlichen auf Ergebnissen meiner Masterarbeit aus dem Jahr 2016, bei deren Erarbeitung ich freundlicherweise im Rahmen der Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses durch die Stabsstelle Forschung der Franckeschen Stiftungen unterstützt wurde. Ich bedanke mich darüber hinaus bei den Betreuern der Abschlussarbeit, Herrn Prof. Dr. Andreas Pečar und Herrn Prof. Dr. Holger Zaunstöck, sowie auch bei Herrn Prof. Dr. Friedemann Stengel für ihre wertvollen Hinweise zu diesem Aufsatz. Danken möchte ich ebenfalls für die zahlreichen Anregungen, die ich im Rahmen der Nachwuchstagung der Historischen Kommission zur Erforschung des Pietismus im Mai 2016 erhielt. 2 Handschriftlicher Bericht Christian Friedrich Richters über den Zustand der WaisenhausApotheke und Medikamenten-Expedition mit dem Titel „Von der Apothecke und Artzney=Wesen bey dem Waysenhause zu Glauche an Halle“, um 1702, Archiv der Franckeschen Stiftungen, Halle (im Folgenden AFSt): AFSt/W IX/I/1 : 1, hier Bl. 2r. Dieser Bericht war wahrscheinlich für August Hermann Franckes Großen Aufsatz vorgesehen, der zwar im 18. Jahrhundert unveröffentlicht blieb, jedoch von Francke in einem engeren Kreis von Freunden und Förderern verteilt wurde. Vgl. Eckhard Altmann: Christian Friedrich Richter (1676–1711). Arzt, Apotheker und Liederdichter des Halleschen Pietismus. Witten 1972, 51 sowie die Einleitung von Wilhelm Fries in: August Hermann Franckes Grosser Aufsatz. Festschrift zum zweihundertjährigen Jubiläum der Universität Halle. Hg. v. Wilhelm Fries. Halle 1894, III–XII, hier IIIf. Sowohl im Großen Aufsatz als auch in August Hermann Franckes Fußstapfen (ab 1709 unter dem Titel Segensvolle Fußstapfen) waren Passagen zur Entwicklung, Leistung und Bedeutung der pharmazeutischen Einrichtungen am Waisenhaus enthalten. Insbesondere letztere Schrift, die in mehreren Auflagen und Ausgaben bis 1712 erschien, hatte als Werbeinstrument große Bedeutung innerhalb der Imagebildung des Halleschen Waisenhauses. Vgl. hierzu Holger Zaunstöck: Das „Werck“ und das „publico“. Franckes Imagepolitik und die Etablierung der Marke Waisenhaus. In: Die Welt verändern. August Hermann Francke. Ein Lebenswerk um 1700. Hg. v. dems. [u. a.]. Halle 2013, 259–271, hier insbes. 262f. 3 Wenn im Aufsatz von „Pharmazie“, „Pharmazeut“ oder „pharmazeutisch“ in Bezug auf die Glauchaschen Anstalten gesprochen wird, ist hierbei nicht die wissenschaftliche Disziplin „Pharmazie“ im heutigen Sinne gemeint. Hier geht es um den generellen Umgang mit Arzneimitteln, welcher die Entwicklung, Herstellung, Abgabe und Anwendung betrifft.
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Menschen sich zu verbinden“ und „ihnen unter der Hand die wahre Erkentniß Gottes beyzubringen“.4 Die Patienten sollten demnach durch die medikamentöse Therapie für das Werk und die religiösen Anschauungen der Pietisten am Waisenhaus gewonnen werden. Für die weitausgreifenden sozialen Reformpläne August Hermann Franckes (1663–1727) sowie seiner Mitstreiter und ihr missionarisches Anliegen spielte die bereits kurze Zeit nach der Anstaltsgründung einsetzende Produktion hauseigener Arzneimittel eine wichtige Rolle. Und gerade von der Essentia Dulcis erhofften sie sich viel – ebenso in finanzieller Hinsicht.5 Der hohe Stellenwert der sogenannten Waisenhaus-Arzneimittel für das gezielte Wirken nach außen, für die öffentliche Wahrnehmung der Glauchaschen Anstalten, mithin für August Hermann Franckes „Imagepolitik“6 und auch den finanziellen Erhalt des Waisenhauses lässt ermessen, was eine Kritik an diesen Präparaten sowohl aus medizinisch-pharmazeutischer Perspektive als auch aus einer auf den ersten Blick weniger zu erwartenden Richtung – nämlich aus der theologischen – bedeuten konnte. Dies spielt eine Rolle für die Untersuchung der Beziehung zwischen Alchemie und Halleschem Pietismus, die für den pharmazeutischen Bereich innerhalb der Glauchaschen Anstalten von besonderem Interesse ist. In diesem Zusammenhang soll erörtert werden, inwieweit bei Übernahmen alchemistischer Ideen ein Heterodoxieverdacht aufkommen konnte – ob, zugespitzt formuliert, aus den produzierten „göttlichen Arzneien“ in der öffentlichen Wahrnehmung „häretische Wundermittel“ werden konnten, die den Ruf der Institution Hallesches Waisenhaus, die sich zu diesem Zeitpunkt noch im Aufbau befand, geschädigt hätten. Der Blick auf die Geschichte der Waisenhaus-Medikamente zu Beginn des 18. Jahrhunderts – auf ihre Entwicklung, Herstellung, ihre Rolle in der medizinischen Behandlung und die Erklärung ihrer Wirksamkeit – ist dabei geeignet, um nach alchemistischen Bezügen zu fragen. Die alchemistische Arzneitradition hatte insbesondere seit Paracelsus großen Einfluss gewonnen, paracelsistische Pharmaka waren um 1700 vielfach im Arzneischatz vertreten.7 Im Bereich des pharmazeutischen Agierens am Halleschen Waisenhaus könnte ein Zugriff auf ebensolche Kenntnisse, auf praktisches Knowhow aus der alchemistischen Labortradition sowie auf alchemistische Erklärungsmuster zur Wirkung
Bericht Richters [s. Anm. 2], AFSt/W IX/I/1 : 1, Bl. 2v. Letzteres wird in Richters Bericht [s. Anm. 2] deutlich, wenn er über die Essentia dulcis schreibt, dass der Handel mit diesem Medikament, wenn er erst richtig eingerichtet wäre, „zu Erhaltung des Waysenhauses […] nicht ein geringes abwerffen würde“, AFSt/W IX/I/1 : 1, Bl. 2r. 6 S. zur Imagepolitik August Hermann Franckes Zaunstöck: Das „Werck“ und das „publico“ [s. Anm. 2]. 7 Zur Verbreitung alchemistischer Arzneizubereitungen seit dem Mittelalter und zu ihrem Eingang in den Arzneischatz bzw. in die Arzneibuchliteratur der Frühen Neuzeit siehe Claudia Sachse: Alchemie und Arzneibereitung in Spätmittelalter und Früher Neuzeit. In: Alchemie und Wissenschaft des 16. Jahrhunderts. Fallstudien aus Wittenberg und vergleichbare Befunde. Hg. v. Harald Meller [u. a.]. Halle 2016, 183–194. 4 5
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der Medikamente erfolgt sein. Deshalb ist es das Anliegen dieses Aufsatzes, mit der Alchemie eine mögliche Quelle der medizinisch-pharmazeutischen Orientierung am Halleschen Waisenhaus zu betrachten, die bisher nur am Rande Erwähnung fand, von der jedoch vermutet wird, dass sie gerade für die hallischen Pietisten anschlussfähige Praktiken und Ansichten bot. Die vorliegende Untersuchung ist im Themenfeld der Beziehungen von (Halleschem) Pietismus und Hermetismus bzw. Esoterik angesiedelt,8 wobei im Folgenden auf die Begriffe „Hermetismus“ und „Hermetik“ statt „Esoterik“ zurückgegriffen werden soll, was Kristine Hannaks Vorgehen in ihrer Monografie Geist=reiche Critik folgt.9 Insbesondere im Rahmen der DFG-Forschergruppe „Die Aufklärung im Bezugsfeld neuzeitlicher Esoterik“ und den in diesem Zusammenhang entstandenen Publikationen wurde in jüngerer Zeit eine Zusammenschau von Erkenntnissen im Bereich der Esoterikforschung, genauer auf dem Gebiet Aufklärung und Esoterik, erzielt.10 Zum Verhältnis von Alchemie und Pietismus liegen daneben zahlreiche Einzeluntersuchungen vor. Historische Persönlichkeiten wie Johann Conrad Dippel (1673–1734), Johann Samuel Carl (1677–1757) oder Johann Philipp Maul (1662–1727), in deren Biografie sich die Bereiche Medizin, Pietismus und Alchemie treffen, stehen bei diesen Arbeiten im Zentrum.11 Insbesondere der kürzlich erschienene, von Irm8 Nach Monika Neugebauer-Wölk stellt die Alchemie einen Bestandteil des sogenannten esoterischen Corpus dar. Neben der Magie und der Astrologie zählt sie die Alchemie zu den esoterischen bzw. den „alten“ Wissenschaften. Vgl. Monika Neugebauer-Wölk: Esoterisches Corpus. In: Enzyklopädie der Neuzeit. Bd. 3. Dynastie, Freundschaftslinien. Hg. v. Friedrich Jaeger. Stuttgart [u. a.] 2006. Sp. 544–554, hier Sp. 553 sowie dies.: Esoterik. In: Handbuch Europäische Aufklärung. Begriffe, Konzepte, Wirkung. Hg. v. Heinz Thoma. Stuttgart, Weimar 2015, 172–180, hier 172. 9 Kristine Hannak weist hier darauf hin, dass sowohl die Verwendung der Bezeichnung „Esoterik“ als auch des Begriffs „Hermetik“ Unschärfen birgt, welche jeweils erläutert werden müssen. Sie entscheidet sich für den quellensprachlichen Begriff „Hermetik“ als Überbegriff für hermetische, paracelsistische sowie alchemistische und rosenkreuzerische Diskurse, auch wenn „dann aber die methodische Unschärfe reflektiert werden muss, dass das namensgebende Corpus Hermeticum lediglich einen sehr geringen Anteil an den unter seinen Namen subsumierten Diskursen der Frühen Neuzeit innehat.“ Hierin folgt Hannak sowohl der Begriffstradition innerhalb der germanistischen Literaturwissenschaft als auch dem Hermetik-Kritiker Ehregott Daniel Colberg (1659–1698), welcher in seinem Hermetisch-platonischen Christenthum (1690/91) einen systematischen Überblick über die unterschiedlichen Traditionen und Diskurse gibt, welche seinerzeit unter den Hermetik-Begriff fielen.Vgl. Kristine Hannak: Geist=reiche Critik. Hermetik, Mystik und das Werden der Aufklärung in spiritualistischer Literatur der Frühen Neuzeit. Berlin, Boston 2013, 17–20, Zitat 18. 10 So wurden unter anderem in den Jahren 2008 und 2013 zwei Berichtsbände herausgegeben: Aufklärung und Esoterik. Rezeption, Integration, Konfrontation. Hg. v. Monika NeugebauerWölk u. André Rudolph. Tübingen 2008; Aufklärung und Esoterik. Wege in die Moderne. Hg. v. M. Neugebauer-Wölk [u. a.] Berlin 2013. 11 Christa [Meyer-]Habrich: Untersuchungen zur pietistischen Medizin und ihrer Ausprägung bei Johann Samuel Carl (1677–1757) und seinem Kreis. Habil. [Typoskript] München 1981; Irmtraut Sahmland: Das medizinische Konzept Johann Conrad Dippels im Kontext geistesgeschichtlicher Tendenzen um 1700. In: Interdisziplinäre Pietismusforschungen. Beiträge zum Ers-
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traud Sahmland und Hans-Jürgen Schrader herausgegebene Sammelband Medizin- und kulturgeschichtliche Konnexe des Pietismus. Heilkunst und Ethik, arkane Traditionen, Musik, Literatur und Sprache präsentiert hierzu neue Ergebnisse.12 Was jedoch die Beziehung von Halleschem Pietismus und Alchemie anbelangt, so findet sich derzeit noch keine Abhandlung, die dieses Thema gezielt in den Blick nimmt. Neuere Veröffentlichungen zur Waisenhaus-Apotheke und MedikamentenExpedition stammen von Renate Wilson und Sabine Anagnostou.13 Ihre Betrachtungen konzentrieren sich auf die pharmazeutischen und wirtschaftlichen Beziehungen der Glauchaschen Anstalten mit anderen Ländern durch den Arzneimittelvertrieb der Medikamenten-Expedition und die Missionstätigkeit des Halleschen Waisenhauses. Auch Jürgen Helm und Elisabeth Quast liefern Begründungen für den großen Erfolg der Waisenhaus-Medikamente im 18. Jahrhundert und schildern die Netzwerke, die eine solche Verbreitung erst ermöglichten.14 Dabei steht in den genannten Arbeiten zumeist der „Blick nach außen“ – also auf die Verbreitung therapeutischer Praktiken und den Medikamentenhandel – im Vordergrund. Es fehlen bisher jedoch Fragestellungen, die den Blick stärker „nach innen“, auf die Waisenhaus-Medikamente selbst, die Rezepturen, die dahinterstehenden pharmazeutischen Einstellungen und auch ten Internationalen Kongress für Pietismusforschung 2001. Bd. 2. Hg. v. Udo Sträter. Tübingen 2005, 597–610; Kristine Hannak: Die „alte, vernünfftige Philosophie“ als „Weg=Weiser“ zur Aufklärung. Johann Conrad Dippel als Grenzgänger zwischen Pietismus, Hermetik und Frühaufklärung. In: Aufklärung und Esoterik 2008 [s. Anm. 10], 53–75, Ulrike Kummer: „Gold von Mitternacht“. Zu Leben und Werk des Arztpietisten Johann Philipp Maul (1662–1727). In: PuN 40, 2014, 134–155; Johanna Geyer-Kordesch: Chemie und Alchemie: J.J. Becher, G.E. Stahl, J.S. Carl und J.C. Dippel. In: Johann Joachim Becher (1635–1682). Hg. v. Gotthardt Frühsorge u. Gerhard F. Strasser. Wiesbaden 1993, 127–142. 12 Medizin- und kulturgeschichtliche Konnexe des Pietismus. Heilkunst und Ethik, arkane Traditionen, Musik, Literatur und Sprache. Hg. v. Irmtraut Sahmland u. Hans-Jürgen Schrader. Göttingen, Bristol 2016. Hierin enthalten sind Beiträge zu den pietistischen Arztpersönlichkeiten Johann Samuel Carl, Johann Conrad Dippel und Johann Christoph Götz. 13 Renate Wilson: Pious traders in medicine. A German pharmaceutical network in eighteenthcentury North America. University Park 2000; Sabine Anagnostou: Missionspharmazie. Konzepte, Praxis, Organisation und wissenschaftliche Ausstrahlung. Stuttgart 2011. Ältere grundlegende Schriften zu den Waisenhaus-Medikamenten, der Medikamenten-Expedition und dem Entwickler der ersten hauseigenen Präparate, Christian Friedrich Richter, sind: Hans-Joachim Poeckern: Die Hallischen Waisenhaus-Arzeneyen. Kommentar, Glossar und Transkription. Leipzig 1984; ders.: Die Medikamenten-Expedition des Hallischen Waisenhauses und ihre Arzneimittel. In: H.-J. Poeckern u. Werner Piechocki: Die Geschichte der halleschen Apotheken. Halle 1987, 28–41; Hermann Gittner: 250 Jahre Waisenhaus-Apotheke und Medikamenten-Expedition der Frankeschen Stiftungen zu Halle an der Saale. Halle 1984; Altmann, Christian Friedrich Richter [s. Anm. 2]. 14 Jürgen Helm: Die Medikamente des Waisenhauses. Ein Beispiel für die Etablierung und Verbreitung therapeutischer Praktiken im 18. Jahrhundert. In: Medical Theory and Therapeutic Practice in the Eighteenth Century. A Transatlantic Perspective. Hg. v. dems. u. Renate Wilson. Stuttgart 2008, 113–133; Elisabeth Quast: Schwägerinnen.Adlige Frauen in der Frühphase der halleschen Medikamentenexpedition. In: Medical Theory and Therapeutic Practice [ebd.], 281–307.
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auf den Zusammenhang mit der spezifischen Religiosität am Waisenhaus richten. Aus eben jener Perspektive setzt dieser Aufsatz mit seiner Untersuchung der Beziehung zwischen Alchemie und Halleschem Pietismus und einer diesbezüglichen Auswertung von Quellenmaterial15 an. Für das Verhältnis von Medizin und Halleschem Pietismus sind die Arbeiten Jürgen Helms zentral.16 Insbesondere in seiner Schrift Krankheit, Bekehrung und Reform. Medizin und Krankenfürsorge im Halleschen Pietismus erläutert er die medizinische Versorgung innerhalb der Glauchaschen Anstalten und analysiert zentrale Punkte der medizinischen Auffassungen im Halleschen Pietismus wie das Verständnis von Gesundheit, Krankheit und Heilung.17 Auch die Bedeutung der medizinischen Theorie Georg Ernst Stahls für die Anstaltsärzte und ‑pharmazeuten wurde von Helm und anderen herausgearbeitet, wobei diese nach Helm verschiedene Ansichten Stahls entsprechend ihrer pietistischen Religiosität so umformten, dass ein davon abweichendes „pietistisches Medizinkonzept“ entstanden sei.18 Hierbei wurden bisher Einflüsse aus dem Bereich der alchemistischen Medizin noch nicht mit in den Blick genommen. Die folgende Untersuchung stellt eine erste Annäherung an diesen Thema dar, um das Bild der Pharmazie und Medizin am Halleschen Waisenhaus im 18. Jahrhundert zu erweitern und eine mögliche Bezugsquelle zu betrachten, die insbesondere mit 15 Hierbei werden sowohl Quellen aus dem anstaltsinternen Gebrauch der Waisenhaus-Pharmazeuten (Rezeptsammlungen) und nichtöffentliche Schriftstücke wie Briefe Christian Friedrich Richters an Carl Hildebrand von Canstein herangezogen als auch Texte, die sich nach außen an ein stiftungsexternes Publikum richteten (Publikationen Christian Friedrich Richters zu den Waisenhaus-Medikamenten). 16 Jürgen Helm: Krankheit, Bekehrung und Reform. Medizin und Krankenfürsorge im Halleschen Pietismus.Tübingen 2006; ders.: Christian Friedrich Richters Kurtzer und deutlicher Unterricht (1705). Medizinische Programmschrift des Halleschen Pietismus? In: Die Geburt einer sanften Medizin. Die Franckeschen Stiftungen zu Halle als Begegnungsstätte von Medizin und Pietismus im frühen 18. Jahrhundert. Hg. v. Richard Toellner. Halle 2004, 25–37; ders.: Hallesche Medizin zwischen Pietismus und Frühaufklärung. In: Universitäten und Aufklärung. Hg. v. Notker Hammerstein. Göttingen 1995, 63–96; ders.: Der Umgang mit dem kranken Menschen im Halleschen Pietismus des frühen 18. Jahrhunderts. In: Medizinhistorisches Journal 31, 1996, 67–87. 17 Helm, Krankheit, Bekehrung und Reform [s. Anm. 16]. 18 S. hierzu insbesondere Jürgen Helm: „Ein guter Anfang zu künfftiger Reformation in rebus medicis“. Georg Ernst Stahls medizinische Theorie und der Pietismus des 18. Jahrhunderts. In: Vorträge und Abhandlungen zur Wissenschaftsgeschichte 2010. Hg. v. Sybille Gerstengarbe [u. a.]. Halle 2010, 23–38, hier 30–36 sowie ders., Krankheit, Bekehrung und Reform [s. Anm. 16], 34–47. Ob es innerhalb des Halleschen Pietismus im 18. Jahrhundert, wie Helm in der zuletzt genannten Monografie schreibt, zur Herausbildung eines „Konzepts einer pietistischen Medizin“ gekommen ist bzw. ob diese Begrifflichkeit hier passend ist, kann in diesem Rahmen nicht weiter verfolgt werden. Vgl. ders., Krankheit, Bekehrung und Reform [s. Anm. 16], 55f., 202f. Blickt man auf die medizinischen Vorstellungen, die einzelne vom Halleschen Pietismus geprägte Ärzte, wie Christian Friedrich Richter oder Michael Alberti, vertraten, so wird ein Einfluss ihrer Religiosität deutlich. Für Richter klang dies in den einleitenden Zitaten dieses Aufsatzes bereits an und soll sich im Verlauf der Untersuchung noch weiter zeigen. Zu Michael Alberti siehe ders., Krankheit, Bekehrung und Reform [s. Anm. 16], 43–45 sowie ders., „Ein guter Anfang [...]“ [s. Anm. 18], 32.
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der Religiosität der Waisenhaus-Ärzte in Beziehung gestanden haben könnte und deshalb, wenn es um eine „pietistische Medizin“ oder „pietistische Pharmazie“ geht, relevante Aspekte liefern könnte.19
1. Die Essentia Dulcis und ihre alchemistischen Bezüge Im 18. Jahrhundert gab es innerhalb der Glauchaschen Anstalten zwei pharmazeutische Einrichtungen, die in ihren jeweiligen Aufgabenbereichen weitestgehend voneinander geschieden waren: die Waisenhaus-Apotheke und die Medikamenten-Expedition. Bereits im Gründungsprivileg aus dem Jahr 1698 gestattete Kurfürst Friedrich III. von Brandenburg dem Halleschen Waisenhaus den Betrieb einer eigenen Apotheke. In dieser wurden Arzneimittel nach überlieferten Herstellungsvorschriften und nach individuellen Rezeptvorgaben der behandelnden Ärzte angefertigt und abgegeben20 sowie Haus-, Reise- und Feldapotheken zusammengestellt.21 Dabei erstreckte sich die Versorgung mit Arzneimitteln auch auf anstaltsexterne Patienten. Um das Jahr 1700 kam es in den Glauchaschen Anstalten zur Herstellung erster hauseigener Medikamente – es entstanden die sogenannten Waisenhaus-Arzneimittel.Vor allem durch Rezeptschenkungen wurde dies ermöglicht.22 Beispiele hierfür sind das Elixir Polychrestum, die Essentia Amara, das Magisterium Solare23 sowie die Essentia Dulcis. Die Erarbeitung und Herstellung der eigenen Waisenhaus-Medikamente war ausschließlich Aufgabe der Medikamenten-Expedition.24 Sie widmete sich ebenfalls dem Versand der Arzneimittel, welcher schnell über die Anstalts- und Stadtgrenzen Halles hinausreichte bis in unterschiedliche Länder Europas sowie bis nach Nordamerika und Indien.25
19 Auch wenn teilweise Erwähnungen der alchemistischen und hermetischen Einflüsse auf die Waisenhaus-Medikamente erfolgten, kam es bisher nicht zu einer zusammenhängenden, zielgerichteten Untersuchung dieses Sachverhalts. Bemerkungen finden sich unter anderem in: Renate Wilson, Pious traders in medicine [s. Anm. 13], 85 und Altmann, Christian Friedrich Richter [s. Anm. 2], 46f., 55f. 20 Vgl. Altmann, Christian Friedrich Richter [s. Anm. 2], 42. 21 Vgl. AFSt/W IX/I/1, Bl. 1v. 22 Vgl. Druckerschwärze und Goldtinktur. Zum 300jährigen Jubiläum der Apotheke und Buchhandlung des Waisenhauses zu Halle. Heft 1. Medizin und Pharmazie in den Franckeschen Stiftungen. Bearb. v. Antje Ernst u. Mathias Ernst. Halle 1998, 11. 23 Diese drei Medikamente gehen auf Rezeptschenkungen eines Dr. Fischer aus dem Jahr 1700 zurück.Vgl. Poeckern, Die Hallischen Waisenhaus-Arzeneyen [s. Anm. 13], 15. 24 Vgl. Hans-Joachim Poeckern, Waisenhaus-Apotheke und Medikamenten-Expedition der Franckeschen Stiftungen zu Halle a. d. Saale. In: Die Geburt einer sanften Medizin [s. Anm. 16], 73–86, hier 74f. 25 Vgl. Anagnostou, Missionspharmazie [s. Anm. 13], 367f. Zum Handel mit den WaisenhausArzneimitteln in Nordamerika siehe Wilson, Pious traders in medicine [s. Anm. 12].
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Die Essentia Dulcis (süße Essenz)26 stellte das bekannteste und erfolgreichste unter den hauseigenen Arzneimitteln dar, deren Verkaufszahlen bis etwa 1770 stetig anstiegen und den Glauchaschen Anstalten in dieser Zeit geradezu existenzsichernde finanzielle Erlöse einbrachten.27 In zahlreichen Publikationen beschrieben die Anstaltsärzte die Wirkungen und Heilerfolge der Essentia Dulcis sowie weiterer Waisenhaus-Medikamente und gaben den gebildeten Lesern dieser Schriften zugleich Anleitungsmaterial zur Selbstmedikation wie auch Werbung für das Medikament und indirekt für das Hallesche Waisenhaus an die Hand. Die Publikationen zu den Waisenhaus-Arzneimitteln waren also Teil der „Imagepolitik“ August Hermann Franckes.28 Die Goldtinktur Essentia Dulcis ist das Präparat unter den hauseigenen Zubereitungen, welches die Orientierung an der alchemistischen Arzneitradition wohl am augenfälligsten macht. Goldtinkturen (auch Trinkgold oder Aurum potabile) gab es im 17. und 18. Jahrhundert in großer Zahl, jedoch waren viele von umstrittener Güte.29 In der alchemistischen Arzneitradition spielten Goldzubereitungen eine besondere Rolle und wurden häufig als Universalheilmittel angesehen.30 Seit dem arabischen Gelehrten Geber (Abū Mūsā Dschābir ibn Hayyān, achtes Jahrhundert n. Chr.) schrieben bis ins 18. Jahrhundert hinein nahezu alle Autoren, welche sich mit medizinischer Alchemie beschäftigten, über das Trinkgold.31 Der innerhalb der frühneuzeitlichen Alchemie so einflussreiche Paracelsus (Theophrastus Bombast von Hohenheim, 1493/94–1541) vertrat hierbei auf Grundlage seiner Scheidekunst (Spagyrik) einen besonderen Ansatz zur Goldtinkturbereitung wie auch allgemein zur Arzneimittelherstellung. Die Spagyrik sah ein Auftrennen von Stoffen in ihre Bestandteile sowie ein sich daran anschließendes Neu-Zusammensetzen in größerer geistiger Reinheit vor.32 Zunächst mussten die Stoffe mittels Extraktion, Destillation und Verbrennung aufgespalten werden, denn im Innern der einzelnen Substanzen sollte ihr „vitales Wesen“, ihr „Geist“ bzw. ihre „Quintessenz“ enthalten sein. Die Materie und der in ihr eingeschlossene Geist sollten voneinander getrennt Die Essentia dulcis wurde von August Hermann Francke nach einer süßen Quelle benannt, von der er in der Neujahrsnacht 1700 träumte.Vgl. A. u. M. Ernst, Druckerschwärze und Goldtinktur [s. Anm. 22], 12. 27 Vgl. Gittner, 250 Jahre Waisenhaus-Apotheke [s. Anm. 13], 34 sowie Christian Gottlieb August Runde: Chronik der Stadt Halle 1750–1835. Bearb. v. Bernhard Weißenborn. Halle 1933, 246. 28 S. hierzu Anm. 2. 29 Vgl. Manuel Bachmann u. Thomas Hofmeier: Geheimnisse der Alchemie. Basel 1999, 55. S. hierzu auch: Art. „Trinck-Gold“. In: Johann Heinrich Zedler: Großes vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschaften und Künste [...]. Bd. 45. Leipzig 1745, Sp. 814–827. Hier werden zahlreiche Goldtinkturen, die im 18. Jahrhundert bekannt waren, aufgeführt. 30 Vgl. Lawrence M. Principe: Art. „Gold“. In: Alchemie. Lexikon einer hermetischen Wissenschaft. Hg. v. Claus Priesner u. Karin Figala. München 1998, 158. 31 Vgl. Bachmann u. Hofmeier, Geheimnisse der Alchemie [s. Anm. 29], 55. 32 Vgl. Florian Ebeling: Ägypten als Heimat der Alchemie. In: Goldenes Wissen. Die Alchemie – Substanzen, Synthesen, Symbolik. Hg. v. Petra Feuerstein-Herz u. Stefan Laube. Wiesbaden 2014, 23–34, hier 26. 26
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werden.33 So wurden aus Pflanzen, Mineralien, Metallen und tierischen Substanzen Quintessenzen für verschiedene Arzneiformen wie Tinkturen, Öle und Balsame hergestellt.34 Insbesondere eine Essenz, die den wirksamen Geist des Goldes enthielte, sollte enorme Heilkräfte entfalten können, denn Gold wurde als das „reinste“ unter allen Metallen angesehen.35 Die Frage, wie man den Geist des Goldes herauslösen und in eine im menschlichen Körper wirksame Arzneiform bringen könnte, beschäftigte um 1700 auch den Entwickler der Essentia Dulcis, Christian Friedrich Richter, im Auftrag August Hermann Franckes am Halleschen Waisenhaus. Hierzu zog Richter nach eigener Aussage unklar bzw. nebulös geschriebene Schriften verschiedener Autoren heran, die jedoch „die Sache so dunckel und unvollkommen vorgetragen / daß man sich wenig daraus helffen können“.36 Leider gibt Richter nicht an, bei welchen Autoren er diesbezüglich konkret Rat einholte. Alchemistische Goldtinkturen waren in der Regel rot, denn sie standen in enger Verbindung mit dem Stein der Weisen, welchen man sich üblicherweise als roten festen Körper oder als rotes Pulver vorstellte.37 Dieser Lapis philosophorum sollte nicht nur unreinere Metalle in reinere transformieren, sondern auch universelle Heilkräfte besitzen.38 Die Essentia Dulcis war ebenfalls rot, es handelte sich um feinstverteilte Goldpartikel in Spiritus vini (Weingeist, Alkohol), was eine rötliche Flüssigkeit ergab. Die Essentia Dulcis wurde auf Grundlage alchemistisch geprägter und wahrscheinlich verschlüsselt geschriebener39 Manuskripte entwickelt, die den Glauchaschen Anstalten kurze Zeit nach deren Gründung im Dezember 1700 von einem Herrn Burgstaller40 geschenkt wurden. Mit der Fertigung des Medikaments wurde Christian Friedrich Richter beauftragt. Dieser war bis dahin als Arzt an den Glauchaschen Anstalten tätig gewesen. Er wurde nun jedoch weitestgehend von seinen ärztlichen Pflichten entbunden, um sich der Entwicklung von Arzneimitteln aus den Manuskripten zu widmen, die dem Waisenhaus von Burgstaller und anderen Gönnern überlassenen worden waren. Die Burgstallerschen Dokumente gelten heute als verschollen und aus der Anfangszeit der Entwicklung des Präparats sind keine Aufzeichnungen von Christian Friedrich Richter vorhanden. Es sind jedoch Rezepturen der Essentia
Vgl. Wolf-Dieter Müller-Jahnke: Art. „Paracelsus“. In: Alchemie [s. Anm. 30], 268. Vgl. Ebeling, Ägypten [s. Anm. 32], 25. 35 Vgl. Bachmann u. Hofmeier, Geheimnisse der Alchemie [s. Anm. 29], 56. 36 Christian Friedrich Richter: Merckwürdige Exempel Sonderbarer durch die Essentiam Dulcem Von Anno 1701 biß 1708 geschehener Curen [...]. Halle 1708, 7. 37 Vgl. Lawrence M. Principe: Art. „Lapis philosophorum“. In: Alchemie [s. Anm. 29], 216. 38 Vgl. Principe, Lapis philosophorum [s. Anm. 37], 219. 39 Vgl. Poeckern, Die Hallischen Waisenhaus-Arzeneyen [s. Anm. 13], 22. 40 Wahrscheinlich handelte es sich bei diesem Herrn Burgstaller um den in Halle ansässigen, ursprünglich aus Reichenstein in Schlesien stammenden Kaufmann Johann Burgstaller.Vgl. Altmann, Christian Friedrich Richter [s. Anm. 2], 45. 33 34
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Dulcis in zwei Rezeptsammlungen41 sowie mehreren einzeln vorliegenden Schriftstücken42 aus dem 18. Jahrhundert im Archiv der Franckeschen Stiftungen erhalten, die von leitenden Mitarbeitern der Medikamenten-Expedition angefertigt wurden. Die älteste erhaltene Gesamtvorschrift zur Herstellung der Essentia Dulcis ist wahrscheinlich jene, die Johann Heinrich Grischow43 (1677– 1754) 1740 notierte.44 Außerdem existieren Rezeptsammlungen von David Samuel von Madai (1709–1780), dem Leiter der Medikamenten-Expedition ab 1739, und Johann Friedrich Koch (*1743), der dem Labor im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts vorstand45. Insbesondere die Rezeptur von David Samuel von Madai46 aus den 1740er Jahren enthält vielfältige alchemistische Bezüge. In Madais Text ist beispielsweise zu lesen: [D]as Gold wird mit einem menstruo admodum amico soluiret, welches wir beßerer Verschwiegenheit halber Ens zu nennen pflegen. Weil aber dieses gelinde und gar nicht corrosivische menstruum in das grobe [Gold] so leichte nicht agiren kann, so wird es vorher in [Aqua regis] soluiret und endlich erst in die rechte Arbeit genommen.47
Im vorliegenden Textausschnitt wird geschildert, dass ein sogenanntes Ens in das Gold „agieren“ muss, also in das materielle Gold eindringen soll. An späterer Stelle im Text heißt es auch: „so greift das Ens ins [Gold]“48. Madai beschreibt wie das Ens wirkt – und hierbei handelt es sich um eine alchemistische Auffassung. Wie zuvor beschrieben, bestand eine vor allem auf Paracelsus zurückgehende
AFSt/W IX/II/14 c, e. AFSt/W IX/II/45 b, d, n, r. 43 Johann Heinrich Grischow stand eigentlich von 1712 bis zu seinem Tod 1754 der Bibelanstalt des Waisenhauses (später Cansteinsche Bibelanstalt genannt) vor. Nach Hans-Joachim Poeckern sorgte Grischow durch seine genaue Niederschrift des Herstellungsprozesses der Essentia Dulcis dafür, dass das Waisenhaus im Besitz einer zuverlässigen Gesamtvorschrift zur Fertigung des Medikaments blieb, indem er diese 1740 dem neuen Direktor der MedikamentenExpedition, David Samuel von Madai (1709–1780), übergab. Ein Grund für diese „Sicherungsmaßnahme“ seien die anhaltenden Streitereien um die Eigentumsrechte an den Rezepturen bestimmter Waisenhaus-Medikamente gewesen, die zwischen der Familie der verstorbenen Richter-Brüder Christian Friedrich und Christian Sigismund (1672/73–1739), die nacheinander bis 1739 der Medikamenten-Expedition vorgestanden hatten, und der Anstaltsleitung entbrannt waren. Poeckern, Die Hallischen Waisenhaus-Arzeneyen [s. Anm. 13], 34f. sowie ders.: Halles Apotheken. Eine Geschichtsbetrachtung. Leipzig [u. a.] 2005, 57. 44 AFSt/W IX/II/45 d. 45 Der Direktor der Medikamenten-Expedition war zur Zeit von Kochs Laborleitung Carl August von Madai (1739–1816). 46 AFSt/W IX/II/14 c. 47 Hans-Joachim Poeckern: Transkription des Madai-Manuals. In: Ders.: Die Hallischen Waisenhaus-Arzeneyen [s. Anm. 13], 107–254, hier 124. Poeckern löst die alchemistisch-pharmazeutischen Symbole im Text in Wörter auf, welche er in eckige Klammern setzt. 48 Poeckern, Transkription [s. Anm. 47], 127. 41 42
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Annahme in Bezug auf die Herstellung von Arzneimitteln darin, dass man durch den Prozess des Aufschließens an das innere Wesen einer Substanz kommen könne. Der Geist des Goldes sollte als das eigentlich Wirksame gewonnen werden. Er sollte dasjenige sein, was der Essentia Dulcis ihre Heilkraft verlieh. Das Ens war hierbei kein Lösungsmittel im heutigen Sinne einer Aufspaltung und Verteilung von Teilchen in einer Flüssikeit, sondern ein „Aufschließungsmittel“. Der Begriff „Ens“ verweist auf Paracelsus’ Entienlehre und impliziert eine Wirkkraft auf geistiger Ebene.49 Durch das Ens wurde – wie Madai es ausdrückt – das Gold „erst in die rechte Arbeit genommen“50. Das Wissen um das spezifische Ens als Mittel, welches das Gold aufschließen konnte, wurde über das 18. Jahrhundert hinweg am Halleschen Waisenhaus als kostbar angesehen und sollte vor Personen geschützt werden, die eine Nachahmung der Essentia Dulcis beabsichtigten. Bei diesem Ens handelte es sich um Kampfer.51 Zu der Aufschließung des Goldes kam als entscheidender Herstellungsschritt noch das „Ausziehen“ des „reinen Geistes“ bzw. der „Quintessenz“ mittels Spiritus salis armoniaci (Salmiak-Spiritus) hinzu. Die spezifische Aufgabe des Spiritus wird in der Rezeptur Madais zur Essentia Dulcis deutlich: enn das [sublimi]rte Ens nach der dritten Arbeit separiret ist, so gießet man W [Spiritum salis armonia]ci darauf, so solviret er das solvirte [Gold] heraus […]. […] [M]an decket den Kolben feste zu, läßet es ein paar Tage stehen, schwencket es öfters um und wenn es sich wieder wohl gesetzet hat, so decantiret man mit Behutsamkeit die [Tinctur], damit nichts von dem [Gold][Pulver] mit übergehe […]. Diese [Tinctur] wird gesammlet […].52
Der spezielle Spiritus sollte also das „solvirte Gold“ herauslösen, nachdem das überschüssige Ens abgetrennt worden war. Im Kolben befand sich zu diesem Zeitpunkt nur das mit Ens gesättigte Gold. Die Formulierung Madais kann somit nur bedeuten, dass aus diesem materiellen Gold – dem „[Gold][Pulver]“ – das „solvirte Gold“, also der Geist des Goldes, herausgeholt werden sollte. Die so erhaltene Essenz des Goldes ergab die sogenannte Tinktur. Der alchemistischen Bedeutung nach stellte diese das „innere Wesen“ der Substanz dar. Zurück blieb die bloße Hülle des Goldes, das heißt dessen „Schlacke“. Es wird deutlich, dass auch dieser Arbeitsschritt bei der Fertigung der Essentia Dulcis einen alchemistischen Hintergrund hatte. Insgesamt sind in den verschiedenen erhalten gebliebenen Rezepturen zur Essentia Dulcis vielfältige Vorgehensweisen Der Begriff „Ens“ leitet sich vom Lateinischen her und bedeutet so viel wie „Sein“, „Geist“, „Wesen“. Insbesondere in der Entienlehre des Paracelsus spielte der Begriff eine wichtige Rolle.Vgl. Claus Priesner: Geschichte der Alchemie. München 2011, 54. 50 Poeckern, Transkription [s. Anm. 47], 124. 51 Da Kampfer stark riecht und dadurch leicht zu erraten gewesen wäre, war es notwendig, besondere Maßnahmen zu treffen, um dieses Ens geheim zu halten.Vgl. A. u. M. Ernst, Druckerschwärze und Goldtinktur [s. Anm. 22], 13. 52 Poeckern, Transkription [s. Anm. 47], 128f. 49
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aus der alchemistischen Labortradition wie auch speziell aus der auf Paracelsus zurückgehenden Scheidekunst erkennbar. Weitere Beispiele für Waisenhaus-Rezepturen, die aus der alchemistischen Arzneitradition stammen, sind die Tinctura Corallina und die Tinctura Antimonii. Über Letztere schreibt Christian Friedrich Richter in einem Brief an Carl Hildebrand von Canstein (1667–1719) vom 4. August 1702: Der Effect den die Tinctura [Antimon]ii bewiesen, ist gar wohl zu notiren, und wenn es nach dem Ausspruch des Basilii und Paracelsi ergehen sol, so wird es freylich gar ein kräfftiges Medicament seyn: denn es ist der allerzarteste und reinste Theil aus dem Antimonio […].53
Hier werden Persönlichkeiten der alchemistischen Traditon benannt – Paracelsus und wahrscheinlich Basilius Valentinus54, an denen Richter sich bei der Arzneimittelentwicklung orientierte. In den Briefen, die Richter in den Jahren 1701 bis 1711 an Canstein während seiner Tätigkeit als Direktor der Medikamenten-Expedition der Glauchaschen Anstalten schrieb, lässt sich auch an anderen Stellen seine Berufung auf Autoritäten der alchemistischen Arzneitradition erkennen – so im einem Brief vom 29. Juli 1702: w. Gnad. werden sich erinnern, daß sie mir einmal Perlen zugesendet, aus denselE ben habe ich nun die Qvintessentz gantz subtil und rothgelb extrahiret, welche /ich/, wenn sie ihren effect /thut/, werde liqvorem Perlarum Paracelsi nennen. Auch aus den Corallen habe eine Tinktur bluthroth extrahiret […].55
Richter ging, wie im Zitat deutlich wird, bei der Entwicklung der genannten Präparate im alchemistisch-paracelsistischen Sinne vor und maß auch der roten
Brief Christian Friedrich Richters an Carl Hildebrand von Canstein, 04.08.1702, enthalten in der Briefedition: Fromme Unternehmer. Briefe der Ärzte Christian Friedrich und Christian Sigismund Richter an Carl Hildebrand v. Canstein. Hg. v. Jürgen Helm u. Elisabeth Quast. Halle 2010, 54 (= Brief Nr. 28). 54 Basilius Valentinus wird in der Literatur in der Regel als Johann Thölde identifiziert.Thölde lebte um 1600. Seine genauen Lebensdaten sind unbekannt. Er war vor allem im thüringischen Salinenwesen tätig. Eine Zeit lang bekleidete er das Amt des Berghauptmanns des Fürstbistums Bambergs. Unter dem Namen Basilius Valentinus wurden um 1600 verschiedene alchemistische Schriften herausgegeben, die sich stark an der Lehre von Paracelsus orientierten bzw. diese teilweise noch präzisierten. Vgl. Claus Priesner: Art. „Basilius Valentinus“. In: Alchemie-Lexikon [s. Anm. 30], 73. S. dazu auch ders., Geschichte der Alchemie [s. Anm. 49], 62–66. In dem Brief Richters könnte mit „Basilius“ eventuell auch Andreas Libavius gemeint sein, der teilweise das Anagramm „Basilius de Varna“ als Pseudonym benutzte. Vgl. ders., Geschichte der Alchemie [s. Anm. 49], 59. 55 Brief Christian Friedrich Richters an Carl Hildebrand von Canstein, 29.07.1702. In: Fromme Unternehmer [s. Anm. 53], 53 (= Brief Nr. 27). 53
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Farbe eine besondere Bedeutung bei.56 Johan Baptista van Helmont (1580– 1644) wird in den Briefen ebenfalls als Quelle pharmazeutischen Wissens erwähnt.57 Dabei zeigte Richter in seinen Briefen an Canstein generell eine größere Offenheit in Bezug auf alchemistische Anleihen, die er bei der Arzneimittelentwicklung nahm, als in seinen für die Öffentlichkeit bestimmten Publikationen zu den Waisenhaus-Arzneimitteln, in denen man die Namen Paracelsus, Basilius oder van Helmont vergeblich sucht. Auf diese Veröffentlichungen Richters und mögliche Gründe für eine solche Vorsicht wird später noch näher eingegangen.
2. Alchemistische Einflüsse auf Christian Friedrich Richters medizinische Ansichten Es sollen einige grundlegende medizinische Auffassungen Richters betrachtet werden, um der Frage nachzugehen, ob alchemistische Orientierungen sich in seinen Vorstellungen von Krankheit und Arzneimittelwirkung niederschlugen. Dadurch kann eingeschätzt werden, ob es lediglich zu praktischen, handlungsorientierten Übernahmen aus der alchemistischen Labortradition zum Zweck der Arzneifertigung am Halleschen Waisenhaus kam oder ob sich auch spezifische alchemistische Erklärungsmuster für die Arzneitherapie als anschlussfähig erwiesen. Aufschlüsse hierzu geben entsprechende Äußerungen Richters in seinen Publikationen zu den Waisenhaus-Arzneimitteln insgesamt sowie der Essentia Dulcis im Speziellen.58 Christian Friedrich Richter ging von einem immateriellen Steuerelement im Menschen aus, welches für den richtigen Ablauf der Körperprozesse, für die Gesunderhaltung und die Bekämpfung von Krankheiten zuständig war. Er orientierte sich diesbezüglich stark an dem Medizinkonzept des in Halle an der Friedrichsuniversität Medizin lehrenden sowie als Arzt praktizierenden Georg
S. für Informationen über die Bedeutung von Korallen und Perlen in der alchemistischen Medizin Petra Feuerstein-Herz: Im alchemischen Laboratorium. In: Goldenes Wissen [s. Anm. 32], 277–356, hier 308. 57 Vgl. die Briefe Nr. 24, 27 und 51 in: Fromme Unternehmer [s. Anm. 53]. 58 Christian Friedrich Richter: Bericht von Der Artzney Essentia Dulcis […]. Halle 1701; ders.: Merckwürdige Exempel Der Unter dem Seegen Gottes Durch die Essentia Dulcem geschehenen Curen […]. Halle 1702; ders.: Selectus Medicamentorum Zu einer compendieusen HaußReise- Und Feld-Apothecke […]. Halle 1702; ders.: Ausführlicher Bericht von der Arzney Essentia Dulcis […]. Halle 1703; ders. u. Christian Sigismund Richter: Fernerer Bericht von der Gesegneten Würckung der Essentia Dulcis […]. Halle 1703; ders.: Kurtzer und deutlicher Unterricht von dem Leibe und natürlichen Leben des Menschen […]. Halle 1705; ders.: Merckwürdige Exempel Sonderbarer durch die Essentiam Dulcem von Anno 1701 biß 1708 geschehener Curen […]. Halle 1708; ders.: Ausführlicher Bericht von der Essentia Dulci […]. Halle 1708. Insbesondere Richters Schrift Kurzer und deutlicher Unterricht, welche von Jürgen Helm bereits eingehend untersucht wurde, gibt Auskünfte über Richters medizinische Ansichten. S. hierzu Helm, Richters Kurtzer und deutlicher Unterricht [s. Anm. 16]. 56
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Ernst Stahl (1659–1734), bei dem er drei Jahre lang studiert hatte. Stahl nahm eine synergetische Einheit von Seele (synonym bei ihm auch als „Natur“ bezeichnet) und Leib im lebendigen Organismus an.59 Im Unterschied zu den cartesianischen Dualisten ging er nicht von einer Trennung zwischen Körper und Geist aus und damit auch nicht von subtilmateriellen Lebensgeistern oder einem Nervensaft zur Vermittlung zwischen Geist und Materie.60 Nach Stahls Vorstellung durchdrangen die Seele und der Leib sich gegenseitig,61 wobei die Seele als „vernünftiges Lebensprinzip“ die Körperprozesse steuerte.62 Obwohl die Existenz und das Funktionieren eines lebendigen Organismus demnach gleichermaßen an die Seele wie den Körper gebunden waren, kam der Seele durch ihre regulierende Funktion in Stahls Konzeption in bestimmter Weise eine dem Körper übergeordnete Rolle zu.63 Für Stahl war dabei die Frage nach der Beschaffenheit der Seele zweitrangig, da nicht in den medizinischen, sondern theologischen Bereich gehörig. Dabei setzte er zwar begrifflich das beschriebene immaterielle Steuerprinzip „Seele“ mit der „menschlichen Seele“ gleich, ohne daran jedoch theologische Aussagen zu knüpfen.64 In der Forschung hat sich die Überzeugung durchgesetzt, dass Christian Friedrich Richter die Stahlsche Auffassung von Seele/Natur im christlichen Sinn erweitert hat, was auch bei anderen Ärzten, die vom Halleschen Pietismus beeinflusst waren, der Fall war.65 Bei Richter bekam der Begriff „Seele“ eine Bezogenheit auf Gott und damit eine religiöse Bedeutung. Es sei der Herr, von dem der Mensch seine Seele erhalte und mit ihm bleibe er auch über diese verbunden, was bedeutet, dass Gott die Menschen über ihre Seelen ansprechen könne. Letzteres führt zu Richters Vorstellungen der Krankheitsentstehung. Die Krankheiten kämen von Gott, sie seien dessen „Pfeile“, mit denen er die Chris-
59 Vgl. Johanna Geyer-Kordesch: Pietismus, Medizin und Aufklärung im 18. Jahrhundert. Das Leben und Werk Georg Ernst Stahls. Tübingen 2000, 160. 60 Vgl. Geyer-Kordesch, Pietismus, Medizin und Aufklärung [s. Anm. 59], 160 u. 170 sowie Friedemann Stengel: Lebensgeister – Nervensaft. Cartesianer, Mediziner, Spiritisten. In: Aufklärung und Esoterik 2013 [s. Anm. 10], 340–377, hier 358. Friedemann Stengel gibt in seinem Aufsatz unter anderem einen Überblick über unterschiedliche Erklärungen zur Vermittlung zwischen Geist/Seele und Materie bei mehreren Medizinern, Theologen und Philosophen des 18. Jahrhunderts, in Abgrenzung zu anderen Auffassungen wie denen der sogenannten Animisten bzw. Stahlianern. 61 Vgl. Geyer-Kordesch, Pietismus, Medizin und Aufklärung [s. Anm. 59], 160. 62 Vgl. Helm, Krankheit, Bekehrung und Reform [s. Anm. 16], 30. 63 Vgl. Irmtraut Sahmland: Das „Decorum Medici von denen Machiavellischen Thorheiten gereinigt“ – eine medizinische Anleitung von Johann Samuel Carl. In: Medizin- und kulturgeschichtliche Konnexe des Pietismus [s. Anm. 12], 19–44, hier 32. 64 Vgl. Helm, Krankheit, Bekehrung und Reform [s. Anm. 16], 33f. 65 Vgl. hierzu Helm, Krankheit, Bekehrung und Reform [s. Anm. 16], 39 sowie Florian Steger u. Jürgen Brunner: Vom Verschwinden der Seele in der neuzeitlichen Medizin – oder: Von den zahlreichen Lokalisationsbemühungen in der Geschichte der Medizin. In: Leibbezogene Seele. Interdisziplinäre Erkundungen eines kaum noch fassbaren Begriffs. Hg. v. Jörg Dierken u. Malte Dominik Krüger. Tübingen 2015, 13–27, hier 19f.
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ten in ihrem Glauben prüfen und zu einer Selbstreflexion in Bezug auf ihre Sünden bewegen könne.66 Daraus sollte für Richter eine verstärkte Hinwendung des Kranken zu Gott resultieren. Richter schreibt in seiner Publikation Kurtzer und deutlicher Unterricht Von Dem Leibe und natürlichen Leben des Menschen, dass „alles Gute bloß und allein herrühre von der ausfließenden Liebe und Gnade unsers Gottes / der da ist Alles in Allen / und daß alle Creatur ein todtes unkräfftiges Ding sey / wenn Gott den Segen / den er darein geleget / zurück ziehet […].“67 Das von Gott herrührende Prinzip belebe die Materie also erst und erhalte sie. In dieser Seele-Vorstellung Richters spiegelt sich jedoch teilweise auch die Annahme einer Anima mundi, einer Weltseele, wieder, die bis auf Platon zurückgeht und in der Renaissance-Zeit erneuert wurde.68 Man ging dabei von der Idee des Kosmos als einem zusammenhängenden Organismus aus, welcher durch Gott geschaffen wurde.69 Hieraus resultierte die Vorstellung einer Korrespondenz zwischen Mikro- und Makrokosmos, wobei Erstgenannter den Menschen als Spiegelbild des ihn umgebenden Weltenraums (Makrokosmos) meint. Das Lebens- und Bewegungsprinzip beider stellte eine ihnen innewohnende Seele dar, die von Gott verliehen war. Eine verbreitete Vorstellung – so zum Beispiel beim Neuplatoniker Marsilio Ficino (1433–1499) – war es, dass die Weltseele jegliche Materie und damit alle Körper wie ein Band durchziehe und verbinde.70 Dies war auch eine Antwort auf die Frage, auf welche Weise Gott in seiner Schöpfung stets präsent sein und wirken könne.71 Gerade der christliche Rückbezug, den die Medizin für Richter hatte, machte die Vorstellung einer Anima mundi und daran anknüpfend die Idee einer geistigen Arzneimittelwirkung für ihn so anschlussfähig. Die oben erläuterte geistige Heilkraft, die die Präparate entfalten sollten, passte zu dieser Seele-Vorstellung.
Vgl. bspw. Richter, Ausführlicher Bericht 1703 [s. Anm. 58]. Richter, Kurtzer und deutlicher Unterricht [s. Anm. 58], 539f. Diese Publikation handelt von den Waisenhaus-Medikamenten insgesamt, aber besonders ausführlich von der Essentia Dulcis und präsentiert darüber hinaus Richters medizinische Auffassungen umfangreich. 68 Vgl. Bernhard Joly: Art. „Weltseele“. In: Alchemie-Lexikon [s. Anm. 30], 373 und Steven Shapin: Die wissenschaftliche Revolution. Frankfurt/Main 1998, 56. Wie Monika NeugebauerWölk in einem Artikel zum Begriff „Esoterik“ erläutert, begann in der Renaissancezeit, insbesondere im Florenz des 15. Jahrhunderts, mit der Antikenrezeption dieser Zeit die Beschäftigung mit dem Mittel- und Neuplatonismus durch Persönlichkeiten wie Marsilio Ficino oder Giovanni Pico della Mirandola. Eine Bewegung entstand, in deren Zuge zahlreiche Schriften hervorgebracht wurden, die das „alte“ Wissen, welches in antiken Quellen vorgefunden wurde, wieder neu verbreiteten. So erschien 1471 Ficinos lateinische Übersetzung des Corpus Hermeticum.Vgl. Neugebauer-Wölk, Esoterik [s. Anm. 8], 172. 69 Vgl. Luboš Antonin: Alchemie, Magie und Wissenschaft. In: Magia Naturalis. Alchemie. Magie und Wissenschaft in der Frühen Neuzeit. Hg. v. Günter Scholz. Böblingen 2000, 17–58, hier 23. 70 Vgl. Bernhard Joly: Art. „Seele“. In: Alchemie-Lexikon [s. Anm. 30], 329. 71 Vgl. Anne-Charlott Trepp: Alchemie und Religion in der Frühen Neuzeit. Das Reine vom Unreinen trennen. In: Goldenes Wissen [s. Anm. 32], 67–72, hier 72. 66 67
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Wenn ein Medikament in der Lage ist – unter göttlicher Einflussnahme bzw. mit göttlichem Segen – auf die Seele im menschlichen Körper unmittelbar einzuwirken, diese also zu stärken, dann ist dies eine unmittelbare Ursachenbehandlung statt einer symptomatischen Behandlung der Krankheitserscheinungen des Körpers. So weitet Richter nicht nur Stahls Seele-Begriff in eine theologische Richtung hin aus, er verbindet damit auch eine konkrete Behandlungsstrategie für die Seele. Voraussetzung hierfür ist Richters christliche Überzeugung von der Möglichkeit einer Einflussnahme Gottes auf die menschliche Seele – entweder unmittelbar oder indirekt mittels der Arzneimittel. Es verwundert deshalb nicht, dass er den Medikamenten eine besondere Heilkraft zuspricht, wenn sie als geistig wirksame Essenzen vorliegen. Ein weiterer entscheidender Punkt bei der Behandlung der Seele ist auch das Erlangen von Gemütsruhe durch den Patienten.72 Die Aussöhnung mit Gott, die hinter dieser Gemütsruhe steht, soll durch eine intensive Hinwendung des Gläubigen zu Gott erreicht werden.73 Sowohl die geistliche als auch arzneiliche „Seelenkur“ stellten für Richter Möglichkeiten dar, die Seele zu therapieren, und in beiden Fällen kam die Heilung von Gott. In Richters Publikationen zu den Waisenhaus-Medikamenten fallen immer wieder Begriffe aus der alchemistischen Medizin/Pharmazie ins Auge. Neben dem Begriff „Seele“ verwendet er beispielsweise synonym dazu die Ausdrücke „Natur“, „Geist“ sowie „Archaeus“, „Lebensgeist“ und „Spiritus animales“. Die Bezeichnung „Archaeus“ geht wahrscheinlich auf Paracelsus zurück. Dieser wies den einzelnen Organen im Körper jeweils einen sogenannten Archeus zu, welcher als geistiges Steuerelement für die richtige Tätigkeit und Gesunderhaltung zuständig sein sollte und dessen Fehlfunktion einen Krankheitszustand hervorrufen konnte.74 Die körperliche Beeinträchtigung war in diesem Fall der geistigen bei der Krankheitsentstehung also nachgeschaltet – die Krankheitsursache war auf geistiger Ebene zu finden und brachte körperliche Symptome hervor. Dies wird auch bei Richter und Stahl deutlich, beide sahen die Beeinträchtigung der Seele/Natur bzw. des Lebensgeistes als grundlegende Ursache für Erkrankungen an. Richters Arzneitherapie kennt, wie zur damaligen Zeit üblich, ebenfalls eine Behandlung im Sinne der Humoral- und Temperamentenlehre. Immer wieder finden sich in seinen Schriften diesbezügliche Ausführungen. So nimmt er, humoralmedizinischer Sicht folgend, vielfach einen Ausgleich des Ungleichgewichts der vier Körpersäfte (Blut, Schleim, gelbe und schwarze Galle) als Arzneimittelwirkung an, indem diese harn- oder schweißtreibend bzw. abführend
Vgl. Helm, Richters Kurtzer und deutlicher Unterricht [s. Anm. 16], 32. Vgl. Helm, Richters Kurtzer und deutlicher Unterricht [s. Anm. 16], 32. 74 Vgl. Priesner, Geschichte der Alchemie [s. Anm. 49], 55. Nach Claus Priesner handelt es sich beim Begriff „Archeus“ um eine Mischung aus Griechisch und Latein, der in etwa mit „Lebenskraft“ bzw. „Weltgeist“ wiedergegeben werden kann; vgl. ebd. 72 73
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sein sollten.75 Bisherige Untersuchungen zu den Waisenhaus-Arzneimitteln sind vor allem auf diese Erklärungsmuster zur Medikamentenwirkung eingegangen, weshalb dies hier nur kurz anklingen soll und stattdessen dem Prinzip der geistigen Wirkkraft mehr Aufmerksamkeit geschenkt wird, welches für die Arzneimittelentwicklung und -therapie am Halleschen Waisenhaus zu Beginn des 18. Jahrhunderts zentral war. In Richters Publikationen zur Essentia Dulcis zeigen sich noch weitere Übernahmen aus der alchemistischen Arzneitradition. Beispielsweise tritt darin der für die alchemistische Pharmazie so wichtige Begriff der Reinheit hervor. So bezeichnet er beispielsweise „die Materie/ aus welcher die Essentia dulcis gemacht wird“, in seinen Schriften als „rein“.76 Jedoch werden auch die Grenzen dessen deutlich, was vor dem zeitgenössischen gebildeten Leser dieser Schriften noch als glaubwürdig galt. Ein Beispiel hierfür ist die für ein Aurum potabile typische alchemistische Zuschreibung, eine Panacea, also ein Universalheilmittel, zu sein.77 Diese taucht in den Veröffentlichungen zur Essentia Dulcis auf, jedoch in abgeschwächter Weise. Richter stellt die Essentia Dulcis nur in einem Sinn als Universalheilmittel dar: in Bezug auf ihre allgemein stärkende Wirkung auf die menschliche „Natur“.78 Er schreibt über sie: „[I]n solchem Verstande ist sie eine allgemeine oder Universal-Arzney/ so in allen Kranckheiten/ ohne einige Ausnahme/ sicher zu gebrauchen ist: Weil in allen Kranckheiten stärkende Mittel nützlich/ und öffters nöthig sind […].“79 Jedoch schränkt er ein, dass sie für bestimmte Krankheiten wie Epilepsie, Gicht, Entzündungen besonders geeignet sei und bei anderen lediglich unterstützend neben anderen Präparaten wirke, wobei die für die Essentia Dulcis angegebenen Indikationen aber mehr als umfangreich sind.80 Einerseits stellte die universelle Wirkung eine Besonderheit des Arzneimittels dar, die auch herausgestellt und beworben werden sollte, andererseits wäre eine Deklaration als Allheilmittel sicherlich auf Kritik gestoßen und für unglaubwürdig bzw. absichtlich irreführend erklärt worden. Doch wo lagen neben einer solchen Vorsicht in Bezug auf das Urteil der Zeitgenossen bezüglich der Essentia Dulcis weitere Grenzen für Übernahmen aus dem Feld der alchemistischen Medizin/Pharmazie? An welcher Stelle gelang Richter die Synthese eigener christlicher Überzeugungen mit alchemistischen Vorstellungen nicht? – Er ging zwar von geistigen Wirkkräften innerhalb der Arzneimittel aus, jedoch gab es für ihn einen grundsätzlichen Unterschied zwischen jenen und dem immateriellen Prinzip im belebten Körper.Verdeutli Vgl. Poeckern, Die Medikamenten-Expedition [s. Anm. 13], 31. Richter, Ausführlicher Bericht 1708 [s. Anm. 58], 17. 77 Vgl. Stefan Laube: Die Alchemie. Kontexte und Phänomene. In: Goldenes Wissen [s. Anm. 32], 176–237, hier 202. 78 Vgl. bspw.: Richter, Bericht von der Artzney Essentia Dulcis 1701 [s. Anm. 58], Bl. 2v; ders., Kurtzer und deutlicher Unterricht [s. Anm. 58], 399f. 79 Richter, Ausführlicher Bericht 1708 [s. Anm. 58], 21. 80 Vgl. Richter, Kurtzer und deutlicher Unterricht [s. Anm. 58], 403ff.; ders., Ausführlicher Bericht 1703 [s. Anm. 58], 10ff. 75 76
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chen kann dies erneut folgendes bereits früher angeführte Zitat Richters, dass „alles Gute bloß und allein herrühre von der ausfließenden Liebe und Gnade unsers Gottes / der da ist Alles in Allen / und daß alle Creatur ein todtes unkräfftiges Ding sey / wenn Gott den Segen / den er darein geleget / zurück ziehet […].“81 Richter benennt hier konkret die „Creatur“ als von Gott belebt im Gegensatz zum „todte[n] unkräfftige[n] Ding“, der unbelebten Materie. Richter sprach den geistigen Kräften in den unbelebten Dingen durchaus eine heilende, ordnende Wirkung auf belebte Körper zu, die mit Gottes Einfluss unmittelbar zusammenhänge. Jedoch sah er in diesem geistigen Wesenskern kein belebendes Element. Seine Vorstellung ging nicht so weit, zum Beispiel auch die Mineralien als belebt zu betrachten, was einer gängigen alchemistischen Auffassung entsprochen hätte.82 Richters pietistische Religiosität machte für ihn somit einerseits alchemistische Deutungsmuster bei der Arzneitherapie besonders anschlussfähig, setzte ihm andererseits aber auch Grenzen in Bezug auf die Übernahme typischer alchemistischer Vorstellungen von der Materie und den Naturerscheinungen. Diese Betrachtungen führen weiter zu der Fragestellung, wie man sich am Halleschen Waisenhaus nach außen hin zur Alchemie positionierte. Bei aller Anschlussfähigkeit pietistischer Religiosität an alchemistische Ideen und auch bei den Grenzen, die sich dabei zeigen, war es von zentraler Bedeutung für die am Anfang des 18. Jahrhunderts noch im Entstehen und Wachsen begriffene Institution Hallesches Waisenhaus, wie sich die diesbezüglich Wahrnehmung und Beurteilung der Öffentlichkeit gestaltete.
3. Zum „häretischen“ Potential der Alchemie um 1700 Um bewerten zu können, was eine Orientierung an pharmazeutischen Annahmen aus der alchemistischen Tradition in der Zeit um 1700 am Halleschen Waisenhaus bedeutete, sollen hier einige Einschätzungen der Alchemie von theologischer und medizinischer Seite wiedergegeben werden. Die Glauchaschen Anstalten wollten sich mit ihren Zubereitungen auf dem im 18. Jahrhundert sehr heterogenen Arzneimittelmarkt behaupten und öffentlich geäußerte negative Beurteilungen von Medizinern konnten dem entgegenwirken. Theologische Kritik konnte außerdem das Image des gesamten Halleschen Waisenhauses angreifen und seitens konfessioneller Lutheraner waren die hallischen Pietisten vor allem in der Anfangszeit des Bestehens der Anstalten ohnehin
Richter, Kurtzer und deutlicher Unterricht [s. Anm. 58], 539f. So war es eine verbreitete Auffassung, dass die Erze in der Erde wüchsen. Vgl. Laube, Die Alchemie. Kontexte und Phänomene [s. Anm. 77], 180. 81 82
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vielfältigen Angriffen ausgesetzt.83 Die pietistischen Bewegungen kämpften von Beginn ihrer Herausbildung an mit heftigen theologischen Vorwürfen, wobei es teilweise sogar zu Ketzereivorwürfen kam, wie in Friedrich Christian Büchers (1651–1714) Schrift Plato Mysticus in Pietista Redivivus aus dem Jahr 1699.84 Hier wurden die Pietisten auf eine Stufe mit Häretikern, Montanisten und Sozinianern gestellt.85 Bücher verfolgt die Wurzeln pietistischer Auffassungen, wie beispielsweise chiliastische Vorstellungen zum Weltende und die Betonung der Erfordernis der guten Werke, bis zum Renaissance-Neuplatonismus sowie zum Paracelsismus zurück und ordnet die mystische Theologie der Hermetik zu.86 Mystizismus- und Heterodoxie-Vorwürfe waren für August Hermann Francke nicht neu, der sich bereits zu Beginn der 1690er Jahre durch seine Verbindung zu den ekstatisch-visionären „begeisterten Mägden“ in Halberstadt, Quedlinburg und Erfurt heftiger Kritik ausgesetzt sah.87 Insbesondere im institutionellen Rahmen der Glauchaschen Anstalten mussten solche Vorwürfe jedoch vermieden werden. So ist ab Mitte der 1690er Jahre eine größere Vorsicht 83 Vgl. Peter Schicketanz: Der Pietismus von 1675–1800. Leipzig 2001, 101–103. Insbesondere in den Unschuldigen Nachrichten Von Alten und Neuen Theologischen Sachen, die von 1701 bis 1761 erschienen und lange Zeit vom Wittenberger Lutheraner Valentin Ernst Löscher (1673–1749) herausgegeben wurden, ist immer wieder Kritik am Halleschen Waisenhaus geübt worden.Vgl. hierzu Martin Gierl: Pietismus und Aufklärung.Theologische Polemik und die Kommunikationsreform der Wissenschaft am Ende des 17. Jahrhunderts. Göttingen 1997, 400. Im ersten Jahr und ab 1720 erschien das Journal unter anderen Titeln (s. ebd.). 1718 wurde schließlich Löschers Schrift Vollständiger Timotheus Verinus veröffentlicht, welche seine Vorwürfe gegen die Pietisten gesammelt darlegte.Auch mit der hallischen lutherischen Stadtgeistlichkeit kam es, besonders um 1700, zu heftigen Auseinandersetzungen. Diesbezüglich hat Veronika Albrecht-Birkner in ihrer Arbeit Francke in Glaucha. Kehrseiten eines Klischees den Blick weggelenkt von einer Geschichtsschreibung, die zu sehr dem von Francke und seinen Mitstreitern selbst entworfenen und tradierten Bild verhaftet bleibt. Stattdessen überprüft sie deren Darstellung von Franckes Wirken in Glaucha und seinen Differenzen mit der hallischen Stadtgeistlichkeit mittels Quellen, die auch die Positionen der gegnerischen Seite verständlicher machen bzw. die Ausführungen Franckes relativieren. S. Veronika Albrecht-Birkner: Francke in Glaucha. Kehrseiten eines Klischees (1692– 1704). Tübingen 2004, insbes. 59–89. 84 Vgl. Siegfried Lodewigs: Der Pietismus im Spiegel seiner theologischen Kritiker. Diss. Göttingen 1972, 157. Der genauere Titel der Schrift Büchers lautet: Friedrich Christian Bücher: Plato Mysticus in Pietista Redivivus. Das ist pietistische Uebereinstimmung Mit der Heydnischen Philosophia Platonis Und seiner Nachfolger [...]. Danzig 1699. Lodewigs führt von Seite 155 bis 157 mehrere Streitschriften gegen die Pietisten auf. 85 Vgl. Lodewigs, Der Pietismus [s. Anm. 84], 157. 86 Vgl. Hannak, Geist=reiche Critik [s. Anm. 9], 58. Auch Sicco Lehmann-Brauns stellt fest, dass Bücher als Ausgangspunkt für die die christliche Lehre verfälschenden pietistischen Auffassungen vor allem den Renaissance-Neuplatonismus sowie dessen Rezeption innerhalb der Frühen Neuzeit ansieht sowie platonische und pietistische Ansichten parallelisiert. Sicco LehmannBrauns: Weisheit in der Weltgeschichte. Philosophiegeschichte zwischen Barock und Aufklärung. Tübingen 2004. Eine ausführliche Analyse zu Büchers Schrift Plato mysticus in Pietista redivivus findet sich hier in Kapitel IV (Seite 187–222). 87 Vgl. Antje Schloms u. Holger Trauzettel: Francke, der Lutheraner? Selbst- und Feindbild zu Lebzeiten. In: FranckeBilder und Festkultur. Jubiläen von der Aufklärung bis in die DDR. Hg. v. Andreas Pečar [u. a.]. Halle 2013, 22–24.
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im öffentlichen Verhalten Franckes spürbar. Eine Betonung der Übereinstimmung mit den Auffassungen der lutherischen Kirche war notwendig, um beispielsweise die Unterstützung des preußischen Hofes nicht aufs Spiel zu setzen.88 Gleichwohl geht die kirchengeschichtliche Forschung mehr und mehr in die Richtung, auch für Franckes spätere Lebensjahre eine Orientierung an radikalpietistischen Ideen festzustellen,89 welche nun jedoch nicht öffentlich gemacht werden sollte. Es fragt sich, ob eine Anwendung alchemistischer Verfahren diese Situation notwendiger religiöser Behauptung und Verteidigung in der Anfangszeit der Glauchaschen Anstalten noch verschärfen konnte. Griff man lediglich auf ein akzeptiertes medizinisch-pharmazeutisches Wissensfeld zurück oder wurde der Alchemie von theologischer Seite aus ein „häretisches“ Potential zugeschrieben, weshalb es nötig wurde, alchemistische Übernahmen nach außen nur mit Vorsicht oder gar nicht zu kommunizieren? Es lässt sich feststellen, dass die Alchemie ab 1600 verstärkt als heterodox eingestuft worden ist – anders als im Mittelalter, als ihr vor allem betrügerische Handlungen vorgeworfen wurden.90 Für die deutschen Territorien kam es insbesondere in der nach-paracelsischen Zeit zu einer Häufung von HeterodoxieKritik.91 Beispielsweise die Idee einer Anima mundi und die Weiterführung mystischer Auffassungen bei Johann Arndt (1555–1621), Valentin Weigel (1533– 1588) und Jakob Böhme (1575–1624) trugen hierzu bei.92 In diesem Zusammenhang kam der Vorwurf einer Überbetonung der Bedeutung des „Buchs der Natur“ gegenüber der Bibel auf.93 Außerdem waren chiliastische Vorstellungen als Bestandteil alchemistischer Theorien heterodoxieverdächtig.94 Die naturkundliche Orientierung der Paracelsisten am Unsichtbaren und ihr bewusstes praktisches Eingreifen in dieses stand sowohl bei Katholiken als auch Lutheranern teilweise unter Häresie-Verdacht.95 Insbesondere die Vorstellung einer „Wiedergeburt“ zuvor abgetöteter Materie innerhalb der paracelsischen Spagyrik wurde als „häretischer Zauber“ eingestuft.96 So zog die paracelsische Lehre eine Forcierung der kirchlichen Alchemiekritik nach sich, wobei differierende, situationsabhängige kirchliche Reaktionen zu beobachten waren. Vgl. Schloms u. Trauzettel, Francke, der Lutheraner? [s. Anm. 87], 26. Vgl. Schloms u. Trauzettel, Francke, der Lutheraner? [s. Anm. 87], 25. 90 Vgl. Christine Maillard: Eine Wissensform unter Heterodoxieverdacht: die spekulative Alchemie nach 1600. In: Heterodoxie in der Frühen Neuzeit. Hg. v. Hartmut Laufhütte u. Michael Titzmann. Tübingen 2006, 267–289, hier 274. Der Aufsatz von Christine Maillard liefert eine strukturierte Betrachtung hinsichtlich des Heterodoxieverdachts gegenüber der Alchemie nach 1600. Hierin geht sie sowohl auf Aussagen lutherischer Theologen im Kontrast zu katholischen wie auch auf das Selbstverständnis von sich selbst so bezeichnenden Alchemisten ein. 91 Vgl. Maillard, Eine Wissensform [s. Anm. 90], 274. 92 Vgl. Maillard, Eine Wissensform [s. Anm. 90], 276. 93 Vgl. Maillard, Eine Wissensform [s. Anm. 90], 276. 94 Vgl. Maillard, Eine Wissensform [s. Anm. 90], 287. 95 Vgl. Ute Frietsch: Häresie und Wissenschaft. Eine Genealogie der paracelsischen Alchemie. München 2013, 16. 96 Vgl. Frietsch, Häresie und Wissenschaft [s. Anm. 95], 185. 88 89
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Am Ende des 17. Jahrhunderts versammelte der lutherische Theologe Ehregott Daniel Colberg (1659–1698) in seiner Schrift Das Platonisch-Hermetisches [!] Christenthum97 vielfältige Kategorien an Vorwürfen gegenüber der Alchemie. Sein Werk erschien 1690 und 1691 in zwei Bänden – also nur kurze Zeit vor der Gründung der Glauchaschen Anstalten und ihrer Apotheke sowie der Medikamenten-Expedition. Colberg kritisiert darin die mystische Ausrichtung alchemistischer Schriften wie auch die in ihnen propagierte Erlösungslehre und Selbstüberhöhung des Menschen.98 Dabei zielten Colbergs Vorwürfe gegenüber der Hermetik vor allem in diese Stoßrichtung: der Anprangerung der mystischen Theologie.99 Daneben nimmt Paracelsus, welchen Colberg als hauptsächlichen Urheber der gegenwärtigen alchemistischen Verfehlungen ansieht, breiten Raum in der Schrift ein.100 Er klagt die Vermischung von philosophischen Spekulationen mit der wahren christlichen Lehre durch Paracelsus und andere Alchemisten an.101 Die spekulative Alchemie verlasse so den einzigen ihr zustehenden Aufgabenbereich – die Untersuchung der Materie.102 Innerhalb verschiedener Wissensräume konnte die Beurteilung der Alchemie um 1700 beträchtlich variieren, was wiederum auch Rückzugsräume vor der jeweiligen Kritik schuf.103 So war die Beschäftigung mit alchemistischen Lehren auf dem medizinisch-pharmazeutischen Feld insgesamt anerkannter und weniger sanktioniert als die alchemistische Laborarbeit zu anderen Zwecken, wie der bis ins 18. Jahrhundert immer wieder als betrügerisch gebrandmarkten Goldmacherei. Jedoch gab es vor allem von Medizinern auch Einspruch gegen die angeblichen Wundermittel der alchemistischen Heilkunst. Seit ihren Anfängen im 16. Jahrhundert stieß die paracelsische Iatrochemie auf heftige Kritik seitens humoralpathologisch orientierter Ärzte wie dem in Heidelberg lehrenden Me97 Ehregott Daniel Colberg: Das Platonisch-Hermetisches Christenthum. Begreiffend Die Historische Erzehlung vom Ursprung und vielerley Secten der heutigen Fanatischen Theologie [...]. 2 Bde. Frankfurt, Leipzig 1690/1691. 98 Vgl. Maillard, Eine Wissensform [s. Anm. 90], 287. Eine ausführliche Analyse der Schwärmerkritik Colbergs gab erstmals Sicco Lehmann-Brauns in seiner Schrift: Weisheit in der Weltgeschichte [s. Anm. 86], 112–186. 99 Vgl. Rolf Christian Zimmermann: Das Weltbild des jungen Goethe. Studien zur hermetischen Tradition des deutschen 18. Jahrhunderts. Bd. 1: Elemente und Fundamente. München 22002, 114f. 100 Vgl. Maillard, Eine Wissensform [s. Anm. 90], 282. 101 Vgl. Maillard, Eine Wissensform [s. Anm. 90], 279. 102 Vgl. Maillard, Eine Wissensform [s. Anm. 90], 281. 103 Beispielsweise wandte sich der alchemistisch forschende Arzt und Theologe Johann Conrad Dippel von seinen Versuchen, Gold aus unedleren Metallen herzustellen, ab, nachdem der preußische König Friedrich I. 1709 den angeblichen Goldmacher Domenico Manuel Caetano (um 1670–1709) an einem mit Flittergold behängten Galgen hatte aufhängen lassen. Dippel verlagerte in dieser Zeit seine alchemistische Arbeit auf das Feld der Medizin und grenzte sich bewusst von der betrügerischen Goldmacherei ab. Vgl. Dietrich Klein: Zwei Wege zum Gold. Johann Konrad Dippel und der Graf Caietano. In: Kriminelle, Freidenker, Alchemisten. Räume des Untergrunds in der Frühen Neuzeit. Hg. v. Martin Mulsow. Böhlau 2014, 295–319, hier 303, 319.
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dizinprofessor Thomas Erastus.104 Auch Georg Ernst Stahl, der eine Autorität auf medizinischem Gebiet für die Waisenhaus-Pharmazeuten darstellte, auf die sie sich in ihren Schriften zu den Waisenhaus-Medikamenten beriefen,105 übte öffentlich Kritik an alchemistischen Arzneimitteln und sogar an der Essentia Dulcis.106 In seiner Schrift Bedencken von der Gold-Macherey (1726/1755) äußert er sich folgendermaßen zu alchemistischen Präparaten: och eine andere Einwendung pfleget öfter als es sich im geringsten schicket, aufN geworfen zu werden; daß durch die Gelegenheit der alchymistischen Versuche, viele sonderbare herrliche Artzney=Mittel gefunden worden seyn, und also auch noch weiter entdecket und erfunden werden könten. Hingegen ist nicht allein der Ungrund solchen Vorgebens, [...] wie nemlich das Vorgeben von vielen und gantz sonderbaren herrlich kräftigen also erfundenen Mitteln, grössesten Theils eine lautere Marckschreyerische Aufschneyderei jederzeit gewesen: Indem die meiste solche Dinge, nicht allein den geringsten besonderen wahren, noch weniger unentbehrlichen Nutzen haben: Sondern auch leichtlich, ja in der That vielfältig, vielmehr zu erheblichem Schaden gereichen.107
Doch trotz vielfältiger medizinischer Kritik verbreitete sich die paracelsische Pharmazie seit dem Ende des 16. Jahrhundert kontinuierlich108 und spielte auch im 18. Jahrhundert noch eine entscheidende Rolle. Im Verlauf des 18. Jahrhunderts erkannte man der Alchemie zwar teilweise den Status ab, rational akzeptierte Kenntnisse zu generieren,109 jedoch fand auch zu dieser Zeit eine aktuelle
Vgl. Frietsch, Häresie und Wissenschaft [s. Anm. 95], 16. Vgl. beispielsweise Richter, Kurtzer und deutlicher Unterricht [s. Anm. 58], 399f. 106 So begegnen in den Briefen Christian Friedrich Richters an Carl Hildebrand von Canstein mehrfach Äußerungen, die erkennen lassen, dass Stahl Goldpräparate und auch direkt die Essentia Dulcis öffentlich kritisierte. Vgl. Brief Richters an Canstein, 13.10.1702, in: Fromme Unternehmer [s. Anm. 53], 59 (= Brief Nr. 32); [ohne Datum], ebd., 62 (= Brief Nr. 35); 28.10.1702, ebd., 63 (= Brief Nr. 36); [ohne Datum], ebd., 145f. (= Brief Nr. 136). 107 Georg Ernst Stahl: Bedencken von der Gold-Macherey (ohne Paginierung). In: Johann Joachim Becher: Chymischer Glücks-Hafen. Oder: Grosse Chymische Concordantz und Collection [...]. Leipzig 1755. 108 Vgl. Christoph Friedrich u. Wolf-Dieter Müller-Jahncke: Geschichte der Pharmazie. Bd. 2:Von der Frühen Neuzeit bis zur Gegenwart. Hg. v. Rudolf Schmitz. Eschborn 2005, 314. 109 Beispielsweise wird sie in Johann Christoph Adelungs (1732–1806) gegen Ende des Jahrhunderts erschienener Geschichte der menschlichen Narrheit – im Sinne einer an vermeintlichen Vernunftprinzipien orientierten Beurteilung – als unseriöse Narretei verunglimpft. Vgl. Wilhelm Kühlmann: Das häretische Potential des Paracelsismus – gesehen im Licht seiner Gegner. In: Heterodoxie in der Frühen Neuzeit. Hg. v. Hartmut Laufhütte u. Michael Titzmann. Tübingen 2006, 218–242, hier 222. Die Alchemie fand immer weniger Anerkennung in Bezug auf die Erforschung der Natur, denn neue Theorien und Praktiken kamen auf, die grundsätzliche alchemistische Annahmen wie die der aristotelischen Lehre von den vier Elementen infrage stellten. Vgl. Priesner, Geschichte der Alchemie [s. Anm. 49], 114. Entscheidend trug schließlich Antoine Laurent Lavoisier (1743–1794) zur Abkehr von alchemistischen Ansichten bei.Vor allem in seinem 1789 erschienenen Traité élémentaire de chimie kippte er die bis dahin bestehende Annahme 104 105
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Auseinandersetzung mit dem Hermetismus im Rahmen von Debatten wie jenen über die Geistleiblichkeit, den Magnetismus oder Fluidaltheorien statt.110 Eine Person, die vor Augen führt, wie eng sich hermetische, alchemistische und aufklärerische Ansichten und Herangehensweisen bei der Untersuchung der göttlichen Naturordnung verflechten konnten, war der Hallenser Theologe Johann Salomo Semler (1725–1791). Er plädierte in den 1780er Jahren innerhalb des öffentlichen gelehrten Diskurses für eine Art „,vernünftige‘ Hermetik“111, wofür er teilweise heftig kritisiert wurde.112 Aus dem Beschriebenen lässt sich in Bezug auf die Pharmazie in den Glauchaschen Anstalten zu Beginn des 18. Jahrhunderts schlussfolgern, dass eine Anwendung alchemistischer, insbesondere paracelsischer und paracelsistischer Verfahren auf Kritik seitens lutherischer Theologen und medizinisch anders orientierter Ärzte stoßen konnte. Bei der Artikulation alchemistischen Gedankenguts in Veröffentlichungen zu den Waisenhausarzneimitteln hätte dies einen Angriffspunkt geboten. Trotzdem stellten die Pharmazie und Medizin vergleichsweise sichere Felder dar, auf die sich das alchemistische Forschen zurückziehen konnte. Außerdem waren Goldtinkturen wie die Essentia Dulcis, wie früher erläutert, in der Zeit um 1700 weit verbreitet und auch andere paracelsistische Pharmaka waren in den Kanon der Heilmittel vielfach eingeflossen. Eine über die bloßen Herstellungstechniken hinausreichende Aneignung und vor allem Artikulation von alchemistischen Vorstellungen barg wiederum durchaus Häresiepotential. So befanden sich die Pharmazeuten am Halleschen Waisenhaus in einer spannungsvollen Situation. Die Anwendung alchemistischer Kenntnisse im naturkundlichen Bereich war in gewissen Grenzen legitim, sollte aber auf diesen beschränkt bleiben und mit dem theologischen nicht vermischt werden. Dazu passt, dass Christian Friedrich Richter, wie oben festgestellt, in den Veröffentlichungen zur Essentia Dulcis keine eindeutigen Bemerkungen zu alchemistischen Hintergründen der Goldtinktur macht. Außerdem werden dort anders als in seinen Briefen an Carl Hildebrand von Canstein keine alchemistischen Autoritäten wie Paracelsus erwähnt. Daher liegt es nahe, dass über die praktische Arzneifertigung hinausgehende alchemistische Orientierungen innerhalb der
von den vier Elementen sowie die Vorstellung einer Umwandelbarkeit dieser Elemente ineinander.Vgl. Friedrich u. Müller-Jahncke, Geschichte der Pharmazie 2 [s. Anm. 108], 432. 110 Vgl. hierfür Stengel, Lebensgeister [s. Anm. 60], 345–348. Stengel betont die Wichtigkeit der Berücksichtigung dieses zeitgenössischen diskursiven Kontextes. Solche Diskurse waren dabei keineswegs durch Irrationalität, Rückwärtsgewandtheit und Unwissenschaftlichkeit geprägte Gegenbewegungen zu einer mit Vernünftigkeit und Modernität gleichgesetzten Aufklärung. 111 Diesen Begriff verwendet Christian Soboth (in Anlehnung an Rolf Christian Zimmermann) zur Charakterisierung von Johann Salomo Semlers alchemistischem Spätwerk. Christian Soboth: Die Alchemie auf dem Abtritt – Johann Salomo Semler und die hermetische Kehrseite der Neologie. In: Hermetik. Literarische Figurationen zwischen Babylon und Cyberspace. Hg. v. Nicola Kaminski [u. a.]. Tübingen 2002, 67–99, hier 81. 112 Vgl. hierfür Soboth, Alchemie auf dem Abtritt [s. Anm. 111], 67–99.
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Waisenhauspharmazie absichtlich nicht nach außen kommuniziert wurden. Insbesondere in der Anfangszeit des Bestehens der Glauchaschen Anstalten, in welcher die hallischen Pietisten vielfach theologischer Kritik ausgesetzt waren, hätte eine öffentlich gemachte alchemistische Ausrichtung am Halleschen Waisenhaus eine Angriffsfläche geboten. So hatte man sich zwar gegen medizinische Einwände zur Wehr zu setzen, schützte sich aber gegen Heterodoxie- bzw. sogar Häresievorwürfe wegen zu weitreichender Übernahmen alchemistischer Ideen.113
4. Der Austausch zwischen dem Alchemisten Samuel Richter und dem Halleschen Waisenhaus Neben dem Rückgriff auf Schriften der medizinisch-pharmazeutischen Alchemie114 kam es in den Glauchaschen Anstalten auch zum persönlichen Austausch von Kenntnissen mit Samuel Richter, einem im 18. Jahrhundert bekannten und sich selbst so bezeichnenden Alchemisten.115 Ein praktischer Erfahrungsaustausch war gerade bei der Laborarbeit teilweise unerlässlich, denn bestimmte Besonderheiten oder Fehlerquellen, auf die es zu achten galt, konnte man aus Büchern nicht immer in ausreichendem Maße lernen – zumal gerade alchemistische Texte vielfach verschlüsselt und uneindeutig geschrieben waren. So konnte Samuel Richter den Waisenhaus-Pharmazeuten wichtiges Knowhow liefern, selbst aber auch von ihren Kenntnissen profitieren. In wie weit hierbei gemeinsame religiöse bzw. theosophische Anschauungen eine Rolle spielten, soll sich im Folgenden zeigen. Samuel Richter findet in der Literatur zur Alchemiegeschichte zwar immer wieder Erwähnung als wichtiger Autor alchemistischer Werke des 18. Jahrhunderts, sein Lebensweg liegt bisher jedoch über weite Strecken im Dunkeln.
Hier ist anzumerken, dass eine Betrachtung der Kritik an den Waisenhaus-Medikamenten aus unterschiedlichen Stoßrichtungen zu Beginn und im Verlauf des 18. Jahrhunderts jedoch größtenteils noch aussteht. 114 So befanden sich nachweislich bereits spätestens ab ca. 1717 zahlreiche Schriften dieses Feldes, beispielsweise von Andreas Libavius, Robert Fludd oder Johannes Kunckel, im Bestand der Bibliothek des Halleschen Waisenhauses. Aufschluss über den Bestand an medizinisch-alchemistischer Literatur zu dieser Zeit bietet ein Sachkatalog, in welchem der damalige Bibliothekar Georg Christian Bohnstedt (1687–1745) neben Titeln weiterer Themenfelder die medizinischen Bücher der Waisenhausbibliothek auflistete: AFSt/H G 2. Die Eintragungen befinden sich unter der Überschrift „Libri Medici“ auf den Seiten 982 bis 989. Nach Brigitte Klosterberg, die den Sachkatalog in folgender Publikation zur Geschichte der Waisenausbibliothek vorstellt, ist dieser Teil nach dem April 1717 von Bohnstedt verzeichnet worden: vgl. Brigitte Klosterberg: Die Bibliothek der Franckeschen Stiftungen. Fotografien von Klaus E. Göltz. Halle 2007, 68. 115 Vgl. bspw. den ersten Satz der unpaginierten Vorrede von Samuel Richter in: S. R. [d. i. Samuel Richter]: Die Warhaffte und vollkommene Bereitung Des Philosophischen Steins [...]. Breslau 1710. 113
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Richter wurde Ende des 17. Jahrhunderts in Reichau (Amtsrichtersitz Nimptsch), dem heutigen Dobroszów in Polen, geboren und starb nach 1722, wobei seine genauen Geburts- und Sterbedaten nicht bekannt sind.116 Da sich jedoch im Tagebuch August Hermann Franckes am 23. April 1723 eine Anmerkung über ein Gespräch mit Samuel Richter in Halle findet,117 muss man dessen Tod frühestens nach diesem Zeitpunkt datieren. Er studierte ab 1703 in Wittenberg und ab 1707 in Halle Theologie und war danach einige Zeit als Prediger in Hartmannsdorf (Niederschlesien) tätig.118 In dieser Zeit eignete er sich medizinische bzw. pharmazeutische Kenntnisse durch Unterweisung eines Landpredigers an und behandelte teilweise Kranke.119 In der Bibliographie der alchemistischen Literatur120 von Volker Fritz Brüning finden sich insgesamt sechs Schriften Samuel Richters sowie eine Gesamtausgabe seiner Werke aus dem Jahr 1741 (Letztere erschien wahrscheinlich postum). Hinzukommend zu den bei Brüning genannten Werken konnten noch zwei weitere Schriften ermittelt werden, deren Verfasser Samuel Richter war: Concentrirtes Hauß- Feld- und Reise-Apotheckgen sowie Copia Eines Briefes.121 Beide erschienen in Halle, Letztere im Jahr 1714, Erstere ohne Jahresangabe, jedoch sehr wahrscheinlich in einem ähnlichen Zeitraum, wie den noch folgenden Ausführungen zu dieser Schrift zu entnehmen sein wird. Samuel Richters Werke sind einerseits geprägt von zahlreichen praktischen Anweisungen zu alchemistischen Laborexperimenten und andererseits von Schilderungen seiner hinter diesen stehenden religiösen und spirituellen Überzeugungen. Vor allem mit seiner Schrift Theo-Philosophia Theoretico-Practica,122 die bis zum Ende des 18. Jahrhunderts große Verbreitung erfuhr, trat Richter innerhalb des Hermetik116 Vgl. Ulrich Neumann: Art. „Richter, Samuel“. In: Priesner, Alchemie-Lexikon [s. Anm. 30], 304f. 117 Eintragung im Tagebuch von August Hermann Francke, Halle, 23.04.1723, Nr. 4; AFSt/H A 177 : 1, 40; URL: https://digital.francke-halle.de/mod2/content/pageview/35191 (letzter Zugriff: 22.07.2017). 118 Vgl. Neumann, Richter, Samuel [s. Anm. 116], 304. 119 Vgl. Neumann, Richter, Samuel [s. Anm. 116], 304. 120 Volker Fritz Brüning: Bibliographie der alchemistischen Literatur. Bd. 2: Die alchemistischen Druckwerke von 1691 bis 1783. München 2006; ders.: Bibliographie der alchemistischen Literatur. Bd. 3: Die alchemistischen Druckwerke von 1784 bis 2004. Register, Nachträge. München 2007. 121 Samuel Richter: Concentrirtes Hauß- Feld- und Reise-Apotheckgen. In einem Selectu Von neun Stücken […]. Halle o. J. Hiervon ließ sich nur ein Exemplar in Deutschland ermitteln (ein weiteres Exemplar befindet sich in der Dänischen Königlichen Bibliothek in Kopenhagen), dieses gehört zum Bestand der Universitäts- und Landesbibliothek Sachsen-Anhalt in Halle unter der Signatur Uf 2265. Sincerus Renatus [d. i. Samuel Richter]: Copia Eines Briefes, Welchen ein berühmter Theologus […] über Die in Berlin gedruckte Theologische und Christliche Gedancken […] Von Der Beschaffenheit und Ordnunge der Göttlichen Raht-Schlüsse, In Vertrauen zugeschrieben hat. Halle 1714.Von dieser Schrift ließ sich lediglich ein Exemplar, welches in der Bibliothek der Franckeschen Stiftungen liegt, auffinden: BFSt: 47 C 19 [7]. 122 Sincerus Renatus [d. i. Samuel Richter]: Theo-Philosophia Theoretico-Practica, Oder Der Wahre Grund Göttlicher und Natürlicher Erkänntniß. Dadurch beyde Tincturen, Die Him[m]-
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Diskurses um 1700 deutlich hervor.123 Hier verband er Theosophie und Mystik mit Alchemie und Medizin und stützte sich dabei insbesondere auf die christliche Hermetik Jakob Böhmes.124 Die Hermetik um 1700 hatte sich in ihren Bezugsquellen verändert, es waren nun zumeist der Paracelsismus – insbesondere jener von Johan Baptista van Helmont – und der Böhmismus, auf welche sich die hermetischen Denker stützten, was auch zu einer Bedeutungsverschiebung des Begriffs „Hermetik“ selbst führte.125 Der Rückbezug bis in die altägyptische Medizin und zu Hermes Trismegistos war in den Hintergrund getreten. Stattdessen nahm nun eine christlich fundierte Naturphilosophie größeren Raum ein, eine Philosophia Sacra.126 Innerhalb dieser geänderten Ausrichtung der Hermetik und damit auch ihrer „drei praktischen Traditionen“127, der Alchemie, Medizin und Mystik, lebte zu Beginn des 18. Jahrhunderts auch die Rosenkreuzertradition wieder auf, wozu Samuel Richter maßgeblich beitrug.128 Er kam auf den „Rosenkreuzermythos“ in seiner Schrift Die wahrhaffte und vollkommene Bereitung des Philosophischen Steins129 von 1710 wieder zu sprechen, nachdem dieser im Dreißigjährigen Krieg öffentlich kaum mehr diskutiert worden war.130 Hier begegnet auch erstmals die Bezeichnung „Gölden- und Rosenkreuz“, wobei Richter die Neugründung des Ordens der Gold- und Rosenkreuzer in der Tradition der Bruderschaft der Rosenkreuzer konstatiert.131 Samuel Richter war nicht mit den am Waisenhaus medizinisch und pharmazeutisch tätigen Brüdern Christian Friedrich und Christian Sigismund Richter (1672/73–1739) verwandt.132 Er nutzte zur Veröffentlichung seiner Schriften auch das Pseudonym Sincerus Renatus, was so viel heißt wie „der wahrhaft/
lische und Irrdische, können erhalten werden. Zugleich Ein Grund aller Particularien, Und Fundament der wahren Medicin […]. Breslau 1710. 123 Vgl. Zimmermann, Das Weltbild des jungen Goethe [s. Anm. 99], 117f. u. 121. 124 Vgl. Zimmermann, Das Weltbild des jungen Goethe [s. Anm. 99], 117f. sowie Priesner, Geschichte der Alchemie [s. Anm. 49], 83. 125 Vgl. Zimmermann, Das Weltbild des jungen Goethe [s. Anm. 99], 116f. 126 Vgl. Zimmermann, Das Weltbild des jungen Goethe [s. Anm. 99], 116f. 127 Zimmermann, Das Weltbild des jungen Goethe [s. Anm. 99], 117. 128 Vgl. Zimmermann, Das Weltbild des jungen Goethe [s. Anm. 99], 117f. 129 Sincerus Renatus [d. i. Samuel Richter]: Die warhaffte und vollkommene Bereitung des philosophischen Steins der Brüderschafft aus dem Orden des Gülden- und Rosen-Creutzes […]. Breslau 1710. 130 Vgl. Priesner, Geschichte der Alchemie [s. Anm. 49], 82. Unter der Bezeichnung „Orden des Rosenkreuzes“ wurden im zweiten Jahrzehnt des 17. Jahrhunderts mehrere Schriften eines gelehrten Personenkreises um Tobias Hess (1568–1614) und Johann Valentin Andreae (1586–1654) veröffentlicht. So erschienen zwischen 1614 und 1616 die Fama fraternitatis, die Confessio fraternitatis und die Chymische Hochzeit Christiani Rosencreutz.Vgl. Renko Geffarth: Religion und arkane Hierarchie. Der Orden der Gold- und Rosenkreuzer als Geheime Kirche im 18. Jahrhundert. Leiden, Boston 2007, 41f. 131 Vgl. Priesner, Geschichte der Alchemie [s. Anm. 49], 82f. 132 Vgl. Poeckern, Waisenhaus-Apotheke und Medikamenten-Expedition [s. Anm. 24], 78. Christian Sigismund Richter war nach dem Tod seines Bruders Christian Friedrich von 1711 bis 1739 Direktor der Medikamenten Expedition.
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aufrichtig Wiedergeborene“. Richter stand von 1712 bis 1723 nachweislich in Kontakt mit den Glauchaschen Anstalten. Im Archiv der Franckeschen Stiftungen in Halle findet sich eine handschriftliche Rezeptsammlung von ihm aus dem Jahr 1712.133 Auf dem Titelblatt stellt er seinen Eintragungen folgende Angaben voran: „Collectanea et Inventa Alchymica. consecrata Studiis et Laboriby Samuelis Richteri. Nimiciens: Silesii. Hallae 1712.“134 Hierdurch gibt der aus Niemtsch in Schlesien („Nimiciens: Silesii“) stammende Richter seinen Aufenthaltsort Halle zu erkennen. Darüber hinaus finden sich in den Jahren 1719, 1722 und 1723 Vermerke in den Tagebüchern August Hermann Franckes, die Richters Gegenwart in Halle wie auch den Kontakt zu ihm bezeugen.135 Es befinden sich in Samuel Richters Rezeptsammlung aus dem Jahr 1712 ganze zehn Präparate aus dem Arzneibestand der Medikamenten-Expedition.136 Richter bekam also Zugang zum pharmazeutischen Wissensschatz der Glauchaschen Anstalten. Im Gegenzug dazu konnte man am Waisenhaus auf seine in der Rezeptsammlung verzeichneten Kenntnisse zurückgreifen. Das Buch mit seinen handschriftlichen Vorschriften befand sich über 100 Jahre im Besitz der Familie Madai und seit 1851 gehörte es der Familie Hornemann.137 David Samuel von Madai war, wie zuvor genannt, von 1739 bis 1780 Leiter der Medikamenten-Expedition und sein Enkel Carl Wilhelm Samuel von Madai (1777–1851) von 1816 bis 1851.138 Es ist möglich, dass bereits Christian Sigismund Richter die Rezeptsammlung nutzte, der von 1711 bis 1739 der Medikamenten-Expedition vorstand, und sie durch ihn an David Samuel von Madai gelangte, der sein Schwiegersohn und Nachfolger war und an welchen er ebenfalls andere Herstellungsvorschriften weiterreichte.139 Eine kontinuierliche Weitergabe der Aufzeichnungen Samuel Richters unter den WaisenhausPharmazeuten verweist darauf, dass sie einen zu bewahrenden Kenntnisschatz darstellten. Außerdem lassen sich in den späteren Rezeptsammlungen teilweise Übernahmen aus der Vorschriftensammlung Samuel Richters finden. So lässt AFSt/W IX/II/14 a. AFSt/W IX/II/14 a. Die Rezeptsammlung ist unpaginiert. 135 Vgl. die folgenden Eintragungen im Tagebuch von August Hermann Francke, Halle: 13.01.1719, Nr. 9; AFSt/H A 173 : 1, 15; URL: https://digital.francke-halle.de/mod2/content/ pageview/37807 (letzter Zugriff: 22.07.2017) sowie 09.06.1722, Nr. 4; AFSt/H A 176 : 1, 11; URL: https://digital.francke-halle.de/mod2/content/pageview/30584 (letzter Zugriff: 22.07. 2017) sowie 23.04.1723, Nr. 4 [s. Anm. 117]. 136 Vgl. AFSt/W IX/II/14 a. Die Medikamente befinden sich im zweiten Teil der Schrift mit dem Titel „Collectanea atque Inventa Medica“ unter den Nummern 19 bis 28 und wurden mit einem hinter dem Namen des Arzneimittels vermerkten „Waisenh:“ versehen. Lediglich bei der Nummer 26 fehlt dieser Vermerk. Da es sich bei diesem Präparat, „Pulvis temperans“, jedoch ebenfalls um ein Waisenhaus-Medikament handelt und es sich in die Auflistung der WaisenhausRezepturen eingliedert, ist davon auszugehen, dass Samuel Richter hier lediglich die Kennzeichnung „Waisenh:“ wegließ bzw. vergaß. 137 Vgl. Poeckern, Die Hallischen Waisenhaus-Arzeneyen [s. Anm. 13], 35. 138 Vgl. Poeckern, Die Hallischen Waisenhaus-Arzeneyen [s. Anm. 13], 38. 139 Vgl. Poeckern, Die Hallischen Waisenhaus-Arzeneyen [s. Anm. 13], 40. 133 134
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die Rezeptur des „Pulv. Bezoardicus“ in David Samuel von Madais LaborManual von 1740 erkennen, dass Madai sich an Samuel Richters Rezeptbuch orientierte.140 Dass Samuel Richter bereits 1712 die Waisenhaus-Rezepturen in seiner Rezeptsammlung niederschrieb, legt nahe, dass er sich, bald nachdem er 1710/11 Schlesien wegen der Bezichtigung religiöser Schwärmerei verlassen hatte,141 nach Halle begab und dort seitdem mit den Glauchaschen Anstalten in Kontakt stand. Es ist zu vermuten, dass er aus seiner Studienzeit in Halle, die erst kurze Zeit zurücklag (er studierte hier ab 1707),142 noch Verbindungen nach Halle hatte und August Hermann Francke, der seit 1698 Professor für Theologie an der hallischen Universität war, ihn als ehemaligen Theologiestudenten kannte. Außerdem stand Samuel Richter dem Pietismus bereits um 1710 geistig nahe, da er sich in seiner Schrift Theo-Philosophia Theoretico-Practica (1710) deutlich für die Pietisten ausspricht und sie gegen den Vorwurf der religiösen Schwärmerei verteidigt.143 Insbesondere verband ihn mit den hallischen Pietisten die Orientierung an Jakob Böhme wie auch an der paracelsistischen Tradition, wobei dies teilweise durchaus zu unterschiedlichen Ansichten führte, wie sich im Ansatz noch zeigen wird. Deshalb ist es nur unter einem Gesichtspunkt verwunderlich, dass Samuel Richter nach seinem Fortgang aus Breslau in Richtung Preußen 1710/11 so schnell an zahlreiche Rezepturen der Waisenhaus-Medikamente gelangen konnte:144 eigentlich stellten die Herstellungsvorschriften, wie damals üblich, wohlgehütete Geheimnisse dar. Die sogenannten Arcana sollten vor Nachahmern und die Glauchaschen Anstalten vor Gewinneinbußen geschützt werden. Dass Samuel Richter an die Waisenhaus-Rezepturen gelangte, ist demnach ein Hinweis auf gute Kontakte zu den Glauchaschen Anstalten und einen pharmazeutischen Wissensaustausch mit den Mitarbeitern der MedikamentenExpedition. Richters gebundene Rezeptsammlung von 1712 beinhaltet eine Vielzahl von Arzneirezepturen, aber auch Herstellungsvorschriften von anderen Substanzen und Erklärungen zu Laborgerätschaften und -techniken. Er stellte dem Waisenhaus damit ein umfangreiches alchemistisches und pharmazeutisches Wissen zur Verfügung. Das handschriftlich abgefasste Buch gliedert sich in zwei Teile. Im ersten Abschnitt – „Collectanea et Inventa Alchymica“ – befinden sich Rezepturen wie „Lapis Philosophorum ex Materia chaotica“ oder „Tinctura Basilii Valentini vera“.145 Richter beschäftigte sich demnach mit der Herstellung des
Vgl. Poeckern, Die Hallischen Waisenhaus-Arzeneyen [s. Anm. 13], 44. Vgl. Neumann, Richter, Samuel [s. Anm. 116], 304. 142 Der Zeitpunkt seines Studienabschlusses ist unbekannt. 143 Vgl. Zimmermann, Das Weltbild des jungen Goethe [s. Anm. 99], 119. 144 Es ist Poeckern also nur teilweise zuzustimmen, wenn er schreibt, dass dieser Umstand verwunderlich sei.Vgl. Poeckern, Die Hallischen Waisenhaus-Arzeneyen [s. Anm. 13], 78. 145 AFSt/W IX/II/14 a (unpaginiert). Die erstgenannte Rezeptur trägt die Nummer 9 und die letztgenannte die Nummer 5. 140 141
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Steins der Weisen und stützte sich bei seinen alchemistischen Experimenten auf Basilius Valentinus, an welchem sich, wie oben beschrieben, auch Christian Friedrich Richter bei seiner pharmazeutischen Arbeit orientierte. Der zweite Teil mit dem Titel „Collectanea atque Inventa Medica“ beinhaltet eine Vielzahl von Arzneirezepturen, die er, wie die Überschrift des Absatzes besagt, von verschiedenen anderen Autoren zusammengetragen oder selbst erfunden hat. Unter der Nummer 86 findet sich in diesem Teil auch ein „Aurum potabile“146, zu welchem jedoch eine andere und wesentlich knappere Rezeptur angegeben ist, als es für die Rezepturen der Essentia Dulcis der Fall war. HansJoachim Poeckern weist aber noch auf eine andere Rezeptur aus dem „Alchymica“-Teil mit dem Titel „Aliud Restaurans [Gold] potabile verum“147 als Bezugsquelle für die Essentia Dulcis-Fertigung hin.148 Man könnte sich seiner Rezeptsammlung bei der Überlegung bedient haben, wie man den Geist des Goldes herauslösen könne, denn in der eben benannten Vorschrift heißt es: p. Materiam notam Sperma Universale, putrificir Sie 7. wochen ohne [Feuer], R abstrahire in sehr gelind wärme dis liquidum Menstruum verum, v. den wird darauf gegoßen, wenige tage digeriret v. wiederum abgezogen, v. solchergestalt mit aufgießen abziehen sovielmahl continuiret bis das [Salz] flüchtig wird, v. mitherübergehet, so wie [Spiritus salis armonia]ci riechet aber nicht so starck schmecket. Dieser mit dem Sale armirte [Spiritus] ziehet dem [Gold] die [Tinctur] aus, v. läßet solches als eine graue Erden auf dem boden liegen. Wenn man aber Frisches drauf gießet v. es länger stehen lässet, so solvirt es auch die Erde.149
Hier könnte die Verwendung des Spiritus salis armoniaci als Mittel, um dem Gold nach dem Aufschließen seine Tinktur bzw. seinen Geist auszuziehen, herstammen. Dieselbe Substanz begegnet in den zuvor betrachteten Rezepturen zur Essentia Dulcis wieder, weshalb es naheliegt, dass ein Zusammenhang besteht und man sich auf Samuel Richters Wissen um die Wirkung des Spiritus salis armoniaci stützte. Jedoch war Samuel Richters Rezeptsammlung bei der ursprünglichen Entwicklung der Essentia Dulcis durch Christian Friedrich Richter noch nicht am Waisenhaus vorhanden, sie könnte also erst später die Herstellungsweise der Essenz beeinflusst haben. Denkbar ist daneben ebenfalls, dass man sich in Bezug auf dieses Verfahren zur Aufschließung des Goldes zumindest an den gleichen Quellen aus der alchemistischen Literatur orientierte.
AFSt/W IX/II/14 a, 2. Teil, Nr. 86 (unpaginiert). AFSt/W IX/II/14 a, 2.Teil, innerhalb der Rezeptur Nr. 13 im Teil „Collectanea et Inventa Alchymica“ (unpaginiert). 148 Vgl. Poeckern, Die Hallischen Waisenhaus-Arzeneyen [s. Anm. 13], 62. In der Rezeptur wird das Herstellungsverfahren für das Restaurans angegeben und seine Eigenschaft, dem Gold seine Tinktur auszuziehen. 149 AFSt/W IX/II/14 a, 2.Teil, innerhalb der Rezeptur Nr. 13 im Teil „Collectanea et Inventa Alchymica“ (unpaginiert). 146 147
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Im Folgenden wird eine Schrift Samuel Richters – sein Concentrirtes HaußFeld- und Reise-Apotheckgen – näher betrachtet werden. Diese Werbeschrift zu einigen von ihm selbst hergestellten Medikamenten gibt Einblick in Richters, auf der Alchemie basierende, medizinisch-pharmazeutische Einstellungen.150 Sie entstand wahrscheinlich in der Zeit, als Richter in Kontakt mit dem Halleschen Waisenhaus stand. Bei der Untersuchung dieser Schrift soll teilweise auch ein Vergleich mit Christian Friedrich Richters Anschauungen, die bei der Analyse seiner Veröffentlichungen zur Essentia Dulcis ermittelt wurden, erfolgen. Samuel Richters Concentrirtes Hauß- Feld- und Reise-Apotheckgen erschien zwischen 1712 und 1739151 in Leipzig.152 Es handelte sich hierbei um eine Schrift, welche sich sowohl im Titel als auch bezüglich zahlreicher Rezepturen an Christian Friedrich Richters Selectus Medicamentorum zu einer compendieusen Hauß= Reise= und Feld=Apotheke von 1702 anlehnt.153 Sie beinhaltet sogar einige Medikamente, die mit wichtigen Präparaten des Waisenhauses übereinstimmen und deren Bezeichnungen sich auch kaum von jenen unterscheiden.154 Die Zusammenarbeit Samuel Richters mit den Glauchaschen Anstalten auf pharmazeutischem Gebiet könnte eine solche Übernahme legitimiert haben. Seine Schrift ähnelt auch im Aufbau stark dem Selectus Medicamentorum zu einer compendieusen Hauß= Reise= und Feld=Apotheke von Christian Friedrich Richter. So könnte Samuel Richter das Knowhow des ehemaligen WaisenhausPharmazeuten (Christian Friedrich Richter starb 1711) bezüglich der Konzeption einer solchen Werbeschrift für Arzneimittel genutzt haben. Auch Samuel Richter stellt wie jener in einem Abschnitt seiner Schrift einige Aspekte seiner medizinisch-pharmazeutischen Ansichten dar, präsentiert einzeln die verschiedenen Arzneimittel seines Concentrirten Hauß- Feld- und Reise-Apotheckgen und liefert einen längeren Textteil zum Gebrauch der Präparate bei unterschiedlichen Erkrankungen. Samuel Richter geht in seiner Werbeschrift jedoch sehr viel weiter als Christian Friedrich Richter, was die öffentliche Ausformulierung 150 S. für eine ausführliche Erläuterung der Hermetik Samuel Richters Zimmermann, Das Weltbild des jungen Goethe [s. Anm. 99], 118–144. 151 Samuel Richter, Concentrirtes Hauß- Feld- und Reise-Apotheckgen [s. Anm. 121]. In der Druckschrift ist kein Erscheinungsjahr angegeben. Da Samuel Richter jedoch auf der letzten Seite schreibt, dass bei Briefen an ihn sein Vorname hinzugesetzt werden soll, damit er nicht mit dem Doktor Richter am Halleschen Waisenhaus verwechselt werde, muss die Schrift zwischen 1712 und 1739 entstanden sein. Denn Samuel Richter hielt sich nachweislich ab 1712 in Halle auf und der letzte Arzt und Pharmazeut der Richter-Brüder am Waisenhaus, Christian Sigismund Richter, starb 1739. 152 Samuel Richter wickelte seinen Medikamentenvertrieb unabhängig von der Medikamenten-Expedition des Waisenhauses selbst sowie über den Buchhändler und Verleger Caspar Jacob Eyssel in Leipzig ab, wie dem Concentrirten Hauß- Feld- und Reise-Apotheckgen zu entnehmen ist. 153 Vgl. A. u. M. Ernst, Druckerschwärze und Goldtinktur [s. Anm. 22], 18. 154 Vgl. A. u. M. Ernst, Druckerschwärze und Goldtinktur [s. Anm. 22], 18. So gibt Samuel Richter in der genannten Schrift mit seinen Medikamenten Panacea Solaris, Polychrest-Pulver, Essentia Stomachica etc. Äquivalente zu den für das Waisenhaus bedeutsamen Präparaten Essentia Dulcis, Pulvis Polychrestus, Essentia Amara.
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seiner alchemistischen Anschauungen anbelangt. So bekundet er im ersten Kapitel „Von dem allgemeinen wahren Fundament der Medicin, aus denen allgemeinen Principiis deduciret“ gleich zu Beginn Folgendes: ie grosse Natur des erschaffenen Welt-Cörpers bestehet in nichts anders, als einer D steten Auf- und Niedersteigung oder Circulirung derer obern und unteren Kräffte; und die radikale Vermengung dieser beyden giebet das allgemeine Nutriment, Wachsthum und Vermehrung allen erschaffenen Cörpern […]. Es sind demnach zwar unendliche untereinander unterschiedene Cörper, als Mineralien, Animalien und Vegetabilien; Aber nur ein einiges Wesen, wodurch alle diese Cörper erhalten, conserviret und belebet werden. Dieses einige Conservans wird sobald Mineralisch, als Vegetabilisch und Animalisch, und weil es sich in diese 3. Regna determiniren läßt, so ist es auch in einem jeden das Wesen desselben Cörpers […].155
Hier kommt die schon früher ausgeführte alchemistische Vorstellung einer Anima mundi deutlich zum Tragen. Samuel Richter sieht alle drei Reiche in der Natur als von dieser Weltseele durchdrungen und belebt an. Sie steuert das Wachstum – auch der Mineralien, was, wie gesagt, eine typische alchemistische Annahme war. Sowohl die Bezeichnung wie auch die Beschreibung der Panacea Solaris, seiner Goldtinktur, die er im Contrirten Hauß- Feld und Reise-Apotheckgen vorstellt, zeigt im Vergleich zur Essentia Dulcis wie offen er von einer Universalarznei im alchemistischen Sinne (Panacea) spricht.156 So schreibt er: ieses ist der Grund der Praeparation unserer Panacea Solaris: welche zwar noch D nicht auf ihren höchsten Grad gelanget, wegen Mangel der Zeit und anderer Umstände, iedoch aber noch endlich zu erhalten verhoffe; sondern es ist das Gold soweit gebracht, daß es zum fixen Schwefel worden, das wahre mineralische Schmertz=Stillungs= und Besänfftigungs=Mittel, welches doch auch, wegen der subtilen obern Kräffte, so darinnen in grosser Menge coaguliret und figiret, gewaltig resolviret und penetriret, und das principium vitale hervorlocket und stärket, so daß es in morbis acutis praesentaneum, in chronicis aber, durch längeres Anhalten, certum remedium ist, mit welchem man so lange kan zufrieden seyn, bis göttliche Güte erlaubet, es zu seiner völligen perfection zu bringen, da man sodann ein concretum, dem Stein der Weisen nicht unähnlich, vorstellen wird.157
Selbst der Vergleich mit dem Stein der Weisen ist in Samuel Richters Schilderung enthalten. Er bringt deutlich zum Ausdruck, dass eine wirkliche Universalarznei, auch wenn seine Panacea Solaris dieser aus verschiedenen Gründen noch nicht völlig entspricht, möglich ist. Letzteres erfordere jedoch „göttliche Samuel Richter, Concentrirtes Hauß- Feld- und Reise-Apotheckgen [s. Anm. 121], 3. Vgl. Samuel Richter, Concentrirtes Hauß- Feld- und Reise-Apotheckgen [s. Anm. 121], 11–17. 157 Samuel Richter, Concentrirtes Hauß- Feld- und Reise-Apotheckgen [s. Anm. 121], 13. 155 156
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Güte“ und eben diese Vorstellung, mit Gottes Erlaubnis und Eingebung die nötige persönliche geistige Reife zu erreichen, um in den Laborkenntnissen auf dem Weg zum Stein der Weisen voranzuschreiten, kennzeichnet die alchemistische Vorstellung des sogenannten Adepten. Dieser sollte einen innerlichen Entwicklungsprozess durchlaufen, der ihn zu größtmöglicher Vergeistigung und Erkenntnis der Naturzusammenhänge führen würde – erst so sollten auch seine praktischen alchemistischen Fähigkeiten zunehmen.158 Betrachtet man neben diesen Äußerungen Samuel Richters wiederum Christian Friedrich Richters sehr eingeschränkte Charakterisierung der Essentia Dulcis als Panacea, wie sie oben erläutert wurde, wird deutlich, dass Letzterer sehr viel vorsichtiger in seiner Darstellung der Wirkkräfte aber auch der alchemistischen Vorstellungen ist, welche die Goldarznei kennzeichnen. Gemeinsam ist jedoch beiden, dass sie als einen entscheidenden Effekt ihres Präparats, welcher dieses als Universalheilmittel kennzeichnet, die Stärkung der „Natur“ im Patienten angeben.159 Es zeigt sich, dass Samuel Richter sich in seinen Schriften im Gegensatz zu Christian Friedrich Richter deutlich in der Tradition der christlichen Hermetik positioniert und sich offen als Alchemist bezeichnet.160 Wie bereits erläutert, benennt Christian Friedrich Richter seine Orientierung an der alchemistischen Arzneitradition zwar in seinen Briefen an Canstein, jedoch nicht in seinen Druckschriften. Insgesamt legt dies nahe, dass offenkundige Alchemisten wie Samuel Richter zwar teilweise heftige Kritik auf sich ziehen konnten, wie sich an seinem erzwungenen Weggang aus Breslau im Jahr 1710/11 zeigt, dass jedoch die Situation innerhalb des institutionellen Rahmens des Halleschen Waisenhauses eine weitaus verschärftere war in Bezug auf die öffentliche Mitteilung alchemistischer Überzeugungen. Die Pietisten der Glauchaschen Anstalten mussten mehr Rücksicht auf die öffentliche Wahrnehmung ihrer religiösen Ausrichtung nehmen, welche durch alchemistische Anschauungen infrage gestellt werden konnten. Es darf dabei jedoch nicht außer Acht gelassen werden, dass Samuel Richters alchemistische Beschäftigungen und Ansichten auch weit über die Christian Friedrich Richters hinausreichten, was unter anderem Samuel Richters oben genannte umfangreiche alchemistische Schriften verdeutlichen.
158 Vgl. Heinz Schott: Heil und Heilung. Zur Ideengeschichte der Alchemie in der frühen Neuzeit. In: Goldenes Wissen [s. Anm. 32], 99–110, hier 99f. 159 Vgl. Samuel Richter, Concentrirtes Hauß- Feld- und Reise-Apotheckgen [s. Anm. 121], 14 und Christian Friedrich Richter, Ausführlicher Bericht 1708 [s. Anm. 58], 21. 160 S. Anm. 115.
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5. Zusammenfassung der Ergebnisse Innerhalb der Pharmazie am Halleschen Waisenhaus ließ sich in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts eine deutliche Orientierung an der alchemistischen Tradition beobachten. Eine Beschäftigung mit der Alchemie hatte zu dieser Zeit jedoch Heterodoxie- oder sogar Häresiepotential, sobald sie über das Feld der Untersuchung der Materie hinausging, welches ihr vielfach von theologischer Seite als allein zulässiges zugewiesen wurde.161 Der medizinisch-pharmazeutische Bereich stellte zwar einen relativ geschützten Raum alchemistischer Tätigkeit dar, aber die alchemistische Pharmazie war durchaus auch Angriffen von medizinischer Seite ausgesetzt. Naturphilosophische und theosophische Betrachtungen schließlich, die sich im Zuge der alchemistischen Betätigung ergaben, sowie ein Rückgriff auf die hermetische Tradition verließen diesen vielfach noch als legitim erachteten Bereich. Wie sich gezeigt hat, waren die Entwicklung und Produktion der Waisenhaus-Medikamente sowie die Erklärungen zu ihrer Wirkung im menschlichen Körper jedoch von solchen grundlegenden Gedanken nicht losgelöst. Das pharmazeutische Agieren am Halleschen Waisenhaus war nicht durch eine bloße Übernahme von Laborpraktiken und Instrumenten aus der alchemistischen Tradition gekennzeichnet, welche abgetrennt wurden von ihren naturphilosophischen Begründungen. So griff man zum Beispiel für die Arzneimittelentwicklung auf die alchemistische Idee eines geistigen, wirkkräftigen Wesenskerns in den materiellen Dingen zurück, welcher eine arzneiliche Wirkung entfalten sollte. Wie an Samuel von Madais Herstellungsvorschrift der Essentia Dulcis aus den 1740er Jahren aufgezeigt wurde, hielt man das Herauslösen der „Quintessenz“, also des „reinen Geistes“ des Goldes, und deren Überführung in eine Arzneiform für einen entscheidenden Fertigungsschritt. Dem dazu verwendeten Ens wurde höchste Bedeutung beigemessen, weshalb man es streng geheim hielt. Die Wirkung auf geistiger Ebene stellte für Christian Friedrich Richter eine wesentliche Begründung des Effekts der Arzneimittel im menschlichen Körper dar. Medizinische Auffassungen aus dem Bereich der Alchemie verknüpften sich dabei mit anderen Vorstellungen, beispielsweise der Humoralmedizin. Richters Seele-Begriff steht mit der alchemistischen Wirkerklärung der Medikamente auf geistiger Ebene in unmittelbarem Zusammenhang und lässt eine alchemistische Prägung erkennen. So setzte er diese mit dem Begriff „Archeus“ nicht nur auf sprachlicher Ebene gleich und lehnte sich des Weiteren an die alchemistische Vorstellung einer Anima mundi an. Es lässt sich also zu den bereits in früheren Untersuchungen herausgearbeiteten Abwandlungen, die Richter am
Vgl. Maillard, Eine Wissensform [s. Anm. 90], 281.
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Seele-Begriff Georg Ernst Stahls vornahm, 162 noch die alchemistische Beeinflussung ergänzen. Aus den genannten Beobachtungen kann die Schlussfolgerung gezogen werden, dass alchemistische Einflüsse in der medizin- und pharmaziegeschichtlichen Forschung zu den Glauchaschen Anstalten im 18. Jahrhundert Berücksichtigung finden sollten, was bisher noch kaum geschehen ist. Die Anschlussfähigkeit alchemistischer Ideen war für die hallischen Pietisten groß, wie die in der Untersuchung zutage getretenen Übernahmen gezeigt haben. Eine dezidiertere Analyse von Gemeinsamkeiten zwischen Alchemie und Halleschem Pietismus hinsichtlich grundlegender Überzeugungen und Ideen könnte darüber hinaus aufschlussreich sein. Es wurde deutlich, dass bezüglich einer öffentlichen Bekundung alchemistischer Orientierungen seitens des Halleschen Waisenhauses mit großer Vorsicht vorgegangen wurde. Im Vergleich von öffentlichen sowie nichtöffentlichen Schriften Christian Friedrich Richters war ersichtlich, dass er seine alchemistisch geprägten Anschauungen in letzteren offenkundiger vertrat. Darüber hinaus war insbesondere im Kontrast zu Samuel Richters163 Publikation Concentrirtes Hauß- Feld- und Reise-Apotheckgen ersichtlich, dass Christian Friedrich Richter nach außen hin vorsichtiger agierte, was die Äußerung alchemistischer Auffassungen anbelangte. Trotzdem stand das Waisenhaus in langjährigem Kontakt zu Samuel Richter und tauschte sich in pharmazeutischen Angelegenheiten mit ihm aus. Daran zeigt sich, dass auch in der konfliktreichen Anfangsphase des Bestehens der Anstalten, die eher durch Vorsicht Franckes gegenüber der hallischen lutherischen Stadtgeistlichkeit gekennzeichnet war, noch intensive Kontakte in hermetisch orientierte Kreise bestanden und aus diesen Einflüsse aufgenommen wurden. Am Halleschen Waisenhaus befand man sich in der spannungsreichen Situation, sich an alchemistischen Auffassungen orientieren zu wollen, ohne dies andererseits vollständig offenlegen zu können. Dies mündete in einem vorsichtigen Agieren hinsichtlich der Außendarstellung der Waisenhaus-Pharmaka, die für die Institution ein Aushängeschild und Beweis göttlicher Providenz, aber kein Anlass für Heterodoxie- oder sogar Häresieverdächtigungen sein sollten.
Vgl. bspw. Helm, Krankheit, Bekehrung und Reform [s. Anm. 16], 39. Eine weiterführende Untersuchung des Zusammenhangs zwischen der Pharmazie am Halleschen Waisenhaus und der Alchemie könnte zu Samuel Richter im Rahmen der Hermetikund Alchemie-Forschung neue Erkenntnisse liefern. Wie zuvor beschrieben, ist über dessen Lebensweg noch relativ wenig bekannt. 162 163
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Thomas Grunewald
Die Kirchbergaffäre Der Hallesche Pietismus und die Problematik von Mesalliancen* Am 10. November 1718 erhielt August Hermann Francke (1663–1727) einen Brief vom Regimentsprediger Georg Christian Haine (1685–1757) aus Berlin, der mit den Worten beginnt: „Ich werde in meinem Gewißen getrungen Erw. Hochehrwl. eine Sache zueröfnen die bis dato aus keiner andern Ursache verschwiegen habe als dero Gemüthe dadurch keine Leidenschaften zuzuziehen. Der Herr wolle […] mich mit der Sünde verschohnen dero Väterl. Zorne und Sorgfalt nicht durch eine von mir erregte empfindl. betrübniß abzulohnen.“1 Haines Absicht, Francke nicht in Aufregung zu versetzen, scheiterte. Die Sache, die er dem Waisenhausgründer eröffnete, bewegte diesen sehr und ließ ihn zugleich resignieren. So berichtete Francke dem Baron Carl Hildebrand von Canstein (1667–1719), einem seiner engsten Vertrauten: „Ich habe mich recht müde, matt und stumpff dran gedacht u. geschrieben, daß es auch nicht wieder durchlesen kann. […] Die Sache afficiret mich sehr, ich sehe gleichwol, da alles so weit avanciret, keine möglichkeit der redressirung.”2 Das Geständnis Haines enthielt sozialen, theologischen und politischen Sprengstoff, den Francke in seinem Antwortschreiben so charakterisierte: ey dem allen kan ich denn nicht anders finden, als daß die umstände so beschaffen B sind, daß […] den Adversariis im gantzen Lande materie calumniandi exoptata dargereichet, […] den Knechten Gottes aber, die noch vorhanden unübersteigl. Verhinderung […] in den Weg geleget, mithin […] das angefangene Gute zum
* Der Beitrag ist die Verschriftlichung eines Vortrags, gehalten auf der Tagung „PietismusGender-Adel“ im Oktober 2015.Anregungen und Anmerkungen der Tagungsteilnehmer hat der Verfasser dankbar in den Aufsatz aufgenommen. Besonderer Dank gilt Frau Prof. Ruth Albrecht, für die kritische Lektüre einer früheren Version des Aufsatzes. Weiterhin ist der Verfasser Holger Trauzettel für mehrere wichtige Hinweise in Bezug auf den hier geschilderten „Fall“ äußerst dankbar. 1 Brief von Georg Christian Haine an August Hermann Francke vom 19.10.1718, Archiv der Franckeschen Stiftungen/Hauptarchiv C (AFSt/ H C) 104 : 10, Blatt 1 recto. 2 Brief von August Hermann Francke an Carl Hildebrand von Canstein vom 12.11.1718. In: Der Briefwechsel Carl Hildebrand von Cansteins mit August Hermann Francke. Hg. v. Peter Schicketanz. Berlin 1972, 858.
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Lande hinausgetrieben wird […] zu Berlin wird diese Historie den bißherigen ingress in den Gemüthern sehr sistiren […].3
Welches Geständnis konnte Francke zu einer solchen Einschätzung geführt haben? Trotz seiner publizistisch meisterhaft ausgewerteten Imagetour, seiner Reise ins Reich 1717/18,4 der öffentlichkeitswirksamen Wiederbekehrung von Herzog Moritz von Sachsen-Zeitz (1718) und der Gönner und Freunde in hohen Positionen schien sein Werk in Gefahr zu geraten. Es mag auf den ersten Blick verwundern, dass die Ursache dieser Krise in dem Zustandekommen einer Eheverbindung lag. Das Geständnis Haines betraf dessen Beziehung zu Magdalena Christina, der Schwester des regierenden Burggrafen von Kirchberg, Georg Friedrich (1683–1749). Der Standesunterschied bedingt die soziale Problematik der Angelegenheit. Die Ehe einer Angehörigen des Hochadels mit einem Bürgerlichen, zumal einem ehemaligen Hofprediger, widersprach den als akzeptabel eingeschätzten Verhaltensweisen der damaligen Zeit. Die politische Dimension des Falles ist weniger offensichtlich, jedoch hochkomplex, und bietet Einblick in das strategische Denken und Handeln Franckes. Denn nicht allein die Verbindungen nach Hachenburg, der Residenz des Burggrafen, sondern auch nach Berlin, zum preußischen König, waren davon betroffen. Dass es in dieser Situation nicht zu schwerwiegenden Differenzen mit Friedrich Wilhelm I. kam, ist zum einen der Intervention v. Cansteins und zum anderen der Sorgsamkeit geschuldet, mit der die Causa Haines und der Gräfin behandelt wurde. Wie sensibel dieser Fall für Francke und den Halleschen Pietismus war, zeigt sich daran, dass auch nach dem Tode Haines das Geheimnis gewahrt wurde. Dieser Beitrag untersucht die bisher unbekannte Mesalliance zwischen der Burggräfin und dem Prediger Haine. Im Mittelpunkt des Interesses steht dabei das Zustandekommen dieser Eheverbindung. Um die Besonderheit dieser Mesalliance herauszuarbeiten, wird eine Verortung im Kontext unstandesgemäßer Ehen in der Frühen Neuzeit unternommen. Weiterhin wird ein vom Baron v. Canstein verfasstes theologisches Schreiben über das Für- und Wider von Mesalliancen analysiert werden. Eine Darstellung der politischen Implikationen des Falles und der Blick darauf, wie es Francke bzw. v. Canstein gelang, die Krise zu meistern, wird den Beitrag beschließen. Von größter Bedeutung ist hierbei die Quellensituation. Da keine Briefe der Gräfin zu den Geschehnissen erhalten sind, ist die Darstellung notwendigerweise einseitig. Die Hauptquellen sind der Brief Haines, die theologische Darlegung v. Cansteins sowie ein Antwortschreiben Franckes.
3 Brief von A.H. Francke an Carl Hildebrand von Canstein vom 12.11.1718, Beilage. In: Der Briefwechsel Canstein Francke [s. Anm. 2], 861. 4 Dazu in Kürze die Dissertation von Holger Trauzettel unter dem Titel: Imagepolitik in direkter Interaktion. August Hermann Franckes „Reise ins Reich“ (1717/18).
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1. Das Geständnis Haines Georg Christan Haine, gebürtig aus Finsterwalde in Sachsen, war Student an der Universität in Halle und durch Franckes Vermittlung spätestens 1714 zum Hofprediger in der Residenz des Burggrafen von Kirchberg, Hachenburg, berufen worden. In dortigen Diensten stand er bis Ende 1717, bevor er wiederum durch die Mediation des Waisenhausgründers zum Prediger des Regiments Gens d’Armes in Potsdam/Berlin aufstieg. Sein Brief an Francke vom November 1718 handelt vorrangig von den Geschehnissen während seiner Zeit in Hachenburg und wird im Folgenden auszugsweise wiedergegeben. rw. Hochehrwl. werden sich zuerrinnern belieben daß, da etwa ein Jahr in HaE chenburg gewesen von der Beschaffenheit des Hofes und der Erweckung, so damahls der Herr in den gemüthern gegeben, sonderlich auch in der zweyten Comtessen nahmens Christina [Magdalena Christina, geb. 1681; d. Vf.] ihnen einige Nachricht ertheilet habe, bey deren beantwortung Sie ein lateinisches Zettelgen5 beygeleget und mich darinnen auf das aller nachdrücklichste auf meiner Huth zustehen gebeten, damit nicht in Versuchung fallen möchte; worauf zu Erw. Hochehrwl. Beruhigung […] geantwortet, deßen mir Zeugniß mein Gewißen vor Gott giebt. Zu solcher Faßung und ohne daß nur mit der geringsten Neigung darauf fallen sollen, was nachgehends geschehen bin auch eine zieml. Zeit fortgegangen und habe mein Werck in Segen getrieben. Nun hat die sel. Frau Gräfin vor dero Tode [Gräfin Magdalena Christina, geb. von Manderscheid-Blankenheim (1658– 1715), die Mutter der zuvor Genannten; d.Vf.] mir die übrigen Hochgräfln. Kinder als in specie benannte Gräfin die ihr Zeit der Krankheit Tag und Nacht gediente und der Mutter Augapfel war auf meine Seele gebunden, ihnen in allen den rechten Weg zu zeigen und mit Rath an Hand zu gehen: dahero mich auch des Umgangs, so oft Sie solchen verlanget und des Unterrichts um soviel weniger entziehen können […]. Als nun 1716 mense Julii nacher Sachsen reisete stund gnädige Herrschaft in der Meinung, es geschähe solche Reise in Ansehung einer zutreffenden Heyrath, die etwa in Patris zuthun woran mein Gemüthe auch nicht völlig frey […].Vor dem Abschied sagte die Gräfin Christina mir diese Worte: Hr. Heyne, Er reiset sich eine Frau zuhohlen, der Herr hat ihm schon eine ersehen, die ihm erbeten habe Er wird keine mitbringen, die Reise wird vergebl. seyn. Auf welche Worte wenig oder gar nichts repliciret.6
Haine war kein Erfolg bei der Suche nach einer Ehefrau beschieden, und so kehrte er nach Hachenburg zurück. Ob er der Ansprache der Gräfin eine Bedeutung zumaß, bleibt unklar. Seiner Darstellung folgend, sah sich Magdalena Christina bei seiner Rückkehr jedoch bestätigt.
Auf diese, in Latein verfasste, Warnung Franckes wird in Abschnitt III näher eingegangen. G.C. Haine an A.H. Francke vom 19.10.1718, AFSt/ H C 104 : 10, Blatt 1 recto – verso.
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S uccessu temporis eröfnete die Gräfin Christina mir ihr Vorhaben und verlangete auf das inständigste meinen Consens Sie zuheurathen, darauf ihr alle daraus erwachsende Noth fürgestellet und Sie gebeten davon abzustehen und diese Versuchung zu überwinden. Und so mit habe nicht gesündiget.7
In der Folgezeit versuchte er, so Haine, auf Abstand zu gehen, was ihm aber aufgrund seiner Stellung und dem Versprechen, welches er der Mutter der Gräfin gegeben hatte, allem Anschein nach nicht möglich war. b mich nun gleich allezeit da Sie von der Sache angefangen, auf meinen Grund O gesuchte und vermeinet ich wäre ganz frey davon, außer das es mir nach und nach immer mehr Noth gemacht, so bin dennoch da Sie aufs neue mit solcher Zärtlichkeit angesezet und auf die gewißheit provociret, daß es Göttl. Wille wäre, wieder mein Sinnen zu einer gar stringenten obligation gezogen worden, die nachgehende nocheinmahl confirmiret worden, ohne daß, welches soviel mich besinnen kann vor Gott versichern nur mit einer Sylbe an die vorher geschehene warnung gedencken sollen. […] Soviel werden Erw. Hochehrwl. daraus sehen, daß mich in dem ganzen Handel blos passive verhalten. Daß mich aber ad consensum disponiren laßen, zeiget in satsam meine Schwäche und das ich ein Mensch wie andere gewesen, die sich, da es ihnen auf solche tendre Art so nahe geleget würde, etwa auf gleiche Art in ihre Schwäche könnten gezeiget haben.8
Nach der für einen Pietisten kaum anfechtbaren Argumentation, dass es der Wille Gottes sei, gab Haine – so muss seine Darstellung verstanden werden – sein Einverständnis zur Heirat mit der Gräfin. Auffallend ist die Betonung der eigenen Zurückhaltung bei gleichzeitiger Hervorhebung der Initiative Magdalena Christinas. Da sich Haine mit seinem Schreiben jedoch an seinen Gönner wandte und zwar in einer für ihn schwierigen Situation, liegt der Gedanke nahe, dass er sich selbst darin in ein besseres Licht zu rücken suchte. Folglich handelt es sich nicht nur um ein Geständnis, sondern auch um eine Rechtfertigung. Haine berichtet weiter, dass die Gräfin nach seiner Einwilligung beruhigt war und ihn nicht weiter bedrängte. Er selbst gibt an, hin- und hergerissen gewesen zu sein und immer wieder an die Warnung Franckes und die möglichen Folgen seiner Entscheidung gedacht zu haben. Von dieser inneren Anspannung auch körperlich angegriffen, bat er Francke wiederholt um die Vermittlung einer anderen Anstellung – freilich ohne diesem den wahren Grund dafür zu erläutern. Als Francke ihm die Stelle beim Regiment in Berlin anbot, akzeptierte Haine und verließ Hachenburg.9 Ob Haine gegenüber Francke jemals ein Wort von der Angelegenheit verloren hätte, muss dahingestellt bleiben. Die Gräfin
G.C. Haine an A.H. Francke vom 19.10.1718, AFSt/ H C 104 : 10, Blatt 1 verso. G.C. Haine an A.H. Francke vom 19.10.1718, AFSt/ H C 104 : 10, Blatt 1 verso – Blatt 2 recto. 9 Vgl. G.C. Haine an A.H. Francke vom 19.10.1718, AFSt/ H C 104 : 10, Blatt 2 recto. 7 8
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ergriff jedoch, wie er weiter berichtet, erneut die Initiative und verwandelte die delikate, aber bisher geheime Übereinkunft in eine halb-öffentliche und damit gefährliche. So habe ihm „die benannte Comt. Christina […] geschrieben, daß sie sich in ihrem Gemüthe genöthiget fände, um ihrer Gelübde genüge zuthun von Hachenburg sich zu retiriren, da sie aber hierunter des Rathes des Hhn. D. Langens in Idstein [Johann Christian Lange (1669–1756), d.Vf.], dem die Sache communiciret worden, sich bedient, der ihr nach Leipzig […] eine Addresse gegeben, wohin sie mens August a.c. ihren cours genommen, ohne das ihr solches gerathen […].“10 Die plötzliche und unangekündigte Abreise hat am Hof in Hachenburg für Aufsehen gesorgt und schlug in Empörung um, als dem Bruder Christinas, dem regierenden Burggrafen, ein Schreiben des ehemaligen Hofpredigers an die Gräfin in die Hände fiel. Das Schreiben, das nicht erhalten ist, muss inhaltlich deutlich genug gewesen sein, sodass Georg Friedrich über die Heiratsabsicht im Bilde war. Über all dies, so der Regimentsprediger, setzte Magdalena Christina ihn in einem Brief aus Leipzig in Kenntnis. Haine sah sich deshalb genötigt, „[d]a nun die Meße in Leipzig war […] Sie von dar nacher Dresden zu bringen“, wo er wohl Freunde hatte.11 Haine tat dies offenbar, um öffentliches Aufsehen zu vermeiden. Kurz darauf erhielt er ein vom Burggrafen in Auftrag gegebenes Schreiben Johann Christian Langes. In diesem Brief, so Haine, macht ihm der Burggraf, der in der ganzen Angelegenheit wohl eine Scharade Haines sah, um seine Schwester ohne sein Einverständnis und außerhalb seines Einflussbereiches heiraten zu können, schwere Vorwürfe.12 In dieser Situation blieb dem ehemaligen Hofprediger nichts anderes übrig, als sich den beiden wichtigsten pietistischen Verbündeten Franckes in Berlin, Baron von Canstein und General Dubislav Gneomar von Natzmer (1654–1739), zu offenbaren. Daraufhin übernahm v. Canstein die Korrespondenz mit Lange bzw. dem Burggrafen von Kirchberg und verfasste die bereits erwähnte Stellungnahme zu den Vorwürfen aus Hachenburg.13 Was die Beziehung zur Gräfin anging, so trat bei Haine scheinbar ein erneuter Sinneswandel ein. In Bezug auf sein gegebenes Einverständnis schrieb er Francke: „Es ist res facti und kann mich von dem Voto nicht lösen als die Vollziehung oder der Todt.“14 Ob diese Einstellung Haines das Ergebnis tatsächlicher Gefühle oder die Einsicht in die Notwendigkeit aufgrund des vor Gott gegebenen Versprechens war, wird nicht zu klären sein. Sicher scheint, dass Haine, als er diesen Brief schrieb, entschlossen war, Magdalena Christina zu ehelichen.
G.C. Haine an A.H. Francke vom 19.10.1718, AFSt/ H C 104 : 10, Blatt 2 recto. G.C. Haine an A.H. Francke vom 19.10.1718, AFSt/ H C 104 : 10, Blatt 2 verso. 12 Vgl. G.C. Haine an A.H. Francke vom 19.10.1718, AFSt/ H C 104 : 10, Blatt 2 verso. 13 Anhang an den Brief G.C. Haines von Carl Hildebrand von Canstein, G.C. Haine an A.H. Francke vom 19.10.1718, AFSt/ H C 104 : 10. 14 G.C. Haine an A.H. Francke vom 19.10.1718, AFSt/ H C 104 : 10, Blatt 2 verso. 10 11
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Eine solche Ehe war eine problematische Angelegenheit. Der Grund hierfür lag in der sozialen und politischen Ungleichheit der beiden Partner und war darüber hinaus Ausdruck einer komplexen Rechtslage und sozialen Normsetzung. Ehen stellten, insbesondere im Adel, immer auch eine politische Allianz zwischen den Familien der beiden Ehepartner dar. Das Ziel war den eigenen Besitz, Titel und Privilegien in der Familie zu erhalten und sich gegenüber niederen Ständen abzugrenzen.15 Für die Heiratspolitik von Adelshäusern ergab sich somit eine Regel, die Michael Sikora wie folgt formuliert hat: „[M]arrying within one’s rank or even into a higher rank was an indispensable precondition to maintaining one’s own status, and advancing the political and economic interests and connections of the noble house […].“16 Nach oben heiraten bedeutete hierbei, einen in der adligen Hierarchie über einem selbst stehenden, aber standesgleichen Partner zu ehelichen. Dies war beispielsweise dann der Fall, wenn ein Reichsgraf eine Fürstin oder Herzogin zur Frau nahm. Eine solche Ehe war standesgerecht, da Reichsgrafen dem fürstlichen Stand zugehörig waren. Sie war aber ungleich, da die beiden Partner in der Adelshierarchie nicht auf der gleichen Rangstufe standen. Diese Art der ungleichen Ehe war relativ unproblematisch und kam recht häufig vor. Je größer jedoch die Ungleichheit der Partner im Rang war, desto mehr konnte die Angemessenheit der Partnerwahl kritisiert werden.17 Hiervon zu unterscheiden sind die sogenannten unstandesgemäßen Ehen, auch Mesalliancen genannt. Diese galten zumeist als inakzeptabel und ließen nicht selten „heftige Konflikte entstehen, die sich oberflächlich um die Frage drehten, ob aus einer solchen Ehe sukzessionsfähige Nachkommen erwachsen konnten [, was nicht zuletzt bedeutete,] da[ss] eine ungebrochene Tradition der Teilhabe an adligem Konnubium bedroht [und] jahrhundertealte Stammbäume in ihrer Reinheit gefährdet waren.“18 Unstandesgemäße Ehen stellten Heiraten aus dem eigenen Stand heraus nach unten dar, die potentiell die Abgeschlossenheit des eigenen Standes aufhoben, Besitz und Privilegien in Frage stellten und Vgl. Wolfgang Breul: Mesalliancen im Pietismus. In: „Der Herr wird seine Herrlichkeit an uns offenbahren“. Liebe, Ehe und Sexualität im Pietismus. Hg. v. dems. u. Christian Soboth. Halle 2011, 225 und Michael Sikora: Über den Umgang mit Ungleichheit. Bewältigungsstrategien für Mesalliancen im deutschen Hochadel der Frühen Neuzeit – Das Haus Anhalt als Beispiel. In: Zwischen Schande und Ehre. Erinnerungsbrüche und die Kontinuität des Hauses. Legitimationsmuster und Traditionsverständnis des frühneuzeitlichen Adels in Umbruch und Krise.Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz. Hg. v. Martin Wrede u. Horst Carl. Beiheft 73. Mainz 2007, 97. 16 Michael Sikora: Conflict and Consensus Around German Princes’ Unequal Marriages. Prince’s Autonomy, Emperor’s Intervention, and the Juridification of Dynastic Politics. In: The Holy Roman Empire, Reconsidered. Hg. v. Jason Philip Coy [u. a.]. New York 2010, 177. 17 Heiratete, um beim Beispiel zu bleiben, ein Reichsgraf eine Herzogin, so machte er – umgangssprachlich – eine gute Partie. Ehelichte jedoch ein königlicher Prinz eine Reichsgräfin konnte dies durchaus zu Kritik führen, obschon eine solche Ehe standesrechtlich betrachtet ohne Fehl und Tadel war. 18 Sikora, Über den Umgang mit Ungleichheit [s. Anm. 15], 98. 15
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ganz allgemein das Prestige der eigenen Familie in den Augen der anderen Adligen senkten. Insbesondere vor dem Hintergrund der aufstrebenden und ihren Macht- und Einflussbereich erweiternden Territorialstaaten (Preußen, Sachsen, Hannover, Hessen) einerseits und den Neunobilitierungen und Standeserhöhungen durch den Kaiser andererseits waren solche Heiraten nicht nur ein gesellschaftlicher Skandal, sondern stellten auch eine politische Gefahr dar. Mesalliancen sind von der Forschung vielfach beachtet und ihre unterschiedlichen Ausprägungsformen detailliert beschrieben worden.19 Es ist für diesen Aufsatz nicht notwendig die einzelnen Formen und genaueren Unterscheidungen darzustellen, doch muss auf die schiere Anzahl der Fälle verwiesen werden. Willoweit berechnet die Zahl der ungleichen Eheschließungen – unter Einbezug der unstandesgemäßen – im Deutschen Hohen Adel für die Zeit vom Beginn des 16. bis zum Ende des 18. Jahrhunderts auf über 10020 und auch im Werk Ueber Mißheirathen Teutscher Fürsten des Staatsrechtlers Johann Stephan Pütter werden zahlreiche Beispiele für die jeweiligen Jahrhunderte aufgeführt.21 Pütter zufolge sind in den ersten zehn Jahren des 18. Jahrhunderts sechs unstandesgemäße Ehen öffentlich geworden.22 Darunter befinden sich beispielsweise die des nicht-regierenden Grafen Edzard Eberhard Wilhelm von Ostfriesland mit der Bürgerlichen Sophie Marie Fölten, aber auch die zweier Prinzen des verzweigten Anhaltinischen Fürstenhauses sowie die des Herzogs Ludwig Carl von Holstein-Sonderburg zu Franzhagen mit der niederadligen Anne Dorothee von Winterfeld.23 Sowohl bei der Ehe des Grafen von Ostfriesland als auch bei der des Herzogs von Holstein-Sonderburg handelte es sich jeweils um die erste Ehe, die von keinen vertraglich fixierten Verzichtserklärungen der Braut begleitet und deshalb besonders problematisch war. Beide Fälle zeigen, dass diese Verbindungen von Seiten der Familie des Adligen nicht ohne Konsequenzen blieben und bis zum Ausschluss aus der Erbfolge führen konnten.24 Weiterhin wird hieran deutlich, dass diese Art der Eheverbindungen alle Ebenen der Hierarchie innerhalb des Hochadels betrafen und sich die Ehepartner nicht nur aus dem niederen Adel, sondern auch aus den nicht-adligen Ständen rekrutierten. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass ungleiche Ehen im hohen Adel in der Frühen Neuzeit weder eine Seltenheit noch Usus waren.
19 S. dazu bspw.: Dietmar Willoweit: Standesungleiche Ehen des regierenden hohen Adels in der neuzeitlichen deutschen Rechtsgeschichte. Rechtstatsachen und ihre rechtliche Beurteilung unter besonderer Berücksichtigung der Häuser Bayern und Pfalz. Bayerische Akademie der Wissenschaften, Philosophisch-Historische Klasse. Sitzungsberichte Jg. 2004, Heft 5. München 2004 und Michael Sikora, Ungleiche Verbindlichkeiten. Gestaltungsspielräume standesverschiedener Partnerschaften im deutschen Hochadel der Frühen Neuzeit. In: Zeitenblicke 4, 2005, H.3. 20 Willoweit, Standesungleiche Ehen [s. Anm. 19], 31. 21 Johann Stephan Pütter: Ueber Mißheirathen Teutscher Fürsten und Grafen. Göttingen 1796. 22 Pütter, Ueber Mißheirathen [s. Anm. 21], 216ff. 23 Pütter, Ueber Mißheirathen [s. Anm. 21], 216 24 Pütter, Ueber Mißheirathen [s. Anm. 21], 216f. Zu Herzog Ludwig Karl s.a.: Jahrbücher des Vereins für meklenburgische Geschichte und Althertumskunde, 31. Jg., 1866, 17–21.
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Vor diesem Hintergrund können nun die Ehen bekannter pietistischer Adliger in den Blick genommen werden. Dabei gelangt man zum selben Befund, wie bei nicht-pietistischen Adligen.25 Beispielsweise heiratete der dänische Kronprinz und spätere König Christian VI. (1699–1749) Sophie Magdalena von Brandenburg-Kulmbach (1700–1770) aus der nicht-regierenden Nebenlinie der Markgrafen von Bayreuth, wobei „deren Religiosität eine entscheidende Rolle gespielt zu haben“ scheint.26 Gleiches gilt für die Ehe des Herzogs Christian Ernst von Sachsen-Coburg-Saalfeld (1683–1745) mit Christiane Friederike von Koß (1686–1743), der Tochter des Saalfelder Forstmeisters. Um diese Ehe zu legitimieren, war Christian Ernst gezwungen für etwaige Kinder auf sämtliche Herrschaftsansprüche an dem Herzogtum zugunsten der Nachkommen seines Bruders zu verzichten.27 Nach unten heiratete auch Heinrich XXIV. Reuß zu Köstritz (1681–1748), einer der wichtigsten adligen Vertrauten August Hermann Franckes, der ein mit einer Apanage abgefundener Reichsgraf war. Seine Gemahlin war Maria Eleonore Emilia von Promnitz (1688–1776), die aus der freiherrlichen Linie zu Dittersbach und damit aus dem niederen Adel stammte.28 Aus diesen Beispielen kann nicht auf eine besondere Häufung ungleicher Ehen im Allgemeinen und von unstandesgemäßen im Speziellen im pietistischen Hochadel geschlossen werden. Zum einen waren solche Eheverbindungen dafür zu häufig im Hochadel anzutreffen und zum anderen gibt es genü-
25 Für die neuesten Forschungen zum Verhältnis von Adel und Pietismus siehe:Wie pietistisch kann Adel sein? Hallescher Pietismus und Reichsadel im 18. Jahrhundert. Hg. v. Andreas Pečar [u. a.]. Halle 2016. 26 Thomas Ruhland u. Claus Veltmann: Christian Ernst zu Stolberg-Wernigerode, Dänemark und das pietistische Adelsnetzwerk. In: Mit Göttlicher Güte Geadelt. Adel und Hallescher Pietismus im Spiegel der fürstlichen Sammlungen Stolberg-Wernigerode. Hg. v. C. Veltmann [u. a.]. Halle 2014, 55. Tatsächlich scheint die Heirat des dänischen Kronprinzen mit der Tochter eines politisch bedeutungslosen, nicht regierenden Markgrafen nicht anders erklärbar zu sein als mit den gemeinsam geteilten pietistischen Überzeugungen. Da Ehen in der damaligen Zeit den Charakter politischer Bündnisse hatten, muss die Entscheidung Christians V I. als klare Abwendung von den üblichen Gepflogenheiten und Überlegungen angesehen werden. Es ist jedoch auch möglich, in dieser Ehe die Verbindung pietistischer Überzeugungen und politischer Überlegungen zu sehen. Die Markgrafschaft Bayreuth wurde von einer Nebenlinie der Hohenzollern regiert, so dass Christian VI. durch die Ehe mit Sophie Magdalena auch in ein indirektes verwandtschaftliches Verhältnis zu Preußen trat. Über die Gemengelage von Pietismus, Adel und Politik am Beispiel des Hauses Stolberg-Wernigerode schreibt der Verfasser seine Doktorarbeit. 27 S. Hans-Walter Erbe: Zinzendorf und der fromme hohe Adel seiner Zeit (1700–1760). Leipzig 1928, 38ff. 28 Zu Heinrich XXIV. S. Anke Brunner: Aristokratische Lebensform und Reich Gottes. Ein Lebensbild des pietistischen Grafen Heinrich XXIV. Reuß-Köstritz (1681–1748). Herrnhut 2005. Gerade am Beispiel dieser Ehe wird deutlich, wann unstandesgemäße Ehen akzeptabel waren, nämlich vor allem dann, wenn der männliche Part für das Gesamtgefüge des Adelshauses weitgehend unbedeutend war. Heinrich XXIV. war der Bruder des regierenden Grafen von Reuß-Schleiz, Heinrich XI., der männliche Nachkommen von standesgemäßen Partnerinnen hatte.
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gend Beispiele für standesgemäße und gleichrangige Ehen pietistisch geprägter Hochadliger.29 Insofern stellen ungleiche oder unstandesgemäße Ehen kein Distinktionsmerkmal pietistisch-adliger Lebensgemeinschaften dar. Wolfgang Breul hat auf eine Besonderheit hingewiesen, die auf den Fall Haines und der Gräfin zutrifft und im pietistisch-adligen Kontext vermehrt auftritt: die Konstellation der Ehepartner bestehend aus einer weiblichen Adligen und ihrem vormaligen Hofprediger oder Informator mit pietistischem Hintergrund. Breul hat nicht weniger als elf Fälle in einem Untersuchungszeitraum von 20 Jahren ausfindig gemacht.30 Im Gegensatz zu den oben gezeigten Beispielen, in denen höhergestellte Männer nach unten heirateten, gingen hier adlige Frauen unstandesgemäße Ehen mit Bürgerlichen ein. Da die Erbfolge und damit die Herrschaft im Alten Reich der Frühen Neuzeit über die männlichen Agnaten weitergegeben wurde,31 musste die Adelsfamilie in solchen Fällen zwar nicht mit Erbansprüchen eventueller Kinder rechnen, doch bedeutete eine solche Ehe einen Prestigeverlust für das gesamte Haus.32 Die rechtliche Situation wirkte sich geschlechtsspezifisch unterschiedlich aus. Während ein männlicher Adliger seinen Stand und seine Titel behielt, gestaltete sich dies bei weiblichen Adligen anders. Der Geburtsstand einer Frau leitete sich von dem ihres Vaters ab und konnte sich durch die Heirat verändern, da die Frau – auch die Adlige – dem Stand ihres Ehemannes gleichgesetzt wurde. Eine hochadlige Frau, die einen Mann unter ihrem Geburtsstand heiratete, verlor „alle Vorzüge ihres angebohrnen höhern Standes“, und auch ihre Kinder waren nur im Stande ihres Ehemannes.33 Weiterhin wurden die mit einer Heirat üblicherweise verbundenen Versorgungswerte, wie Brautschatz und Aussteuer, in solchen Fällen nicht erstattet und auch eine, dem Geburtsstand entsprechende, standesgemäße Unterstützung von Seiten der Familie wurde nicht übernommen.34 Während eine unstandesgemäße Ehe also nur relativ geringfügige Auswirkungen für den männlichen Adligen mit sich führten, waren die Folgen für die Adligen weiblichen Geschlechts immens. Obwohl dies ein großes und in vielerlei Hinsicht interessantes Konfliktfeld offenbart und einige solcher Fälle
29 Beispielhaft seien hier nur die Ehen des Reichsgrafen Christian Ernst zu Stolberg-Wernigerode mit der ebenfalls gräflichen Sophie Charlotte zu Leiningen-Westerburg, die des Grafen Erdmann Heinrich Henckel zu Donnersmarck mit der Gräfin Luisa Sophie von Solms-Sonnenwalde oder Heinrich II. von Reuß-Obergreiz mit Sophie Charlotte von Bothmer genannt. 30 Vgl. Breul, Mesalliancen im Pietismus [s. Anm. 15], 227–241. 31 Sikora, Ungleiche Verbindlichkeiten [s. Anm. 19], Abschnitt 6. 32 Außerdem fiel die Adlige auch als potentielle Partnerin für eine Allianz mit einer anderen, standesgemäßen Familie aus. 33 „So behält eine königliche Prinzessin den von Geburth ihr zukommenden Titel: königliche Hoheit, wenn sie einen Teutschen Fürsten zum Gemahl hat. Eben so behält eine Prinzessin, wenn sie einen Reichsgrafen heirathet, nicht nur den Durchlauchtstitel, sondern sie wird Fürstinn von dem Lande genannt, das ihr Gemahl als Graf besitzt.“ – Vgl. Pütter, Ueber Mißheirathen [s. Anm. 21], 355. 34 Pütter, Ueber Mißheirathen [s. Anm. 21], 357.
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bekannt sind, ist mit Ausnahme des Artikels von Breul von der Forschung bisher keine dahingehende Untersuchung geführt worden. Als symptomatisch kann Willoweits Begründung für die Auslassung einer Analyse von Mesalliancen weiblicher Adliger betrachtet werden: ie Eheschließungen der Prinzessinnen und Reichsgräfinnen hat die ReichspubliD zistik bei weitem nicht mit derselben Sorgfalt registriert. Sie bleiben daher in der folgenden Darstellung unberücksichtigt. Dies scheint auch deshalb vertretbar, weil die weibliche Nachkommenschaft von der Regierungsnachfolge ausgeschlossen war und im Übrigen der vergleichsweise viel höhere Anteil sicher ebenbürtiger Eheschließungen der Prinzen und Reichsgrafen spiegelbildlich auch die Eheschließungsgewohnheiten der weiblichen Dynastieangehörigen zeigt. 35
Hier liegt eine Forschungslücke vor, die insbesondere auch für genderspezifische Fragestellungen von einigem Interesse sein dürfte. Die Quellenlage des hier zu untersuchenden Falles schränkt die dahingehenden Möglichkeiten des vorliegenden Beitrags jedoch ein. Bevor die Stellungnahme v. Cansteins in den Blick genommen wird, müssen noch zwei für den vorliegenden Fall wesentliche Aspekte beleuchtet werden. Zum einen handelt es sich dabei um die Mesalliance zwischen der Gräfin Charlotte Sophie von Waldeck (1667–1723), der Äbtissin des Stifts in Schaaken, und dem in Halle ausgebildeten Informator und Prediger Johann Juncker (1680– 1759). Diese unstandesgemäße Ehe hatte 1707 für einiges Aufsehen gesorgt und dem Pietismus in Waldeck einigen Schaden zugefügt. Ähnlich wie zehn Jahre später Haine wandte sich Juncker mit einem Rechtfertigungsschreiben an Francke. Nach der Hochzeit zog sich das Paar zurück und ist erst 1716 erneut durch Quellen greifbar. In diesem Jahr wurde Juncker Physicus am Waisenhaus in Glaucha und wohnte mit seiner Frau in Halle.36 Für die Causa Haines und der Burggräfin bedeutet dies, dass es – zumindest in der Erinnerung Franckes – einen bedeutenden Präzedenzfall gab. Zum anderen muss die einzige Quelle angesprochen werden, in der Magdalena Christina greifbar wird und die im weiteren Kontext der Geschehnisse steht. Es handelt sich um einen Brief der Gräfin an Francke vom Juli 1717.37
Willoweit, Standesungleiche Ehen [s. Anm. 19], 31. Zur Mesalliance Junckers mit der Gräfin von Waldeck siehe: Breul, Mesalliancen im Pietismus [s. Anm. 15], 228–230. 37 Brief von Christine[a] [Magdalena] von Kirchberg an A.H. Francke vom 17.07.1717, Staatsbibliothek zu Berlin, Stab/F2a/10 : 8. Ende und Unterschrift des Briefes fehlen. Er ist jedoch im Archiv der Staatsbibliothek Berlin einer Christine von Kirchberg zugeordnet, was sich aus dem Abgleich des Schriftbildes mit vorherigen Briefen ergibt. Als problematisch erweist sich, dass für die Familie der Burggrafen von Kirchberg keine Christine nachweisbar ist (Vgl. Detlev Schwennicke [u. a.]: Europäische Stammtafeln: Stammtafeln zur Geschichte der europäischen Staaten. Zwischen Weser und Oder. Bd. XIX. Marburg 2000, Tafel 108). Magdalena Christina hatte drei Schwestern, die als Verfasserin dieses Briefes theoretisch in Frage kommen könnten: Elisa35 36
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Darin übermittelte sie das Angebot einer Rektorenstelle am Waisenhaus in Hachenburg an Haine und bat Francke diesen zu einer Annahme des Angebots zu bewegen. Den Hintergrund dieses Angebots bildete scheinbar die Sorge um das Wohl Haines: theils schreibe auch solges wegen des He Hayns, den Sie uns vor ein bar jahr geschickt haben, weil mercke das sein gemüht von tag zu tag mer noht leidet, welges wir uneracht er keinen menschen ein word sagt, genuchsam sehen könen, und man es auch an seine leibl. und gemühts gaben sadsam sieht und spürdt, sollte er nun wie ich festlich glaube dem He [Francke; d.Vf.] von seinen Zustand gemeldet, und sein noht geklaget haben so ist es gut, wo nicht so habe mich vor andern verflichtet befunden dem He Profes. dieses zu melden […].38
Unter der Prämisse, dass die eingangs geschilderte Darstellung Haines zumindest grob den Tatsachen entspricht und der zeitliche Ablauf korrekt ist, handelte es sich bei der von der Gräfin bemerkten Not Haines vermutlich um dessen Unbehagen hinsichtlich des gegebenen Heiratsversprechens und der Situation in Hachenburg. Insofern ahnte Magdalena Christina, die Francke hier ihre Beobachtung mitteilte, vielleicht sogar worin Haines Not bestand. Da sie wusste, dass Haine in regelmäßigem brieflichen Kontakt mit Francke stand, konnte sie sich nicht sicher sein, ob Haine dem Waisenhausgründer gegenüber seine Lage dargelegt und um Hilfe und Demission gebeten hatte. Aus ihren Formulierungen spricht jedoch eine gewisse Überzeugung, dass der Hofprediger Francke dieses heikle Thema nicht mitgeteilt, höchstens um Versetzung gebeten hatte. Vor dem Hintergrund ihrer Besorgnis um das Wohl Haines entwickelte sie den Plan, Haines Hofpredigerstelle mit der des Rektors des Waisenhauses zusammenzulegen, um diesem eine gesündere Lebensgrundlage zu ermöglichen. [D]a man in allen sachen nicht auf sein eigen nutzen, sondern auch auf das beste und heil des nächsten sehen und sorgen soll, zu mahl da man förchten muss das er [Haine; d. Vf.] nach und nach undüchtig werden mögte zum dinste Gottes, und mögte man auch eine sünde […] auf sich laden, ich sage alles dem He professor im höchsten verdrauen da mein bruder noch keins von meinen geschwistern was dar
beth Dorothea (1680–1748),Wilhelmine Christina (1684–1735) und Ernestina Karolina (1687– 1775). Erstere unterschrieb ihre Briefe mit „Elisabeth“, letztere mit dem Ausdruck „de Hachenberg“. Wilhelmine Christine verwendete „Wilhelmine“. Da es zur Zeit der Ausstellung des Briefes keine weiteren weiblichen Mitglieder der Familie von Kirchberg in Hachenburg gab, spricht einiges dafür, dass es sich bei der Verfasserin um Magdalena Christina handelt (vgl. Holger Trauzettel: „Der Herr Graf von Assenheim hat bisher einen wiedrigen Begriff von Halle und dem Herrn Professor gehabt.“ In: Wie pietistisch kann Adel sein? [s. Anm. 25], 100.) Führt man sich weiterhin vor Augen, dass sie den gleichen Namen hatte wie ihre Mutter, erscheint die Annahme plausibel, dass ihr Rufname in „Christine“ verändert wurde. 38 Brief von Christine[a] [Magdalena] von Kirchberg an A.H. Francke vom 17.07.1717, Stab/ F2a/10 : 8.
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von weis, sondern weil ich so meine gedancken über die forschläg meines bruders habe, das er gern einen recktor hir haben will, welges gut und hir ser nöhtig thet […], wan dan die zwey dinsten He Hayn und der recktor dinst verbunden werden könte, so kan ein man mit seiner familie woll leben, der He Professor obligire dem He Hayn dar zu, das er solge arbeidt annimbt […].39
Francke gegenüber überspielt Magdalena Christina damit die Frage, wie sie so genaue Kenntnis von der Not Haines haben konnte – ist hierin doch ein recht deutliches Indiz für ihre Nähe zum Hofprediger zu sehen.Vielmehr stellt sie dem Waisenhausgründer gegenüber ihren christlichen Wunsch in den Vordergrund, Haine helfen zu wollen. Vor allem aber gab sie vor, Francke ins Vertrauen zu ziehen, indem sie diesen über die Pläne ihres Bruders hinsichtlich der Rektorenstelle informierte. Hierbei ist interessant, in welchem Kontext die Gräfin die Zusammenlegung der beiden Stellen zur wirtschaftlichen Absicherung Haines vorschlug. So hatte sie im vorherigen Teil des Schreibens angedeutet, dass Haines Not ökonomische Ursachen haben könnte, da er es ablehne im Schloss zu leben, auf dem Land nicht untergebracht werden könne – da er dort als Lutheraner unter Reformierten leben müsste –, und sich von seinem Gehalt keine eigene Wohnung leisten konnte.40 Mit der Rektorenstelle hätte Haine eine ausreichende finanzielle Basis gehabt, um entweder im Hachenburgischen Waisenhaus oder in einer eigenen Wohnung in unmittelbarer Nähe leben zu können. Damit, und so kann die Intention der Gräfin auch gedeutet werden, wäre ein Ort für geheime Treffen zwischen ihr und Haine gegeben gewesen. Auch der Einwurf Magdalena Christinas in Bezug auf Haines „familie“ kann dann doppelt gelesen werden. Da zwischen ihr und Haine zu diesem Zeitpunkt ein Heiratsversprechen bestand, war keine zukünftige und noch unbekannte Ehepartnerin gemeint.Vielmehr drängt sich hier der Gedanke auf, dass sich die Gräfin damit selbst meinte. Schließlich muss ihr klar gewesen sein, dass sie bei einer Heirat mit dem bürgerlichen Haine ihre Titel und die Unterstützung ihrer Familie verlieren würde, weshalb sie auf Haine und seine Einkünfte angewiesen sein würde. Haine deshalb im Vorfeld mit den notwendigen Ressourcen ausstatten zu wollen, erscheint deshalb als durchaus plausibel. Ob sie tatsächlich annahm, dass ihr Bruder es akzeptiert hätte, dass sie mit Haine verheiratet im oder am Waisenhaus in seiner Residenzstadt zusammengelebt haben würde, muss dahingestellt bleiben. Haine nahm das Angebot jedoch nicht an, was zumindest die Vermutung zulässt, dass er von dem Vorgehen der Gräfin nichts wusste und/oder es nicht approbierte. Als Francke während seiner Reise ins Reich 1717 in Hachenburg Station machte, bat Magdalena Christina ihn darum, nach Halle ins Fräuleinstift
Brief Christina Magdalena von Kirchbergs an A.H. Francke vom 17.07.1717, Stab/F2a/10 : 8. S. Brief Christina Magdalena von Kirchbergs an A.H. Francke vom 17.07.1717, Stab/ F2a/10 : 8. 39
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kommen zu dürfen, was Francke ihr auch zugestand.41 Dass sie deshalb nicht wieder auf diese Zusage Franckes zu sprechen kam, weil Haine Hachenburg nicht Richtung Halle verließ, ist eine naheliegende, aber nicht zu beweisende Vermutung.
2. Die Stellungnahme v. Cansteins Nachdem Haine den Baron von Canstein in Kenntnis gesetzt hatte, übernahm der Letztere die Vertretung des vormaligen Hofpredigers und trat in eine Korrespondenz mit dem Bruder Magdalena Christinas ein. Da dieser Briefwechsel nicht erhalten ist, können die Vorgänge nur indirekt aus der Stellungnahme des Barons und vereinzelten Kommentaren v. Cansteins in den Briefen an Francke erschlossen werden. Mit dem Waisenhausgründer befand sich v. Canstein in den Wochen nach der Ankunft des Briefes Haines in Halle in regem Austausch und stellte mit Francke verschiedene Überlegungen an, wie der misslichen Lage beizukommen sei.42 Vordergründig aus Mitleid mit Haine und dessen Situation engagierte sich v. Canstein in der bewussten Angelegenheit: r jammert mich von hertzen, weilen sein gemüth ohngemein viel leidet, und Er E die folgen hiervon wohl erkennet. wo Er sich hinwendet, Siehet Er gleichsam unüberwindliche Schwürigkeiten. Er verdienet auch üm des willen hertzliches mitleiden, weilen Er unter allen hiesigen predigern der jenige ist, der mit der größten erbauung der seelen auf eine evangelische art prediget, Es ist ihm ein rechter ernst in seinem amt, beßer hatten Sie [gemeint ist Francke, d. Vf.] ihn nicht senden könen.43
Der Baron verfolgte mit seinem Einsatz jedoch noch ein anderes Ziel. Allem Anschein nach wollte er den Waisenhausgründer in Bezug auf die anstehenden Verhandlungen und die Entscheidungsfindung soweit wie möglich außen vor lassen. Im Hinblick auf die Verhandlungen etwa, hatte v. Canstein Francke vor vollendete Tatsachen gestellt. Die Frage, ob Francke der Verbindung Haines mit der Gräfin seinen Segen geben oder beispielsweise aus politischen Gründen auf 41 Brief von A.H. Francke an Carl Hildebrand von Canstein vom 12.11.1718. Beilage. In: Der Briefwechsel Canstein Francke [s. Anm. 2], 860f. 42 So kann aus den Briefen herausgelesen werden, dass über einen Abzug Haines aus Berlin und seine Verwendung für eine andere Stelle nachgedacht wurde (s. Baron v. Canstein an A.H. Francke vom 12.11.1718. In: Der Briefwechsel Canstein Francke [s. Anm. 2], 858). Weiterhin brachte der Baron den Gedanken ein, die Gräfin von Dresden nach Schonberg (hiermit könnte Schönburg gemeint sein, was nahe der Besitzungen des Barons gelegen war) zu einem Vertrauten zu bringen (Baron v. Canstein an A.H. Francke vom 22.11.1718. In: Der Briefwechsel Canstein Francke, ebd., 866). 43 Baron v. Canstein an A.H. Francke vom 14.11.1718. In: Der Briefwechsel Canstein Francke [s. Anm. 2], 864.
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einer Trennung bestehen würde, stand zu keinem Zeitpunkt zur Disposition. Vielmehr erreichte Francke am 10. November 1718 nicht nur das Schreiben Haines, sondern auch eines des Barons: [L]etzlich habe das wichtigste H. Hayne angehend zu melden. den verlauf der Sachen an sich selbst zeiget sein eigen schreiben, So Er mir vor gelesen, worauf mich denn beziehe. also kommt es nur darauf an, daß ich ihnen einen wahrhaftigen bericht ertheile, wie der H.v.N. [der General von Natzmer, d.Vf.] auch Sie die sache gefaßet, und was insbesondere Er dabey vor notig erkennet. als ich ihn dieselbige hinterbrachte, So nahm er Sie dergestalt an, daß ich gar wohl damit zu frieden seyn konnte, hatt auch nicht die von H. Hayne mit recht habende gute meinung fahren laßen, sondern liebet ihn vor wie nach. dergestalt, daß ich ihnen wohl zum trost und verminderung der leyden, welche Sie hierüber haben werden, zu versichern getraue, daß ratione des amts so H. Hayne hier mit besonderm Segen führet, Es ihn bey dem H.v.N. auch ihr keinen nachtheil bringet. ja Es hatt der H.v.N. bezeuget, […] H. Hayne wegen dieses ümstandes eine anderwertige vocation zu verschafen, daß Er zwar dem nicht entgegen seyn würde, aber dazu nicht würde concurriren, nicht nur, üm damit nicht bey dem konig anzustoßen […], da H. Hayne so kurtze zeit bey den gensdarmes gewesen; sondern auch daß wir mochte wohl acht haben, ob H. Hayne an einem andern orth eben so großen geistlichen nutzen würde schafen, als hier darauf wäre am meisten zu reflectiren […]. indeßen sehe Er vor notig an, daß man mochte mit der vollziehung [der Heirat; d.Vf.] noch in etwas warthen, weilen einige hofnung noch ubrig wäre, daß des konigs gemüth sich besänftige [wegen anderer, auch die Pietisten betreffender, theologischer Angelegenheiten; d. Vf.] da Er denn wenn die sache eclatire mit der zeit, wie nicht zu zweiflen, So wollte Er schon den konig selbst davon sprechen, und ihm selbige erzehlen, wie Sie an sich wäre. nachstdem sehe Er doch auch gut an, daß die heyrath an einem andern orth vollzogen würde, weilen Es denn so viel weniger aufsehen machen sollte. […] Einige reflexiones hierüber zu machen, ist notig. So ist dieses auch verhofentlich genug, üm ihnen einen begrief zu geben von dieser sachen beschafenheit, was diesen ort anlanget. könen Sie nun hiebey auf einige art und weise mit gutem rath an die hand gehen, wäre es erwündschet, wie Sie mir denn hierüber ihre gedancken ofenhertzig zu entdecken haben[…].44
Entscheidend ist hier, wie der Baron den Fall darstellt. Aus dem Brief Haines kannte Francke die Einzelheiten und wusste, dass v. Canstein sich der Sache angenommen hatte. Die Wiedergabe des Gesprächs mit dem General von Natzmer verdeutlicht, dass der Baron bereits in Aktion getreten war. Francke konnte folglich keinen Rat mehr geben und nicht selbst tätig werden. Die Wiedergabe der positiven Einstellung des Generals durch v. Canstein sollte Francke beruhigen und auch der Verweis auf ein zukünftiges Gespräch des Generals mit dem
44 Baron v. Canstein an A.H. Francke vom 10.11.1718. In: Der Briefwechsel Canstein Francke [s. Anm. 2], 857.
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König ist in dieser Hinsicht zu deuten. Die abschließende Bitte um den Rat und die Meinung Franckes ist demnach nicht mehr als eine höfliche Floskel. Tatsächlich zeichnete der Baron aber ein viel zu positives Bild der Lage und musste dieses in der Folge revidieren. So gestand er zum Beispiel, dem General aus Furcht vor dessen Reaktion nicht mitgeteilt zu haben, dass sich die Gräfin in Dresden und damit in der Residenzstadt des sächsischen Kontrahenten des preußischen Königs befand.45 Auch erweckte er den Eindruck, dass der weitere Verlauf der Angelegenheit gewissermaßen vorgezeichnet war. Seine Darstellung präsentiert die avisierte Heirat zwischen Haine und der Burggräfin als Tatsache, lediglich der Ort und die Zeit wären noch zu definieren. Dass dies nicht der Fall war, wird an mehreren Stellen in den Briefen der folgenden Wochen deutlich und auch seine eigene Stellungnahme widerspricht dem. Für Francke sollte der Eindruck entstehen, dass ein Eingreifen nicht nötig war. Besonders ins Gewicht fällt dabei, dass der Brief Haines, datiert auf Berlin, den 19. Oktober 1718, erst am 10. November 1718 in Halle einging. Auf Grund der Brisanz des Inhaltes wirft diese fast einen Monat umfassende zeitliche Differenz Fragen auf. In der Regel betrug die Zeit für eine Postzustellung Berlin – Halle etwa zwei Tage.46 Auch sind für die Zeit zwischen Erstellung und Eingang mindestens fünf weitere Briefe v. Cansteins an Francke erhalten, in denen kein Bezug auf die Angelegenheit Haines oder auf ein verlorenes oder aufgehaltenes Schreiben genommen wird.47 Es drängt sich deshalb der Eindruck auf, dass der Brief absichtlich später verschickt wurde. Dieser Gedanke gewinnt an Substanz, führt man sich vor Augen, dass der Brief Haines selbst kein Datum trägt, wohl aber die daran anhängige Stellungnahme v. Cansteins (19. Oktober 1718). Auffällig ist, dass das Schriftbild sowohl das des Briefes Haines als auch das des Schreibens v. Cansteins sich sehr ähnelt. Haine hat am Rand seines Briefes vermerkt, dass sein Brief von einem gewissen Laurentius geschrieben wurde, da seine eigene Handschrift schlecht ist.48 Folglich handelt es sich bei den beiden im Archiv der Franckeschen Stiftungen befindlichen Briefen um die für die Versendung bestimmte Abschrift der Schreiben Haines und v. Cansteins. Hieraus ist wiederum zu folgern, dass eine oder mehrere Versionen schon früher entstanden sein müssen.Vor allem das Schreiben des Barons ist umfangreich und inhaltlich hoch komplex. Das Fehlen jeglicher Form von Korrekturen erhöht 45 Baron v. Canstein an A.H. Francke vom 14.11.1718. In: Der Briefwechsel Canstein Francke [s. Anm. 2], 863f. 46 Vgl. dazu die die Erstellungsdaten der Briefe in der Canstein – Francke Korrespondenz von Schicketanz und die im Tagebuch von August Hermann Francke vermerkten Eingängen der Briefe. 47 S. die Briefe des Barons v. Canstein an A.H. Francke. In: Der Briefwechsel Canstein Francke [s. Anm. 2], 854– 856. 48 Der Autor nimmt für sich nicht in Anspruch ein Schriftbildexperte zu sein, doch ist die Handschrift Haines klar von der des Schreibers der beiden Briefe zu unterscheiden. Bei besagtem Laurentius handelt es sich aller Wahrscheinlichkeit nach um Gotthilf August Laurentius (1690– 1727).
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die Wahrscheinlichkeit, dass es sich um eine Abschrift handelt. Dies deutet darauf hin, dass der Baron wahrscheinlich schon vor Mitte Oktober von Haine über die Hachenburger Angelegenheit in Kenntnis gesetzt worden ist. Führt man diesen Gedanken mit den fast entschuldigenden Ausführungen v. Cansteins in seinem Brief an Francke vom 14. November 1718 zusammen, wo es heißt: „So bald ich die sache von ihm erfahren, habe ich bey ihm darauf getrieben, er mochte es ihnen doch eröfnen, ja selbst eine reise nach halle thun, allein ich habe es dahin zu bringen nicht vermocht. wie ich aber stets darauf getrieben, ist entlich der letzte brief erfolget. Also habe ich diese verschwigenheit nimmer approbiret“,49 stellt sich die Frage, wer hier wem etwas vorzumachen versuchte. Der Baron musste annehmen, dass Francke die zeitliche Differenz von Ausfertigung und Eingang der Schreiben kaum entgehen konnte. Warum aber sollte Haine, nachdem er sich entschieden hatte, v. Canstein einzubeziehen und einen Brief an Francke zu schreiben, sich dafür entscheiden, diesen nicht abzusenden? Oder anders gefragt, aus welchem Grund sollte er diesen Brief im November abschicken, nachdem er sich im Oktober dagegen entschieden hatte? Hierfür gibt es m.E. nur zwei Erklärungen: Entweder die Lage hatte sich so zugespitzt, dass Haine Francke die Angelegenheit nicht länger verschweigen konnte oder aber die Situation erschien inzwischen soweit beruhigt, dass es ratsam erschien, Francke die Sache als fait accompli zu präsentieren. Das Fehlen der Korrespondenz mit dem Burggrafen lässt eine definitive Festlegung nicht zu. Vor dem Hintergrund der oben skizzierten Taktik v. Cansteins erscheint die zweite Alternative jedoch als wahrscheinlicher. Es erscheint plausibler anzunehmen, dass der Baron das fertige Schreiben zurückhielt, als dass dies durch Haine geschah, der sich mit seinem Geständnis in die Hände v. Cansteins begeben hatte. Betrachtet man das oben geschilderte Vorgehen des Barons gegenüber Francke, kann man zu dem Schluss gelangen, dass die durch die Daten ausgedrückte Verzögerung zwischen Ausfertigung und Ankunft des Briefes dem Ziel diente, Zeit zu gewinnen. Letztlich ging es v. Canstein wohl darum, Francke so lange und so weit wie möglich aus der Angelegenheit heraus zu halten. Um zu verstehen, warum v. Canstein dem Waisenhausgründer keinen aktiven Part in diesem Fall zugestehen wollte, müssen die Vorgänge in Hachenburg in den Blick genommen werden. Dies ist auch deshalb von Nöten, da die anschließende Analyse der Verhandlungen zwischen dem Baron und dem Burggrafen, die auf der theologischen Stellungnahme v. Cansteins beruhen, aus der die Vorwürfe und Bedenken des Kirchberger Grafen abgeleitet werden müssen. Georg Friedrich war nach dem Tod seiner Mutter 1715 zum alleinigen Regenten der ererbten Grafschaft geworden, nachdem er bereits 1704 als Regent der thüringischen Besitzungen der Familie von Kirchberg eingesetzt worden war. Noch die Mutter hatte seine Aufnahme in das niederrheinisch-westfälische
49 Baron v. Canstein an A.H. Francke vom 14.11.1718. In: Der Briefwechsel Canstein Francke [s. Anm. 2], 863.
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Grafenkollegium arrangiert, in welchem er zu einem der aktivsten Mitglieder avancierte. Auch seine Ehe mit der Gräfin Sophie Amalie von Nassau-Saarbrücken (1688–1755) half seine Stellung und Akzeptanz unter seinen Standesgenossen in der Region zu sichern.50 Ohne Anfechtung blieben seine eigene und die Sukzession seiner Familie in der Reichsgrafschaft jedoch nicht, musste sich Georg Friedrich doch „mit den Ansprüchen der Kurfürsten von der Pfalz, Triers, Kölns der Landgrafen von Hessen und der Grafen von Sayn-Wittgenstein auseinandersetzen“.51 Dass unter seinen Untertanen alle drei Konfessionen verbreitet waren, verbesserte die Situation für den lutherischen Grafen nicht.52 Vor diesem Hintergrund blieben dem Burggrafen traditionell zwei Wege, um seine Position im Land, vor allem aber nach außen hin, zu festigen. Zum einen setzte er auf eine standesgemäße Repräsentation und ließ ab 1717 seine Residenz in Hachenburg „im Stil zeittypische[n] machtstaatlichen Selbstdarstellungswillens“ ausbauen und trieb den Aufbau eines kleinen Hofstaates voran.53 Der zweite Weg, die Schaffung von Familienallianzen durch Ehen, war ihm anfangs versperrt, da seine eigenen Kinder noch nicht im heiratsfähigen Alter waren. Allerdings hatte er vier unverheiratete Schwestern. Obschon er im Endeffekt keine von diesen verheiratete, ist doch anzunehmen, dass ihm zumindest der Gedanke an eine Verehelichung seiner Schwestern zur Bildung politischer Bündnisse in der Region und zur Steigerung des Prestiges seiner Familie gekommen sein dürfte. Im Umkehrschluss, so darf angenommen werden, war eine unstandesgemäße Ehe einer seiner Schwestern das Letzte, was sich Georg Friedrich für seine ohnehin schon prekäre Herrschaft und das Prestige seiner Familie wünschen konnte. Von diesen Gedanken ausgehend, kann spekuliert werden, wie sich die ganze Affäre für den Burggrafen wahrscheinlich dargestellt haben muss: Haine, von Francke persönlich empfohlen, der nach dem Tod der Mutter seine Vertrauensposition gegenüber der Schwester ausnutzte und sie zu einem Ehegelübde nötigte; Francke, der Ende 1717 die Herrschaft besuchte und – so könnte es für Georg Friedrich gewirkt haben – spätestens dann über alles im Bilde war und ihn, den Regenten, nicht informierte; die von Francke vermittelte Abberufung Haines nach Berlin, die erst diesem und später auch seiner Schwester ermöglichte, aus seinem Machtbereich zu entschwinden; die geheime und inkognito erfolgte Abreise seiner Schwester selbst, die dafür Hilfe benötigt haben musste, und letztlich der Gedanke, dass all dies nicht ohne Wissen oder zumindest still-
Vinzenz Czech: Legitimation und Repräsentation. Zum Selbstverständnis thüringisch-sächsischer Reichsgrafen in der frühen Neuzeit. Berlin 2003, 273. 51 Czech, Legitimation und Repräsentation [s. Anm. 50], 273. 52 In diesem Zusammenhang betrachtet, muss der Bau des Waisenhauses in Hachenburg als der Versuch gewertet werden, die Konfession seiner Untertanen durch eine Förderung der lutherischen Lehre zu beeinflussen. 53 Markus Müller: Gemeinden und Staat in der Reichsgrafschaft Sayn-Hachenburg 1652– 1799. Wiesbaden 2005, 123–127. 50
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schweigende Duldung, wenn nicht gar Unterstützung Franckes möglich gewesen wäre.Wohlgemerkt ist dieser Gedankengang nicht zu beweisen, da es an der Korrespondenz mit dem Burggrafen fehlt. Doch erscheint der Hergang in sich schlüssig und macht v. Cansteins Handeln im höchsten Maße plausibel. Der Baron hielt den Waisenhausgründer schlichtweg für kompromittiert und war nicht der Meinung, dass er von Georg Friedrich als Verhandlungspartner akzeptiert werden würde, ja von diesem vielleicht sogar als mit Haine im Bunde betrachtet wurde. Deshalb, um keinen weiteren Schaden für Francke und den Halleschen Pietismus heraufzubeschwören, übernahm er die Verhandlungen mit dem Burggrafen und tat alles, um Francke von vornherein aus der Angelegenheit herauszuhalten. Vor diesem Hintergrund können nun die Beanstandungen des Burggrafen aus dem Schreiben des Barons erschlossen werden. Es sind im Wesentlichen vier, die von v. Canstein unterschiedlich detailliert beantwortet wurden: 1. Georg Friedrich empfand sich als Familienoberhaupt und beanspruchte eine Form der elterlichen Gewalt über seine Schwester. Folglich durfte Magdalena Christina ohne seine Einwilligung kein Ehegelübde und schon gar keine Ehe eingehen.54 2. Darauf aufbauend, charakterisierte der Burggraf die angestrebte Ehe seiner Schwester als ungleich und obschon er anerkannte, dass er dagegen keine rechtliche Handhabe besaß, betonte er den daraus erwachsenden Schaden für die Familie, weshalb die Ehe zu verhindern wäre.55 3. Eine Ehe mit der Gräfin würde das gute Werk, welches Haine in Hachenburg geleistet habe, zunichtemachen.56 4. Die öffentlicheVerlautbarung der Heiratsabsicht müsse der Familie zwangsläufig Schaden zufügen.57 Die Einwürfe wurden von Seiten des Burggrafen bzw. Langes mit jeweils passenden Zitaten aus der Bibel unterlegt, doch wurde auch gleichzeitig immer wieder an die Vernunft appelliert. Es sind diese Bibelzitate, die in der Antwort des Barons zum Ziel von dessen Gegenargumenten wurden. Aus Platzgründen wird im Folgenden nur im Einzelfall detailliert auf Cansteins Argumentation eingegangen, die ansonsten summarisch wiedergegeben wird. Den ersten Einspruch des Burggrafen behandelte v. Canstein recht lapidar. Seiner Ansicht nach war die Frau dem Vater und dann dem Ehemann unterstellt. Magdalena Christinas Bruder komme deshalb kein aus der göttlichen Offenba54 Anhang an den Brief G.C. Haines an A.H. Francke vom 19.10.1718, AFSt/ H C 104 : 10, 1. Die Blätter des Schreibens des Barons sind nicht in der korrekten Reihenfolge in der Akte eingestellt, wurden aber nachträglich nummeriert. Dieser Seitennummerierung wird zum besseren Verständnis gefolgt. 55 Anhang an den Brief G.C. Haines [s. Anm. 54], 2. 56 Anhang an den Brief G.C. Haines [s. Anm. 54], 6. 57 Anhang an den Brief G.C. Haines [s. Anm. 54], ebd.
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rung ableitbares Recht über seine Schwester zu.Vielmehr sei Magdalena Christina eine juristisch vollwertige Person, die mit dem Ehegelübde innerhalb der ihr zustehenden Rechte geblieben war. Dafür benötige sie weder die Erlaubnis noch die Beratung ihres Bruders, der folglich auch kein Recht habe, die Annullierung eines vor Gott gegebenen Eheversprechens zu fordern.58 Punkt zwei ist weitaus vielschichtiger und verdient eine etwas detailliertere Betrachtung. Ausgehend von den aus der göttlichen Offenbarung abgeleiteten Rechten als Familienoberhaupt beruft sich der Burggraf auf die menschlichen Gesetze, die eine Unterordnung unter die Obrigkeit verlangen, und belegt dies mit 1Petr 2, 13: „Seid Untertan aller menschlichen Ordnung um des Herrn Willen, es sei dem König als dem Obersten“.59 Zwar gebe es kein menschliches Gesetz gegen unstandesgemäße Ehen, doch könne die Obrigkeit (d.i. der Burggraf) von den Untergebenen (d. i. Magdalena Christina) Kraft des eben zitierten Gebotes verlangen, von solchen abzustehen. Dies gelte besonders dann, wenn „aus dergln. Ehen sowohl von Seiten hoher Anverwandter, denen es auch zum Theil an standmäßiger gleubln. Verheurathung schaden könnte, als auch von Seiten derer Verlobten und derer aus solcher Ehe erzeügenden Kinder allerhand Inconuenient- und Schwächigkeiten auch allerley Aufsehen Anstoß und Aergerniß unvermeidl. erwachsen müßten […]“.60 Sein Argument beschließt der Burggraf mit einem Verweis auf eine Stelle im ersten Brief an die Korinther: „Alles ist mir erlaubt, aber nicht alles dient zum Guten. Alles ist mir erlaubt, aber es soll mich nichts gefangen nehmen.“61 Der Grundgedanke Georg Friedrichs wird sehr deutlich: trotz der Freiheit zu bestimmten Handlungen, aufgrund des Fehlens menschlicher Gesetze, dürfen hierüber nicht die christlichen Pflichten, in diesem Fall gegenüber der Familie, vergessen werden. Die Furcht Georg Friedrichs vor einem Ehr- und Prestigeverlust seiner Familie, der sich auf seine Herrschaft hätte auswirken können, ist diesem Absatz klar zu entnehmen. Canstein beantwortet den Einwurf des Burggrafen mit dem Argument, dass der Spruch Petri sich auf die Obrigkeit allgemein bezieht, und da von dieser kein entsprechendes Gesetz gegen unstandesgemäße Ehen erlassen worden ist, kann Georg Friedrich kein dahingehendes Recht für sich in Anspruch nehmen.62 Dezidiert setzt er sich mit der eigentlichen Sorge des Burggrafen auseinander: nd ob zwar billig darauß Reflexion zu nehmen wenn mann eine Person außer U seinen Stande heurathet, so ist es doch nicht von einem solchen Gemüthe, daß deßwegen ein vor Gottes Angesicht gemachtes und in weltl[iche]n Rechten auch
Anhang an den Brief G.C. Haines [s. Anm. 54], 1f. Die Bibelzitate stammen aus der revidierten Fassung von 1984 der Bibel nach Martin Luther mit Apokryphen der Deutschen Bibelgesellschaft in der 7. Auflage von 2007. 60 Anhang an den Brief G.C. Haines Anhang an den Brief G.C. Haines [s. Anm. 54], 2. 61 1Kor 6, 12. 62 Anhang an den Brief G.C. Haines [s. Anm. 54], 3. 58 59
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bestehendes Verlöbniß könnte aufgelößet werden. Daß aber durch die Heurath denen andern hohen Anverwandten zum Theil anstandmäßiger gläubl[iche]n Verheurathung geschadet würde, bin ich nicht überzeuget. Um diejenige Person welche um des willen die andere Gräfln. Geschwister nicht heurathen wollte würde ja zuerkennen geben, daß sie folgl[ich] nicht die sey, mit der in eine glückl[iche] EheVerlobung zu treten, alldieweil ja daß Verheurathen einer Gräfln. Person mit einem Prediger, wie gezeiget nichts unrechtes vilweniger was gebührl[ich]es. in sich faßet. Und wäre auch daß Gegentheil so würde der einen Schwester ihr Vorgehen so zusagen denen andern nicht können zur Last gesetzet werden.63
Auf sehr geschickte Weise argumentierte der Baron hier dafür, dass die adligen Angehörigen an der unstandesgemäßen Ehe eines Familienmitgliedes keinerlei Anstoß nehmen könnten. Täten sie es doch, so gäben sie damit nur den eigenen schlechten Charakter und fehlendes Urteilsvermögen preis. Cansteins Argument gegen die Befürchtungen des Burggrafen ist eine Kritik der Heiratskonventionen des Adels und den diesen zugrunde liegenden Vorstellungen des ganzen Standes. Hierin sieht v. Canstein, selbst ein Angehöriger des Adels, die eigentliche Problematik der Angelegenheit. Das Ehrverständnis des Adels ist der Grund des vom Burggrafen ausgemachten „Ärgernisses“, was v. Canstein diesem deutlich vor Augen führt: ie Beantwortung dieses Einwurffs [des Ärgernisses, d. Vf.] wird so schwer nicht D seyn wenn nur betrachtet werden sollte was eigentl. ein Aergerniß ist, Erstl[ich] D. Spener saget recht Mann müßte dasjenige nicht für aergerl[ich] halten, worüber die Leute unterschiedl[iche] Urtheile fällen [und da] dergl[eichen]n ungleiche Heurathen nicht wieder göttl[ich]e Gebote und weltl[ich]e Gesetze und löbl[ich]e Sitten, so stehet die Schuld davon nicht bey denen Personen die sich dergestalt heurathen sondern bey denen andern welche nach unrechten Regeln von dergl[eiche]n Heurathen urtheilen. Dießer letzten ihr Grund ist wohl nichts anders als einige felschl[ich]e dazu nur eingebildete Vorzüge, deren Eitelkeit sowohl das Christenthum als auch die gesunde Vernunft, wenn sie sich recht besinnet erkennet. Drittens, Hsl. D. Spener an einem Orte seiner Bedencken saget, Es wäre zu wünschen daß dergl[eiche]n Exempel von ungleichen Heurathen sich mehr möchten finden auf daß solchergestalt daß sie seltsam seyn weggenommen werde.64
Nicht die Mesalliance Magdalena Christinas problematisiert die Angelegenheit, so v. Canstein, sondern die falschen Vorstellungen Georg Friedrichs. Hier wird eine deutliche Kritik v. Cansteins am Adel, an dessen „nur eingebildeten Vorzüge[n] [und] Eitelkeit[en]“ und dessen vermeintlicher Unfähigkeit Urteile auf der Basis der Grundzüge des Christentums und der Vernunft zu treffen, sichtbar. Der Baron geht in seiner Kritik sogar soweit, mehr unstandesgemäße
Anhang an den Brief G.C. Haines [s. Anm. 54], 3. Anhang an den Brief G.C. Haines [s. Anm. 54].
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Ehen zwischen Predigern und Adligen einzufordern, damit diese Ehen zur Normalität werden. Die Beanstandungen des Burggrafen hinsichtlich der Freiheiten und Pflichten der Christen nimmt v. Canstein auf und deklariert die Ehe und damit auch die Mesalliance als zu den Mitteldingen gehörig. Die Ehe als Faktum war nicht gut und nicht böse, vielmehr kam eine solche Charakterisierung erst durch Absichten oder Umstände zustande. Die Mesalliance als besondere Form der Ehe war weder durch menschliches noch durch göttliches Recht definiert und befand sich in dieser Grauzone möglicher menschlicher Handlungen.Während des zweiten so genannten „adiaphoristischen Streits“ hatten die Pietisten diesbezüglich den Standpunkt vertreten, dass alle Handlungen, die nicht direkt auf Gott ausgerichtet waren, als Sünde zu verstehen seien.65 Für v. Canstein war die Mesalliance zwischen Haine und der Burggräfin hiervon offenbar nicht betroffen. Vielmehr argumentierte er, dass sie weder durch Absicht noch durch die Umstände dem Genuss oder dem Vergnügen diente, sondern der christlichen Lebensführung und damit Gott. Nicht zuletzt versuchte er dies auch mit dem Verweis auf vorherige unstandesgemäße Ehen, die ebenfalls als rechtens anerkannt wurden, zu untermauern. Canstein hat in seiner Argumentation mehrfach auf einen Abschnitt in den Theologischen Bedencken von Philipp Jakob Spener rekurriert. Der Baron nutzt eine Darstellung Speners, mit dem er lange Jahre befreundet war, wie eine Blaupause für seine eigene Argumentation in dieser Angelegenheit. So schildert Spener ein Ehegelübde zwischen einer jungen Adligen und einem Bürgerlichen, das zuerst heimlich, ohne Wissen der Eltern der Adligen zustande gekommen war. Dieses lehnt er als Sünde ab. Einem nach dem Tode der Eltern erneut gegebenen Eheverlöbnis, diesmal ohne Erlaubnis der in Vormundschaft befindlichen Brüder der Adligen, attestiert Spener hingegen die Rechtmäßigkeit vor Gott, da die Brüder keine juristische Gewalt über ihre Schwester haben. In einer möglichen einseitigen Eheauflösung in diesem Fall erkennt er gar einen Meineid.66 Die Analogie zum Fall Haines und der Burggräfin ist deutlich. Auch in der Zurückweisung des Faktums der Ungleichheit der Ehepartner als Begründung für eine Auflösung des Gelöbnisses rekurriert v. Canstein auf Spener: ie ungleichheit der personen/ was dero Stand betrifft/ ist keine hinderniß der ehe D weder nach göttlichem/ noch geistlichen/ noch öffentlichen gemeinen weltlichen rechten: […] So ist doch solche ungleichheit nicht von der wichtigkeit / daß des-
S. Eilert Herms: Art. „Adiaphora“. In: RGG4 1, 1998, 117–118. Philipp Jakob Spener: Theologische Bedencken Und andere Brieffliche Antworten auf geistliche, sonderlich zur erbauung gerichtete materien: zu unterschiedenen zeiten aufgesetzet, und auf langwihriges anhalten Christlicher freunde in einige ordnung gebracht und nun zum andern mal herausgegeben, Theil 2 Worinnen sonderlich die pflichten gegen Gott, die Obern, den nechsten und sich selbst, auch ehe-sachen, sodann aufmunterung- und trost-schreiben enthalten. Halle 1708, 572–574. 65 66
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wegen ein sonsten zu recht beständiges verlöbniß könte aufgelöset werden. […] Es mögen aber unter den Adelichen auch höhere Standespersonen billich mit begriffen werden / und ist von deroselben heyrath mit andern geringern nichts anders nach den gesetzen zu urtheilen.67
Spener unterstreicht diesen Gedanken mit einem ihm bekannten historischen Beispiel, das gerade deshalb so passend und hilfreich für die Argumentation v. Cansteins ist, weil der adlige Part in diesem Exempel weiblich ist: […] sonderlich auch die geweste Fräulein Charlotte von Falckenstein Broich / des letzten Grafen tochter / dero beyde Schwestern an Grafen von Leiningen geheyrathet gewesen / und sie von jugend an die reputation einer gottseligen und ohnstreittichen person gehabt / sich an einen reformirten prediger vermählet.68
Es handelt sich um den Fall der Gräfin Charlotte Auguste von Daun-Falckenstein (1637–1713), die den reformierten Prediger Siebel ehelichte.69 Der V erweis Speners auf die Gottseligkeit der Gräfin dient scheinbar der Erklärung ihrer Wahl eines Geistlichen als Ehepartner, legt zugleich aber den Schluss nahe, dass die Frömmigkeit und Gottgefälligkeit der Gräfin diesem nicht standesgemäßen Bund einen legitimen Anstrich verleihen sollte. Spener war sich der Konventionen und Normen des Adels sehr bewusst. Er verwies deshalb noch einmal darauf, dass auch ein zu erwartender Widerspruch der adligen Verwandten nichts an der Rechtmäßigkeit einer Mesalliance ändere. „Vielweniger mag das mißfallen andrer anverwandten / so nicht vormünder sind / noch also über der Fräulein freyheit macht haben / den an sich gültigen verspruch zernichten / noch würde bey ordentlichem gericht dasselbe attendiret werden.“70 Vor dem Hintergrund der weitgehenden Nichtbeachtung von Mesalliancen mit weiblichen Adligen in den Quellen und zeitgenössischen Werken sind die Ausführungen Speners sehr interessant und es kann deshalb nicht verwundern, dass sich v. Canstein – von der gemeinsamen pietistischen Überzeugung einmal abgesehen – gerade auf Speners Ausführungen stützt. Während er die anderen beiden Einwürfe des Burggrafen sehr kurz abhandelte,71 ging v. Canstein zum Ende seiner Ausführungen erneut auf die eigentliche Sorge Georg Friedrichs ein und wandte sich direkt an ihn:
Spener, Theologische Bedencken [s. Anm. 66], 575f. Spener, Theologische Bedencken [s. Anm. 66], 577. 69 Detlev Schwennicke [u. a.]: Europäische Stammtafeln. Bd. XVII: Hessen und das Stammherzogtum Sachsen. Frankfurt/Main 1998, Tafel 123. 70 Spener, Theologische Bedencken [s. Anm. 66], 577. 71 So entgegnet er dem dritten Punkt des Burggrafen, dass eine Ehe dem von Haine in Hachenburg Erreichten schaden würde, lapidar, dass dies nicht zwangsläufig mit der Ehe zwischen der Gräfin und dem ehemaligen Hofprediger zu tun haben müsse. Dem vierten Einwurf, dass ein öffentliches Bekanntwerden der Familie Schaden würde und die Affäre deshalb geheim zu 67 68
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ann der Regierende […] Graf das hieraus nach seiner Warnemung besorgende K Aergerniß nun nicht gantz aufheben doch wenigstens sehr mindern, wenn er die Sache nicht nur erkennet wie sie an sich selbst ist, sondern auch die Wahrheit gegen andere davon bekennet sonderl[ich] gegen die von seinem Hause und Hofe. Denn nicht zugedencken daß die Wahrheit selbst der angeführte Gründe in den Gewißen anderer verhoffentl[ich] sich legitimiren soll, so wird sein ansehen deroselben bey solchen Personen nicht ein geringeres Gewicht geben; Aufs wenigste die Wiedersachl[ich]keit in ihren Gemüthern unterbrochen. Hirzu möchte ihn auch die Gerechtigkeit und Liebe verbinden weilen mir gemeldet wird, die gräfin Christina alle Schuld von Lsl. Heynen abgenemmet und auf sich alleine leget folgl[ich] er in dieser geringen Sache sich nicht sowohl würckend als leidend verhalten.Wiewohl übrigens die Gräfin nicht zuverargen daß sie gesucht in einer mehrern Absonderung von der von wahrem Christenthum uns so leicht abziehenden Welt ihr leben bey einen Gehülfen der Gott bey seiner Gemeinde mit dem Worte dienet zuführen als sie bey andern ihres Standes nicht so leicht antreffen könnte.72
Der Baron übermittelt Georg Friedrich die Botschaft, dass es an ihm, dem Burggrafen, ist, zu bestimmen, wie sich die Angelegenheit weiterentwickelt und ob der befürchtete Schaden für die gräfliche Familie eintreten wird. Cansteins Position ist dabei die, dass Georg Friedrich durch sein Auftreten und seinen Umgang mit der Ehe seiner Schwester die Wahrnehmung und auch die Beurteilung der Mesalliance an seinem Hof und in seiner Familie maßgeblich beeinflusst. Es kommt also darauf an, wie er die Angelegenheit kommuniziert und ob er seine Autorität dafür einsetzt. Der Verweis auf die „Schuld“ der Gräfin und die Passivität Haines kann als Angebot zur Versöhnung mit dem ehemaligen Hofprediger gedeutet werden. Gleichzeitig lässt es v. Canstein nicht mit der Übernahme der Schuld durch Magdalena Christina bewenden. Vielmehr relativiert er diese und stellt sie als durch die Umstände in Hachenburg bedingt dar. Dort, so seine Argumentation, hatte die Burggräfin als wahre Christin gar keine andere Wahl, als sich einem echten Diener Gottes zuzuwenden. Damit fällt die Verantwortung letztlich wieder auf Georg Friedrich zurück, der es nicht nur versäumt hat Hachenburg zu einem Gott zugewandten Ort umzuwandeln, sondern auch seiner Schwester keinen gottgefälligen und standesgemäßen Heiratskandidaten bieten konnte. In seinem Schreiben vom 14. November gab der Baron der Zufriedenheit mit den eigenen Ausführungen Ausdruck: „So traue ich auch zu behaubten, daß in solchen ungleichen heyrathen, kein eigentliches gegebenes argerniß nach der sprache des heiligen geistes zu finden, wie D. Spenerus auch dieser meinung ist. Mir soll recht lieb seyn, wenn Sich H. Lange zu Itzstein über dieser sache in
halten sei, stimmt er insofern zu, dass eine Geheimhaltung wünschenswert, aber wohl kaum praktikabel sei. – Vgl. Anhang an den Brief G.C. Haines [s. Anm. 54], 6. 72 Anhang an den Brief G.C. Haines [s. Anm. 54], 6f.
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einem Schriftwechsel einlaßen wolte.“73 Tatsächlich nahm Lange die Verhandlungen „im nahmen der hachenburgschen herrschaft“ auf, doch übermittelte er, dass der Burggraf nicht einer Meinung mit v. Canstein war. Vielmehr forderte dieser, dass das „vinculum“, d. i. das Band des Ehegelübdes, zu lösen sei.74 Dass Lange die Verhandlungen für Georg Friedrich führte, muss dennoch als glücklicher Umstand angesehen werden, denn er stand dem Pietismus nahe. Der positive Ausgang der ganzen Angelegenheit ist mit Sicherheit dem Umstand geschuldet, dass mit v. Canstein und Lange zwei pietistisch affizierte Personen den theologischen Disput führten und wohl auch für Lange anzunehmen ist, dass er den vom Baron angeführten Spener als Autorität und seine Schriften als entsprechendes Argument anerkannte. Eine Lösung war zu diesem Zeitpunkt jedoch nicht abzusehen. Die Zeit der Unsicherheit und des Abwartens schien die Gesundheit Magdalena Christinas anzugreifen. Canstein berichtete an Francke, dass die Burggräfin von „eine[r] starcke[n] passio hysterico“ ergriffen sei und dass sie mit dem Tode ringen würde.75 Haine reiste deshalb nach Dresden und schrieb anscheinend mehrfach von dort an v. Canstein.76 Der Baron bekräftigte Francke gegenüber seine Überzeugung, dass nur eine Heirat den Leiden der beiden ein Ende bereiten würde: „Es ist kein ander mittel als daß solches geschehe. doch kann es ohnmoglich so gleich seyn. de modo et loco wird zu uberlegen seyn, wenn Er [Haine; d. Vf.] wiederkommt. hier in berlin kan die copulation nicht geschehen.“77 Damit hatte v. Canstein auf die zweite offene Frage der Angelegenheit verwiesen, nämlich wie eigentlich am Berliner Hof auf die Affäre reagiert wurde. Zwar äußerte sich der Baron in seinem nächstfolgenden Brief dahingehend optimistisch: „wegen des konigs habe in ansehung des H. Hayne und der gräfin kein groß bedencken, glaube auch wann ihm einige ümstände davon werden bekant gemacht, welches doch notwendig geschehen muß, So wird Er sich leicht darein finden, also daß ich glaube, mit dem konig werde gemeldeter maßen am besten 73 Baron v. Canstein an A.H. Francke vom 14.11.1718. In: Der Briefwechsel Canstein Francke [s. Anm. 2], 864. 74 Baron v. Canstein an A.H. Francke vom 03.12.1718. In: Der Briefwechsel Canstein Francke [s. Anm. 2], 868. 75 Baron v. Canstein an A.H. Francke vom 26.11.1718. In: Der Briefwechsel Canstein Francke [s. Anm. 2], 866. Die „passio hysterico“ wird in Zedlers Großem Universallexikon als „Hysterica Passio“ oder auch „Mutter-Beschwerung und Mutter-Krankheit“ bezeichnet. Dabei handelt es sich um ein Krankheitsbild, dessen Ursachen angeblich nicht genau zu bestimmen wären und die manche Ärzte gar als reine Einbildung betrachteten. Der durchaus interessante, aber durchweg chauvinistische Artikel beschreibt ein breit gefächertes Krankheitsbild, das von eingebildeten Schmerzen über mangelnde sexuelle Befriedigung bis hin zu ernährungsbedingten Nervenschädigungen reicht. – Vgl. Johann Heinrich Zedler: Grosses vollständiges Universal-Lexikon aller Wissenschaften und Künste 13, 1735, 1511–1518. 76 Baron v. Canstein an A.H. Francke vom 26.11.1718. In: Der Briefwechsel Canstein Francke [s. Anm. 2], 866. 77 Baron v. Canstein an A.H. Francke vom 26.11.1718. In: Der Briefwechsel Canstein Francke [s. Anm. 2], 866.
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und leichsten zu handlen seyn.“78 Doch gibt er damit zugleich zu verstehen, dass der preußische König nicht informiert worden war und er Berlin nicht für einen geeigneten Ort hielt, an dem eine Heirat zwischen der Burggräfin und dem Regimentsprediger stattfinden könnte. Scheinbar gestaltete sich die Situation in der preußischen Hauptstadt schwieriger, als er es Francke hatte glauben machen wollen.
3. Die Position August Hermann Franckes Unter dem 12. November 1718 ist in Franckes Tagebuch notiert: „Wegen Schwachheit des Herrn Prof. hat der Herr D. Herrnsch. die Singst[unde] gehalten“, woran sich die Information, „[a]n den Herrn v. Canstein ist geschrieben“ anschließt.79 Dass sich Francke von seinem Mitarbeiter Johann Daniel Herrnschmidt (1675–1723) vertreten lassen musste, betont die Anspannung, unter der Francke gestanden zu haben scheint.80 Das Schreiben des Waisenhausgründers an den Baron, an welches das Antwortschreiben an Haine offenbar angefügt war, gibt jedoch nicht nur einen Einblick in den Seelenzustand Franckes. „Ewr.Gn. haben hiebey nach dero verlangen, meine ofenhertzige meynung von den schweren umständen des Hn. Haynen zu vernehmen. […] Bitte alles mit Geduld anzusehen, u. H. Haynen zu communiciren. […] Vielleicht haben Ew. Gn. bedencken H. Haynen alles zu communiciren, so anheim gebe.“81 Hieraus geht hervor, dass Francke davon ausging, dass der Baron sein Antwortschreiben an Haine noch vor diesem lesen würde, ja forderte ihn geradewegs dazu auf. Das hat seinen Grund. Besonders an den Stellen, an denen Francke die ihm gegenüber an den Tag gelegte Verheimlichung anmahnt, drängt sich der Gedanke auf, dass die Kritik des Waisenhausgründers nicht nur Haine, sondern auch v. Canstein gilt.
78 Baron v. Canstein an A.H. Francke vom 26.11.1718. In: Der Briefwechsel Canstein Francke [s. Anm. 2], 867. 79 Eintragungen Nr. 2 und 3 vom 12.11.1718 im Tagebuch August Hermann Franckes, AFSt/ H A 172 : 1. 80 Im Archiv der Franckeschen Stiftungen finden sich zwei Schreiben des Nachfolgers Haines in Hachenburg, Gottfried Valentin Orlich (1689–1766). In diesen Briefen vom September bzw. Oktober 1718 informierte Orlich Francke über die Abreise der Gräfin und Gerüchte über eine Verbindung zu Haine sowie über die daraus erwachsenden Gefahren für den Halleschen Pietismus. Ob Francke diese Warnungen zur Kenntnis nahm, ist nicht zu klären. – Vgl. Gottfried Valentin Orlich an A.H. Francke vom 28.09.1718, AFSt/ H C 301 : 5 und vom 11.10.1718, AFSt/ H C 301 : 6. Im Tagebuch Franckes ist das Eintreffen nur eines Briefes von Orlich in der gesamten zweiten Jahreshälfte verzeichnet. – Vgl. Eintragung 11 vom 21.11.1718 im Tagebuch von A.H. Francke, AFSt / H A 172 : 1. 81 Brief von A.H. Francke an Carl Hildebrand von Canstein vom 12.11.1718. In: Der Briefwechsel Canstein Francke [s. Anm. 2], 858.
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In seinem neun Folioseiten umfassenden Antwortschreiben orientiert sich Francke am Brief Haines, übernimmt teilweise wörtlich dessen Formulierung und Darstellung. Letztere hat Francke in inhaltliche Punkte untergliedert, die er analysiert und im Hinblick auf das Verhalten Haines bewertet. Daran schließen sich Folgerungen an, die sich nach Franckes Ansicht als Konsequenz aus der Affäre ergeben. Abschließend skizziert der Waisenhausgründer mögliche Entwicklungen, ohne Ratschläge zu erteilen. Die deutlichste Kritik Franckes richtet sich gegen die Verheimlichung gegenüber seiner Person. aß die Sache mir biß dato verschwiegen ist, ist wol aus der angezeigten ursache D geschehen, mir aber gar nicht lieb, und sind aus meiner unwißenheit manche Dinge kommen, die mir auch nicht lieb sind. ich schweige was durch solche verschweigung noch künfftig in meinem Gemüth u. auch bey andern erfolgen kann. Einmal so solte es nicht seyn, wenn man einen warhafftig für den erkennet, für welchen man mich erkennen wollen. Aber das Gewißen hat gesaget, daß ich die Sache nicht approbiren würde.82
Francke bemerkt, dass er in Unkenntnis der Hintergründe einige Entscheidungen getroffen hat, die er sonst nicht getätigt hätte. Seinen Worten ist die Befürchtung zu entnehmen, dass dies unvorhersehbare negative Folgen nach sich ziehen könnte. Die Formulierung ist dabei im Hinblick auf den Adressaten so offen gestaltet, dass vermutet werden kann, dass damit auch v. Canstein gemeint ist. Weiterhin scheint Francke persönlich gekränkt, dass Haine ihn nicht ins Bild gesetzt hatte und dies allem Anschein nach deshalb nicht geschah, weil der Regimentsprediger eine negative Reaktion Franckes im Hinblick auf die Ehe mit der Gräfin antizipierte. Diese Einschätzung im Verbund mit der Verheimlichung der Angelegenheit belasten das Verhältnis von Francke und Haine, das als das eines geistigen Ziehvaters zu seinem talentierten Sohn bezeichnet werden kann. Aufschlussreich dazu ist folgende Passage: „Ich liebe ihn u. habe groß mitleiden mit ihm; aber ists nicht ein Jammer, daß wenn man einmal ein subiectum gefunden hat, dem Gott sufficiente Gaben verliehen, dem Teuffel seinen Raub abzujagen, solch anomalien dazwischen kommen, dadurch sie ihre Krafft innerlich verlieren, u. ihren Segen äußerlich verhindern. Herr erbarme dich unser!“83 Der Umstand, dass Francke Haine durch das schon erwähnte lateinische „Zettelchen“ eine Warnung hatte zukommen lassen, kompliziert die Angelegenheit in Franckes Augen:
82 Brief von A.H. Francke an Carl Hildebrand von Canstein vom 12.11.1718. Beilage in: Der Briefwechsel Canstein Francke [s. Anm. 2], 859. 83 Brief von A.H. Francke an Carl Hildebrand von Canstein vom 12.11.1718. Beilage in: Der Briefwechsel Canstein Francke [s. Anm. 2], 861.
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enn eben desselben Zettelchens wegen bin ich darnach, bey dem zu ihm habenD den großen Vertrauen gantz sicher gewesen. Denn wie hätte ich gedencken sollen, da ich ihn so lieb gehabt, ihn vorher vor der Versuchung zu warnen, daß er mich nicht wieder so lieb haben solte, da die Versuchung sich wirckl. geäußert, es mir zu schreiben, oder mündl. zu sagen, sonderlich, da er sich durch die mir auf mein Zettelchen ertheilte antwort gegen allen weiteren Verdacht in meinem Gemüthe so wohl verwahret.84
Francke fühlt sich scheinbar in dem Vertrauen, welches er Haine entgegengebracht hat, hintergangen und aufgrund der vom Regimentsprediger erhaltenen beruhigenden Antwort auf seine Warnung auch bewusst getäuscht. Hieraus erwachsene Zweifel an seiner bisherigen charakterlichen Einschätzung Haines sah Francke auch in der Beurteilung der folgenden Darlegungen des Regimentspredigers nicht gerade entkräftet. Zwar hält der Waisenhausgründer Haine zu Gute, dass er das Ansinnen Magdalena Christinas, ihn zu heiraten, abgelehnt und ihr alle daraus entstehenden Schwierigkeiten dargelegt hatte, aber d a sie auch hernach immer wieder davon angefangen u. ihm zugesetzet; er aber sich zwar anfangs gantz frey davon gehalten, nach u. nach aber immer mehr noth davon gefühlet, so ists mir unbegreiflich wie er bey gehöriger Bewahrung seines Hertzens nicht mit einer Sylbe an die vorhergeschehene Warnung gedacht, die doch, wie er selbst schreibet, auf das allernachdrücklichste geschehen […]. Ist denn das Gebeth im verborgenen vor Gott, u. der Kampff gegen eine so offenbare versuchung gantz zurückblieben? Oder wie ists möglich, wenn man fleißig gebethet u. gekämpffet, daß dabey eine so nachdrückliche Warnung gar nicht ins andencken kommen? […] Wer kan der Comtesse das recht u. gut heissen, daß sie so gar wider die natürliche Ordnung nicht nur ihr vorhaben entdecket, sondern selbst aufs inständigstes angehalten sie zu heyrathen. Welche blame wird ihr das verursachen? was wird das der Sache Gottes für einen Vorwurf machen, wenn dis kund würde? u. wird es nicht kund, so verlieret Er desto mehr dabey, als der sich sub specie der Erbauung insinuiret, u. sich nicht entblödet habe eine Sache zu thun, die man nimmer von seiner modestia, die er sonst in allen seinen actionen blicken läßet, konte vermuthet haben, nemlich eine von den herrschafftlichen Personen, da er in Diensten stünde, um die Ehe anzusprechen. Er erkennet selbst seine Schwäche, daß er sich ad consensum disponiren laßen. Was heißt aber hie Schwäche, als daß man sich von der Versuchung, u. zwar einer solchen, die man selbst als eine Versuchung erkant u. den andern theil sie zu überwinden ermahnet hatte, aus mangel eines ernstl. Gebeths u. Kampffs überwinden laßen. Nun ist wol wahr, daß man ein Mensch ist, u. es ein ander sich auch bey solchen umständen hätte können gefangen nehmen laßen; aber das konte man auch zur Entschuldigung bringen, wenn was mehreres vorgegangen wäre. Indeßen taugts nicht, u. muß vor gott erkant, u. ihm abgebeten werden, nicht
84 Brief von A.H. Francke an Carl Hildebrand von Canstein vom 12.11.1718. Beilage in: Der Briefwechsel Canstein Francke [s. Anm. 2], 859.
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allein wie es an sich ist, sondern auch mit allen connexis und Folgen, die einmal unterblieben wären, wenn man der ersten Warnung gehör gegeben […].85
Franckes Kritik an Haine besteht an dieser Stelle aus dem Vorwurf der ungenügenden Bemühungen des ehemaligen Hofpredigers eine gefährliche Situation zu vermeiden. Für den Waisenhausgründer wiegt besonders der Umstand schwer, dass sich Haine seiner Situation und der Konsequenzen bewusst war. Durch kräftiges Beten und dem Willen zum Widerstand, so Francke, hätte Haine die Gefahr, die Versuchung abwehren können und somit folgt, dass seine Zustimmung zum Ansinnen Magdalena Christinas einen Mangel an Charakter und wohl auch Glaubenskraft offenbart. Dieses harte Urteil über Haine bekräftigt Francke dadurch, dass er einen eklatanten Widerspruch in der Darstellung Haines anspricht. Zwar hatte Haine die Burggräfin zur Überwindung der Versuchung aufgefordert, doch zeigt seine Darstellung der Geschehnisse, dass gerade sein eigener Widerstandswille nicht sehr groß war. Haines Entschuldigung, dass er nur ein Mensch und deshalb nicht frei von der Empfänglichkeit für romantische Gefühle sei, lässt Francke nicht gelten.Vielmehr äußert er – wohlgemerkt im Konjunktiv – einen Gedanken, der sich bei näherer Betrachtung der Darstellung Haines aufdrängt: nämlich ob der Regimentsprediger wirklich alles geschildert hatte, was sich zwischen ihm und der Burggräfin ereignet hatte. Francke spielt damit offenbar auf die Möglichkeit an, dass sich Haine und Magdalena Christina körperlich näher gekommen waren, die Burggräfin vielleicht sogar schwanger und eine Ehe deshalb unvermeidlich war. Francke führte diesen Gedanken nicht explizit aus, doch lässt die spitze Bemerkung „aber das konte man auch zur Entschuldigung bringen, wenn was mehreres vorgegangen wäre“ ahnen, dass der Waisenhausgründer nicht restlos überzeugt war, dass er tatsächlich über alles ins Bild gesetzt worden war. Weitaus klarer äußert sich Francke hinsichtlich der Wahrnehmung und Einschätzung einer Heirat zwischen den beiden ungleichen Partnern. Er sieht alle beide von Schimpf und Schande bedroht, hat dabei aber vor allem die Rückwirkung auf „die Sache Gottes“, d. h. den Pietismus im Blick. Hierauf bezieht sich die „blame“, die der Burggräfin zu teil werden würde, wenn öffentlich bekannt würde, dass sie es war, die ihren Hofprediger um die Ehe angegangen war.Vor dem Hintergrund des geschilderten Falles von Juncker und der Gräfin von Waldeck war das Verheerende aus der Sicht Franckes, dass der Eindruck entstehen konnte, dass es – überspitzt formuliert – die Halleschen Informatoren und Prediger verstünden, die Herzen der adligen Damen nicht nur für Gott zu gewinnen. Andersherum betrachtet ergab sich allerdings auch kein gutes Bild, wenn die Öffentlichkeit zu der Überzeugung gelangte, dass die Schüler Franckes nur allzu gern den dienstlichen Umgang mit der Herrschaft und die damit
85 Brief von A.H. Francke an Carl Hildebrand von Canstein vom 12.11.1718. Beilage in: Der Briefwechsel Canstein Francke [s. Anm. 2], 859f.
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verbundene Vertrauensposition zur Knüpfung standesübergreifender Lebenspartnerschaften nutzten. Es kann daher auch nicht verwundern, dass Francke die Heiratsabsicht Magdalena Christinas als „wider die natürliche Ordnung“ bezeichnet. Die Aussage ist jedoch im Hinblick auf die Befürchtungen und die möglichen Folgen der Verbindung zu verstehen und nicht im Sinne einer generellen Ablehnung unstandesgemäßer Ehen. s ist auch gut, daß man aus dem angeführten bedencken des Sel. D. Speners u. E andern theologis [gemeint ist das Rechtfertigungsschreiben Cansteins; d.Vf.] auch aus Gottes Wort selbst nach der Wahrheit vorstellet, wie an sich durch eine solche dem äußeren Stande nach gar ungleiche heyrath nicht gegen das göttl. Wort noch gegen die weltl. u. natürl. rechte sondern gegen die menschliche hoffarth, gesündiget werde. Aber was in vorangezeigten momentis angeführet ist, wird damit nicht aus dem Wege gehoben; ja wir werden mit unser remonstration von den wenigsten gehöret, u. die Folgen gehen ihren Weg fort.86
Francke hätte ohne inhärenten Widerspruch auch nicht gut anders argumentieren können, war er doch selbst unstandesgemäß mit Anna Magdalena, geborene von Wurm, einer Niederadligen, verheiratet.87 Es waren also scheinbar die Umstände und die Folgen der Angelegenheit, die Franckes Kritik auslösten. Besonders anzuführen sind dabei die schon im ersten Abschnitt angesprochene Bitte der Burggräfin nach Halle ins Fräuleinstift kommen zu dürfen und die Berufung Haines nach Berlin. Ersteres ereignete sich beim Besuch des Waisenhausgründers in Hachenburg, bei welchem sowohl Haine als auch Magdalena Christina Gelegenheit hatten, persönlich mit ihm zu sprechen. Doch keiner von beiden vertraute sich Francke an. In diesem Zusammenhang scheint die Bitte der Burggräfin Francke rückblickend besonders aufzuregen: äre ich nicht selbst zu Hachenburg gewesen, da die Comtesse u. der H. Past. GeW legenheit genug gehabt, mit mir von der Sache zu reden, zu mahl da dieser mir auch das Geleite gegeben, so wäre es noch eher zu entschuldigen. So hat man das noch dazu gethan, daß die Comt. vor meinem abschied mich ansprach, daß sie ein zeitlang in hiesigem Stifft sich aufhalten möchte; welches ich ihr auch versprochen, wiewol sie mir hernach nichts weiter davon geschrieben, u. es also dabey geblieben, welches wol sehr gut ist. Denn sonst hatte es vor aller Welt vollends das ansehen gehabt, als hätte ich eine solche comoedie von anfang biß Ende gespielet […].88
86 Brief von A.H. Francke an Carl Hildebrand von Canstein vom 12.11.1718. Beilage in: Der Briefwechsel Canstein Francke [s. Anm. 2], 862. 87 S. Katja Lißmann: „… der Herr wird seine Herrlichkeit an uns offenbahren …“. Die Eheschließung Anna Magdalena von Wurms und August Hermann Franckes (1694). In: Liebe, Ehe und Sexualität im Pietismus [s. Anm. 15], 145–164. 88 Brief von A.H. Francke an Carl Hildebrand von Canstein vom 12.11.1718. Beilage in: Der Briefwechsel Canstein Francke [s. Anm. 2], 860f.
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Francke war sich der Außenwirkung der Affäre bewusst.Vor aller Augen hätte er wie eine Unterstützer gewirkt, wenn die Angelegenheit zu einem Zeitpunkt eklatiert wäre, an dem sowohl Haine als auch die Gräfin dauerhaft in Halle bzw. am Waisenhaus ansässig gewesen wären. Die Problematik einer solchen Situation offenbart sich vollends, wenn in Betracht gezogen wird, dass das Ehepaar Juncker seit 1715 in Halle wohnhaft war und dieser eine hohe Position am Waisenhaus bekleidete. Addiert man Franckes eigenen Ehehintergrund hinzu, kann man mit einiger Berechtigung auf den Gedanken kommen, dass der Waisenhausgründer sich um das seriöse Ansehen seiner Stiftungen insbesondere beim Adel, seinen wichtigsten Förderern und Gönnern,89 sorgte. Der Eindruck, dass die in den Anstalten Franckes gut ausgebildeten Theologen nicht nur die Liebe zu Gott in den Herzen der ihnen anvertrauten adligen Damen entflammten, konnte Franckes Werk verständlicherweise nicht förderlich sein. Dazu war es nicht gekommen, Haine war vielmehr auf Betreiben Franckes nach Berlin berufen worden. Doch diese Entwicklung erscheint dem Waisenhausgründer noch schlimmer zu sein: aß ich den Vorschlag nach berlin gethan, ist geschehen 1. weil ich des Hn. Past. D Gaben aestimiret u. geglaubet, daß er in der wahrheit ein Mann sey, damit ich dem Hn. G. v. N [Gneomar von Natzmer; d. Vf.] der mir so viel Güte erzeiget, wieder einen Dienst leisten u. alle satisfaction geben würde; worin ich auch an sich selbst, wie ich glaube, nicht geirret. 2. weil ich von dem gantzen Handel nichts gewusst […]. Denn wenn ich davon auch nur eine suspicion gehabt hätte, so würde ich nimmermehr solchen vorschlag gethan haben. […] Hätte ich aber von seinem wirklichen vinculo was gewust, so hätte ich wol aus Liebe ein Mittel gesuchet, wie er anderswo zu bringen; aber nimer würde ich so thöricht gewesen seyn, uns in die Patsche zu führen, darin wir ietzt miteinander stecken u. würde mir kein ort weniger als Berlin convenable für ihn gehalten haben.90
Francke war sich über die Bedeutung der Positionen am Hof und in der Umgebung des preußischen Königs, seines wichtigsten Förderers und Patrons, vollkommen im Klaren. Die Berufung Haines an die Stelle des Leibregiments des Königs war keine Gefälligkeit dem ehemaligen Hofprediger gegenüber, sondern eine bewusste, strategische Entscheidung des Waisenhausgründers. Haine sollte in seinem neuen Amt die Arbeit v. Cansteins und des Generals von Natzmer unterstützen, die bereits im Sinne des Halleschen Pietismus wirkten.91 Vgl.: Thomas Müller-Bahlke: Die Bedeutung des Adels für das Hallesche Netzwerk. In: Die Welt verändern. August Hermann Francke: Ein Lebensbild um 1700. Hg. v. Holger Zaunstöck [u. a.]. Halle 2013, 181–193. 90 Brief von A.H. Francke an Carl Hildebrand von Canstein vom 12.11.1718. Beilage in: Der Briefwechsel Canstein Francke [s. Anm. 2], 860. 91 Zum Einfluss des Halleschen Pietismus auf die preußische Militärseelsorge s. a. Benjamin Marschke: Absolutely Pietist: patronage, fictionalism, and state-building in the early eighteenths century prussian army chaplaincy. Tübingen 1996. 89
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Die Verbindung Haines mit der Burggräfin drohte diese Entscheidung Franckes in einen womöglich schwerwiegenden Fehler zu verwandeln, konnte doch leicht der Eindruck entstehen, dass Francke dem König heimlich einen mit einer Mesalliance belasteten Prediger untergeschoben hatte. Dass die Gräfin in Dresden weilte, verbesserte die Situation aus Franckes Sicht nicht: „Was weiter von der Comt. abreise aus Hachenb. geschrieben wird, auch von ihrer recommendation nach leipzig, u. transportirung nach Dreßden, sind lauter schlimme Folgen von einer übel angefangenen Sache.Vielleicht wärets nicht lange, so ist Dreßden von der historie voll.“92 Damit kommt Francke auf die zu erwartenden Folgen der Angelegenheit zu sprechen. So befürchtet er, dass sich Haine durch sein Handeln um seine Verdienste und die Möglichkeit der weiteren nutzbringenden Verwendung als Prediger gebracht hat und prophezeit auch der Burggräfin Schimpf und Schande. Den Burggrafen Georg Friedrich, bei dem er Hoffnung im Sinne einer Hinwendung zum Pietismus gehabt zu haben scheint, sieht er als für die Sache Gottes verloren an und befürchtet schlimme Auswirkungen für die im Hachenburgischen befindlichen Pietisten. Im Hinblick auf den preußischen König erwartet Francke viele negative Konsequenzen. Für sich selbst und für den Halleschen Pietismus sieht er eine schwere Rufschädigung voraus: „ich insonderheit, da ich aus Liebe zu Gott, zu seiner Wahrheit und auch zu dem Hn. Past. Hayn, ihn so wol in Hachenburg als zu ietziger station recommendiret, habe, wiewol von aller communication excludiret worden, da sonst alles, was ich ietzo erinnere, würde in tempore vorgestellet haben, großen Vorwurf u. Beschämung darüber zu erwarten.“93 In Anbetracht der zu erwartenden Konsequenzen aus der Verbindung zwischen Haine und Magdalena Christina äußert sich Francke ratlos und überlässt den Ausgang Gott.94 Er skizziert jedoch zwei wünschenswerte Entwicklungen: Ganz im Sinne Cansteins ist er der Meinung, dass der Burggraf ermutigt werden sollte, die Verbindung seiner Schwester mit Haine im Kreise seiner Verwandten und engsten Berater offensiv und mit all seiner Autorität anzusprechen.95 Darüber hinaus und im Gegensatz zum Baron vertritt Francke die Auffassung, dass die Angelegenheit mit größter Geheimhaltung behandelt werden muss, um die zu erwartenden Schäden für alle Beteiligten so gering wie möglich zu halten und um Zeit für die Entwicklung von Strategien zu gewinnen.96 92 Brief von A.H. Francke an Carl Hildebrand von Canstein vom 12.11.1718. Beilage in: Der Briefwechsel Canstein Francke [s. Anm. 2], 861. 93 Brief von A.H. Francke an Carl Hildebrand von Canstein vom 12.11.1718. Beilage in: Der Briefwechsel Canstein Francke [s. Anm. 2], 861. 94 Vgl. Brief von A.H. Francke an Carl Hildebrand von Canstein vom 12.11.1718. Beilage in: Der Briefwechsel Canstein Francke [s. Anm. 2], 862. 95 Brief von A.H. Francke an Carl Hildebrand von Canstein vom 12.11.1718. Beilage in: Der Briefwechsel Canstein Francke [s. Anm. 2], 862. 96 Brief von A.H. Francke an Carl Hildebrand von Canstein vom 12.11.1718. Beilage in: Der Briefwechsel Canstein Francke [s. Anm. 2], 862.
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Trotz der zum Teil massiven Kritik an Haine und dessen Handlungen versichert Francke zum Ende hin, dass er sowohl dem ehemaligen Hofprediger als auch der Burggräfin weiterhin gewogen bleiben wird. „Von mir hat man in specie nicht zu besorgen, daß ich nicht beyde interessierte Personen in der liebe behalten werde, ob ich gleich das factum ob circumstantias improbire.“97 Tatsächlich hat Francke Haine in der Folge nicht fallen gelassen. In seinem Neujahrsbrief vom 07. Januar 1719 verkündete v. Canstein Francke eine überraschende Wende. Hatte der Baron in seinem Brief an Francke vom 3. Dezember 1718 noch berichtet, dass sich Lange im Auftrag des Burggrafen bei ihm gemeldet und eine Auflösung des Eheversprechens gefordert hatte, folglich die Verhandlungen noch am Anfang waren,98 vermeldete er nun: p.s. mit H. Hayne komt die sache auch zum stande. der H. v. Natzemer ist wohl zufrieden, daß Sie mogen geendiget werden. will auch schon bey guter gelegenheit dem konig davon sprechen. ihr anverwandten legen sich auch näher zum zweck und scheinen gut disponiret zu seyn. die heyrath wird nicht in dresden sondern in einer stadt, wo Er gebohren, vollzogen werden, finsterwalt genant. gott wird dann weiter seine hand darüber halten. hier hatt H. Hayne gewiß seinen segen.99
Allem Anschein nach war die Problematik Anfang Januar geklärt und die Verhandlungen so gut wie abgeschlossen. Auch ein Ort für die Hochzeit war gefunden: Finsterwalde, der Geburtsort Haines. Wie die beiden Verhandlungsparteien zu diesem Ergebnis gekommen waren und wie die Einigung im Einzelnen aussah, ist mit den vorliegenden Quellen nicht zu ermitteln. Der Fall Haines und der Gräfin kommt in keinem der erhaltenen und in die edierte Korrespondenz Canstein – Francke aufgenommenen Briefe zwischen dem 3. Dezember und dem 7. Januar mehr zur Sprache. Insgesamt finden sich für den ganzen Monat Dezember aber auch nur vier Briefe des Barons, während Francke allein acht an diesen sandte.100 Möglicherweise deutet dies auf eine erhöhte Geschäftigkeit des Barons in dieser Angelegenheit hin. Da ein Nachlass v. Cansteins fehlt und somit kein Einblick in die Korrespondenz mit Hachenburg möglich ist, können keine Aussagen über die Ursachen des Sinneswandels des Burggrafen getroffen werden. Ausgehend von der Nachricht des Barons konnte ein Eintrag im Traubuch der Kirche in Finsterwalde im Evangelischen Landes-
Brief von A.H. Francke an Carl Hildebrand von Canstein vom 12.11.1718. Beilage in: Der Briefwechsel Canstein Francke [s. Anm. 2], 863. 98 Baron v. Canstein an A. H. Francke vom 03.12.1718. In: Der Briefwechsel Canstein Francke [s. Anm. 2], 868. 99 Baron v. Canstein an A. H. Francke vom 07.01.1719. In: Der Briefwechsel Canstein Francke [s. Anm. 2], 871. 100 S. die Aufzeichnungen im Tagebuch August Hermann Franckes für den Monat Dezember 1718, AFSt/ H A 172 : 1. 97
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kirchenarchiv in Berlin ausfindig gemacht werden. Dort heißt es unter „2. p. Epiphan.“, dass: err George Christian Häyne, feld Prediger beym königl. Leib Regiment zu Berlin, H Herrn Johann Christoph Häynens Sel. gewehsen wohl verdienter Cantors alhier nachgelaßner ehel. Herr Sohn, ein Jgfr. Magdalena Christina von Kirchberg weyland fil[ia] Herr George von Kirchberg gewehsenen Gißen darmstädtischn Raths eheleibl. nachgelaßene Jgfr. Dochter101
geehelicht hatte. Als Datum der Hochzeit kann der 15. Januar 1719, der zweite Sonntag nach Epiphanias (6. Januar), ausgemacht werden. Das die Wahl des Hochzeitsortes auf Finsterwalde fiel, liegt insofern nahe, da sowohl Berlin als auch Dresden wegen zu großer Öffentlichkeit ausschieden. Finsterwalde als Geburtsort Haines barg weiterhin den Vorteil zur Sekundogenitur Sachsen– Merseburg zu gehören und recht weit von allen Höfen und politischen Zentren entfernt zu sein.102 Offenbar war es dort auch möglich, dem Pfarrer das ganze Ausmaß der ungleichen Ehe vorzuenthalten. Zwar heiratete Magdalena Christina unter ihrem Geburtsnamen, doch verschleierte die Aussage über die Profession ihres Vaters als gießen-darmstädtischer Rat die Tatsache, dass sie dem hohen Adel angehörte.103 Insofern fand die Hochzeit in aller Stille und ohne Aufsehen statt. Ob es Feierlichkeiten gab, ist nicht bekannt. Vor dem Hintergrund der Geschehnisse nach der Hochzeit des Ehepaares Juncker hätte man annehmen können, dass sich Haine mit seiner Braut zurückziehen würde. Francke hatte dies in seinem Antwortschreiben als eine wün-
101 Vgl. Evangelisches Landeskirchliches Archiv Berlin, Ev. Kirchgemeinde Finsterwald, Kirchbuch-Nr. 12470. Der Verfasser dankt Herrn Bert Buchholz für das Auffinden des Eintrags. 102 In Bezug auf die Umstände der Hochzeit liegt eine Merkwürdigkeit vor, die wohl nicht mehr zu klären sein wird. In einem Brief vom 29. [!] Januar 1719 teilte v. Canstein Francke folgendes mit: „bevorab da H. Hayne nicht hier ist, und doch in der sache [gemeint ist der Versuch Haine nach Halle zu holen; d.Vf.] nichts geschehen kan vor seiner wiederkunft von dresden, wohin Er gestern gantz unvermuthet reisen müßen, nachdem der tag zur vollziehung der heyrath von seinen dasigen freunden angesetzet worden. […] Es gehet alles zu, worüber Sie sich verwundern werden mit gutem willen des D. Löschers, welcher selbst die trauung verrichtet.“ (Vgl. Baron v. Canstein an A.H. Francke vom 29.01.1719. In: Der Briefwechsel Canstein Francke [s. Anm. 2], 875.) Warum Haine die Burggräfin noch einmal heiraten sollte, erschließt sich dem Verfasser nicht. Der Eintrag im Traubuch der Kirche von Finsterwalde belegt eindeutig, dass die beiden dort schon zwei Wochen zuvor geheiratet hatten. Auch die Beteiligung Valentin Ernst Löschers erscheint äußerst sonderbar, war er doch kein Freund der Pietisten, sondern eher dem orthodoxen Luthertum zuzurechnen. Löscher war zu der Zeit an der Kreuzkirche in Dresden. Eine Anfrage hinsichtlich eines möglichen Eintrags in den dortigen Traubüchern blieb ohne Ergebnis, da diese im Siebenjährigen Krieg durch die Preußen vernichtet wurden. (Für diese Information möchte ich mich herzlich bei dem kirchlichen Archivbetreuer der Kreuzkirche, Herrn Uwe Keller, bedanken.) 103 Die Aussage ist an sich betrachtet nicht falsch. Ihr Vater war in Diensten des Landgrafen von Hessen-Darmstadt tätig, doch war er eben auch selbst ein Burggraf. S. Czech, Legitimation und Repräsentation [s. Anm. 50], 71 Anm. 307.
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schenswerte Option bezeichnet104 und in den Briefen ab Ende Januar mit dem Baron darüber korrespondiert, ob und wie Haine eine Anstellung in Halle verschafft werden könne, wo man ihn besser schützen könnte.105 Diese Überlegung verlief jedoch im Sande und Haine blieb mit seiner Ehefrau in Berlin, wo Francke beide anlässlich der Testamentsvollstreckung des inzwischen verstorbenen v. Canstein am 5. September 1719 zum Abendessen in einem adligen Kreise antraf.106 Erst 1720 trat Haine eine neue Stelle als Superintendent in Perleberg an. Von einer Abschiebung, ob als Strafe oder zum Schutz, kann also keine Rede sein. Schließlich verblieben Haine und Magdalena Christina noch mindestens ein Jahr in Berlin. Ob es dabei zu Anfeindungen kam und die Ungleichheit ihrer Ehe bekannt wurde, ist nicht zu klären.107 Dass Haines Vokation nach Perleberg vielmehr eine Aufwertung darstellte, wird an der Ernennung zum Superintendenten deutlich. Hiervon berichtete Haine Francke in einem Brief vom 25. Januar 1720.108 Im selben Schreiben teilte er dem Waisenhausgründer auch die Geburt einer Tochter mit.109 In Perleberg verblieb Haine sechs Jahre und hatte auch weiterhin Kontakt zu Francke, wie mehrere Briefe im Archiv der Franckeschen Stiftungen belegen. In einem Schreiben vom 4. März 1721 dankt er Francke nachdrücklich dafür, dass dieser ihn trotz der Probleme nicht fallen gelassen hatte. Aus dem Schreiben geht auch hervor, dass Francke der Burggräflichen Familie offenbar den Kontakt zum Ehepaar Haine vermittelt hatte, bedankt sich doch Haine im Namen seiner Frau
104 Francke wollte Haine die Vokation des Herrn Laurentius nach Naugarten übertragen, doch war dieser Berufungsprozess schon zu weit fortgeschritten. – Vgl. Brief von A.H. Francke an Carl Hildebrand von Canstein vom 12.11.1718. Beilage in: Der Briefwechsel Canstein Francke [s. Anm. 2], 863. 105 S. die Briefe v. Cansteins an A.H. Francke ab dem 29.01.1719. In: Der Briefwechsel Canstein Francke [s. Anm. 2], 874f. 106 Anwesend waren demnach neben Francke und Elers die Gastgeberin Frau von Trau(e)n, der Graf von Windischgrätz und die Frau Generalin von Löben. – Vgl. Eintrag Nr. 16 vom 05.09.1719 im Tagebuch von A.H. Francke, AFSt/ H A 173 : 1. 107 Ob von Natzmer den preußischen König jemals über die Mesalliance Haines in Kenntnis gesetzt hat, ist nicht zu klären. In der Korrespondenz Cansteins mit Francke findet sich dahingehend keine eindeutige Aussage. 108 G.C. Haine an A.H. Francke vom 25.01.1720, AFSt / H C 104 : 13. 109 Die Tochter, deren Name leider nicht mitgeteilt wird, ist Haine zufolge 3 Monate zuvor geboren worden. Vgl. G.C. Haine an A.H. Francke vom 25.01.1720, AFSt / H C 104 : 13. Die Personendatei des Archivs der Franckeschen Stiftungen führt im Übrigen einen Georg Christian Haine, über den in zwei Briefen aus dem Jahr 1745 bzw. 1746 berichtet wird. Demzufolge war dieser Haine Feldprediger bei zwei verschiedenen preußischen Regimentern und starb wahrscheinlich 1746 an der Schwindsucht. – Vgl. Briefe Gerhard Daniel Grüzmanns an Gotthilf August Francke vom 08.01.1745 und Februar 1746, AFSt/ H C 413 : 5 und 413 : 12. Es steht zu vermuten, dass es sich hierbei um dieselbe Person handelt, die sich am 27.09.1741 an der Theologischen Fakultät der Universität Halle immatrikuliert hat. – Vgl. Matrikel der Martin-LutherUniversität Halle-Wittenberg, Teil 2. Bearb. v. Charlotte Lydia Preuß. Halle 1994, 114. Es besteht eine gewisse Wahrscheinlichkeit, dass es sich um einen Sohn Georg Christian Haines und Magdalena Christinas handelte.
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für ein erhaltenes freundliches Schreiben der regierenden Burggräfin.110 Eine Form von Verbindung zu ihrer Familie scheint Magdalena Christina also weiterhin unterhalten zu haben. Haine wurde 1726, noch zu Lebzeiten August Hermann Franckes und Friedrich Wilhelms I., nach Berlin zurück an die St. Nicolai Kirche berufen.111 Dort stieg er bis zum Archidiakon und Direktor des Schindlerschen Waisenhauses auf.112 Negative Auswirkungen scheint seine Ehe mit der Burggräfin nicht gehabt zu haben. Vielmehr drängt sich der Eindruck auf, dass diese ungleiche Verbindung von allen Beteiligten mit großer Diskretion behandelt wurde. Darauf lassen einige indirekte Befunde schließen. So ist dem Pfarrbuch für die Mark Brandenburg zwar zu entnehmen, dass Georg Christian Haine verheiratet war, aber es fehlt der Name seiner Frau.113 In den Historischen Stammtafeln, in denen auch das Geschlecht der Burggrafen zu Kirchberg zu finden ist, wurden für Magdalena Christina nur Geburtsdatum und -ort vermerkt, kein Sterbedatum.114 Für Adlige, zumal im 18. Jahrhundert, ist das ein seltener Befund. Mit dem Wissen um ihre Ehe mit einem Bürgerlichen kann man schlussfolgern, dass sie vom Zeitpunkt ihrer Ehe an und gemäß dem damals geltenden Recht nicht mehr als Adlige geführt wurde. Sie verschwand gewissermaßen aus der Familie und aus dem Gedächtnis. Auch über den Tod hinaus wurde die Ehe der beiden diskret behandelt. So enthält die von Johann Ulrich Christian Köppen gehaltene Gedächtnispredigt auf Haine keinen Bezug auf dessen Leben vor dem Antritt seines Amtes an der Nicolaikirche in Berlin. Informationen zu seinem Familienstand sind nicht enthalten.115 Ergänzt werden kann hierzu, dass die Ehe Haines und der Burggräfin auch nicht in den zeitgenössischen oder späteren Abhandlungen über Mesalliancen zu finden ist. Hieraus kann geschlossen werden, dass die ganze Angelegenheit mit äußerster Vorsicht und Diskretion behandelt, ja der Umstand der Ungleichheit der Ehe mit Bedacht verdeckt wurde. Dass dies sogar noch über Haines Tod hinaus der Fall war, belegt die Gedächtnispredigt anschaulich. G.C. Haine an A.H. Francke vom 04.03.1721, AFSt / H C 104 : 16. Gemeint ist Georg Friedrichs Ehefrau, Sophia Amalie. 111 Haines Berufung erfolgte im Zusammenhang mit dem Streit um die Anstellung Friedrich Wilhelm Cleffels, in dessen Zuge Andreas Schmidt seinen Posten an der Nikolaikirche räumen musste. – Vgl. Marschke, Absolutely pietist [s. Anm. 91], 131–136. 112 Carl Hinrichs: Preußentum und Pietismus. Der Pietismus in Brandenburg-Preußen als religiös-soziale Reformbewegung. Göttingen 1971, 338–340. 113 Otto Fischer: Evangelisches Pfarrbuch für die Mark Brandenburg seit der Reformation. Band 2.1. Berlin 1941, 309. 114 Detlev Schwennicke [u. a.]: Europäische Stammtafeln. Bd. XIX: Zwischen Weser und Oder. Frankfurt/Main 2000, 108. Magdalena Christina Haine, geb. Burggräfin von Kirchberg, starb am 20.03.1751 in Berlin. – Vgl. G.C. Haine an Gotthilf August Francke vom 21.03.1751, AFSt / H C 464 : 9. 115 Johann Ulrich Christian Köppen: Gedächtnis=Predigt welche dem wohlseligen Herrn Georg Christian Haine treugewesenen Archi=Diaconus an der St. Nicolai und der Closter Kirche am Sonntag Quasimodo 1757 in der St. Nicolai Kirche gehalten worden. Berlin 1758. 110
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Fazit Die Aufnahme des Falles in das Archiv des Waisenhauses, in das Gedächtnis der Anstalten,116 zeugt von der Bedeutung, die Francke dem Sachverhalt um die Burggräfin und Haine zumaß. Besonders aber die Konservierung von Haines Brief und der Stellungnahme v. Cansteins sind bemerkenswert. Es ist bekannt, dass Briefe und Akten mit sensiblen Inhalten bewusst zerstört wurden – Francke selbst hat dazu aufgefordert.117 Die Erhaltung dieser Briefe ist deshalb ebenfalls als eine bewusste Handlung zu verstehen. Dies führt zu einer Reihe von Fragen. Sollte hier ein Präzedenzfall verzeichnet werden? Sollte insbesondere das „Handling“ der Angelegenheit um Haine und die Burggräfin als Vorlage für mögliche, zukünftige Mesalliancen dienen? Und daraus abgeleitet: Wie groß war die Problematik unstandesgemäßer Verbindungen im Bewusstsein Franckes, aber auch seiner Nachfolger? Welche und wie viele Mesalliancen sind noch in den Briefen und Akten des Archivs der Franckeschen Stiftungen verborgen? Sollte die Geheimhaltung, wie im Falle Haines und Magdalena Christinas, auch bei späteren Mesalliancen Anwendung gefunden haben, wird es nicht einfach werden, diese ausfindig zu machen und zu verifizieren. Eine intensivere Beschäftigung mit der Thematik von Mesalliancen im Pietismus scheint im hohen Maße geboten.118
116 Britta Klosterberg: Traditionsbildung und Archivierung. Die Anfänge des Archivs der Franckeschen Stiftungen im 18. Jahrhundert. In: „Schrift soll leserlich seyn“. Der Pietismus und die Medien. Beiträge zum IV. Internationalen Kongress für Pietismusforschung 2013. Hg. v. Christian Soboth u. Pia Schmid. Halle 2016, 379–398. 117 Thomas Müller-Bahlke: „Weil Halle auch in dieser Gegend einigen gefährlich und verdächtig vorkommt“. Das Zusammenwirken von Adel und Pietismus bei der Gründung der Gnadenkirche in Teschen. In: „Mit Göttlicher Güte geadelt.“ [s. Anm. 26], 75. 118 Ein entsprechendes Forschungsprojekt des Verfassers befindet sich an der Stabsstelle Forschung der Franckeschen Stiftungen zu Halle in Vorbereitung.
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Mark Häberlein
Der erste Amerikaner in Halle Die Causa Schleydorn und das transatlantische Kommunikationsnetz der Halleschen Pietisten um die Mitte des 18. Jahrhunderts Einleitung Als der aus dem Herzogtum Schleswig stammende lutherische Pfarrer Peter Brunnholtz (1716–1757)1 Mitte Januar 1745, neun Monate nach seinem Aufbruch aus Halle, in der Delaware-Bucht von Bord eines Segelschiffs ging, um das letzte Stück Weges nach seiner neuen Wirkungsstätte Philadelphia zu Fuß zurückzulegen, hatte er eine erfreuliche Begegnung.Wie Brunnholtz in seinem Reisediarium berichtet, kam e in Mann hinter uns her aus dem Walde [ge]laufen und Fragte den Capitain begierig: ob keine Evangelische Prediger mitgekommen wären, worauf Ich demselben eine Freüdige Antwort gab. Hier sind wir! Er erzehlte uns daß in den Gemeinen alle Sonntage für uns wäre gebeten worden, daß Herr Pastor Muhlenberg in den Land Gemeinen wäre, und gab uns Anweisung nach einem Kauf Mann Henry Schleydorn, der ein Mitglied der Lutherischen Gemeine ist, zu fragen und in Philadelphia, bey Ihm zu erst einzukehren.Wir kamen dann in Philadelphia um 3 Uhr Nachmittags wohlbehalten an, kehrten bey dem Herrn Schleydorn ein, wurden von Ihm und seiner wehrten Familie, mit vielen Freuden und ungemeiner Liebe aufgenommen und herrlich bewirthet, welches uns[,] die wir bishero einem andern tractament gewohnet gewesen, wunderbar vorkam. Sie behielten uns bis in die späte Nacht, schikten nach 2 Vorstehern der Lutherischen Kirche welche sogleich kamen und uns bewillkommeten.2
1 Eine Kurzbiographie findet sich in Charles H. Glatfelter: Pastors and People: German Lutheran and Reformed Churches in the Pennsylvania Field, 1717–1793. Vol. I: Pastors and Congregations. Breinigsville, Pa. 1980, 23. 2 Archiv der Franckeschen Stiftungen zu Halle, Abt. Missionsarchiv (im Folgenden AFSt/M) 4 A 2 : 32a+b, P. Brunnholtz, Diarium seiner Reise von London nach Philadelphia 1744/45 (Eintrag vom 15.01.1745). Eine Edition dieser und weiterer in diesem Aufsatz zitierter Quellen befindet sich in Vorbereitung: Hallesche Pastoren in Pennsylvania 1743–1825. Eine kritische Edition zu ihrer Amtstätigkeit in Nordamerika. Hg. v. Mark Häberlein, Thomas Müller-Bahlke u. Hermann Wellenreuther. 8 Bde. Halle 2019ff.
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Der Name des Kaufmanns und Zuckersieders Heinrich Schleydorn, der Peter Brunnholtz und den beiden ihn begleitenden Katecheten Johann Nikolaus Kurtz (1720–1794) und Johann Helfrich Schaum (1721–1778)3 einen derart gastfreundlichen Empfang bereitete, begegnet ausgesprochen häufig in den Briefen und Tagebüchern der ersten lutherischen Pastoren, die in den 40er und frühen 50er Jahren des 18. Jahrhunderts von den Glauchaschen Anstalten nach Pennsylvania entsandt wurden, um die seelsorgerliche Betreuung deutschsprachiger lutherischer Auswanderer in der Kolonie zu übernehmen. Schleydorn gehörte zu einer kleinen Gruppe einflussreicher Laien, die in Ermangelung ordinierter Geistlicher eine eminent wichtige Rolle bei der Gründung und Organisation lutherischer Kirchengemeinden in den mittelatlantischen Kolonien Britisch-Nordamerikas gespielt hatten. Den seit 1742 ankommenden Pastoren aus Halle leisteten diese Laien wichtige Starthilfe, traten deren Führungsanspruch allerdings mitunter auch ausgesprochen selbstbewusst entgegen.4 Aber Heinrich Schleydorn ist noch aus einem anderen Grund eine besonders interessante Figur – war er doch der erste lutherische Auswanderer in Pennsylvania, der sich entschloss, einen seiner Söhne zur Ausbildung in die Glauchaschen Anstalten nach Halle zu schicken. Im Jahre 1752 – auf dem Höhepunkt der deutschen Amerikaauswanderung des 18. Jahrhunderts5 – ging Heinrich Schleydorn Junior an Bord eines Schiffes, das ihn in umgekehrter Richtung nach Europa bringen sollte.6 Diese Entscheidung war vorab im Kreis der lutherischen Pastoren in Pennsylvania intensiv diskutiert worden, und die bis 1759 andauernde Ausbildung des jungen Heinrich Schleydorn in Halle wurde von einem regen Informations- und Meinungsaustausch zwischen Gotthilf August Francke in Halle, Heinrich Schleydorn Senior in Philadelphia sowie den lutherischen Geistlichen an der Hofkapelle in London und in Pennsylvania flankiert. Der Europaaufenthalt des Kaufmannssohnes aus Philadelphia erlaubt es somit, das transatlantische Kommunikationsnetzwerk des Halleschen Pietismus „in Aktion“ zu beobachten. Die atlantische Kommunikationsgemeinschaft, die Halle mit London und Britisch-Nordamerika verband, war in den letzten bei-
Vgl. zu ihnen die Kurzbiographien bei Glatfelter, Pastors and People [s. Anm. 1], I, 76f., 115f. Zur Rolle der Laien in den lutherischen Kirchengemeinden Pennsylvanias in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts vgl. Patricia U. Bonomi: ‘Watchful Against the Sects:’ Religious Renewal in Pennsylvania’s German Congregations, 1720–1750. In: Pennsylvania History 50, 1983, 273–283; Hermann Wellenreuther:The World according to the Christian People in North America around 1740. In: The Transatlantic World of Heinrich Melchior Mühlenberg in the Eighteenth Century. Hg. v. Hermann Wellenreuther [u. a.]. Halle 2013, 99–124, bes. 105–114; Mark Häberlein: Lutherans and Reformed around 1740: Pastors and Congregations at the Time of Heinrich Melchior Mühlenberg’s Arrival in Pennsylvania. In: Ebd., 143–158. 5 Andreas Brinck: Die deutsche Auswanderungswelle in die britischen Kolonien Nordamerikas um die Mitte des 18. Jahrhunderts. Stuttgart 1993; Marianne S. Wokeck: Trade in Strangers: The Beginnings of Mass Migration to North America. University Park, Pa. 1999, 40–46. 6 Vgl. Renate Wilson: Pious Traders in Medicine. A German Pharmaceutical Network in Eighteenth-Century North America. University Park, Pa. 2001, 119–122. 3 4
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den Jahrzehnten bereits wiederholt Gegenstand eingehender Untersuchungen. Im Mittelpunkt standen dabei Geistliche wie August Hermann und Gotthilf August Francke in Halle, der Hofprediger Friedrich Michael Ziegenhagen in London, Pastor Johann Martin Boltzius in Ebenezer (Georgia) und Heinrich Melchior Mühlenberg in Pennsylvania.7 Alexander Pyrges hat jedoch in seiner Studie Das Kolonialprojekt EbenEzer auch auf die bedeutsame Rolle von Laien – insbesondere Kaufleuten und Bankiers – innerhalb des Kommunikationsnetzwerks hingewiesen, das die Salzburger-Gemeinde in Georgia mit verschiedenen Orten in der atlantischen Welt verband.8 Die folgende Studie zur Ausbildung von Heinrich Schleydorn Junior in Halle knüpft an diese Untersuchungen an und versucht, einen mikrohistorischen Beitrag zur Erforschung der Interaktions- und Kommunikationsprozesse zwischen lutherischen Geistlichen und Laien in der atlantischen Welt um die Mitte des 18. Jahrhunderts zu leisten. Anhand einer „atlantischen Biographie“9 sollen die Leistungen, aber auch die Grenzen und Defizite der transatlantischen Kommunikation von Vertretern der pietistischen Ausprägung des Luthertums um 1750 verdeutlicht werden. Dabei geht es insbesondere um die Fragen, welche Erwartungen die am Kommunikationsprozess beteiligten Akteure mit dieser Ausbildung verbanden, wie Entscheidungen und auftretende Probleme kommuniziert (bzw. verschwiegen) wurden und wie Schleydorns Aufenthalt in Halle letztlich verlief.
Thomas J. Müller: Communication at Risk: The Beginnings of the Halle Correspondence with the Pennsylvania Lutherans. In: In Search of Peace and Prosperity: New German Settlements in Eighteenth-Century Europe and America. Hg. v. Hartmut Lehmann [u. a.]. University Park, Pa. 2000, 139–155; Norman J.Threinen: Friedrich Ziegenhagen:The London Connection to India and America. In: Halle Pietism, Colonial North America, and the Young United States. Hg. v. Hans-Jürgen Grabbe. Stuttgart 2008, 113–134; Christina Jetter-Staib: Halle, England und das Reich Gottes weltweit – Friedrich Michael Ziegenhagen (1694–1776). Hallescher Pietist und Londoner Hofprediger. Halle 2013; Hermann Wellenreuther: Heinrich Melchior Mühlenberg und die deutschen Lutheraner in Nordamerika. Wissenstransfer und der Wandel von einem atlantischen zu einem amerikanischen Netzwerk. Berlin 2013; Alexander Pyrges: Das Kolonialprojekt EbenEzer. Formen und Mechanismen protestantischer Expansion in der atlantischen Welt des 18. Jahrhunderts. Stuttgart 2015; London und das Hallesche Waisenhaus. Eine Kommunikationsgeschichte im 18. Jahrhundert. Hg. v. Holger Zaunstöck [u. a.]. Halle 2014. 8 Pyrges, Das Kolonialprojekt EbenEzer [s. Anm. 7], 229–249. 9 Vgl. zu diesem Ansatz Atlantic Biographies: Individuals and Peoples in the Atlantic World. Hg. v. Jeffrey Fortin u. Mark Meuwese. Leiden, Boston 2014; sowie als exemplarische Studien zu den biographischen Verflechtungen zwischen Mitteleuropa und Nordamerika Jon Sensbach: Rebecca’s Revival: Creating Black Christianity in the Atlantic World. Cambridge, Mass.; London 2006; Rosalind J. Beiler: Immigrant and Entrepreneur: The Atlantic World of Caspar Wistar. University Park, Pa. 2009; Aaron S. Fogleman: Two Troubled Souls: An Eighteenth-Century Couple’s Spiritual Journey in the Atlantic World. Chapel Hill, London 2014; Mark Häberlein, Michaela Schmölz-Häberlein: Revolutionäre Aussichten: Die transatlantischen Geschäfte der Gebrüder Mark im Zeitalter der Amerikanischen Revolution. In: Jahrbuch für europäische Überseegeschichte 15, 2015, 27–89. 7
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Die Untersuchung geht in drei Schritten vor. Zunächst wird die Rolle von Heinrich Schleydorn Senior in der lutherischen Gemeinde in Philadelphia und sein Beitrag zur Etablierung Hallescher Pastoren im Südosten Pennsylvanias beleuchtet. Erst vor diesem Hintergrund wird deutlich, warum gerade er der erste deutsche Amerikaauswanderer war, der einen Sohn zur Ausbildung nach Halle senden konnte. Anschließend werden die Entscheidung Schleydorns, seinen Sohn nach Europa zu schicken, und die sich daraus entwickelnde transatlantische Kommunikation rekonstruiert. Schließlich werden die Briefwechsel, die den Aufenthalt des jungen Schleydorn in Halle begleiteten, einer eingehenden Lektüre unterzogen und die Gründe für das Scheitern dieses besonderen Ausbildungsprojekts erörtert.
1. Heinrich Schleydorn Senior und die lutherische Kirchengemeinde in Philadelphia Einem Bericht zufolge, den Heinrich Melchior Mühlenberg (1711–1787) im Herbst 1760 über die Lebensumstände des mittlerweile verstorbenen Heinrich Schleydorn gab, hatte der wie Mühlenberg selbst aus Niedersachsen stammende Mann einen ausgesprochen abenteuerlichen Werdegang. Der Pastor erinnerte sich an ihn a ls einen honetten plattdeutschen Landesmann aus Peina in meiner Nachbarschafft gebürtig […]. Er hatte in seiner Jugend viel gereiset in Teutschland, war auch einstens mit im Gefolge eines Wienerischen Gesandten am türckischen Hofe als Schneider, Musicus und Petit=Maitre gewesen. Nach dem Georg I. glorwürdigsten Andenckens [1714] den Thron von Groß Brittanien bestiegen, und viel Teutsche sich dahin verfügten, war er auch mit unter denen Aventuriers, gerieth auf die Kriegesflotte als Steward, welche Vigos bombardirte. Von da kam er nach Neuyork, trieb seine Profession mit gutem Success, wurde mit den Lutherischen Predigern Messrs Berckenmeyer und Knoll etc. intime bekant, that alles mögliche, um die kleine Gemeinde allda zu vermehren und die Kirche helffen zu bauen, verheirathete sich mit einer muntern, und viel Natur Gaben versehenen Person, deren Vater Mr: Chevalier von französisch Protestanten, und Mutter, von der Holländischen Nation entsproßen.10
10 Die Korrespondenz Heinrich Melchior Mühlenbergs aus der Anfangszeit des deutschen Luthertums in Nordamerika. Bd. II: 1753–1762. Hg. v. Kurt Aland. Berlin, New York 1987, 422 (Nr. 195), H.M. Mühlenberg an G.A. Francke und F.M. Ziegenhagen, 09.10.1760.Vgl. auch The Journals of Henry Melchior Muhlenberg. Hg. v. Theodore G. Tappert u. John W. Doberstein. Bd. I. Philadelphia 1942, 439f.; Wellenreuther, Heinrich Melchior Mühlenberg [s. Anm. 7], 227.
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Die Übersiedlung Schleydorns nach New York City muss um 1720 erfolgt sein; in einem New Yorker Dokument von 172211 sowie in einem Lehrvertrag aus dem Jahre 1724 wird er noch als Schneider bezeichnet,12 war aber wohl zu diesem Zeitpunkt auch schon kaufmännisch tätig. Darüber hinaus übernahm er bald leitende Funktionen in der lokalen lutherischen Gemeinde: Im Dezember 1723 gehörte er zu den Unterzeichnern einer Petition, in der der Kirchenrat das Konsistorium in Amsterdam um die Entsendung eines Pfarrers bat,13 und auch im März und September 1725 unterschrieb er Briefe des New Yorker Kirchenrats nach Amsterdam.14 Nachdem Pastor Wilhelm Christoph Berkenmeyer im Sommer desselben Jahres sein Amt in der lutherischen Kirche von New York angetreten hatte, gehörte Schleydorn zu dessen wichtigsten Unterstützern. In einem seiner ersten Berichte nach Amsterdam erwähnte ihn Berkenmeyer im Spätjahr 1725 als Zeugen bezüglich der Amtsführung des irregulären lutherischen Predigers Johann Bernhard van Dieren, der in der Gemeinde Hackensack tätig war.15 Im Sommer 1731 begleitete Schleydorn Berkenmeyer auf einer Reise zu einigen Landgemeinden in New Jersey, die bis dahin von Daniel Falckner betreut worden waren.16 Schleydorn lebte bis 1737 in New York17 und wurde im Sommer 1740 in Philadelphia als Untertan der britischen Krone naturalisiert.18 Seine Zuckersiederei florierte in den ersten Jahren seiner Tätigkeit am Delaware; Anfang der 1740er Jahre soll er ein Vermögen von 7.000 bis 8.000 pennsylvanischen Pfund besessen haben.19
11 Collections of the New York Historical Society for the Year 1885, 102: “Henry Schleydorn, Taylor, Freeman of the City” (26.06.1722). 12 Collections of the New York Historical Society for the Year 1909, 178: “Indenture of Andrew Larong, son of Mary Larong, Widdow, to Henry Schleydorn, Taylor, and his wife Elizabeth to serve from May 4, 1724 for eight years and a half.” 13 The Lutheran Church in New York, 1649–1772. Records in the Lutheran Church Archives at Amsterdam, Holland. Hg. v. Arnold J.H.Van Laer. New York 1946, 115. 14 The Lutheran Church in New York [s. Anm. 13], 126, 134. 15 The Lutheran Church in New York [s. Anm. 13], 140: “About Joh. B. van Deuren I can report this much that is creditable, that he not only wrought as a tailor in England, but also here in New York, and that the spirit of fanaticism had already manifested itself in him in England, as is attested by Mr. Schleydorn who knew him there.” Zu den Hintergründen s. Harry Julius Kreider: Lutheranism in Colonial New York. New York 1972, 39–41. Zu Berkenmeyer s. a. David J.Webber: Berkenmeyer and Lutheran Orthodoxy in Colonial New York. In: Concordia Historical Institute Quarterly 60, 1987, 19–31. Zu van Dieren vgl. Glatfelter, Pastors and People [s. Anm. 1], I, 30. 16 Theodore Frelinghuysen Chambers: T he Early Germans of New Jersey: T heir History, Churches, and Genealogies. Dover, N.J. 1895, 48. 17 Korrespondenz Heinrich Melchior Mühlenbergs. Bd. II [s. Anm. 10], 13 Anm. 4. 18 Naturalizations of Foreign Protestants in the American and West Indian Colonies (pursuant to state 13 George II. c. 7). Hg. v. M.S. Giuseppi. Manchester 1921, 15 (03.08.1740). 19 Korrespondenz Heinrich Melchior Mühlenbergs. Bd. II [s. Anm. 10], 422 (Nr. 195), H.M. Mühlenberg an G.A. Francke und F.M. Ziegenhagen, 09.10.1760.
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Bereits Heinrich Melchior Mühlenberg, der im November 1742 Philadelphia erreichte und als maßgebliche Gründergestalt eines organisierten lutherischen Kirchenwesens in Nordamerika gilt,20 stand mit Schleydorn in engem Kontakt. Gleich im ersten Brief nach seiner Ankunft in Philadelphia, den er am 3. Dezember 1742 verfasste, teilte er Gotthilf August Francke in Halle und Friedrich Michael Ziegenhagen in London mit: „Die Briefe welche an mich geschickt werden, können entweder bey dem Schwedischen Kaufmann Herrn Koch [Peter Kock] oder an den Zucker Sieder Herrn Schleydorn abgegeben werden.“21 In einer unübersichtlichen Situation, in der sowohl der Leiter der Herrnhuter Brüdergemeine, Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf, als auch der aus Hessen-Darmstadt stammende Pfarrer Johann Valentin Kraf[f]t die Leitung der Gemeinde Philadelphia beanspruchten,22 gewährte Schleydorn Mühlenberg wertvolle Unterstützung. Im März 1743 bezeichnete Letzterer ihn gegenüber Francke und Ziegenhagen als „bemittelten Mann“ sowie als „verständigen und beständigen Lutheraner“.23 Der Pastor erwähnte Schleydorn überdies als führendes Mitglied der lutherischen Kirchengemeinde in New York während Berkenmeyers Amtszeit und wichtigen Informanten bezüglich der Entwicklung dieser Gemeinde.24 Wie einleitend bereits bemerkt, ließ Schleydorn auch Mühlenbergs im Januar 1745 in Pennsylvania eintreffenden Amtsbrüdern Brunnholtz, Kurtz und Schaum seine Gastfreundschaft und Hilfsbereitschaft angedeihen. Als Peter Brunnholtz am 11. Februar dieses Jahres nochmals auf das Schiff zurückkehrte, auf dem er den Atlantik überquert hatte, traf er dort einige deutsche Auswan-
20 Vgl. neben Wellenreuther, Heinrich Melchior Mühlenberg [s. Anm. 7], auch Leonard R. Riforgiato: Missionary of Moderation: Henry Melchior Muhlenberg and the Lutheran Church in English America. Lewisburg, Pa. 1980; Thomas J. Müller: Kirche zwischen zwei Welten. Heinrich Melchior Mühlenberg und die Kirchengründung der deutschen Lutheraner in Pennsylvania. Stuttgart 1994; Hermann Wellenreuther: Heinrich Melchior Mühlenberg (1711–1787), einflußreichster lutherischer Theologe der atlantischen Welt des achtzehnten Jahrhunderts. In: Deutsche Eliten in Übersee (Frühe Neuzeit bis frühes 20. Jahrhundert). Büdinger Forschungen zur Sozialgeschichte 2004 und 2005. Hg. v. Markus A. Denzel. St. Katharinen 2006, 461–485; Thomas Müller-Bahlke: Heinrich Melchior Mühlenberg und die Anfänge des deutsch-lutherischen Kirchenwesens in Pennsylvania. In: Freiheit, Fortschritt und Verheißung. Blickwechsel zwischen Europa und Nordamerika seit der frühen Neuzeit. Hg. v. Claus Veltmann [u. a.]. Halle 2011, 85– 103. 21 Die Korrespondenz Heinrich Melchior Mühlenbergs aus der Anfangszeit des deutschen Luthertums in Nordamerika. Bd. I: 1740–1752. Hg. v. Kurt Aland. Berlin, New York 1986, 44 (Nr. 14). V gl. auch: Journals of Henry Melchior Muhlenberg [s. Anm. 10], I, 74. 22 Vgl. dazu Craig Atwood: “The Hallensians are Pietists, aren’t you a Hallensian?“ Mühlenberg’s Conflict with the Moravians in America. In: The Transatlantic World of Heinrich Melchior Mühlenberg [s. Anm. 4], 159–196, bes. 168–181. 23 Korrespondenz Heinrich Melchior Mühlenbergs. Bd. 1 [s. Anm. 21], 61 (Nr. 17).Vgl. auch ebd., 229 (Nr. 54). 24 B.M. Schmucker: The Lutheran Church in New York City during the First Century of its History. In: Lutheran Church Review 1884/85, 279; vgl. auch Henry E. Jacobs: A History of the Evangelical Lutheran Church in the United States. New York 1893, 216f.
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derer an, deren Überfahrtkosten noch nicht bezahlt worden waren und die daher in der Kälte an Bord ausharren mussten. Daraufhin suchte er Heinrich Schleydorn auf und ersuchte ihn, „mit dem Kauf Mann der die Commission des Schifs und der Leute hat, zu reden“.25 Gut zwei Wochen später war Brunnholtz abends bei Schleydorn zu Gast, „mit dem manch gutes zur bewegung des Hertzens zu reden suchte“.26 Auch seine ersten Exkursionen ins Umland Philadelphias, nach Chester und Germantown, um die dortigen deutschen Siedler kennenzulernen und zu ihnen zu predigen, unternahm Brunnholtz in Begleitung Schleydorns.27 Anfang November 1745 bemerkte Mühlenberg in einem Brief nach Europa anerkennend: „Der werthe Herr Kock und Herr Schleydorn thun uns viel gutes und gebe[n] manniche Erquickung.“28 A.G. Roeber nennt Schleydorn „Mühlenberg’s staunchest ally and friend“.29 Peter Brunnholtz übermittelte Francke und Ziegenhagen im Dezember 1745 die Bitte der lutherischen Gemeindeältesten Peter Kock und Heinrich Schleydorn, welche „so gerne die Lutherische religion einmahl hier in rechtem flor sehen“ würden „und nun gegen die Hallenser das meiste Vertrauen haben,“ Ziegenhagens rechte Hand in London, Samuel Theodor Albinus, als Prediger nach Pennsylvania zu entsenden.30 Als Brunnholtz im Herbst 1746 schwer erkrankte, holten Kock und Schleydorn „den kundigsten Doctor zu Hülffe“, und Schleydorns Frau Elisabeth „wartete und pflegte den Patienten mehr als wie eine Mutter bey ihrem Kinde thun kan“.31 Einige Monate später bezeichnete Brunnholtz Schleydorn und seinen „Lands Mann“ Marcus Kuhl als „die reichesten“ Mitglieder des zwölfköpfigen Kirchenrats von Philadelphia „und auch [die] verständigsten“. Aufgrund seiner langjährigen Erfahrung in der Kolonie New York konnte Schleydorn Brunnholtz auch in einer brieflichen Auseinandersetzung mit dem dortigen Pastor Wilhelm Berkenmeyer – einem Vertreter der lutherischen Orthodoxie32 – zur Seite stehen: In einem Briefe an Herrn Schleydorn, der ein alter Bekanter von Herrn Berkenmeyer ist, nandte er meine freündliche Vorstellungen Schläge von der Pietistischen Wind-Mühle, andere Sticheleyen nicht zu gedenken. Herr Schleydorn der ehedem
25 AFSt/M 4 A 2 : 32b, P. Brunnholtz, Diarium aus Philadelphia 1745 (Eintrag vom 11.02. 1745). 26 AFSt/M 4 A 2 : 32b, P. Brunnholtz, Diarium aus Philadelphia 1745 (Eintrag vom 27.02. 1745). 27 AFSt/M 4 A 2 : 32b, P. Brunnholtz, Diarium aus Philadelphia 1745 (Einträge vom 30.06. 1745 und 07.07.1745). 28 Korrespondenz Heinrich Melchior Mühlenbergs. Bd. 1 [s. Anm. 21], 192 (Nr. 43). 29 A.G. Roeber: Palatines, Liberty, and Property: German Lutherans in Eighteenth-Century Europe and North America. Baltimore 1993, 248. 30 AFSt/M 4 C 4 : 18, P. Brunnholtz an G.A. Francke und F.M. Ziegenhagen, 11.12.1745. 31 Korrespondenz Heinrich Melchior Mühlenbergs. Bd. 1 [s. Anm. 21], 254 (Nr. 58). Vgl. Journals of Henry Melchior Muhlenberg [s. Anm. 10], I, 115. 32 Vgl. Webber, Berkenmeyer [s. Anm. 15].
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viele Jahre in New York gelebet, und deßen vertrauter Freünd gewesen, siehet nun einigen Unterschied, nachdem Ihm durch Gottes Gnade die Augen in Etwas geöfnet [wurden], und hat Ihm wiedergeschrieben daß wenn wir Prediger hier Pietisten wären so wolte Ers auch werden.33
Mühlenberg erinnerte sich später, dass der enge Kontakt mit seinem Kollegen Brunnholtz Schleydorns religiösen Eifer zunehmend angefacht habe. Sein Enthusiasmus sei schließlich so weit gegangen, dass er begonnen habe, die Predigten der Pastoren „zu censiren, und treuhertzig zu weisen, wie wir hie und da noch specieller seyn, und des Satans Reich schärffer angreifen solten“.34 Offensichtlich hatte Heinrich Schleydorn um die Mitte der 1740er Jahre einen Wandel vom orthodoxen lutherischen Laien zum überzeugten Anhänger des Halleschen Pietismus vollzogen. Mühlenberg versuchte sich den Glaubenseifer seines prominenten Gemeindemitglieds sogar zunutze zu machen, indem er Schleydorn 1747 mit Schriften, die er vom Leiter des Institutum Judaicum et Muhammedicum in Halle, Johann Heinrich Callenberg, erhalten hatte, zu einem führenden Mitglied der kleinen jüdischen Gemeinde Philadelphias schickte. Dieser Jude habe es jedoch rundweg abgelehnt, sich damit zu beschäftigen.35 Unterdessen unterhielt Schleydorn auch gute Beziehungen zur reformierten Kirche. Seine Ehefrau Elisabeth, geb. Chevalier, war hugenottischer Herkunft, und seine damals erst knapp siebzehnjährige Tochter Maria heiratete im Oktober 1747 den reformierten Pastor Michael Schlatter (1716–1790), der im Jahr zuvor aus St. Gallen nach Pennsylvania gekommen war und sich mit großem Einsatz an die Organisation des dortigen reformierten Kirchenwesens machte.36 Schlatter pflegte seinerseits engen Kontakt mit Heinrich Melchior Mühlenberg und dessen lutherischen Amtskollegen. Allerdings kam es in der reformierten Gemeinde Philadelphias schon nach kurzer Zeit zu heftigen Auseinandersetzungen, die Schlatter schließlich zum Rückzug zwangen, was zweifellos auch für seine Frau und deren Familie eine erhebliche Belastung darstellte.37 Im August 1750 schrieb Peter Brunnholtz nach Europa, dass in den reformierten Gemeinden von Philadelphia und Germantown seit vergangenem Herbst „eine AFSt/M 4 C 4 : 26, P. Brunnholtz an G.A. Francke und F.M. Ziegenhagen, 03.11.1746. Korrespondenz Heinrich Melchior Mühlenbergs. Bd. II [s. Anm. 10], 422 (Nr. 195), H.M. Mühlenberg an G.A. Francke und F.M. Ziegenhagen, 09.10.1760. 35 Journals of Henry Melchior Muhlenberg [s. Anm. 10], I, 139: “I had our esteemed friend, Mr. Schleydorn, of Philadelphia, go to the most prominent Jew to see whether he might not accept and read several of these writings concerning the true Messiah. The Jew replied: ‘No. The foremost gentlemen in the city with whom I associate, men who are called Christians, say themselves that their Messiah was an impostor. Give the books to them; I have no time.’” 36 Marthi Pritzker-Ehrlich: Michael Schlatter von St. Gallen (1716–1790). Eine biographische Untersuchung zur schweizerischen Amerika-Auswanderung des 18. Jahrhunderts. Diss.phil. Universität Zürich 1981, 90. 37 Pritzker-Ehrlich, Michael Schlatter [s. Anm. 36], 96–127; vgl. Mark Häberlein: Schweizer Pastoren im kolonialen Nordamerika. Wanderungsmotive, Karrieremuster und Akkulturationsprozesse. In: Jahrbuch für Europäische Überseegeschichte 3, 2003, 9–30, bes. 22f. 33 34
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erbärmliche Zerrüttung“ entstanden sei, die „dem Herrn Schleydorn als Schwieger Vater von Mr. Schlatter graue Haar gemacht“ habe. Die reformierten Ältesten hätten „mit Herrn Schlatter verschiedene Zwistigkeiten“ gehabt, „welche in eine rechte Feindschaft zwischen beeden zu letzt ausfielen“.38 Im Frühjahr 1749 hob Brunnholtz in einem Brief nach Europa sowohl Schleydorns Bedeutung für die lutherische Gemeinde in Philadelphia als auch dessen Affinität zum Pietismus Hallescher Prägung hervor: ie die Gnade Gottes zur wahren Bekehrung an verschiedenen in meinen GemeiW nen arbeitet; so geschieht solches auch besonders an den Herrn Schleydorn, bey dem [ich] nun in einem Jahre her eine gar merkliche Veränderung spühre […]. Die Augen gehen Ihm immer mehr auf und ist sehr begierig nach Unterricht[,] hat auch bereits einige wahre Gnade genoßen. Arbeitet nun auch mit allem Ernst an seine eigene familie, die Englisch ist. Er beweinet den betrug worin er bis in sein Alter gelebet und sich für einen ernstlichen Orthodoxen und Lutheraner gehalten. Gott helfe Ihm nebst andern durch. Sein Exempel, da Er der angesehenste in der gantzen Gemeine und Trustee [ist], ist von guter Wirkung bey andern.39
Bei Gotthilf August Francke in Halle stießen derartige Nachrichten auf positive Resonanz: „Uber Herrn Schleydorn“, schrieb er im Sommer 1749 an Brunnholtz, „freue ich mich von Grund des Herzens, der HErr lasse sein Exempel auch bey andern vielen Segen haben“.40 Nachdem Johann Friedrich Handschuch (1714–1764), der 1748 aus Halle in Pennsylvania eingetroffen war und zunächst die Betreuung der Gemeinde Lancaster übernommen hatte, im Sommer 1751 wegen Konflikten mit dieser Gemeinde nach Germantown gewechselt war,41 knüpften er und seine Frau ebenfalls engere Kontakte zur Familie Schleydorn.42 Als Handschuchs Frau Ende Juni 1751 ihr erstes Kind entbunden hatte, bat der Pastor Heinrich Schleydorn und seine Gattin Elisabeth, die Patenschaft für das Mädchen zu übernehmen.43 Die Beziehungen zwischen beiden Familien vertieften sich in der Folgezeit weiter, als „Frau Gevatterin Schleydornin mit ihrem Söhngen“ die Pastorenfamilie aufsuchte, um „ihn bei uns in die Kost und Unterricht zu thun, welches ihr wegen ihrer vielen gegen uns Prediger bewiesenen Liebe nicht [habe] ab-
AFSt/M 4 C 3 : 48, P. Brunnholtz an G.A. Francke und F.M. Ziegenhagen, 21.08.1750. AFSt/M 4 C 3 : 24, P. Brunnholtz an G.A. Francke und F.M. Ziegenhagen, 11.04.1749. 40 AFSt/M 4 C 3 : 25, G.A. Francke an P. Brunnholtz, 03.08.1749. 41 Vgl. zu ihm Glatfelter, Pastors and People [s. Anm. 1], I, 50f.; Mark Häberlein: The Practice of Pluralism: Religious Diversity and Congregational Life in Lancaster, Pennsylvania, 1730–1820, University Park, Pa. 2009, 72–79. 42 AFSt/M 4 H 10 : 5, J.F. Handschuch, Diarium aus Lancaster und Germantown 1751/52 (Eintrag vom 17.06.1751). 43 AFSt/M 4 H 10 : 5, J.F. Handschuch, Diarium aus Lancaster und Germantown 1751/52 (Einträge vom 25.–27.06.1751). 38 39
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schlagen können“.44 Bei diesem Sohn dürfte es sich um den 1742 geborenen Heinrich Junior handeln, der im folgenden Jahr nach Halle ging. Gegenseitige Besuche festigten in der Folgezeit die Verbindung zwischen beiden Familien.45 Auch Heinrich Melchior Mühlenberg bat Heinrich und Elisabeth Schleydorn im September 1751, die Patenschaft für sein viertes Kind, die Tochter Margretha Henrietta, zu übernehmen, „if your Health and good Will permitt“. In seinem Schreiben an die Eheleute deutete der Pastor zugleich an, dass es zwischenzeitlich zu Spannungen zwischen ihm und den Schleydorns gekommen war: Die Patenschaft sei eine Gelegenheit „to burrie the old rags of Misunderstanding, and to renew the friendship and Relation“.46 Mühlenbergs Anspielung auf den Gesundheitszustand der Eheleute Schleydorn wird durch seinen Kollegen Johann Friedrich Handschuch bestätigt, der im November 1751 in seinem Diarium notierte, dass Heinrich Schleydorn „darüber betrübt“ sei, dass der Pastor „ihn nicht ein einziges mal in seiner kranckheit besucht“ habe.47 Wenn Handschuch kurze Zeit später festhielt, dass Schleydorn „über manche Umstände sehr kläglich that“, so könnte sich dies auf dessen Krankheit, aber auch auf finanzielle Schwierigkeiten beziehen, von denen noch ausführlicher die Rede sein wird.48 Im selben Jahr 1751 traten mit Johann Dietrich Matthias Heinzelmann und Friedrich Schulze zwei weitere in Halle ausgebildete Prediger die Reise nach Pennsylvania an.49 Auf der Überfahrt von London nach Philadelphia befanden sie sich in Gesellschaft von Heinrich Schleydorns Sohn Johannes, der seit 1748 zur See fuhr. Da weder Heinzelmann noch Schulze vor ihrer Reise Englisch gelernt hatte, kam ihnen die Anwesenheit Johannes Schleydorns sehr gelegen, da dieser „zwar Englisch ordinair spricht aber auch dabey Deutsch, der uns also in vielen Dingen[,] ja selbst in der Erlernung der Sprache behilflich seyn kan.“ Und Heinzelmann fügte hinzu: „Ja wol noch mehreren Nutzen kan er darreichen, weil er selbst ein gebohrener Philadelphier ist und noch dazu ein Sohn des Herrn Schleidorns der ein Vorsteher bey der deutschen Gemeine des Herrn Brunholzens ist. Er wird also von Uns als ein Geschenck Gottes an gesehen.“50 44 AFSt/M 4 H 10 : 5, J.F. Handschuch, Diarium aus Lancaster und Germantown 1751/52 (Eintrag vom 23.07.1751). 45 AFSt/M 4 H 10 : 5, J.F. Handschuch, Diarium aus Lancaster und Germantown 1751/52 (Einträge vom 01.08.1751, 27./28.08.1751, 11.11.1751, 16.12.1751); AFSt/M 4 H 10 : 6, J.F. Handschuch, Diarium aus Germantown 1752/53 (Einträge vom 20.03.1752, 22./23.03.1752, 11.04.1752, 21.04.1752, 06.05.1752, 19.06.1752, 05.07.1752). 46 Korrespondenz Heinrich Melchior Mühlenbergs. Bd. I [s. Anm. 21], 428 (Nr. 98).Vgl. auch ebd., 504 (Nr. 114). 47 AFSt/M 4 H 10 : 5, J.F. Handschuch, Diarium aus Lancaster und Germantown 1751/52 (Eintrag vom 08.11.1751). 48 Ebd. (Eintrag vom 16.11.1751). 49 Vgl. zu ihnen Glatfelter, Pastors and People [s. Anm. 1], I, 55f., 124f. 50 AFSt/M 4 A 3 : 35, J.D.M. Heinzelmann und F. Schulze an G.A. Francke, 06.09.1751 Vgl. auch AFSt/M 4 A 3 : 31, dies. an dens., 09.09.1751: „Auf dem Schiffe werden wir einen nach Gottes willen bekommen, der englisch und deutsch kan, Namens Schleudorn, ein Glied der
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Nach der Ankunft des Schiffs in Philadelphia Anfang Oktober 1751 notierte der Prediger: er junge Schleydorn, der uns wegen der Sprache viele Dienste auf dem Schiffe D gethan, brachte uns, nachdem wir mit allen Passagiers ans Land und in die Stadt noch den Abend gegangen, zu erst zu seiner Eltern Hause, um seiner eignen und unserer Ankunft wegen eine unvermuthete Freude zu machen. Ob wir nun gleich mit zu gehen sehr verbaten: so zwung er uns doch fast mit dem Vorwandt, daß Herr Pastor Brunholtz daselbst auch zu erst gewesen.51
Auch in der Folgezeit berichteten die Briefe und Diarien der Halleschen Pastoren von regelmäßigen Kontakten mit der Familie Schleydorn. Im Sommer 1752 begleitete Heinrich Schleydorn Senior Johann Friedrich Handschuch auf einer Fahrt von Germantown nach Philadelphia und schlug ihm bei dieser Gelegenheit vor, seinen Schwiegersohn Michael Schlatter zu besuchen, der gerade von einer Europareise zurückgekehrt war und mehrere junge reformierte Prediger mitgebracht hatte.52 Als Anfang Oktober desselben Jahres in der lutherischen Kirche von Germantown ein erwachsener Afro-Amerikaner getauft wurde, fungierten Peter Brunnholtz und Heinrich Schleydorn als Taufpaten. Nachdem Handschuch 1753 mit der Mehrheit der lutherischen Kirchengemeinde in Germantown in einen heftigen Streit geraten war, gehörte Schleydorn zu seinen wenigen Parteigängern.53 Die lutherische Kirche in Nordamerika unterstützte er im selben Jahr auch dadurch, dass er juristisch gegen einen windigen Geschäftsmann vorging, der die Gemeinde Ebenezer in Georgia durch betrügerische Machenschaften um eine beträchtliche Summe erleichtert hatte.54 Ende September 1753 gehörte Schleydorn zu den Unterzeichnern eines Briefs des lutherischen Kirchenrats von Philadelphia, in dem dieser sich demonstrativ der Autorität von Gotthilf August Francke in Halle und Friedrich
Philadelphischen Gemeine in America. Gott thut uns überschwenglich mehr gutes, als wir bitten und verstehen.“ 51 AFSt/M 4 A 3 : 46, J.M.D. Heinzelmann an G.A. Francke, 13.03.1752. 52 AFSt/M 4 H 10 : 6, J.F. Handschuch, Diarium aus Germantown 1752/53 (Eintrag vom 09.08.1752). 53 Korrespondenz Heinrich Melchior Mühlenbergs. Bd. II [s. Anm. 10], 38–40, 46 (Nr. 134). Vgl. zu dieser Auseinandersetzung Müller, Kirche zwischen zwei Welten [s. Anm. 20], 159–178. 54 Vgl. Korrespondenz Heinrich Melchior Mühlenbergs. Bd. II [s. Anm. 10], 45 (Nr. 134), H.M. Mühlenberg an G.A. Francke und F.M. Ziegenhagen, 24.08.1753: „Der berüchtigte Neuländer, Namens Curtius, welcher unsere Werthe Herren Amts=Brüder in Eben Ezer um eine Summa Geldes betrogen hate, ist gegen wärtig in Pensylvania, und hat fleißig mit zu der Verstöhrung in Germantown geholffen. Unser alter Freund H. Schleydorn hatte von dem Werthen Herrn Pastor Bolzius Volmacht bekommen, um den Curtius anzugreiffen. Er hat es mit vieler Mühe und Kosten so weit gebracht, daß Curtius den grösten theil des entwandten Geldes hat bezahlen, oder Bürgschafft dafür geben müßen.“ Vgl. auch ebd., 80 (Nr. 138), H.M. Mühlenberg an S. Urlsperger, 06.09.1753.
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Michael Ziegenhagen in London unterstellte.55 Im selben Jahr wurden der Kirchengemeinde in Philadelphia außerdem fünf pennsylvanische Pfund „durch Herrn Schleydorn übermacht und geschenkt“.56 Heinrich Melchior Mühlenberg fasste die Verdienste des Kaufmanns in einem Brief nach Halle im Sommer 1754 mit den Worten zusammen, dass er und seine Amtsbrüder seit ihrer Ankunft in der Neuen Welt „in des Herrn Schleydorn Hause wie Kinder aufgenommen, offt im Mangel erquiket, in Trübsal getröstet, in Kranckheit gepfleget, und in manicherley Umständen nach Vermögen unterstützet“ worden seien.57 Heinrich Schleydorn Senior war also für die sieben zwischen 1742 und 1751 aus Halle nach Pennsylvania entsandten lutherischen Pastoren eine wichtige Vertrauensperson, und die freundschaftlichen Beziehungen zwischen den Geistlichen und dem einflussreichen Laien wurden im Laufe der Jahre durch gegenseitige Besuche, die Gewährung von Gastfreundschaft, Patenschaften und finanzielle Zuwendungen regelmäßig aktualisiert und sukzessive verstärkt. Nur vor dem Hintergrund dieser engen Vertrauensbeziehungen wird verständlich, warum die lutherischen Pastoren 1752 Schleydorns Wunsch nachkamen, seinen jüngsten Sohn nach Halle zu schicken – ohne Gotthilf August Francke oder andere Mitarbeiter der Glauchaschen Anstalten vorab darüber zu informieren!
2. Die Entscheidung für Halle: Akteure und Argumente Im Rahmen eines langen Briefes, den er im Februar 1752 an Gotthilf August Francke in Halle und Friedrich Michael Ziegenhagen in London schrieb, trug Mühlenberg „eine demüthige Vorbitte […] für unsern ersten, alten, aufrichten Freund und Wohlthäter, den Herrn Schleydorn“ vor: r hat einen Sohn, von 10 Jahren alt, und wolten denselben gerne christlich und from E erzogen haben; Weil er nun von uns allen, so offt und vielmahls hat die gesegneten Anstalten in Halle, und besonders die recht Weise und ausnehmend schöne Anstalt der Waysen Knaben rühmen hören, so ist seine einzige und ergebenste Bitte und Wunsch vor seinem seligen Ende, ob Hochwürdige Väter nicht aus besonderer Liebe und Hulde geruhen mögen, sein Kind unter die Waysen Knaben mit auf zu nehmen?58
Um diesem Anliegen Nachdruck zu verleihen, trug Mühlenberg mehrere Gründe vor. Erstens habe Schleydorn vernommen, dass im Halleschen Waisen55 Korrespondenz Heinrich Melchior Mühlenbergs. Bd. II [s. Anm. 10], 98–103 (Nr. 143), H.M. Mühlenberg u. a. an F.M. Ziegenhagen und G.A. Francke, 29.09.1753. 56 AFSt/M 4 F 5 : 4. 57 Korrespondenz Heinrich Melchior Mühlenbergs. Bd. II [s. Anm. 10], 220 (Nr. 153), H.M. Mühlenberg an G.A. Francke, 26.07.1754. 58 Korrespondenz Heinrich Melchior Mühlenbergs. Bd. I [s. Anm. 21], 489 (Nr. 112), H.M. Mühlenberg an G.A. Francke und F.M. Ziegenhagen, 18.02.1752.
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haus „die aller genaueste und weiseste Aufsicht und Methode“ herrsche. Zweitens imponierte ihm, „daß aus der Anstalt schon manniche wackere und brave Männer“ hervorgegangen seien. Drittens seien Schleydorns Handelsgeschäfte in den letzten zwei Jahren „sehr unglücklich“ verlaufen, und er habe ungefähr 1.000 Pfund Vermögen verloren, „welcher Unfall seine äuserlichen Umstände sehr eingeschrenckt“ habe. Viertens habe „er ein solches Vertrauen […] in die besondere Waysen Anstalt gesetzet, daß er meinet er könnte in seinem Heilande viel geruhiger sterben, wenn er seinen jüngsten Sohn, der hier unter der Englischen bösen Jugend gar zu großer Gefahr exponiret, allda auf genommen sähe“. Soweit Schleydorn dazu noch in der Lage sei, wolle er gerne einen finanziellen Beitrag zur Ausbildung seines Sohnes leisten. Obwohl den Predigern bewusst sei, dass viele „Expectanten“ auf einen Platz im Waisenhaus warteten, meinten sie gute Gründe für ihr Anliegen zu haben. Erstens habe „der Vater bey uns gestanden in Lieb und Leid, und sich durch Gottes Wort und Geist zu einem treuen Nachfolger Jesu Christi machen laßen.“ Zweitens sei er bislang „wie unser leiblicher Vater gewesen und hat uns als arme Knechte im Namen Jesu auf genommen, sein Hertz und Wohlthaten mit uns getheilet“. Drittens sei auch Schleydorns Gattin „eine Mutter und Pfleg Amme zu uns allen gewesen, und insbesondere hat sie an unsern schwachen Mitbruder dem Herrn Brunnholtz in seinen schwehren Kranckheiten, fast mehr wie eine leibliche Mutter gethan“.59 Die Pastoren in Pennsylvania fühlten sich also einerseits gegenüber der Familie Schleydorn verpflichtet; andererseits sahen sie auch die Möglichkeit, durch die Unterstützung dieses Vorhabens die Bande zwischen der Kolonie und den Glauchaschen Anstalten weiter zu festigen. Einen Monat später verwandte sich auch Peter Brunnholtz bei Ziegenhagen und Francke für Schleydorn.60 In seinem Schreiben schloss er sich Mühlenbergs Argumentation vollkommen an, trug aber noch zusätzliche Argumente vor, die aus seiner Warte für die Aufnahme des jungen Schleydorn in die Glauchaschen Anstalten sprachen. Seit der Ankunft der Halleschen Prediger in Pennsylvania habe dessen Vater „eine immer größere Hochachtung“ für Ziegenhagen und Francke entwickelt, und das Waisenhaus in Halle sei ihm „immer wichtiger vorgekommen“. Bereits 1745 habe er eine ganze Nacht lang mit Brunnholtz über das Thema gesprochen und damals schon den Entschluss gefasst, seinen heranwachsenden ältesten Sohn Johannes möglichst bald „nach Halle zu senden und daselbst auf die Schule zu thun, um denselben etwa nachhero in Halle medicinam studiren zu laßen.“ Mühlenberg habe Johannes Schleydorn daraufhin Lateinunterricht erteilt, doch aufgrund seiner vielfältigen Amtsgeschäfte und Heinrich Schleydorns Erkrankung, die ihn gezwungen habe, seinen Sohn in seiner Zuckersiederei zu beschäftigen, sei dieses Vorhaben nicht weiter gedie59 Korrespondenz Heinrich Melchior Mühlenbergs. Bd. I [s. Anm. 21], 489 (Nr. 112), H.M. Mühlenberg an G.A. Francke und F.M. Ziegenhagen, 18.02.1752. 60 Das Folgende nach AFSt/M4 C 5 : 6, P. Brunnholtz an F.M. Ziegenhagen und G.A. Francke, 10.03./16.03.1752.
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hen: „Der Sohn ward gros und Herrn Schl[eydorns] Vorhaben zerschlug sich von Selbsten.“ Er selbst habe Johannes Schleydorn später „eine Zeitlang im Christenthum vermittelst der Engl[ischen] Sprache“ unterrichtet. Obwohl Johannes mittlerweile auch konfirmiert worden war, konnten „weder die gute Vermahnung des Vaters noch meine Bemühungen Ihren Zwek recht erreichen, wegen der gar zu großen und allgemeinen Verführung der Jugend“ in Pennsylvania. Da Johannes Schleydorn eine „besondere Neigung zur Seefarth hatte“, so Brunnholtz, „lernte er die Navigation.“ Unterdessen sei der Wunsch, einen Sohn nach Halle zu schicken, bei Heinrich Schleydorn Senior lebendig geblieben – nicht zuletzt weil der prominente englische Erweckungsprediger George Whitefield61 die dortigen Anstalten „ofte gepriesen“ habe, weswegen „auch verschiedene hiesige gelehrte Engell[änder] dieselbe hochschäzen“. Brunnholtz selbst habe die 1732 gedruckte Nachricht über die Glauchaschen Anstalten auf Wunsch einiger Mitglieder der Philadelphia Academy (der späteren University of Pennsylvania) ins Englische übersetzt. Der Pastor versuchte Francke und seine Mitarbeiter also mit dem Argument zu überzeugen, dass dieses Ausbildungsprojekt die ohnehin hohe Reputation der Glauchaschen Anstalten jenseits des Atlantiks weiter befördern werde. Ferner führte Brunnholtz aus, dass der zehnjährige Heinrich seit geraumer Zeit „eine besondere Gabe etwas zu lernen gezeiget“ habe, „wozu Er im Hause vom Vater angehalten worden“ sei. Heinrich habe „schon vor 2 Jahren halbe und ganze Capp[itel] aus der Engl[ischen] Biebel geschwind aus wendig gewust, man merkte auch an Ihm, ein fur sein Alter, ziemlich scharfes Judicium.“ Mit zunehmendem Alter habe allerdings „auch die Leichtsinnigkeit wider der Anreitzung von andern“ zugenommen, was seinem Vater große Sorgen bereitet habe. Als Johann Friedrich Handschuch im Vorjahr nach Germantown gezogen sei, habe er sich zwar des Jungen angenommen, doch mit mäßigem Erfolg. Heinrich Schleydorn Senior habe sich daher fest vorgenommen, seinen jüngeren Sohn so bald wie möglich nach Halle zu schicken. Da sein älterer Sohn im Begriff sei, mit einem Schiff nach London zu reisen, sei die Gelegenheit dazu nunmehr günstig. Auch Schleydorns Frau sei damit einverstanden. Nachdem das Hallesche Waisenhaus bereits „schier von allen Theilen der Welt Kinder oder Studenten in der Pflege gehabt“ habe,62 seien die lutherischen Prediger in Pennsylvania überzeugt, Francke werde sich „eine Freüde daraus machen, zum erstenmal einen Americaner in der Familie aufzunehmen“. Aufgrund der Zweisprachigkeit des jungen Heinrich Schleydorn könnten außerdem dessen Mitschüler von seiner Anwesenheit in Halle profitieren:
61 Vgl. zu ihm zuletzt Thomas S. Kidd: George Whitefield. America’s Spiritual Founding Father. New Haven/London 2014. 62 Zur Schülerschaft des Waisenhauses vgl. „Man hatte von ihm gute Hoffnung ...“. Das Waisenalbum der Franckeschen Stiftungen 1695–1749. Hg. v. Juliane Jacobi u. Thomas J. Müller-Bahlke. Tübingen 1998.
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er Sohn lieset gut Englisch, und wo Er dazu ferner angehalten würde das gelernte D ja nicht zu vergeßen, so kan er künftig seine Mit-Schüler, oder andere, in nebenStunden darinnen unterrichten, die […] von keinem beßer es lernen könen als der ein geborner Englischer ist63; Im vorigen Jahr hat Er gut Teütsch lesen gelernet, weis den Catechismum im Teütschen auswendig, und kan allbereits andern Kindern alhie in Aufschlagung der Sprache und in Antwort gleich kommen. Im Lateinischen hat er einige rudimenta.64
Der Vater werde die Reisekosten vollständig übernehmen. Da Heinrich „von einem flüchtigen temperament“ und obendrein „listig und verschlagen“ sei, wäre es allerdings nötig, „ein wachsames Auge“ auf ihn zu haben. Falls Francke ihn nicht in das Waisenhaus aufnehmen, sondern ihn „vorerst auf eine Schul Stube thun“ wolle, so möge er dem Vater die Kosten dafür in Rechnung stellen. Dieser plane, seinen jüngeren Sohn „in seinem Testament besonders bedenken, so viel als er kan, um den guten Zwek zu erreichen, so Er in seinem Gemüth hat“.65 Mit der Entsendung des jungen Heinrich Schleydorn nach Deutschland verbanden die Halleschen Pastoren in Pennsylvania also so unterschiedliche Erwartungen wie die Mehrung des Ruhms des Waisenhauses jenseits des Atlantiks und die Förderung des Englischunterrichts in den Glauchaschen Anstalten. Zugleich stellten sie ihre „Väter“ in London und Halle vor vollendete Tatsachen, denn der zehnjährige Junge wurde im Frühjahr 1752 auf die Reise nach Europa geschickt, ohne dass Ziegenhagen oder Francke zuvor Gelegenheit gehabt hätten, auf deren Anliegen zu antworten.66 Dementsprechend war Samuel Theodor Albinus, der Adjunkt Ziegenhagens an der lutherischen Hofkapelle in Kensington,67 alles andere als begeistert, als der Junge Anfang Mai in London auftauchte: as eigene Anmuthen des H[err]n Mühlenbergs u. Bunnholtz, den Sohn des H[err]n D Schleidorns unter die orphanos aufzunehmen hat uns fast befremdet. Das Kind ist nun hier. Und man kann es den weiten weg nicht wieder zurück senden. Und thut man ja herzl[ich] gern, aus herzlicher Danckbarkeit für die Liebe die der Vater den 63 Im Kontext der engen Beziehungen zwischen den Glauchaschen Anstalten und Institutionen der anglikanischen Kirche in London bestand in Halle bereits im frühen 18. Jahrhundert ein ausgeprägtes Interesse am Erlernen der englischen Sprache. V gl. dazu Alexander Schunka: In usum Angliae. Engländer, englische Sprache und Englischunterricht an den Franckeschen Anstalten im frühen 18. Jahrhundert. In: Halle als Zentrum der Mehrsprachigkeit im langen 18. Jahrhundert. Hg. v. Mark Häberlein u. Holger Zaunstöck. Halle 2017, 139–155. 64 AFSt/M 4 C 5 : 6, P. Brunnholtz an F.M. Ziegenhagen und G.A. Francke, 10.03./16.03.1752. 65 AFSt/M 4 C 5 : 6, P. Brunnholtz an F.M. Ziegenhagen und G.A. Francke, 10.03./16.03.1752. 66 Johann Friedrich Handschuch notierte unter dem 13. März 1752 in seinem Tagebuch, er habe „Herrn Schleydorn“ besucht, um „seine 2 abzureisenden Söhne noch einmahl zu sehen und ihnen noch eine Vermanung mit zu geben“ AFSt/M 4 H 10 : 6, J.F. Handschuch, Diarium aus Germantown 1752/53. 67 Vgl. Wellenreuther, Heinrich Melchior Mühlenberg [s. Anm. 7], 475.
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H[erre]n Predigern erwiesen, was geschehen kann. Ob aber dis angehen könne davon sollte fast zweifeln, weil beyde Eltern im Leben sind. […] Wie man das Kind hier wird sicher fortbringen, liegt uns auch noch an. Da es ja fast nicht mögl[ich] ist, es allein zu senden.68
Trotz dieser Bedenken organisierten die Mitarbeiter der Londoner Hofkapelle die Weiterreise, denn einige Tage später schrieb Albinus nach Halle, dass der Junge „vergangenen Montag am Board eines Hamburg[ischen] Schiffes embarquirt und an den Kaufmann H[err]n Maschmann addressirt sey“.69 In einem Schreiben nach Pennsylvania bestätigte Gotthilf August Francke Ende Juli 1752, dass der Junge im Vormonat wohlbehalten eingetroffen sei, und bat die Pastoren, dessen Vater seinen Dank für die Unterstützung zu übermitteln, die er ihnen bislang gewährt hatte. Was die Entsendung des jungen Amerikaners nach Halle betraf, äußerte er jedoch auch deutliche Kritik: Es sei „gleichsam wieder die Grundgesetze der Anstalten“, das Kind „eines noch lebenden und noch nicht gantz und gar verarmten Vaters“ in das Waisenhaus aufzunehmen, zumal Francke derartige Empfehlungen „der besten Freunde, ja mancher vornehmer Gönner“ häufig abschlägig bescheiden müsse. Die pennsylvanischen Pastoren hätten zudem nicht bedacht, dass im Waisenhaus ganz andere Bedingungen herrschten als in den höheren Schulen der Anstalten. Während in der Lateinschule drei bis vier Schüler bei einem Präzeptor wohnten, der sich ihnen intensiv widmen konnte, hatte ein Waisenpräzeptor für bis zu 50 Kinder zu sorgen und konnte daher nicht jedem die nötige Aufmerksamkeit widmen. Zudem sei zu bedenken, d aß bey der Menge der Waysenkinder […] dieselbe viel genauer eingeschrenckt werden müssen, auch nicht leicht möglich einem oder dem andern […] einige sonst unschädliche Freyheit zu verstatten, welches zwar bey denen meist armen Bauer=Kindern wohl noch angehet, einem solchen schon etwas zarter und freyer erzogenen Kinde aber, das ohne dem bey solchen zarten Jahren so weit von seinen Eltern entfernet worden, gar zu schwehr geworden seyn und sein Gemüth sehr niedergeschlagen haben würde.70
Aus diesen Erwägungen heraus habe Francke den Jungen auf eine Stube mit vier Schülern, „da nicht nur ein guter Praeceptor sondern auch gantz artige Schüler sind, bringen lassen“ und wollte „ihm auch das Logis, Holtz und Licht, aus besonderer Liebe ebenso frey geben“ wie „den freyen Abendtisch im Waysenhause“. Lediglich für die Mittagsmahlzeit wurde ein finanzieller Beitrag der Eltern erwartet. Bereits die ersten Erfahrungen mit dem Jungen hätten gezeigt,
AFSt/M 4 H 12 : 15, S.Th. Albinus an S.A. Fabricius, Kensington, 15.05.1752. AFSt/M 1 D 2 : 56, S.Th. Albinus an S.A. Fabricius, Kensington, 22.05.1752. 70 Korrespondenz Heinrich Melchior Mühlenbergs. Bd. I [s. Anm. 21], I (Nr. 122), 526f., G.A. Francke an H.M. Mühlenberg, P. Brunnholtz und J.F. Handschuch, 31.07.1752 (Zitate 527). 68 69
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dass er hinsichtlich der Unterkunft und Verpflegung gewisse Ansprüche stellte: Als man ihn anfangs übergangsweise auf eine Stube mit acht Kindern gebracht habe, habe er „hertzlich geweinet weil ihm solches schon zu beschwerlich vorgekommen“ sei; und „bey den Waysenkindern“ wäre es hinsichtlich der Verköstigung „für ihn zu schlecht […], weil die Waysenkinder nicht allein […] kein Bier, sondern auch nur einmal in der Woche Fleisch und niemals Braten bekommen“.71 Franckes Bemerkungen zur „zarten“ und „freien“ Erziehung des Zehnjährigen in Nordamerika und zu dessen Reaktionen auf die Unterbringung und Verpflegung in den Glauchaschen Anstalten legen die Vermutung nahe, dass Heinrich Schleydorn dort eine Art Kulturschock erlebte. Im April 1753 übermittelte Peter Brunnholtz Gotthilf August Francke seine „demüthigste Danksagung“ für die Aufnahme und Versorgung des Jungen in Halle. Die lutherischen Prediger in Pennsylvania würden ebenso wie Schleydorns Vater dankbar anerkennen, dass sich Francke „des Knabens gantz besonders annehmen wollen.“ So wie dieser bereits „manchen Kindern, deren Eltern noch am Leben gewesen, viele vaterliche Güte und Liebe erwiesen“ habe, so vertrauten die Pastoren darauf, dass er nunmehr sein „mildes herz gegen bedurftige auch gegen diesen Americaner nicht verschließen“ werde. Der ältere Heinrich Schleydorn werde zunehmend „alt und gebrechlich“ und sei zuletzt fünf Monate lang „bettlägerig geweßen“, so dass er seine Zuckersiederei, die ohnehin kaum noch Gewinn abwerfe, nicht weiterbetreiben konnte.72 Seine älteste Tochter Maria, die Frau des reformierten Pastors Michael Schlatter, habe er überdies „mit ihrer Haußhaltung, bey den grosen troublen des Herrn Slatters fast allein unterhalten müßen“. Brunnholtz spielte damit auf die Widerstände an, auf die Schlatter nach seiner Rückkehr von einer Europareise in seiner ehemaligen Gemeinde in Philadelphia wie auch im Coetus der reformierten Geistlichen Pennsylvanias gestoßen war.73 Schleydorn ältester Sohn Johannes habe obendrein „eine unglükliche See Reise gethan, die Herrn Schleydorn bey 700 Pfund gekostet“ habe, und „verschiedene 100 Pfund Schulden so er einzufordern gehabt, sind Ihm auch verloren gegangen.“ Unter diesen Umständen möge Francke den pennsylvanischen Pastoren ihr „dreistes Ansuchen“ nachsehen. Der junge Heinrich Schleydorn wisse im Übrigen nichts von den Schwierigkeiten seines Vaters; daher sei auch nicht verwunderlich, „daß er bald mit dem Tisch bald mit andern Dingen höher hinaus will“ – also besondere Ansprüche stellte. Brunnholtz ersuchte Francke, dem Jungen „kein Gehör in solchen Forderungen geben zu laßen die mit des Vaters Umständen nicht übereinkommen“. Der Vater werde demnächst einen Wechsel zur Bestreitung der Unterhaltskosten ausstellen, und der Inspektor der
71 Korrespondenz Heinrich Melchior Mühlenbergs. Bd. I [s. Anm. 21], I (Nr. 122), 526f., G.A. Francke an H.M. Mühlenberg, P. Brunnholtz und J.F. Handschuch, 31.07.1752, 528. 72 AFSt/M 4 C 6 : 22, P. Brunnholtz an G.A. Francke, 17.04.1753. 73 Vgl. Glatfelter, Pastors and People [s. Anm. 1], I, 118.
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Glauchaschen Anstalten möge bei nächster Gelegenheit seine Jahresrechnung übersenden.74
3. Enttäuschte Erwartungen: Heinrich Schleydorn Junior in Halle Tatsächlich war die Unterbringung seines Sohnes in den Glauchaschen Anstalten für den älteren Heinrich Schleydorn ziemlich teuer. Gotthilf August Francke informierte Peter Brunnholtz in einem im März 1754 verfassten Brief, dass der presbyterianische Prediger Gilbert Tennent während einer Englandreise, bei Hofprediger Friedrich Michael Ziegenhagen „das von dem Herrn Schleydorn empfangene Geld für seinen lieben Sohn richtig abgeliefert“ habe. Nachdem Francke bereits zuvor die Begleichung der bis Ende Dezember 1753 für den Jungen getätigten Auslagen in Höhe von gut 85 Reichstalern „aus der hiesigen Rechnung der eingelaufenen Wohlthaten für Pensylvanien“ angeordnet hatte, s o habe denn die 8 Pfund 13 Schilling Sterling welche der Herr Tennent in London bezahlt nebst 2 Reichstalern an Silber Geld, die in des Herrn Schleydorns Briefe an seinen lieben Sohn beigelegt gewesen, und welche nicht in natura anher geschickt werden können, mit 51 Reichsthalern 10 guten Groschen 3 Pfennigen zu Bestreitung der künftigen Kosten an den Herrn Inspector Crusius, der die Rechnung führet, auszahlen laßen. Die ersten 85 Reichstaler 2 guten Groschen 9 Pfennige hätte also der Herr Schleydorn zu der dortigen Collecten=Caße zu restituiren.75
Francke drückte sein Bedauern darüber aus, dass er Schleydorn in finanzieller Hinsicht nicht weiter entgegenkommen könne, zumal die bisherigen Erfahrungen mit dessen Sohn gezeigt hätten, „daß bey seiner Zärtlichkeit seine Gesundheit bey einem schlechtern Tisch mögte Schaden gelitten haben“. Für welchen künftigen Beruf der Junge sich eignete, vermochte Francke zu diesem Zeitpunkt noch nicht zu beurteilen: enn er nicht beym Studiren bleiben solte, dürfte er sich bey seiner Munterkeit zur W Kaufmannschaft am besten schicken. Es käme aber darauf an, daß man des Herrn Vaters intention und Absichten näher wüste, da man denn mit dem sohne näher reden, und seine inclination, zu welcher Lebensart er am meisten Lust hätte, erforschen und dem Herrn Vater Nachricht davon geben könte.76
AFSt/M 4 C 6 : 22, P. Brunnholtz an G.A. Francke, 17.04.1753. AFSt/M 4 C 7 : 5, G.A. Francke an P. Brunnholtz, 08.03.1754. Vgl. auch AFSt/M 4 G 2 : 149 sowie Wilson, Pious Traders in Medicine [s. Anm. 6], 122 Anm. 70. 76 AFSt/M 4 C 7 : 5, G.A. Francke an P. Brunnholtz, 08.03.1754. 74 75
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In Halle war man zudem bemüht, finanzielle Unterstützung für den Jungen von dessen in Deutschland lebenden Verwandten zu erhalten. Aus Peine, dem Herkunftsort der Familie Schleydorn, erhielt Gotthilf August Francke jedoch Ende Januar 1754 die Nachricht, dass die „Muhme“ des Jungen verstorben sei und dessen übrige Verwandte „als unbemittelte (auch nur irrdisch gesinnte) Leute, den kleinen americanischen Vetter zwar wohl gerne sehen, solcher wegen aber wohl nichts anwenden möchten“, ihn also nicht unterstützen würden.77 Unterdessen verschlechterte sich auch die wirtschaftliche Situation der Familie in Pennsylvania, wie Mühlenberg im Frühjahr 1754 dem Adjunkten der Londoner Hofkapelle, Samuel Theodor Albinus, berichtete: nser alter treuer Freund, Mitstreiter und Mitleider der H. Schleydorn eilet auch U mit geschwinden Schritten der Ewigkeit zu. In diesem vergangenen Winter, war er so elend, daß wir uns seines Lebens versahen. Sein ältester Sohn machet ihm viel Kummer und will nicht gerathen, und wegen des jüngern in Halle ist er auch bekümmert, weil er die Kosten nicht mehr aufbringen und ihn länger daselbst halten kan. Dieweil seine continuirliche und schwehre Krankheiten ihn den Herrn Schleydorn untüchtig zu seinen Geschäften machet[,] folglich nichts verdienen u. es nicht aushalten kann. Wenn der Knabe könte in die Apotheca aufgenommen, oder auf einigen Weg employirt, und die Kosten vermindert werden, so solte es ihm sehr lieb seyn.78
Nach dem Tod des Zuckersieders hielt Mühlenberg 1760 rückblickend fest, dass wachsende Konkurrenz, Krankheit und unzuverlässige Arbeitskräfte Heinrich Schleydorn Senior geschäftlich ruiniert hätten: ie Krieges Zeiten brachen seinen vortheilhafften Handel: vornehmere Englische D Herren setzten größere Zucker=Siederey auf, und minderten den Preiß, und seinen Profit; das schmertzhaffte Podagra etc. hielt ihn offt Monathe, viertel= ja halbe Jahre auf dem Bette gefangen, da in deßen seine Nigers, Domestiquen und Arbeits-Leute, viel versäumten, ja wol gar entwendeten, weil er nicht bey ihnen seyn konte. Kurtz, es neigete sich stuffen weise zum Ruin.79
Seit dem Sommer 1754 machte man sich auf beiden Seiten des Atlantiks intensive Gedanken darüber, welchen beruflichen Weg der junge Heinrich Schleydorn nach Beendigung seiner Schulzeit in den Glauchaschen Anstalten einschlagen sollte. Mühlenberg zufolge war es an der Zeit, „auf fernere Messures zu denken und genauer zu bestimmen“, auf welche Weise „er seinem Vater77 AFSt/M 4 C 7 : 6, Auszug eines Briefs von J. Kirchner an G.A. Francke, Peine, 28.01.1754. Vgl. auch AFSt/M 4 C 7 : 5, G.A. Francke an P. Brunnholtz, 08.03.1754, Postskriptum. 78 Korrespondenz Heinrich Melchior Mühlenbergs. Bd. II [s. Anm. 10], 122f. (Nr. 145), H.M. Mühlenberg an S.Th. Albinus, 14.03.1754. 79 Korrespondenz Heinrich Melchior Mühlenbergs. Bd. II [s. Anm. 10], 423 (Nr. 195), H.M. Mühlenberg an G.A. Francke und F.M. Ziegenhagen, 09.10.1760.
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lande nützlich, und seine künftige leibliche Wohlfart befördert werden mögte“. Der Vater des Jungen dachte Mühlenberg zufolge an eine medizinische Ausbildung; diese sei allerdings so zu gestalten, „daß er in den Englischen Colonien brauchbar werden mögte. Die Methode, Theorie und Practique ist aber unter den Engländern anderst wie unter den Teutschen“, erläuterte er weiter. Ärzte in den britischen Kolonien in Nordamerika verfügten gleichermaßen über eine chirurgische Ausbildung, über pharmazeutische und chemische Kenntnisse, die sie in die Lage versetzten, Arzneien für äußere und innere Krankheiten selbst herzustellen, und über ein Medizinstudium. In englischen Doktoren fände man daher „einen Bader, Chirurgam, Apothecar, Chymicum und Medicum proprie […] coagulirt“, und die ganze Ausbildung sei für einen lateinkundigen jungen Mann innerhalb von drei Jahren mit einem Kostenaufwand von etwa 100 Pfund zu bewerkstelligen. Da alle Prediger in Pennsylvania wünschten, „daß aus der Americanischen Pflantze ein tüchtig Instrument in der rechten Medicin für America werden mögte“, die für eine medizinische Ausbildung in BritischNordamerika nötigen finanziellen Mittel aber fehlten, hofften sie auf ein weiteres Engagement Halles: Mühlenberg regte an, dass Heinrich Schleydorn bei einem Chirurgen in die Lehre gegeben werden, anschließend in der Waisenhausapotheke der Glauchaschen Anstalten unterwiesen werden und zuletzt Medizin studieren sollte. Auf diese Weise könnte er „seinem Vaterlande nützlich, seiner Familie erfreulich, als eine Zierde der gesegneten Anstalten zurück kommen und in allem Gottes Ehre und seine Wohlfahrt befördern“. Einmal mehr machte er hier also das Argument geltend, dass dieses Ausbildungsprojekt auch den Ruhm der Glauchaschen Anstalten befördern würde. Abschließend drückte Mühlenberg seine Hoffnung aus, dass Schleydorn gemeinsam mit dem Sohn des Pastors Boltzius auch „das Englische fleißig üben und nicht vergeßen möge“.80 Damit machte er zugleich auf den Umstand aufmerksam, das sich neben dem jungen Schleydorn seit 1753 ein zweiter „Amerikaner“ in Halle aufhielt: Gotthilf Israel Boltzius, der 1739 geborene Sohn des in der Salzburger-Gemeinde Ebenezer in Georgia wirkenden Pfarrers Johann Martin Boltzius.81 Samuel Theodor Albinus verfasste im Oktober 1754 in London einige Anmerkungen zu Mühlenbergs Brief, in denen er sich ausführlich mit dessen Vorschlag auseinandersetzte, Heinrich Schleydorn zum Apotheker ausbilden zu 80 Korrespondenz Heinrich Melchior Mühlenbergs. Bd. II [s. Anm. 10], 423 (Nr. 195), H.M. Mühlenberg an G.A. Francke und F.M. Ziegenhagen, 09.10.1760, 220f. (Nr. 152), H.M. Mühlenberg an G.A. Francke, 26.7.1754; vgl. auch Wilson, Pious Traders in Medicine [s. Anm. 6], 119, die Mühlenbergs Schreiben folgendermaßen beurteilt: „Mühlenberg, who had left Halle almost fifteen years earlier, probably still referred to the medical curriculum that did not yet feature surgery but was restricted to the classical course (physiology, materia medica, natural philosophy, dietetics, and anatomy), but in most other respects, this was an astute judgment of necessary qualifications and reflects consideration of American needs beyond empirical training or apprenticeship.“ 81 Korrespondenz Heinrich Melchior Mühlenbergs. Bd. II [s. Anm. 10], 80 Anm. 69 u. 221 Anm. 3.
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lassen. Zunächst ging er auf die ungünstige finanzielle Situation der Familie ein: „Daß der Vater dieses jungen Menschen seit einigen Jahren grossen Verlust gehabt, und nicht viel in Bonis habe, solches habe auch von andern mit betrübniß vernommen.“ Zugleich betonte Albinus, dass man gegenüber dem Vater in der Pflicht stehe angesichts „der herzlichen Liebe, die er an den pensylvanischen Brüdern bewiesen“ habe. Allerdings sei zu überlegen, ob es „nicht zuträglicher seyn möche, daß er in London zu einem teutschen Apotheker in die lehre gethan würde, der gute praxin hätte“. Bei diesem könne der junge Schleydorn „nicht nur den ersten Grund in der Chimie u. Apotheker Kunst legen, sondern auch in der Chirurgie angewiesen werden, weil beyde Stücke hier von einem Apotheker gefordert werden“. Außerdem
hätte er Gelegenheit bey den vielen Recepten die von engl., deutschen, holländi-
schen etc. Doctoribus eingesandt werden, die gar verschiedenen Methodos zu tractiren, kennen zu lernen, weil die hiesigen Doctores ihre patienten wenig besuchen, sondern das ist das Geschäft der Apotheker, die reportiren müssen wie sie die patienten von Tage zu Tage finden[,] nach welchem der Doctor dann sein Consilium einrichtet, u. die Mittel verschreibt. Daher es denn komt, daß einige Apotheker, die mehrere Jahre hier sind, u. sich appliciren für geschickter gehalten u. mehr gebraucht werden als die Doctores selbst.
Ferner könne Schleydorn auf diesem Wege „die teutsche u. englische Sprache bey behalten u. in letzterer sich noch mehr habilitiren“. Und schließlich könne Schleydorn nach dem Ende seiner Lehrzeit, die gewöhnlich sieben Jahre betrage, mit seinem Lehrherrn vereinbaren, dass er zwei Tage pro Woche die Hospitäler besuchen dürfe, „wo er Gelegenheit hätte viele operationes chirurgicas etc. zu sehen u. zu üben“. Eine Lehre in London koste zwar in der Regel 100 bis 200 Pfund Sterling, doch sei zu hoffen, „daß sich schon jemand finden würde, der ihn gratis zu sich nehme, wenn man ihm die Umstände bekannt machte.“82 In einem Memorandum zu verschiedenen Pennsylvania betreffenden Angelegenheiten hielt der Inspektor der Glauchaschen Anstalten, Sebastian Andreas Fabricius, diesen Vorschlag fest. Sollte er sich nicht realisieren lassen, könne Schleydorn allerdings auch in die Apotheke des Waisenhauses gegeben werden, wo er „in der Apothecker Kunst was gründliches lernen,“ weiteren Lateinunterricht erhalten und sich auf eine Ausbildung zum Chirurgen vorbereiten könne.83 Gotthilf August Francke wog Mühlenbergs und Albinus’Vorschläge gegeneinander ab und entschied sich schließlich für eine Ausbildung in den Glauchaschen Anstalten: Eine Lehre bei einem örtlichen Barbier und Chirurgen, schrieb er Mitte Januar 1755 an die Prediger in Pennsylvania, sei zwar nicht zweckdienlich, weil er dort kaum mehr lernen würde, „als einen Bart zu butzen“; aber wenn er AFSt/M 4 C 7 : 6; vgl. Wilson, Pious Traders in Medicine [s. Anm. 6], 120. AFSt/M 4 C 7 : 21.
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noch ein halbes oder ganzes Jahr lang die Lateinschule besuche, sei eine kostenlose Ausbildung möglich.84 Zwei Monate später bestätigte Francke in einem weiteren Brief nach Pennsylvania, dass sich mittlerweile „eine Gelegenheit“ zur Ausbildung Schleydorns in der Waisenhausapotheke ergeben habe – und zwar auf Kosten der Anstalten: I ch habe aus besonderer Liebe zu seinem H. V ater verordnet, daß er während seinen Lehr=Jahren in allem frey gehalten werden solle, wie die, so von den orphanis genommen werden; […] und kommt er ihm also von der Zeit an, da er in die Lehre tritt völlig aus den Kosten, ausser was etwa auf einen fernern Unterricht im Lateinischen, der ihm in Nebenstunden von einem Studioso gegeben werden soll, zu verwenden seyn wird, welches ein weniges betragen wird. […] Die ordentliche und gewöhnliche Zeit, die ein Lehrling zu stehen hat, ist 6. Jahre, welche auch wohl erfordert werden, wenn einer etwas gründliches in der Apothecker=Kunst erlernen soll, wozu er in unserer Apothecke hinlängliche Gelegenheit haben wird.85
Heinrich Melchior Mühlenberg hatte in Unkenntnis dieser Entscheidung im Februar und Mai 1755 nochmals nach London geschrieben, um Albinus um Unterstützung seines Anliegens zu bitten, und dabei eindringlich auf die wirtschaftlichen Schwierigkeiten des älteren Heinrich Schleydorn hingewiesen, der inzwischen sogar darüber nachdenke, nach Ebenezer in Georgia zu ziehen, um dort „seine letzten Stunden zur Ehre Gottes und Erbauung der Seelen bey nothdürfftiger Nahrung zuzubringen“.86 Als er im Spätjahr die positive Nachricht aus Halle erhielt, zeigte sich Mühlenberg sehr erleichtert, dass Francke seine und Schleydorns Bitte „gütigst erhöret“ habe, und fügte hinzu, dass er daran denke, auch seinen ältesten Sohn Johann Peter Gabriel zur Ausbildung nach Halle zu schicken. Er sei diesbezüglich „aber scheu, weil der junge Schleydorn bereits zur Last worden ist“.87 Zu diesem Zeitpunkt betrachtete man die Ausbildung der Sprösslinge einflussreicher Lutheraner in Pennsylvania in den Glauchaschen Anstalten offenbar als Erfolgsmodell. Auf Mühlenbergs Überlegungen, seinen ältesten Sohn ebenfalls nach Deutschland zu senden, reagierte Francke im Juni 1756 jedenfalls ausgesprochen positiv: So wie er den jungen Schleydorn gerne in Halle aufgenommen habe, der sich „bey Erlernung der Apothecker=Kunst noch wohl
84 Korrespondenz Heinrich Melchior Mühlenbergs. Bd. II [s. Anm. 10], 231 (Nr. 156), G.A. Francke an die Prediger in Pennsylvania, 14.01.1755. 85 Korrespondenz Heinrich Melchior Mühlenbergs. Bd. II [s. Anm. 10], 236f. (Nr. 158), G.A. Francke an die Prediger in Pennsylvania, 15.03.1755. 86 Korrespondenz Heinrich Melchior Mühlenbergs. Bd. II [s. Anm. 10], 233 (Nr. 157), H.M. Mühlenberg am S.Th. Albinus, 18.02.1755; ebd., 243 (Nr. 159), ders. an dens., 29.05.1755 (Zitat 243). 87 Korrespondenz Heinrich Melchior Mühlenbergs. Bd. II [s. Anm. 10], 277 (Nr. 165), H.M. Mühlenberg an G.A. Francke, 02.12.1755.
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verhält und gute Application beweiset“, so sei auch gerne bereit, Mühlenbergs Ältesten „unter die eigentliche orphanos aus besonderer Liebe aufzunemen“.88 Zu diesem Zeitpunkt stand Francke auch mit Heinrich Schleydorn Senior in Philadelphia in Briefkontakt. Im September 1755 teilte er diesem mit, dass er seinen Sohn in die Obhut des Provisors Schulenburg in der Waisenhausapotheke übergeben habe. Der mittlerweile Dreizehnjährige habe „von Anfang zu der Sache gute Lust bezeiget, und sich bis hierhin wohl verhalten und gut drein gefunden“. In der Apotheke der Glauchaschen Anstalten herrschten günstige Voraussetzungen, um „in die Apothecker-Kunst was rechtes zu thun, als wohl nicht leicht in vielen Apothecken seyn dürfte“. Eine Gelegenheit zur weiteren medizinischen Ausbildung werde sich ebenfalls finden. Möglicherweise könne der junge Heinrich „auch auf einem von den Krankenpflegen des Waysenhauses gebraucht und bey solcher Gelegenheit, unter Anführung erfahrner Männer in der praxi geübt werden“. Falls er später in Amerika eine medizinische Praxis aufnehmen wolle, werde er zweifellos davon profitieren. Francke betonte nochmals, dass die Ausbildung in der Waisenhausapotheke kostenfrei sei.89 Dieser Brief muss sich mit einem Schreiben überkreuzt haben, das der ältere Heinrich Schleydorn im Oktober 1755 aus Philadelphia nach Halle schickte und in dem er sich überschwänglich für Franckes Bereitschaft bedankte, seinen jüngsten Sohn kostenfrei in der Apotheke der Glauchaschen Anstalten ausbilden zu lassen.90 Im Sommer 1756 schrieb Francke an Schleydorn, dass dessen Sohn sich als Lehrling in der Apotheke der Glauchaschen Anstalten bislang „gut applicirt“ habe und somit Anlass zur Hoffnung bestehe, „daß er etwas gründliches von der Apotheker-Kunst erlernen werde, und damit in America, oder wohin ihn Gott sonst führen wird, künftig Gott und dem Nächsten dienen und seinen Unterhalt finden könne“. Er bedauere lediglich, dass dessen Lateinunterricht nicht die erhofften Fortschritte machte, „indem zu wenig zeit für einen Lehrling dazu übrig bleibt“.91 Schleydorn würdigte in einem Antwortschreiben vom Dezember 1756 Franckes „väterliche Sorge“ für seinen Sprössling,92 woraufhin Francke im Sommer des folgenden Jahres weitere positive Nachrichten über den Atlantik schickte: ie nun der treue Gott ihn bis hierhin in seinen Lehrjahren bey guter gesundheit W erhalten und ihn regieret, daß er sich ganz wohl betragen: so lebe ich der Hoffnung,
88 Korrespondenz Heinrich Melchior Mühlenbergs. Bd. II [s. Anm. 10], 294 (Nr. 169), G.A. Francke an H.M. Mühlenberg, 24.06.1756. 89 AFSt/M 4 C 8 : 14, G.A. Francke an H. Schleydorn Sen., Halle, 16.09.1755; vgl. Anhang, Nr. 1. 90 AFSt/M 4 C 8 : 18, H. Schleydorn Sen. an G.A. Francke, Philadelphia, 08.10.1755; vgl. Anhang, Nr. 2. 91 AFSt/M 4 C 9 : 49, G.A. Francke an H. Schleydorn Sen., Halle, 15.07.1756; vgl. Anhang, Nr. 3. 92 AFSt/M 4 C 9 : 50, H. Schleydorn Sen. an G.A. Francke, Philadelphia, 20.12.1756; vgl. Anhang, Nr. 4.
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er werde ferner seinen Segen geben, daß er was tüchtiges lerne und zubereitet werde, nicht nur seinen Unterhalt zu erwerben, sondern auch seinem Nächsten nüzliche dienste zu thun.93
Dieser Brief erreichte Heinrich Schleydorn Senior aufgrund der durch den Siebenjährigen Krieg (1756–1763) bedingten Verzögerungen im transatlantischen Postverkehr allerdings erst Anfang 1759. Zweieinhalb Wochen später griff der alternde pennsylvanische Kaufmann nochmals zur Feder, um seinen widerstreitenden Emotionen Ausdruck zu verleihen. Er sei zwar durch Franckes positive Nachrichten über die Entwicklung seines Sohnes „sehr erfreuet worden“, schrieb er, doch betrübe ihn der Umstand, dass dessen Lehrzeit bald beendet sei und ihm wegen seiner langwierigen Krankheit und der kriegerischen Zeitläufte – „die große verwüstung und der mord, die durch die Wilden hin und wieder auf den Grenzen geschehen ist, hat fast alles in verwürrunge gebracht“ – neben der „Apothequer Kunst“ auch noch in Medizin und Chirurgie ausbilden zu lassen. Daher bat er Francke inständig, seinen Sohn weiterhin zu unterstützen.94 Einige Monate später, am 8. September 1759, starb der ältere Heinrich Schleydorn.95 Mühlenberg zufolge hatte er bis zuletzt große Hoffnungen in seinen jüngeren Sohn gesetzt: „Er pflegte bisweilen zu sagen, wenn ich auch alles verliehren sollte, so hoffe doch meinen Sohn Heinrich nicht zu verliehren. […] und was meinen verlohrnen Sohn Heinrich betrifft sprach er, so hat er in den gesegneten Anstalten, von, und unter so vielen würdigen Vätern in Christo den gantzen Rath Gottes von der Seligkeit reichlich gehöret.“96 Im Juni 1758 hatte sich Francke gegenüber Mühlenberg noch verhalten positiv über den jungen Schleydorn geäußert: „Wenn man einigen Unverstand, der absonderlich von der Ambition hergekommen, ausnimmt, so hat er sich bisher noch wohl verhalten, und sich sonst auf sein Metier ganz gut applicirt“;97 und Anfang März 1759 dachte Mühlenberg in einem Brief nach Europa darüber nach, dass ein in Halle ausgebildeter Mediziner und Chirurg, der sich erfolgreich in Philadelphia etabliert habe, dort auch den Absatz von Medikamenten aus der Apotheke des Waisenhauses, die sich insbesondere unter den deutschen Siedlern in Pennsylvania reger Nachfrage erfreuten, organisieren könne.98
AFSt/M 4 C 9 : 21, G.A. Francke an H. Schleydorn Sen., Halle, 15.08.1757; vgl. Anhang 5. AFSt/M 4 C 10 : 10, H. Schleydorn Sen. an G.A. Francke, Philadelphia, 20.03.1759; vgl. Anhang, Nr. 6. 95 Das Todesdatum findet sich bei: Korrespondenz Heinrich Melchior Mühlenbergs. Bd. II [s. Anm. 10], 435 Anm. 68. 96 Korrespondenz Heinrich Melchior Mühlenbergs. Bd. II [s. Anm. 10], 423f. (Nr. 195), H.M. Mühlenberg an G.A. Francke und F.M. Ziegenhagen, 09.10.1760. 97 Korrespondenz Heinrich Melchior Mühlenbergs. Bd. II [s. Anm. 10], 342 (Nr. 183), G.A. Francke an H.M. Mühlenberg, 22.06.1758. 98 Korrespondenz Heinrich Melchior Mühlenbergs. Bd. II [s. Anm. 10], 373 (Nr. 186), H.M. Mühlenberg an F.M. Ziegenhagen und G.A. Francke, 03.03.1759. Zum Export Hallescher Medikamente nach Nordamerika vgl. Wilson, Pious Traders in Medicine [s. Anm. 6], 132–147. 93 94
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Doch zu diesem Zeitpunkt hatte sich die Lage in Halle bereits grundlegend verändert. Im Januar 1759 informierte Francke Johann Friedrich Handschuch, „daß der junge Schleydorn bisher manche Ausbrüche seines zu Ausschweifungen geneigten Gemüts gezeiget“ habe. Der Heranwachsende habe zunehmend die Neigung erkennen lassen, „sich in der Welt hervor zu thun“; so habe er davon gesprochen, wie sein älterer Bruder zur See zu fahren oder sogar nach Ostindien zu reisen. Er habe seinen Ausbildungsplatz bereits im Vorjahr einmal wegen „einer in der Apothecke vorgegangenen Unordnung“ verlassen, sich dann jedoch überreden lassen, seine Arbeit dort wieder aufzunehmen. Später habe er eine ausgeprägte Neigung „zum familiären Umgang mit dem sexu sequiori“ erkennen lassen und Kontakt mit Frauen gesucht. Schließlich habe man vor kurzem die Nachricht erhalten, dass er gesinnt sei, „sich von den Husaren, die hier jetzo einen Werbe=Platz und sehr grossen Zulauf auch von Studiosis haben, anwerben zu lassen“.99 Francke berichtete weiter, dass der Inspektor Fabricius den Jungen noch einbestellt habe, um ihn umzustimmen. Dieser habe jedoch die Intention des Inspektors erahnt und „sich sogleich aus der Apothecke weggeschlichen und zu den Husaren begeben“, die ihn als Unteroffizier rekrutiert hätten. Francke beteuerte, dass es gewiss „nicht an guten Ermahnungen und Zuspruch“ gefehlt habe. Handschuch sollte diese Nachricht dem kranken Vater des jungen Mannes möglichst schonend beibringen.100 In London reagierte Ziegenhagens Mitarbeiter Friedrich Wilhelm Pasche „sehr betrübt“ auf die Nachricht, dass der junge Schleydorn sich dem Militär angeschlossen habe, „denn wer unter die Husaren sich freywillig begiebt“, schrieb er an den Inspektor des Waisenhauses in Halle, Sebastian Andreas Fabricius, „der muß gewiß alle gute und christliche Zucht haßen, und entschloßen seyn ein wildes, zügelloses, dazu barbarisches Leben zu führen und sich in die Hölle zu stürtzen“. Dieser Einschätzung fügte er den Wunsch hinzu, „daß der junge Bolzius es sich zur Warnung dienen laßen möge“.101 Francke indessen zog Ende 1759 gegenüber Mühlenberg eine ernüchterte Bilanz: Das Projekt, einen in der Halleschen Medizin erfahrenen Praktiker nach Pennsylvania zu senden, sei vorerst gescheitert, weil e s mit dem gedachten jungen Schleydorn, aller angewandten Sorgfalt unerachtet, leider nicht gelingen wollen, da er gäntzlich umgeschlagen und so weit verfallen ist, daß er endlich davon gegangen und sich unter den Husaren anwerben lassen, seit welcher Zeit man aller Erkundigung unerachtet nichts gewisses weiter von ihm vernehmen können, und also nicht weiß, wo der arme Mensch ist und wie es ihm gehet.
AFSt/M 4 C 10 : 7, G.A. Francke an J.F. Handschuch, 24.01.1759. AFSt/M 4 C 10 : 7, G.A. Francke an J.F. Handschuch, 24.01.1759. 101 AFSt/M 1 D 6 : 29, F.W. Pasche an S.A. Fabricius, Kensington, 13.02.1759. 99
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Es sei zwar durchaus möglich, früher oder später eine andere Person zu finden, die bereit sei, „als Medicus nach Pensilvanien zu gehen“; doch zögere Francke, dieses Projekt konkret weiterzuverfolgen, da ihm derzeit „kein solches Subiectum bekannt“ sei und ihm „noch verschiedene Schwierigkeiten dabey im Gemüthe“ seien.102 Aus einem langen Schreiben Mühlenbergs an Francke und Ziegenhagen vom Herbst 1760 geht hervor, wie diese Nachricht von der Familie Schleydorn aufgenommen wurde. Der Pastor berichtet darin, dass Schleydorns Mutter nach dem Tod ihres Mannes eine Woche lang bei ihm zu Gast gewesen sei und im Gespräch mit ihm ihr Bedauern darüber ausgedrückt habe, dass ihr Sohn den Leitern der Glauchaschen Anstalten „so viel Sorge, Mühe und Kosten gemacht“ und ihnen, statt Dankbarkeit zu zeigen, nur „Hertzeleid und Ärgerniß verursachet“ habe. Dass er in die Dienste des preußischen Königs getreten sei, täte ihr allerdings „gar nicht leid; denn wenn sie 20 Söhne hätte, sie wolte sie mit getrostem Muth einem solchen Helden schencken, der sein Leben selber und alles wagete um Gottes und seines Reiches willen.“103 Darüber hinaus berichtete Mühlenberg, wie sein Amtskollege Handschuch mit der Nachricht umgegangen sei, dass der junge Heinrich Schleydorn sich dem Militär angeschlossen habe. Nachdem er das aus Europa eingetroffene Briefpaket von Schleydorns Tochter erhalten habe, sei er in deren Gegenwart zunächst „in hefftige Exclamationes und harte Worte“ ausgebrochen und habe die Husaren unter anderem als „Teufels Kinder“ bezeichnet. Die Tochter habe den Pastor daraufhin inständig gebeten, ihrem schwer kranken Vater nichts davon zu sagen. Auf die drängenden Nachfragen des Vaters hätte es ihm die Tochter schließlich „mit Glimpf“ beigebracht, dass ihr Bruder sich in „des Großen Königs Dienste“ begeben habe, „der für die Sache Gottes stritte, für welchen König er – der Schleydorn – ja alle Tage auf den Knien, und offt mit Thränen gebetet, daß Gott der Allmächtige ihn unterstützen und erhalten mögte“. Der Vater habe diese Nachricht gefasst aufgenommen, aber darum gebeten, Pastor Handschuch zu sprechen. Unterdessen habe bereits in der ganzen Stadt das Gerücht kursiert, „der Henrich hätte gehuret, gestohlen und wäre deswegen Husar worden etc.“ Nach dem Gespräch mit Handschuch sei Schleydorn höchst betrübt und aufgebracht gewesen und kurz darauf verstorben. Als die Witwe daraufhin das Begräbnis ihres Mannes in der anglikanischen Kirche bestellt und Handschuch um die Durchführung der Trauerzeremonie gebeten habe, habe der Pastor dies unter dem fadenscheinigen Vorwand abgelehnt, „daß er das Englische nicht verstünde, und das Teutsche den Englischen nicht gefallen würde.“ Schleydorn sei daraufhin vom anglikanischen Priester unter großer öffentlicher Anteilnahme in Gegenwart von neun Predigern bestattet worden. 102 Korrespondenz Heinrich Melchior Mühlenbergs. Bd. II [s. Anm. 10], 382 (Nr. 188), G.A. Francke an H.M. Mühlenberg, 08.12.1759. 103 Korrespondenz Heinrich Melchior Mühlenbergs. Bd. II [s. Anm. 10], 419 (Nr. 195), H.M. Mühlenberg an G.A. Francke und F.M. Ziegenhagen, 09.10.1760.
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Das unbarmherzige Verhalten seines Kollegen führte Mühlenberg unter anderem darauf zurück, dass Schleydorn sich nach dem Tod von Peter Brunnholtz dafür ausgesprochen hatte, ihn selbst statt Handschuch als Pastor nach Philadelphia zu berufen.104 Während es Elisabeth Schleydorn in bemerkenswert kurzer Zeit gelang, den größten Teil der Schulden ihres Mannes abzuzahlen,105 blieb sie über das Schicksal ihres Sohnes im Ungewissen. „Die Witwe Schleydorn“, schrieb Mühlenberg im August 1761 nach Europa, „wartet noch immer mit schmertzen um etwas von ihrem Sohn Henrich zu hören“.106 Und zu Beginn des Folgejahres teilte er dem Londoner Hofprediger Ziegenhagen mit, Frau Schleydorn frage ihn „ohne Unterlaß, ob noch keine Nachricht von ihrem Sohn Henry eingelauffen, ob er todt oder lebendig sey?“107 Ebenso wenig wie Mühlenberg vermochte Gotthilf August Francke ihr zu helfen: So gerne er der Frau Auskunft über den Verbleib ihres Sohnes geben würde, berichtete er Mühlenberg Ende 1762, so habe er doch „bisher ein weiters nicht von ihm vernemen können.“ Allerdings gab er die Hoffnung noch nicht auf: „Solte sich diesen Winter über eine Gelegenheit zeigen Nachricht einzuziehen durch Officiers, so werde ichs nicht unterlassen.“108 1763 wurde schließlich bekannt, dass Heinrich Schleydorn Junior kurz nach Jahresbeginn im Alter von nicht einmal 21 Jahren an einem „Cachectischen Fieber“ im königlichen Invalidenhaus in London gestorben war.109 Einige Monate nach seinem Tod wurde der junge Mann ein letztes Mal zum Thema der transatlantischen Korrespondenz der Halleschen Pietisten: Friedrich Michael Ziegenhagen schrieb im Oktober 1763 an Mühlenberg, er möge die „traurige Nachricht“ vom tragischen Schicksal des jungen Mannes „der betrübten Mutter auf die behutsamste und gelindeste Weise mittheilen.“110
104 Korrespondenz Heinrich Melchior Mühlenberg. Bd. II [s. Anm. 10], 420f.; vgl. Journals of Henry Melchior Muhlenberg [s. Anm. 10], I, 438f. 105 Korrespondenz Heinrich Melchior Mühlenbergs. Bd. II [s. Anm. 10], 424 (Nr. 195), H.M. Mühlenberg an G.A. Francke und F.M. Ziegenhagen, 09.10.1760. 106 Korrespondenz Heinrich Melchior Mühlenbergs. Bd. II [s. Anm. 10], 482 (Nr. 214), H.M. Mühlenberg an G.A. Francke und F.M. Ziegenhagen, 14.08.1761. 107 Korrespondenz Heinrich Melchior Mühlenbergs. Bd. II [s. Anm. 10], 537 (Nr. 221), H.M. Mühlenberg an F.M. Ziegenhagen, 10.01.1762. 108 Korrespondenz Heinrich Melchior Mühlenbergs. Bd. II [s. Anm. 10], 597 (Nr. 246), G.A. Francke an H.M. Mühlenberg, 22.12.1762. 109 Die Korrespondenz Heinrich Melchior Mühlenbergs aus der Anfangszeit des deutschen Luthertums in Nordamerika. Bd. III: 1763–1768. Hg. v. Kurt Aland. Berlin, New York 1990, 99 Anm. 6. 110 Korrespondenz Heinrich Melchior Mühlenbergs. Bd. III [s. Anm. 109], 98 (Nr. 272), F.M. Ziegenhagen an H.M. Mühlenberg, 21.10.1763.
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Schluss Aus der Retrospektive lassen sich mehrere Gründe ausmachen, warum dieses transatlantische Erziehungsprojekt scheiterte. Mühlenberg und seine Amtskollegen in Pennsylvania hatten sich auf dieses Vorhaben offenbar primär eingelassen, um sich bei ihrem langjährigen Unterstützer Heinrich Schleydorn Senior erkenntlich zu zeigen, und weniger weil sie von der Begabung oder Eignung von dessen Sohn überzeugt gewesen wären. Zudem erlitt der Zehnjährige, der lediglich in Begleitung eines älteren Bruders über den Atlantik geschickt worden war und die Reise von London über Hamburg nach Halle sogar allein antreten musste, in der gänzlich ungewohnten Lebenswelt der Glauchaschen Anstalten offenbar einen Kulturschock. Die Pastoren in Halle, London und Pennsylvania verbanden mit seiner Ausbildung ferner Hoffnungen und Erwartungen, denen er nicht gewachsen war. Als preußische Werbungen ihm inmitten des Siebenjährigen Krieges die Möglichkeit boten, sich der Aufsicht und Kontrolle der Halleschen Pastoren zu entziehen, zögerte er nicht, diese zu ergreifen. Das unrühmliche Ende der Ausbildung des ersten Amerikaners in Halle hielt andere Pietisten in den englischen Kolonien indessen nicht davon ab, ihre Söhne ebenfalls dorthin zu schicken. Der lange Jahre in Ebenezer, Georgia tätigte Johann Martin Boltzius hatte – wie bereits erwähnt – 1753 seinen Sohn in die Obhut der Glauchaschen Anstalten gegeben. Dieser kehrte ebenfalls nicht nach Amerika zurück, sondern blieb zeitlebens in Halle, wo er George Fenwick Jones zufolge heiratete und beträchtliche Schulden anhäufte.111 Pastor Johann Friedrich Handschuch empfahl 1754 den zwölfjährigen Sohn seines Schwagers Bernhard Hubele nach Halle, doch wurde nichts aus dieser Initiative.112 Nachdem Heinrich Melchior Mühlenberg im Frühjahr 1759 in einem Brief nach Halle seine Vorstellungen hinsichtlich der Erziehung seiner Söhne in den Glauchaschen Anstalten dargelegt hatte, schlug der Leiter der Waisenhausapotheke, Inspektor Schulenburg, eine medizinische und pharmazeutische Ausbildung vor. Die Pläne, welche die Pastoren in Halle und Pennsylvania für den jungen Heinrich Schleydorn gehegt hatten, seien zwar gescheitert, doch ändere dies nichts an der Stichhaltigkeit der Argumente für die Entsendung eines nach den Prinzipien der Glauchaschen Anstalten geformten Arztes, der überdies für den Absatz Hallescher Medikamente in der Neuen Welt sorgen könne.113 Nachdem das Ende des Siebenjährigen Krieges 1763 die Gefahren für den transatlantischen Passagiertransport gemildert hatte, konnte Mühlenberg seinen lange gehegten Plan, seine Söhne zur Ausbildung nach Halle zu schicken, endlich umsetzen. Obwohl insbesondere der Älteste, Johann Peter Gabriel (1746–1807), seinem Vater und dessen europäischen Korrespondenzpartnern 111 Vgl. George Fenwick Jones: The Georgia Dutch: From the Rhine and Danube to the Savannah, 1733–1783. Athens, Ga. 1992, 171f. 112 Vgl. Wilson, Pious Traders in Medicine [s. Anm. 6], 121 Anm. 68. 113 Wilson, Pious Traders in Medicine [s. Anm. 6], 121f.
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ebenfalls einigen Verdruss bereitete, verlief dieses Projekt letztlich erfolgreich. Alle drei Mühlenberg-Söhne wurden nach ihrer Rückkehr nach Pennsylvania 1770 als lutherische Pastoren ordiniert, und während nur der Jüngste, Gotthilf Heinrich Ernst (1753–1815), diesem Beruf zeitlebens treu blieb, machten seine beiden älteren Bruder Johann Peter Gabriel, der im Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg zum Brigadegeneral aufstieg, und Friedrich August Conrad (1750–1801), der 1789 zum ersten Sprecher des US-Repräsentantenhauses gewählt wurde, im öffentlichen Leben der jungen amerikanischen Republik Karriere.114 Auch wenn der Aufenthalt des ersten Amerikaners in Halle sich als wenig verheißungsvoll erwiesen hatte, barg die Verbindung zwischen Halle und Pennsylvania demnach doch ein gewisses Potenzial für transatlantische Ausbildungsprojekte.
Anhang: Die Korrespondenz zwischen Heinrich Schleydorn Senior und Gotthilf August Francke 1. G.A. Francke an Heinrich Schleydorn, Halle, 16.09.1755 AFSt/M 4 C 8 : 14 (Entwurf) Mein in dem Herrn sehr wertgeschätzter Herr und Freund, Es wird denenselben von den H. Predigern bereits von Zeit zu Zeit die Nachricht communicirt worden seyn, wie es mit Ihrem lieben Sohn hierselbst gehe; insonderheit werden Sie von denselben den Vorschlag bereits vernommen haben, den ich wegen seiner Aufnahme in die Apothecke des Waysenhauses gethan. Nachdem sich nun disen Sommer bequeme Gelegenheit gefunden, diesen Vorschlag ins Werck zu setzen: so habe ich ihn dem geschickten und christlichen Provisor H. Schulenburg als einen Discipul übergeben und ihm aufgetragen, daß er sich seiner insonderheit annemen und für ihn sorgen möge. Wie nun ihr lieber Sohn von Anfang zu der Sache gute Lust bezeiget, und sich bis hierhin wohl verhalten und gut drein gefunden; also habe die Hoffnung der Herr werde seinen fernern Segen verleihen. Die ordentliche Zeit, welche ein Discipul in der Lehre zu stehen hat, ist 6 Jahre, welche auch erfordert werden, wenn einer was gründliches lernen soll; wie denn in unserer Apothecke Gelegenheit ist, in die Apothecker-Kunst was rechtes zu thun, als wohl nicht leicht in vielen Apothecken seyn dürfte.Wenn nun Ihr lieber Sohn nach der Erlernung
114 Vgl. Paul A.W. Wallace: The Muhlenbergs of Pennsylvania. Philadelphia 1950; Glatfelter, Pastors and People [s. Anm. 1], I, 93–98; Matthias Schönhofer: Letters from an American Botanist. The Correspondences of Gotthilf Heinrich Ernst Mühlenberg (1753–1815). Stuttgart 2015, 48–53.
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sich auf das Studium medicum annoch appliciren will: so wird er dazu auch hier bey dem Herrn Professor Medtler die bequemste Gelegenheit finden und zugleich unter dessen Anweisung das nötigste von der Chirurgie erlernen können. Vielleicht kan er denn auch auf einem von den Krankenpflegen des Waysenhauses gebraucht und bey solcher Gelegenheit, unter Anführung erfahrner Männer in der praxi geübt werden, also daß wan er sich einmal, nach dem Willen Gottes, in America etabliren wolte, es ihm an nichts fehlen würde. Nun komt alles auf Gottes Segen an, daß er zu unseren Projecten sein Gedeyen gebe. So lange Er nun in der Apotheke ist, wird er von dem Waysenhause völlig frey gehalten und bekommt alle Nothdurft. Hernach wird Gott auch ferner für ihn sorgen. Nechst disem ersuche dieselbe ergebenst beygehendes Schreiben entweder dem Herrn Pastor Mühlenberg, oder dem Herrn Pastor Handschuh sicher zuzustellen, weil mir viel daran gelegen ist, daß selbiges in keine andere Hände komme. Im fall aber, daß Sie abwesend seyn solten, so wird Ihr Herr Schwiegersohn, der Herr Pastor Slatter, nach der von aussen beygeschriebenen Addresse so gut seyn und unbeschwehrt dafür sorgen. Diesen werten Freund, über dessen bey seiner Gemeine bewiesene Sorgfalt und Treue sowie über seine freundschaftliche Harmonie mit unsern Herrn Prediger[n] ich mich herzlich gefreuet, bitte bey dieser Gelegenheit herzlich zu grüssen, und wünsche ihm ferneren göttlichen Beystand von Herzen an. Derselbe müsse sich auch über Ihnen und den lieben Ihrigen offenbaren und durch seinen Segen müsse Ihnen es nicht mangeln an irgend einigem Guten im Geistlichen so wohl als auch im Leiblichen, welches der Herr, wo nicht zum Ueberfluß, doch zur Nothdurft seinen Kindern darzureichen verheissen hat. Mit welchem herzlichen Wunsch ich verharre. Meines etc. Halle den 16ten Sept. 1755. 2. Heinrich Schleydorn an G.A. Francke, Philadelphia, 08.10.1755 AFSt/M 4 C 8 : 18 Hochwürdiger Herr Doctor, Theürester Vater im HErrn, Ew. hochwürden haben väterlich beliebet mir von unsern H. Predigern H. Pf. Brunnholtz Packet, und dero Briefe an dieselben Sub dato d: 14 Jan. und 18 Mart. c.a. wißen zu laßen, daß Ew. hochwürden aus unverdienter Liebe zu mir geruhen wolten, meinen jüngsten lieben Sohn in dero Apotheque so zu nehmen daß Er frey in allen Stüken, wie die orphani gehalten werden solte. Hochwürdiger HErr Doctor Ich erkenne in vieler demut und mit untertänigen dank, dero große Liebe zu mir und meinem Sohn. Um desto mehr da sich mein Lebens Ziel näher heranrücket und meine äußerliche Umstände sich so verschlimmert haben, durch meine vielfeltigen Krankheiten, daß ich es nicht ausdrücken kan. Dis kan aber Ew. hochwürden versichern daß so lange ein Odem in mir ist, so lange werde ich nicht aufhören für das wahre wohlseyn dero Familie und
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anstalten in weyßen hause zu beten – O wie wird mir dieses liebes werk von Ew. hochwürden nicht auf muntern zum bestendigen anhalten und hoffen auf den Herrn unsern Gott daß er hat Ew. hochwürden Hertze in liebe gelenket gegen meinem Kinde, vor ihme alschon, und geruhen noch zu thun, was mir unmüchlich [sic] wehre zu thun gewest, und da ich in meinem Alter nicht hofen kann Ew. hochwürden mündlich zu sprechen, so habe die Hofnunge in der Ewigkeit dieselben zu sprechen und mit Ihnen den Herrn zu preisen. Dieses wünschet und bettet für Ew. hochwürden Ew. treuer Fürbetter und demütiger diener Henry Schleydorn Philada octobr 8: 1755 3. G.A. Francke an Heinrich Schleydorn, Halle, 15.07.1756 AFSt/M 4 C 9 : 49 (Entwurf) Mein in d[em] HErrn sehr wertgeschäzter Herr und Freund, Da ich dermalen an die Herren Prediger zu schreiben habe; so kan ich nicht unterlassen diese wenige zeilen an dieselbe beyzulegen, und gleichwie ich aus dero werten zuschrifft vom 8ten octobr[is] 1755. mit vergnügen ersehen habe, daß dieselbe mit der wegen Ihres lieben Sohns getroffenen Einrichtung vergnügt sind: also versichere ich, daß ich hierunter meine Liebe einiger massen an den Tag legen können. Wie ich nun auch von dem Provisor Schulenburg in unserer Apotheke, einem christlichen und gesezten Manne, verneme; so hat sich besagter Ihr sohn in der bisherigen Lehre wohl verhalten und gut applicirt. Daher ich hoffe, wenn der Herr ferner seinen Segen geben will, daß er etwas gründliches von der Apotheker-Kunst erlernen werde, und damit in America, oder wohin ihn Gott sonst führen wird, künftig Gott und dem Nächsten dienen und seinen Unterhalt finden könne.Wenn er denn hiernächst nach vollendeten Lehr-Jahren noch von der arzneywissenschaft das nöthigste lernen kan; so wird es um so viel besser für ihn seyn. Ich bedaure zwar, daß es mit der fortsetzung der uebung in der lateinischen Sprache nicht so gehen will, wie ich anfänglich gehofft, indem zu wenig zeit für einen Lehrling dazu übrig bleibt: indessen wird das was hierunter versäumt werden möchte, künftig annoch nachgeholet werden können. Ich habe übrigens so wohl aus der Herrn Prediger, als Ihrem Schreiben, mit Mitleiden ersehen, daß Sie in Ihren äußeren Umständen durch vielfältige Kranckheiten sehr zurück gekommen. Der Herr aber, der reich ist über alle, die ihn anrufen, wolle Sie destomehr seinen Segen erfahren lassen, und alle Mangel erfüllen[,] auch die viele Liebe, die Sie den Herren Predigern die ganze Zeit über erwiesen haben, noch in Ihrem Alter Ihnen aus gnaden richtig vergelten[;] bey dem allen aber müsse sich insonderheit seine Gnaden in Ihnen bey dem zunehmenden Alter vermehren, also daß obgleich der äussere Mensch der Ver-
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wesung immer näher kommt, doch der innerliche von Tage zu Tage verneuert werde. Ich erlasse Sie in seinen gnädigen Schutz und verharre mit aller aufrichtigkeit und Liebe. Meines etc. Halle den 15ten Jul. 1756. P.S. Ein Schreiben von Ihrem lieben Sohn ist nach England bereits voraus abgegangen. 4. Heinrich Schleydorn an G.A. Francke, Philadelphia, 20.12.1756 AFSt/M 4 C 9 : 50 Hochwürdiger, Hochgelahrter Insonders in dem HErrn Hochgeschätzter Herr und Vater, Mit Ew. hochwürden zwey briefen habe mich beehret gefunden von 16ten Sept: 55: und Julij 15ten 56: Denn ich habe aus den selben mit Hertzens Freüde ersehen wie Ew. hochwürden so väterliche Sorge getragen vor meinen Sohn, und den selben einem Christlichen Provisor zum Descipul über geben, wo vor ich den Herrn meinen Gott loben und mit großer Erkentlichkeit meinen unterthänigsten danck an Ew. hochwürden ergehen laße. Ich muß bekennen daß alles solches meine Seele beweget hat, in tiefster Demuht aus zurufen: Der HErr hat bis hieher alles wohlgemacht, sein Name sey gelobet, und lebe in der hofnung der gütige Gott werde ins künfftige auch Raht und Hülfe an die Handt geben Ihnen recht nutzbar zumachen und zwar zur Ehre Gottes und zu seiner selbst und seines nähsten dienst, absonderlich wenn er den Herrn von Hertzen fürchten lernet: worzu ich ihn denn auch inständig ermahnet habe. Daß er doch durch des Geistes beystandt sträben möchte den HErrn seinen Gott und Christo in seiner Jugent kennen zu lernen, und denn versichert seyn könne daß er es ihm nicht werde mangeln laßen an irgend einem Guten. Ew. hochwürden Packet briefe mit zwey Kisten bücher sint an HErr Pastor mühlenberg richtig über liefert worden, und Ew. hochwürden mögen versichert seyn, was an mich addressiret wird, soll mit aller Sicherheit befordert werden. Ich bin auch unterthänigst verpflichtet, für daß mitleiden, so Ew. hochwürden mit meinem gegenwertigen Zustand haben, den Gott beliebet über mich kommen zu laßen. Es ist wohl wahr, was Ebra: 12: steihet [sic]. Alle Züchtigung aber wenn sie da ist, düncket sie uns keine Freüde zu seyn etc. Aber das sint die Wege Gottes, die er mit den seinigen gehet, daß unser Glaube so er rechtschaffen ist, geübet, und bewahret werde, und auch Geduld würcke. O wie werden wir uns nicht freuen und den Herrn loben, wenn uns Gott dermahleins würdigen wird, einsehen zu laßen was wunderliche, und auch zu zeiten harte wege er hat mit uns gehen müßen um den zweck der Seligkeit durch Christi Opferblut an uns zu erreichen zu laßen [sic], und sollte es Gott vor gut erkennen es noch so kümmerlich ergehen zu laßen in dieser annoch kurtzen zeit; so mag sein Heiliger Wille geschehen. Wen er uns nur Glaubens Beständigkeit durch
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Christi bis ans Ende verleihe, so werden wir alles ererben. Mein Fleihen [sic] ist und soll seyn daß der große G[ott] Ew. hochwürden noch bey langem vergnügten wohlseyn erhalten wolle, zum nutzen der Kirche Christi in vielen theilen der welt, und wen nach Gottes willen Ew. hochwürden sollten dero Lauf vollendet haben sie mögen denn versetzet werden in die Triumphirende Kirche, Solches wünschet und bittet von Hertzen Ew. hochwürden aufrichter Henry Schleydorn Philada Decbr 20th 1756. PS Ich bitte meine hertzliche empfehlung an HErrn Proviso[r] Schulenburg, in gleichen laßet H. Pastor Slatter seine unterthänigste empfehlung ablegen an Ew. hochwürden. 5. G.A. Francke an Heinrich Schleydorn, Halle, 15.08.1757 AFSt/M 4 C 9 : 21 (Entwurf) Hochgeehrter und in dem Herrn sehr wertgeschätzter Herr und Freund, Aus dero angenemen Schreiben vom 20sten Dec 1756., welches ich den 27ten Mart[ii] dises Jahres richtig erhalten, habe mit vergnügen ersehen, daß Sie dieselbe die mit ihrem lieben Sohn getroffene Einrichtung völlig approbiren und damit zu frieden sind. Wie nun der treue Gott ihn bis hierhin in seinen Lehrjahren bey guter gesundheit erhalten und ihn regieret, daß er sich ganz wohl betragen: so lebe ich der Hoffnung, er werde ferner seinen Segen geben, daß er was tüchtiges lerne und zubereitet werde, nicht nur seinen Unterhalt zu erwerben, sondern auch seinem Nächsten nüzliche dienste zu thun. Ich versichere zugleich, daß ich mich seiner ferner nach all[e]r möglichkeit annehmen und sein Bestes zu befördern suchen werde. Sonsten dancke ich ihnen herzlich für die bestellung d[e]s an Sie addressirten Schreibens und Kiste mit büchern an H. Past. Mühlenberg, und da der beygehende anschluß so beschaffen ist, daß ich ihn nicht gerne in unrechte Hände kommen lassen wollte: so ersuche dieselbe gleichfalls für dessen richtige Ueberlieferung an den H. Past. Mühlenberg oder H. Past. Handschuh zu sorgen. Ob es übrigens dem Herrn gefallen, Sie bis anher mit mancherley Leiden zu prüfen: so bezeuge ich hierdurch meine herzliche Theilnehmung mit dem Wunsch, daß der Herr Sie auch zu rechter zeit wiederum erfreuen, Ihre und Ihrer frau liebsten gesundheit stärcken und sie seinen beystand und hülfe in allen Umständen ersehen lassen wolle. An den werten Herrn Pastor Slatter bitte meinen herzlichen Gruß und Segenswunsch zu vermelden, und verharre übrigens mit aller Ergebenheit. Meines hochgeehrt, und in dem Herrn sehr wohlgeschätzten Herrn und Freundes Halle den 15ten Aug 1757
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6. Heinrich Schleydorn an G.A. Francke, Philadelphia, 20.03.1759 AFSt/M 4 C 10: 10 Hochwürdiger, Hochgelehrter Insonders in den HErrn Hochgeschätzter Herr und Vater Mit Ew. hochwürden angenehmen briefe, von 15 august 1757. habe mich beehret gefunden ob schon erst d[en] 7 Januarij 1759. Es ist mir hertzlich lieb, zu sehen daß Ew. hochwürden noch gütig belieben an mich zu gedencken, und hat mir zugleich eine hertzliche freüde verursacht.Wie auch aus Ew. hochwürden werthesten ersehen habe, so hat sich mein Sohn biß hie her wohl auf geführet. Wo vor der große Gott von mir gedancket sey und wünsche, daß alles zur Ehre Gottes und des nähsten nutzen gereichen möge, die weil ich nun über Ew. hochw. gütige Nachricht von meinem Sohn bin sehr erfreuet worden, so gerathe doch fast bald wieder in betrübnis, zumalen wenn ich bedencke, daß seine lehr Jahre bald verfloßen, und er nach einiger Zeit Lust haben solte, sich in seyn Vaterland nieder zulaßen. Da würde er denn nicht vermögend seyn, sein Brod mit der Apothequer Kunst alleine zu erwerben, es sey denn daß er zugleich etwas Wißenschafft von der medecin und Chirurgie erlanget hätte. Und die weil es der gütige Gott vor gut erkent, mich fast mit beständigen Niederlage und Kranckheiten heim zusuchen, und die große verwüstung und der mord, die durch die Wilden hin und wieder auf den Grenzen geschehen ist, hat fast alles in verwürrunge gebracht, so daß ich mich in meinen gegenwartigen Zustande fast nicht zu rathen weiß. Also nehme meine Zuflucht zu Gott, und der bis hie her Ew. hochwürden Hertze in Liebe gegen meinen Sohn gelencket hat, daß sie wie ein Vater gegen ihn gewesen sind, so bitte und flehe aufs demüthige, daß Ew. hochwürden würden wollen belieben ferner dero vaterliche hülfe und liebe an ihn zu erweisen, das doch der zweck durch Gottes be[i]stand möge erreichet werden, wie ich mich auch getröste: die weil Ew. hochwürden haben gütigst beliebet mir auf[s] neüe davon versicherung zu geben, sein Bestes zu befordern, vor welche große vaterliche liebe ich mit großer Erkentlichkeit meinen unterthänigsten danck an Ew. hochwürden hie durch abstatte; die Packet briefe die nach Philadae gekommen sind, habe richtig über liefert – ich bin auch tausendmal verpflichtet, daß Ew. hochwürden belieben Antheil zu nehmen an meinen gegenwertigen Leidens zustande und bitte daß der erbarmender [sic] Gott wolle auch Ew. hochwürden wunsch an mir und meine hauß Frau in die erfüllung kommen laßen, vor welches ich und meine hauß Frau an Ew. hochwürden einen demüthigsten danck abstatten und wir wollen nie unterlaßen in unser schwaches Gebet Ew. hochwürden väterliche liebe vor den throne Gottes ein gedenck zu seyn, und wollen in der hofnung leben, daß der Herr uns werde zu seiner zeit erlösen aus allen nöhten und uns helfen zu seinen himmlischen reiche etc.: ach daß doch der gütige Gott belieben wolle Ew. hochwürden noch eine lange zeit bey gesegneten wohlseyn erhalten, zu nutz und fort pflantzung der Kirche Christi in vielen Theilen der welt, und
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seine Gnädige Protection laßen ferner ergehen über die gesegneten Anstalten des Waysen hauses in Halle, und die erhaltung deß Lebens ihro Königliche majestet von Preusen und glücklichen Sieg über seine Feinde und einen baldigen frieden, bittet und flehet Ew. hochwürden Ewig ver pflichte Henry Schleydorn Philad. March 20th: 1759 PS von meinen Schwieger Sohne, dem Herrn Schlatter ergeihet [sic] sein gehorsames Compliment an Ew. hochwürden.
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Thea Olsthoorn
Fremderfahrungen „warmherziger“ Herrnhuter Brüder in kalten Regionen der Erde Darstellungen interkultureller Kontakte und Konflikte mit den Inuit in Grönland und Labrador1 Historischen Berichten über frühe Begegnungen von Europäern mit indigenen Völkern haftet immer der Aspekt der Fremdheit an. Weil das überseeische Zusammentreffen verschiedener Kulturen stets von beiderseitigen Verständigungsschwierigkeiten geprägt war, konnte die Betrachtung aus der Perspektive des weißen Mannes nur mit Fehleinschätzungen einhergehen. Greg Dening bringt diese Problematik durch folgende Metapher treffend und anschaulich auf den Punkt: S trände sind sowohl Anfang als Ende. Sie stellen Übergangsregionen dar, sie markieren die Grenzen von Inseln. Für manche Lebewesen ist der Übergang zwischen Land und Meer nicht abrupt. Für Menschen jedoch teilen Strände die Welt streng zwischen „hier“ und „dort“, zwischen „uns“ im Gegensatz zu „ihnen“, zwischen „gut“ gegenüber „schlecht“, zwischen „Bekanntem“ und „Ungewohntem“ auf […]. Das Überqueren eines Strandes ist stets ein dramatisches Ereignis. Sowohl vom Land aufs Meer wie auch in umgekehrter Richtung wird ein weiter Weg zurückgelegt und in beiden Fällen bleibt der Reisende ein Fremder und Außenseiter. Blicke vom Meer aus über den Strand: da ist das, was das geistige Auge wahrnimmt, romantisch, zeitlos, wild, aber immer unkontrollierbar. Die Gebärden, die Signale, die Kodes, die die Welt des Reisenden ordnen und übersichtlich machen, funktio-
1 Dieser Aufsatz basiert auf einem Vortrag gehalten auf dem zu Ehren von Professor Hartmut Lehmann organisierten Festkolloquium „Pietismus im Dialog mit der Welt“ (6.– 7. Oktober 2016) in den Franckeschen Stiftungen. Die Verfasserin dankt Professor Thomas Müller-Bahlke und PD Dr. Christian Soboth sowie ihren Mitarbeitern für die Möglichkeit, dieses Forschungsthema vorzustellen; ein Wort des Dankes geht ebenfalls an Professor Hartmut Lehmann, Dr. Silke Lehmann, Professor Hermann Wellenreuther und Professor Hans-Jürgen Schrader für Anregungen zur Vervollständigung des Inhalts, an Frau Claudia Mai, MA und Herrn Olaf Nippe vom Archiv der Brüder-Unität und Birgitte Sonne, M.A. für ergänzende Informationen. Etwaige Fehler sind die der Verfasserin.
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nieren nicht länger. Was er wahrnimmt, sind nicht die Farben, die Bäume, und die Berge dieser Inselbewohner. Er sieht seine eigenen.2
Der Hauptgrund für die gegenseitigen Verständigungsschwierigkeiten, die beim Kontakt von Europäern mit Vertretern indigener Kulturen aufzutreten pflegten, lag in der vielfach stark abweichenden Klassifizierung der Umwelt. Dass die Eingeborenen dabei von anderen Voraussetzungen als die Weißen ausgingen, war den Europäern, die in den meisten Fällen auch die Sprache dieser Völker nicht beherrschten, nicht bewusst. Auf beiden Seiten hegte man gewisse Vorstellungen von „sich“ und „den anderen“ und beide Parteien waren sich über die Faktoren, die die eigene Identität kennzeichneten, im Klaren: Sprache, Hautfarbe, Ethnizität, Religion, Verwandtschaft usw. Diese kulturell geprägten Ansichten waren für diejenigen, die sie teilten, eine Selbstverständlichkeit, eine Art gemeinsames Wissen oder „implizite Ethnographie“, die nicht einmal ausgesprochen oder erläutert werden musste, welche aber für die Art und Weise, in der man dachte und handelte, ausschlaggebend war.3 In den unzähligen Berichten, die über Jahrhunderte hinweg die Kontakte mit Eingeborenen schilderten, kamen diese Auffassungen, die in Wirklichkeit den Ablauf der Ereignisse bestimmten, nicht zum Ausdruck. Sie waren unterschwellig, d. h. sie befanden sich auf einer Bewusstseinsebene4, über die man bei der Beschreibung des überseeischen Zusammentreffens hinwegging. Häufig war ein solcher Bericht somit keine objektive Wiedergabe des tatsächlichen Hergangs, sondern er sagte eben mehr über den Verfasser als über die beschriebenen Ureinwohner aus. In diesem Aufsatz wird anhand der Schilderung einiger Inuit-Traditionen in den Diarien der frühen Herrnhuter untersucht, wie Letztere bestimmte Bräuche der indigenen Bevölkerung bewerteten und wie Konfliktsituationen von beiden Seiten empfunden wurden und ihnen begegnet wurde. Die Perspektive der Inuit lässt sich nur auf der Grundlage von größtenteils erst im 20. und 21. Jahrhundert in der Ostarktis durchgeführten ethnographischen Studien, welche bei den durch Befragung ermittelten (religiösen) Ansichten der Inuit selbst ansetzen, rekonstruieren. Die Interpretation ist ein Versuch, die Reaktionen der Inuit im Zusammenhang mit ihrer Weltanschauung zu deuten. Zuerst wird ein Ritual der Grönlander,5 das vor allem zu Heilungszwecken verwendet wurde, angeführt und erläutert. Diesem grönländischen Beispiel 2 Zit. n. Greg Dening: Islands and Beaches: Discourse on a Silent Land: Marquesas, 1774–1880. Chicago 21988, 33f. in: Implicit Understandings. Observing, Reporting, and Reflecting on the Encounters between Europeans and other Peoples in the early modern Era. Hg. v. Stuart B. Schwartz. Cambridge University Press 31996 (zuerst 1994), 2 [übers.v.d.Vf.n]. 3 Schwartz, Implicit Understandings [s. Anm. 2], 2f. 4 „level of reflection“ (Schwartz, Implicit Understandings [s. Anm. 2], 3). 5 Obwohl die grönländischen Inuit in politischem Sinne – denn geographisch wird Grönland eher dem amerikanischen Kontinent zugeordnet – Europäer sind, sind sie, genauso wie alle anderen Inuit-Stämme, die heute noch existieren, Abkömmlinge der sog. Thule-Inuit, die um ca.
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wird eine Variante in Labrador gegenübergestellt und in entsprechender Weise analysiert. Im zweiten Abschnitt dieses Artikels nehmen wir ein Tabu6 der Inuit unter die Lupe und zeigen auf, wie manche in den Augen der Herrnhuter gerechtfertigt erscheinenden Anliegen die Inuit in geistige Bedrängnis versetzen konnten. Der dritte Paragraph befasst sich mit der Funktion von Amuletten. Der von den Herrnhutern geforderte Verzicht auf die Anwendung solcher „magischen“ Gegenstände (powerful objects) führte auf Seiten der Inuit gleichfalls zu innerer Zerrissenheit. Das letzte Beispiel im vierten Abschnitt betrifft den Umgang mit den Knochen von Meerestieren im Hinblick auf deren Reinkarnation. Eine Auswertung der Ergebnisse mit Schlussfolgerung rundet diesen Beitrag ab.
1. Head Lifting Den 15. April 1735 unternahm Christian Stach, einer von den ersten Herrnhuter Missionaren in Grönland, zusammen mit Hans Egedes7 Leuten eine Reise, um die nördlich von Godthaab wohnenden Inuit zu besuchen. Über diese Reise hat er einen kurzen Bericht abgefasst. Am 2. Mai 1735 heißt es in seinem Diarium wie folgt: uch wolt ich diesen tag einsmahl in ein Zelt hineingehen, da wolten sie mich nicht A hineinlassen und hielten den Vorhang innwendig fest zu, und sagten, ich solte ein wenig warten, den könte ich kommen. Es war aber der Vorhang am Zelt ein wenig zerrissen, da that ich das loch voneinander und sahe hinein. Da sahe ich eine Alte Frau, die schon bald keine Zähne hatte. Die saß bei einer krancken und hat der Krancke einen Rühmen von einem Seehund [einen Riemen aus Seehundfell – d.Verf.n] 4fach um den Kopff herum genommen und hat einen stecken durch den Rühmen durchgesteckt Und mit diesem Stecken den Rühmen der Krancke fest an den Kopff gedrehet, als wenn man was Reitelt, und hat die Krancke mit diesem stecken immer in die höh gehoben und etwas gantz sachte zu ihr geredet, welches ich aber nicht Verstehen konnte.
1000 n.Chr. von der Beringstraße in Alaska in die kanadische Arktis einwanderten und bis Grönland vordrangen. Die Gegenüberstellung Europäer vs. Grönländer erfolgt hier somit aufgrund der Abstammung und erscheint auch angesichts des wachsenden politischen Selbstbewusstseins indigener Völker, das mit einer Neubesinnung auf ihre Wurzeln und der Wiederbelebung ihrer alten Traditionen einhergeht, vertretbar. 6 Anthropologen (Franz Boas, Knud Rasmussen) bezeichnen die Verhaltensregeln der InuitVorfahren, welche die traditionellen Inuit stets zu beobachten hatten, um die Geister nicht zu erzürnen, als Tabus. 7 Hans Egede (1686–1758) war ein orthodox lutherischer Pfarrer aus Norwegen, der von 1721 bis 1736 als Missionar unter den Grönländern wirkte und die Kolonie Godthaab (heute die Hauptstadt Nuuk) gründete. 1733 trafen die ersten drei Herrnhuter – Christian David und die Cousins Matthäus und Christian Stach – in Grönland ein, um Hans Egede bei seiner mühevollen Arbeit zu unterstützen.
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enn ging ich wieder fort, fragte darnach den Schreiber, was das wäre und seyn D solte. Er sagte, daß sie damit hexeten, daß die Krancke wider solten gesund werden.8
Das Ritual, das Christian Stach hier heimlich beobachtete, betrifft das sog. „Head Lifting“ (Kopfheben). Von dem Sekretär der Kolonie Godthaab erfuhr er, dass es sich dabei um eine indigene Heilmethode handelt. Die Darstellung dieser Praxis begegnet ebenfalls in zahlreichen Forschungsberichten über die Inuit der kanadischen Arktis.9 Eine frühe Beschreibung ist von der Hand des Marineoffiziers George Best († 1584), der sich an Martin Frobishers (ca. 1535–1594) Expeditionen zur Erkundung der Nordwestpassage (1576–1578) beteiligte und bei den Inuit der Baffin Insel mit dem Ritus in Berührung kam. Best registrierte die Handlung, wobei ein Stein gehoben wurde als Abhilfe bei Kopfschmerzen. Den Beschreibungen späterer Beobachter dieser Tradition entnehmen wir, dass es üblicherweise der Kopf eines Menschen war, der gehoben wurde, aber stattdessen konnten durchaus auch andere Körperteile oder Gegenstände, wie ein Bein oder eben auch ein Stein zum Einsatz kommen.10 „Head Lifting“ galt als eine eher schwache Technik, die sowohl von den Angekoks (Schamanen) als Nebentätigkeit, wie auch von den übrigen Inuit angewandt werden konnte, insofern Letztere zumindest die Fähigkeit besaßen, Hilfsgeister anzurufen und deren Sprache zu sprechen und verstehen. Die Methode wurde Knud Rasmussen zufolge vor allem von Frauen praktiziert. Der Zweck des Rituals war die Vorhersage, im Allgemeinen mit Bezug auf (leichtere) Erkrankungen, aber – je nach Region – auch in anderen schwierigen Situationen, wie z. B. bei Hungersnot wegen eines Mangels an Beutetieren. Der Hilfsgeist antwortete auf die Fragen durch Zeichen, wobei Schwere des zu hebenden
8 Unitätsarchiv Herrnhut (im Folgenden UA), R.15.J.a.2.a: Diarium von Christian Stach 1733–1738, 02.05.1735, 281f. (durchgehende Nummerierung). 9 U. a. Franz Boas (1858–1942), Knud Rasmussen (1879–1933), Edmund James Peck (1850– 1924) und Frans van de Velde (1909–2002) haben sich damit beschäftigt. Für die Entstehungsgeschichte der Missionsstation des flämischen Oblatenpaters Frans van de Velde und Einzelheiten zu der Konkurrenz zwischen katholischen und anglikanischen Missionaren in Nunavut verweist die Verfasserin auf: Cornelius Remie und Jarich Oosten: The birth of a Catholic Inuit community. The transition to Christianity in Pelly Bay, Nunavut 1935–1950. In: Études/Inuit/Studies 26, 1, 2002, 109–141. 10 Frédéric B. Laugrand and Jarich G. Oosten: Inuit Shamanism and Christianity. Transitions and Transformations in the Twentieth Century. Montreal [u. a.] 2010, 307–323, hier 309. Der Inuktitut (Kanada) Ausdruck für „Head Lifting“ lautet qilaniq. Die Person, die im qilaniq Ritual den Stock hält, wird als qilajuq bezeichnet und der- oder diejenige, der/die im qilaniq Ritual liegt, heißt qilajaq (Laugrand and Oosten, Inuit Shamanism and Christianity, 396). In Grönland wird das Ritual qilaneq genannt (Inge Kleivan and Birgitte Sonne: Eskimos. Greenland and Canada. In: Iconography of Religions. Ed. by T.P. van Baaren [u. a.]. Leiden 1985, 26). Die Bezeichnung für die Person, die im Ritual den Stock hält, lautet dort qilalik (freundliche Information von Birgitte Sonne).
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Gegenstands mit Schuld assoziiert bzw. als Bestätigung („ja“) interpretiert und Leichtigkeit mit Unschuld verknüpft bzw. als Negation ausgelegt wurde.11 Der Däne Kaj Birket-Smith (1893–1977), welcher sich als Philologe und Anthropologe an Knud Rasmussens Thule Expedition von 1921 bis 1924 beteiligte, merkt unter Bezugnahme auf Hans Egede an, dass die Westgrönländer in alten Zeiten mittels „Head Lifting“ Prophezeiungen machten, insbesondere um herauszufinden, ob sich ein Patient von einer Krankheit erholen würde. Wenn sich der Kopf beim Heben schwer anfühlte, sei dies ein schlechtes Zeichen. Er zitiert einen Bericht von Niels Egede aus der Region von Christianshaab: S o war da auch eine alte Frau, die der Hexerei beschuldigt wurde; sie kam dorthin, wo es einige Kranke gab, ich war auch dabei anwesend und sie nahm einen Stock, band einen Riemen um das Ende herum fest und [band] das andere Ende des Riemens um den Kopf der kranken Person, begann den Kopf zu heben und zu senken, murmelte hinunter durch den Boden hindurch, als befände sich dort jemand, zu dem sie sprach; manchmal wandte sie vor, dass es unmöglich war, den Kopf zu heben, und danach war es wieder ganz leicht für sie.12
Der Umstand, dass die Inuit Christian Stach 1735 während des Rituals den Zugang zum Zelt verweigerten, legt allerdings die Vermutung nahe, dass die Anwesenheit bei „Head Lifting“ (indigenen) Eingeweihten vorbehalten war. Vielleicht befürchtete man auch ein Verbot durch die Missionare. In dem Zitat von Christian Stach ist die Rede davon, dass eine alte Frau mit abgeschliffenen Zähnen13 neben einer kranken Frau sitzt. Die alte Frau, die im „Head Lifting“ Ritual den Stock hält, sitzt also mit dem Gesicht zum Eingang des Zelts und vermutlich auf der rechten Seite der Kranken, welche ihrerseits mit den Füßen 11 Laugrand and Oosten, Inuit Shamanism and Christianity [s. Anm. 10], 311, 313, 322f.; Apostel to the Inuit. The Journals and Ethnographic Notes of Edmund James Peck, The Baffin Years, 1894–1905. Ed. by Frédéric Laugrand [et al.]. Toronto [u. a.] 2006, 318. 12 Kaj Birket-Smith: Ethnography of the Egesminde District with Aspects of the General Culture of West Greenland, translated from the Danish by Aslaug Mikkelsen. Kopenhagen 1924, 449 [übers.v.d.Verf.n]. 13 Der norwegische Entdeckungsreisende und Polarforscher Roald Engelbregt Gravning Amundsen (1872–1928) teilt über den Mund und das Gebiss der Inuit auf der Boothia Landenge Folgendes mit: „Jetzt begreife ich erst recht, weshalb die Eskimo ihre Nasen aneinander reiben anstatt zu küssen. Ihr Mund dient, außer dass er ein sehr gutes Sprechgerät darstellt, noch einer Reihe anderer Zwecke; er ist der Eskimo Universalwerkzeug. Er ist erstaunlich gut entwickelt, groß und kräftig. Ihre Zähne haben eine eigenartige Form. Die unseren sind spitz und schmal; die ihrigen haben eine große und breite Kaufläche. Sie verschleißen ihre Zähne ganz bis an die Wurzeln, was bei uns freilich nicht vorkommt. […] Bei allem, wofür die Finger nicht stark genug sind, werden die Zähne eingesetzt. Einen Nagel zurechtzubiegen ist für ihr Gebiss ein Kinderspiel, aber mit den Fingern bringen sie es nicht fertig.“ (Roald E.G.Amundsen: Roald Amundsen’s „The Northwest Passage“. Being the Record of a Voyage of Exploration of the Ship „Gjöa“ 1903–1907. 2 Bde. Bd. I. New York 1908, 315f. [übers.v.d.Vf.n]) Auf Seite 323 findet sich der Zusatz, dass das Fell der Seehunde, welches die Netsilik-Inuit u. a. für ihre (äußeren) Stiefel benutzen, mit den Zähnen gekaut wird, bis es zur weiteren Verarbeitung geschmeidig genug ist.
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zur Hinterseite des Zelts daniederliegt.14 Die alte Frau spricht leise zu der Kranken, während sie versucht, deren Kopf zu heben. Knud Rasmussen liefert eine detaillierte Beschreibung der Methode anhand eines ähnlichen Vorgangs bei den kanadischen Iglulik-Inuit.15 Sobald der Kopf des Patienten zum ersten Mal schwer wird, deutet dieser Umstand darauf hin, dass der Hilfsgeist – die Seele eines/einer Verstorbenen – anwesend ist und nunmehr von der Person, die den Stock hält, in der Sprache der Hilfsgeister zur Ursache der Krankheit, die meistens in der Verletzung eines oder mehrerer Tabus besteht, befragt werden kann, wobei die Antworten („ja“ oder „nein“) dem Hilfsgeist jeweils durch das Ziehen am Riemen entlockt werden. Die übrigen Anwesenden helfen bei der Interpretation der Antworten des Hilfsgeistes mit und unterstützen, nachdem der/die Kranke den Verstoß (bzw. die Verstöße) gestanden und sich für schuldig bekannt hat, durch ihren bejahenden Beifall die erwünschte Wiederherstellung des Normalzustands, i.e. die Heilung der Krankheit. An dieser Stelle ist anzumerken, dass sich die Herrnhuter Missionare bei Heilverfahren sowie anderen Gelegenheiten ebenfalls der Prophezeiungen bedienten. Ein Beispiel dafür finden wir im Diarium von Nain (Labrador), als Bruder Christoph Waiblinger (1709–1778) eines Tages zweifelt, ob er den todkranken Hexenmeister Sikkulliak (Sekullia) überhaupt behandeln soll: nsere Brüder [Lister und Waiblinger – d.Vf.n] gingen darauf ins Zelt, wo SikkulU liak überaus schmerzhafft darnieder lag. Der Puls dieses krancken war dem Bruder Waiblinger bedencklich und als er ihn näher untersuchte, fand sichs, daß er einen Bruch16 habe, wobey aber zugleich alle Kennzeichen vom kalten Brande17 zu sehen waren. Der krancke hatte seit 8 Tagen weder Oefnung noch Schlaf und dabey entsezliche Schmerzen gehabt. Er sowol als seine nächste freunde, die mit zugegen waren, verlangten, daß Bruder Waiblinger den ausgetretenen Bruch schneiden
Vgl. Laugrand and Oosten, Inuit Shamanism and Christianity [s. Anm. 10], 314. Knud Rasmussen: Intellectual Culture of the Iglulik Eskimos. Report of the Fifth Thule Expedition 1921–1924. V ol. 7, 1. Kopenhagen 1929, 141–143. Zur Gruppe der Iglulik-Inuit zählt Rasmussen die Inuit von Iglulik, Aivilik und Ponds Inlet; Laugrand and Oosten, Inuit Shamanism and Christianity [s. Anm. 10], 311–313. Der dänische Archäologe und Ethnograph Therkel Mathiassen (1892–1967) merkt an, dass die Inuit von Baffin Island und Labrador, die eng miteinander verwandt sind, hinsichtlich ihrer materiellen Kultur eine Mittelposition zwischen den sich weiter westlich befindlichen eigentlichen „Central Eskimos“ und den Grönländern einnehmen und als separate Gruppe zu betrachten sind (Therkel Mathiassen: Material Culture of the Iglulik Eskimos. Report of the Fifth Thule Expedition 1921–24. V ol. 6, 1. Kopenhagen 1928, 237). 16 Es handelte sich dabei um einen (möglicherweise eingeklemmten) Eingeweidebruch, der sich als Geschwulst kenntlich machte. 17 Sphacelus, der kalte Brand: „Eine völlige Ersterbung eines Theils des Leibes, welche durch die Nachlassung des Umlaufs des Blutes und der andern Feuchtigkeiten, und durch die Verfaulung des vom Brand angegriffnen Theils verursacht wird.“ (Herrn Elias Col von Vilars Medicinisches und Chirurgisches Wörterbuch als der Fünfte Theil seiner Abhandlung der Chirurgie. Aus dem Französischen übersetzt. Altona 1747, 524) 14 15
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möchte und meinten, es sey schlechtes Wasser darinne. Bruder Waiblinger bezeugte ihnen aber, daß er alsdenn gleich sterben würde. Weil nun diese Kranckheit aufs höchste gestiegen und unseren Brüdern – wie billig um der folgen willen – bedencklich war, sich ohne hofnung zur Genesung in die Cur einzulaßen, die Eskimo aber sehnlich auf hülfe warteten, so überlegte Bruder Waiblinger die Sache vor dem lieben Heiland, und hiebey bekam er freudigkeit, auf Seinen Segen getrost zu Wercke zu gehen, […].18
Bruder Waiblinger zog also das Los zu Rate, bevor er zur Behandlung überging, um vom Heiland die Auskunft zu erhalten, ob Sekullia noch zu retten sei. Nach der Bestätigung durch den Heiland gelang es ihm, zusammen mit Bruder Christian Lister den Bruch durch warme Umschläge „hineinzubringen“, und Sekullia mithilfe der Klistierblase zum Stuhlgang zu verhelfen. Beide Heilverfahren – „Head Lifting“ und die Behandlung durch die Herrnhuter – waren also mit einer Prophezeiung verbunden, wobei die indigene Form die Ursache der Krankheit anzeigen, und die Losbefragung den Erfolg der Kur vorhersagen sollte. Die Diagnose konnte Waiblinger als Arzt selbst stellen. Im Diarium von Nain begegnet ebenfalls eine abgewandelte Form des „Head Lifting“-Rituals. Den 16. Februar 1773 in aller Frühe kamen die Herrnhuter Brüder James Rhodes und Christian Lister, die am Tag zuvor zum Jagen nach Niatak19 aufgebrochen waren, unerwartet und in Begleitung einiger Inuit nach Nain zurück; sie überbrachten die erfreuliche Nachricht, dass Manuina20 in der Gegend, wo er überwinterte – Tunungarsorsoak, eine siebeneinhalbstündige Schlittenfahrt südöstlich von Nain21 – zwischen den Inseln einen toten Bartwal gefunden hatte. Manuina selbst traf noch denselben Tag mit 15 Stück Fischbein in Nain ein. Nachdem die Herrnhuter den Inuit Messer verkauft und Beile geborgt hatten, fuhren die Brüder Jens Haven, Ludwig Morhard,William Turner und Christian Lister auf zwei Schlitten mit den Inuit zum Wal, um ihn zu zerlegen und für den Lebensunterhalt ihrer Hausgemeinde einen Vorrat Speck zu holen. Den Verlauf dieser Reise und die Erlebnisse mit den Eingeborenen hat Jens Haven in einem ausführlichen, ins Diarium von Nain eingegliederten Bericht, dem nachstehender Ausschnitt entnommen ist, aufgezeichnet:
18 UA, R.15.K.b.4.a, Diarien von Nain 1771–1781, Diarium von Nain, 30.03.1777, 700f. Alternative Schreibweisen für „Sikkulliak“ in den Herrnhuter Diarien: „Segulia(k)“ (J. Haven 1770); „Sek(k)uliak“ (Chr. Drachardt 1770, 1771–1773); „Sekullia“ (A. Schloezer 1765). Die Verfasserin behält in ihrem Kommentar den Namen „Sekullia“ bei. 19 Die Insel Niatak liegt eine fünfeinhalbstündige Schlittenfahrt südöstlich von Nain (Diarium von Nain [s. Anm. 18], 25.02.1773, 307f.). 20 Auch: Manumina.Von diesem Manuina heißt es ebenfalls, er hätte „1764 in Quirpont zuerst den Bruder Jens Haven gesehen“ (Johann Konrad Hegner: Fortsetzung von David Cranzens Brüder=Historie. Barby 1791, § 46, 137). 21 Diarium von Nain [s. Anm. 18], 25.02.1773, 308.
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ir gingen also denselbigen Tag als den 16ten Februar mit dem Segen unsrer übW rigen Geschwister frölich um 4 Uhr Nachmittags weg, und kamen denselbigen Tag Abends um 10 Uhr in dem ersten Eskimohaus an. Wir kriegten wenig Schlaf und sezten den 17ten des Morgens wieder um 4 Uhr ab und kamen um 11 Uhr in Manuminas Haus an (welches das erste hauß war, das wir auf unserer recognoscirungs Reise 1770 sahen [ ) – d.Vf.n]. Das Wetter wurde so schlecht, daß wir nicht weiter gehen konnten. Br[uder] H[aven] redte vieles mit ihnen vom Heiland und die Brüder halfen ihn [!] Verse singen, aber kurz nachher machten die Eskimos eine Art von Gebet zu ihrem Spiritu Familiari [„familiar ghost“, Hilfsgeist – d.Vf.n]. So einfältig und dumm es war, so war es doch ein Verlangen nach guten Wetter und daß der Wallfisch nicht wegtreiben möchte. Es war beinahe so, als wenn man mit einer Wünschel-Ruthe Wasser sucht. Z[um] E[xempel]: Ein Mann legte sich auf den Rücken und einer von ihren Schieß-Bogen wurde quer über seine Beine gelegt und an dem lincken Bein festgebunden. Zur rechten saß eine frau und faßte den Bogen an und wiegte das lincke Bein über das rechte. So wie sich nun der Bogen und der streng bei dieser gelegenheit bewegen that, darnach war die Auslegung und da mußte alles herbei, wer was von Wahrsager=Kunst verstunde. Zuweilen wurden sie confus, ob Torngak od[er] Jesus die Sachen in Bewegung sezte, wiewohl jedermann sahe, daß es eine alte frau thäte. So unangenehm dieses zu hören war, so konnte man sie doch entschuldigen, denn sie sind Confus und wissen nicht, an wem sie sich halten sollen. Den H[ei]l[an]d kennen sie jezt noch nicht, und können also den Torngak nicht fahren lassen.22
In obigem Zitat wird nicht der Kopf, sondern das Bein des Mannes gehoben und die Prophezeiung betrifft diesmal nicht irgendwelche Krankheiten, sondern der Zweck des Ritus ist, herauszufinden, ob das Wetter die morgige Fahrt begünstigen und der Strom den Wal nicht abtreiben wird. Der Grund, weshalb die Inuit hier den Rat ihrer Hilfsgeister einholen, liegt in der Tatsache, dass sie gerade sehr hungern. Die Witwe Attuguna, Manuinas Schwester, ist diejenige, die als qilajuq agiert, d. h. die Handlung ausführt.23 Dazu wird der Strang (die Bogensehne) am linken Bein des liegenden Inuks befestigt; der Bogen selbst fungiert als Stock. Das Beispiel lässt erkennen, dass sich alle anwesenden Inuit, die die Informationen zu möglichen Ursachen ergänzen konnten, bei der Interpretation zu Wort melden durften. Jens Havens Einschätzung ist zweierlei: Von der äußerlichen Form her kommt ihm das Ereignis wie ein Wünschelrutengang vor und inhaltlich ordnet er es als eine Art Gebet ein. Allerdings waren die Anbetung (von Göttern/Geistern) und die Darbringung von Opfergaben zur Erlangung gewisser Lebensnotwendigkeiten oder Herbeiführung erwünschter Zustände den Labrador-Inuit, die die christlichen Werte noch nicht verinnerlicht hatten und Silla, Torngarsuk und Superguksoak vielmehr als Inhaber oder Bewohner der Luft, der See und der Erde verstanden, zu jener Zeit fremd.
Diarium von Nain [s. Anm. 18], 25.02.1773, 295f. Diarium von Nain [s. Anm. 18], 09.03.1773, 313f.
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Aus einer Notlage konnte nur der Angekok (m/w) sie befreien, welcher durch seinen Hilfsgeist Kontakt mit den Geistern oder den Seelen der Verstorbenen aufnahm und auf deren Rat hin gewisse Verhaltensregeln auferlegte. Neben den oben geschilderten Verfahren, an deren Durchführung jeweils zwei Personen direkt beteiligt waren, bestand noch die Möglichkeit, die Handlung allein oder gar an sich selbst zu vollziehen, indem man z. B. einen Stein bzw. das eigene Bein hob. Über einen solchen Fall in Iglulik berichtet Ujarak in einem Interview mit Bernard Saladin d’Anglure: Ujarak erzählt, wie er beobachtet hat, dass Arraq, bei dessen Familie er während der Abwesenheit seiner Eltern unterkam, eines seiner Beine festband, um durch Vermittlung eines Hilfsgeistes in Erfahrung zu bringen, ob Ujaraks Eltern, die nach Naujaat (Repulse Bay) gefahren waren und deren Rückkehr sich nach Arraqs Einschätzung zu lange verzögerte, etwas zugestoßen sei.24 Dass beide Ausprägungen von „Head Lifting“ – die Prophezeiung als Mittel zur Behandlung von Krankheiten und deren Variante für andere schwierige Situationen – sowohl in Grönland als in der kanadischen Arktis Anwendung fanden, wird durch eine Notiz im Diarium von Nain bestätigt, in der von einem „Stecken“, der (nach Ansicht zweier Inuit-Frauen) zur Heilung einer „Beule“ am Kopf herangezogen werden soll, die Rede ist.25
2. Die alten und die neuen Gebote Bevor die Inuit mit Europäern in Berührung kamen, war ihr ganzes Leben von den Verhaltensregeln ihrer Vorfahren, die von einer Generation zur nächsten mündlich weitergegeben wurden, geprägt. Diese Vorschriften, die sog. Tabus, enthielten strikte Anweisungen für das, was in jeder gegebenen Situation zu tun (rules of observance) bzw. zu unterlassen (rules of abstention) war.Von der Einhaltung dieser Regeln erhofften sich die Inuit ein möglichst ruhiges und ausgeglichenes Leben, während Verstöße gegen die Vorschriften die Geister gegen sie aufbringen und ihr Wohlbefinden und Leben gefährden würden. Der Gehorsam stellte im Leben der Inuit somit eine wichtige Eigenschaft dar, die sich die Missionare gern zunutze machten. Folgende ausführliche Passage aus Drachardts26 Diarium
24 Cosmology and Shamanism. Interviewing Inuit Elders, Vol. 4. Ed. By Bernard Saladin d’Anglure. Iqaluit 2001, 135f. 25 Diarium von Nain [s. Anm. 18], 02.04.1776, 591. Es handelt sich dabei um eine schlimme Backenentzündung Tuglauvinas (Tuglauvina war Mikaks Mann und der Bruder des Hexenmeisters Sekullia). 26 Christian Larsen Drachardt (1711–1778) war Däne und als Missionar der dänisch-lutherischen Kirche von 1739 bis 1751 auf der Station Godthaab in Grönland tätig; er arbeitete eng mit den Herrnhutern in Neuherrnhut zusammen und schloss sich ihnen nach seiner (von ihm selbst erbetenen) Entlassung aus dem dänischen Missionsdienst sogar an. Drachardt beteiligte sich an zwei Erkundungsreisen der Herrnhuter nach Labrador (1765, 1770), während deren er über
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von Nain illustriert die innere Zerrissenheit der Inuit, wenn sie sich zwischen in ihren Augen „gesetzwidrigen“ Anliegen der Herrnhuter und der Tradition ihrer Vorfahren entscheiden mussten: ir spüren in umgang mit unsere bekante Esqu[imouxer], daß etliche hat eine W kleine sweifel, [um-durchgestrichen] ob sie wolt an der Heiland glauben oder bleiben bei ihre T[ongarsok] und seine gebothe. Die Angekuten sagen, daß sie hat von Tongarsok selber gekriegt alle ihre gebothe end auch diese: Kein weib sol sie [sich – d.Vf.n] unterstehen, Reenthierkleider zu nehen die 8 moohnate, da die soehunde hier ist, aber wen die noth vorhanden ist, so sol der weib ihre man fragen, und wen er siehe, daß die groseste noth da ist, so sold er im ufer gehe und nehme ein bissel sand und streue auf die Reenthierfelle, und da kan sein weib zuschneiden und nehe, aber die 4re moonathe, da die soehunde von hier wech sind, da kan sie nehen so viele Reenthierkleider wie sie wollen. In Febr[uar] sind eine von unsere brüdre zu mir gekommen mit ein alte Reenthierpels und fragte mir, um [ob – d.Vf.n] nicht Milleks fraue wolte ihm von diese pels ein par Reenthierstrompen [Rentierstrümpfe – d.Vf.n] nehe, aber da ich fragte die fraue, wurde sie ein bissel sweifelhafftig und wolte weder „ja“ noch „neyn“ anworten, aber sie gieng zu ihre man und fragte ihm, und er war auch ein bissel sweifelhafftig, und da sie hätte mit einandere confereret darüber, so kam der man hierein zu mir und fragte mir, was er solte thuen. Ich anwortede ihm: „Wie dir ist in dein herze, so thue du, den ihr hat jo [ja – d.Vf.n] genuch gehort, wen ihr wolt an der Heiland glauben, so kan ihr nicht mehr an Tongarsok und die Angekuten glauben. Der man gieng wieder zu seiner fraue und sagte zu sie: „Wie dir ist in dein herze, so kanst du thue.“ Die fraue: „Gut, aber woe krigs du nur sand?“ Der man nahm ein bissel ashe und streuede auf der alte Reenthierpels, und bald nahm die fraue ihre messer und scheidede [schnitt – d.Vf.n] zu. Der man hat sollen nach ihre gesetze sand im ufer hohlen, aber unser ufer hier ist ganze mit diche eise zugedecht, darum nahm er ashe.27
Die Passage belegt die Überzeugung der (Labrador) Inuit, dass die Tabus als Verhaltensregeln von ihrem Geist Torngarsuk selbst herrührten und einst den Angekoks ihrer Vorfahren durch deren Hilfsgeister vermittelt worden seien.28 Knud Rasmussen berichtet über die Inuit von Aivilik und Iglulik, dass sämtliche
seine Erlebnisse Tagebuch führte, und gehörte ab der Gründung von Nain 1771 zu den ersten in Labrador ansässigen Herrnhuter Missionaren. Sein letztes Diarium umfasst die Jahre 1771 bis 1773 (10.05.1771 bis 09.08.1773). Die Datierung ist nicht von Tag zu Tag durchgehend. Eine ausführliche Biographie Drachardts findet sich in: Thea Olsthoorn: Die Erkundungsreisen der Herrnhuter Missionare nach Labrador (1752–1770). Kommunikation mit Menschen einer nicht-schriftlichen Kultur. In: Nikolaus Ludwig von Zinzendorf. Materialien und Dokumente. Reihe 2, Bd. 35. Hildesheim [u. a.] 2010, 216–226. 27 UA, R.15.K.b.4.a, Diarien von Nain 1771–1781, Drachardt[x] 3te und lezte Esquimouxishe Diarium (im Folgenden: Drachardt, Diarium von Nain), 1773, 86–88. 28 Bemerkenswert ist die Analogie zu den Zehn Geboten, welche die Israeliten von Gott durch Mose vermittelt bekamen. Ex 19. 20, 1–17.
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Regeln eine absolute Trennung von Land- und Meerestieren forderten, und dass die Tabus bezüglich des Karibus und dessen Bejagung extrem kompliziert seien und größte Umsicht bei der Handhabung geböten, weil neben dem Fleisch als Nahrungsquelle auch das Fell und die Sehnen (als Draht) für die Anfertigung ihrer Bekleidung unverzichtbar seien.29 Franz Boas legt dar, dass bei den Inuit von Cumberland Sound das Nähen der Winterbekleidung, wofür Karibu-Felle verwendet wurden, beendet sein müsse, ehe sich die Männer auf die Walrossjagd begäben.30 Die Tabus beeinflussten viele Lebensbereiche und konnten von Region zu Region, von Familie zu Familie und sogar von Person zu Person variieren. Die Mehrzahl der Regeln bezog sich auf genaue Vorschriften für die Behandlung von Fell, Knochen, Fleisch, Sehnen usw. der Tiere, auf die die Inuit für Nahrung und Kleidung angewiesen waren und die nach ihrem Dafürhalten – im Gegensatz zur christlichen Auffassung – genauso wie die Menschen eine Seele besaßen. Fahrlässigkeit hinsichtlich der Anwendung der für die Behandlung und den Verzehr von Tierteilen geltenden Tabus konnte lebensbedrohliche Folgen nach sich ziehen, weil der mangelnde Respekt dem Beutetier gegenüber dazu führte,
29 Rasmussen, Intellectual Culture of the Iglulik Eskimos [s. Anm.15], 183, 190. Die Hauptsaison für die Karibu Jagd war im August, aber die Jagd im Inland wurde fortgesetzt, bis das Eis für die Seehundjagd fest genug war. Weil die Qualität des Rentierfells für die Anfertigung von Bekleidung im Herbst optimal ist, war die Karibu Jagd zu dieser Jahreszeit besonders wichtig. Die Organisation der Tabus spiegelt den Zusammenhang zwischen den physischen Veränderungen des Rentiers (der Abwurf des alten Fells, das Vorhandensein der Basthaut am Geweih) und den saisonalen Jagdmustern (Zelt im Inland vs. Schneehütte auf dem Eis; Rentier vs. Seehund) wider. Das Vorbereiten und Nähen der Rentierfelle war (1) während des ganzen Herbstes als Jagdsaison des Karibus, (2) solange die Rentiere noch die Basthaut am Geweih trugen und (3) die Inuit in Zelten wohnten, verboten. In den ersten Schneehütten im Herbst war es erlaubt, aber solange die Frauen die Rentierfelle zu neuer Kleidung verarbeiteten, war die Seehundjagd absolut untersagt. Während des Winters in den Schneehütten auf dem Eis durften zum Nähen nur Seehundfelle benutzt werden. Die Regel blieb bis zum Frühling in Kraft, da dann alle strengen Tabus für einige Monate gelockert wurden. Der Übergang von der Rentierjagd zur Seehundjagd war von einer erheblich größeren Anzahl Tabus gekennzeichnet als der Wechsel von der Seehundjagd zur Rentierjagd. Die mit dem Nähen zusammenhängenden Tabus galten meist den Frauen, da die Anfertigung von Winterbekleidung vor Beginn der Wintersaison ja ihre Aufgabe war. Die Tabus waren zwar streng, aber es gab Regeln für Ausnahmen in Notfällen. (Frédéric Laugrand and Jarich Oosten: Hunters, Predators and Prey. Inuit Perceptions of Animals. New York, Oxford 22016 [First paperback edition], 247–250; Rasmussen, Intellectual Culture of the Iglulik Eskimos [s. Anm. 15], 190–195) 30 Franz Boas: The Eskimo of Baffin Land and Hudson Bay: From notes collected by Capt. George Comer, Capt. James S. Mutch, and Rev. E.J. Peck. In: Bulletin of the American Museum of Natural History 15, Tl. 1, 1901 und Tl. 2, 1907 (durchgehende Nummerierung), hier 15, 1, 122. In einer früheren Veröffentlichung weist Boas bereits darauf hin, dass er keinen anderen Grund für das Verbot der gleichzeitigen Nutzung von Meerestieren und Rentieren gefunden hat als die Angst, Sedna zu beleidigen. Sie soll eine Abneigung gegen die Rentiere haben, weshalb diese in ihrem Haus auf dem Meeresboden nicht anzutreffen sind (ders.: The Central Eskimo. Lincoln 1964 [zuerst 1888], 179).
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dass es sich künftig nicht mehr fangen ließ und der Jäger also fortan leer ausging.31 Dem vorstehenden Zitat aus Drachardts Diarium von Nain entnehmen wir, dass Drachardt, der für seine Eindrücke auf eine zwölfjährige Erfahrung (1739– 1751) als Missionar unter den Grönländern zurückgreifen konnte, der innere Zwiespalt der Inuit, die sich zwischen ihren alten religiösen Traditionen und den neuen christlichen Geboten nicht entscheiden konnten, durchaus bewusst war. Die inhaltliche Analyse des Tagebuchausschnitts sieht etwa folgendermaßen aus: Indem Milliks Frau, die selbst „einen Torngak oder Wahrsager Geist haben soll“32 und eine „Illisetok“33 ist, Drachardt nicht gleich antwortete, sondern sich zur Beratung mit ihrem Mann zurückzog, handelte sie im Einklang mit den Regeln der Vorfahren. Als sich die beiden, nachdem sie miteinander Rücksprache gehalten hatten, immer noch nicht zu einem Entschluss durchringen konnten, wandte sich Millik an Drachardt in dessen Eigenschaft als Angekok.Von ihm erwartete Millik den Hinweis, wie er und seine Frau vorgehen sollten, um dieser verzwickten Lage zu entgehen und die sich daraus ergebende existentielle Gefährdung – von Krankheiten bis hin zur Hungersnot – abzuwenden. Bruder Drachardt, der das Dilemma durch seine Bitte erst heraufbeschworen hatte, realisierte zwar, dass ihn die Inuit als Angekok ansahen, wollte sich aber als andersartiger Angekok verstanden wissen. Im Gegensatz zu ihren herkömmlichen Schamanen konnte er ihnen weder etwas vorschreiben, noch zu etwas zwingen, denn als Sendbote hatte er lediglich eine vermittelnde Rolle; die eigentliche Bekehrungsarbeit (Erweckung) war vom Heiligen Geist zu leisten, der die Herzen der Heiden für den Heiland empfänglich machen würde. Folglich drängte Drachardt nicht darauf, dass Millik und seine Frau auf ihre überlieferten Traditionen verzichteten, sondern er überließ ihnen in dieser Angelegenheit die Entscheidung, indem er Millik antwortete, dass sie auf ihr Gefühl hören und dementsprechend handeln sollten: „Tue so, wie [es] Dir in Deinem Herzen Laugrand and Oosten, Inuit Shamanism and Christianity [s. Anm. 10], 115–120. Diarium von Nain [s. Anm. 18], 01.02.1773, 283. 33 Diarium von Nain [s. Anm. 18], 04.01.1774, 406. Ilisiiqsijuq: eine Person, die eine[n] andere[n] behext. Von Ilisiiqsiniq ist die Rede, wenn ein (böser) Angekok (m/w), beispielsweise weil er sich von jemandes Qualitäten bedroht fühlt, es darauf anlegt, dass die tarniq („Seele“) des betreffenden Menschen den Körper verlässt. Dazu bedurfte es keiner Ekstase, wobei der Hilfsgeist in den Körper des Angekoks eintrat, sondern Letzterer musste lediglich seine Gedanken auf das Opfer fokussieren und seinen torngak (Hilfsgeist) ausschicken, um die Seele zu holen. Der Hilfsgeist griff die Seele nach und nach an und machte die Person krank.Wenn der Angekok die Seele wegblies, so dass sie nicht mehr zum Körper zurückkehren konnte, oder rieb, so dass sie platzte, würde das Opfer sterben (Saladin d’Anglure, Cosmology and Shamanism [s. Anm. 24], 190–193). Allerdings geht aus dem Diarium von Nain hervor, dass Milliks Frau von ihren Landsleuten nicht gefürchtet, sondern für ihre Kunst, gutes Wetter zu verschaffen, die Seehunde aus der Tiefe des Meeres hervorzubringen, die Atemlöcher der Seehunde und die Wanderrouten der Rentiere anzuzeigen, vielmehr geschätzt wurde (Diarium von Nain [s. Anm. 18], 01.02.1773, 283). 31 32
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[zumute] ist“ – allerdings mit dem Zusatz, dass sie über Jesus lange genug unterrichtet worden seien, um sich zwischen ihrem Geist Torngarsuk und den (lügnerischen)34 Angekoks einerseits und dem Heiland andererseits entscheiden zu können. Die Art und Weise, in der Millik und seine Frau nun das Problem angingen, bot Drachardt eine Sondierungsmöglichkeit: Er konnte daraus ableiten, ob der Heilige Geist bereits an ihren Herzen wirkte. Das Ereignis gewährte ihm sozusagen einen Einblick in den Fortgang des Christianisierungsprozesses. Sobald nun Millik Drachardts Antwort „Tue so, wie Dir in Deinem Herzen ist“, welche von den Inuit allerdings nach wie vor als Anordnung eines Angekoks begriffen wurde, an seine Frau weitergeleitet hatte, fasste sie den Entschluss. Die Regel der Vorfahren sah ja eine Klausel für Notfälle vor, deren sie sich nun bediente, zumal den beiden wohl auch daran lag, den von ihnen respektierten Drachardt nicht durch eine Ablehnung zu enttäuschen. Das Problem, wo sie unter den gegebenen Umständen Sand hernehmen sollten, wusste Millik auf kreative Weise zu lösen. Freilich lief der Gebrauch von Asche anstelle von Sand ihren traditionellen Vorschriften zuwider und dadurch, dass Millik und seine Frau die Enthaltungsregel der Inuit-Vorfahren nicht einhielten (von einem Notfall war nicht wirklich die Rede), setzten sie sich dem Risiko aus, dass sich die Seehunde in ihrer Gegend nicht mehr würden blicken lassen – eine Gefahr, die die anderen Inuit der Region in Mitleidenschaft ziehen würde. Die Entdeckung, dass Millik und seine Frau den traditionellen Weg gewählt hatten, um ihm entgegenzukommen, war für Drachardt Anlass, sie zur weiteren Unterrichtung wieder zu sich zu bestellen: arnach habe ich sie alle beide zu mir hier eingeruft und redete mit sie über diese D worte: „Der Heiland hat selber gesagt: ‚Diese Leute bekenne mir mit ihre lippen, aber ihre hertze ist noch weit wech von mir.‘ Heute in die morgenstunde habt ihr zu mir gesagt, daß ihr wolte der Heiland eure herze hingeben, aber ihr habt auch heute mit eure alte heidenshe gebrauche der abgott Tongarsok eure Herze hingegeben, und was das anbelangt, daß du – der man – hat mir gefragt, was ihr sollen thuen, da weiß ihr gut [daß ihr gut – durchgestrichen] daß ihr nicht eure Abgottereien soll lassen fahren, darum, daß ich wolt, aber es soll euch selber in eure herzen so sein, […].“ Die Esqu[imouxer]: „Nur [Nun – d.Vf.n] wollen wir wieder unsere herzen der Heiland hingeben.“35
Drachardts Zurechtweisung, sie hätten aus der falschen Gesinnung heraus gehandelt, dürfte Millik und seine Frau in Verwirrung versetzt haben. Hatte er
34 [Drachardt]: „Wen ihr daran denche, daß die Angekuten sagen,Tongarsok ist ihre vater und sie sind seine kinder, so fielt euch wol ein, daß der Heiland nent Tongarsok ein bose geist. Er nent ihm auch ein lugner, darum sind die Angekuten kinder des boses geistes, ja sie sind lügnere. Die Angekut[en] sagen, daß sie kan nach himmel fahren. Das ist jo auch lügen.“ (Drachardt, Diarium von Nain [s. Anm. 27], 18.02.1772, 40). 35 Drachardt, Diarium von Nain [s. Anm. 27], 1773, 88f.
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doch gesagt, dass sie ihrem Gefühl folgen sollten! Dass ein Angekok keinen Gehorsam verlangt, waren sie nicht gewohnt; darum macht Drachardts gegenteilige Behauptung „da weiß ihr gut […] nicht […] darum, daß ich wolt“ auch wenig Sinn. Die Leichtigkeit, mit der die beiden von Torngarsuk auf den Heiland überwechseln, lässt erahnen, dass sie den Synkretismus nicht als problematisch empfanden. Auch in den Folgejahren brachten es die Inuit nicht fertig, von ihren althergebrachten Traditionen abzurücken. Im Diarium von Nain des Jahres 1776 schildern die Herrnhuter Brüder den damaligen Stand der Dinge wie folgt: nsere hiesigen Eskimos leiden ziemlich hunger; sie sind aber zum Theil selbst U schuld dran, weil das Enthalten bey ihnen einer der grösten Aberglauben ist. Sie dürffen nemlich, so lang sie Rennthier=felle arbeiten und ihre Kleider nähen, kein Seehundfleisch eßen, und wenn die Männer, deren Kleider zuerst fertig genäht werden, auf Seehundfang ausgehen und was bekommen, dürffen sie es nicht zu hause bringen, biß die Weiber mit ihrer Näh=Arbeit ganz fertig sind, damit der Seehund nichts vom Rennthier rieche, sonst kriegen sie keine Seehunde. So ist es gleichfalls umgekehrt mit den Rennthieren. Wenn sie im frühjahr oder Sommer Rennthiere bekommen, da müßen sie 4 tage, nachdem sie ein Thier kriegen, nicht auf den Seehundfang fahren, sonst riechens gleich die Rennthiere. Es ist bey ihnen alles auf faule Tage eingerichtet. Wenn sie aber im Lande sind, da können sie Rennthierfleisch eßen, die felle arbeiten und Nähen, weil die Seehunde keinen Geruch davon kriegen.36
Boas berichtet unter Bezug auf Kapitän Comer, dass die Inuit die neuen Winterkleider aus Karibu-Fell und die Jagdgeräte über ein qualmendes Feuer aus getrocknetem Seetang hingen, bevor die Jäger zum ersten Mal auf die Seehundjagd fuhren. Der Rauch sollte den Geruch des Rentierfells, den der Seehund nicht mag, vertreiben. Darüber hinaus seien die Seelen der Meerestiere, die ihren Ursprung von Sedna nehmen, noch mit der besonderen Fähigkeit ausgestattet, gewisse Verstöße gegen die Tabus (Kontakt mit einer Leiche/mit Blut) zu sehen.37 Tagebuchpassagen wie die obige belegen, dass die frühen Herrnhuter Missionare dank einer scharfen Beobachtungsgabe die äußerlich wahrnehmbaren Merkmale und Auswirkungen der Tabus, die in den Diarien pauschal als „ihre (alten) heidnischen Gewohnheiten“ und „Aberglaube/abergläubisch“ gekennzeichnet werden,38 ziemlich präzise zu registrieren wussten, während sie über Diarium von Nain [s. Anm. 18], 19.12.1776, 645f. Boas,The Eskimo of Baffin Land and Hudson Bay [s. Anm. 30],Tl. 1 (1901), 148f. , 120 und Tl. 2 (1907), 502; Laugrand and Oosten, Hunters, Predators and Prey [s. Anm. 29], 273; dies., Inuit Shamanism and Christianity [s. Anm. 10], 118. 38 Vgl. Diarium von Nain [s. Anm. 18], 484, 503, 563, 565, 579, 667, 671 bzw. 298, 470, 503, 535, 620, 644, 646, 757 und 775; Drachardt, Diarium von Nain [s. Anm. 27], 63, 65, 72, 89, 91, 94, 104. 36 37
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den Sinn, den diese Traditionen für die kognitiv anders geprägten Inuit hatten, im Dunkeln tappten. Der folgende Eintrag, den die Brüder ein Jahr danach gemacht haben, untermauert diese Schlussfolgerung: en 8ten hatten wir Gemein-Tag. Unsre hier wohnenden Eskimos-Männer waren D die Zeit her fleißig ausgewesen, Seehund-Löcher auf dem Eise zu suchen, und hatten auch einige Seehunde bekommen. Weil ihre Weiber gegenwärtig aber noch in Rennthier-Fellen arbeiten, so bringen sie Keine nach Hause, sondern lassen sie so lange im Schnee begraben liegen und hungern derweile [!], was sie können. Man hat ihnen diesen Aberglauben, da sie meinen, wenn sie einen Seehund in der Zeit nach hause brächten, da sie noch in Rennthier Fellen arbeiteten, so röchen es die andern Seehunde und gingen davon, verschiedentlich wiederlegt. Nun fangen sie zwar an, sich darüber zu schämen, lassen aber doch nicht von ihrer alten Weise ab. Als daher kürzlich einer gefragt wurde, warum er seinen gefundenen Seehund nicht nach hause gebracht [habe – d.Vf.n], so antwortete er, der Winter sey lang und darum brächten die Menschen jezt noch keine Seehunde zu hause.39
Knud Rasmussen bestätigt, dass auch die Iglulik-Inuit den Hunger der Verletzung ihrer Tabus vorzogen. Während des Winters durfte kein Rentierfleisch in die Schneehütte gebracht und gegessen werden, bis die Seehunde ihre Junge bekamen (April).40 Die wiederholte Kritik der Herrnhuter an ihren Traditionen muss von den Inuit als unangenehm empfunden worden sein und brachte sie wohl auch in Verlegenheit. Obwohl sie die Herrnhuter Brüder als Autoritäten betrachteten und ihnen einerseits entgegenkommen wollten, waren sie andererseits noch nicht so weit, dass sie ihren Traditionen abschwören konnten oder auch nur wollten. In der Überzeugung, mit ihren Widerlegungen im Recht zu sein, deuteten die Herrnhuter die Verlegenheit der Inuit als Scham, was jedoch eher als Projizierung der eigenen Denkweise anmutet: Scham war dasjenige, was sie an den Inuit wahrnahmen, weil sie diese Empfindung aufgrund der eigenen moralischen Prägung in deren Verhalten hineininterpretierten. Die knappe Antwort des Inuks auf die Frage der Brüder weist vielleicht darauf hin, dass er damit einer ihm peinlichen Konfrontation aus dem Wege gehen wollte. In den Diarien von Nain gibt es weitere Beispiele für Auseinandersetzungen wegen des hier erörterten Tabus. Den 5. Januar 1778 kam Kulliut mit seiner Familie – allesamt Taufkandidaten – von der südlich gelegenen Insel Satorsoak zum Besuch nach Nain. Nach der allgemeinen Eskimo-Versammlung redeten die Brüder noch gesondert mit ihnen und Manuinas Schwester, die kurz zuvor getauft worden war und der wir im nächsten Paragraphen besondere Aufmerksamkeit schenken werden. Bei dieser Gelegenheit meldete Kulliut folgendes besondere Ereignis, von dem er durch andere Inuit in Kenntnis gesetzt worden war: Diarium von Nain [s. Anm. 18], 08.12.1777, 757. Rasmussen, Intellectual Culture of the Iglulik Eskimos [s. Anm. 15], 192.
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ulliut erzehlte […], daß als er kürzlich in Nukasusuktok gewesen, so hätte TuglauK vina in seinem hause gehexet, welches daher rührte, daß Kulliut bey seinem lezten besuch allhier ein Rennthier-Fell gearbeitet, das aber zur selbigen Zeit wieder der Eskimo Gesetz anging. Dieses hatten andre besuchende Eskimos hier gesehen und nach Nukasusuktok gebracht. Darauf habe Tuglauvina bey seiner hexerey ausgegeben, daß um deswillen die Weibgen von den Seehunden nicht mehr kommen wolten. Die Leute aus dem hause, worin Kulliut schlief, so [die – d.Verf.n] bey der hexerey zugegen waren, erzehlten diese begebenheit, worauf Kulliut aber nichts antwortete. Man zeigte ihm hiebey, wie alle dergleichen dinge eitel betrug wären und bat ihn, sich am Heiland zu halten und Ihm zu folgen.41
Angesichts der Tatsache, dass Tuglauvina42 – ein leibhaftiger Bruder des Angekoks Sekullia – früher selbst auch Angekok gewesen war,43 ist es nicht erstaunlich, dass er sich, wenn die Umstände es erforderten, wieder als solcher betätigte. Obwohl er sich für die Evangelisierung der Herrnhuter zugänglicher als sein Bruder zeigte, und sich insbesondere nach der Taufe des Angekoks Kingminguse bei den Brüdern auch fleißig darum bewarb, war er für den Katechumenenunterricht noch nicht in Betracht gekommen. In obigem Textausschnitt versuchte Tuglauvina als Angekok den Schaden, der durch den Verstoß Kulliuts gegen das Gebot der Vorfahren entstanden war, nämlich, dass die weiblichen Seehunde sich in der Gegend nicht mehr blicken ließen, auszugleichen. Das Beispiel illustriert, wie (im Bewusstsein der Inuit) die Folge des Rechtsbruchs einer einzelnen Person auf die ganze Gruppe übergreifen konnte. Über die Maßnahmen, die Tuglauvina für die Wiederherstellung des Gleichgewichts angeordnet hat, sagt das Diarium nichts aus. Ende desselben Monats44 beschwerte sich ein älterer Inuk namens Okarloak, der in Nain überwinterte, in fast allen Brüderstuben, dass er die Nacht über vergeblich an einem Atemloch gesessen und nichts gefangen habe. Die Seehunde kämen nicht mehr. Bruder Theobald Frech fragte, ob er für die Brüder einige Rentierfelle bearbeiten wolle, wofür sie ihn im Gegenzug mit Essen versorgen würden. Darüber musste Okarloak lange nachdenken, denn er meinte, sterben zu müssen, wenn es das Angebot annähme, und fragte Bruder Theobald, ob er es nicht auch glaube. Bruder Theobald gab ihm aber zu verstehen, dass die Gläubigen so nicht dächten und wusste Okarloak so weit zu beruhigen, dass er die Arbeit doch in Angriff nahm. Neben der Bemerkung, es gebe bei den Eskimos unzählige solche abergläubischen Dinge, ziehen die Brüder im Diarium folgende Bilanz: „Bei dergleichen Vorkommenheiten muß man sich doch manchmal wundern, wie eine
Diarium von Nain [s. Anm. 18], 05.01.1778, 767. Alternative Schreibweisen: „Tugluina“ (J. Haven 1770), „Tuksiavina“ (Chr. Drachardt 1770). 43 Diarium von Nain [s. Anm. 18], 15.01.1781, 1101. 44 Diarium von Nain [s. Anm. 18], 28.01.1778, 775. 41 42
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freye Nation sich an erdichtete Menschliche Gesetze binden läßt und steif und veste darüber hält.“45 Hier werden also die von jeher mündlich übertragenen Verhaltensregeln der Inuit-Vorfahren, die auf deren Weisheit und Erfahrung gründeten, den göttlichen Gesetzen der Heiligen Schrift gegenübergestellt. Aus Drachardts Diarium von Nain geht hervor, wie er an aktuelle Geschehnisse anknüpfte, um den Inuit anhand der Praxis den Inhalt der Zehn Gebote aus Luthers Kleinem Katechismus verständlich zu machen. Dass die Tabus der Eingeborenen den Herrnhutern weitgehend fremd geblieben sind, hängt auch damit zusammen, dass die Inuit-Angekoks die Geheimnisse ihrer Kunst, welche sie meist im Verborgenen („in der Finsternis“) ausübten, nicht öffentlich zu machen pflegten,46 gleichwie damals die Inuit bezüglich der eigenen Religion überhaupt nicht sonderlich mitteilsam waren. Erst nachdem er seine Hilfsgeister weggeschickt hatte und zum Christentum konvertiert war, vertraute sich der Iglulik Schamane Ava dem Anthropologen und Polarforscher Knud Rasmussen an, um frei über seinen Werdegang und sein Wissen zu reden. Hätte er dies eher getan, dann hätte er (nach eigener Aussage) seinen Kontakt zum Übernatürlichen geschwächt. Dieses sei der Grund für seine Zurückhaltung gewesen.47
3. Attuguna bekommt einen anderen Namen. Sämtliche Anstrengungen und Bemühungen der Herrnhuter Missionare waren darauf ausgerichtet, die „toten“ Herzen der Inuit für den Heiland als Erlöser und Versöhner empfänglich zu machen, damit zu gegebener Zeit die Taufe an ihnen vollzogen werden könnte. In zäher Verfolgung dieses Ziels malten sie den Inuit den leidenden Christus immer wieder vor Augen. Die vielen Wiederholungen der Passionsgeschichte mit Hervorhebung von Jesu Leiden, Tod, Blut und Wunden zielten darauf ab, das Gewissen der Eingeborenen aufzurütteln und sie zum Überdenken ihrer bisherigen Lebensweise zu bewegen. In ihren Diarien betonen die Brüder, wie sie Jesu große Liebe zu den Menschen
Diarium von Nain [s. Anm. 18], 28.01.1778, 775. So wollte beispielsweise auch der Angekok Sekullia 1774 nicht, dass die Brüder ihm bei seinen Prophezeiungen zusahen: „Da wir noch da saßen, kam ein Bote von Milliks hauß und hohlte die Leute von hier dahin, und uns wurde gesagt, daß wir da bleiben möchten, weil Sikkulliak, der Hexen=Meister, diesen Abend seine Kunst beweisen wollte und durch ihren gewöhnlichen Geist prophezeyhen von guten Wetter und glücklichen Seehundfang. […] Diese Hexerey währete etwa eine gute Stunde, und das im pechfinstern haus. Da wir hinkamen, hörten wir noch einige grobe Stimmen von dem Sikkulliak und des Geistes Stimme gleichsam vorstellen sollte [!], welches auch das lezte war“ (Diarium von Nain [s. Anm. 18], 05.01.1774, 409). 47 Laugrand and Oosten, Inuit Shamanism and Christianity [s. Anm. 10], 53; Knud Rasmussen: Rassmussens Thulefahrt. Bearbeitet und übersetzt von Friedrich Sieburg, Frankfurt/Main 1926, 226. 45 46
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stets „mit einem (vom Blut des Heilands) warmen Herzen“,48 also gefühlsbetont, anpriesen. Über die vorerwähnte alte Witwe Attuguna – Manuinas Schwester – erfahren wir in den Diarien von Nain, dass sie eine aufmerksame Zuhörerin des brüderischen Unterrichts war, weil sie die Fragen zur Bekehrung, die Drachardt in Manuinas Haus in Nain an sie stellte (deren Inhalt sie anscheinend auswendig gelernt hatte), einwandfrei beantworten konnte,49 und dass sie kränkelte. Schon 1772 behielten die Brüder sie für eine Weile als Näherin bei sich auf der Station.50 Trotz der Hoffnung auf Bekehrung, welche die Herrnhuter bereits zu dieser Zeit in Attuguna setzten, stellte sich heraus, dass sie, als die von den Brüdern gegen ihre Krankheit verabreichten Medikamente nicht gleich Wirkung zeigten, eine Illiseitsok – Hexenfrau – gerufen hatte und darüber hinaus noch ihren Bruder Manuina über sich hatte „hexen“ lassen.51 Im Jahr 1773 kam Attuguna wiederum mehrmals nach Nain und äußerte den Wunsch, im Winter nicht bei der Familie ihres Bruders auf den Inseln, sondern bei den Herrnhutern zu wohnen. Mit dem Einverständnis Manuinas nahmen die Brüder sie daher auf der Station auf, wo sie sich durch Näharbeiten – insbesondere die Anfertigung von Inuit-Kleidern und Stiefeln – sowie in der Küche und später darüber hinaus noch als Kinderbetreuerin nützlich machte.52 Am 5. November 1773 bezog Attuguna zusammen mit einer anderen etwa sechzigjährigen Witwe namens Nujelliak, die im Gegensatz zu Attuguna noch fit und gesund war und ihr Gesellschaft leisten sollte,53 das Winterhäuschen, das die Brüder aus ihrem kleinen Räucherhaus für die beiden Näherinnen hergerichtet hatten.54
48 „Wir ermunterten uns, freudig zu seyn, uns selbst alle Tage ein warmes Herz von Seinem Blute schencken zu laßen.“ (Diarium von Nain [s. Anm. 18], 01.01.1777, 655); „Sie [Die Inuit] fragten, wie mein herz wäre, wenn ich ihn fühlte. Antwort: ‚Mein herz ist warm und mit freude erfüllt und [ich – d.Verf.n] habe und fühle seinen frieden in mir.‘ Millik kam und sezte sich dichte vor mich hin und sagte mit sehr rauher Stimme: ‚Wir haben kein solch Gefühl, unsere herzen sind gleich den Steinen.‘ Ich antwortete: ‚Wir habens euch offte gesagt, daß eure herzen so hart sind als Steine, so kalt und Tod als das Eiß, und unsers Heilands Blut ist allein im Stande, sie weich zu machen.‘“ (Bruder Listers Bericht über seinen und Bruder Turners Besuch bei den Inuit von Nukasusuktok und Tunungajoarsuk vom 19. bis 25. Januar 1777. Diarium von Nain [s. Anm. 18] 31.01.1777, 679). 49 Drachardt, Diarium von Nain [s. Anm. 27], 20.02.1772, 43. 50 Diarium von Nain [s. Anm. 18], 31.08.1772, 239. 51 Drachardt, Diarium von Nain [s. Anm. 27], 04.11.1772, 65. 52 Diarium von Nain [s. Anm. 18], 09.10.1773, 389f. und 12.10.1778, 843; UA, R.15.K.b.17.a.179, Drachardts Brief an Paul Eugen Layritz vom 21.09.1775. 53 Die Brüder hatten Nujelliak darum gebeten, bei ihnen zu wohnen, weil sie die kränkliche Attuguna nicht gerne allein bei sich behalten wollten. Sollte sie sterben, dann würde Attugunas Tod die anderen Inuit ihnen entfremden, und sollte ihr etwas zustoßen, so könnten die Inuit dies den Brüdern übelnehmen (Diarium von Nain [s. Anm. 18], 04.03.1773, 312 und 02.11.1773, 393). Nujelliak wurde aber im nächsten Winter (am 29. Dezember 1774) von ihrem Sohn Allarak aus Nain abgeholt, weil er seine Mutter wieder bei sich haben wollte (Diarium von Nain [s. Anm. 18], 473). 54 Diarium von Nain [s. Anm. 18], 394.
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Was ihren Charakter angeht, stellten die Brüder fest, dass Attuguna eine stille Person war, ihnen zugetan, und dass sie gerne zuhörte, wenn sie mit ihr über den Heiland sprachen. Sie zeigte zwar einerseits eine Zuneigung zum Heiland, fühlte sich andererseits aber wegen ihres derzeitigen (unbekehrten) Zustandes keineswegs beschwert, denn sie meinte, sie könne doch beide – sowohl den Torngak als den Heiland – lieb haben. Dass dies, wie die Brüder einwandten, eben nicht möglich sei und sie einen der beiden aufgeben müsse, leuchtete Attuguna nicht ein.55 Am 2. Oktober 1773 beschloss die Ältestenkonferenz56 Attuguna, ihren Bruder Manuina und noch drei andere Inuit als Katechumenen anzunehmen. Sie sollten während ihres Aufenthalts auf dem Land der Brüder zweimal pro Woche gesondert Unterricht erhalten.57 Bald darauf begann Drachardt Attuguna dazu zu ermutigen, selbst mit dem Heiland zu sprechen, damit Er ihr helfe, ihr sündiges Herz kennen zu lernen. Attuguna antwortete, es sei ihr tatsächlich schon eingefallen, dass sie das eigentlich tun sollte.58 Durch seinen Ratschlag gab Drachardt Attuguna zu erkennen, dass sie für den Kontakt mit dem Heiland die Vermittlung der Brüder als „Angekoks“ nicht benötigte. Am 23. Juni 1775 wurden von den Brüdern in der Konferenz vier Inuit als Taufkandidaten vorgeschlagen, von denen der Heiland durch die Losbefragung nur Attuguna, deren Bruder Manuina im Januar auf der Insel Satorsoak gestorben war, dazu bestimmte.59 Da die Brüder schon öfter mit Attuguna über die Taufe gesprochen hatten, erkundigte sich Johann Schneider (1713–1785) nachher bei ihr, was sie selbst davon halte und ob sie auch danach verlange, „in der Tauffe mit Jesu Blut gewaschen zu werden“, worauf Attuguna mit Tränen in den Augen antwortete: „Ach ja! Ich dencke offte daran und es verlangt mich sehr
Diarium von Nain [s. Anm. 18], 04.03.1773 und 09.03.1773, 312f. Gemäß der Instruktion der UAC vom 23. März 1771 wurden aufgrund von Losbefragungen die Aufgaben wie folgt verteilt: Der dänische Medicus Christoph Brasen (1738–1774) wurde mit der Leitung der Station Nain betraut, wobei die Brüder Drachardt und Johann Schneider ihn unterstützen sollten. Zu dritt hatten sie u. a. darüber zu entscheiden, wer jeweils „die Liturgien, Singstunden, Abendmahle und andere Gelegenheiten“ halten sollte. Eine weitere Konferenz der drei vorgenannten Brüder zusammen mit Jens Haven, Stephan Jensen und den mitreisenden Schwestern sollte über innerliche und äußerliche Sachen, das Ganze betreffend – darunter die Losbefragung wegen Taufkandidaten nach vorangegangener Beratung – befinden. Stephan Jensen wurde das Amt eines Diakonus zugeteilt; er sollte die Aufsicht über den Haushalt führen und war für die Verwaltung der Vorräte, Werkzeuge und Waren zuständig (UA, R.15.K.a.7.c, Instruktion 23.03.1771, 35f.). In einem Zusatz (27.03.1771) auf der letzten Seite schreibt Heinrich XXVIII. Reuß (im Auftrag der UAC, Petrus), dass die beiden vorgenannten Konferenzen um Bruder Joseph Neisser, der ebenfalls seinen Ruf nach Labrador angenommen habe, ergänzt werden sollten (Instruktion 23.03.1771, 55). 57 Diarium von Nain [s. Anm. 18], 02.10. 1773, 387. An diesem Nachmittag betet Drachardt mit diesen Katechumenen auf den Knien, was ihnen fremd vorkommt, da sie es zuvor nicht gewohnt waren. 58 Diarium von Nain [s. Anm. 18], 02.11.1773, 393. 59 Diarium von Nain [s. Anm. 18], 23.06.1775, 511. 55 56
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darnach, mit Jesu Blute in meinem herzen gereinigt und von allen bösen abgewaschen zu werden.“60 Im darauffolgenden Jahr beobachteten die Herrrnhuter in ihrer Klasse der Taufkandidaten, dass diese Inuit mehrheitlich „heiteres Gemüths waren, lichte aussahen und sich gefühlig erklärten“.61 Dieser positiven Einschätzung ihrer Gesinnung – eine Projizierung der Hoffnung, welche die Herrnhuter in sie setzten – wird Folgendes hinzugesetzt: „Wir wünschten ihnen recht fleißigen Umgang mit dem Heiland und das fühlen seines friedes und Trostes bei allen ihren Geschäfften, damit die Ungetaufften und welche noch nicht Tauf=Candidaten sind, an ihnen was anders sehen möchten.“62 Insbesondere Attuguna bezeugte, zwar könne sie sich Sachen schlecht merken, sie wolle aber den Heiland lieben und ihn richtig kennen lernen. Am 16. Dez. 1777 unterhielten sich die Geschwister der Ältestenkonferenz mit einigen ihrer Taufkandidaten, darunter Attuguna, wobei diese Inuit ihre Liebe zum Heiland und ihr Verlangen nach der Taufe auf schlichte, aber nach Ermessen der Brüder und Schwestern immerhin erfreuliche Weise darlegten. Den 20. Dezember wurde Attuguna durch das Los zur Taufe bestimmt, welches ihr am 22. Dezember abends mitgeteilt wurde. Ihre Gesinnung dem Heiland gegenüber schätzten die Herrnhuter Brüder als zufriedenstellend ein, und als ihr am 23. Dezember in der gewöhnlichen Eskimo-Versammlung noch einige Fragen gestellt wurden, wusste sie diese vor ihren Landsleuten freudvoll zu beantworten. Obwohl Attuguna über ihre bevorstehende Taufe recht glücklich war, sorgte sie sich doch wegen ihrer Ungeschicktheit zum Lernen und ging nun täglich mehrmals zu Bruder Samuel Liebisch (1739–1809), um sich von ihm zusätzlich unterrichten zu lassen. Den 25. Dezember 1777 nachmittags um zwei Uhr wurde Attuguna im Eskimosaal von Bruder Liebisch in der Eskimosprache getauft und erhielt den christlichen Namen Rebecca. Insgesamt 24 Inuit, von jung bis alt, wohnten der Feierlichkeit bei und verfolgten deren Verlauf mit besonderem Interesse. Seit der junge Angekok Kingminguse als Erstling aus den Labrador-Inuit am 19. Februar 1776 von Bruder Schneider in der Eskimosprache „in Jesu Tod“ getauft worden war und den christlichen Namen Petrus erhalten hatte,63 griff die Begeisterung für die bevorzugte Stellung eines Getauften – er war als „unser Bruder Petrus“ in die „Gemeine der Gläubigen“ aufgenommen worden – zunehmend auf die andern Inuit über: So drängte nun z. B. die Familie Kulliut (Taufkandidaten) vor ihrer Abfahrt aus Nain darauf, noch denselben Winter getauft zu werden, betonte der Knabe Kapik, dass er nur wegen der Taufzeremonie länger in Nain geblieben sei und versicherte ein an-
Diarium von Nain [s. Anm. 18], 23.06.1775, 512 (nach Apg 22, 16). Diarium von Nain [s. Anm. 18], 26.10.1776, 636. In der Klasse befand sich außer den sechs Taufkandidaten auch der Erstling Petrus (der junge ehemalige Hexenmeister Kingminguse), der im Laufe der Zeit rückfällig werden sollte. 62 Diarium von Nain [s. Anm. 18], 26.10.1776, 636. 63 Diarium von Nain [s. Anm. 18], 19.02.1776, 564–566. 60 61
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derer den Brüdern, er hätte während der Taufe etwas vom Heiland gefühlt, während einige alte Frauen es nur bereuten, dass ihnen das Lernen so schwer fiel – niemals würden sie es so sagen können, wie Rebecca es gemacht habe – sonst wären sie auch gerne getauft worden. Eine von ihnen ergänzte noch, dass sie jetzt verstehe, warum Rebecca so lange auf die Taufe habe warten müssen, nämlich, weil es viel zu lernen gebe, woraufhin die Brüder entgegneten, dass es dabei gar nicht „aufs Lernen mit dem Kopfe ankomme“64, sondern dass sie ihre verdorbenen schlechten Herzen dem Heiland hingeben und ein Gefühl von ihm kriegen sollten, um der Taufe teilhaftig zu werden. Ende Januar 1778 wurden die Brüder wider Erwarten mit folgendem Vorkommnis konfrontiert, das ihre Zuversicht in Attugunas Bekehrung ins Wanken brachte. Die Geschichte schließt sich im Diarium als weiteres Beispiel für die zahlreichen abergläubischen Dinge der Eskimos an den im vorigen Paragraphen erwähnten Vorfall mit Okarloak an: S o wurden wir Z[um] E[xempel] dieser Tagen gewahr, daß unsre Rebecca unter dem linken Ermel ihres besten Pelzes noch ein kleines ledernes Mängen hängen hatte. Bruder Liebisch fragte sie, was das zu bedeuten habe. Sie sagte mit einiger bestürzung, weil sie schlecht wäre zu schreiben, so habe sie das für ihren Namen. Es wurde ihr gezeigt, daß so etwas nichts tauge. Sie wäre mit des heilands blut abgewaschen worden und hätte in der Taufe einen neuen Namen gekrigt und versprochen, dem heiland allein zu folgen. Sie solte daher das unnütze Ding wegthun. Sie brachte manche Entschuldigung vor, versprachs aber wegzuschneiden. Bruder Liebisch sagte ihr darauf, sie solle es ihm geben. Sie erwiederte: „Es kann Dir nichts helfen, ich will es abschneiden.“ Er sagte weiter: „Ich wolte es darum haben, um es im Ofen zu verbrennen.“ Darauf war sie ein wenig tiefsinnig, stand aber bald auf, ging selbst vor den Ofen, riß es herunter und schmiß es hinein, daß es verbrannte, worüber sich alle, die gegenw[e]rtig waren, herzlich freuten. Nachher sagte sie zu vorgenannten bruder: „Unterweise mich wieder, wenn ich irre, ich will Dir folgen.“65
Bei Knud Rasmussen finden wir eine Erklärung für die Anwendung und Bedeutung eines solchen Amuletts bei den Inuit von Iglulik: ine schwangere Frau muss zwei kleine Puppen anfertigen aus einem sako.t E (Schrappeisen zum Glätten von Tierfellen), das einem/r Verstorbenen gehört hat; diese Puppen muss sie als Amulette in ihrer Unterjacke befestigen, eine in jeder Achselhöhle. Solche Amulette, die imnarmin („let it be an adult“) genannt werden, bewirken, dass die werdende Mutter den Fötus leicht tragen kann.66
Diarium von Nain [s. Anm. 18], 25.12.1777, 762. Diarium von Nain [s. Anm. 18], 28.01.1778, 775f. 66 Rasmussen, Intellectual Culture of the Iglulik Eskimos [s. Anm. 15], 170. Laugrand and Oosten, Inuit Shamanism and Christianity [s. Anm. 10], 273 [übers.v.d.Verf.n]. 64 65
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Um den obigen Konflikt mit Bruder Liebisch von Attugunas Standpunkt her zu betrachten, bedarf es vorab folgender ergänzenden Erläuterung: Im Zusammenhang mit dem christlichen Begriff „Seele“ sind bezüglich der Inuit vor allem zwei Vorstellungen von Belang: tarniq (Pl. tarniit) und atiq (Pl. atiit).67 Unter tarniq (Wortstamm tar- : „shadow“) verstanden die traditionellen Inuit das Bild („image“) eines Menschen oder Tieres im Kleinformat68 innerhalb einer Luftblase (pullaq), welche sich nach ihrem Dafürhalten in einem lebenswichtigen Organ (Leber, Nieren oder Leiste) befand. Ethnographen wie Boas und Rasmussen übersetzten tarniq mit dem christlichen Begriff „soul“, obwohl dieser Ausdruck im Grunde erst nach der Bekehrung der Inuit zutreffend war.69 Die Gesundheit und Vitalität, kurzum das Wohlbefinden eines Lebewesens, kamen in dessen tarniq als Abbild zum Ausdruck und hingen auch davon ab. Die Blase mit dem Bild konnte den Körper zwar zeitweise (z. B. während einer Krankheit) verlassen, aber wenn sie nicht dorthin zurückkehrte, würde das Lebewesen sterben.70 Wenn der Tod eines Menschen eintrat, platzte die Blase, wonach das darin enthaltene winzige Abbild des betreffenden Menschen bis zu dessen normaler Größe zu wachsen anfing und in nichtstofflicher Form ins Jenseits überwechselte.71 Während die tarniit toter Beutetiere im ständigen Kreislauf reinkarnierten,72 setzten die tarniit der Menschen ihr Leben im „Land der Toten“ fort. Aus dem Journal der Brüder Hill, Haven, Drachardt und Schloezer von 1765 geht hervor, dass Bruder Drachardt, der in Kopenhagen von Hans Egede unterrichtet worden war und danach zwölf Jahre als Missionar in Godthaab gewirkt hatte, den Begriff tarniq kannte: ienstag, den 3. September [1765]. Vormittags kamen 7 Kajacke in unsern Hafen. D […] Sie handelten, hatten aber wenig Fischbein, und als sie fertig waren, redete Bruder Drachard mit ihnen, und machte über das Wort Tarnak [sic], „die Seele“, folgende Fragen an sie: 1. Habt ihr eine Seele? Antwort: Ja. 2. Wo habt ihr das Ding? Antwort: Darinnen in unserm Leibe. 67 Laugrand and Oosten, Inuit Shamanism and Christianity [s. Anm. 10], 111–115 (tarniq), 126–131 (atiq) und 392, 397 (Verzeichnis); Laugrand and Oosten: Hunters, Predators and Prey [s. Anm. 29], 39–41. 68 Miniaturausgaben von Gegenständen im Format der tarniq hatten in der Inuit-Kultur eine wichtige Funktion. Die Angekoks trugen zum Töten böser Geister winzige Messer an ihren Gürteln und kleine Nachbildungen von Kajaks, Jagdgeräten und anderen Werkzeugen der Verstorbenen wurden ihnen zur weiteren Verwendung im Jenseits aufs Grab gelegt (Laugrand and Oosten, Inuit Shamanism and Christianity [s. Anm. 10], 277, 280–282). 69 Vgl. Laugrand and Oosten, Inuit Shamanism and Christianity [s. Anm. 10], 112. NB Im Vergleich zum transzendentalen christlichen Begriff „Seele“ ist tarniq als Abbild des betreffenden Lebewesens eine eher konkrete Vorstellung. 70 Laugrand and Oosten, Inuit Shamanism and Christianity [s. Anm. 10], 112. 71 Cosmology and Shamanism [s. Anm. 24], 10. 72 Laugrand and Oosten, Inuit Shamanism and Christianity [s. Anm. 10], 132.
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3. Ist das unsterblich? Antwort: Ja. 4. Ist euer Leib auch unsterblich? Antwort: Nein. 5. Wo kommt eine Seele hin, wenn der Leib stirbt? Antwort: In den Himmel. 6. Wird euer Leib wieder lebendig werden? Antwort: Das wißen wir nicht. 7. Habt ihr ein Herze? Antwort: Ja. 8. Wo habt ihr ein Herze? Antwort: Hier in uns (dabey wießen sie auf ihr Herze). 9. Wollet ihr diese[s] dem Heiland hingeben? Antwort: Ja. 10. Wollet ihr den Heiland um ein neues Herze bitten? Da betete er, und sie wiederhohlten seine Worte, aber ohne Reflection.73
Dass Drachardt ebenfalls den Sinngehalt erfasste und seinen Unterricht danach ausrichtete, ergibt sich aus folgendem Eintrag: ruder Drachard ging darauf an einen andern Ort, da kamen wieder etl[ich]e zuB sammen. Er fing an: „Der H[ei]l[an]d hat eurenthalben unzehliche Wunden.“ Sie [die Inuit] fragten: „Worum?“ Er antwortete: „Um euch gesund zu machen.“ Da sagte eine alte Frau: „Ich bin kranck.“ Er fragte: „Ist deine Seele kranck?“ Sie sagte: „Ja.“ Darauf wandte er sich zu den Angekoks und sagte: „Ihr habt Verstand, wenn ihr lehret, daß die Seele kranck ist.“74
Drachardt erklärte den Labrador-Inuit, ihre Krankheit bestehe darin, dass sie den Heiland nicht kennten. Der Heiland sei ihr Arzt und Heiler, den sollten sie kennen lernen. Nach diesem kleinen Exkurs über Drachardt wechseln wir von der Seele zum Namen über, um das Verhältnis der beiden Begriffe zueinander verständlich zu machen: Während die „Seele“ (tarniq) des Verstorbenen im Jenseits ihr künftiges Leben antritt, gehört sein Name (atiq: „name, namesake“) weiterhin zu dieser Welt.75 Der Name weist auf eine Beziehung hin und enthält die Qualitäten (vorzügliche Eigenschaften wie Kraft, Weisheit, bestimmte Fertigkeiten) des Menschen, der ihn zuvor getragen hat. Indem also ein neugeborenes Kind nach einer kürzlich verstorbenen Person benannt wird, werden die Eigenschaften dieser Person auf das Kind übertragen. Der/die Verstorbene wartete gleichsam darauf, dass sein/ihr Name von einem neugeborenen Kinde (das lt. Rasmussen nach einem Namen schreit) angenommen wurde, um die leichte und noch unerfahrene tarniq des betreffenden Namensgenossen („namesake“) zu stärken und unterstützen. Diese Tradition sicherte die soziale Kontinuität der Inuit-Gesellschaft,
73 UA, R.15.K.a.5.2.b, Journal der Brüder Hill, Haven, Drachard und Schloezer, 03.09.1765, 121. 74 Journal der Brüder Hill, Haven, Drachard und Schloezer [s. Anm. 73], 26.08.1765, 106f. 75 Edward Moffat Weyer Jr.: The Eskimos, Their Environment and Folkways. New Haven 1932, 291–296 (The Name-Soul), hier 291.
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weil die (mehrheitlich nicht geschlechtsspezifischen) Namen die Beziehung zu den Vorfahren herstellten.76 Mit diesen Hintergrundinformationen gerüstet wollen wir nun versuchen, den Konflikt zwischen Liebisch und Rebecca (Attuguna) im Diarium von Nain von beiden Perspektiven her zu deuten: In dem oben aufgeführten Zitat stellte Bruder Samuel Liebisch die Witwe Rebecca (Attuguna) wegen des Amuletts (aarnguak, Pl. aarnguat), das sie am linken Ärmel ihres Pelzes trug, zur Rede. Attuguna war zu Weihnachten 1777 mit dem „Blut des Heilands“ von ihren Sünden gereinigt worden und gehörte seitdem als Wiedergeborene nur ihm, was in ihrem neuen christlichen Namen „Rebecca“ zum Ausdruck kommt. Oder, noch mal anders formuliert: Während der Taufe „in den Tod Jesu“ war die heidnische Attuguna ertränkt und die Christin Rebecca als neuer Mensch geboren worden. Hatte Drachardt den LabradorInuit 1771 noch davon abgeraten, ihre „Arnguoaker“ zu früh wegzuwerfen,77 so war andererseits die Anwendung von Amuletten nach der Taufe nicht mehr erlaubt. Fortan sollte das Blut des Heilands als innerliches Amulett Rebecca schützen.78 Um den Synkretismus auszuräumen, musste Bruder Liebisch also darauf bestehen, dass Rebecca auf das äußerliche Amulett als heidnisches Attribut und ihren heidnischen Namen Attuguna verzichtet.79 Die traditionell geprägte Attuguna, die schon eher indigene Heilmethoden herangezogen, als Wahrsagerin agiert und darüber hinaus signalisiert hatte, dass die Kombination von Torngak und Heiland nach ihrer Vorstellung durchaus möglich sei, dürfte mehrere Namensbezeichnungen als genauso unproblematisch oder sogar vorteilhaft80 empfunden haben. Sie versuchte Bruder Liebisch 76 Weyer, The Eskimos [s. Anm. 75], 295; Laugrand and Oosten, Inuit Shamanism and Christianity [s. Anm. 10], 126, 132. NB In Europa ist die Tradition, wonach die Kinder zur Stärkung des Familiengefühls die christlichen Namen der Großeltern erhielten, unter dem Einfluss der Individualisierung und Säkularisierung zunehmend in Vergessenheit geraten.Vgl. zum Thema Säkularisierung: Hartmut Lehmann: Säkularisierung. Der europäische Sonderweg in Sachen Religion. Göttingen 22007. 77 Drachardt, Diarium von Nain [s. Anm. 27], 8.12.1771, 27f. 78 Vgl. Thea Olsthoorn: Christian Drachardt unterweist die Inuit in der christlichen Religion. Seine Mittel, Methoden und Techniken, auf ihre Wirkung hin untersucht. In: „Schrift soll leserlich seyn.“ Der Pietismus und die Medien. Beiträge zum IV. Internationalen Kongress für Pietismusforschung 2013. Hg. v. Christian Soboth u. Pia Schmid. 2 Bde. Halle 2016, 417–430, hier 427; Journal der Brüder Hill, Haven, Drachardt und Schloezer [s. Anm. 73], 26.08.1765, 108. 79 Die kombinierte Namensbezeichnung einiger Erstlinge im Inhaltsverzeichnis zweier Bücher der Historie von Grönland („Samuel Kajarnak“ und „Sarah Pussimek“) dient wohl nur dem Zweck, den Leser auf den Namenswechsel aufmerksam zu machen (David Cranz: Historie von Grönland [Barby 1765]. ND 21770. In: Nikolaus Ludwig von Zinzendorf. Materialien und Dokumente. Hg. v. Erich Beyreuther [u. a.]. Reihe 2, Bde. 26.1 und 26.2. Hildesheim [u. a.] 1995. Bd. 1, Tl. 2, Buch V. Neu-Herrnhut 1739, 498 und Bd. 1, Tl. 2, Buch VI. Neu-Herrnhut 1740, 514). 80 Edward M. Weyer Jr. schreibt, dass die Inuit der Beringstraße im Alter ihren Namen änderten, weil sie hofften dadurch ihr Leben zu verlängern. In Ponds Inlet und an der Davis Straße wurde die Namensänderung zur Behandlung von Krankheiten eingesetzt (Weyer, The Eskimos [s. Anm. 75], 298).
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zu erklären, dass sie das Amulett als Personifizierung der Beziehung zu ihrem verstorbenen Namensgenossen trug,81 weil sie ihren Inuit-Namen nicht schriftlich festhalten konnte. Als Liebisch die Puppe einforderte und Attuguna nicht auf Anhieb begriff, dass er das Amulett nicht für sich beanspruchte, entgegnete sie: „Es kann Dir nicht helfen“. Aufgrund der Namensbeziehung konnte das Amulett ja nur für sie selbst wirksam sein! Attugunas Bestürzung und ihre Entschuldigungen sind Ausdruck ihrer seelischen Not, wobei Liebisch ihr kaum Zeit zur Erwägung der mit der Vernichtung der Puppe einhergehenden Risiken ließ. Als sie das Amulett ins Feuer warf und also „Angekok“ Liebisch als Autorität gehorchte („Ich will Dir folgen.“), trennte sie sich gezwungenermaßen von der Führung und dem Schutz ihres verstorbenen Namensgenossen, der ihr (aus Attugunas Sicht) die Übergangsphase zum neuen Glauben, in der ihre Identität als Rebecca noch wachsen sollte, hätte erleichtern können. Wegen ihres „Rückfalls“ wurde Rebecca am 26. April 1778 in der Versammlung der Hausgemeinde nochmals daran erinnert, was der Heiland an ihr getan habe, nämlich, dass er sie in der Taufe mit seinem Blute von ihren Sünden abgewaschen habe, und sie wurde gebeten, sich an diesem Tag ganz aufs Neue dem Heiland hinzugeben und nur für ihn zu leben.
4. Die Reinkarnation der Seehunde Am 5. Juni 1772 kamen zwei Inuit, von denen der eine zum Angekok ausgebildet werden sollte, von Pangnertok nach Nain, um Seehundspeck zu verkaufen. Der Tagebucheintrag enthält die Meinung der Herrnhuter zur Hexerei und nennt dafür einige Beispiele: lle ihre hexserey ist nur ein Blind-Werck, worunter nur der feind sein Spiel hat, A da er einen, der ein Bißel Gesheuter ist wie andre [!] und denselben was Einbläßt, der es hernach die andre weißmacht und zu ihnen sagt: „Wenn ihr diß und jenes“, was es nun [nur – d.Vf.n] seyn kan, „nicht thut, so wird daß und daß drauß entstehen.“ Zum exempel: Wir haben die Tage zu erfahren geckriegt, daß wenn sie das ganze Speck von einer großen Seeh[un]d verkauff[en], so gehen dieselbe weg und [sie – d.Vf.n] können darnach keiner mehr fangen. Auch ist daß nicht gut: Wenn sie ein ganzer Seehund Verckauff[en], müßen sie den Kopf nicht mit verckauffen, welches wir heute wircklich von die beide in erfahrung beckam, da sie uns 3 kleine Seehunde ohne Kopf verckauff[t- d.Vf.n]en. Sie hatten aber dieselben inwendig vor die Pallisaten an ein ort aufgehoben, wo unsre hunde in der Nacht sie nahm[en] und gefressen [haben – d.Vf.n]. Da Seguliak und Tugluina von hier im früh Jahr wegfuhr[en], hatten sie viele von den Knochen der Seehunde-Köpfe auf eine
Vgl. Laugrand and Oosten, Inuit Shamanism and Christianity [s. Anm. 10], 128, 303.
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Schnüre gezogen. Br[uder] J[ens] Haven frug sie, was daß bedeuten solte. „Es ist nicht gut“, sagten sie, „daß dieselbe aufm Land bleiben.Weil sie vom Wasser gekommen sind, so gehören sie auch wieder dahin und daselbst versincken wir sie auch“, [und – d.Vf.n.] dergleichen nonsence mehr, was die Angikoks ihre Lands-Leute weißmachen.82
Der Respekt, den die Inuit ihren (Beute)tieren entgegenbrachten, kommt u. a. in der Tradition, die Knochen der Seehunde zu sammeln und ins Meer zu versenken, zum Ausdruck. Für ihr Überleben waren die Inuit in mehrfacher Hinsicht (Nahrung, Kleidung und Wohnung) auf das Töten von Tieren, die nach ihrem Dafürhalten genauso wie die Menschen Seelen besäßen, angewiesen. Um die Seele des Beutetiers, welche sich wegen des Verlusts des zugehörigen Tierleibes an dem Jäger (und ggf. an dessen ganzer Gruppe) rächen könnte, zu versöhnen, waren – wie im zweiten Paragraphen dargelegt wurde – strenge Vorschriften (Tabus) einzuhalten.83 Die Inuit glaubten an die kontinuierliche Reinkarnation der Tierseelen, wobei das Beutetier stets zu dem Jäger, der ihm den gebührenden Respekt bezeigt hatte, zurückkehrte. Auf diese Weise waren Jäger und Beutetier im Kreislauf miteinander verbunden.84 Die dänische Ethnologin Birgitte Sonne legt unter Bezugnahme auf Dalager85 dar, wie in Grönland sämtliche Knochen des ersten von einem Jungen getöteten Seehundes sorgfältig eingesammelt und ins Meer versenkt wurden, genau an der Stelle, wo er das Tier gefangen hatte. Sie vermutet, dass die Grönländer annahmen, dass das Ritual die Reinkarnation des Seehundes förderte.86 Knud Rasmussen beschreibt die Tradition bei den Iglulik-Inuit in allen Einzelheiten.87 Die Seele kehrte zu den Knochen zurück, damit der junge Jäger in Zukunft denselben Seehund immer wieder fangen könnte. Der Gedanke, dass die Seele zu den Knochen zurückkehrt, der bei den Inuit vor der Christianisierung auf die Beutetiere (und in symbolischem Sinne auch auf die hervorragendsten Angekoks) zutraf, findet sich in der christlichen Vorstellung der Auferstehung wieder – allerdings nur in Bezug auf Menschen. So heißt es in Nikolaus Ludwig von Zinzendorfs Heidenkatechismus zum Gebrauch für die Boten 1740: „Man stirbt ja noch?“ „Wer seine ist, stirbt nicht, sondern er
Diarium von Nain [s. Anm. 18], 05.06.1772, 215f. Laugrand and Oosten, Inuit Shamanism and Christianity [s. Anm. 10], 115f. 84 Laugrand and Oosten, Inuit Shamanism and Christianity [s. Anm. 10], 120. 85 Lars Dalager: Greenlandic Relations. In: Det Grønlandske Selskabs Skrifter II. Kopenhagen 1915, 4. 86 Birgitte Sonne: The ideology and practice of blood feuds in East and West Greenland. In: Études/Inuit/Studies 6, 2, 1982, 21–50, hier 29. 87 Rasmussen, Intellectual Culture of the Iglulik Eskimos [s. Anm. 15], 178f. Die Stelle für die Versenkung der Knochen war in Iglulik das Atemloch eines (beliebigen) Seehundes. 82 83
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legt nur den elenden Leib weg, und sein Geist gehet zu Gott, bis der Leib wieder fertig gemacht ist in der Erde, denn zieht er ihn wieder an.“88 Da sich infolge des Verkaufs der Seehunde an Europäer nicht mehr alle Knochen einsammeln ließen, versenkten laut der obigen Tagebuchpassage Seguliak (Sekullia) und Tuglauvina zumindest die Knochen der Seehundsköpfe ins Meer, um die Reinkarnation der Seehunde zu begünstigen. Einen ganzen Seehund, also mit Kopf, zu verkaufen, hieße, dass keine Knochen ins Meer zurückgeführt und seine Seele nicht reinkarnieren könnte. Umgekehrt und in Analogie dazu konnte man sich – wiederum Birgitte Sonne zufolge – vor der Rache (der Seele) einer ermordeten Person schützen, indem man den Leichnam in derselben Weise zerstückelte, wie man es bei einem getöteten Seehund zu tun pflegte. Die Teile des Leichnams mussten aber über eine weite Fläche – teils auf dem Lande, teils im Meer – verstreut werden, damit der Tote seine Entität nicht wiederherstellen könnte, um sich zu rächen.89 In Westgrönland schützte der Verzehr z. B. des Herzens oder der Leber des Mordopfers als kannibalisches Ritual den Mörder noch zusätzlich vor der Rache des Ermordeten. David Cranz beschreibt den Ritus in Verbindung mit der Blutrache wie folgt: S ie [die Freunde/Verwandte des Mordopfers als Rächer – d.Vf.n] greiffen ihn [den Mörder] gemeiniglich auf dem Lande, zeigen mit wenig Worten die Ursach an, steinigen oder erstechen ihn, und werfen seinen Cörper in die See, oder zerhauen ihn, wenn sie recht böse sind, und verschlukken ein Stükgen vom Herzen oder der Leber, weil sie denken, daß dessen Anverwandte dadurch das Herz verlieren, sie anzugreiffen.90
Edward M.Weyer bestätigt, dass die Einnahme eines Teils der Leber unter fast allen Inuit Stämmen ein gängiger Ritus war, um die Seele („spirit“) eines Ermordeten, der sonst als rachsüchtiger Geist wiederkehren könnte, unschädlich zu machen.91 Die Zerstückelung und Zerstreuung von Leichenteilen begegnet auch in der Vorgeschichte der Herrnhuter Labrador-Mission im Zusammenhang mit der Suchexpedition von Nisbet (Reeder), Goff (Kapitän) und Bell (Begleiter), die ein Jahr nach dem verhängnisvollen Ausgang der ersten Erkundungsreise nach Labrador (1752), wobei der Oberkaufmann Johannes Erhardt und sechs weitere Mitglieder der Schiffsbesatzung von einer Handelsbegegnung mit den Inuit nicht zurückkehrten, ihre Leichen auf der Insel Manneriktok entdeckten:
88 Nikolaus Ludwig von Zinzendorf. Texte zur Mission. Mit einer Einführung in die Missionstheologie Zinzendorfs. Hg. v. Helmut Bintz. Hamburg 1979, 67. 89 Sonne, The ideology and practice of blood feuds [s. Anm. 86], 29. 90 Cranz, Historie von Grönland [s. Anm. 79]. Teil 1, Buch 3, Abschnitt IV, § 33, 249f. 91 Weyer, The Eskimos [s. Anm. 75], 229; vgl. auch: Sonne, The ideology and practice of blood feuds [s. Anm. 86], 29.
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nd da Gott es haben wollte und so lenkte, legten sie zufällig an der Insel an, wo U sie die Körper unserer Leute fanden, aber ohne einen vom andern unterscheiden zu können außer den [!] armen Hr. Hamilton, so zerstückelt waren sie. Letzterer war beinah noch ganz, abgesehen von einem Loch im Schädel, und einigen andern kleinen Wunden. Er lag auf seinem Gesicht mit den Händen auf dem Rücken; es scheint, daß sie ihn gebunden hatten.92
Der Steuermann der Suchexpedition habe sogar den Eindruck gehabt, dass die übrigen Leichen nach dem Zerschneiden gekocht worden seien, und diese Ansicht sei von mehreren Expeditionsmitgliedern geteilt worden. Die Beobachtung scheint die Erkenntnis, dass die Mörder zu ihrem eigenen Schutz Teile der inneren Organe aßen, zu untermauern.
5. Auswertung der Ergebnisse und Schlussfolgerung Kehren wir nun zur aussagekräftigen Metapher von Greg Dening am Anfang dieses Aufsatzes zurück, die an dem Bild von Inseln und Stränden als Übergangsregionen veranschaulicht, dass die Verständnisschwierigkeiten, die bei interkulturellen Begegnungen aufzutreten pflegen, auf die unterschiedliche Klassifizierung der Umwelt der jeweiligen Kommunikationspartner zurückzuführen sind. Weil die kulturell gefärbten Ansichten für diejenigen, die sie teilten, dermaßen selbstverständlich waren, dass – sozusagen auf der Metaebene – die Voreingenommenheit nicht einmal ins Bewusstsein drang, konnten die Berichte, die Europäer von jeher über ihre überseeischen Kontakte mit indigenen Kulturen verfassten, keine objektiven Wiedergaben der Realität sein.Verhaltensweisen und Reaktionen der Eingeborenen kamen ihnen häufig fremd vor und wurden von der europäischen Prägung her (und für die europäische Leserschaft) in meist stereotyper Weise dargestellt. Die vorangehenden Passagen aus den Herrnhuter Diarien sind ein Beleg dafür, dass auch die Herrnhuter Brüder während ihrer Begegnungen mit den Inuit mit Unverständnis reagieren konnten, wobei sie manchmal die eigenen moralischen Ansichten als Empfindungen (Scham) oder Eigenschaften (Faulheit) auf die Eingeborenen übertrugen oder hingegen ihre positiven Erwartungen auf sie projizierten (heiteres Gemüt, lichtes Aussehen, gefühlige Ausdrucksweise), als stünde die Erweckung ihrer Katechumenen schon bevor. Von den unwirtlichen klimatischen Verhältnissen (Eis), der felsigen Landschaft (Stein) und der kratzig klingenden Stimme (rau) der Inuit schlossen sie auf deren Ge-
92 Zitiert aus einem Brief von Kapitän Goff. In: H.G. Schneider: Die Ermordung Erhardts und seiner Genossen. Aus der Vorgeschichte der Labradormission. Herrnhut 1913, 49f.
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fühlskälte.93 An solchen Textstellen lässt sich die „implizite Ethnographie“ deutlich erkennen. Da anscheinend weder die frühen Herrnhuter Missionare in Grönland noch deren erste Amtsbrüder in Labrador das „Head Lifting“ Ritual, das im ersten Abschnitt abgehandelt wurde, als indigene Prophezeiungsmethode identifizieren konnten, zogen sie für die Beschreibung Vergleiche mit europäischen Kategorien heran („reiteln“, „eine Art von Gebet“ und „Wünschelrute“). Jens Haven bewertete die Tradition als „einfältig“ und „dumm“, gestand aber andererseits ein, dass den Inuit die Anwendung solcher Verfahren nicht übelzunehmen sei, weil sie den Heiland noch nicht kannten. Die von den Herrnhutern praktizierte Form der Vorhersage war die Losbefragung als Fingerzeig Gottes. Das Los wurde sowohl in Personal- als in Sachfragen eingesetzt, namentlich in solchen Fällen, wo sich die Folgen einer Entscheidung aus menschlichem Gesichtspunkt nicht abschätzen ließen.94 Anlass dazu waren im vorliegenden Aufsatz: ein Heilverfahren, die Auswahl von Taufkandidaten, die Bestimmung zur Taufe, und die Besetzung von Ämtern bzw. V erteilung von Aufgaben gemäß der Instruktion von 1771. Im zweiten Paragraphen haben wir zur Kenntnis genommen, wie die mündlich überlieferten Verhaltensregeln (Tabus) der Inuit, deren Wichtigkeit und Bedeutung den Brüdern ebenfalls entgingen, gegenüber den göttlichen Geboten der Heiligen Schrift als „Aberglaube“, „Betrug“ und „erdichtete menschliche Gesetze“ bezeichnet, und beanstandet wurden. Die gemäß den Tabus zu beobachtenden mehrtägigen Jagdpausen, die auf Respekt vor den Seelen der Beutetiere gründeten, schrieben die Herrnhuter der Charaktereigenschaft Faulheit zu: „Es ist bey ihnen alles auf faule Tage eingerichtet“, wobei die Konstatierung, dass die Inuit für den Winter keine Nahrungsvorräte anlegten,95 sie in dieser Annahme noch bestärkt haben dürfte. In ihrer Unkenntnis über den Belang der
93 Vgl. Anm. 48 dieses Aufsatzes. NB Milliks Äußerung wirkt nicht besonders glaubhaft.Vielleicht wurden ihm die Worte in den Mund gelegt. Auch Drachardt macht den Vergleich mit den arktischen klimatischen Bedingungen: „Eure Herzen sind kalt wie Eiß, aber des Heilands Blut, Tod und Wunden kann uns helfen.“ (Journal der Brüder Hill, Haven, Drachard, Schloezer [s. Anm. 73], 13.09.1765, 159). 94 Peter Vogt: Die Medialität göttlicher Willenskundgebung in der Lospraxis der Herrnhuter Brüdergemeine. In: „Schrift soll leserlich seyn.“ [s. Anm. 78], 465–480, hier 473. 95 Dieser Aspekt wird in den Diarien von Nain des Öfteren hervorgehoben. Einige Beispiele dafür: Diarium von Nain [s.Anm. 18], 25.01.1772, 157f. und 07.02.1775, 489f. Das am 30.05.1776 erwähnte Angebot der Brüder an die Inuit, Vorräte von deren Fang (getrocknetes Fleisch und getrockneten Fisch) auf der Missionsstation für sie aufzuheben, diente neben der Hilfeleistung zur Vermeidung von Hungersnot wohl auch dem Zweck, sie in der Nähe der Station zu behalten, welches 1778 ganz klar zum Ausdruck kommt: „Den 13. kamen Kulliuts von Satorsoak samt ihren beiden Kindern. Kulliut sagte, daß sie zu hause nichts zu eßen hätten, war selbst kranck und bat um hülfe. Es wurde ihm nach Möglichkeit geholfen. Bey solcher Gelegenheit versäumen wir niemals, die Eskimo zu einer ordentlichen und fleißigen Lebens-Art zu ermahnen. Besonders halten wir denen in näherer Gemeinschaft mit uns stehenden vor, wie wohl sie thäten, wenn sie die elende Renthier-Jagd in der besten Sommer-Zeit fahren ließen und statt dessen den
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Tierseelen für die Inuit sahen sie kein vernünftiges Motiv für die strikte Trennung von Meeres- und Landtieren aufgrund von deren Geruchssinn. Darüber hinaus erkannten viele frühe Herrnhuter in ihrem Bestreben, jeglichem Synkretismus vorzubeugen, noch nicht, dass sich die kognitiv anders geprägten Inuit nur durch die stufenweise Integration christlicher Elemente in ihre indigenen Traditionen dem neuen Glauben annähern konnten. In der Vorstellung der Inuit waren der Torngak und der Heiland sowohl vereinbar als austauschbar. Dass Bruder Christian Drachardt dank der Kombination seiner theologischen Studien, des Sprachunterrichts durch Hans Egede, und seines zwölfjährigen Aufenthalts als Missionar in Grönland für die Aufgabe besser gerüstet und mit den religiösen Traditionen und dem Charakter der Inuit mehr vertraut war als die andern Brüder, geht aus seinen Unterrichtsmethoden hervor, wobei er indigene Bräuche als Träger für christliche Inhalte benutzte,96 aber dennoch zu vermeiden suchte, dass ihn die Inuit ihren herkömmlichen Angekoks gleichsetzten. Weil auch die fähigsten Schamanen irgendwann an die Grenzen ihrer magischen Kräfte stießen und darüber hinaus nicht immer gleich zur Stelle sein konnten, wenn die Lage es erforderte, besaß jeder Inuk (m/w) seinen besonderen Talisman in der Form eines Amuletts, das er fortwährend am Leibe mit sich herumtrug und das ihm – zusätzlich zu den ihm bekannten magischen Sprüchen – persönlichen Schutz bieten sollte. Zwar hatte jedes Individuum von der Geburt an seinen verstorbenen Namensgenossen als natürlichen Helfer, aber darüber hinaus benötigten die Inuit etwas für außergewöhnliche Umstände und zu diesem Zweck trugen sie Amulette.97 Ernest Hawkes zufolge besaß jeder Inuk in Labrador seinen personifizierten Hilfsgeist als Fetisch, den er als Puppe bzw. Puppenkopf an sich trug.98 Im dritten Abschnitt wurde dargestellt, wie die Witwe Attuguna, die nach der Taufe ihren traditionellen Namen nicht mehr führen durfte, die Beziehung zu ihrem Namensgenossen (als Helfer und Beschützer) über die Puppe als Amulett aufrechterhielt. Ob Attugunas Mutter die Puppe schon während ihrer Schwangerschaft getragen und an Attuguna weitergereicht hat, wissen wir nicht, aber wahrscheinlich hatte Attuguna sie schon länger; vielleicht hatte das Leder, aus dem sie gefertigt war, einmal ihrem verstorbenen Namensgenossen Attuguna gehört.99 Samuel Liebisch, der erst 1775 nach Nain
Seehund- und Fisch-Fang abwarteten, davon Vorrat auf den Winter trockneten und uns aufzuheben gäben.“ (13.03.1778, 787). 96 Olsthoorn, Erkundungsreisen [s. Anm. 26], 242, 245; dies., Christian Drachardt unterweist die Inuit in der christlichen Religion [s. Anm. 78], 423f. 97 Rasmussen, Intellectual Culture of the Iglulik Eskimos [s. Anm. 15], 149. Rasmussen merkt an, dass die Iglulik-Inuit im Vergleich zu den Netsilik-Inuit sehr wenige Amulette tragen, aber dass ihre Auffassung über deren Funktion dieselbe ist. 98 Ernest W. Hawkes: The Labrador Eskimo. Geological Survey, Memoir 91, Anthropological series 14. Ottawa: Department of Mines 1916, 135; vgl. Weyer, The Eskimos [s. Anm. 75], 313. 99 In Ostgrönland wurden die Kinder nicht nur nach den Verstorbenen benannt, sondern darüber hinaus bekamen sie hölzerne Puppen zum Spielen und Betreuen, welche die Namen verstorbener Personen trugen, die die Grönländer gekannt hatten und deren Seelen sie ehren
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berufen worden war und als Superintendent der Mission in Labrador vorstand, beherrschte das Inuktitut noch kaum und entbehrte einer langjährigen Erfahrung mit den Inuit. Für ihn war der Name „Attuguna“ wohl nicht mehr als eine heidnische Namensbezeichnung, die sich problemlos durch einen christlichen Namen ersetzen ließ, gleichwie er auch den Fetisch oder das Amulett als „unnützes Ding“, das „nichts tauge“ bewertete und dessen Vernichtung gebot. Aus seiner Sicht war Rebecca mit Jesus im Herzen ja ausreichend geschützt. Sein entschiedenes Eingreifen zur Unterbindung des Synkretismus mag uns hart vorkommen, aber die Instruktion der Unitätsleitung betont, dass die Christianisierung nach Eph 6, 10–17 als geistige Kampfansage gegen den Satan und den Einfluss der bösen Geister zu verstehen, diesen Kräften Widerstand zu leisten und die Stellung zu halten sei: S o gehet denn, allerliebste Brüder und Schwestern, gehet im Geleit von tausend Engeln. […] Ziehet an den Harnisch Gottes, daß ihr bestehen könnet gegen die listigen Anläuffe des Teufels, denn ihr habt nicht mit Fleisch und Blut zu kämpfen, sondern mit Fürsten und Gewaltigen, nemlich mit den Herren der Welt, die in der Finsterniß dieser Welt herrschen, mit den bösen Geistern unter dem Himmel. Um deßwillen so ergreifet den Harnisch Gottes, auf daß ihr an dem bösen Tage wiederstand thun, und alles wohl ausrichten und das Feld behalten möget. So steht nun, umgürtet eure Lenden mit Wahrheit und angezogen mit dem Krebs der Gerechtigkeit und an Beinen gestiefelt, als fertig zu treiben das Evangelium des Friedens, damit ihr bereitet seyd.Vor allen Dingen aber ergreifet den Schild des Glaubens, mit welchem ihr auslöschen könt alle feurige Pfeile des Bösewichts, und nehmet den Helm des heils und das Schwerdt des Geistes, welche ist das Wort Gottes.100
Das Vorkommnis mit Rebecca wurde von den Herrnhutern als Einmischung des Teufels in einen bereits erzielten Erfolg ausgelegt und dementsprechend sollte Bruder Liebischs Reaktion auch gedeutet und verstanden werden. Auch musste im Hinblick auf die noch Ungetauften und Taufkandidaten, die an den Getauften „was anderes“ sehen sollten, der Unterschied zwischen heidnisch und christlich deutlich markiert und erkennbar sein. Seine Härte galt somit wollten, indem sie sie durch die Namen am Leben erhielten. Angesichts der Angst der Ammassalik-Inuit vor dem Nennen der Namen der Verstorbenen, die immer in eine Art Tabu mündete, und aufgrund der engen Verbindung zwischen Seele und Name vermutet Thalbitzer, dass dieser Tradition heimlich ein religiöses Motiv zugrunde liegt (Ethnographical Collections from East Greenland [Angmagsalik and Nualik]. Made by G. Holm [et al.] and Described by W. Thalbitzer. In: The Ammassalik Eskimo: Contributions to the Ethnology of the East Greenland Natives. Edited by William Thalbitzer; translated from the Danish by H.M. Kyle. In two parts. Copenhagen 1914. First part, Meddelelser om Grønland 39, 7, 321–667, hier 649); vgl. Weyer, The Eskimos [s. Anm. 75], 271. Bei den Iglulik-Inuit durften die Kinder die alten Menschen nicht mit deren Namen ansprechen, sondern nur die Beziehung zum Ausdruck bringen (Laugrand and Oosten, Inuit Shamanism and Christianity [s. Anm. 10], 127; Rasmussen, Intellectual Culture of the Iglulik Eskimos [s. Anm. 15], 178). 100 Instruktion 23.03.1771 [s. Anm. 56], 48f.
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nicht Rebecca persönlich. Eine dem obigen Zitat vorhergehende Passage der Instruktion enthält Anweisungen für den Umgang mit den Heiden und legt den Brüdern nahe, nicht allzu streng mit ihnen ins Gericht zu gehen: uer Umgang müße ihnen erbaulich seyn. Seyd freundlich und liebreich mit ihnen, E aber keineswegs scherzhaft; gesezt und ernsthaft, aber nicht finster und hart. Wenn ihr ihnen auch ihre Sünden und Unarten, ja ihr ganzes Natur-Verderben vorhalten müßet, so laßet es so geschehen, daß sie doch euer über sie mitleidiges Herz fühlen müßen, damit ihnen nie einfallen könne, als verachtet ihr sie, oder spottet ihrer. Kurz, Jesus selbst sey euer Vorbild in eurem ganzen Betragen mit diesen Sündern, welche ihr zur Sinnes-Änderung und zum Glauben an Ihn aufrufen sollt.101
Es soll hier aber gleich daran erinnert werden, dass die im Aufsatztitel angedeutete „Herzenswärme“ der Herrnhuter Brüder nicht als Empathie mit den Inuit zu verstehen ist; sie gilt dem leidenden Heiland: Ihr Herz ist warm vom Blut des Heilands. Der Anblick des gekreuzigten Heilands mit Blut und Wunden, den die Herrnhuter den Inuit fleißig vor Augen malten, sollte (unter Einfluss des Heiligen Geistes) ihre „eiskalten“ Herzen zum Schmelzen bringen, in ihnen das Gefühl ihrer Sündhaftigkeit erwecken. Die Inuit sollten „neue Herzen“102 bekommen. Als emotionales Geschehen beinhaltet die Erweckung viel mehr als lediglich das rationale Bewusstsein, gegen gewisse Regeln verstoßen zu haben: Sie ist eine Verwandlung, eine nachhaltige geistige Umstellung, die sich nach außen hin in der Lebensführung kenntlich macht. Zurück zu Attuguna:Wenige Tage vor ihrer Taufe beurteilten die Herrnhuter ihre Gesinnung dem Heiland gegenüber als „zufriedenstellend“, aber manche ihrer Verhaltensweisen und Äußerungen, insbesondere die Besorgnis, den Lernstoff nicht ausreichend zu beherrschen, deuteten bereits darauf hin, dass sie das „Kopfwissen“ nach wie vor in den Mittelpunkt stellte und als Voraussetzung für die Taufe ansah – eine Sicht, die ihrer indigenen Prägung, welche die Beherrschung von magischen Formeln hervorhob, entsprach und von den übrigen der Tauffeier beiwohnenden Inuit geteilt und den Brüdern gegenüber auch zum Ausdruck gebracht wurde. Anlässlich solcher Begebenheiten hätten die Herrnhuter Brüder (und Schwestern) eigentlich einsehen müssen, dass sich Attugunas innere Einstellung noch nicht genug geändert hatte um ihre Taufe anzusetzen.103
Instruktion 23.03.1771 [s. Anm. 56], 42. Olsthoorn, Erkundungsreisen [s. Anm. 26], 251; Journal der Brüder Hill, Haven, Drachard und Schloezer [s. Anm. 73], 18.09.1765, 164. 103 Das Ritual, womit die Inuit im Norden der Baffin Insel um 1920 aus eigenem Antrieb den Übergang zum Christentum vollzogen, wird siqqitiq genannt. Dabei wurde eine Versammlung gehalten, während der die Teilnehmer bewusst entgegen ihren Tabus handelten, indem sie alle ein Stückchen Fleisch aßen, das zuvor verboten gewesen war. Gewöhnlich nahm man das Herz eines frischen Seehundes, das zu diesem Zweck zerkleinert wurde. Siqqitiq markierte den Anfang eines neuen Lebens, worin sich die Inuit von den Regeln der Vergangenheit befreit hatten (Laugrand and Oosten, Hunters, predators and prey [s. Anm. 29], 47; Frédéric Laugrand: Mourir et 101 102
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Obwohl sich manche Missionare, später insbesondere auch der anglikanischen Denomination, dem Gebrauch traditioneller Inuit-Namen widersetzten, hat die Einführung christlicher Namen die indigene Namensgebung doch nicht verschwinden lassen. Die Inuit, die mehr als einen Namen zu haben als vorteilhaft betrachteten, blieben mittels ihrer Namen ihren Vorfahren nahe und integrierten die alten Traditionen in das neue (kanadische) Namenssystem.104 In Paragraph vier stellten wir fest, dass den Herrnhuter Brüdern, die den Tieren ja keine Seelen „zuerkannten“, dementsprechend auch der Nutzen des Versenkens von Seehundköpfen, das aus der Perspektive der Inuit den Übergang der Tierseelen in neue Körper fördern und erleichtern sollte, nicht einleuchtete. Die Analogie zwischen dem toten menschlichen Körper, der in der Erde, woraus er hervorgekommen war, erneuert wird, und den Knochen des Seehundes, welcher im Wasser als seinem Ursprungsort wieder ganz gemacht werden soll, erkannten sie wahrscheinlich nicht. Ein weiteres Mal äußern sich die Herrnhuter negativ zu den Traditionen der Inuit. Sie seien ein „Blindwerk“ der Hexerei unter dem Einfluss des Satans, und werden zusammenfassend als „Nonsens“ charakterisiert. Auch David Cranz lag mit seiner Interpretation des kannibalischen Rituals, die Verwandten und Freunde eines Mordopfers würden dadurch den Mut zur Rache verlieren, noch falsch. Der Grund, weshalb die meisten frühen Missionare den Sinn und die Bedeutsamkeit der Inuit-Traditionen, deren Ablauf sie in ihren Diarien schildern, nicht erfassen konnten, lässt sich zum einen auf den Mangel an Erfahrung mit diesen Menschen, zum andern aber auch auf den geschlossenen Charakter des traditionellen religiösen Wissens105 zurückführen. Hier sei noch einmal daran erinnert, dass sich der Iglulik Schamane Ava erst nach seiner Bekehrung zum Christentum Rasmussen anvertraute. Der französische Philosoph und Anthropologe Claude Lévi-Strauss (1908– 2009) hat, ausgehend vom linguistischen Modell des Strukturalismus,106 das er auf die sozialen Wissenschaften übertrug, anhand von zahlreichen ethnographischen Feldstudien – darunter das von Harold Conklin (1929–2016) gesammelte Material über die südphilippinischen Hanunóo107 und den Korpus von Francis La Flesche (1857–1932) die Osage Indianer betreffend108 – illustriert und auf-
renaître. La réception du christianisme par les Inuit de l’Arctique de l’Est canadien (1890–1940). Quebec City, Leiden 2002, 453–462; Laugrand and Oosten, Inuit Shamanism and Christianity [s. Anm. 10], 120–122). 104 Laugrand and Oosten, Inuit Shamanism and Christianity [s. Anm. 10], 127, 129. 105 Engl.: „Traditional Knowledge“ oder „Indigenous Knowledge“. 106 Ferdinand de Saussure (1857–1913): Cours de linguistique générale. Publié par Charles Bally et Albert Sechehaye avec la collaboration de Albert Riedlinger. Paris 1968 (zuerst 1916), 155–169. 107 Unter anderem: Harold C. Conklin: Hanunóo color categories. In: Language in Culture and Society. A Reader in Linguistics and Anthropology. Ed. by Dell Hymes. New York 1964, 189–192. 108 Die Clans definieren den sozialen Abstand zueinander symbolisch durch Totem-Tiere, deren Namen sie annehmen. Lévi-Strauss veranschaulicht den Prozess der Detotalisierung und Retotalisierung (um besondere Kennzeichen ergänzt) der Totem-Tiere, wie er in den rituellen
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gezeigt, dass alle Kulturen dazu tendieren, ihre Umwelt zu klassifizieren und dass die (unbewussten) gedanklichen Strukturen, mittels deren die Menschen ihre Umwelt klassifizieren, universal sind. Überall auf der Welt denken die Menschen in Paaren von Gegensätzen – die sog. „binäre Opposition“109 – und analytische und kombinatorische Denkprozesse sind ebenfalls Merkmale, die alle Menschen gemeinsam haben. Im Gegensatz zu den gedanklichen Strukturen sind die Inhalte der Denkprozesse jedoch keineswegs universal, sondern diese können von Kultur zu Kultur sehr auseinander gehen.110 In diesem Aufsatz haben wir eine Methode der Prophezeiung, eine Verhaltensregel, eine Schutzmaßnahme (vor dem Einfluss des Bösen) und eine Idee über die Auferstehung der traditionellen Inuit der Ostarktis beleuchtet und zum Vergleich jeweils die einschlägige Kategorie der Herrnhuter hinzugefügt. Dabei ergaben sich trotz der Analogie der Denkstrukturen bereits auf der übergeordneten Ebene derart beträchtliche Unterschiede zwischen den gedanklichen Inhalten, dass die betreffende indigene Gattung von den Herrnhutern manchmal unerkannt blieb. Allerdings beweisen der Einsatz von „Head Lifting“ in verschiedenen Kontexten und mit variablen Mitteln, die konsequente Trennung von Meeres- und Landtieren nach den Geboten der Vorfahren, die Verbindung der verstorbenen Vorfahren mit ihren Nachkommen durch die Namen als soziales System, das Zerteilen und Zusammenlegen von Körperteilen, um die Wiederherstellung der Einheit von Körper und Seele zu verhindern bzw. zu begünstigen, und die diesbezügliche Analogie zwischen Tieren und Menschen, dass – genauso wie dies in allen andern Kulturen der Fall ist – auch die Denkprozesse der Inuit, deren Komplexität von den Europäern lange unterschätzt wurde, schon immer nach syntagmatischen (analysierenden und kombinierenden) und paradigmatischen (klassifizierenden) Kriterien abliefen. Weil hingegen die kulturspezifischen Begriffe als Inhalte der Denkprozesse der Inuit einerseits und der Herrnhuter andererseits sehr unterschiedlich waren – christliche Ausdrücke wie z. B. „Sünde“ und „Seele“ entsprechen inhaltlich ja nicht den indigenen Vorstellungen tirigusuktuq („abstaining from doing something“)111 und tarniq112 – war die interkulturelle Begegnung unvermeidbar von Fehleinschätzungen
Texten der Osage zum Ausdruck kommt, in einem Schema, das er als „totemistischen Operator“ bezeichnet (Claude Lévi-Strauss: Das wilde Denken. Übersetzung der französischen Ausgabe „La Pensée sauvage“ von 1962. Frankfurt/Main 1968, 178). 109 Natur-Kultur, warm-kalt, links-rechts, kurz-lang und nicht zuletzt die in Greg Denings Zitat bildhaft formulierte gängige Gegenüberstellung „wir“ vs. „sie“. 110 Vgl. bezüglich Lévi-Strauss: Thea Olsthoorn: Kommunikation mit Menschen einer nichtschriftlichen Kultur. Die Rekognoszierungsreisen der Herrnhuter Labrador-Mission (1752– 1770). Diss. phil. Dresden 2007, 140–142. 111 Laugrand and Oosten, Inuit Shamanism and Christianity [s. Anm. 10], 397. 112 Dasjenige, was Seele und tarniq verbindet, ist das Merkmal der Unsterblichkeit und die Idee, dass Verstöße gegen die Tabus an der tarniq haften wie die Sünden an der Seele. Leibliche Krankheit wurde von den traditionellen Inuit auf entweder den Verstoß gegen Tabus oder die Einwirkung eines bösen Geistes zurückgeführt.
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geprägt. Lévi-Strauss argumentiert: „In Wahrheit lässt sich das Prinzip einer Klassifizierung niemals postulieren; nur die ethnographische Forschung, d. h. die Erfahrung, kann es a posteriori aufdecken.“113 Das bedeutet, dass sich nur durch Hinterfragen ermitteln lässt, welche einzelnen Ideen eine Kultur mit einem Begriff verbindet. Wie schwierig sich die Kommunikation bei interkulturellen Begegnungen aufgrund der Ungleichwertigkeit begrifflicher Inhalte gestalten konnte (und kann), wurde in diesem Aufsatz an vier Beispielen aus den Diarien der frühen Herrnhuter dargelegt.
113 Lévi-Strauss, Das wilde Denken [s. Anm. 108], 74. Eben diese Erfahrung hatten diejenigen Brüder, die zuvor in Grönland gewirkt hatten – Christian Drachardt (1739–1751), Jens Haven (1758–1762) und Johann Schneider (1740–1747) – den andern voraus. Das ist auch der Grund, weshalb in den Anfangsjahren Drachardt und Schneider den Unterricht der Inuit übernahmen, obwohl von der Unitätsleitung alle Brüder, nach Erlernen der Sprache, dazu angewiesen wurden: „Keines von euch dencke, das ist nur dieses oder jenen Bruders seine Sache, sondern vielmehr haltet euch alle dazu berufen […] den Eskimos zu erzehlen, was für Gnade der Herr Jesus euren Seelen erwiesen hat. Erflehet euch daher insgesamt die Gaben und Gnaden, gesegnete Gehülfen des Evangelii bey den Eskimos zu seyn, und wendet um so mehr allen fleiß daran, ihre Sprache recht zu erlernen, damit ihr euch ihnen in der Herzens-Sache verständlich machen könt“ (Instruktion 1771 [s. Anm. 56], 41).
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Ruth Albrecht und Martin Rosenkranz
Repräsentantin des Adels und extravagante Evangelistin – Adeline Gräfin von Schimmelmann im Spiegel der internationalen Presse nach 1900 A well-known German lady philanthropist and evangelist; one of the most remarkable women now engaged in religious work; the charitable German lady; a remarkable lady; die weltbekannte, kühne und opferbereite Zeugin Jesu Christi – solche und ähnliche Beschreibungen begegnen in zahlreichen Zeitungsartikeln der internationalen Presse zu Beginn des 20. Jahrhunderts, um den Blick des Lesepublikums auf eine deutsche Evangelistin zu lenken, die aus mehrfachen Gründen weit über Deutschland hinaus Aufmerksamkeit auf sich zog.1 Die auf Schloss Ahrensburg im südlichen Schleswig-Holstein geborene Adeline Gräfin von Schimmelmann (1854–1913) hatte eine wechselvolle Lebensgeschichte hinter sich, als sie von 1898 bis 1900 eine Reise nach Kanada und in die USA unternahm. Sie konzentrierte sich dabei auf die Ostküste, in Chicago und New York verbrachte sie mehrere Monate. War die Gräfin schon vorher von europäischen und amerikanischen Zeitungen gelegentlich zur Kenntnis genommen worden, so ließ ihre evangelistische Tätigkeit auf dem amerikanischen Kontinent das Interesse an ihr sprunghaft ansteigen. Schimmelmann hinterließ während ihres Aufenthaltes in den USA Spuren u. a. in der Washington Post, der Chicago Tribune und der New York Times.2 Zu den auffallenden Charakteristika von Schimmelmanns evangelistischer Arbeit gehört, dass sie als Einzelperson reiste und nicht im Auftrag einer Organisation oder einer Kirche unterwegs war.Wie bereits vorher in Deutschland, Dänemark und England bemühte sie sich insbesondere um Männer, die in den Häfen arbeiteten – üblicherweise ein Arbeitsbereich von männlichen Laien und Geistlichen.3 Zudem 1 Die Zitate werden im Einzelnen im Verlauf der Ausführungen nachgewiesen. Dieser Beitrag beruht im Wesentlichen auf Zeitungsmeldungen, die durch Internetrecherchen zugänglich sind. An einigen Stellen werden auch deutsche Zeitungen berücksichtigt und zwar dann, wenn sie auf die Sachverhalte Bezug nehmen, die in der internationalen Presse besprochen wurden bzw. wenn ihnen eine überragende Bedeutung zukommt. 2 Vgl. hierzu Ruth Albrecht, Martin Rosenkranz [u. a.]: Adeline Gräfin von Schimmelmann. Adlig – Fromm – Exzentrisch. Neumünster 2011, 242–252. 3 Zur Geschichte der Seemannsmission, die in der Mitte des 19. Jahrhunderts begann und englische Vorbilder aufgriff vgl. Reinhard Freese: Geschichte der deutschen Seemannsmission. Bie-
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stach sie dadurch hervor, dass sie mit ihrer eigenen Segelyacht reiste und von ihrem Adoptivsohn begleitet wurde, der allem Anschein nach für eine ausgedehnte Presse- und Öffentlichkeitsarbeit zuständig war. Nachdem Gräfin Schimmelmann im Sommer 1900 zunächst nach England zurückkehrte und ungefähr ein Jahr später nach Deutschland, blieb die Aufmerksamkeit für sie, die sich u. a. in Zeitungsberichten niederschlug, bestehen, wenn auch in vermindertem Maß. Von 1900 bis zu ihrem Tod im Herbst 1913 verfolgten englische, amerikanische, kanadische, australische, neuseeländische, dänische, österreichische und deutsche Zeitungen ihren Weg.
1. Adel und Gender im Kontext der neuen Frömmigkeitsbewegungen des 19. Jahrhunderts Schimmelmann fiel bei ihren Zeitgenossen auf, weil sie als adlige Frau in ungewöhnlicher Weise in der Öffentlichkeit agierte. Sie kann als eine der ersten deutschsprachigen Evangelistinnen gelten; wenn sie auch etliche Merkmale mit anderen Frauen und Männern der Gemeinschafts-, Heiligungs- und Evangelisationsbewegung teilte, so stach sie durch extreme Auffassungen und Verhaltensweisen unter den Engagierten der protestantischen Erneuerungsbewegungen hervor.4 Dieser Beitrag geht der Frage nach, aus welchen Gründen Gräfin Schimmelmann so große Aufmerksamkeit in der überregionalen und internationalen Presse fand. Die neuen Frömmigkeitsbewegungen, die sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts etablierten, brachten eine Fülle eigener Publikationen heraus, in denen über deren vielfältige Aktivitäten berichtet wurde. In diesem Sektor wurde Schimmelmann auch rezipiert, aber nur in geringerem Maß. Ihre eigene Zeitschrift positionierte sich ebenfalls in diesem Markt, spielte dabei aber eine unmaßgebliche Rolle.5 Adeline Schimmelmann
lefeld 1991; hier kommt Schimmelmann nicht vor. Die im Evangelischen Jahrbuch abgedruckten Übersichten zu den Bilanzen der Seemannsmission, die in Vereinen und Verbänden organisiert waren, erwähnen sie auch nicht, vgl. z. B. Johannes Schneider: Innere Mission. In: KJ 35, 1908, 580–586. 4 Schimmelmanns autobiographische Aufzeichnungen erschienen zunächst auf Englisch, dann in kaum veränderter Form auf Deutsch: Adeline Schimmelmann: Glimpses of my Life at the German Court, among Baltic Fischermen and Berlin Socialists and in Prison including ‚A Home abroard‘, by Pastor Otto Funcke. London 1896; Streiflichter aus meinem Leben am deutschen Hofe, unter baltischen Fischern und Berliner Socialisten und im Gefängnis, einschließlich ‚Ein Daheim in der Fremde‘ von Otto Funke. Barmen 1898. ND hg. v. Jörg Ohlemacher. Leipzig 2008. Eine zeitgenössische Biographie verfasste Emil Richard Wettstein: Lebensbild der Gräfin Adeline Schimmelmann weil. Hofdame I. M. der Kaiserin Augusta. Berlin [1914]. Die Kleinschriften Schimmelmanns enthalten kaum biographisches Material, sondern zielen auf Erweckung und Bekehrung ab. 5 Ab 1903 gab Schimmelmann in ihrem Berliner Verlag eine Zeitschrift heraus, die zunächst „Leuchtturm“ hieß, ab 1905 „Leuchtfeuer“, und die 1915 eingestellt wurde.
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bediente zum einen das Interesse an exzentrischen Personen des Adels, die die Diskretionsregeln ihres Standes bewusst durchbrachen; zum anderen stand sie für die neue Berufsgruppe der Evangelisten, die fast ausschließlich von Männern repräsentiert wurde. Adeline Gräfin von Schimmelmann, aus einem Geschlecht stammend, das zum Zeitpunkt ihrer Geburt zum landsässigen schleswig-holsteinischen Adel gezählt wurde, erlebte mit dem Beginn des deutschen Kaiserreiches, dass Mitglieder ihrer Familie als hoffähig eingestuft wurden.Von ihrer Herkunft her war sie es im Rahmen der Ausübung des Patronats gewohnt, gemeinsam mit anderen Familienmitgliedern z. B. kranke Gutsmitglieder zu besuchen und zu versorgen. In Berlin öffnete sie sich wie viele ihrer männlichen und weiblichen Zeitgenossen den Impulsen der Heiligungs- und Evangelisationsbewegung. Im Unterschied zu ihren Standesgenossinnen setzte sie die frömmigkeitsgeschichtlichen Anregungen in eigenständigen Modellen um. Anders als die meisten adligen Frauen, die in den neuen Bewegungen tätig wurden, wie Eva von TieleWinckler, Hedwig von Redern, Anna Thekla von Weling, Ada Fürstin von Krusenstjerna, Herzogin Vera von Württemberg oder Marie Gräfin von Waldersee6 konzentrierte Schimmelmann ihre Arbeit auf Männer; Frauen und Kinder spielten in ihrem sozial-missionarischen Vorgehen nur eine randständige Rolle. Während die Mehrzahl der Vertreterinnen des Adels, die sich von ähnlichen Strömungen inspirieren ließen und wie die aus Ahrensburg stammende Gräfin in ihrem äußeren Erscheinungsbild eher auf Schlichtheit Wert legten, sind bei Adeline Schimmelmann unterschiedliche Strategien zu beobachten. Auf der einen Seite ließ sie sich in hochgeschlossenen dunklen Kleidern abbilden – wenn sie sich jedoch davon einen Gewinn an Aufmerksamkeit versprach, verbreitete sie Darstellungen in moderner oder höfischer Gewandung. Der Besitz einer Segelyacht und die Bevorzugung luxuriöser Hotels markieren einen aufwändigen adligen Lebensstil. Adeline Schimmelmann nutzte scheinbar gegensätzliche Darstellungsformen, wenn sie sich von ihrer Herkunft distanzierte und deren Symbole gleichzeitig einsetzte, um für ihre missionarische Arbeit mit Mitteln der öffentlichen Kommunikation zu werben. Soweit sie die Presseberichte mit ihren Vorgaben beeinflussen konnte, verfolgte sie demonstrativ das Ziel, sich als bedeutende Persönlichkeit des europäischen Adels mit besten Kontakten zu den herrschenden Häusern zu inszenieren.
Überblicke und analytische Studien zum Wirken dieser Frauen fehlen, die Literatur- und Quellenlage stellt sich unterschiedlich dar. Biographische Informationen bieten: Evangelisches Gemeindelexikon. Hg. v. Helmut Burkhardt [u. a.]. Wuppertal 1978; Evangelisches Gemeindelexikon. Bd. 1–3. Hg. v. Helmut Burkhard [u. a.]. Wuppertal, Zürich 1994; Gesichter und Geschichten der Reformation. 366 Lebensbilder aller Epochen. Hg. v. Roland Werner u. Johannes Nehlsen. Basel 2016. Der folgende Sammelband berücksichtigt einige der Genannten unter dem Fokus des sozialen Handelns, vgl. Frauen gestalten Diakonie. Bd. 2: V om 18. bis zum 20. Jahrhundert. Hg. v. Adelheid M. von Hauff. Stuttgart 2006. 6
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Die neuen Frömmigkeitsbewegungen, die sich vor allem in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Deutschland ausbreiteten, kamen durch starke angloamerikanische Einflüsse zustande. Das in diesem Sprach- und Kulturraum ausgeprägte religiöse und soziale Engagement von Laien inspirierte auch in Deutschland Anhänger und Anhängerinnen des Frömmigkeitsspektrums am Rande oder jenseits der etablierten Kirchen. Dadurch entstanden Handlungsspielräume, in denen insbesondere adlige Frauen aktiv wurden. Die in den angelsächsischen Ländern engere Verbindung von Frauenbewegung und religiösem Engagement fand jedoch in Deutschland nur eine marginale Rezeption.7 Im insgesamt eher konservativ geprägten deutschen Milieu übernahmen die relativ gut ausgebildeten adligen Frauen vielfach verantwortliche Positionen in sozialen Arbeitsfeldern, die vornehmlich auf Frauen ausgerichtet waren, während Männer die eher geistlichen Themenfelder besetzten. In Sonntagsschulen, in Damenkomitees, die die Arbeit von Männern für Männer unterstützten, sowie in Leitungsfunktionen von Diakonissengemeinschaften fanden Frauen Betätigungsmöglichkeiten. s ist heute Mode, im Christentum zu machen. – Das ist auch keine schlechte SiE tuation. Denn was soll aus all den Damen werden? Die Stifte nehmen doch höchstens zwei bis drei Mitglieder einer Familie auf. Wenn aber sechs bis sieben Töchter da sind, ist es sehr natürlich, daß diese an die Spitze von christlichen Arbeiten,Vereinen usw. gestellt werden. Dabei ist es vielen ganz Nebensache, ob das Reich Gottes zugrunde geht oder nicht. Wenn der Platz nur die betreffende Person versorgt.8
Mit diesen bissigen Worten beschrieb Paul Schimmelmann, der Adoptivsohn Adeline Schimmelmanns, vermutlich seine Beobachtungen in Berlin, wo die Gräfin sich und ihre Missionsarbeit nach der Rückkehr aus den USA zu etablieren versuchte. Sie stieß hierbei allerdings auf große Konkurrenz, denn seit der Gründung des Kaiserreiches hatten sich in der Hauptstadt zahllose Zentren christlichen Engagements gebildet. Unter den hier engagierten adligen Frauen, die sich im gleichen Milieu bewegten, ragen Hedwig von Redern, Marie Palmer Davies, geb. Freiin von Dungern († 1843), Toni von Blücher (1836–1906) sowie die Schwestern Therese von Hennings (1861–1913) und Ingeborg von
7 Vgl. z. B. Frank K. Prochaska: Women and Philantrophy in nineteenth century England. New York 1980. Die eher dem konservativen Lager der Gemeinschaftsbewegung zuzuordnende Schriftstellerin Hedwig Andrae äußerte sich in ihrem Buch über die Mitbegründerin der Heilsarmee, die für die Berechtigung der Frauen zur Wortverkündigung eintrat und auch selber predigte, ausgesprochen positiv; vgl. Lieben und Leiden einer Magd des Herrn. Lebensbild von Katharina Booth. Hg. v. Hedwig Andrae. Schwerin 1920. 8 Leuchtfeuer 1905, Nr. 8, 87. Adeline Schimmelmann gehörte selber zwei Damenstiften an, deren Pensionen zu ihrem Lebensunterhalt beitrugen, s. Albrecht u. Rosenkranz, Schimmelmann [s. Anm. 2], 48–51.
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Hennigs (1867–1944) hervor.9 Paul Schimmelmann ging es vornehmlich darum, die christliche Ernsthaftigkeit anderer Frauen in Zweifel zu ziehen, um Adeline Schimmelmann umso deutlicher als eindrucksvolles Vorbild hinstellen zu können. Darüber hinaus zeigt seine Bemerkung, dass selbst einem nicht besonders gut in der deutschen Szenerie vernetzten Zeitgenossen – wie er es war –, die Präsenz adliger Frauen in die Augen stach. Auch wenn Untersuchungen zu dem Zusammenhang von Adel, Gender und den neuen Frömmigkeitsbewegungen des 19. und frühen 20. Jahrhunderts fehlen,10 so fällt auch bei einem nur kurzen Blick in Quellen und die vorhandene Literatur die hohe Präsenz von Vertretern und Vertreterinnen des Adels in verantwortlichen Positionen der kontinentalen Erweckungsbewegungen auf.11 Insbesondere adlige Frauen fanden hier neue Betätigungsfelder, in denen sie an eingeübte Rollenmuster anknüpfen konnten, indem sie etwa ihre vorhandenen Vernetzungen zugunsten der christlichen Vereine und Initiativen einsetzten.12 In der Regel übernahmen Männer die Führungsrolle in gemischten Vereinen und Gruppen, während Frauen sich eher in den traditionellen Bereichen einsetzten und sich für andere Frauen, Kinder, Kranke und Alte praktisch engagierten. Ausnahmen wurden eher nicht öffentlich diskutiert, sondern mehr oder weniger stillschweigend mit
9 Vgl. Hedwig von Redern: Knotenpunkte. Selbstbiographie. Lahr-Dinglingen [1935]; Unter Droschkenkutschern. Schlichte Wahrheit aus dem Berliner Volksleben. Aufzeichnungen von Mrs. Palmer Davies, mit einem Vorwort von Emil Frommel. Schwerin 1903; Stephan Holthaus: Heil – Heilung – Heiligung. Die Geschichte der deutschen Heiligungs- und Evangelisationsbewegung (1874–1909). Gießen 2005, 484–486; Werner Beyer: Toni von Blücher (1836–1906). In: Einheit in der Vielfalt. Aus 150 Jahren Evangelischer Allianz. Hg. v. dems.Wuppertal, Zürich 1995, 85–99; Ekkehard Hirschfeld: Therese von Hennings (1861–1913) und Ingeborg von Hennigs (1867–1944). In: Hauff, Diakonie [s. Anm. 6], 416–433. Lediglich beispielhaft sei als eine der wenigen analytischen Untersuchungen die Studie zur Bahnhofsmission und deren Umfeld genannt, die, ohne systematisch darauf einzugehen, das Engagement von Frauen hervorhebt; vgl. Bettina Hitzer: Im Netz der Liebe. Die protestantische Kirche und ihre Zuwanderer in der Metropole Berlin (1849–1914). Köln 2006. Ob die von ihr mehrfach erwähnte Melitta Gräfin Reventlow (1867–1942) dem christlichen Milieu zuzuordnen ist, lässt sich hier nicht erkennen. Holthaus berücksichtigt zwar etliche Gruppierungen in Berlin, betrachtet diese aber nicht im regionalen Zusammenhang. Zusammenhängende Studien fehlen; für die Stadt Basel liegt beispielsweise zumindest eine Auswahlbibliographie vor; vgl. Das „Fromme Basel“. Religion in einer Stadt des 19. Jahrhunderts. Hg. v. Thomas K. Kuhn u. Martin Sallmann. Basel 2002, 205–213. 10 Gauses Monografie bietet einige Überlegungen zum 19. Jahrhundert, die allerdings vor allem auf ihren diakoniegeschichtlichen Untersuchungen beruhen; vgl. Ute Gause: Kirchengeschichte und Genderforschung. Eine Einführung in protestantischer Perspektive.Tübingen 2006, 156–254. 11 Vgl. Ruth Albrecht: Laientätigkeit als Profession: Profile adliger Männer aus der deutschen Erweckungs- und Gemeinschaftsbewegung. In: Laien gestalten Kirche. Diskurse – Entwicklungen – Profile. Festgabe für Maximilian Liebmann. Hg. v. Michaela Sohn-Kronthaler u. Rudolf K. Höfer. Innsbruck 2009, 205–220. 12 Vgl. Holthaus, Heil [s. Anm. 9], 475–515; Michaela Sohn-Kronthaler: Bibellektüre als Motivation für diakonisch-soziale Initiativen am Beispiel von Elvine Gräfin de La Tour (1841–1916). In: Fromme Lektüre und kritische Exegese im langen 19. Jahrhundert. Hg. v. ders. u. Ruth Albrecht. Stuttgart 2014, 255–272.
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theologischen Argumentationen versehen, sodass in den erwecklichen Gemeinden und Gruppen nur gelegentlich Auseinandersetzungen über die Handlungsspielräume von Frauen stattfanden.13 Dass männliche Laien wesentlich die neuen Aufbrüche prägten, gehört zu den Kennzeichen der Frömmigkeitsbewegungen; im Unterschied zum Handeln von Frauen wurde über das der Männer in aller Breite theologisch diskutiert.14
2. Zur Biografie Schimmelmanns Die Lebensgeschichte Adeline Schimmelmanns ist eingebunden in die diffizilen Verhältnisse der politischen Zugehörigkeit Schleswig-Holsteins im 19. Jahrhundert. Als Adelaide Luise Caroline am 19. Juli 1854 in Ahrensburg zur Welt kam, gehörten der Ort und das gleichnamige Schloss zum Herzogtum Holstein, das in Personalunion gemeinsam mit dem Herzogtum Schleswig vom dänischen König regiert wurde. Insofern war Adeline Schimmelmann – wie sie bereits zu Kinderzeiten genannt wurde – zunächst dänische Untertanin. Nach den kriegerischen Auseinandersetzungen von 1864/66 wurden die Herzogtümer zu einer preußischen Provinz, schließlich Bestandteil des neuen deutschen Kaiserreiches. Die Geschichte der Grafen von Schimmelmann spiegelt die deutsch-dänischen Verhältnisse. Die Vorfahren Adeline Schimmelmanns entstammten dem Bürgertum Mecklenburgs, Heinrich Carl Schimmelmann (1724–1782) legte den Grundstein für den Aufstieg durch ein Wirtschaftsimperium, das bis in die Karibik reichte und sich am internationalen Sklavenhandel beteiligte.15 Die Nobilitierung wurde ihm in Dänemark zuteil, u. a. als Anerkennung seiner Finanztransaktionen für das Königreich. Er erwarb repräsentative Stadthäuser, Gutshäuser und Schlösser in Hamburg, Schleswig-Holstein und Dänemark.16 Seinen Kindern gelang es, in den hohen Adel Deutschlands und Dänemarks einzuheiraten; diese Tendenz setzte sich bis zu den Geschwistern Adeline Schimmelmanns fort.17 Wenn sie in ihren öffentlichen Stellungnahmen 13 Vgl. Ruth Albrecht: Das Weib schweige? Protestantische Kontroversen über Predigerinnen und Evangelistinnen. In: Fromme Lektüre [s. Anm. 12], 210–232. 14 Auch bei den Vorbereitungen zur Gründung des Gnadauer Gemeinschaftsvereins, der 1888 ins Leben gerufen wurde, spielte die Laien-Thematik eine wichtige Rolle; s. Jörg Ohlemacher: Das Reich Gottes in Deutschland bauen. Ein Beitrag zur V orgeschichte und Theologie der deutschen Gemeinschaftsbewegung. Göttingen 1986, 41, 70, 247–274. 15 Christian Degn: Die Schimmelmanns im atlantischen Dreieckshandel. Gewinn und Gewissen. Neumünster 22000. 16 Vgl. Der dänische Schatzmeister Graf Heinrich Carl von Schimmelmann. Hg. v. Christa Reichardt. Ahrensburg 1999, 11–13, 20f. 17 Zum Heiratsverhalten des Adels vgl. Stephan Malinowski:Vom König zum Führer. Sozialer Niedergang und politische Radikalisierung im deutschen Adel zwischen Kaiserreich und NSStaat. Berlin 2003, 47f. Zu den Geschwistern Adeline Schimmelmanns s. Albrecht u. Rosenkranz: Schimmelmann [s. Anm. 2], 28f. Von ihren sieben Geschwistern, die das Erwachsenenalter er-
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mit ihrer Herkunft spielte und mal den Bezug zu Dänemark hervorhob, mal den zum Berliner Hof, dann benutzte sie die komplizierte Geschichte ihrer Herkunft, um sich je nach Bedarf als Deutsche oder als Dänin hinzustellen. Nur wenigen Journalisten, die über sie berichteten, dürften die historischen Aspekte der Nobilitierung ihrer Vorfahren und die Geschichte Schleswig-Holsteins vertraut gewesen sein.Von daher konnte sie sich vor allem in Amerika als einflussreiche Adlige mit Bezügen zu den herrschenden Häusern Europas präsentieren. Zu dem Zeitpunkt, als sie ihre evangelistische Laufbahn begann, war sie jedoch lediglich eine ehemalige Hofdame ohne jede politische Bedeutung – und dazu belastet mit Gerüchten und Skandalen, die sich auf ihren Aufenthalt in einer Psychiatrie sowie auf ihre Adoptivsöhne bezogen. Adeline Schimmelmann erhielt eine relativ gute Ausbildung, wie es dem Standard adliger Familien entsprach.18 Sie wurde zu Hause mit ihren Geschwistern unterrichtet und lernte bereits in der Kindheit mehrere Sprachen. Nachdem ihre ältere Schwester Sophie, die zu den ersten Hofdamen Kaiserin Augustas gehörte, wegen ihrer Eheschließung aus diesem Dienst ausschied,19 wurde Adeline mit 18 Jahren nach Berlin berufen. Mit dem Hofstaat der Kaiserin begleitete sie die Monarchin auf vielen Reisen und kam in der Hauptstadt in Kontakt mit der sich formierenden Evangelisations- und Heiligungsbewegung. Aufgewachsen war sie in der lutherischen Kirche, hatte jedoch schon in Ahrensburg, bedingt durch das Kontaktnetz ihrer Eltern, auch Herrnhuter und Vertreter der Erweckungsbewegung in Hamburg wie Johann Hinrich Wichern und Elise Averdieck kennengelernt.20 Nach ihren eigenen Worten erlebte sie während ihrer Zeit als Hofdame eine Bekehrung, die zu einer sozialen Ausrichtung führte. Noch bevor ihre Verpflichtungen am Hof durch den Tod Augustas 1890 endeten, begann sie damit, sich in Göhren auf Rügen um Fischer zu kümmern, die durch den aufkommenden Tourismus von Armut und Ausgrenzung bedroht waren. Auf einem von ihr erworbenen Grundstück richtete sie ein Heim ein, in dem die Männer während der Fangsaison Unterkunft und günstige Verpflegung erhielten. Die Gräfin lebte zeitweise selber auf dem Gelände des Fischerheims und hielt Andachten.21 Sowohl als Mitglied einer Lehnsgrafenfamilie als auch im Umfeld der deutschen Kaiserin dürfte Schimmelmann vor allem klassische Formen weiblicher Wohltätigkeit kennengelernt und ausgeübt haben. Dass Frauen reichten, schlossen sechs standesgemäße Ehen; nur ihr Bruder Christian (1856–1908) blieb offiziell ebenfalls unverheiratet, lebte jedoch in einer unstandesgemäßen Beziehung. 18 Die folgenden Ausführungen zur Biografie beziehen sich auf: Schimmelmann, Streiflichter [s. Anm. 4]; Wettstein, Lebensbild [s. Anm. 4]; Albrecht u. Rosenkranz, Schimmelmann [s. Anm. 2]. 19 Sophie Schimmelmann (1850–1928) heiratete 1873 Eduard Prinz zu Salm-Horstmar (1841–1903); s. Albrecht u. Rosenkranz, Schimmelmann [s. Anm. 2], 54f. 20 Vgl. Ruth Albrecht: Schloss Ahrensburg als Ausgangspunkt diakonischer Aktivitäten. In: Gottes Wort ins Leben verwandeln. Perspektiven der (nord-)deutschen Kirchengeschichte. Hg. v. Rainer Hering [u. a.]. Hannover 2005, 295–343. 21 Vgl. Ruth Albrecht [u. a.]: Die Gräfin und die Fischer. Adeline von Schimmelmann und die Gründung des Fischerheims in Göhren. Göhren 2011.
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sich unter der Prämisse diakonischer oder missionarischer Aufgaben um Männer kümmerten, kam vor allem bei pflegerischen Verrichtungen vor, galt darüber hinaus aber als unpassend. Hedwig von Redern oder Marie Palmer Davies, die sich in Berlin von ähnlichen Impulsen bewegen ließen wie die Gräfin, sahen ihre Bemühungen um Männer als Ausnahmen an, für die sie ausdrücklich nach einer Legitimation suchten.22 Nach der Darstellung Schimmelmanns strebte sie eine Arbeit mit Männern nicht intentional an, sondern reagierte spontan auf eine Notlage, die sie bei ihrem ersten Aufenthalt auf Rügen vorfand. In einer weiteren Erklärung bringt sie bewusst ihr weibliches Geschlecht und ihre adlige Herkunft ins Spiel. Nachdem sie aus Göhren zurückgekehrt war, fasste sie den Entschluss, zugunsten der Fischer einzugreifen. I ch hatte gesehen, wie dankbar sie für das wenige waren, was ich ihnen thun konnte und welch’ tiefen Eindruck ihnen das Interesse gemacht, welches eine vornehme Dame für sie gezeigt hatte. Sie waren verwundert, daß sie mit Mutterliebe behandelt wurden. Ich hatte außerdem die Beobachtung gemacht, daß ich gerade weil ich eine Dame war, solchen Einfluß auf die Männer gewonnen hatte.23
Das Interpretament, sich als Mutter für die Seeleute und Fischer zu verstehen, für die sie sich einsetzte und mit denen sie phasenweise auf engem Raum zusammenlebte, durchzieht die Äußerungen Schimmelmanns.24 Damit griff sie ein Deutungsschema auf, das in der Frauenbewegung eine wichtige Rolle spielte, die sich auf diese Weise akzeptierter bürgerlicher Kategorien bediente, um diese zugleich neu zu füllen, in einem emanzipatorischen Sinn.25 Im Lauf der Jahre weitete Adeline Schimmelmann ihre missionarische Sozialarbeit auf weitere Teile der pommerschen Ostseeküste aus. Dazu gehörten evangelistische Ansprachen in den Küstenorten, Bibelstunden für Frauen und Kinder sowie die Aufnahme einiger Jungen in das Fischerheim, von denen sie mehrere adoptierte bzw. als Pflegekinder annahm.26 Mithilfe eines Bootes bewältigte Schimmel-
Redern, Knotenpunkte [s. Anm. 9], 47f., 83–86. Sie stellt selber einen Bezug ihrer Arbeit zu der von Palmer Davies her, die sie „die Freundin der Droschkenkutscher“ nennt (47). 23 Schimmelmann, Streiflichter [s. Anm. 4], 43. 24 Schimmelmann, Streiflichter [s. Anm. 4], 41, 46, 56, 64. 25 Vgl. Irene Stoehr: „Organisierte Mütterlichkeit“. Zur Politik der deutschen Frauen 1900. In: Frauen suchen ihre Geschichte. Historische Studien zum 19. und 20. Jahrhundert. Hg. v. Karin Hausen [u. a.]. München 1983, 221–249; Christoph Sachße: Mütterlichkeit als Beruf. Sozialarbeit, Sozialreform und Frauenbewegung 1871 bis 1929. Weinheim 2003. 26 Das Bürgerliche Gesetzbuch vom 01.01.1900 hält hinsichtlich einer Adoption fest, dass der Ehepartner der Annahme an Kindesstatt zustimmen muss, § 1746. Weitere Aussagen zum Familienstand der adoptierenden Person finden sich nicht. Festgelegt wird allerdings, dass die adoptierende Person das fünfzigste Lebensjahr vollendet haben muss und dass es einen Abstand von mindestens 18 Jahren zu dem Adoptierten geben muss, § 1744. Dass insbesondere christlich engagierte ledige Frauen Kinder annahmen, um auf längere Dauer für sie sorgen zu können, kam gelegentlich vor. Anna Thekla von Weling, die Begründerin des Zentrums der Evangelischen Allianz in Bad Blankenburg, adoptierte ein männliches Zwillingspaar und nahm weitere Pflege22
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mann die vielfältigen Aufgaben. Die öffentliche Resonanz, die sie in den 1890er Jahren fand, war weitgehend positiv, auch wenn ihre Konzentration auf die Arbeit mit Männern der unteren sozialen Schichten als ungewöhnlich auffiel. Die Geschwister Adeline Schimmelmanns allerdings betrachteten deren eigenständiges Vorgehen mit zunehmender Skepsis. Vermutlich spielten sowohl finanzielle Erwägungen eine Rolle als auch die Sorge um das nicht standesgemäße Auftreten eines Mitgliedes der gräflichen Familie, denn immerhin lebte die Schwester des Ahrensburger Lehnsherrn einige Monate des Jahres in engstem Kontakt mit für die Küstenbewohner nicht vorzeigbaren Fischern, die während der Fangsaison den Heringsschwärmen folgten und unter einfachsten Umständen auf ihren Booten hausten. Den Geschwistern Adeline Schimmelmanns gelang es, sie unter einem Vorwand in eine geschlossene psychiatrische Station in Kopenhagen zu bringen. Als die Gräfin 1894 nach zwei Monaten ihre Freiheit wieder erlangte, schlug sie publizistisches Kapital aus dieser Freiheitsberaubung. Gleichzeitig haftete ihrer Person bis zu ihrem Lebensende der Makel an, psychisch gefährdet zu sein und unter Wahnideen zu leiden.27 Etwa 15 Jahre lang, von 1895 bis 1910, widmete sie sich mit großer Energie ihren missionarischen Projekten, die sie auf Rügen, in Berlin sowie u. a. in Dänemark, England und den USA zu verwirklichen suchte. Im Rahmen ihrer Vortrags- und Evangelisationstätigkeit besuchte sie zahlreiche Städte insbesondere in Pommern und Baden-Württemberg. Adeline Schimmelmann verstarb am 18. November 1913 nach mehrjähriger Krankheit in Hamburg, verstritten mit ihren Geschwistern und ihrem Adoptivsohn. Ihr Lebenswerk zerfiel bald nach ihrem Tod.28 Adeline Gräfin von Schimmelmann führte ein ungewöhnliches Leben, sie setzte die Vorteile ihrer adligen Herkunft gezielt ein und durchbrach gleichzeitig die anerkannten Muster des Adels. Gemessen an den Maßstäben, die im wilhelminischen Kaiserreich für weibliche Angehörige des hoffähigen Adels galten, vereinigte sie in ihrer Person äußerst ungewöhnliche Handlungsfelder und -muster, indem sie u. a. Besitzerin einer Segelyacht, unverheiratete Frau mit Adoptivsohn, unabhängige Evangelistin, Gründerin eines Fischerheimes und eines Marineheimes, Verlagsgründerin, Schriftstellerin und Netzwerkerin war – um nur die markantesten Aspekte zu nennen. Die aus Ahrensburg stammende
kinder auf; s. Holthaus, Heil [s. Anm. 9], 481–484, hier 483; Werner Beyer: Anna Thekla von Weling (1837–1900). In: Ders., Einheit [s. Anm. 9], 54–72, hier 60–62. Die Stiftsdame des Klosters Ribnitz Marie von Pentz (1870–1945) adoptierte gegen den Widerstand ihrer Familie ein Mädchen; vgl. Axel Attula: Himmelsblumen. Marie von Pentz: Konventualin und Schriftstellerin. Ausstellungstafel im Deutschen Bernsteinmuseum im Kloster Ribnitz, 2011. 27 Vgl. Ruth Albrecht u. a.: Fromm oder verrückt? Streit in Wandsbek um Gräfin Schimmelmann. Hamburg 2011. Das Erklärungsmuster, unstatthaft handelnde Frauen als geisteskrank hinzustellen, wurde auch bei Großherzogin Elisabeth von Oldenburg angewandt, gelang aber nur partiell; vgl. Martina Fetting: Zum Selbstverständnis der letzten deutschen Monarchen. Normverletzungen und Legitimationsstrategien der Bundesfürsten zwischen Gottesgnadentum und Medienrevolution. Frankfurt/Main 2013, 316f., 330, 332. 28 Vgl. hierzu Albrecht u. Rosenkranz, Schimmelmann [s. Anm. 2], 368–390.
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Evangelistin stand im Laufe des 20. Jahrhunderts nicht im Fokus wissenschaftlicher Recherchen, im Zuge der Beschäftigung mit den Frömmigkeitskulturen des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts sowie eines intensiveren regionalgeschichtlichen Interesses jedoch erfährt sie seit einigen Jahren erneut größere Aufmerksamkeit.29
3. Pressestimmen von 1900 bis 1929 In diesem Beitrag wird ausschließlich die Zeit nach der Rückkehr Schimmelmanns aus den USA beleuchtet, um an einem überschaubaren Quellenkonvolut den Akzentuierungen der Presse nachzugehen.30 Die chronologische Anordnung der Presseberichte ergibt einen Einblick in die Arbeitsschwerpunkte, denen die Gräfin zwischen 1901 und 1913 nachging. Zugleich lassen sich ihre Reisewege und Evangelisationsstationen in Deutschland, Dänemark und Großbritannien verfolgen, die zusammen mit weiteren Quellen ein Gesamtbild der Tätigkeit einer Evangelistin des Kaiserreichs ergeben. 3.1 Rückblenden auf die Zeit in den USA Im August 1900 verließ Adeline Schimmelmann die USA auf dem gleichen Weg, auf dem sie sich dorthin begeben hatte: mit einem Dampfschiff, das die Route von New York nach England bediente.31 Wann genau sie an der englischen Küste eintraf, lässt sich nicht belegen. Die erste Pressestimme, die auf ihre Ankunft in England hinweist, stellt die in Toronto erschienene Daily Mail and Empire dar, die am 24. September 1900 auf die Rückkehr der Gräfin aufmerksam machte.32 Hier wird unter der Überschrift „Forced to sell her Yacht“ berichtet, dass die Evangelistin eine negative Bilanz ihres Amerikaaufenthaltes zog. Sie habe erhebliche finanzielle Einbußen erlitten und habe ihre Yacht in Brook-
29 Jörg Ohlemacher: Adeline Gräfin Schimmelmann (1854–1913). In: Hauff, Diakonie [s. Anm. 6], 392–406; Ruth Albrecht: Art. „Schimmelmann, Adeline Gräfin von“. In: BBKL 32, 2011, 1222– 1230. Zu einer breiteren verkürzten Rezeption s. etwa Dorothee Dziewas: Die Gräfin und das Haus am Meer. Gießen 2013; Walter Köhler: Adeline Gräfin von Schimmelmann. In: Gesichter und Geschichten der Reformation [s. Anm. 6], 368f.; Maike Manske: Adeline Gräfin von Schimmelmann 1854–1913. In: „... von gar nicht abschätzbarer Bedeutung“. Frauen schreiben Reformationsgeschichte. Hg. v. Frauenwerk der Nordkirche und der Schleswig-Holsteinischen Landesbibliothek. Kiel 2016, 103–107; Jörg Ohlemacher: V on der Ausbreitung des Christentums in Pommern und anderswo. Das Werk der Gräfin Schimmelmann. In: Theologische Beiträge 48, 2017, 180–194. 30 Zu ihrem Aufenthalt in Kanada und in den USA liegen mindestens 200 Zeitungsberichte vor, die zurzeit von den Autoren dieses Artikels gesichtet werden. 31 The New York Times, 19.08.1900, 12; Wettstein, Lebensbild [s. Anm. 4], 184. 32 The Daily Mail and Empire, 24.09.1900, 7. Die Zeitung erschien von 1895 bis 1936.
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lyn zurücklassen müssen, um entstandene Kosten zu decken. Die Erwartung, mit der sie aufgebrochen sei, habe sich nicht bestätigt, nämlich von reichen Amerikanern großzügige Unterstützung zu erhalten. Sie habe mit einer Summe von 5 000 Pfund gerechnet. Jetzt befürchte sie, ihre evangelistische Arbeit aufgeben zu müssen, da sie über keine materiellen Ressourcen mehr verfüge. Ihr drohe, wenn sich die finanzielle Lage nicht bessere, die Unterstellung unter die Kontrolle ihrer Familie. Der Artikel endet mit einer düsteren Perspektive: „This would bring an abrupt end to her work as an evangelist.“ Diese Zeitungsnotiz lässt sich auch lesen als Aufruf an wohlgesonnene Leser, der Gräfin angesichts des drohenden Scheiterns mehr finanzielle Unterstützung zukommen zu lassen. Das sich hier abzeichnende Muster der Ankündigung der Überschuldung mit dringlichen Bitten an die Anhänger und die Öffentlichkeit wiederholte sich bis zum Tod Schimmelmanns noch etliche Male.33 Allem Anschein nach verblieben die Gräfin, Paul Schimmelmann sowie zwei Pflegesöhne, die an der USA-Reise teilgenommen hatten, zunächst in England, bevor sie im Sommer 1901 nach Deutschland zurückkehrten, um hier zu bleiben.34 Bei der Wahl des vorübergehenden Aufenthaltsorts, der kleinen Gemeinde Holgate in York, dürfte Pastor William Smith Foggitt (1858–1930) eine Rolle gespielt haben.35 Der reformierte Geistliche, der 1895/96 die evangelisch-reformierte Gemeinde in Hamburg versorgt hatte, gab die englische Fassung der autobiographischen Aufzeichnungen Schimmelmanns heraus, deren Vorwort er im Januar 1896 in Hamburg unterzeichnete.36 Eine Fortsetzung des Kontaktes zwischen ihm und Schimmelmann nach 1901 ist nicht belegt. Eine weitere englischsprachige Zeitung bildet den ersten Hinweis darauf, dass Schimmelmann im Sommer 1901 ihre Arbeit in Deutschland wieder aufnahm. Die in London erscheinende Womanhood meldete im Juni, dass sie in Hamburg Evangelisationen abhalte, bei denen an einem Abend 2 000 Zuhörer teilnahmen. Diese fanden im Haus des Christlichen Vereins Junger Männer (CVJM) in der Altstadt statt. Dass Schimmelmann hier des Öfteren Ansprachen mit großen Teilnehmerzahlen hielt, lässt sich durch andere Quellen belegen.37 Eine gewisse 33 Albrecht u. Rosenkranz, Schimmelmann [s. Anm. 2], 260–263. Leuchtfeuer Nr. 7, 1905, 84; Nr. 11, 1905, 131; Dezember 1907, Deckblatt. 34 Vgl. Schimmelmann, Streiflichter [s. Anm. 4], 64f.; Albrecht u. Rosenkranz, Schimmelmann [s. Anm. 2], 138–143. 35 Census der Gemeinde Holgate von 1901, RG 13/4440, Bl. 64; RG 13/4443, Bl. 51; wir danken Anna Cook aus Holgate für den Hinweis auf diesen Quellenbestand. Vgl. ferner Hamburgischer Staats-Kalender auf das Jahr 1895. Amtliche Ausgabe. Hamburg 1895, 43. Im August 1896 übernahm sein Nachfolger die Gemeinde in Hamburg, ebd., 1897, 175. 36 Schimmelmann, Glimpses [s. Anm. 4],V–VIII; Streiflichter, 7–9. 37 Vgl. Ruth Albrecht u. Regina Wetjen: „Eine imposante, gewinnende Erscheinung“. Die Evangelistin Adeline Gräfin von Schimmelmann (1854–1913). In: Das 19. Jahrhundert. Hamburgische Kirchengeschichte in Aufsätzen. Teil 4. Hg. v. Inge Mager. Hamburg 2013, 377–417; zur Bedeutung des CVJM-Gemeindehauses für Hamburg s. Ruth Albrecht u. Solveig Nebl: Emil Meyer und der Beginn der Pfingstbewegung in Deutschland. In: Zeitschrift des Vereins für Schleswig-Holsteinische Kirchengeschichte 2, 2015, 57–126, hier 68–75.
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Skepsis spricht aus folgenden Bemerkungen des Berichts über die Zuhörer in der Hansestadt: „but whether they were attracted by curiosity or conviction is not so easy to ascertain as the actual numbers“.38 Die ehemalige Hofdame der deutschen Kaiserin Augusta wird als „remarkable lady“ charakterisiert, die ihr Hofleben freiwillig aufgab. Der Artikel informiert ferner darüber, dass die Gräfin erst vor kurzem aus Amerika zurückgekehrt sei, „where she delivered lectures on the Gospel“. Für das am Fortschritt von Frauen interessierte Publikationsorgan stellte eine Evangelistin, die in demselben Artikel wie die deutsche Ärztin Franziska Tiburtius vorkommt, vermutlich keine einhellig zu begrüßende Erscheinung dar. Der Bericht „What Women are doing in Germany“ setzt deutliche Akzente, indem Tiburtius mit einer Darstellung ihrer Biographie und einem Porträtphoto gewürdigt wird, während Schimmelmann ihren Platz unter den kürzeren Meldungen des Berichts aus Deutschland findet.39 Tiburtius (1843–1927) war eine der ersten deutschen Ärztinnen und gründete u. a. in Berlin eine Klinik. Ferner setzte sie sich gemeinsam mit der Aktivistin Helene Lange für die Rechte von Frauen ein.40 Den Idealen der Gründerin und Herausgeberin von Womanhood, Ada S. Ballin (1862–1906), dürfte das Engagement von Tiburtius mehr entsprochen haben. Die aus jüdischem Hintergrund stammende Ballin war vielseitig publizistisch tätig, ihr Hauptengagement galt den Themen Kinder und Gesundheit. Das Magazin Womanhood, das von 1898 bis 1907 erschien, spiegelt diese Schwerpunkte in Verbindung mit dem Engagement für die Verbesserung der Lage von Frauen wieder.41 Während vor dem Aufbruch von 1898 der Schwerpunkt der Arbeit Schimmelmanns auf sozialen und missionarischen Initiativen vor allem an der Ostseeküste mit dem Stützpunkt in Göhren auf Rügen gelegen hatte, verlagerte sich ihr Vorgehen nach 1900 auf evangelistische Einsätze in unterschiedlichen Regionen Deutschlands und gelegentlich in angrenzenden europäischen Ländern.42 V on Dezember 1901 an sind ihre Spuren in Berlin nachweisbar, minutiös dokumentiert in der vom Berliner Polizeipräsidium angelegten Akte über sie. Diese beginnt mit Einträgen am 20. Dezember 1901 und endet mit ihrem Tod
38 Womanhood Vol. 6, Nr. 31, Juni 1901, 39. Der Untertitel des Magazins wechselte, 1901 lautete er: „The Magazine of Woman’s Progress and Interests, political, legal, social, and intellectual, and of Health and Beauty Culture“. 39 Womanhood [s. Anm. 38], 38–40. Als Verfasserin wird eine Journalistin namens Kober genannt. 40 Zu Tiburtius s. Barbara Beuys: Die neuen Frauen – Revolution im Kaiserreich 1900–1914. München 2014, 25–27, 36–39. 41 Anne M. Sebba: Art. „Ballin, Ada Sarah“. In: Oxford Dictionary of National Biography 3, 2004, 595f. Ballin war mit Oscar C.D. Berry verheiratet. 42 In Schimmelmanns Zeitschrift lässt sich verfolgen, wie die Gräfin und ihre Mission die Schwerpunkte auf das Fischerheim auf Rügen und die evangelistischen Reiseprojekte verteilten: Leuchtfeuer 1905, Nr. 6, 69f.; Nr. 7, 85; Nr. 10, 112–114; Nr. 12, 141f.
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im November 1913.43 Der Hintergrund der Observation bleibt unklar; allem Anschein nach spielte hierbei ihre Familie eine wesentliche Rolle, die das gemeinsame Auftreten der Gräfin mit Paul Schimmelmann als ihrem Adoptivsohn mit Argwohn betrachtete.44 Ende 1901 begann die Gräfin mit ihrer in der Hauptstadt des Deutschen Reiches konzentrierten Missionsarbeit, die unter dem Namen Gräfin Adeline Schimmelmanns Internationale Mission gebündelt wurde.45 Das Aufgabenspektrum veränderte sich im Lauf der Jahre, die Fischerund Seemannsmission blieb jedoch das Zentrum der Arbeit. Erst allmählich wurden alle Aktivitäten von Berlin aus organisiert, nach der Rückkehr Schimmelmanns aus den USA gab es zunächst eine Anlaufstelle für Post und Spenden in Hamburg und für kurze Zeit eine in Kiel.46 Neben dem Sitz der Mission und des Verlages in Berlin baute die Gräfin sich gemeinsam mit ihrem Adoptivsohn ein entlegenes Jagdschloss in der Rhön als Aufenthalt zunächst nur für die Sommermonate aus. Paul Schimmelmann lebte hier mit seiner Ehefrau und den gemeinsamen Kindern, während Adeline Schimmelmann, solange ihre Gesundheit es zuließ, weiterhin zwischen Berlin, dem Holzberghof bei Bischofsheim v.d. Rhön und Einsatzorten ihrer Evangelisationen hin und her pendelte.47 Ganz im Westen der USA, in San Francisco, wurde die Gräfin 1901 in einem Artikel des Sunday Call als eine der wichtigen zeitgenössischen Persönlichkeiten behandelt. Diese Stadt hatte Schimmelmann nicht aufgesucht, da ihre Reiseroute sich auf die Ostküste Kanadas und der USA beschränkt hatte. Als eine von zwölf Personen wurde sie danach befragt, welche Kriterien sie bei der Bewertung einer Schwiegertochter oder eines Schwiegersohnes heranziehen würde. Am 10. Februar 1901 druckte die Sonntagsausgabe von The Francisco Call ganzseitig Äußerungen von sechs Frauen und sechs Männern zu dieser Frage ab.48 Bei den befragten Personen handelt es sich um bekannte amerikanische und
43 Landesarchiv Berlin APr.Br.Rep.030 Nr. 13532: „Die Gräfin Adeline Schimmelmann“. Die Eintragungen enden auf Bl. 40 mit dem Vermerk, dass die Beobachtete im November 1913 in Hamburg verstorben sei. In der Akte wurde Material über ihre Tätigkeiten und Reisen zusammengetragen. Ferner enthält diese neben Zeitungsartikeln auch Publikationen der Gräfin sowie die Briefwechsel der Berliner mit anderen Behörden, die um Auskunft gebeten wurden. Die Autoren dieses Beitrages bereiten eine Edition des Aktenbestandes vor. 44 Landesarchiv Berlin [s. Anm. 43], Bl. 9f.: Adeline Schimmelmanns in Berlin lebender Schwager Eduard Prinz zu Salm-Horstmar war in die Observationen involviert; eventuell initiierte er diese im Interesse der Familie. 45 Landesarchiv Berlin ARep 342–02. Amtsgericht Charlottenburg, Handelsregister; Leuchtfeuer Dezember 1906, 143. 46 Im Leuchtturm 1903, Nr. 7, 81, wird Johann Kahlor, Rothesoodstr. 16, Hamburg, als Anlaufstelle für ihre Mission genannt, 1905 werden das Marineheim in Kiel, Walkerdamm 5, und die Internationale Mission in Berlin erwähnt; Leuchtfeuer Januar 1905, Nr. 1, 11. 47 Zum Holzberghof s. Ruth Albrecht u. Martina Wüstefeld: Vom Forsthaus zum Jagdschloss Holzberghof. In: Chronik von Bischofsheim an der Rhön mit Haselbach und dem Kreuzberg. Hg. v. Reinhold Albert. Bischofsheim a.d. Rhön 2010, 529–535. 48 The Sunday Call, 10.02.1901, 11. Bei diesem Artikel handelt es sich um einen Nachdruck aus The Christian Herald, der in New York erschien.
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englische Persönlichkeiten. Unter den Männern sind drei Geistliche: Thomas Spurgeon (1856–1917), der Sohn des berühmten englischen Baptistenpredigers Charles Huddon Spurgeon; der englische Kongregationalist Joseph Parker (1830–1902) und der amerikanische methodistische Bischof John H. Vincent (1832–1920).49 William R. Moody (1869–1933), der Sohn des legendären amerikanischen Evangelisten Dwight L. Moody, der australische Politiker Joseph Cook (1860–1947) und der amerikanische General Oliver Otis Howard (1830– 1909) repräsentieren unterschiedliche Arbeits- und Lebensfelder. Ihnen wird zur Stellungnahme die Formulierung vorgelegt: „The kind of wife I should choose for my son [...]“. Die in diese Porträtsammlung aufgenommenen Frauen repräsentieren vor allem eine Generation amerikanischer Schriftstellerinnen: Marion Harland (1830–1922), Marietta Holley (1836–1926), Harriet Prescott Spofford (1835–1921) und Margaret E. Sangster (1838–1912). Mrs. Francis E. Clark, vorgestellt mit dem Namen ihres Gatten, scheint nach der Gräfin die Zweitjüngste zu sein.50 Die Frauen werden aufgefordert, sich über den passenden Ehemann für ihre Tochter zu äußern; es geht nicht darum, ob die Interviewten selber Töchter hatten. Schimmelmanns Photo weist Ähnlichkeiten mit den Abbildungen auf, die während ihrer USA-Reise z. B. von der Presse in Atlanta benutzt wurden.51 Dem Text ist nicht zu entnehmen, ob das Interview mit ihr während ihres Aufenthalts in den USA geführt wurde oder ob sie von Europa aus um Auskunft gebeten wurde. Ihre Aussagen werden unter der Überschrift „Let there be spiritual sympathie“ zusammengefasst, die Stellungnahme zu dem infrage stehenden Thema entspricht dem Tenor ihrer Hauptbotschaft: Die Entscheidung über den richtigen Ehepartner solle Gott überlassen werden. Die Mutter habe vor allem die Aufgabe, Böses von ihrer Tochter fernzuhalten, sie solle sich nicht zu aktiv in die Partnersuche einmischen. Ihr wird empfohlen: „If you feel that she should marry, so not think of any but a Christian husband.“ Im täglichen Leben müsse sich die Christlichkeit des Gewählten erweisen. Die anscheinend von der Redaktion gewählte Titelzeile gibt im Grunde nicht das wieder, was die Gräfin darlegt. Wie Gottes direkte Bekundung von der Mutter erfahren werden kann, bleibt offen. Unter den Frauen spricht nur Clark ebenfalls die Wichtigkeit einer christlichen Orientierung des Ehepartners für die eigene Tochter an. Schimmelmann rangiert hier unter weithin bekannten Männern und Frauen des öffentlichen Lebens in Amerika und England, die als dem Lesepublikum vertraut vorausgesetzt werden. Die amerikanischen Methodisten brachten in Cincinnati/Ohio eine deutschsprachige Zeitung heraus, die über Aktivitäten der eigenen Gemeinden in
Der Christliche Apologete, 08.01.1902, 7, berichtete von Vorträgen des Bischofs. Das Ehepaar Harriett und Francis E. Clark (1851–1927) veröffentlichte gemeinsam theologisch-erbauliche Schriften. Francis E. Clark gilt als der Begründer der Jugendbewegung Christian Endeavour, im Deutschen bekannt als EC – Jugendbund für Entschiedenes Christentum, s. Holthaus, Heil [s. Anm. 9], 215–217. 51 Vgl. The Atlanta Constitution, 09.03.1900, 7. 49 50
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Deutschland und Amerika sowie über wichtige Zeitereignisse informierte. Im Januar 1902 stellte Der Christliche Apologete die Gräfin als die „weltbekannte kühne und opferbereite Zeugin Jesu Christi“ dar.52 Der Bericht geht auf ihre Evangelisationen in Württemberg ein, Stuttgart und Kirchheim u.T. werden dabei hervorgehoben. Schimmelmann „wirkte [...] im großen Segen. In Stuttgart wie in anderen Städten strömten ihr große Scharen zu“. Der größte Teil des Zeitungsartikels besteht aus der Wiedergabe einer Mitteilung des Schwäbischen Merkur, in der ausgesprochen positiv über die Gräfin berichtet wurde.53 Dass Schimmelmann Württemberg oft besuchte, lässt sich belegen; allerdings sind nicht alle Aufenthalte und Reiserouten lückenlos zu rekonstruieren. Im Herbst 1901 hielt sie Evangelisationen u. a. in Kirchheim u.T., im Frühjahr 1902 suchte sie unterschiedliche Orte auf.54 Die Berliner Morgen=Zeitung erinnerte im November 1902 an die Missionsreisen Schimmelmanns an der amerikanischen Küste. „In Chicago hat die Gräfin im Vorjahre 84.000 Menschen bewirthet.“55 Der Artikel bemerkt, dass sich ihr Vermögen erheblich dezimiert habe und sie wohl nur noch eine Yacht ihr Eigen nennen könne, deren Wert auf 600 Dollar geschätzt wird. Diese Darstellung unterliegt einem Irrtum, denn der Aufenthalt Adeline Schimmelmanns in den USA lag bereits mehr als zwei Jahre zurück, ihre Aufsehen erregenden Aktionen in Chicago, über die zeitnah viele Blätter berichtet hatten, spielten sich im Herbst 1899 ab.56 Während diese Informationen der internationalen Öffentlichkeit von mehreren Seiten präsentiert wurden, sticht dieses Blatt durch die Titelzeile hervor: „Gräfin Schimmelmann – Mormonin?“ Der Artikel formuliert vorsichtig, es heiße, sie sei „jetzt im Begriff Mormonin zu werden“. Sie wolle „die Ehe eingehen mit dem hervorragenden Mormon Samuel Harforth, der schon drei Frauen besitzt“.57 Der abschließende Satz lautet: „Dieses Ende mag der einst hübschen und reichen Gräfin, als sie Hofdame in Berlin war, kaum prophezeit worden sein.“ Dass Schimmelmann in Amerika oder Deutschland mit Mormonen zu tun hatte, ist nicht belegt.58 Zu erwägen ist, ob diese Meldung eventuell keinen Anhalt an der Realität hatte, sondern nur dem Zweck dienen sollte, die Adlige, die in Berlin in einigen Kreisen noch als kaiserliche
Der Christliche Apologete, 08.01.1902, 7. Das Datum dieses Artikels wird nicht angegeben und konnte bisher nicht ermittelt werden. 54 Vgl. Ruth Albrecht: Adeline Gräfin von Schimmelmann und ihre Evangelisationen in Württemberg zu Beginn des 20. Jahrhunderts. In: BWKG 112, 2012, 185–219; Wettstein, Lebensbild [s. Anm. 4], 191–198. 55 Berliner Morgen=Zeitung und Tägliches Familienblatt, 16.11.1902, 2. Dieser Artikel wurde auch in der Berliner Polizeiakte über Schimmelmann dokumentiert [s. Anm. 43], Bl. 6. 56 Vgl. hierzu Albrecht u. Rosenkranz, Schimmelmann [s. Anm. 2], 242–252. 57 Eine Person dieses Namens konnte nicht nachgewiesen werden. 58 Zur Ausbreitung der Mormonen im Kaiserreich s. Herbert Strahm: Dissentertum im Deutschland des 19. Jahrhunderts. Freikirche und religiöse Sondergemeinschaften im Beziehungs- und Spannungsfeld von Staat und protestantischen Landeskirchen. Stuttgart 2016, 545– 553. 52 53
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Hofdame in Erinnerung war, in Misskredit zu bringen. Etwa ein Jahr nach ihrer Rückkehr aus den USA hatte sie mit ihrer missionarischen und evangelistischen Arbeit in Deutschland wieder Fuß gefasst und war dabei, ihre Projekte auszubauen.59 Weitere Zeitungen warteten ebenfalls mit Meldungen über eine Konversion zu den Mormonen auf. Der Deutsche Correspondent aus Baltimore vermeldete Anfang Dezember in einer knappen Notiz: „Die dänische Gräfin Schimmelmann ist nach Utah abgereist, um Mormonin zu werden und sich mit dem Mormonen Samuel Harforth zu verheirathen. Auch ‚a Geschmäckle!‘“60 Außer diesen beiden Pressestimmen lassen sich fast gleichlautende Hinweise auf Heiratspläne der Gräfin mit einem Mormonen in dänischen Zeitungen nachweisen.61 Der Jyllands-Posten, der seit 1871 in jütländischen Viby erscheint, druckte unter den Kurznotizen eine Richtigstellung der Gräfin ab, die sie auch in weiteren Blättern publizieren ließ.62 Dass Schimmelmann gegen Ende 1902 oder zu Beginn des Jahres 1903 eine erneute Reise in die USA unternahm, ist nicht zu belegen. Das vielseitige Engagement Schimmelmanns in New York vom November 1899 bis Sommer 1900 spiegelt sich im ausführlichen und gut bebilderten Beitrag des Brooklyn Daily Eagle vom Dezember 1902 unter der Überschrift „Missionary Yacht Duen to be sold after two years of idleness“.63 Fast im Stil einer Kurzgeschichte stehen der aus Rostock stammende Kapitän Carl Nolandt64 und das Segelschiff der Gräfin im Mittelpunkt.Viele Einzelheiten bis zur abblätternden Farbe an den einst blau und golden strahlenden Wanten des „gospel ship“ werden beschrieben. Nolandt harre im Erie Basin in Brooklyn an Bord aus und verrichte gelegentlich Aushilfsarbeiten. Schimmelmann habe ihre wertvolle Ausstattung, mit der sie sich ihren Salon als „cosy boudoir“ u. a. mit Teppichen eingerichtet hatte, mitgenommen. Geblieben seien an den Wänden des Schiffsinneren einige religiöse Sprüche, die die Gräfin hatte anbringen lassen. Die Yacht strahle eine „Melancholie vergangenen Glanzes“ aus. Der getreue Begleiter der Gräfin habe seine Frau und Kinder fünf Jahre lang nicht gesehen. Er wirke wie ein „grizzled, wrinkled veteran of the seas“, der sich unter einfachen Umständen als Bewahrer des einst so stolzen Schiffes eingerichtet habe. Er sei wortkarg und würde nur sehr selten jemanden an Bord lassen; wenn er jedoch
59 Darauf deutet auch die Zeitschrift Schimmelmanns hin, die ab März 1903 erschien. Auf dem Titelblatt der ersten Nummer des „Leuchtturms“ ist davon die Rede, dass dieses „Monatsblatt“ vorher verschickte Briefe ersetzen werde. Hier berichtet Schimmelmann u. a. von ihrem mehrwöchigen Einsatz in Hamburg, s. Albrecht u. Nebl, Emil Meyer [s. Anm. 37], 70f. 60 Der Deutsche Correspondent, 03.12.1902, 2. Diese Zeitung erschien 1841 bis 1918 im Bundesstaat Maryland. In Salt Lake City im Bundesstaat Utah gründeten die Mormonen nach internen Streitigkeiten ihre bedeutendste Niederlassung; s. Strahm, Dissentertum [s. Anm. 58], 540. 61 Lollands=Falsters Stifts=Tidende, 15.11.1902, 1; Kolding Folkeblad, 17.11.1902, 1. 62 Jyllands-Posten, 28.11.1902, 2. 63 The Brooklyn Daily Eagle, 14.12.1902, 4. 64 Vgl. Albrecht u. Rosenkranz, Schimmelmann [s. Anm. 2], 198–201.
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Berichterstattung in The Brooklyn Daily Eagle vom 14. Dezember 1902
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Vertrauen zu einem Besucher gefasst habe, dann zeige er das hinter einem Vorhang verborgene Bild der Gräfin. In seinen Worten war sie „Her Grace“, die ihn unendlich beeindruckt habe. Er sei in New York bei dem Schiff geblieben, weil die Gräfin davon ausgegangen war, bald zurückzukehren und ihre Missionsarbeit in den Häfen Amerikas wieder aufzunehmen. Sie habe große Pläne gehabt: „The entire Atlantic seaboard was to be made to the field of her reformatory labors. Then after visiting the Southern ports she had intended to cross over to some islands of the West Indies.” Als sie ihm mitteilen ließ, dass sie aufgrund von Erschöpfung und Krankheit auf absehbare Zeit die Missionsarbeit mit ihrer Yacht Duen nicht wieder aufnehmen könne, begann er, nach einem Käufer zu suchen, um dann selber in seine Heimat zurückkehren zu können. Dabei habe sich als Hindernis erwiesen, dass der Schooner unter dänischer Flagge segelte;65 die amerikanischen Kaufinteressenten wollten aber lieber unter der Flagge ihres eigenen Landes reisen. Zudem sei die Gräfin zwischenzeitlich wegen ihrer Evangelisationsreisen nicht erreichbar gewesen. Der mit großer Sympathie für den Rostocker Seemann verfasste Beitrag schließt mit den folgenden Worten: „In all Brooklyn there is probably no more picturesque object than the dismantled mission schooner with the faithful skipper keeping his vigil on board.“ Der abgetakelten Duen wird abschließend ein ebenfalls im Erie Basin liegendes Schiff gegenübergestellt, das auch verkauft werden soll: die sich im Besitz von Sir Thomas Lipton befindliche Shamrock II. Diese sei mit den besten technischen Vorrichtungen versehen, um ihr glänzendes Aussehen zu erhalten. Die Brooklyner Zeitung setzte anscheinend voraus, dass die Leserschaft sowohl den englischen Geschäftsmann und begeisterten Segler Sir Thomas Lipton (1850– 1931) wie auch seine berühmten Yachten, die alle Shamrock hießen, kannten.66 Die Photos und Zeichnungen des Artikels zeigen Adeline Schimmelmann einmal als junge Frau während ihrer Hofdamenzeit in den 1880er Jahren67 und einmal mit dem in der amerikanischen Presse oft verwendeten Porträt.68 Nolandt ist auf den Photos nicht als der alte Seebär abgebildet, sondern als stolzer Kapitän in feierlicher Kleidung. Der Duen als Segelyacht mit zwei Masten und der dänischen Flagge ist eine Abbildung des verbliebenen Schiffsrumpfes gegenübergestellt – das Gegenstück dazu bildet die Shamrock. Eine Zeichnung der Duen ergänzt die Bildergalerie. Im Herbst 1902 griffen mehrere Zeitungen das Schicksal der Duen auf. Das Milwaukee Journal ging am 5. November 1902 auf den Verkauf der Yacht an einen
Vgl. Albrecht u. Rosenkranz, Schimmelmann [s. Anm. 2], 200f. Vgl. Francoise de Maulde: Sir Thomas Litpon. Paris 1990. Zur Yacht Shamrock I s. einen Artikel in der New York Times, 27.06.1899. 67 Vgl. Schimmelmann, Glimpses [s. Anm. 4], 16f.; Streiflichter, 29; Albrecht u. Rosenkranz, Schimmelmann [s. Anm. 2], 191. 68 Vgl. The Sunday Call [s. Anm. 48]; The Atlanta Constitution, 04.12.1899, 9; 09.03.1900, 7 u. ö. 65 66
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Privatmann in Philadelphia ein, der diese als Hausboot benutzte.69 In Erinnerung gerufen wurde, dass Schimmelmann auf ihrer Tour durch den St. Lorenzstrom auch in Milwaukee Station gemacht hatte.70 In wenigen Sätzen wird der Lebensweg der Gräfin bis 1895 zusammengefasst; dieses Jahr gilt hier als der entscheidende Beginn ihrer missionarischen Arbeit. Dieses Jahr stellt insofern eine Zäsur dar, als sie nach der Entlassung aus der Psychiatrie ihre evangelistische Arbeit in entscheidendem Ausmaß ausweitete.71 3.2 Ausweitung der Arbeit in Deutschland, Dänemark und Großbritannien 1902 und 1903 erinnerte der Chicago Daily Tribune in drei Berichten an die vor wenigen Jahren so prominente Evangelistin und Wohltäterin. Im Oktober 1902 wurden die Leser noch einmal auf das Missionsschiff der Gräfin hingewiesen. Dass die Duen 1900 im Hafen von New York zurückgeblieben war, hatte die amerikanische Presse an verschiedenen Stellen vermerkt. Jetzt teilte die Zeitung mit, dass die Yacht an einen Mann aus Philadelphia verkauft wurde, der sie als Hausboot nutzen wolle. Der Tribune warf einen Blick auf die Biografie Schimmelmanns und verfolgte den Weg, den sie mit ihrem Schiff über den Atlantik bis nach Chicago genommen hatte.72 Im April 1903 hieß es, Schimmelmann sei auf ihren dänischen Hof zurückgekehrt.73 In ihrer Begleitung befänden sich drei Schützlinge, eines davon ein Mädchen aus Chicago. Alle drei wolle sie an „noble works of charity“ heranführen. Über die beiden anderen wird kein Wort verloren, eventuell handelte es sich um die Zwillinge Willi und Otto.74 Ein Mädchen, das Schimmelmann zur Erziehung in ihre Nähe zog, wird nur in diesem Artikel des Tribune erwähnt; es gibt keine Hinweise auf den weiteren Weg dieses Kindes.75 Ferner teilt der Zeitungsartikel mit, der dänische König habe die Erlaubnis erteilt, dass die drei Schützlinge den Namen und auch The Milwaukee Journal, 05.11.1902, 7. Wettstein, Lebensbild [s. Anm. 4], 128, 181. 71 Meistens jedoch betrachtete sie das Jahr 1886 mit dem Beginn ihrer Arbeit in Göhren als Wende ihrer Lebensgeschichte; s. Leuchtfeuer, September 1906, 97–99. 72 Vgl. Wettstein, Lebensbild [s. Anm. 4], 117–130. 73 The Chicago Daily Tribune, 12.04.1903, 22, im Englischen ist von ihrer „farm“ die Rede. Der Artikel bezieht sich auf einen Bericht aus Helsingör vom 11.04.1903. In Hellebaek nördlich von Helsingör bewohnte Schimmelmann eine Villa, die zum Besitz ihrer Familie gehört hatte; Ende 1908 veräußerte sie das Haus, s. Albrecht u. Rosenkranz, Schimmelmann [s. Anm. 2], 349; vgl. Degn, Dreieckshandel [s. Anm. 15], 525f. 74 Vgl. Albrecht u. Rosenkranz, Schimmelmann [s. Anm. 2], 139–143. Die Herkunft der beiden Pflegesöhne Schimmelmanns, die an der Reise in die USA teilgenommen hatten, ist mit noch mehr Unklarheiten umgeben als die Lebensgeschichte Paul Schimmelmanns. Formale Adoptionen sind für die beiden nicht belegt, allem Anschein nach führten sie auch nicht den Familiennamen Schimmelmann. Bei der Missionsarbeit der Gräfin spielten sie keine erkennbare Rolle. 75 Alle anderen Quellen, die sich auf Schimmelmanns Fürsorge für Kinder beziehen, sprechen nur von Jungen; s. Schimmelmann, Streiflichter [s. Anm. 4], 41, 62–65; Leuchtfeuer Nr. 12, 1905, 134. 69 70
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den Titel Schimmelmanns tragen könnten. Eventuell stellte die Entourage Schimmelmanns bewusst vage Hoffnungen als gesicherte Perspektiven dar; darüber hinaus deuteten amerikanische Journalisten vermutlich im Kontext des europäischen Adels unrealistische Ideen als Fakten. Die Umstände der Adoption Paul Schimmelmanns zeigen sehr deutlich, welchen Schwierigkeiten eine formale Adoption unterlag. Adeline Schimmelmanns Versuche, ihrem adoptierten Sohn auch das Tragen des Grafentitels zu ermöglichen, scheiterten.76 Da Schimmelmann selber aus einer Familie stammte, die den Prozess der Nobilitierung in Dänemark durchlaufen hatte, ist es kaum wahrscheinlich, dass sie tatsächlich damit rechnete, für ihre Schützlinge das Gleiche erreichen zu können. Sie nahm zwar etliche Jungen zeitweise als Pflegekinder an, aber für kein weiteres Kind lässt sich eine rechtmäßige Adoption geschweige denn die Erlaubnis zur Führung eines Adelszusatzes oder des gräflichen Titels nachweisen. Ein besonders guter Kontakt zum dänischen König Christian IX. (1863–1906) ist nicht belegt, auch wenn Schimmelmann alles dazu tat, um in den von ihr beeinflussten Pressemeldungen ihre enge Bindung zum regierenden europäischen Adel herauszustreichen. Die Gräfin fand allerdings Unterstützung bei anderen Mitgliedern des königlichen Hauses, denn der Vorbesitzer ihrer Yacht Duen, mit der sie nach Amerika reiste, war Prinz Waldemar (1858–1939), der jüngste Sohn König Christians. Nach ihren Angaben stellte ihr die dänische Königin Luise (1817– 1898) eine „jährliche Gabe“ für ihre Mission zur Verfügung.77 Die Überschrift des Artikels im Tribune hebt das Mädchen aus Chicago hervor und die königliche Genehmigung, Schimmelmanns Namen zu tragen.Wie die Gräfin das amerikanische Mädchen kennenlernte, wird hier nicht mitgeteilt. Der Titel des Berichts legt nahe, dass der Kontakt erst in Dänemark zustande kam: „Chicago Girl to get title. Protege of Countess Schimmelmann, Adopted in Recent Tour, Has Royal Permission to Bear Her Name.”78 Den Sommer über werde Schimmelmann in Dänemark bleiben, danach aber in die USA zurückkehren. In den letzten Jahren habe sie ihre Seemannsmission fortgesetzt und auf insgesamt 318 Schiffen gepredigt. In ihrem Londoner Seemannsheim fanden – nach Darstellung dieser Zeitung – während des letzten Jahres 10 000 Seeleute aller Nationen Unterkunft und Nahrung. Ernsthafte Vorbereitungen der Gräfin, um noch einmal Städte wie Chicago oder New York zu besuchen, sind nicht nachweisbar. Vermutlich wurden auch in Bezug auf diese Angelegenheit ihre Hoffnungen als konkrete Pläne verstanden. Im März 1903 wurden dänische Zeitungsleserinnen und -leser darüber informiert, dass „Grevinde Schimmelmann“ gegenwärtig in
76 Vgl. hierzu die in den Berliner Polizeiakten erhaltenen Korrespondenzen zu dieser Angelegenheit vom Februar 1907, Landesarchiv Berlin [s. Anm. 43], Bl. 16–20. 77 Schimmelmann, Streiflichter [s. Anm. 4], 119. Über die Höhe und den Zeitraum der Spende sind keine Angaben zu finden. Wettstein, Lebensbild [s. Anm. 4], 100, 104–106, berichtet, dass Waldemars Schwester Alexandra (1844–1925), die an der Seite Eduards VII. 1901 Königin von England wurde, sie 1895 während eines Aufenthalts in England empfing. 78 The Chicago Daily Tribune, 12.04.1903, 22.
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Kopenhagen und weiteren Städten eine Missions- und Evangelisationskampagne abhalte.79 Ähnliche Details wie der Tribune hebt im Frühjahr 1903 auch Der Evangelist hervor, eine in Bremen erscheinende methodistische Zeitung: „Während der letzten Jahre hat die missionierende Gräfin 15 Länder, 57 Städte und 318 Schiffe besucht; in ihrem Seemannshaus in London gingen im vorigen Jahre 10.000 Seeleute aller Staaten aus und ein; es hat 300.000 Gaben Essen und 230.000 Bücher verteilt.“80 Eigens erwähnt wird Schimmelmanns Wirksamkeit in Chicago, New York und London. Der Artikel schließt mit einer vorsichtig abwägenden Wertung: ei allen menschlichen Unvollkommenheiten ist es ohne Zweifel ein gottgewolltes B und großes Werk, das die genannte Gräfin in solch selbstloser und aufopfernder Weise verrichtet. Wer so bereitwillig Zeit, Kraft und Vermögen dem Dienste einer guten Sache weiht, der ist Gott gefällig und den Menschen wert.
Dass Schimmelmann außer in Berlin auch an anderen Orten Zeitschriften herausgab, wie hier ferner berichtet wird, ist nicht belegt. Hingegen wurden einige ihrer Schriften ins Dänische übersetzt bzw. erschienen zunächst auf Dänisch und erst danach auf Deutsch. Auf Englisch liegen nur die autobiographischen Aufzeichnungen, die Glimpses, vor.81 Das nicht nur hier, sondern im gleichen Zeitraum auch von anderen Zeitungen erwähnte Londoner Seemannsheim veranlasste die Redaktion der von Schimmelmann herausgegebenen Zeitschrift dazu, den Sachverhalt richtigzustellen. Im Heft des Leuchtturms für Juni 1903 heißt es, dass dieses Heim nicht existiere. „Wie gern hätten wir alle die schönen Institute zur Ehre des Herrn.“ Die Leser werden zu Spenden aufgefordert, um die Arbeit zu erweitern – dann könnten „diese Luftschlösser ja zur Wahrheit werden“.82 Auf eine spätere Gründung eines solchen Heimes in London durch die Gräfin gibt es keine Hinweise. Eine weitere Reise Schimmelmanns in die USA kam allem Anschein nach nicht zustande. Diese Vermutung bestätigt eine kurze Notiz des Chicago Tribune vom Herbst desselben Jahres, in der von einem solchen Aufenthalt der Gräfin nicht die Rede ist. Im September 1903 meldete diese Zeitung, dass Schimmelmann vor kurzem in Kopenhagen eingetroffen sei. Nach einer Abwesenheit von acht Jahren halte sie sich in ihrer Villa in Helsingör für eine Ruhepause auf, um anschließend ihre missionarische Arbeit fortzusetzen.83 Nach diesen Angaben hatte sie Dänemark zuletzt 1895 besucht; andere Quellen sprechen eher dafür,
79 Die Ribe Stifts=Tidende, 18.03.1903, druckt auf der ersten Seite einen zweispaltigen Artikel über sie; vgl. Dagens Nyheder, 19.03.1903, 1. 80 Der Evangelist, 54. Jg., 1903, 108. 81 Zum Werkverzeichnis s. Albrecht u. Rosenkranz, Schimmelmann [s. Anm. 2], 501. 82 Leuchtturm 1903, Nr. 4, 43, unterzeichnet mit P., dem Kürzel Paul Schimmelmanns. 83 The Chicago Tribune, 06.09.1903, 15, unter der Rubrik „Church and Clergy“.
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dass ihr Haus nördlich von Kopenhagen bis zur Abreise in die USA einen ihrer Stützpunkte darstellte. In der Phase nach der Rückkehr bildete dieses Haus ebenfalls eine wichtige Anlaufstelle, bevor sich der Lebensmittelpunkt allmählich nach Berlin und in die Rhön verlagerte. Nach dem Verkauf der Villa in Hellebaek kehrte Schimmelmann anscheinend nicht mehr an diesen ehemaligen Besitz ihrer Familie zurück – wenn Dänemark auch ein Ziel ihrer evangelistischen Arbeit blieb.84 Schimmelmanns Zeitung berichtete im April 1903 in einem mit Photos der dänischen Monarchenfamilie ausgestatteten Bericht über die Visite Kaiser Wilhelms II. in Kopenhagen.85 Am Abend des 3. April gaben der dänische Kronprinz Friedrich und Kronprinzessin Luise eine Abendgesellschaft mit 300 Gästen. uf besonderen höheren Wunsch war die Gräfin Adeline Schimmelmann eingelaA den. Ueber ihre wundervolle Robe, die größtenteils aus Dingen bestand, die sie von früher her hatte, wollen wir schweigen, lassen wir da die Tageszeitungen sprechen, nur erwähnt sei, daß die Gräfin keinerlei Schmuck trug, da sie alles für die Armen verkauft hat, sie hatte eben nur ihre Orden angelegt.86
Der Leuchtturm erwähnt, dass der Kaiser ein längeres Gespräch mit Schimmelmann führte und ihr zu ihrer Arbeit gratulierte. Ob sie sich im Anschluss an diesen Empfang noch längere Zeit in Dänemark aufhielt, geht aus diesen Aussagen nicht hervor. Eventuell nahmen die Gräfin und ihre Vertrauten die Einladung an den dänischen Hof zum Anlass für ein Photo, das Schimmelmann in einer opulenten Abendrobe zeigt. Die Orden sind deutlich sichtbar platziert. Die Frisur der Gräfin entspricht den bekannten Darstellungen, die sie mit in der Mitte gescheiteltem Haar und einem leicht in die Stirn fallenden Pony zeigen.87 Im September 1907 warb das Leuchtfeuer für eine Abbildung Schimmelmanns, die zu Gunsten ihrer Missionsprojekte verkauft wurde. „Auf besonderen Wunsch ließen wir einen Kupferstich von der Gräfin in Hoftracht machen. Es ist dies das bestgelungene Bild, welches bisher von der Gräfin gemacht worden ist.“88 Im Mai 1903 kam Adeline Schimmelmann im Leuchtturm selber auf ihren Be Vgl. Wettstein, Lebensbild [s. Anm. 4), 184. Leuchtturm 1903, Nr. 2, 13–15. Abgebildet sind König Christian IX. sowie Kronprinzessin Luise und Kronprinz Friedrich, eine weitere Aufnahme zeigt Schloss Amalienborg. Der Artikel kann Paul Schimmelmann zugeordnet werden. 86 Leuchtturm 1903, Nr. 2, 14. Der Artikel schließt mit einem Aufruf zur Bekehrung in den charakteristischen Wendungen, zu denen auch die direkte Anrede der Leser gehört: „gib auf dein Sündenleben, und laß dich durch das Blut Christi rein waschen“, ebd., 15. In einer Übersicht am Schluss dieses Heftes wird noch einmal auf die Einladung der Gräfin an den dänischen Hof „auf besonderen Befehl“ hingewiesen, ebd., 23.Vgl. auch Aalborg Tidende, 03.04.1903, 1. 87 Vgl. Wettstein, Lebensbild [s. Anm. 4], 32f. Zum Vergleich können die Autorenporträts in den Ausgaben der Autobiographie herangezogen werden: Schimmelmann, Glimpses und Streiflichter [s. Anm. 4]. 88 Leuchtfeuer September 1907, 108. 400 Exemplare seien noch vorhanden. 84 85
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such in Kopenhagen zu sprechen. Sie gibt an, dass sie zuletzt vor einem Jahr „zuhause“ war, d. h. dass sie im Frühjahr 1902 nach Dänemark kam. Ihr Programm vom April 1903 beschreibt sie folgendermaßen: „Einen Abend sprach ich im Saale einer Studentenvereinigung, den nächsten Abend beim Hoffest und Tag’s darauf für die obdachlosen Leute bei der Heilsarmee.“ Über den Abend am Hof fügt sie hinzu: „Die Kaiserin-Witwe von Rußland, die Königin von England, die dänischen Herrschaften sprachen sich mit freundlichem Verständnis über die Wege, die ich gehe, aus. Der Kaiser beglückwünschte mich zu meiner Arbeit.“89 Die Gräfin blieb ihrem Bedürfnis treu, ihre guten Kontakte zu den europäischen Herrscherhäusern möglichst eindrücklich zu präsentieren. Im Juni-Heft ihrer Zeitschrift korrigierte sie im Blick auf ihren Bericht über Kopenhagen, dass der Artikel vom Mai dahingehend missverstanden worden sei, „als hätte ich bei dem Hoffest Versammlungen gehalten“. Sie habe lediglich mitteilen wollen, dass sie bei dieser Gelegenheit „zu einzelnen vom Heilande“ habe sprechen können.90 Auch noch in einer anderen Hinsicht blieb sich Schimmelmann treu, indem sie nämlich noch einmal – nun mit einer kleinen Dampfyacht – das Programm ihrer Missionsreisen in Nord- und Ostsee wieder aufnahm. Allerdings war auch dieser Anlauf nicht von langer Dauer.91 In Minneapolis erschien die dänischsprachige Zeitung unter dem Namen Dagen. Diese nahm im August 1903 ein dänisches Werk der Gräfin zum Anlass, um sich mit ihrer Person und ihrem Werk zu beschäftigen.92 Der Dagen präsentiert ausführlich Schimmelmanns Buch Erfaringer fra min Pilgrimsfaerd, bei dem es sich um einen leicht abgewandelten Nachdruck des bereits 1901 auf Deutsch erschienenen Werkes Sechs Vorträge handelt.93 Dass der Rezensent diesen Zusammenhang nicht kannte, verwundert nicht, denn die Verfasserin macht darauf in der dänischen Ausgabe nicht aufmerksam. In den im Herbst 1901 in Stuttgart gehaltenen Vorträgen, die kurz darauf im Druck erschienen, greift Schimmelmann an mehreren Stellen auf ihre in Amerika gemachten Erfahrungen zurück, wenn sie z. B. ausführlich auf ihre Begegnungen mit Indianern anspielt oder vor der religiösen Bewegung Christian Science oder vor John Alexander Dowie 89 Leuchtturm 1903, 25. Bei den genannten Personen handelt es sich um die dänischen Prinzessinnen Alexandra und Dagmar, beide Töchter des inzwischen verwitweten Königs Christian IX. Alexandra wurde englische Königin, Dagmar (1847–1928) war die Ehefrau von Zar Alexander III. (1845–1894). 90 Leuchtturm 1903, Nr. 4, 37. Leserbriefe, die sich kritisch äußerten, wurden im Leuchtfeuer in diesem Heft nicht abgedruckt; von daher lässt sich nur aus der Darstellung der Redaktion auf Kritik schließen. 91 Leuchtturm 1903, Nr. 4, 37. Im Leuchtfeuer 1905, Nr. 1, 2, wird berichtet, dass das letzte Schiff verkauft wurde, es blieb nur ein Motorboot im Besitz der Gräfin. 92 Dagen, 01.08.1903, 258f. Bei diesem Artikel handelt es sich um einen Beitrag, der von dem bekannten Schriftsteller und Journalisten Mads Jepsen (1868–1916) verfasst wurde und zunächst in Dänemark erschien; vgl. Frederik Norgaard: Art. „Jepsen, Mads“. In: Dansk Biografisk Leksikon 7, 31981, 348f. Wir danken Martina Wüstefeld für die Übersetzung aus dem Dänischen. 93 Adeline Schimmelmann: Sechs Vorträge. Stuttgart 1901; Erfaringer fra min Pilgrimsfaerd. Med tre Billeder. Odense 1903.
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(1847–1907) warnt.94 Der Artikel des Dagen schließt mit folgender Würdigung: „Man wird im Vortrag der Gräfin Schimmelmann nichts finden, das ein neues Licht auf alte Wahrheiten wirft, aber man wird auf einen glühenden Glauben und eine große Liebe zu den Menschen treffen ... Und man kann nicht anders, als die Selbstaufopferung und den rastlosen Drang zu handeln, zu bewundern, die Gräfin Schimmelmanns Leben prägen.“95 Im Dezember 1903 berichtete die deutschsprachige Indiana Tribüne aus Indianapolis unter der Überschrift „Gegen Alkohol=Mißbrauch“, dass Schimmelmann in Kiel ein Haus eröffnet habe, um Marineangehörigen eine Anlaufstelle anzubieten.96 Sie wird vorgestellt als ehemalige Hofdame Kaiserin Augustas, „die eine eifrige Thätigkeit in Seemannskreisen entfaltet“ habe. Das nachweislich nur von 1904 bis 1908 von der Schimmelmann-Mission unterhaltene Haus in Kiel spielte auch in ihrer Zeitschrift eine wichtige Rolle.97 Die Gräfin hatte anscheinend gehofft, durch diese Aufenthaltsstätte ihren Bezug zur deutschen Marine und damit auch zum Kaiser stärken zu können.98 Wie bei ähnlichen Projekten suchte sie selber die Öffentlichkeit, um ihre Initiativen zu bewerben und ihre daran geknüpften großen Erwartungen mitzuteilen.99 3.3 Schwerpunkt der Evangelisation in Wales 1906 machten etliche Pressestimmen auf Schimmelmanns Aktivitäten in England und Wales aufmerksam. Im schottischen Evening Express vom April 1906 wird sie als „German lady of high rank“ präsentiert.100 In Cardiff hielt die Gräfin nach diesem Bericht im John-Cory-Haus für Seeleute und Soldaten vom 8. bis 15. April jeden Abend evangelistische Vorträge, für die in Zeitungsannoncen geworben wurde.101 Der aus einer methodistischen Familie stammende John Cory (1828–1910) hatte sich früh der Heilsarmee angeschlossen und an etlichen Orten Heime für Seeleute gestiftet. Er galt als großer Wohltäter auf christlicher Basis.102 Anhand von Zeitungsberichten lässt sich rekonstruieren,
94 Zu Dowie, einem exzentrischen Vertreter der amerikanischen Heiligungsbewegung s. Holthaus, Heil [s. Anm. 9], 350–352. 95 Dagen [s. Anm. 92], 259. 96 Indiana Tribüne, 17.12.1903, 7. Die Zeitung erschien 1878 bis 1907. 97 Leuchtfeuer Nr. 12, 1905, 141; Nr. 2, 1906, 20f. 98 Vgl. Albrecht u. Rosenkranz, Schimmelmann [s. Anm. 2], 291–297. 99 Im April 1904 bat Schimmelmann bei einer Veranstaltung in Berlin um eine Kollekte für das Marineheim in Kiel; vgl. General=Anzeiger / Berliner Tageblatt, 07.04.1904, 17. 100 Evening Express and Evening Mail, 12.04.1906, 2. Die Zeitung erscheint seit 1879 in Aberdeen. 101 Evening Express and Evening Mail, 06.04.1906, 1; 10.04.1906, 1; 11.04.1906, 1. 102 Vgl. John Austin Jenkens u. R. Edward James: The History of Nonconformity in Cardiff. Cardiff 1901; John Williams: Art. „Cory, John“. In: Oxford Dictionary of National Biography 13, 2004, 517f. Cory arbeitete eng mit dem CVJM zusammen und wurde u. a. von den amerikanischen Evangelisten Dwight L. Moody und Ira Sankey aufgesucht, die auch für Schimmelmann
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dass die Gräfin in der Stadt Pontypridd, im südlichen Wales, die Penrhiw Colliery besuchte.103 An den Erweckungsversammlungen in dem besonders tiefen Schacht hatten bereits englische Evangelisten teilgenommen, im März 1905 begaben sich drei walisische Evangelistinnen in eine andere Mine in Pontypridd. Schimmelmann muss als die bedeutendste auswärtige Besucherin gelten, deren Abstieg in den Schacht aus unterschiedlichen Gründen einen Widerhall in der Presse fand. Nach dem Artikel in den South Wales Daily News vom 13. April 1906 scheint es sich um eine gut vorbereitete Aktion gehandelt zu haben, an der mehrere Pressevertreter,Verantwortliche für das Bergwerk, der Superintendent des John-Cory-Hauses für Seeleute und Soldaten in Cardiff, Mr. Grant, sowie die Gräfin und ihr Adoptivsohn teilnahmen. Beide wurden mit der für Adlige angemessenen Nomenklatur präsentiert: „Her ladyship was accompanied by her adopted son, Count Schimmelmann.“104 Dass Paul Schimmelmann nach deutschem Recht den Grafentitel nicht führen durfte, war vermutlich keinem englischen Medienvertreter bekannt. Die aufsehenerregende Aktion des Besuchs von deutschen adligen Gästen unter Tage wird damit begründet, dass die Gräfin gerne an einem Gottesdienst im „Inneren der Erde“ teilnehmen wollte. Nach dem Schluss der üblichen Gebetsversammlung wurde der Gast von einem der Organisatoren der Gottesdienste den Bergleuten vorgestellt. Sie eröffnete ihre kurze Rede mit einem Satz auf walisisch, um dann das Blut Christi als einigendes Band zwischen allen Menschen hervorzuheben.105 Durch dieses gebe es keinen Unterschied zwischen den Menschen, sondern nur eine große Bruderschaft, in die sie mit ihren Worten die walisischen Bergarbeiter und sich selbst einbezog. Abschließend sangen die Männer und die Gräfin gemeinsam einen Lobgesang, das brachte „the never to be forgotten meeting to a close“. Nach der Rückkehr an die Oberfläche erhielten Adeline und Paul Schimmelmann ein Frühstück serviert und wurden dann mit den Sehenswürdigkeiten Pontypridds vertraut gemacht.106 Dieser Abschluss des Aufenthaltes klingt wie das Programm für einflussreiche Gäste aus Politik oder Kultur, denen das Interessanteste eines Ortes vorgeführt wird. Evangelisten und Evangelistineine wichtige Rolle spielten. Im Leuchtfeuer Juni 1906, 77–79, finden sich Abbildungen zum John-Cory-Haus in Cardiff. 103 Die Erweckung in Wales fand europaweit Aufmerksamkeit, vgl. Wolfgang Reinhardt: Die Erweckung in Wales 1904/05 und ihre Auswirkungen auf den deutschen Neupietismus. In: Die neue Welt und der neue Pietismus. Angloamerikanische Einflüsse auf den deutschen Neupietismus. Hg. v. Frank Lüdke u. Norbert Schmidt. Berlin 2012, 151–168. Zu Wales s. auch Michael Maurer: Wales. Kultur und Geschichte. Stuttgart 2016. 104 South Wales Daily News, 13.04.1906, 4. 105 Das Blut Christi steht im Mittelpunkt ihrer Verkündigung, darauf reduzierte sie die christliche Soteriologie, s. Ruth Albrecht: Blut-Theologie und Blut-Mystik bei Charles Huddon Spurgeon, Elias Schrenk und Adeline Gräfin Schimmelmann. In: Medizin- und kulturgeschichtliche Konnexe des Pietismus. Heilkunst und Ethik, arkane Traditionen, Musik, Literatur und Sprache. Hg. v. Irmtraut Sahmland u. Hans-Jürgen Schrader. Göttingen 2016, 341–371, hier 359–366. 106 Dazu zählten die Brücke über den Fluss Taff und der Rocking Stone, ein vermutlich druidisches Steinmonument.
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nen dürften sich in der Regel nicht so verhalten haben wie die Gräfin und ihr Sohn. Beide wechselten die Rollen, wenn es ihnen passend erschien: Unter Tage sprach Schimmelmann die Bergleute als ihre Brüder an und teilte ihnen, wie an fast allen anderen Orten, an denen sie evangelisierte, ihre Botschaft von der erlösenden Kraft des Blutes Christi mit. Kurze Zeit später agierten sie und ihr Sohn als auf dem sozial-kulturellen Parkett geübte Adlige, die sich die Sehenswürdigkeiten eines Ortes zeigen ließen und über die in der Presse entsprechend berichtet wurde. Einen Tag später als die South Wales Daily News widmete die Weekly Mail der deutschen Gräfin einen ausführlichen Artikel mit einem Porträtphoto.107 Schimmelmanns Besuch in Cardiff wird zum Anlass genommen, um in großer Breite über „one of the most remarkable lady philantropists of our time“ zu berichten. Ihr Name sei in Deutschland und Skandinavien seit vielen Jahren ein geläufiger Begriff („a household word“), da sie ihre hohe gesellschaftliche Position der Verbreitung des Christentums unter Seeleuten und Fischern geopfert habe. Grundlage des Artikels sind Interviews, die Schimmelmann nach ihrer Ankunft im Haus von Richard Cory108 den Journalisten gab. Sie sei aus dem Rhine Distrikt angereist, wo sie unter Bergarbeitern evangelisiert habe; in Cardiff werde sie eine Woche bleiben. Die Gräfin wird als „a striking, sympathetic personality“ beschrieben. Die in diesem Artikel wiedergegebenen Informationen zur Biografie und zur missionarischen Arbeit Schimmelmanns dürften auf dem beruhen, was sie selber und ihre Begleiter – vornehmlich Paul Schimmelmann – weitergaben. Vermutlich gehen auch die gewissen Überzeichnungen auf diese Quelle zurück und wurden eventuell noch etwas überspitzter weitergegeben. Wie Tolstoi, den sie sehr verehre, habe sie die Grenzen ihrer Herkunft überwunden, um dem Evangelium wörtlich gehorchen zu können.109 Bei der Schilderung ihrer Lebensgeschichte fallen die vielen bedeutenden Personen auf, mit denen sie in Kontakt stand, wie eine Nichte Bismarcks110 und zahlreiche Mitglieder des regierenden europäischen Adels. Sie sei von einem „suspicious Court” verfolgt worden, weil sie sich für die Armen in Berlin eingesetzt habe.111 Belegt ist, dass von ihrer Familie die Initiative ausging, sie in die Psychiatrie zu
The Weekly Mail, 14.04.1906, 9. Der ältere Bruder von John Cory unterstützte die wohltätig-christliche Arbeit, s. Williams, Cory [s. Anm. 102], 517. Im Leuchtfeuer Juni 1906, 75, 81, finden sich Photos von John und Richard Cory sowie des Missionssekretärs N.M. Richards. 109 Dass Schimmelmann sich besonders intensiv mit dem russischen Schriftsteller Leo Tolstoi (1828–1910) befasste, lässt sich durch weitere Quellen nicht belegen. Aber es ist zu vermuten, dass eine Kenntnis seiner Werke und seiner Person zu dem Bildungsgut gehörte, das ihr seit der Kindheit vertraut war. Zur Bibliothek im Schloss Ahrensburg s. Albrecht u. Rosenkranz, Schimmelmann [s. Anm. 2], 35f. 110 Vgl. Schimmelmann, Streiflichter [s. Anm. 4], 81. Um wen es sich handelt, konnte nicht eruiert werden. 111 Zu ihrem Einsatz in Berlin s. Schimmelmann, Streiflichter [s. Anm. 4], 66–75; Albrecht u. Rosenkranz, Schimmelmann [s. Anm. 2], 132–137. 107 108
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bringen – die recherchierbaren Zusammenhänge erweisen sich allerdings als verwickelter, als sie den walisischen Lesern vorgestellt wurden.112 Zur sozialmissionarischen Arbeit der Gräfin heißt es, ihre Heime für Fischer in Pommern seien weltbekannt. „The countess now receives constant pecuniary help from the highest circles in the world towards her missions.“ Im Gespräch über die Erweckung in Wales brachte Schimmelmann den Wunsch zum Ausdruck, Evan Roberts (1878–1951) persönlich kennenzulernen, da sie sich auch für Deutschland eine ähnliche Bewegung wünsche. Anzeichen dafür gebe es z. B. in ihrer Mission. Allem Anschein nach kam es zu einer persönlichen Begegnung mit dem Hauptinspirator des Revival, der sich seit Ende 1905 zunehmend aus der Öffentlichkeit zurückgezogen hatte.113 Die Interviewpartner der Weekly Mail beschreiben den deutschen Gast als „a striking, sympathetic personality, which immediatly appeals to audience“. Zum Abschied aus Cardiff erhielt Adeline Schimmelmann einen silbernen Parfümflacon, gestiftet von den Männern, die ihre missionarischen Veranstaltungen besucht hatten114 – für eine adlige Dame ein passendes Geschenk, für eine Evangelistin hingegen eher ungewöhnlich. In einem weiteren Interview äußerte die Gräfin ihre Zufriedenheit mit den Erfahrungen in Cardiff und insbesondere über die frische und ernsthafte Form des Christentums, die die Erweckung bewirkt habe.115 Den Besuch Schimmelmanns in Penrhiwceiber würdigte der Aberdare Leader am 21. April mit besonderem Hinweis darauf, dass diese sich für das neue Ventilationssystem der Minen interessiert gezeigt habe. In der Carmel Welsh Congregational Chapel hielt die Evangelistin ein Treffen für Frauen ab, das gut besucht wurde.116 Diese Meldung fällt insofern auf, als Adeline Schimmelmann sich nur selten anderen Frauen zuwandte, während diejenigen Frauen, die sich ähnlich wie sie evangelistisch betätigten, in der Regel ausschließlich ihre Geschlechtsgenossinnen ansprachen. The Teesdale Mercury berichtete am 25. April 1906 unter der Kategorie „Interesting Items“ in wenigen Zeilen von der Missionsarbeit der Gräfin unter Soldaten und Seeleuten in Cardiff. Zu ihrer Person heißt es, dass sie eine „romantic career“ hinter sich habe. Damit wird auf ihre Zeit als Hofdame in Berlin
112 Vgl. Albrecht u. Rosenkranz, Schimmelmann [s. Anm. 2], 151–187. Auch dass sie gezwungen worden sei, zu Beginn der 1890er Jahre „to cross the Alps“, wie es hier heißt, lässt sich nicht belegen. Hingegen spricht sie selber von einer Erholungsreise nach Italien; Schimmelmann, Streiflichter [s. Anm. 4], 81–83. 113 In ihrem Bericht über diese Reise nahm Schimmelmann ein Foto von Evan Roberts auf: Unsere Erfahrungen in der Waleser Erweckung. Berlin [1906]. 114 Evening Express and Evening Mail, 16.04.1906, 2. 115 Evening Express and Evening Mail, 20.04.1906, 2. 116 The Aberdare Leader, 21.04.1906, 4; vgl.The Merthyr Express, 28.04.1906, 10. Die Kapelle wurde 1880 erbaut und enthielt 1905 Sitzplätze für 700 Besucher, s. www.welshchapels.org/ search/nprn/9792 (01.04.2016).
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angespielt.117 Von einem Besuch bei den Bergleuten in Wales ist hier nicht die Rede.118 Schimmelmann selber ging in ihrer Zeitschrift in mehreren Heften des Jahres 1906 insbesondere auf ihren Aufenthalt in Wales ein; zudem veröffentlichte sie in ihrem Verlag in Berlin einen kleinen Band von 70 Seiten – ausgestattet mit Photos und biblischen Motiven im Stil Schnorrs von Carolsfeld –, in dem sie die Berichterstattung des Leuchtfeuers erweiterte, teilweise jedoch auch nur wiederholte.119 In der ihr eigenen Art der Stilisierung ihrer Person geraten die Umstände ihres Besuches in einer Kohlengrube zu einer Abfolge von dramatischen Ereignissen. Während einer Evangelisationsversammlung an einem nicht genannten walisischen Ort habe ein Bergmann in Begleitung eines Zeitungsreporters sie dringlich darum gebeten, unter Tage eine Versammlung für die Bergleute zu halten. „Wir haben schon lange von Ihnen gehört, auch daß Sie eine Freundin der Bergleute sind. Wir haben soviel für Sie gebetet und uns so auf Ihren Besuch gefreut – um des Heilandes willen bitte ich Sie, sagen Sie nicht nein.“120 Schimmelmann führte ihren schlechten Gesundheitszustand an, ihr Adoptivsohn Paul und Vertreter der Seemannsmission, die sie bei der Reise begleiteten, warnten ebenfalls vor der Gefahr des Einfahrens in eine Grube, die sich 600 m unter Tage befand. Die Gräfin willigte schließlich ein, weil sie in der Bitte einen göttlichen Ruf sah. Der Aufbruch musste noch am selben Abend erfolgen, der Journalist sollte dafür sorgen, dass die Ansprache in der Mine umgehend bekannt gemacht wurde. Früh am nächsten Morgen, gegen fünf Uhr, brach eine kleine Gruppe unter Führung des Bergmannes auf, um die Bergleute an ihrem gefahrvollen Arbeitsplatz aufzusuchen. Schimmelmann spricht in markanten Bildern von ihren Gefühlen während des Transportes nach unten, das komme einem „Sturz in die Hölle“ gleich und löste „Todesqualen“ bei ihr aus.121 Die Männer hielten ihre gewöhnliche Gebetsversammlung mit Liedern und Bibellesung ab, in deren Verlauf Schimmelmann eine Rede hielt. „Die Stickluft, der unheimliche Ort – alles ward vergessen, wir hatten ein Stückchen Himmel dort in den schauerlichen Gängen, 600 Meter tief unter der Erde.“122 Nach ihrer Rückkehr an das Tageslicht beglückwünschten die Journalisten sie, „da ich die erste Frau gewesen sei, die je den Mut gehabt habe, in diese besonders schwierige Mine zu fahren“.123 Weder den Ort des Geschehens noch die Mine benennt Schimmelmann, bei ihr heißt es lediglich, dass die kleine Stadt 117 The Teesdale Mercury, 25.04.1906, 2. Das Blatt erscheint seit 1854 bis in die Gegenwart im nordenglischen Barnard Castle im County Durham. 118 Vgl. den Bericht in der walisischen Zeitung Seren Cymru, 27.04.1906, 9, der einen Überblick über die Besuchsstationen in Wales gibt. 119 Schimmelmann, Waleser Erweckung [s. Anm. 113]. Wie im Leuchtfeuer stammen auch hier einzelne Kapitel von nicht genannten Reisegefährten der Gräfin. 120 Schimmelmann, Waleser Erweckung [s. Anm. 113], 61. 121 Schimmelmann, Waleser Erweckung [s. Anm. 113], 66. 122 Schimmelmann, Waleser Erweckung [s. Anm. 113], 68. 123 Schimmelmann, Waleser Erweckung [s. Anm. 113], 68f.
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einen wohlhabenden Eindruck machte und sich durch saubere Straßen auszeichnete. Sie erläutert, dass die Bergleute vier bis zehn Schillinge pro Tag verdienten.124 Zu den Charakteristika des Arbeitens der Gräfin passt, dass sie in dieser Publikation davon spricht, einige Vertreter der walisischen Bergleute nach Deutschland einladen zu wollen, damit diese gleichgesinnte Männer und ihre Missionsarbeit kennenlernen könnten. Es ist nichts darüber bekannt, dass dieser Plan zur Ausführung kam. Die walisische Erweckung hatte ihren Höhepunkt in den Jahren 1904/05.125 Als Schimmelmann Anfang 1906 nach Wales reiste, war die Bewegung am Ausklingen – ein Umstand, den sie in ihrer Darstellung in Frage stellt.126 Tatsache ist jedoch, dass sich Besucher aus Deutschland vor allem 1905 auf den Weg gemacht hatten; dabei fällt auf, dass relativ viele Frauen sich dorthin begaben. Das könnte mit der Präsenz von walisischen Evangelistinnen, Sängerinnen und Predigerinnen zu tun haben.127 Schimmelmann erwähnt in ihrem Bericht kurz Jessie Penn-Lewis (1861–1927), äußert sich jedoch in Bezug auf diese wichtige Vertreterin der Heiligungsbewegung zurückhaltend bzw. an anderer Stelle ausgesprochen kritisch.128 Andere engagierte Frauen der Waliser Bewegung hingegen beschreibt sie ausgesprochen positiv, allerdings ohne deren Namen zu nennen.129 Die in Adelaide /Australien erscheinende Zeitung The Register meldete im Juni 1906 unter der Rubrik „Religious notes“, dass Schimmelmann kürzlich vor einer großen Versammlung in London gesprochen habe. Sie wird charakterisiert als „one of the most remarkable women now engaged in religious work“.130 In wenigen Sätzen wird ihre Lebensgeschichte wiedergegeben und dabei ihre Zeit als Hofdame bei Kaiserin Augusta hervorgehoben. Das Leben bei Hofe habe sie abgestoßen und zu ihrer ausschließlichen Ausrichtung auf religiöse Aktivitäten geführt. Erwähnt wird ferner, dass sie nach ihrer Abkehr vom üblichen adligen Leben Verfolgungen von Seiten ihrer Verwandten ausgesetzt war. Ihr großes Vermögen habe sie vor allem für die Arbeit mit Seeleuten und Fischern eingesetzt. Hervorgehoben wird, dass sie sich auch für die Lage der Bergarbeiter interessiere; nach dem Unglück von Courrières habe sie die
Schimmelmann, Waleser Erweckung [s. Anm. 113], 65. Vgl. hierzu Holthaus, Heil [s. Anm. 9], 563–567. 126 Schimmelmann, Waleser Erweckung [s. Anm. 113], 16. 127 Eva von Tiele-Winckler begab sich im März 1905 mit einer Gruppe um Jeanne Wasserzug auf die Reise nach Wales, s. Eva von Tiele-Winckler: Denksteine des lebendigen Gottes. Aufzeichnungen selbsterlebter Führungen und Begebenheiten. Dresden o.J., 39–51. Elisabeth Gräfin von Waldersee und Jenny von Plotho reisten ebenfalls 1905 das erste Mal, 1906 zum zweiten Mal gemeinsam mit Hedwig von Redern, die sich allerdings kritisch äußerte, s. Redern, Knotenpunkte [s. Anm. 9], 86–90.Tiele-Winckler betont, dass der Einfluss dieser Erweckung sich in den vom ihr gegründeten Friedenshort langfristig auswirkte; s. Eva von Tiele-Winckler: Schwester Sophie, eine Dienstmagd Jesu Christi. Lahr-Dinglingen 51949, 31f. 128 Leuchtfeuer April 1907, 46f. Zu Penn-Lewis s. auch Holthaus, Heil [s. Anm. 9], 498, 564. 129 Schimmelmann, Waleser Erweckung [s. Anm. 113], 18f., 48, 50–52, 72. 130 The Register, 30.06.1906, 10. 124 125
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dortigen Minen besucht. Abschließend heißt es, dass sie vor kurzem in Pontypridd in einer Mine unter Tage zu den Bergleuten gesprochen habe. Der Bergwerksunfall im französischen Courrières mit mehr als tausend Toten, der zu den schwersten des europäischen Bergbaus zählt, ereignete sich im März 1906.131 Auf dieses Grubenunglück ging das Leuchtfeuer im Mai 1906 kurz ein. Fotos zeigen Massengräber und sechs Männer des deutschen Rettungscorps. In einer kurzen Notiz der Redaktion heißt es, dass eine Rettungsmannschaft aus Herne und Gelsenkirchen sich auf den Weg gemacht habe, um bei der Rettung der verschütteten Bergleute zu helfen. Für die Bergung der Überlebenden kamen sie zu spät, aber ihr wagemutiger Einsatz beim Auffinden der Toten fand große Anerkennung.132 Dass Schimmelmann den nordfranzösischen Ort besuchte – wie die australische Zeitung meldete –, ist nicht belegt. Obwohl sie bereits in der Kindheit Französisch lernte, scheint sie in diesem Sprachraum nicht tätig geworden zu sein. Bei ihren Aktivitäten in Monaco 1908 hatte sie nur mit der dortigen deutschen evangelischen Gemeinde zu tun.133 V on Februar bis Anfang März 1906 hielt sie sich zu Evangelisationen in Württemberg auf.134 Erst zwei Monate später, als Schimmelmann u. a. in Gelsenkirchen Vorträge hielt, berichtete ihre Zeitschrift über das Ereignis, das in ganz Europa Bestürzung auslöste. Die Gräfin erwähnt einen Besuch bei Brandinspektor Hugo Koch, der zum deutschen Rettungsteam gehörte, das nach Courrières zur Hilfeleistung aufbrach.135 Eine Wiener Zeitung sprach im Herbst 1906 von einem Besuch Schimmelmanns in London. Das österreichische Blatt zeigt sich ausgesprochen gut informiert über die Herkunft der Schimmelmann-Familie aus dem Bürgertum Mecklenburgs. Zudem wird ihr Vorname in der offiziell korrekten Form als Adelaide angegeben. Der Artikel im Neuen Wiener Journal vom Oktober 1906 nimmt Bezug auf ein Interview, das die Gräfin einem englischen Journalisten gab. Nach Darstellung dieses Artikels hielt sie sich gerade in London auf. Kurz zuvor sei sie „als Gast des Kaiserpaares in voriger Woche zur Tafel geladen“ worden.136 Wilhelm II. habe sich von ihren Mitteilungen über die in London anstehenden Arbeitsvorhaben so beeindruckt gezeigt, dass er ihr hundert Bibeln mit seiner eigenhändigen Überschrift zustellen ließ. 70 davon wolle sie in London verteilen. „Die übrigen nimmt sie nach New=York mit, das das nächste Ziel ihrer Tätigkeit ist.“137 Dieser Artikel ist fast wörtlich identisch mit der 131 Der Bergwerksunfall findet bis in die Gegenwart Beachtung; vgl. Die Grubenkatastrophe von Courrières 1906. Aspekte transnationaler Geschichte. Hg. v. Michael Farrenkopf u. Peter Friedemann. Bochum 2008. 132 Leuchtfeuer Mai 1906, 52, 55, 57. 133 Schimmelmann, Streiflichter [s. Anm. 4], 22; Albrecht u. Rosenkranz, Schimmelmann [s. Anm. 2], 236. 134 Leuchtfeuer April 1906, 47; Albrecht, Evangelisationen in Württemberg [s. Anm. 54], 218f. 135 Leuchtfeuer Mai 1906, 49. 136 Neues Wiener Journal, 21.10.1906, 9. 137 Neues Wiener Journal, 21.10.1906, 10.
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Darstellung der National=Zeitung vom selben Tag.138 Dieser Umstand verdeutlicht, dass Presseagenturen Informationen über die Gräfin lancierten, die dann von verschiedenen Seiten aufgegriffen wurden. Auch der Berliner Lokalanzeiger ging am 20. September 1906 in einer kurzen Notiz auf die Zuwendungen des Kaisers an die Gräfin ein.139 Im Leuchtfeuer berichtete Schimmelmann ausführlich über ihre Begegnung mit dem deutschen Kaiserpaar und die geschenkten Bibeln.140 Von konkreten Plänen, in Kürze in die USA aufzubrechen, ist hier nicht die Rede.141 Im Dezember 1906 erinnerte eine neuseeländische Zeitung an „the charitable German lady“.142 An Adeline Schimmelmann wird hervorgehoben, dass sie sowohl eine Freundin des Königs sei – hier ist der englische Monarch gemeint – als auch eine Freundin der „submerged tenth in all countries“. Die in Wellington erscheinende Evening Post berichtet, dass die Gräfin sich aktuell im Londoner East End aufhalte und sich dort den Armen zuwende. Sie setze dabei einige ihrer „pet philanthropic schemes“ um. Seit zwei Jahren habe sie sich regelmäßig hier betätigt und dabei auch das Interesse König Edwards geweckt. Schimmelmann habe durch die deutsche Kaiserin Augusta den Weg zu den Armen und Unglücklichen gefunden. In ihrer Zeit als deren Hofdame habe sie den Auftrag erhalten, in Berlin Gefängnisse zu besuchen – und das habe die Ausrichtung ihres weiteren Lebens bestimmt. Sie habe daraufhin beschlossen, ihr Leben den Armen und Bedrängten zu widmen. Schimmelmanns Biograph berichtet von einem Besuch in Moabit, der die junge Hofdame dazu veranlasste, für die Kapelle des Gefängnisses ein Kreuz zu spenden. Nach Wettsteins Beschreibung hing dieses noch 1914 über dem Altar.143 Schimmelmann geht in den Streiflichtern nicht auf ihre Erfahrungen mit dem berühmten preußischen Gefängnis ein.144 Diese beiden Quellen sprechen dafür, dass der Besuch in Moabit nicht zu einer radikalen Umkehr führte, sondern dass er einen der vielen Mosaiksteine bildete, durch die sie einen anderen Blick gewann. Bei den Notizen der Wellingtoner Zeitung muss es sich um den Nachdruck einer englischen National=Zeitung, Große Ausgabe, Morgenblatt, 21.10.1906, 3. Das liberale Blatt erschien 1848 bis 1938 in Berlin. Dieser Artikel wurde auch in der Berliner Polizeiakte über Schimmelmann dokumentiert [s. Anm. 43], Bl. 15. 139 Berliner Lokal-Anzeiger. Zentral=Organ für die Reichshauptstadt, 2. Ausgabe, Abendblatt, 20.09.1906, 2. Dieser Artikel wurde auch in der Berliner Polizeiakte über Schimmelmann dokumentiert [s. Anm. 43], Bl. 14. 140 Leuchtfeuer September 1906, 98. 141 Im August 1907 ließ Adeline Schimmelmann mitteilen, dass sie voraussichtlich „diesen Herbst einige Monate nach Amerika gehen“ werde, Leuchtfeuer August 1907, 86; ähnlich vorher bereits im Jahr 1902; s. Albrecht, Evangelisationen in Württemberg [s. Anm. 54], 201; vgl. Leuchtfeuer April 1906, 48. 142 Evening Post, 08.12.1906, 12. 143 Wettstein, Lebensbild [s. Anm. 4], 27. 144 Sie kündigt hier an, ihre Erinnerungen an den Berliner Hof später veröffentlichen zu wollen. Zur Publikation solcher Memoiren kam es aber nicht, handschriftliche Notizen sind nicht bekannt; s. Schimmelmann, Streiflichter [s. Anm. 4], 29. 138
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Meldung handeln, denn der Verfasser bzw. die Verfasserin dieser Zeilen traf anscheinend persönlich mit der Gräfin zusammen. Diese wird beschrieben als „an elderly lady of benevolent aspect“. Schimmelmann war zu diesem Zeitpunkt 52 Jahre alt. Anders als die Porträts in den amerikanischen Zeitungen, die in der Phase ihrer dortigen Anwesenheit Jugendbildnisse abdruckten, wird hier ein eher realistisches Erscheinungsbild umschrieben.145 Paul Schimmelmann übernahm den Stil seiner Adoptivmutter und schrieb im Dezember 1906 über Ereignisse im Zusammenhang von evangelistischen Vorträgen in London. In Wandsworth, „eine der verrufensten Gegenden Londons“, habe sich eine Alkoholikerin während der vierzehntägigen Mission Schimmelmanns bekehrt und sei Mitglied des Blauen Kreuzes geworden.146 Als Ergebnis der Londoner Ansprachen hält der Berichterstatter fest: „310 in die Augen fallende Bekehrungen“.147 Als weitere Stationen des Einsatzes in England erwähnt Paul Schimmelmann Glasgow, Aberdeen, Cardiff und Pontypridd. „In Glasgow sprach die Gräfin in den verschiedenen Kirchen und Sonntag zweimal in dem großen schönen Palast=Theater. Die erste Versammlung war nur für Männer (2000), und in der letzten sagte man uns, das Theater sei noch nie so gefüllt gewesen, weder für weltliche noch für geistliche Dinge“. In Aberdeen wurde der Evangelistin „ein großer Empfang von der Stadt bereitet. Der Ex Lord Provost,148 ein Professor der Universität, und der erste Pastor der Stadt,149 hielten ihr in der großen Musikhalle Empfangsreden. Diese war bis auf den letzten Platz gefüllt und die Damen der Stadt hatten unter der Gallerie wundervolle Teetische gedeckt. Man erwartete offenbar, daß die Gräfin über ihre Missionstätigkeit berichten würde, jedoch sprach sie wie immer über das Evangelium“. In Cardiff habe einer der Pastoren erklärt, „noch niemals so gesegnet worden zu sein, wie durch diese Versammlungen der Gräfin“.150 Paul Schimmelmann nennt auch hier Zahlen: An einem Abend im Seemannsheim bekehrten sich 15 Matrosen. Zu einem von ihnen werden kurze biografische Hinweise geliefert. Den Abschluss in Wales bildete der erneute Besuch in Pontypridd, wo Die meisten erhaltenen Abbildungen zeigen sie als junge Frau, s. Albrecht u. Rosenkranz, Schimmelmann [s. Anm. 2], 191–196; www.adelineschimmelmann.de (01.04.2016). Ein auf 1904 datiertes Gemälde ist als Autorenporträt einer undatierten Ausgabe der Streiflichter, die im Berliner Verlag Schimmelmanns erschien, beigegeben. 146 Leuchtfeuer Dezember 1906, 135. Bei dem Blauen Kreuz handelt es sich um eine von den Ideen der Heiligungsbewegung inspirierte Abstinenzbewegung; s. Holthaus, Heil [s. Anm. 9], 459–463. 147 Leuchtfeuer Dezember 1906, 136. 148 Die Position des Lord Provost of Aberdeen entspricht in etwa dem Amt eines Oberbürgermeisters. 1906 nahm Sir Alexander Lyon (1850–1927) diese Funktion wahr, als ehemalige Inhaber des Amtes kommen Sir John Fleming (1847–1925), Daniel Mearns (1840–1913) und James Walker of Richmondhill (1837–1921) in Frage; vgl. Alexander Keith: A thousand years of Aberdeen. Aberdeen 1972, 432–435. 149 Die beiden letzteren Personen konnten nicht identifiziert werden. Zur Universität s. Keith, Aberdeen [s. Anm. 148], 503–521; zur Theologie: 520. 150 Leuchtfeuer Dezember 1906, 137. 145
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Schimmelmann im Frühjahr des Jahres so aufmerksam aufgenommen worden war. „Die lieben Bergleute aus Pontypridd kamen und holten die Gräfin fast mit Gewalt dorthin.“ In London fanden als Abschluss des Aufenthalts noch „zwei große sehr gesegnete Veranstaltungen“ statt. Dieser Bericht aus der Feder Paul Schimmelmanns bringt die auf die Person der Evangelistin und ihre Erfolge gerichtete Perspektive in pointierter Weise zum Ausdruck. Diese Konzentration auf messbare Ergebnisse evangelistischer Einsätze zeigt in grotesker Weise, wie stark Adeline Schimmelmann und ihre engsten Mitarbeiter mit sich selbst und ihrer Inszenierung beschäftigt waren. Dass sie sich damit weit von anderen Strömungen und Vertretern der Gemeinschafts- und Heiligungsbewegung entfernt hatten,151 belegen die gelegentlich scharfen Auseinandersetzungen, die im Leuchtfeuer und in anderen Zeitschriften ausgetragen wurden.152 Die Presse des englischen Königreichs bedachte Schimmelmann während des ganzen Jahres 1906 mit wohlwollenden Kommentaren, das gilt auch für walisische Zeitungen wie Baner ac Amseran Cymru, in der von einem Besuch in Cardiff die Rede ist.153 The Press nannte sie im Dezember „a remarkable woman“.154 Der Artikel wartet mit weiteren Details auf, die durch andere Quellen nicht belegt sind. Schon seit ihrer Jugend habe die Gräfin die Sünde und das Elend der Welt bekämpft. „She determined to live on a shilling a day, devoting the rest of her money to others.“ Eigens erwähnt wird das Seemannsheim in Kiel. Die Beschreibung ihres Arbeitens klingt geradezu großspurig: Schimmelmann habe geäußert, „that formerly she worked like a hundred people, but that now she makes a hundred others work for the good cause“. Die letzten Sätze kommen einer politischen Stellungnahme gleich, wenn es in Bezug auf Kaiser Wilhelm II. heißt: „She believes him to be an earnest Christian, and a sincere lover of peace.To her certain knowledge he is actuated by the friendliest feelings towards the English people.“ Zu diesem Zeitpunkt begegnete Schimmelmann dem Monarchen nur noch bei seltenen Gelegenheiten und wurde gleichzeitig von der Berliner Polizeibehörde beobachtet. Zudem galt das Verhältnis zwischen England spätestens seit 1905 als gespannt wegen des deutschen Flottenbaus und wegen des Auftretens von Wilhelm II., das zu etlichen diplomatischen Konflikten führte.155 Dass der deutsche Kaiser sich als von Gott berufen ansah, steht
151 Zu deren Sicht vgl. Paulus Scharpff: Geschichte der Evangelisation. Dreihundert Jahre Evangelisation in Deutschland, Grossbritannien und USA. Gießen, Basel 1964. 152 Vgl. Die „Brüder“ im Urteil der Zeitschrift Licht und Leben (1909–1937). Hg. v. Michael Schneider. 2003, 7f.: http://www.bruederbewegung.de/pdf/lichtundlebenpdf (01.06.2016); Ernst Bunke: Innerkirchliche Evangelisation. In: KJ 30, 1903, 237–239; Leuchtfeuer Nr. 11, 1905, 131f.; Nr. 5, 1906, 51–56. 153 Baner ac Amseran Cymru, 21.11.1906, 10. 154 The Press, 15.12.1906, 7, unter Bezug auf einen nicht näher bezeichneten Artikel im Tribune. 155 Vgl. Christopher Clark: Wilhelm II. Die Herrschaft des letzten deutschen Kaisers. München 2008, 185–187, 202, 207–209. Der englische König Edward VII. war der Onkel des deutschen Kaisers.
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außer Zweifel; seine Auffassung des christlichen Glaubens war zutiefst von seinem machtpolitischen Selbstverständnis bestimmt. Dazu passte es, dass er gelegentlich auch die Aktivitäten der Gräfin honorierte, ohne jedoch in ihrem Sinne christlich zu leben und zu glauben.156 Schimmelmanns Äußerungen zeugen von einer großen Distanz zur politischen Realität, die sie vermutlich kaum wahrnahm. 3.4 Nachlassendes Medieninteresse Die in Berlin erscheinende Zeitung Die Wahrheit wartete im Mai 1908 mit einer kuriosen Nachricht über Schimmelmann und ihre Pflegesöhne auf.157 Zu ihrer Person heißt es hier: „Die Gräfin Schimmelmann ist ... in weiten Kreisen bekannt durch ihre Tätigkeit auf dem Gebiete der inneren Mission. Sie unterhält bekanntlich auch hier in Berlin ein Missionsbureau in der Potsdamer Straße. Sie hat für die schiffarttreibende Bevölkerung manches Gute getan.“ Ferner wird ihr etwa 37 Jahre alter Adoptivsohn Graf Schimmelmann erwähnt, „der fast ständig in ihrer Begleitung reist“. Im Zentrum des Artikels steht einer der Pflegesöhne der Gräfin, hier als Willi Schulz bezeichnet. Sein Zwillingsbruder lebe in Savannah in den USA – mit großer Wahrscheinlichkeit handelt es sich hierbei um Otto.Willi Schulz wird mit kritischen Äußerungen über seine Pflegemutter zitiert, die ihn und seinen Bruder habe hart arbeiten lassen. Nachdem er sich von ihr abgewandt habe, sei er an verschiedenen Stellen in Berlin tätig gewesen, zuletzt als Hausdiener. Seine Lebensgeschichte sei eine „fast wie ein Roman anmutende Erzählung“. Er habe vorgehabt, wie sein Bruder nach Amerika auszuwandern. Kurz bevor er dieses verwirklichen konnte, habe ihn Gräfin Schimmelmann in eine „Privatanstalt für Gemütskranke“ in Charlottenburg einweisen lassen und ihn dort als Graf Schimmelmann angemeldet. „Was, so fragt man sich, konnte sie veranlassen, sich jetzt, wo er nach Amerika auswandern wollte, plötzlich seiner zu erinnern? Wie kann, so fragt man sich ferner, ein Mann, der nach Angaben von reichlich einem Dutzend Leute, die täglich mit ihm verkehrten, geistig völlig normal ist, so ohne weiteres in eine Heilanstalt gesperrt werden? [...] Das sind Fragen, die im Interesse der Oeffentlichkeit dringend der Aufklärung bedürfen.“ Mit dieser Zeitungsmeldung geriet Adeline Schimmelmann in einer Weise in den Fokus der Öffentlichkeit, die das Bild einer selbstlosen Evangelistin und sozial tätigen Missionarin in Misskredit brachte. Da die Nummern des Leuchtfeuer für 1908 nicht erhalten sind, ist nicht rekonstruierbar, wie sie auf diese Vorwürfe reagierte. Weitere Pressemeldungen zu dieser Angelegenheit konnten bisher nicht nachgewiesen werden. Als bemer-
156 Vgl. Wilhelm II. und die Religion. Facetten einer Persönlichkeit und ihres Umfelds. Hg. v. Stefan Samerski. Berlin 2001. 157 Die Wahrheit Nr. 18, 02.05.1908, auch dokumentiert in den Akten der Berliner Polizeibehörde [s. Anm. 43], Bl. 31.
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kenswert muss gelten, dass die Gräfin von der Wahrheit nicht mit ihrer eigenen Psychiatrie-Geschichte konfrontiert wurde. Da sie lediglich als Vertreterin einer Missionsgesellschaft charakterisiert und auf ihre Biografie nicht weiter eingegangen wird, kann angenommen werden, dass den Verfassern dieses Artikels solche Informationen nicht vorlagen. Auch nach ihrem Tod tauchte der Name Adeline Schimmelmanns hin und wieder noch in der Presse auf, teilweise in unerwarteten Zusammenhängen. Das berühmte Satire-Magazin Kladderadatsch, wöchentlich von 1848 bis 1944 in Berlin erschienen, wies 1921 auf einen Vortrag des Superintendenten a.D. Zinzow hin, der im Groß-Lichterfelder Lokal-Anzeiger beworben wurde. Im September werde der Geistliche über den Teufel sprechen und dabei auch auf seine „Zusammenarbeit mit der edlen Gräfin Schimmelmann aus Dänemark“ zurückgreifen.158 Elias Hermann Zinzow (geb. 1852) war Pastor und Superintendent auf Usedom, zuletzt in Zinnowitz.159 Über ein gemeinsames Wirken der beiden ist durch weitere Quellen nichts bekannt, mit großer Wahrscheinlichkeit jedoch hatte er in den späteren 1890er Jahren mit ihr zu tun, als sie sich vornehmlich auf Rügen und an der pommerschen Küste bewegte. Wenn das satirische Berliner Blatt die Gräfin als „jedenfalls hochachtbare Dame“ bezeichnet, wird nicht eindeutig erkennbar, wie diese Einordnung zu verstehen ist. Das gesamte Wirken Schimmelmanns dürfte in dieser Zeitung kaum ernsthafte Anerkennung gefunden haben. Im März 1929 taucht der Name Schimmelmann unter den Rückblenden des Chicago Daily Tribune auf die eigene Berichterstattung vor 30 Jahren auf. Am 4. März 1899 hatte diese Chicagoer Zeitung über einen Empfang für die Gräfin berichtet, den Mrs. Theodore Perry Shonts im Hotel Plaza ausrichtete.160 Zu den Schirmherrinnen gehörten damals neben ihr ferner Mrs. Carter H. Harrison, Mrs.William Borden, Dr. Sarah Hacket Stevenson und Mrs. Luther Laflin Mills.161 Die umfangreiche sozial-missionarische Arbeit Schimmelmanns in Chicago von November 1898 bis Mai 1899 hatte der Tribune mit etlichen Berichten begleitet.162 Als dieselbe Zeitung im August 1937 berichtete, dass in Dänemark das Herrenhaus Sölyst in den Besitz eines Amerikaners übergegangen sei, wurde kein Zusammenhang zu Adeline Schimmelmann hergestellt.163 Es heißt zwar, dass es den Schimmelmanns gehört habe, aber
Kladderadatsch, 07.04.1921, 651. Vgl. Hans Moderow: Die Evangelischen Geistlichen Pommerns von der Reformation bis zur Gegenwart. Teil 1. Stettin 1903, 323, 390, 614, 677. Er nahm verschiedene Pfarrstellen ein, u. a. in Kantreck / Naugard und Beyersdorf / Pyritz, 1888 bis 1901 war er Pastor in Krummin auf Usedom. Wir danken Prof. Dr. Volker Gummelt für die Hilfe bei der Suche nach Daten über Zinzow. 160 In diesem Hotel wohnte die Gräfin mit ihrer Begleitung während ihres sechsmonatigen Aufenthalts, s. Wettstein, Lebensbild [s. Anm. 4], 128. 161 Bei einer großen Abschiedsversammlung in Chicago für die Gräfin sprach Dr. Luther Laflin Mills als Vertreter der Stadt; s. Wettstein, Lebensbild [s. Anm. 4], 136–181. 162 Vgl. Albrecht u. Rosenkranz, Schimmelmann [s. Anm. 2], 244–247. 163 Chicago Daily Tribune, 12.08.1937, 12. 158 159
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der Name der Evangelistin fällt nicht. In den Erinnerungen Adeline Schimmelmanns spielt Sölyst, das nördlich von Kopenhagen nahe an der Ostseeküste liegt, keine Rolle; Schloss Lindenborg in Jütland hingegen nahm sie mit einer Zeichnung in ihre Autobiographie auf.164 Insofern dürfte sie während ihrer Tätigkeit in Chicago das dänische Herrenhaus, das sich gut hundert Jahre im Besitz ihrer Vorfahren befand, kaum erwähnt haben.165
4. Zwischen Anti-Moderne und Innovation Um das Profil der schillernden Gräfin aus Ahrensburg, die als eine der ersten Evangelistinnen Deutschlands gelten kann, zu bündeln, sollen drei Personen kurz herangezogen werden, die für ganz unterschiedliche Ausrichtungen frommen Engagements sowie ungewöhnlicher Lebenswege stehen: Marie Esther Gräfin von Waldersee (1837–1907), Andreas Graf von Bernstorff (1844–1907) und Franziska Gräfin zu Reventlow (1871–1918). Gräfin Waldersee, seit 1874 in zweiter Ehe verheiratet mit dem Generalfeldmarschall Alfred Graf von Waldersee (1832–1904), kann vor allem als Mäzenin im Kontext der neuen Frömmigkeitsbewegungen bezeichnet werden.166 In Berlin, Hamburg und Hannover setzte sie ihr Vermögen und ihre Beziehungen ein, um Einzelpersonen und Gruppen wie den CVJM zu protegieren. Sie nahm u. a. den Vorsitz in zahlreichen Damenkomitees wahr. Der Biograph Schimmelmanns berichtet von einem Konflikt zwischen Waldersee und Schimmelmann.Aus den wenigen Zeilen Wettsteins lässt sich schlussfolgern, dass die Differenzen zwischen den beiden engagierten Frauen gerade auf ihrem Verständnis des angemessenen weiblichen Einsatzes für die Verbreitung des Evangeliums beruhten: Nach dessen Darstellung hatte Waldersee ihre finanzielle Unterstützung Schimmelmanns an die Bedingung geknüpft, dass diese „nicht mehr persönlich arbeiten wollte“, stattdessen sollte ein Missionar zum Einsatz kommen.167 Graf Bernstorff gehört zu den führenden Gestalten der deutschen Gemeinschaftsbewegung und der Evangelischen Allianz.168 Wegen seines christlichen Engagements musste er sich mit un164 Schimmelmann, Glimpses [s. Anm. 4], 8; Streiflichter, 121. Die Abbildung ist in beiden Ausgaben identisch, lediglich hinsichtlich der Platzierung zeigen sich Unterschiede. Eventuell stammt die Zeichnung von ihrer eigenen Hand. Auf Lindenborg hielt sich ihre Familie während ihrer Kindheit regelmäßig auf. 165 Zu Seelust s. Degn, Dreieckshandel [s. Anm. 15], 524f., 530 (Abb.); Reichardt, Schatzmeister [s. Anm. 16], 20f. 166 Vgl. Elisabeth Waldersee: Von Klarheit zu Klarheit! Gräfin Marie Esther von Waldersee verwitwet gewesene Fürstin von Noer geb. Lee. Ein Lebensbild. Stuttgart 1915; Thomas HahnBruckart: Art. „Waldersee, Mary Esther von, geb. Lee, verw. von Noer“. In: BBKL 34, 2013, 1486–1491. 167 Wettstein, Lebensbild [s. Anm. 4], 99. 168 Hedwig von Redern: Andreas Graf von Bernstorff. Ein Lebensbild. Schwerin 1909; Ohlemacher, Reich Gottes [s. Anm. 14], 55–59; Albrecht, Laientätigkeit [s. Anm. 11], 210–213.
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tergeordneten Beamtenpositionen zufrieden geben, da ihm eine diplomatische Laufbahn verwehrt wurde. Er zählt zu den männlichen Laien, deren Wirken nachhaltig die Muster frommen Engagements prägten, denn er war vor allem in Sonntagsschulen, beim CVJM und in vielfältigen Formen der öffentlichen Ansprachen in nicht-kirchlichen Räumen sowie in Straßen und auf Plätzen aktiv. Vermutlich kannten Schimmelmann und er sich persönlich, denn Bernstorff übernahm zeitweise eine Aufgabe in dem Verein, der die von ihr gegründeten Einrichtungen auf Rügen verwaltete.169 Beide stehen für entgegengesetzte Ausrichtungen frommen Engagements desselben Hintergrundes: Bernstorff als hoch anerkannter Netzwerker und Schimmelmann als streitbare Einzelgängerin. Die etwas jüngere Schriftstellerin Franziska Gräfin zu Reventlow entstammte zwar gleichfalls einem bedeutenden schleswig-holsteinischen Adelsgeschlecht, die Signatur ihrer Kindheit trägt aber eher die Züge eines bürgerlichen Lebens. Der kaiserliche Hof in Berlin bildete keinen entscheidenden Bezugspunkt für ihr familiäres Umfeld. Anders als Schimmelmann grenzte sie sich mit großer Vehemenz von ihrer Herkunft ab und ließ Konventionen adligen oder bürgerlichen Lebens weit hinter sich.170 Adeline Schimmelmann definierte sich partiell über ihre Zugehörigkeit zum Adel und benutzte sich daraus ergebende Vorteile. Ihre Lebensgeschichte muss unter der Perspektive der neuen Frömmigkeitsbewegungen betrachtet werden, die in vielen Belangen konservativ orientiert waren, sich jedoch an einigen Stellen durchaus modernen Strömungen öffneten. Während Reventlows Lebensentwurf als von der Frauenbewegung geprägt betrachtet werden kann, gilt dies für Schimmelmann nur indirekt, indem sie von deren Einsatz für Frauenrechte profitierte. Nachdem ihr soziales Engagement bekannt geworden war, nahmen einige Zeitschriften der Frauenbewegung sie wohlwollend zur Kenntnis: The Woman’s Signal aus London mit einem Artikel von 1896, die Pariser Zeitung La Femme 1898.171 Im repräsentativen Handbuch der Frauenbewegung, das Helene Lange und Gertrud Bäumer herausgaben, erfährt das Wirken der Gräfin auf Rügen eine kritische Würdigung: „Hervorragend als persönliche Leistung, leider aber in ihrer Vereinzelung nicht von langer Dauer“.172 Schimmelmann selber positionierte sich lediglich indirekt gegen die Frauenbewegung, indem sie Kaiserin Augusta eine Ableh-
169 Redern, Bernstorff [s. Anm. 168], 123f.; Albrecht u. Rosenkranz, Schimmelmann [s. Anm. 2], 126–129 170 In ihrem berühmtesten Roman verarbeitet sie ihre Kindheit und Jugend; vgl. Franziska zu Reventlow: Ellen Olestjerne. Husum 2014; Kornelia Küchenmeister [u. a.]: „Alles möchte ich immer.“ Franziska Gräfin zu Reventlow 1871–1918. Göttingen 2010. 171 The Woman’s Signal. A Weekly Paper for all Women about all their interests, in the home and in the wider world. 27.02.1896, 129 (eine Übernahme aus British Weekly); La Femme, 15.10.1898, 153f.; der Artikel wurde verfasst von Marie Dutoit. 172 Hier wird lediglich Bezug genommen auf den Beginn ihres Wirkens in Göhren, das als Maßnahme gegen den Alkoholismus aufgefasst wird; vgl. Ottilie Hoffmann: Die Teilnahme von Frauen an der Bekämpfung des Alkoholmißbrauchs. In: Handbuch der Frauenbewegung. II.Teil. Hg. v. Helene Lange u. Gertrud Bäumer. Berlin 1901, 196.
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nung emanzipierter Frauen zuschrieb. Das von der Gräfin zugrunde gelegte Verständnis von Emanzipation verkürzt bzw. konterkariert allerdings die rechtlichen und politischen Anliegen der Frauenbewegung auf Fragen einer angemessenen Kleidung.173 Adeline Gräfin von Schimmelmann war zutiefst geprägt von ihrer adligen Herkunft, die sie teilweise durchbrach, teilweise aber auch benutzte, um ihre Ziele, die nicht den Idealen des Adels entsprachen, zu erreichen. Aus dem Kontext der neuen Frömmigkeitsbewegungen griff sie eklektisch Formen und Ideen auf, die sie zu einem eigenwilligen Konstrukt zusammenfügte. Sie reagierte mit innovativen Handlungsweisen auf soziale Herausforderungen ihrer Zeit, konnte aber wegen der kaum vorhandenen Vernetzungsstrukturen keine längerfristigen Projekte aufrechterhalten. Diesem Vorgehen korrespondierte das von ihr entwickelte Verständnis von Bekehrung, das auf ein einmaliges emotional besetztes Geschehen abhob.Während etliche ihrer Evangelisationsmethoden dem entsprechen, wie auch andere Vertreter der Gemeinschafts- und Heiligungsbewegung vorgingen, unterscheidet sie sich von diesen zum einen durch ihre Instrumentalisierung der eigenen Lebensbeschichte und zum anderen durch ihre intensive Zusammenarbeit mit der regionalen und internationalen Presse. Das Einbeziehen von Erfahrungen gehört zu den Kennzeichen evangelistischer Redeformen. Die theologisch nicht vorgebildeten Zuhörer sollten auf diese Weise auf das Evangelium aufmerksam gemacht werden. Bei Schimmelmann jedoch bildeten Facetten ihrer eigenen Erfahrungen den Kern ihrer Ansprachen, sodass ihre Person zu einer Art von Beleg für die Wahrheit der christlichen Botschaft wurde. Ihre Biografie mit ihren Höhen und Tiefen scheint die Zeitgenossen angesprochen zu haben. Mit dieser Konzentration auf das biografische Element hatte die Gräfin Anteil an der Formierung der Biografie als einem Leitmedium des 19. Jahrhunderts.174 Die Erweckungsbewegungen trugen in ihren Milieus dazu bei, Geschichte in der Gestalt von Biographien zu vermitteln.175 Allem Anschein nach waren es vor allem die Mitarbeiter ihrer Missionsgesellschaft, allen voran ihr Adoptivsohn Paul Schimmelmann, die eine reguläre Pressearbeit betrieben, indem sie Fotos und Dossiers vorbereiteten. Dadurch versuchten sie und ihre Entourage, die öffentliche Berichterstattung in ihrem Sinn zu beeinflussen. Mit dieser Strategie zeigte sich Gräfin Schimmel173 Schimmelmann, Streiflichter [s. Anm. 4], 25. In der neueren Literatur wird sie nur an einer Stelle als Frauenrechtlerin bezeichnet, vermutlich allerdings eher aufgrund rudimentärer Recherchen zu ihrer Person; vgl. Peter Lesniczak: Alte Landschaftsküchen im Sog der Modernisierung. Studien zu einer Ernährungsgeographie Deutschlands zwischen 1860 und 1930. Stuttgart 2003, 201. 174 Vgl. Falko Schnicke: 19. Jahrhundert. In: Handbuch Biographie. Methoden, Traditionen, Theorien. Hg. v. Christian Klein. Stuttgart 2009, 243–250. 175 Vgl. Ruth Albrecht: Zur historiographischen Funktion biographischer Literatur in den Erweckungsbewegungen. Mit einer Bibliographie der Schriftstellerin Hedwig von Redern. In: Zwischen Aufklärung und Moderne. Erweckungsbewegungen als historiographische Herausforderung. Hg. v. Veronika Albrecht-Birkner u. Thomas K. Kuhn. Berlin 2017, 217–251.
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mann auf der Höhe ihrer Zeit, in der die Presse die Funktion einer „vierten Gewalt“ annahm.176 Allerdings erlebte sie auch die Ambiguität der öffentlichen Medien, die ihren Interessen nützlich sein konnten, ihrem Renommee aber auch Schaden zufügten.177 Weiterer Recherchen bedarf es zur Rolle von Agenturen, deren Informationen in unterschiedlicher Breite und Weise aufgegriffen wurden. Inwieweit auch hierzu Adeline Schimmelmann intentional einen Beitrag leisten konnte, gehört zu den zu klärenden Fragen. Die Gräfin aus Ahrensburg ist nach den bis jetzt bekannten Quellen zu den Personen aus dem Milieu der engagierten Frommen der Kaiserzeit zu zählen, die in erstaunlichem Ausmaß die internationale Presse beschäftigten.
176 Vgl. Andreas Schulz: Der Aufstieg der ‚vierten Gewalt‘. Medien, Politik und Öffentlichkeit im Zeitalter der Massenkommunikation. In: Historische Zeitschrift 270, 2000, 65–97. 177 Zum ambivalenten Verhältnis Wilhelms II. zur Presse s. Clark, Wilhelm II. [s. Anm. 155], 210–242; vgl. Fetting, Selbstverständnis [s. Anm. 27], 87–104, deren Fokus auf der Bedeutung von Medien im Kontext von Krisen des hohen Adels liegt.
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Rezensionen
Philipp Jakob Spener: Berliner Predigten 1693–1701. Eingeleitet v. Markus Matthias, Andres Straßberger, Alexander Bitzel, Peter Schicketanz. 35 Jahre „Philipp Jakob Spener: Schriften“ Band I bis XVI (1979–2014) Ein Rückblick von Dietrich Blaufuß. Hildesheim [u. a.]: Olms Verlag 2015 (Ph.J. Spener: Schriften. Hg. v. Erich Beyreuther u. Dietrich Blaufuß. Bd. X). – LXXXII, 685 S. Nach 35 Jahren ist die Edition der Schriften von Philipp Jakob Spener abgeschlossen. 38 einzelne Bände und weitere neun Sonderbände sind erschienen. Die Geschichte dieser Edition von Speners Werken ist keine Geschichte des Scheiterns. In der von Erich Beyreuther und Dietrich Blaufuß herausgegebenen Reihe werden der Spenerforschung wichtige Quellen und nach wie vor zentrale Sekundärliteratur, wie z. B. die dreibändige Spener-Biographie Paul Grünbergs, zur Verfügung gestellt. Die jeweiligen Einleitungen erschließen die historischen Kontexte sowie die wissenschaftliche Bedeutung der aufgenommenen Schriften und repräsentieren zum Teil wertvolle Forschungserträge ihrer Verfasser.1 Der zu besprechende Band X der im Verlag Olms, Hildesheim, erschienenen Reprintausgabe beinhaltet sieben Drucke von Berliner Predigten Speners aus dem Zeitraum 1693 bis 1701, denen fünf Einleitungen beigegeben sind. Der Titel dieses Teilbandes ist insofern irreführend, als der Umfang der gedruckten Predigten Speners wesentlich größer ist, als es die 685 Seiten vermuten lassen. Die besondere inhaltliche Bedeutung der ausgewählten Predigten ist erkennbar, grundsätzliche Auswahlkriterien werden jedoch nicht transparent,2 sodass die getroffene Auswahl nur bedingt nachvollziehbar ist. Verwiesen sei z. B. auf Die ewige Geburt Des Sohnes Gottes Aus dem Wesen des Vaters von 1693, die als Initial für Speners antisozinianische Arbeit ebenfalls besondere Bedeutung besitzt, oder auf Das Berühmte Bußgebet Des H. Propheten Danielis, gedruckt 1700. In den Einleitungen wird herausgearbeitet, wie Spener im Aufbau seiner Predigten der zu seiner Zeit üblichen Struktur „Einleitung – exegetische Erläuterungen – Lehrpunkte – Gebet“ folgt, wobei zugleich Modifikationen oder Schwerpunktsetzungen in einzelnen Predigten erschlossen werden, die spezifische Facetten des Predigers Spener sichtbar werden lassen. In der Einführung zu der Gründliche[n] Erörterung, was von dem bey der Tauffe gewöhnlichen EXORCISMO zu halten seye: in einer Predigt kürtzlich und deutlich vorgestellet von 1693 weist Markus Matthias darauf hin, dass der Drucktext möglicherweise nicht mit der gehaltenen Predigt übereinstimmt. Der Text, zuerst veröffentlicht von einem unbekannten Herausgeber, antwortet auf Georg Pohls Bedencken über den EXORCISMO von 1692. Die Überschrift suggeriert, dass Hauptinhalt der Predigt Speners der Taufexorzismus wäre, wobei nur in den Loci communes tatsächlich kurz die Frage des Exorzismus bei der Kindertaufe behan1 Der scheinbare Verzicht auf inklusive Sprachformen erklärt sich aus der Tatsache, dass sich unter den Autoren der Einleitungen tatsächlich keine Frau findet, was angesichts der Präsenz und Bedeutung von Wissenschaftlerinnen in der Pietismusforschung überrascht. 2 Lediglich für die Auswahl der Bußpredigten wird Seite 30* ein formales Kriterium genannt.
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delt wird. Das Taufsakrament wird in der Predigt pietistisch subjektiviert. Für Spener gehört der Taufexorzismus zu den Adiaphora. Dieser wurde zwar in manchen lutherischen Herrschaften praktiziert, nicht jedoch im reformiert regierten Brandenburg. Der Hinweis, dass unter anderem „drei Äußerungen aus der Berliner Zeit [6] und zwei ohne Datum“ (18*) weiteren Aufschluss über Speners Ansichten zur Exorzismus-Frage bieten, ist missverständlich, da es insgesamt nur drei Äußerungen sind, wobei [7] von 1692 ist. [6] und [8] wurden in den Bedencken-Drucken nicht datiert. Auch die Erklärung,Was von gesichten, erscheinungen und dergleichen offenbahrungen zu halten seye: In einer Predigt vorgestellet; Samt Dessen Theologischem bedencken In sachen Henrich Kratzensteins und dessen vorgebender offenbahrung vom Januar 1693 wurde nicht zuerst von Spener zum Druck gegeben. In der hier verwendeten, von Spener veranlassten Ausgabe vom März 1693, die Markus Matthias einleitet, verbindet Spener sein Gutachten zu Kratzenstein mit seiner Sonntagspredigt vom 3. Januar 1692. Der Quedlinburger Goldschmied Kratzenstein hatte sich auf Visionen berufen, mit denen er u. a. auch rechtfertigte, seine Ehefrau zu verlassen. Nachdem Spener noch 1691 im Kontext von Johann Wilhelm Petersen und Rosamunde Juliane von der Asseburg Offenbarungen in der Gegenwart für möglich hielt, urteilt er nun strenger und erwartet eine Verbindung einer notwendig bibelgerechten Offenbarung mit einem frommen Leben, um ein Zeichen des Wirkens Gottes zu erkennen. Spener bevorzugte auch hier eine natürliche Erklärung der Phänomene. Auch in Letzte Bedencken 3 (Schriften XV,2), 487–495 beurteilt Spener die Äußerungen Kratzensteins, wie auch in den Schreiben Letzte Bedencken 1, 115–120, Letzte Bedencken 3, 654–656 und Letzte Bedencken 3, 682–683. Die Einleitung von Andres Straßberger zu drei Bußtagspredigten Speners in Berlin (Von dem schwersten Straff-gericht Gottes [...]; Von der Bereitung auf die Zeiten der bevorstehenden Leiden [beide 1697]; Von dem gericht der verstockung [...] [1701]) setzt ihr Ziel, die Texte historisch, theologisch und homiletisch einzuordnen, in informativer und anregender Weise um. Biografische, werkgeschichtliche, theologische und zeitgeschichtliche Kontexte werden deutlich konturiert und zentrale Aspekte der Theologie Speners herausgearbeitet und eingeordnet, welche in den drei Predigten ihren Niederschlag gefunden haben. Die Spezifik der einzelnen Predigten in Charakter, Aufbau und inhaltlicher Argumentationsstruktur wird luzide erschlossen. Besonders zu würdigen sind die nachdrückliche Thematisierung eines homiletischen Zugangs zu Predigten Speners sowie das Herausarbeiten von Forschungsperspektiven, welche sich aus den drei thematisch verwandten Predigten ergeben. Kleinere Anfragen können nur an wenigen Stellen gesetzt werden, z. B. an die Charakterisierung des terministischen Streits als „durch Spener selbst maßgeblich ausgelöst“ (42*), welche u.E. hinter der Darstellung bei Andreas Gössner zurückbleibt. Die beiden Predigten, Des Beichtwesens rechter Gebrauch und Mißbrauch und die Wiederholung der Lehr von des [
] gewöhnlichen Beichtwesens Gebrauch und Mißbrauch, die Spener in den Jahren 1695 und 1697 im Kontext des Berliner Beicht-
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stuhlstreits gehalten hat, werden eingeleitet von Alexander Bitzel, der seine Einführung in drei Abschnitte teilt. Im ersten Teil skizziert er anhand von fünf Beispielen, Heshusius, Heerbrand, Hafenreffer, Hutter und Gerhard, relativ ausführlich die „Bußlehre des frühneuzeitlichen Luthertums“ (54*-60*). Der mit „Tradition und Innovation bei Spener“ überschriebene zweite Abschnitt (60*67*) kommt zum einen zu dem Schluss, dass Spener von der „traditionellen Bußlehre“ der lutherischen Orthodoxie nicht abweicht, zum anderen sieht der Autor aber zwei „innovative“ Elemente in Speners Ausführungen, a) die Absicherung der Wirksamkeit der Verkündigung durch einen kontrollierten Lebenswandel des Predigers (66*f.) und b) die Betonung der Sichtbarkeit des Glaubens der Beichtkinder zur Verifikation ihrer Bußfertigkeit. Die Einleitung endet mit einem sehr kurzen dritten Teil über die „Machart der Predigten“ (67*f.), der sie als „konventionelle“ Themenpredigt und Homilie einordnet, welche für die Drucklegung mit Fachtermini und „Traditionszitaten“ ergänzt wurden. Die in Abschnitt 2 angeführten Abweichungen gegenüber der Tradition unterstreichen einerseits die vom Autor angeführte „seelsorgerliche Motivation“ Speners (63*), beleuchten andererseits aber auch den historischen Kontext, in welchem Spener sich mit diesen Texten auf die Kanzel begeben hat. Im jeweiligen Moment der Predigt standen sich zwei Parteien in einer komplexen Auseinandersetzung gegenüber, in welcher Spener sich mit diesen beiden „Innovationen“ einen Weg aus der Unversöhnlichkeit erhoffte, mit welcher sich Prediger, hier speziell Johann Caspar Schade, und Beichtkinder innerhalb des Beichtstuhlstreits bis 1697 zunehmend gegenüberstanden. Mögen beide ihr Verhalten, so Spener, derart maßregeln, dass die jeweils andere Seite nicht in Gewissensbedrängnis gerate. Der Autor vollzieht eine sehr nachvollziehbare Einordnung der Predigten in die frühneuzeitliche Buß- und Predigtlehre, vernachlässigt aber den unmittelbaren Kontext, wofür hier nur als ein Beispiel die etwas unklare Verwendung des Begriffes der „Kollektivbeichte“ dienen soll, denn sowohl Spener als auch Schade hatten weniger ein Problem mit dem Adiaphoron der Beichte an sich als mit der bereits erwähnten problematischen Verknüpfung Beichte – Abendmahl (so auch 62*) und der alltäglichen Umsetzung einer kirchlichen Praxis, die speziell an St. Nikolai Berlin von drei Diakonen verlangte, innerhalb relativ kurzer Zeit Tausende Gemeindeglieder möglichst begründet zu absolvieren. Auch dass Schade auf die „Kollektivbeichte“ „verzichtet“ hätte (64*), ist mindestens ungenau formuliert. 1697 etablierte Schade sogar eine Form von „Kollektivbeichte“ in der Sakristei von St. Nikolai, während welcher er seine Anhänger generaliter absolvierte. Die Aufnahme beider Predigten in die Reprintausgabe, inklusive von Luthers Sermon von der Beicht, der an die Wiederholung angehängt worden ist, darf begrüßt werden, denn die Predigten illustrieren deutlich Speners Haltung zu Problemen kirchlicher Praxis und seinen direkten Umgang mit den radikaleren Anhängern des Pietismus. Die anlassgebende Auseinandersetzung kann demgegenüber als gut erforscht betrachtet werden. Die Einleitung hätte etwas konkreter und
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übersichtlicher auf die historischen Umstände eingehen können, illustriert aber gut die lutherische Beicht- und Predigttheologie der Zeit. In der Einleitung zu einer Predigt Speners, welche die Armenfürsorge in Berlin zum Gegenstand hat (Christliche Verpflegung der Armen [...] [1697]), erläutert Peter Schicketanz biografische, zeit- und regionalgeschichtliche Hintergründe derselben und gibt einen Ausblick auf die Wirkungsgeschichte des Predigtdrucks. Mit der Transkription eines kurfürstlichen Edikts zur Armenfürsorge von 1685 wird eine hilfreiche zeitgenössische Quelle zur Verfügung gestellt, welche allerdings, wie von Schicketanz vermerkt, im Original auch digital verfügbar ist. In erhellender Weise stellt der Autor Struktur und Grundaussagen von Speners Predigt dar und arbeitet inhaltliche Pointen heraus. Zu inhaltlichen Details der Einleitung sind aus der Edition der Berliner Briefe Speners weiterführende Präzisierungen zu erwarten. Es fällt auf, dass in der Einleitung nur ältere Forschungsliteratur genannt wird. Gelegentlich irritiert eine gewisse Fragmentarität und Disparatheit des Textes. In einem Rückblick verortet Dietrich Blaufuß, seit 2001 der verantwortliche Herausgeber der Reihe, die Reprint-Edition im Kontext v.a. neuerer SpenerEditionen. In „1. Spener-Editionen: die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts“ und „2. Philipp Jakob Spener: Schriften bis 1984 – Impuls und Echo“ schildert er seine Sicht auf die Entstehung mehrerer Spener-Editionen. Tatsächlich bedauerlich ist die in der Vergangenheit zu oft misslungene Kommunikation zwischen den Editions-Projekten, denn, wie Blaufuß selbst im letzten Satz der Vorbemerkungen seiner Arnold-Edition geschrieben hat: „Editionen leben von gelingender Kommunikation“.3 Es bleibt zu hoffen, dass zukünftig Synergiemöglichkeiten produktiver genutzt werden. In „3. 1985 bis 2014: Fortsetzung in vielfältigem Wandel“ wird zu Recht betont, was dennoch geleistet werden konnte. Der digitale Wandel war zu Beginn aller Editionen nicht absehbar. So sind alle Texte des Bandes Schriften X derzeit als Digitalisate bei verschiedenen deutschen Bibliotheken im Internet zu finden. Dennoch war und ist diese Edition der Schriften Speners wichtig, weil hier die für die Rezeption wirksamen Fassungen geboten werden. Ein Verständnis Speners ist nur durch seine Briefe und seine Schriften möglich. Die vielfältigen Einleitungen von unterschiedlicher wissenschaftlicher Qualität schließen die reprinteten Texte auf und müssen in ihren selbst schon historischen Entstehungskontexten gelesen werden. Sie sind, wie es auch eine Kommentierung je nur sein kann: geprägt durch die Zeitläufte. Wir gratulieren zur Vollendung der Ausgabe. Claudia Drese, Marcus Heydecke, Claudia Neumann
Halle a.d. Saale
3 Gottfried Arnold: Offenhertzige Bekäntniß. Hg. v. Dietrich Blaufuß. In: Gottfried Arnold. Radikaler Pietist und Gelehrter. Hg. v. Antje Mißfeldt. Köln 2011, 199.
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ugust Hermann Francke: Tagebuch 1714. Hg. v.Veronika Albrecht-Birkner u. A Udo Sträter in Zusammenarbeit mit Carola Wessel und Viktoria Franke. Halle: Verlag der Franckeschen Stiftungen 2014 (Hallesche Quellepublikationen und Repertorien, 13). – LXV, 225 S.; Ill. „O Herr, erbarme dich mein“. Die Tagebücher von Carl Brenner-Sulger im Kontext des Basler Pietismus. Hg. u. komm. von einer studentischen Arbeitsgruppe des Historischen Seminars der Universität Basel. Basel: Schwabe Verlag 2010 (Selbst-Konstruktion. Schweizerische und Oberdeutsche Selbstzeugnisse 1500–1850, 4). – 246 S. „Heute war ich bey Lisette in der Visite“. Die Tagebücher der Basler Pfarrersfrau Ursula Bruckner-Eglinger 1816–1833. Hg. u. komm. von Bernadette Hagenbuch. Basel: Schwabe Verlag 2014 (Selbst-Konstruktion. Schweizerische und Oberdeutsche Selbstzeugnisse 1500–1850, 6). – 555 S. Die spezifische Schreibkultur des Pietismus und ihre Förderung diaristischer Aufzeichnungen sind in der Tagebuchforschung schon lange bekannt.1 Dennoch sind veröffentlichte Tagebücher abseits bekannter Persönlichkeiten auch aus dieser religiösen Bewegung eine Seltenheit.Tagebücher sind in den meisten Fällen widerspenstige Quellen, deren Publikationen sich, wenn es sich nicht gerade um berühmte Persönlichkeiten handelt, zudem meist keiner großen LeserInnenschaft erhoffen dürfen. Eine Edition – wenn sie sorgfältig durchgeführt wird – ist nicht zuletzt auch eine aufwändige und zeitraubende Angelegenheit. Dennoch sind edierte Tagebücher für viele Forschungsbereiche der Geschichtswissenschaft eine notwendige Ergänzung und ihre Publikationen daher nicht als wichtig genug anzusehen. Umso erfreulicher ist es, dass in den letzten Jahren neue Editionen von Tagebüchern aus dem Umfeld pietistischer Religionsgemeinschaften erschienen sind, die nicht nur das Wissen über einzelne AkteurInnen erweitern, sondern auch neue Blickwinkel auf die Tagebuchkultur dieser spezifischen religiösen Strömung eröffnen. August Hermann Francke (1663–1727), einer der wichtigen Wegbereiter des Pietismus, war ein umtriebiger Theologe und Prediger. Die Edition seiner vorhandenen Tagebücher – Diarien, wie Francke sie selber nannte – war bereits in den 1950er Jahren geplant, aber nie umgesetzt worden. Die vorliegende Ausgabe des Tagebuchs aus dem Jahr 1714, herausgegeben und sorgfältig kommentiert von einem vierköpfigen ForscherInnenteam, will als Pilotprojekt verstanden werden.Veronika Albrecht-Birkner hebt in der Einleitung der Edition die herausragende Bedeutung der Tagebücher Franckes gerade für die Frühneuzeitforschung hervor. Daneben versprechen diese aber in Kombination mit Briefen
1 Vgl. hierzu etwa Ulrike Gleixner: Religion, Männlichkeit und Selbstvergewisserung. Der württembergische pietistische Patriarch Philipp Matthäus Hahn (1739–1790) und sein Tagebuch. In: L’HOMME. Europäische Zeitschrift für feministische Geschichtswissenschaft 14, H. 2, 2003, 262–279.
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und anderen „Begleitüberlieferungen“ neue Erkenntnisse über seine Netzwerke und die Geschichte des Pietismus insgesamt. Das hier edierte Tagebuch aus dem Jahr 1714 ist das erste Buch einer Reihe von Diarien, die ab 1716 bis 1726, also kurz vor dem Tod Franckes, erhalten sind. Dieser war offenbar ein lebenslanger und vielfältiger Notar seiner Zeit, neben den genannten Tagebüchern, Briefen und religiösen Schriften bzw. Reden existieren auch Schreibkalender (1697–1703) und andere Aufzeichnungen in Latein für „Raisonnements“. Freilich geben diese sehr selten „Einblicke in das eigene Seelenleben“ (XVI) des Autors, die Dokumentation von Briefen, Besuchen, Predigten, Publikationen etc. sind der Schwerpunkt seiner Hefte. Interessant ist zudem, dass keineswegs sichergestellt werden kann, welche Einträge in den vielfältigen diaristischen Aufzeichnungen von Francke selber stammen. Gesichert ist mindestens ein zweiter Schreiber – ein weiterer möglich. So erzählt die Materialität dieser franckeschen Schreibkalender auch von der Normierung von Handschriften und widerspricht bis zu einem gewissen Grad damit der Grundannahme von der Individualität des Schreibens und der Schrift. Tagebuch-Schreiben als religiöse Praxis ist eine der Charakteristika der pietistischen Frömmigkeit, die auch die beiden anderen hier rezensierten Tagebucheditionen auszeichnen. Im Führen der Schreibkalender wird vor allem der Aspekt des Rechenschaft-Ablegens deutlich: Akzentuiert in den Schreibkalendern mit den sorgfältig verzeichneten (wenn auch offenbar selektierten) täglichen Tätigkeiten. Es ist ein Zeugnis für den besten Nutzen eines jeden Tages, an dem der bzw. die Gläubige durch Taten belegen kann, was er/sie für das Kommen des Reichs Gottes getan habe. Wie zentral dieser Aspekt in der persönlichen Glaubensausübung in pietistischen Kreisen war, belegen auch die Predigten Franckes, in denen er zum Führen von Schreibkalendern aufforderte und Ratschläge über die richtigen Methoden hierfür erteilte. Aufschlussreich ist darüber hinaus auch, dass Francke auf seinen Reisen dazu aufforderte, geführte Schreibkalender an ihn zu senden – der Eingang solcher Bücher wiederum ist in seinem Schreibkalender ab 1716 dokumentiert. Albrecht-Birkner vermutet dahinter mehrere Beweggründe: So sei nicht auszuschließen, dass Francke gerade in dieser Zeit der Krise für den Pietismus eine „Geschichte des Pietismus“ (XVI) zusammengesetzt aus lauter individuellen Lebensgeschichten – durchaus auch mit einem Tradierungsbewusstsein – sammeln wollte. Daneben sei aber auch der Kontroll- und Erziehungsaspekt nicht zu unterschlagen, wie etwa zeitgenössische Beispiele von ähnlichen Schreibbüchern in Anstalten für Waisenkinder nahelegen, die täglich kontrolliert worden waren. Unklar ist allerdings, wer diese zugesandten Tagebücher las und ob diese Vorbildcharakter hatten. Die Edition dieses ersten Tagebuchs August Hermann Franckes auf 202 Seiten gibt also Einblick in eine Schreibkultur, die in vielem noch an diaristische Praktiken des 17. Jahrhundert erinnert, wie die Herausgeberin betont. Damit zeigt es nicht nur „die sich ab dem 18. Jahrhundert entfaltende Vielfalt des Ta-
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gebuchschreibens in Europa“,2 sondern auch, dass die Praxis des Tagebuchschreibens offenbar über einen langen historischen Zeitraum vielfältige Funktionen und vermeintlich ältere Formen neben neuen Gebrauchsweisen zugelassen hat. Denn auch wenn die „Auskaufung der Zeit“ (XVI) und die buchhalterische Abrechnung eines jeden Tages im Mittelpunkt stehen mag, heben die ersten Einträge im Jänner 1714 mit der Reflexion von religiösen und inhaltlichen Problemlagen an, die direkt im Zusammenhang mit der Gefährdung des Pietismus in diesem Zeitraum stehen. Mit den beiden anderen edierten Tagebüchern machen wir einen zeitlichen und räumlichen Sprung: Wir befinden uns nun in der Schweiz, genauer: BaselStadt bzw. Landschaft, und im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts.Wir finden mit diesen Editionen nun auch eine Schreibpraxis vor, die schon eher dem entspricht, was GattungstheoretikerInnen seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert als Tagebücher definierten.3 Mit den beiden Editionen sind jeweils die erhaltenen Tagebücher des pietistischen Pädagogen und „Judenmissionars“ Carl BrennerSulger (1806–1833) und seiner Cousine 2. Grades, Ursula Bruckner-Eglinger (1797–1876), Ehefrau eines Pfarrers in Basel, einem breiteren Lesepublikum bekannt gemacht worden. Brenner-Sulger begann den ersten seiner vier Bände mit 18 Jahren zu führen; der letzte Eintrag entstand noch kurz vor seinem frühen Tod 1833. Geprägt sind die Aufzeichnungen von religiösen Themen, von der Kontrolle seines Glaubens und – vor allem im Beginn – von der Sündenhaftigkeit des eigenen körperlichen Begehrens. Daneben werden aber auch seine Lehrtätigkeiten und religiösen Gespräche, später von den sogenannten „Judenmissionen“, zum Thema – ebenso wie persönliche Ereignisse (Heirat, Todesfälle, bes. des Sohnes). Das Tagebuch Nr. 4 ist etwa dem Kind gewidmet, was Einblicke in pietistische Vaterschaftskonzeptionen erlaubt. Die Transkription der vier Bände umfasst ca. 150 Seiten und ist das Ergebnis eines Seminars an der Universität Basel. Eingeleitet wird die Edition von acht thematischen Beiträgen, die verschiedene Aspekte der Texte herausgreifen und kontextualisieren. Dies ist unterschiedlich gelungen. So scheint vor allem die gattungstheoretische und historische Einbettung der Tagebücher nur wenig Neues zu bringen; die inhaltlichen Schwerpunktsetzungen wie etwa auf Fragen von Sexualität und Vaterbildern wiederum weisen die LeserInnen auf span2 Christa Hämmerle u. Li Gerhalter:Tagebuch – Geschlecht – Genre im 19. und 20. Jahrhundert, in: Krieg – Politik – Schreiben. Tagebücher von Frauen (1918–1950). Hg. v. dens. Wien [u. a.] 7–31, hier 7. 3 Vgl. zur literaturwissenschaftlichen De/konstruktion dessen, was ein Tagebuch ausmachen solle: Arno Dusini: Tagebuch. Möglichkeiten einer Gattung. München 2005; zur Kritik aus einer geschlechterhistorischen Perspektive:Tagebuch – Geschlecht – Genre s. Li Gerhalter: „Einmal ein ganz ordentliches Tagebuch“? Formen, Inhalte und Materialitäten diaristischer Aufzeichnungen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. In: Selbstreflexion und Weltdeutungen. Tagebücher in der Geschichte und der Geschichtsschreibung des 20. Jahrhunderts. Hg. v. Janosch Steuwer u. Rüdiger Graf. Göttingen 2015, 63–84.
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nende Perspektiven hin und erweitern den Blick auf diese nicht immer leicht zugängliche Textsorte. Die sorgfältig edierten Tagebücher Ursula Bruckner-Eglingers aus den Jahren 1816 bis 1833 decken eine ähnliche Zeitspanne ab wie jene Carl BrennerSulgers und umfassen ca. 450 Seiten. Begleitet sind sie von einem umfangreichen Anmerkungsapparat, mit Sach- und Dialekterläuterungen, einem Glossar, einem Personen- und Ortsregister sowie einer Bibliographie. Es ist die umfangreichste Edition der hier besprochenen. Neben den fünf Tagebüchern, die vermutlich vollständig überliefert worden sind, sind auch ein Album, ein Haushaltsbuch und eine sogenannte Totenrede auf Basis eines selbst verfassten Lebenslaufs der Toten, der ihr gottgewolltes Leben dokumentieren sollte, vorhanden. Die Fülle der Aufzeichnungen der Basler Pfarrersfrau machen den Stellenwert der diaristischen Schreibpraxis auch für Frauen sichtbar. Bernadette Hagenbuch betont in ihrer umfangreichen Einleitung zur Edition, dass die pietistische Schreibkultur explizit Frauen und Kinder mit einschloss. Seit 1800 lassen sich daher auch vermehrt Tagebücher von Frauen finden, die allerdings durch einen beschränkten öffentlichen Zugang gekennzeichnet gewesen seien. Diese waren nämlich zwar wichtiger Teil der religiösen Gemeinschaft, was aber wenig an ihrer Stellung außerhalb des Hauses geändert hätte. Hagenbuch ordnet in der Einleitung die edierten Texte in mehrere Zusammenhänge ein: Der forschungssowie gattungstheoretische, der religions-, sozial- und lokalhistorische sowie biographische Kontext erleichtert die Lektüre der Tagebücher, die durch ein Nebeneinander von Alltagstätigkeiten, der Dokumentation religiöser und familiärer Netzwerke und dem Einbruch der politischen Konflikte während der Basler Unruhen gekennzeichnet sind.4 Auch diese Tagebücher sind wiederum Zeugnis davon, dass diaristisches Schreiben eine komplexe Praxis war.Wie auch in den edierten Büchern von August Hermann Francke oder Carl BrennerSulger verweisen etwa die verwendeten Sprachen im Tagebuch von Ursula Bruckner-Eglinger auf ein komplexes Verhältnis von „Öffentlichkeit“ und „Privatheit“: Sprachwechsel zu Lateinisch, Englisch oder Französisch in den Einträgen enthüllen möglicherweise Versuche, Inhalte vor unbefugten Lesenden zu verbergen und machen damit die Prekarität des intimen Schreiborts Tagebuch überhaupt deutlich. Die hier vorgestellten Tagebücher machen die Heterogenität und Vielfältigkeit der Gattung seit der Aufklärung deutlich, ebenso wie die Ungleichzeitigkeiten von bestimmten Gebrauchsweisen und Charakteristika. So taucht der Kontrollaspekt der pietistischen Schreibbücher etwa in den journaux intimes he4 Durch Quellen wie diese kann etwa die Forschung zum Pietismus um eine geschlechterhistorische Perspektive erweitert werden, da etwa Netzwerke und Tätigkeiten von Frauen verstärkt in den Blick geraten. Vgl. exemplarisch etwa den kürzlich erschienenen Sammelband Gender im Pietismus. Netzwerke und Geschlechterkonstruktionen. Hg. v. Pia Schmid [u. a.]. Halle 2015.
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ranwachsender Mädchen im 19. Jahrhundert wieder auf. Das Editieren von Diarien und Schreibbüchern auch abseits der Tagebücher der künstlerischen, intellektuellen, politischen und geistigen Eliten eröffnet vielfältige Forschungsperspektiven. Alle drei Editionen sind von Registern bzw. historischen, biographischen und gattungstheoretischen Kontextualisierungen begleitet und geben damit WissenschafterInnen wie StudentInnen eine wichtige Grundlage für weitere Forschungsarbeiten. Veronika Helfert
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ietas et eruditio. Pietistische Texte zum Theologiestudium. Hg. v. Klaus vom P Orde. Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2016 (EPT, 8). – 314 S. Die Kritik am Pietismus entzündete sich 1789 am Theologiestudium und dessen Studenten. Insbesondere der Leipziger Theologieprofessor Johann Benedikt Carpzov erhob den polemischen Vorwurf, ein Theologiestudent solle nach pietistischer Vorstellung „satis pius et satis indoctus“ (59 Anm. 42) sein. Und in der Tat war die neue Frömmigkeitsbewegung in Leipzig unter Theologiestudenten bzw. Magistern der Theologie aufgetreten und hatte dort – nicht zuletzt durch das Wirken des Magisters August Hermann Francke – Verbreitung gefunden.Was anfangs als fromme Studentenbewegung erschien, die auf eine stärkere Ausrichtung an der Heiligen Schrift und auf die biblische Lehre drängte, geriet rasch in Konkurrenz zur universitären Theologie mit ihren damals „orthodoxen“ Lehrpositionen. Dass die Leipziger Bewegung von Theologiestudenten ausging, die für eine Veränderung des Theologiestudiums plädierten, hing nicht zuletzt mit der von Philipp Jakob Spener in seiner Pia Desideria (1675) erhobenen Forderung zusammen, die Kirchenreform durch eine Verbesserung des geistlichen Standes zu erzielen. Gute Prediger sollten durch eine gottesfürchtige und vom Heiligen Geist geleitete Universitätsausbildung geformt werden. Weil die „Theologia ein habitus practicus“ sei, müsse alles zur „praxi deß Glaubens und Lebens gerichtet werden“ (15,10f.). Weil Speners auf die Verbesserung der lutherischen Kirche zielenden Reformvorschläge stets auch die Verbesserung des Theologiestudiums betrafen, avancierten Form und Inhalt des Theologiestudiums zu einem zentralen Thema der pietistischen Frömmigkeitsbewegung. Die von Klaus vom Orde vorgelegte Anthologie pietistischer Quellentexte zum Theologiestudium dringt folglich in einen Kernbereich pietistischer Forderungen und Handlungsanweisungen vor, der trefflich mit „Pietas et eruditio“ betitelt ist. Anhand von 15 Texten bzw.Textauszügen verschiedener literarischer Gattungen lassen sich die vielfältigen Facetten des Themas sehr gut nachvollziehen. Dank der seit 2010 von der Historischen Kommission zur Erforschung des Pietismus herausgegebenen und von der Evangelischen Verlagsanstalt Leipzig betreuten feinen Reihe „Edition Pietismustexte“, sind die zum Teil an entlege-
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nen Stellen publizierten oder noch überhaupt nicht veröffentlichten Texte nun in erfreulicher Weise zugänglich. Das praktische Taschenbuchformat sowie die umfangreichen Abkürzungs-, Bibelstellen-, Orts- und Personenregister (304– 313) sind überaus benutzerfreundlich. Ein Nachwort vom Herausgeber (242– 281), das eine gelehrte und theologiegeschichtlich aufschlussreiche Einführung in das Thema und die abgedruckten Texte bietet, lässt nichts zu wünschen übrig. Das anschließende Literaturverzeichnis (282–300) ist nicht nur ein reines Quellen- und Sekundärliteraturverzeichnis, sondern regt auch zu eigenständiger Forschungslektüre an. Als Auftakt dient ein Brief Johann Arndts an Johann Gerhard vom 15. März 1603 (Nr. I), der im Rahmen der Leipziger Unruhen erstmals 1690 durch Wilhelm Ernst Tentzel in seinen Monatlichen Unterredungen publiziert wurde (7–13). Während die Veröffentlichung durch Tentzel unter direktem Bezug auf Speners Schriften geschah, unterscheidet sich dieser aus Buchempfehlungen bestehende Brief grundlegend von den späteren pietistischen Studienanweisungen. Charakteristisch für ein Theologiestudium im Horizont der lutherischen Frömmigkeitsbewegung ist u. a. die Empfehlung von erbaulichen Schriften zur Bibel, während von einer Beschäftigung mit „wissenschaftlichen“ Bibelinterpretationen keine Rede ist, und Vertreter der lutherischen Orthodoxie von Arndt nicht erwähnt werden. Der eigentliche Impulstext für die Thematik wird sodann mit Philipp Jakob Speners Pia Desideria (Nr. II) geboten, welche in Auszügen abgedruckt ist (14– 18). Anders als vom Herausgeber sonst üblich, ist dieser bekannte Text nicht mit den Drucken des 17. Jahrhunderts kollationiert worden, sondern folgt der von Kurt Aland angefertigten Ausgabe. Dass auch die Parallelstellen aus der von Beate Köster herausgegebenen Deutsch-lateinischen Studienausgabe (Gießen 2005) der Pia Desideria angegeben werden, ist löblich, aber leider nicht im Literaturverzeichnis aufgeführt. Als grundlegende Schrift Speners, in welcher er die zuvor geäußerten Reformvorschläge spezifiziert, bietet der Herausgeber die ursprünglich als Vorrede zu Johann Conrad Dannhauers Tabulae hodosophicae verfasste Schrift De impedimentis Studii theologici von 1690. Die hier als Text Nr. IV in Auszügen gebotene Übersetzung ist der von Johann Adam Steinmetz 1741 anfertigten Ausgabe der Kleine[n] Geistliche[n] Schriften entnommen (29– 59). Inhaltlich spricht sich Spener für eine grundständige philologische Bildung mit Schwerpunkten in der griechischen und hebräischen Sprache sowie für eine solide philosophische Ausbildung als Voraussetzung für die „Gottesgelahrtheit“ aus. Insgesamt empfiehlt er den Theologiestudenten und ihren Lehrern ein ausgewogenes Verhältnis von Frömmigkeit (pietas) und theologischer Gelehrsamkeit (eruditio), durch welche ihre theologische Persönlichkeit geformt und geprägt werden solle. Wie die Anregungen Speners und anderer zur Verbesserung des Predigtamtes aufgenommen wurden, macht das hier erstmals kritisch edierte Wohlmeinende unmaßgebliche Bedencken (Nr. III) von Veit Ludwig von Seckendorff aus dem Jahr 1680 deutlich (19–28), das der chronologischen Ordnung folgend zwischen die
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beiden Texte Speners gesetzt wurde. Der damalige Kanzler und Konsistorialrat in Zeitz schlug ebendort die Einrichtung eines „Predigerseminars“ als Ausbildungsstätte zwischen Universitätsstudium und geistlichem Amt vor, das anfänglich auf sechs Kandidaten beschränkt bleiben sollte. Sein Bedencken sandte er an Spener, der dieses 1681 umfänglich beurteilte. Das Gutachten veröffentlichte Spener später in den Theologischen Bedencken (Teil 4, Halle 1702, 526–535). Während Seckendorffs Vorschlag nicht realisiert werden konnte (dies hätte der Herausgeber zumindest bemerken dürfen), wurde als vermutlich „erstes evangelisches Predigerseminar“ dasjenige von Riddagshausen 1690 eingeweiht (251).Wie August Hermann Francke die Idee des „Predigerseminars“ über den Bereich der einzelnen Landeskirche hinausgehend weiterentwickelte, wird in Text Nr.VI Project des Seminarii Ministerii Ecclesiastici von 1714 erörtert (75–82). Bereits 1704 konnte ein solches an den halleschen Überlegungen zur Studienreform orientiertes Projekt in Flechtdorf in der Grafschaft Waldeck verwirklicht werden. Die bisher unedierte Ausführliche Nachricht das Inspektorat zu Flechtdorf betreffen (Text Nr. VII, 83–106) veranschaulicht, auf welchem umfänglichen fachlichen Fundament zur Praxis im christlichen Leben und in der Gemeindearbeit angeleitet werden sollte. Dass dieses waldecksche Predigerseminar bereits 1713 wieder schließen musste, hatte kirchenpolitische Gründe. Eine pointierte Weiterentwicklung von Speners Vorstellungen zum Theologiestudium betrieb Francke in Halle. Der Theologieprofessor und Gründer des Waisenhauses äußerte sich vielfach, wie er sich einen Theologiestudenten vorstelle. Beispielsweise nennt Francke in dem abgedruckten Textausschnitt (Nr.V) aus der Schrift Idea studiosi Theologiae (60–74) von 1712 als dessen vornehmstes Kennzeichen, dass „sein Hertz rechtschaffen sey vor Gott“ (60,9f.). Das Zusammenspiel von Leben und Lernen wird in dieser Schrift explizit hervorgehoben. Stärker als Francke betont die unter dem Vorsitz von Joachim Justus Breithaupt durchgeführte und hier in Auszügen mitgeteilte Disputation von 1702 (Nr. VIII) die einem gelingenden Theologiestudium vorausgehende Buße und Bekehrung (107–140). Dass der jeweilige lateinische Textabschnitt durch eine kleiner gedruckte deutsche Übersetzung ergänzt wird, hilft dem Lateinunkundigen, sich diese Quelle zu erschließen. Ebenfalls an Francke knüpft das von Johann Jacob Rambach 1737 verfasste, über 1100 Seiten umfassende Werk Wohl unterrichteter Studiosus Theologiae an (Nr. IX), das hier in Auszügen präsentiert wird (141–186). Während Spener und Francke von einem Studenten ein „rechtschaffen Gott suchendes Herz“ erwarteten, geht Rambach darüber hinaus, wenn er als Ziel des Theologiestudiums die Wiedergeburt und Veränderung des Herzens des Studenten fordert. Methodisch sucht er dieses durch „den seel. Lutherus drey Haupt-Mittel“ zu erreichen: oratio, meditatio und tentatio (142,13– 15). Ergänzt wird die Zusammenstellung durch zwei Texte aus dem Umfeld des sogenannten „radikalen Pietismus“. Sigmund Christian Gmehlins Apologetische Erklärung (Nr. X) ist hier in Auszügen abgedruckt (187–190). In ihr kritisiert er u. a. die für Spener und Francke so wichtige philologische Ausbildung und plä-
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diert stattdessen für eine geistliche Aneignung der Heiligen Schrift. In lyrischer Form greift Johann Friedrich Haug im Studenten-Gesang von 1710 (Nr. XI) die wissenschaftliche Bildung mit ihrem „Adamische[n] Witz“ (191,26) an und stellt sie der Orientierung an Christus gegenüber (191–197). Mit Blick auf den württembergischen Pietismus dokumentiert der Herausgeber zwei Texte von Johann Albrecht Bengel, in denen der Kirchenmann seine Sicht des Theologiestudiums in Paragraphenform entfaltet: Einerseits wird der Wolgemeinte Vorschlag wie ein Cursus theologicus in vier bis fünf Jahren zu verrichten seyn möchte von 1742 als Nr. XII abgedruckt (198–207), andererseits werden die Gedanken von der Einrichtung eines Compendii Theologiae als Nr. XIII geboten (208–212). Mit der Aufklärungstheologie – genauer mit dem Wolfianismus und der beginnenden Neologie – setzt sich der Gründungsrektor der Universität Bützow Christian Albrecht Döderlein in seiner hier in Auszügen publizierten Feyerlichen Rede von 1758 auseinander (Nr. XIV, 213–232). In für diese Zeit charakteristischer Weise sucht er die biblische Theologie, die er mit der Offenbarung Gottes gleichsetzt und von der „vernünftigen Theologie“ abgrenzen will, ebenfalls als vernünftig darzustellen und zu vermitteln. In die Vorgeschichte der Erweckungsbewegung führt schließlich der Textauszug aus Der Graue Mann, 6. Stück von Johann Heinrich Jung-Stilling von 1799, der hier als Nr. XV ediert wird (233–241). Weil für ihn alle Theologischen Fakultäten von Neologen durchsetzt seien und somit der Verfall der akademischen Theologie beschleunigt werde, empfiehlt er den Aufbau einer freien, spendenbasierten Ausbildungsstätte, in der die theologische Rechtgläubigkeit gelehrt und gelebt werde. Diese separatistische Tendenz findet sich bereits bei Gmehlin angedeutet, wird hier aber nun konkret außerhalb der verfassten Amtskirche gedacht. Später sollte eine solche Theologenausbildung in den Ausbildungsstätten der Erweckungsund Gemeinschaftsbewegung tatsächlich verwirklicht werden. Insgesamt bietet die Anthologie eine abwechslungsreiche und inhaltsstarke Zusammenstellung von Texten, die allesamt kritisch ediert und behutsam durch Anmerkungen kommentiert werden. Anstelle des Nachwortes wäre ein Einführungstext wünschenswert gewesen. Ebenfalls hätten Einleitungen zu den jeweiligen Texten einen schnelleren und präziseren Zugriff nicht zuletzt auf die Quelle und ihren Kontext ermöglicht. Trotz dieser kleinen Monenda liegt mit dieser Edition eine bemerkenswerte Zusammenstellung vor, die sowohl den heutigen Studienanfängern als auch den langjährigen Lehrerinnen und Lehrern der Theologie zur Lektüre empfohlen sei. Christopher Spehr
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Jena
ekehrung unterm Galgen. Malefikantenberichte. Hg. v. Manfred-JakubowskiB Tiessen. Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2011 (EPT, 3). – 164 S. Der Begriff „Malefikantenberichte“ bezeichnet eine literarische Gattung, die zwischen 1720 und 1760 beliebt war. Es handelt sich um einen Publikationstyp, den man „thanatographisch“ oder einfacher „Exempelliteratur“ nennen könnte. Die Verfasser sind pietistische Theologen, die zum Tode Verurteilte vor ihrer Hinrichtung begleiten. Der Zweck ist apologetischer Art, denn es gilt, den Leser durch einen erbaulichen Bericht zu beeindrucken: die in letzter Minute erfolgte Bekehrung eines Kriminellen. Aus einer Reihe vergleichbarer Veröffentlichungen wählte Manfred Jakubowski zwei Berichte aus, die der Pastor Ernst Gottlieb Woltersdorf, Autor zahlreicher Schriften und Kirchenlieder, im Wirkungskreis des hallischen Pietismus mit gewissen herrnhutischen Anklängen 1753 erstmals herausgegeben hatte. Als Grundlage seiner kritischen Edition diente Jakubowski die Neuauflage von 1761, in der diese Texte Teil einer Sammlung von vierzig exemplarischen Bekehrungsgeschichten waren. Eine bemerkenswerte gelehrte Fleißarbeit begleitet den Abdruck des Originals: Nicht weniger als 500 Anmerkungen sind nötig, um dieses dem heutigen Leser zugänglicher zu machen. Zahlreiche Fußnoten dienen zum Beispiel dazu, die Inspirationsquellen der apologetischen Inszenierung zu bestimmen und insbesondere den moralisierenden Text in sein historisches Umfeld einzubetten, indem typisch pietistische Schreibmodi hervorgehoben werden. Den Anfang macht der Fall von Christian Friederich Ritter, einem zwanzigjährigen Übeltäter, Deserteur und Dieb, der in seiner Vergangenheit schlechten Umgang pflegte und schließlich ein Bauernehepaar brutal ermordete. Die Details seiner Missetaten sollen zeigen, wessen ein „Freund Satans“ fähig ist. Die Strafe fällt entsprechend aus, da er zum Tod durch das Rad verurteilt wird. Das Rädern bestand darin, dem mit Pflöcken an den Erdboden gefesselten Delinquenten mit einem Wagenrad die Knochen und den Schädel zu brechen, um seinen zerstückelten Körper schliesslich auf das Rad zu flechten und der Menge zur Abschreckung zur Schau zu stellen. Der Hauptteil des Berichts besteht jedoch aus der Beschreibung der intensiven seelsorgerlichen Arbeit, mit der den Verbrecher während seiner Kerkerhaft bis zu sechs Personen zu bekehren suchen. Die Anfänge sind mühsam, da Ritter sich widersetzt und die soeben erhaltene Bibel rasch weiterverkauft. Die Geistlichen geben jedoch nicht auf und lassen sich buchstäblich von Passagen der Heiligen Schrift anregen, zum Beispiel von der Episode des unfruchtbaren Feigenbaums, dem der Gärtner noch eine Gnadenfrist gibt, im Lukasevangelium. Obwohl es anfangs bei Ritter keinen Anflug von Gutherzigkeit gibt, bringt die göttliche Gnade ihn allmählich zur Einsicht. Am Ende erregt er den Zorn der Wächter mit seinen ständigen Gebeten und Gesängen. Heiter geht er 1738 in den Tod, da er überzeugt ist, Vergebung für seine Sünden erlangt zu haben. In theologischer Hinsicht stellen sich jedoch den Eiferern, die sich beim Verurteilten ablösen, zahlreiche Probleme. Ist sein Glaube echt, oder handelt es
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sich lediglich um äußerliche Andachtsbezeugungen? Ist für ihn, dessen Seele künftig Gott ergeben ist, eine Strafe, die einzig seinen sterblichen Körper betrifft, angesichts seiner Sünden ausreichend? Das Hauptvergehen des Delinquenten läge vor allem darin, die Lebenszeit des Bauernpaars verkürzt und folglich dessen Möglichkeiten, sich zu bessern und zu bereuen, verringert zu haben. Doch, fragen sich die Theologen, hat ihn die Vorsehung nicht handeln lassen, da sie wusste, dass die beiden auf jeden Fall nicht gewillt gewesen wären, sich zu bekehren? Der zweite von Manfred Jakubowski vorgestellte Fall ist jener von Anna Martha Hungerlandin, die 1737 im Alter von 26 Jahren hingerichtet wurde, da sie ihr uneheliches Kind getötet hatte. Im Unterschied zum vorhergehenden Text ist der Bericht diesmal streng strukturiert, als würde der Verfasser einem katechetischen Schema folgen. Da die Kindesmörderin mehr als zwei Jahre im Gefängnis verbringt, ist ihre Belehrung auf Dauer angelegt und erlaubt dem Urheber ihrer Bekehrung, zahlreiche religiöse Themen zu behandeln. Am Ende präsentiert man sie uns als aktive Proselytin, die eine Prostituierte, ihre Gefängnisgefährtin, zu bekehren sucht und die mit ihren Wächtern Kirchenlieder singt. Sie geht sogar so weit, die städtischen Behörden um Vergebung zu bitten für die Ungelegenheiten, die sie verursachte, bevor sie dem vom Propheten Jesaja überlieferten Befehl Gottes folgt: „Bestelle dein Haus, denn du wirst sterben“. Kurz vor ihrer Enthauptung spricht sie vor den weinenden Zuschauern die Worte des Erzdiakons Stephanus nach, der gemäß dem Text der Apostelgeschichte die Glorie Gottes im geöffneten Himmel sah, bevor er zu Tode gesteinigt wurde. In den beiden Geschichten ist es den pietistischen Predigern gelungen, aus einem Sünder einen Heiligen zu machen. Der Aufbau der beiden Berichte beruht auf der Spannung zwischen dem Grauen des Verbrechens und der Gnade der Bekehrung. Der Herausgeber versäumt es nicht, auf das gehäufte Vorkommen pietistischer Ausdrücke hinzuweisen: „an seiner Seele arbeiten“, um das Wirken Gottes auf die Seele der Verbrecher zu bezeichnen, „aufschliessen“, um die Wirkung der göttlichen Gnade auszudrücken, und vor allem die Bezeichnung des Tags der Hinrichtung als Hochzeitstag. So wird die Kindesmörderin zum Schafott gebracht in Begleitung von zwei Pastoren, die sie an der Hand führen, wie man eine Braut zum Altar geleitet (Bezug auf eine Passage der Geheimen Offenbarung). Im Übrigen werden Texte pietistischer Inspiration (zum Beispiel die Lieder Paul Gerhardts) im apologetischen Diskurs häufig angeführt. Das seelsorgerliche Vorgehen, das in theologischer Hinsicht auf einer wohlbekannten Passage des Lukasevangeliums gründet – der Bekehrung des guten Schächers, dem Christus am Kreuz verspricht, „heute noch“ im Paradies zu sein –, löst im Jahrhundert der Aufklärung einige Kritik aus. Kann ein Verbrecher tatsächlich in wenigen Wochen zum Heiligen werden? Ist es legitim, den ungesunden Erwartungen der Menge, die dem schrecklichen Schauspiel der Enthauptung beiwohnt, mit einer Evangelisierungsfeier zu begegnen? Für die Behörden hat die öffentliche Exekution – dieser „Höhepunkt des Hinrichtungstheaters“ (Jakubowski) – zunächst eine erzieherische Komponente, da es gilt,
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das Volk zu beeindrucken, damit sich sein Verhalten der Furcht vor der Strafe anpasst. König Friedrich II. von Preußen erkannte denn auch die Gefahr einer verringerten Wirkkraft dieser Pädagogik des Schreckens, da er die spirituelle Begleitung der Kindesmörderinnen untersagte. Der Herausgeber der Malefikantenberichte zitiert auch einen Textauszug von Immanuel Kant, in dem der Philosoph seine Zweifel über die Wahrscheinlichkeit einer raschen Bekehrung äußert. Die Ideen der Aufklärung stellen also die pietistische Seelsorge in Frage, die auf dem Gebiet der Kriminalität eine Gelegenheit gefunden hatte, ihre Wirksamkeit zu beweisen. Um auf die Literaturgattung dieser Bekehrungsberichte zurückzukommen, ist es im Übrigen keineswegs sicher, ob die Leser dieser der pietistischen Glaubensförderung dienenden Texte sich in erster Linie für die moralisierenden und erbaulichen Monologe interessierten. Vermutlich suchten sie in dieser Literatur vor allem die Details der Missetaten zu erfahren, die den Frevlern die Todesstrafe einbrachten, um dann die Beschreibung der Hinrichtung zur Kenntnis zu nehmen! François Walter
Genf
hristian Knorr von Rosenroth: Neuer Helicon mit seinen neun Musen. Hg. v. C Rosmarie Zeller u. Wolfgang Hirschmann. Beeskow: ortus Musikverlag 2016. – 233 S.; Abb., Noten. Morgenglanz der Ewigkeit – wer assoziiert dieses Lied nicht sofort mit dem Barockdichter und Hofbeamten Christian Knorr von Rosenroth? Zahlreiche Gesangbücher haben es aufgenommen, darunter auch das aktuelle Evangelische Gesangbuch (EG) in einer fünfstrophigen Fassung in seinem Stammteil unter der Nummer 450 in der Rubrik „Glaube – Liebe – Hoffnung, Morgen“ und das katholische Gotteslob – allerdings in einer vierstrophigen Fassung, deren zweite bis vierte Strophe von Marie Luise Thurmair stammen – ebenfalls im Stammteil. In der alten Ausgabe des Gotteslob steht das Lied unter der Nummer 668 und in der aktuellen Ausgabe unter der Nummer 84 in der Rubrik „Gesänge, Morgen“. Dass Morgenglanz der Ewigkeit aus einer 1684 erstmals im Druck erschienenen umfangreichen Sammlung mit aufeinander aufbauenden Teilen und zahlreichen Gesängen stammt, dem Neuen Helicon mit seinen Neun Musen, geriet bei dieser selektiven Rezeption eines einzelnen Liedes (dessen Text darüber hinaus verändert wurde und das mit einer neuen Melodie von Johann Rudolf Ahle versehen wurde) aus dem Blickfeld. Die Quellenangaben der Gesangbücher enthalten jedenfalls keinen Hinweis auf den Neuen Helicon, innerhalb dessen das Lied erstmals gedruckt wurde. Nur das korrekte Erscheinungsdatum des Erstdruckes wird – immerhin – angegeben. Dass das beliebte Lied sich gleichwohl als für den Gemeindegesang zu sperrig erwies, zeigen die Veränderungen, die am Text
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vorgenommen wurden, bis hin zur Neudichtung dreier Strophen in der Fassung des Gotteslob. Ein anderes Lied Knorr von Rosenroths, Höchster Formirer der löblichsten Dinge, das sich ebenfalls im Neuen Helicon findet, und auch als geistliches Lied rezipiert wurde, geriet wohl deshalb inzwischen in Vergessenheit. Dass der Neue Helicon jetzt in einer kritischen Neuausgabe von Rosmarie Zeller und Wolfgang Hirschmann wieder zugänglich ist, hilft den Kontext wieder in Erinnerung zu rufen, aus dem herausgelöst Morgenglanz der Ewigkeit seinen Weg in die Gemeindegesangbücher fand, und erinnert an das Werk eines Autors, der vor der Genie-Epoche seine Dichtung in den Nebenstunden betrieb, die seine Tätigkeit als Hofrat am Hof des Pfalzgrafen Christian August von Sulzbach ihm übrig ließ. Seine Werke entstanden oft anlassbezogen wie das Conjugium Phoebi & Palladis (2000 in einer Leseausgabe von Italo Michele Battafarano neu ediert) zur Hochzeit des späteren Kaisers Leopold I. mit einer Verwandten des Sulzbacher Hofs. Der Neue Helicon, benannt nach dem ursprünglichen Sitz der Musen in der antiken Mythologie, verdankt seine Veröffentlichung dagegen, wenn man den Worten Knorr von Rosenroths Glauben schenken mag, einem Freund, der die Texte ohne sein Wissen an die Öffentlichkeit gegeben habe (vgl. in der vorliegenden Edition 213). Die Herausgeberin Rosmarie Zeller vermutet in dem „Freund“ Franciscus Mercurius van Helmont (1614–1699) und schreibt ihm auch die Anordnung – und somit ein wesentliches Element des Werkes – zu (213f.). Der Neue Helicon will seinen Lesern, wie bereits aus seinem Titel hervorgeht, die „Erkäntniß der wahren Glückseligkeit / und der Unglückseligkeit falscher Güter“ (5) zeigen und sie dazu anleiten „zur wahren Glückseligkeit zu gelangen / und sich in derselben zu erhalten“ (ebd.). Diesem Ziel dient ein vierstufiger Aufbau, der vom – in sich ebenfalls untergliederten – ersten Teil „Erkäntnis der Glückseligkeit“ (8–16) über den „Ander Theil. Erkäntnus der Unglückseligkeit falscher Güter“ (17–44) und den dritten Teil „Von den Mitteln zur wahren Glückseligkeit zu gelangen“ (45–88) bis hin zu dem kurzen vierten Teil „Von den Mitteln sich in wahrer Glückseligkeit zu erhalten“ (89–106) reicht, innerhalb dessen sich unter der Nummer LXI. und dem Titel „MorgenAndacht“ das Lied Morgen-Glantz der Ewigkeit findet. Es folgt ein „Anhang etlicher Geistreicher Lieder“ (107–120) sowie eine „Nach-Schrifft / An Die Wohl-Edelgebohrne Frau Anna Sophia K. v. R. Gebohrne P. v. H. auff A. und H. Meine Hertz-vertraute Ehe-Liebste“ (121–147) mit dem geistlichen Lustspiel Von der Vermählung Christi mit der Seelen zum Geburtstag von Maria Elisabeths, Herzogin von Sachsen-Coburg. Die ersten beiden Teile lehnen sich – so Rosmarie Zeller – an die „Abwertung der irdischen Güter“ (214) in der bekannten spätantiken Schrift De Consolatio Philosophiae des Boethius an. Zeller betont den großen Unterschied zwischen dem Neuen Helicon und traditionellen zeitgenössischen Liederbüchern, der daher rührt, dass sich Knorr in der Gestaltung der Lieder auch von kabbalistischen und alchemistischen Vorstellungen leiten ließ (215). Die Rezeption
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von Knorrs Liedern in Kirchengesangbüchern verstelle deshalb einen unvoreingenommenen Blick auf die Liedersammlung, weil sie die Rezeption in eine bestimmte – pietistische – Richtung lenke (ebd.). Nicht alle Texte des Neuen Helicon stammen aus der Feder Knorr von Rosenroths, viele basieren auf Quellen – seien es Übersetzungen, seien es Umdichtungen – ja Übersetzungen machen sogar „einen wesentlichen Teil der Sammlung“ aus (s. das Vorwort der vorliegenden Edition). Das Titelkupfer des Erstdrucks (Nürnberg 1684; Quelle A) wird in der Neuedition fotografisch abgebildet, in so hoher Qualität, dass es besser als im Original zu sehen ist und die nicht so leicht lesbaren, größtenteils in Frakturschrift gehaltenen Textelemente des Titelkupfers werden auf der dem Titelkupfer gegenüberliegenden Seite in lateinischer Schrift wiedergegeben. Auch hinsichtlich des Titelblatts wird so verfahren: Die Frakturschrift wird auf der gegenüberliegenden Seite in lateinischer Schrift wiedergegeben. Es folgen das Inhaltsverzeichnis und die Melodien und Texte. An der Neuedition der Notenschrift ist hervorzuheben, dass sie wohl in akribischer Feinarbeit mit einem hohen Transkriptionsaufwand erstellt werden musste, denn während der Text des Erstdruckes noch verhältnismäßig gut zu lesen ist, gilt das nicht für die Noten, die aufgrund ihrer geringen Größe oft schwer erkennbar sind. Das geistliche Lustspiel aus der Nachschrift wird nicht nur in der Druckfassung, sondern auch in seiner davon abweichenden, in der Herzog-August-Bibliothek Wolfenbüttel überlieferten handschriftlichen Überlieferung (Quelle B) ediert (149–177). Außerdem wird das Szenar der 1685 in Coburg erfolgten Aufführung zum Geburtstag von Maria Elisabeth von Sachsen-Coburg ediert (179–195). Es folgt ein Kritischer Bericht (197–210), der die Quellen dokumentiert, sämtliche überlieferte Exemplare des Erstdruckes, sowie der 1699 in Nürnberg gedruckten Titelauflage des Neuen Helicon (Quelle A1) nachweist und das Vorgehen bei der Edition der Noten erläutert, die „ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Quellennähe und benutzerfreundlicher Modernisierung“ (203) angestrebt und hierzu behutsame Änderungen vorgenommen habe, die ausführlich dokumentiert werden. Auch die wenigen erfolgten Texteingriffe, die nur bei eindeutigen Fehlern vorgenommen wurden, weist der textkritische Kommentar nach. Den Band beschließt ein Nachwort der Herausgeber, das die wichtigsten Forschungsfragen hinsichtlich des Neuen Helicons kurz umreißt. Von Rosmarie Zeller stammen darin die Abschnitte zur Verfasser- und Herausgeberfrage, zu Inhalt und Aufbau des Werkes sowie zu seiner Rezeption und der des geistlichen Lustspiels aus der Nachschrift. Wolfgang Hirschmann zeichnet für den Abschnitt „Zu den Liedsätzen“ verantwortlich. Es folgen mehrere, für die Lektüre sehr hilfreiche Register: Ein Verzeichnis weist die Lieder nach, bei denen Knorr von Rosenroth Angaben zu seinen Vorlagen gemacht hat. Ausführliche Angaben zu den einzelnen Quellen wurden in Fußnoten beigefügt. Darauf folgen Verzeichnisse der Liedanfänge und der Liedtitel sowie eine Auswahlbibliographie.
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Es ist zu hoffen, dass diese lobenswerte, gut aufgebaute, aktuellen editorischen Grundsätzen entsprechende und den neuesten Stand der Forschung zum Neuen Helicon dokumentierende Edition eine neue Wahrnehmung dieses wichtigen Werkes anregt, und dabei hilft, es losgelöst von der, ohnehin nur wenige Lieder betreffenden, Rezeption in Gesangbüchern neu zu lesen (und vielleicht auch zu singen). Wünschenswert wäre, dass die Edition darüber hinaus zu einer eingehenderen Beschäftigung mit dem Werk dieses wichtigen Barockdichters und zur Edition weiterer seiner Werke anregt, damit nicht mehr nur Morgenglanz der Ewigkeit mit Christian Knorr von Rosenroth in Verbindung gebracht wird. Sabine Gruber
Tübingen
ünde Beatrix Karnitscher: Der vergessene Spiritualist Johann Theodor von T Tschesch (1595–1649). Untersuchungen und Spurensicherung zu Leben und Werk eines religiösen Nonkonformisten. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2015 (AGP, 60). – 398 S. Die vorliegende Arbeit, die nach dem sog. Cotutelle-Verfahren 2012 gleichzeitig an der ungarischen Universität Szeged und an der Ludwig-MaximiliansUniversität München als Dissertation angenommen wurde, versteht sich als „Biographie im Format einer Monographie“ (24, 44f.). Sie setzt sich zum Ziel, durch die umfassende Analyse von Leben und Werk des Spiritualisten Johann Theodor von Tschesch eine gesicherte ‚Grundlage’ für weitere Untersuchungen, d. h. für detaillierte Interpretationen der Werke Tscheschs zu schaffen. In Abgrenzung gegen die in der Forschung „vorherrschende“ Einschätzung Tscheschs, die diesen als bloße „Begleiterscheinung“ Jacob Böhmes und damit nur „marginal“ wahrnehme, will Karnitscher, wie im Kapitel „Gang durch die (Forschungs-)Literatur“ (31–45) erläutert, Tschesch als „durchaus eigenständigen Denker“ innerhalb der „geschlossenen Tradition“ des Spiritualismus zeigen (36)1. Die Frage des Verhältnisses Tscheschs zu Jacob Böhme bleibt im gesamten Text präsent und wird wiederholt aufgenommen. Der der Biographie geltende, chronologisch angeordnete Hauptteil der Arbeit umfasst mit rund 200 Seiten die Hälfte des gesamten Texts (55–258). Darin exkursartig eingefügt sind mehrere ‚Analysen’ von Texten Tscheschs bzw. diesem zugeschriebenen Texten. Die Frage der Autorschaft bildet ein vor allem die frühen Texte Tscheschs betreffendes, stets neu zu diskutierendes Problem.
1 Nach der Diskussion verschiedener Spiritualismus-Begriffe entschließt sich Karnitscher, Tschesch ohne spezifizierenden Zusatz (wie: mystisch, ecclesial, eschatologisch u.ä.) als ‚Spiritualist’ zu bezeichnen (Einleitung, 15–24).
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Eines der Leitthemen der Biographie ist die Frömmigkeitsentwicklung Tscheschs, die zu einer fortschreitenden Entfremdung von seiner nach Abschluss des Jurastudiums 1619 aufgenommenen beruflichen Tätigkeit als Geheimer Rat – zunächst beim ‚Winterkönig’ Friedrich V. in Heidelberg, ab 1620 an den schlesischen Piastenhöfen in Liegnitz und Brieg – führt und zu wiederholten Rückzugsversuchen Anlass gab. Diese waren jedoch vorerst nicht von Dauer, weil Tschesch auf den Verdienst zum Lebensunterhalt angewiesen war. Parallel zur fortschreitenden Entfremdung von seiner beruflichen Tätigkeit entwickelt Tschesch eine zunehmend ablehnende Haltung gegenüber der institutionalisierten Kirche, die von einer zunächst überkonfessionellen zur schließlich „suprakonfessionellen“ Haltung bis zurVorstellung einer rein geistigen Kirche führt (20).Ein weiteres Leitthema bildet die Rekonstruktion von Tscheschs intellektuellem Milieu und Beziehungsnetz im Zusammenhang mit der Frage:Was machte Tschesch zum Spiritualisten (25)? Karnitscher verwertet zur Beantwortung dieser Frage eine beeindruckende Fülle, ja Überfülle von Material, wie etwa Matrikelverzeichnisse der vonTschesch besuchten Universitäten Leipzig, Marburg und Heidelberg,2 Gelegenheitsgedichte, Stammbucheinträge, Disputationsschriften und sowohl z.T. neu entdecktes handschriftlich überliefertes wie gedrucktes Briefmaterial.3 Zentrale Stationen der Biographie bilden ein lebensgefährdender, eine lebenslange Behinderung nach sich ziehender Sturz auf der Treppe des Liegnitzer Schlosses im Jahr 1621, mit dem Tschesch seine ‚geistige‘ Geburt respektive Wiedergeburt verband, und zwei persönliche Begegnungen mit Jacob Böhme 1621 und 1622 anlässlich einer Diskussion zum Thema ‚Gnadenwahl‘, aus der die gleichnamige Schrift hervorging, die Böhme selbst für eine seiner klarsten und verständlichsten hielt und Tschesch als persönliches Geschenk vermachte. Als Exempel für eine der erwähnten, in die fortlaufende Biographie eingeschobenen Werk-Analysen wähle ich eine Schrift, die 1637 ohne Ort und ohne Angabe des Autors gedruckt wurde: Trewhertzige Erinnerung / An Die Evangelische Priesterschafft In Deutschland. Gestellet im Jahr 1623. Itzt aber Da die schreckliche Zornflamme Gottes je lenger je hefftiger fortbrennet, vnd bishero bey dem mehrerntheil wenig Busse gespüret worden, dieselbe zu ermuntern, wolmeinend in Druck verfertiget [...]. Karnitschers ausführliche Analyse (97–120) gilt vor allem der Frage nach der in der Forschung bis heute umstrittenen Autorschaft und der Entstehung der Schrift, die 1646 in erweiterter, überarbeiteter Form unter dem stark abgewandelten Titel Christ-Fürstliches Bedencken und Außschreiben / Von Nothwendiger
Tscheschs Studium an der Universität Heidelberg 1618/1619 war von der Forschung bislang nicht beachtet worden (77–83). 3 Wie die Verfasserin berichtet, habe sie mithilfe spezieller Internet-Suchprogramme zum Stichwort ‚Tschesch‘ „knapp 5.000“ (!) Treffer erhalten, die sie allesamt geprüft und – sofern relevant – in die vorliegende Untersuchung einbezogen habe (25). Den sich aus der Verarbeitung einer solchen Überfülle an Informationen ergebenden Darstellungsproblemen begegnet die Verfasserin dankenswerter Weise mit ungewöhnlich häufig, selbst für kürzere Textsequenzen eingeschobenen Zusammenfassungen und Resümees. 2
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Ergreiffung der jenigen Mittel / wodurch GOTTES gerechtes Gerichte / gefasseter Zorn / vnd endliche Straffe (Uber jetzige Welt) mit rechtem Ansehen erkennet [...] von dem mit Tschesch eng befreundetet Abraham von Franckenberg mit einer Vorrede desselben nochmals herausgegeben wird. Der kirchenkritische Charakter der Treuhertzige[n] Erinnerung mag ein Grund für die anonyme Überlieferung sein. Die in der Schrift geforderte umfassende „reformirung des Lebens“, die neben den Gläubigen auch die Geistlichkeit mit einbezieht und in der Feststellung gipfelt: „durch bloße Predigten [ist] das Christenthum zu pflanzen vnmöglich“ (100), dürfte auf Seiten der Geistlichkeit auf harsche Kritik gestoßen sein. Karnitscher prüft die Frage der Autorschaft ausführlich und kommt, ohne sich zu eindeutiger Festlegung hinreißen zu lassen, zum Schluss, dass Tscheschs [Mit-] Autorschaft, neben derjenigen des Brieger Hofpredigers Augustin Fuhrmann (1591–1644), ‚wohl‘ als gesichert gelten könne. Franckenbergs neu betitelte Zweitausgabe von 1646 hat hinsichtlich der Autorschaft zu neuen Fragen und zu gelegentlichen Fehlzuschreibungen geführt, etwa durch Daniel Ehregott Colberg, der Franckenberg in seinem Hermetisch-Platonische[m] Christentum (1690/91) für den Autor der gesamten Schrift hält (107). Die gegenüber der Erstausgabe im Christ-Fürstliche[n] Bedencken vorgenommenen Bearbeitungen und Erweiterungen werden von Karnitscher in jeweils eigenen Unterkapiteln genau untersucht und in die biographischen Zusammenhänge eingefügt. Franckenbergs Zweitausgabe hat zwischen 1647 und 1735 zahlreiche Neuauflagen erfahren und dank der besonderen Anerkennung durch Philipp Jakob Spener starke Wirkungen innerhalb des Pietismus entfaltet, die Karnitscher bis zu Friedrich Christoph Oetinger verfolgt, der von Tscheschs Autorschaft überzeugt gewesen ist (105). Inhaltlich zeigt die Schrift eine große Nähe zur spätmittelalterlichen Theologia Deutsch und zu den Schriften Johann Arndts, was auch für eine weitere, wenigstens in Teilen Tschesch zugeschriebene Schrift gilt, die allerdings erst 35 Jahre nach Tscheschs Tod 1684 unter dem Titel Pfingst Erstlinge / Vorstellende eine aller Menschen ewiges Heyl höchstbetreffende Nothwendigkeit […] in Frankfurt am Main und Leipzig erschien, deren Entstehung Karnitscher aber für die dreißiger Jahre annimmt. Eines von zwei überlieferten Exemplaren dieser Sammelschrift, die lange als verschollen galt, wurde von Karnitscher in Amsterdam wieder aufgefunden (44, 137) und der vorliegenden Analyse, die wiederum in erster Linie Fragen der Autorschaft gilt, zugrunde gelegt. Tschesch sei aufgrund sprachlicher Merkmale sehr wahrscheinlich der Autor eines längeren, in sich abgeschlosssenen Traktats mit dem Titel Pfingst Erstlinge, der für die ganze Sammlung namengebend wurde. Dieser enthalte mit den zentralen Begriffen „Gelassenheit“ und „Wiedergeburt“ den „Kern“ von Tscheschs „Frömmigkeitsvorstellung“ und könne nicht eindeutig und ausschließlich auf die Wirkung Böhmes zurückgeführt werden, zumal für Böhme spezifische Termini wie „Ungrund“ nicht vorkämen (148f.). Die letzte zu Lebzeiten Tscheschs erschienene Schrift – Kurtzer und einfältiger Bericht von der einigen wahren Religion […] – wurde 1646 in Amsterdam und in erweiterter und inhaltlich abgewandelter Form ein zweites Mal 1690 in Duis-
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burg und in Frankfurt gedruckt. Karnitscher untersucht minutiös die erheblichen Differenzen zwischen den beiden Ausgaben und kann dabei etliche Unklarheiten und Fehler der Forschungsliteratur aufzeigen und klären (173–198). Mit dieser Schrift hat Tscheschs Frömmigkeitsentwicklung jene Position erreicht, für die Karnitscher die Bezeichnung „suprakonfessionell“ eingeführt hat, d. h. die institutionalisierte, sichtbare Kirche wird abgelehnt im Streben nach einem konfessionsunabhängigen, rein geistigen Kirchenverständnis, „das auch für die frommen Türken einen Platz vorsieht“, womit sich Tschesch der auch von Böhme vertretenen Position anschließt (196f.). Nach dem Tod seines mächtigsten Gönners, des Herzogs Johann Christian von Brieg (1591–1639), zieht sich Tschesch endgültig von allen weltlichen Geschäften zurück und verbringt seine letzten zehn Lebensjahre an verschiedenen europäischen Orten, u. a. 1642 bis 1646 in Amsterdam, bis er 1649 völlig verarmt in Elbing stirbt. In Amsterdam entstehen und erscheinen jene drei Schriften Tscheschs, die sich ausdrücklich mit Böhme beschäftigen: Die zunächst in holländischer Sprache verfasste erste Apologia, in der Tschesch Böhme gegen Angriffe des holländischen Theologen David Gilbert verteidigt, die 1644 erscheint und eine rege Diskussion zwischen Böhme-Anhängern und Gegnern auslöst, und die erweiterte deutsche Fassung, die erst 32 Jahre nach Tscheschs Tod 1676 unter dem Titel Zwiefache Apologia, und Christliche Verantwortung auf die fünf lästerlichen Hauptpuncte Davids Gilberti [...] Wider die Person und Schriften des theueren und hocherleuchteten Manns Jacob Böhmens […] gedruckt wird. Ohne dass Karnitscher auf Inhalte näher eingeht gelingt es ihr, die komplizierte Entstehungs- und Überlieferungsgeschichte der Zwiefache[n] Apologia zu entwirren (223–227). Die dritte Schrift Tscheschs, die sein Verhältnis zu Jacob Böhme betrifft, erschien ebenfalls postum 1679 in Amsterdam unter dem Titel Einleitung in dem Edlen Lielien-Zweig des Grundes / der Schrifften des Hocherleuchten Jacob Böhmens /geschrieben an Heinricum Prunnium [...] durch Johannes Theodorum von Tschesch. Karnitscher kann nachweisen, dass die im Titel angedeutete Briefstruktur nicht fingiert ist, sondern dass die Schrift aus tatsächlich zwischen Tschesch und Heinrich Prunius gewechselten Briefen hervorgegangen ist. Prunius, mit dem Tschesch seit Studienzeiten befreundet war, ist es auch gewesen, der Tschesch um Hilfe zum Verständnis der schwierigen Texte Böhmes gebeten hatte. Das Ergebnis ist die 1641/1642 entstandene Einleitung, um deren Drucklegung Tschesch sich in den Vierzigerjahren vergeblich bemühte. Karnitscher formuliert folgendes Problem: Obwohl sich Tschesch aufgrund von Briefzeugnissen nachweislich in den Jahren 1634/1635 mit Böhme beschäftigte, lasse sich erst ab 1641, also zur Abfassungszeit der Einleitung, eine erneute, intensiver werdende Beschäftigung mit Böhme feststellen, und sie stellt die Frage: „Wie lässt sich dieser Bruch4 in Tscheschs [Böhme-] Rezeption erklären?“ (233) Karnit-
4 Hervorhebung d. Vfn. – Es ist nicht ganz klar, was der Terminus „Bruch“ hier bedeutet: Abbruch, Unterbruch,Veränderung in der Art und Weise der Rezeption?
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scher sieht einen ursächlichen Zuammenhang zwischen Tscheschs intensiver Beschäftigung mit Böhme einerseits und Tscheschs seit den Dreißigerjahren andauernden, jedoch vergeblichen Bemühungen um die Drucklegung der eigenen Werke andererseits. Dieser pragmatische Aspekt wird wiederholt betont, reicht aber zur Beantwortung der gestellten Frage kaum aus. Daneben sei die Rolle von Prunius nicht zu unterschätzen, der Tschesch als Böhmeexperten betrachtet und den Freund um Verständnishilfen bittet. – Vielleicht kann eine weitere Frage zur Erklärung der fraglichen, rund sechs Jahre andauernden Unterbrechungs in Tscheschs Böhme-Rezeption beitragen, die Frage: Welchen Böhme hat Tschesch rezipiert? Ein etwas genauerer Blick in den Text der Einleitung selbst ergibt folgendes Bild: Wie Tschesch in seiner Einleitung in dem Edlen Lielien-Zweig berichtet, hätten ihn bei seiner Böhmelektüre Zweifel hinsichtlich der Vereinbarkeit der böhmeschen Lehre mit der Bibel befallen, weshalb er seine Böhmelektüre für einige Zeit ausgesetzt habe (L 41f.).5 Fortgesetzte Lektüre der Bibel, die als „Ancker der Seele“ (L 57) unabdingbar bleibe, sowie erneute Böhmelektüre lassen ihn seine Zweifel überwinden. Aber um welchen Preis? Als Schlüssel zum Verständnis Böhmes betrachtet Tschesch die Drei-Principien-Lehre, denn: „wer die drey Principia recht verstehet / der wird die gantze Theosophiam Jacob Böhmen leichtlich erkennen mögen.“ (L 43) Allerdings versteht Tschesch Böhmes drei Principien allein „nach dem Gleichnis der Offenbahrung der Heiligen Dreyheit“ (L 32), d. h. in einem eingeschränkten erbaulich-mystagogischen Sinn. Entsprechend gilt Tschesch die Wiedergeburt als alleiniges Ziel von Böhmes Schreiben und die Hinführung zur Wiedergeburt als Ziel der eigenen Bemühungen. Damit aber wird Böhmes Principienlehre in erheblichem Maß reduziert: Die ungeheure Dynamik von Böhmes Gestaltenbzw. Qualitätenlehre fällt ebenso weg wie die Beschreibung der Theogonie (und damit der Terminus Ungrund), der Prozess der ewigen Natur Gottes mit dem sich daraus ergebenden komplementären Verhältnis der beiden ewigen Principien Finsternis und Licht; auch Böhmes Metaphysik des Bösen fällt außer Betracht. Tschesch versteht alle drei Principien in rein geistlichem Sinn, wobei dem zweiten Princip als dem „edlen Lielien-Zweig“ der Wiedergeburt eine Vorrangstellung zukommt, woraus sich so etwas wie eine (Böhme nicht entsprechende) Rangordnung der Principien ergibt. Böhme erscheint als Medium und Werkzeug ‚fortschreitender Offenbarung‘, Johann Arndt als ein „edler Vorstern“ (L 79), die spätmittelalterliche Theologia mystica (Theologia Deutsch) als „Vorbereitung“ für Böhmes theologia principii secundi als „der recht Geistlichen Theologiae passivae [...].“ (L 59f.) Es sind die in der Tradition der Mystik, insbesondere der Theologia Deutsch stehenden Schriften von Böhmes Weg zu Christo, die Tschesch vor allem rezipiert und durch sein spezifisches Verständnis der Principienlehre mit der Bibel in Einklang zu bringen versucht (L 81). Diese
Seitenverweise im Fließtext (L xx) beziehen sich auf Tscheschs Edlen Lielien-Zweig.
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durchaus originelle Böhme-Sicht, die sich in den Jahren des vermeintlichen „Bruchs“ seiner Böhme-Rezeption entwickelt haben mag, hat die Anerkennung Friedrich Christoph Oetingers und damit den Weg in den Pietismus gefunden. Oetinger hat Tscheschs Lielien-Zweig im Rahmen seiner Schrift Aufmunternde Gründe zu Lesung der Schrifften Jacob Böhmes 1731 erneut veröffentlicht und weiteren Kreisen bekannt gemacht. Karnitscher hat die von Oetinger vorgenommenen Veränderungen gegenüber den beiden Vorgänger-Auflagen akribisch untersucht (219f.) und damit die Grundlage für weitergehende Interpretationen geschaffen. Der letzte nicht-chronologische Teil der Arbeit untersucht unter dem Titel „Zusammenschau“ (259–323) in einem ersten Kapitel Tscheschs Lektüren und Bibliothek, wobei sich konkrete Hinweise auf Tscheschs Lektüren vor allem aus seinen lateinischen Epigrammen ergeben,6 die sich auch sonst als fruchtbare Quelle für biographische Zusammenhänge erweisen. Tscheschs umfangreiche Bibliothek ist Zeugnis seiner außerordentlich weit gespannten Gelehrsamkeit. Ein weiteres Kapitel stellt Tscheschs Bekanntennetzwerk nochmals im Überblick dar, wobei sich naturgemäß zahlreiche Wiederholungen ergeben (292– 308). Die abschließende kritische Sichtung der Textgrundlagen fasst die äußerst schwierige Quellenlage der Texte Tscheschs zusammen und endet mit dem Versuch einer Rekonstruktion der zahlreichen, heute nicht mehr auffindbaren Texte. Um „dem Reichtum an Materie Übersichtlichkeit zu verleihen“ (28), folgen eine Reihe von Anhängen, welche die Ergebnisse der ‚Spurensicherung‘ in verschiedenen Schemata und Tabellen erfassen und durch ein Personenregister ergänzt werden. Das Ganze bietet damit ein vollkommenes Nachschlagewerk für alle sachlichen Fragen, die sich im Zusammenhang mit dem aus unverdienter Vergessenheit geholten Spiritualisten Johann Theodor von Tschesch ergeben mögen. Weitere Untersuchungen zum geistigen Profil Tscheschs und seiner Rezeption im Pietismus sowie detaillierte Interpretationen seiner Werke können und werden dank Karnitschers sorgfältiger ‚Grundlagenforschung‘ nun folgen. Sibylle Rusterholz
Bern
Daniel Eißner: Erweckte Handwerker im Umfeld des Pietismus. Zur religiösen Selbstermächtigung in der Frühen Neuzeit. Halle 2016 (Hallesche Forschungen, 43). – IX, 384 S. Fächerübergreifende Dissertationen lassen aufhorchen, sie wecken besondere Erwartungen und Fragen. So auch die vorliegende Arbeit, 2012 eingereicht in der Leipziger Fakultät für Geschichte, Kunst- und Orientwissenschaften, von
6 Vitae cvm Christo, sive Epigrammatum, centuriae XII, o. O. 1644. Zu den Epigrammen als Quellen der Biographie vgl. S. 50ff.
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Thomas Hase angeregt und betreut und von Udo Sträter mitbegutachtet. Entstanden und gefördert war die Arbeit im Forschungsschwerpunkt des Landes Sachsen-Anhalt „Aufklärung – Religion – Wissen“, angesiedelt an der MLU Halle-Wittenberg. In einem solchen, wahrhaft interdisziplinären Forschungskontext dürfen – nein, müssen neue Forschungsfragen erwartet, gestellt und beantwortet werden. Daniel Eißner gliedert seine Arbeit in drei große Teile „Fallgeschichten, Kontexte, Konfliktverläufe“, denen eine problematisierende Einleitung, gleichsam als Verortung im Feld, vorangestellt ist. Seine Koordinaten heißen Religionswissenschaft und Pietismusforschung, sie kennzeichnen Herkunft und Ziele seiner Fragestellung.Vertiefungen zu Forschungsstand, Methoden, Quellen und Hypothesen folgen, sie werden in ersten Befunden und Fragestellungen gebündelt („Devianz, Nonkonformismus oder religiöse Auffälligkeit?“), Plan und Aufbau der Arbeit werden skizziert. Teil I präsentiert „Fallgeschichten“ (27–180) in vier eindrücklichen Mikrostudien. Zu Beginn die Geschichte des frommen Hufschmieds Christoph Tostlöwe aus Böhlitz, der 1695 in Konflikt mit seinem Pfarrer gerät (27–80). Eißner tituliert ihn als „Ein prominenter Unbekannter“: seit 1863 sei er „fester Bestandteil der Forschungsliteratur zur Geschichte des Pietismus“; dies erwecke den „Eindruck, es wäre (dazu) schon alles gesagt [...] handle sich um eine Marginalie“ (28). Doch gerade hieran entwickelt Eißner – in bestem Sinne exemplarisch! – seine akribisch fundierte, gleichermaßen breite wie mikroskopisch scharfe Vorgehensweise. Im Kontext von Vita und Umfeld, zwischen „Pietismus in Leipzig“ und „Erste Konflikte auf dem Dorfe“ (37–48) entfaltet sich so ein packendes Szenario, fokussiert auf „Selbststilisierung und missionarisches Sendungsbewußtsein“ und das „Selbstbild eines frommen Außenseiters“ (76f.). Die zweite, kürzere Geschichte des Schuhmachers Leicht spielt im „evangelischen Zion an der Elbe“. Spener, seit 1686 Oberhofprediger, „in der Dresdner Pfarrerschaft weitgehend isoliert“, gelang eine „Schadensbegrenzung“: ein Erlass zerschlug 1690 zwar den Pietismus an der Leipziger Universität, nicht aber die fromme Bewegung am Ort: „Von Ruhe konnte man nur bis 1697 sprechen“. Nach der heimlichen Konversion des Kurfürsten waren „in der Hauptstadt des Mutterlandes der Reformation [...] nicht nur die Katholiken etabliert, sondern auch den Reformierten und [...] Juden eingeschränkte Kultusfreiheit gewährt“ (84f.). Als Konventikel in Schuster Leichts Stube ruchbar werden, kommt es zu Verhören der Frommen; aktenkundig sind ein Silberarbeiter, ein Kürschnermeister, ein Büchsenschäfter, ein Bäcker, ein Schneider, ein Uhrmacher und eine Goldschmiedemeistersgattin. Die bisher in der Forschung geglaubte Beilegung („sie seien keine Separatisten“) ist laut Eißner nur vermeintlich das Ende der Geschichte. Die „Vernetzung der Dresdner Pietisten mit anderen ‚Brüdern und Schwestern‘ im Geiste“, besonders aber mit August Hermann Francke in Halle blieb bestehen, sie lässt Rückschlüsse zu auf Netzwerke und regionale Strukturen, auf Lektüre und Bücherbeschaffung – über die scheinbar folgenlosen Dresdner Vorgänge von 1699 hinaus.
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Der dritte Fall rekonstruiert Vorkommnisse in Coburg zwischen 1704 und 1715 „im Anschluss an einen Aufenthalt des Handwerkerpropheten Rosenbach“ (25). Auch hier sind die Schuster die Hauptakteure in langanhaltenden Konflikten zwischen Kirche, Rat der Stadt und Zunft. Im Fall des Schuhmachermeisters Brückner geht es um in Saalfeld gekaufte Bücher (u. a. von Jakob Böhme), die konfisziert werden. Brückner drängt mehrfach beim Konsistorium auf Rückgabe, vergebens. In einer Abendmahls- und Beichtvermahnung (er hätte keinen „Beichtvater außer Gott im Himmel!“ [110]) bleibt Brückner ebenso „renitent“ wie die vier Coburger „Schuhknechte“. Es geht dabei – auch – um Zunft- und Bürgerrecht und um „Copulation“; es kommt zu Inhaftierungen und, zwischen Gotha und Saalfeld, zu stetem Aufschub und Blockierung seitens der Behörden. Ein eingefordertes Gutachten der Universität Jena 1713 rät zur Beilegung und sanften Vermittlung, doch kein sanftmütig-williger Pfarrer findet sich.Vor ihrer geplanten „Ausschaffung“ überreichen die Schuster ein „73-seitiges (!) Glaubensbekenntnis“, es ist „eine Rechtfertigungsschrift mit Angriffen gegen die Pfarrer“. 1714 weist Herzog Friedrich der Gesamtregierung die Ausweisung innert vier Wochen an, worauf die Schuster „spotteten, sie machten keine Anstalten zur Auswanderung, begannen nicht ihre Liegenschaften zu veräußern.“ (156f.) Auf die Haftandrohung folgt ihre Ausweisung. Das vierte Beispiel führt nach Ohrdruf, „in ernestinische Lande“. Es geht um den Diakon Fabricius und um einen Zeugmacher samt seinen Gesellen (162– 180). 1709 werden „Betstunden“ in des Fabricius’ Haus bekannt, die er nicht einzustellen gedenkt. Die Obrigkeit der vormaligen Herrschaft Gleichen saß weitab, in den Hohenlohischen Residenzen Langenburg und Öhringen; dort wurden Vorgänge und Entscheidungen über Jahre verschleppt – und ohne ein „gemeinsames Votum der beiden gräflichen Kanzleien waren die lokalen Behörden wie gelähmt“. Superintendenten und Pfarrer rieben sich in den langanhaltenden Streitereien mit Sakramentsverächtern und Gottesdienstverweigerern förmlich auf.“ Mit Fabricius’ Tod verlieren sich die Spuren (176f.). Teil II, den vier Fallbeispielen folgend, ist m.E. Kern und Hauptgewicht der Arbeit. Als „Kontexte und Faktoren“ der vorausgehenden Fallstudien tituliert, wird deren dichte Beschreibung nun auf eine zweite Weise befragt: auf ihre Probleme und deren Strukturen im kulturhistorischen Kontext. So wird synoptisch, klug und umfassend gebündelt, was in der ‚bloßen‘ Narration der Einzelfälle oft nicht klar erkennbar ist. Es geht um Zunft- und Dorfgeschichte („Sozio-ökonomisches Umfeld“ der blasse Titel, II.1, 181–190), um „Frühneuzeitliche Verregelung“ in Alltagsordnungen, um Anzeigen, Streit und Ehre (II.2, 191–203) und um Bildung und „Gelehrsamkeit frühneuzeitlicher Handwerker“ (II.3., 209–235). Das Kapitel „Pietismus und Bildung“ (3.6., 232) führt zu der Frage „Religiöse Literatur und ihre Wirkungen“: Wie stand es um die Verfügbarkeit religiöser Schriften um 1700, um „Motivationen zum Gebrauch“, um „Praktische Wirkungen religiöser Lektüre“? Wer waren und wie wirkten Multiplikatoren? Anreger und Abhängigkeiten, Erfolge und Einschränkungen von „Religiöser Schriftstellerei“ werden – auf breiter Quellen-
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und Forschungsgrundlage, oft in Rückbindung an die Fallbeispiele von Teil I – nun erkennbar in ihren Strukturen und jeweiligen historischen Kontexten. In Teil „III Konfliktverläufe“ (279–337) betritt der Vf. eine neue, andere Ebene: auf die Netzwerk-Studien und Strukturanalysen davor folgt hier eine Zusammenführung mit dem Ziel hermeneutischer Interpretation. Auf die zuvor präsentierten Szenarien der Amtsleute, Pfarrer, Schulmeister und frommen Laien, der Schuster, Strumpfwirker, Hufschmiede, Buchbinder und Perückenmacher im Teil I und auf die Ergründung ihrer religiösen Motive und Wirkweisen in Teil II folgt nun (gleichsam als Synthese) eine religionswissenschaftlich breite Ausleuchtung und Deutung. Die „Handwerkerpropheten“ um 1700, so das Fazit des Vf., „stellten mit Sicherheit ein Extrem dar und können nicht als repräsentativ für die Religiosität frühneuzeitlicher Gewerbetreibender angesehen werden.“ Sie forderten die Amtskirche heraus mit ihrer (hier folgt der Vf. den Befunden von Ryoko Mori) „Übersteigerung des Selbstbewusstseins vom Bekehrten zum Propheten“. Um aber „aus dem Rahmen zu fallen, genügte schon die Erklärung religiöser Autonomie, um eine dynamische Eskalation des Konflikts in Gang zu bringen“: mit dieser These eröffnet der Vf. seine Konfliktstudien im Teil III. Beleuchtet werden, in der Gesamtschau der Fälle, die Ausgangssituationen, Eskalationen, Sachverhalte wie „Öffentliche Schmähung“, Kanzelbeschimpfung, Rügen, Lästern, „Ehrminderung“, „Konsequente Meidung“ vom Gottesdienst und Abendmahl ebenso wie Fälle von „temporärem Selbstausschluss“, bis hin zum „Mittel des Banns“ Sie zeigen – für beide Seiten, Amtsträger wie Laien – die diffizile Gratwanderung: „Zerrüttete der Pfarrer [...] sein Verhältnis zur Gemeinde wie zur Kirchenleitung, bedeutete das nicht selten das Ende seiner Amtszeit“ (298). Das Kapitel „Ausstieg und Reaktionen“ beleuchtet die Fragen: Was blieb am Ende? für wen, zu welchem Preis? Isolation, der Ausschluss aus der Gemeinschaft, der Familie, dem Ort, aus Traditionen, Riten, Zunftbräuchen hatte „konkrete soziale und auch ökonomische Konsequenzen“; so war etwa der „Verzicht auf das kollektive Trinken undenkbar ... Menschen, die sich der (Trink-)Exzesse enthielten und sie als unchristlich geißelten, (wurden) kaum als gesellschaftsfähig erachtet.“ (300) Ehrminderung und Ehrverlust hatten (auch auf der Folie der klar definierten und praktizierten „Unehrlichen Berufe“) oft existentielle Folgen, sie waren gefürchtet. Aber auch der „ethische Rigorismus der Laien war sozial unverträglich“, die fromme „Selbststilisierung und der ,Adel der Verfolgung‘ hatten ihre Grenzen, zeigten Doppelgesichter – waren sie doch eng eingebunden in den Kontext der Alltagsordnung, die für Weltkinder, Unfromme und Fromme gleichermaßen galt. Erweckung und Erbauung, die „Distanz zur Welt“, das Gefühl der Erwählung und eine „pietistische Bekenntniskultur“ als „Alternativkultur beruhte auf der klaren Dichotomie zwischen den ‚Wiedergeborenen‘ und den ‚Weltkindern‘ [...]. Die Pietisten nahmen also die Stigmatisierung und ihre Kriminalisierung an [..., denn Geborgenheit,] Trost und chiliastische Hoffnung waren der Lohn,Verfolgung und Anfechtungen galten als Prüfungen [, als] sichere Zeichen der Endzeit“. Die ausgetauschten Besuche, Briefe und
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Konventikel „machten aus der ‚imagined community‘ eine soziale Tatsache“ (310f.). „Die Separation und ihre Folgen“ , Blicke auf „Toleranz und ihre Grenzen“ (das heißt nach adligen „Zufluchtsorten“ etwa in der Wetterau, in ernestinischen und dänischen Landen, wobei auch die ‚Grenzüberschreitung‘ der Regelungen von 1555 und 1648 thematisiert werden) und auf den „steinigen Weg der Rückkehr“ von Separatisten – er kam „in den Schoß der Kirche und Gemeinde einer Demutstat gleich, einer Form der Selbsterniedrigung“ (325). Diese kleinen Kapitel am Ende münden in die Frage nach den Alternativen „Überwindung oder Konsequenz“.Verweigerte man die Rückkehr, drohte ein unehrliches Begräbnis ohne Riten.“ (326) In seinem „Beschluß“ (329–338) formuliert der Vf. das Fazit der Arbeit und – genuines Merkmal der Disziplin Religionswissenschaft – er stellt vorsichtig Fragen aus der Geschichte an die Gegenwart: an moderne Sinnsucher, Eifernde, Separierende, Evangelikale, i.e. an heutige ‚Pietisten‘ und an die Kirchen. Besonders beeindruckend und nützlich ist – in der ganzen Arbeit, insbesondere aber in den nach Strukturen und Interpretationen fragenden Teilen II und III – das auffällig breite, klug selektierte und stets souverän diskutierte ‚Unterfutter‘ (i.w.S.!) in den umfangreichen Fußnoten; dies nicht, wie so oft bei Dissertationen mit aufgeblähten Bibliographien zu beklagen, als ‚Imponiergehabe‘, sondern zu stetem Kontext, zu Vergleich und ggf. Korrektur. Hieran zeigt sich eine äußerst kenntnisreiche und sorgfältig interdisziplinär ausgreifende Verankerung der Arbeit Eißners – im großen ‚Meer‘ der alten und neuen Pietismusforschung ebenso wie in der klug ausgewählten (und auch genutzten!) Sekundärliteratur. „Religiöse Selbstermächtigung“ ist die zentrale Kategorie der Arbeit, ihr Schlüsselbegriff und ihre Fragestellung. Im Klappentext definiert als „Emanzipation von vorgegebener religiöser Lehre und Praxis und [...] individuelle Aneignung religiöser Inhalte durch Laien“, sei sie „kein ausschließliches Phänomen der Moderne. Schon in der Frühen Neuzeit (,) der Vormoderne gab es“ sie.Wohl wahr – doch die Ansätze von Religionswissenschaft und Religionsgeschichte gilt es hier zu unterscheiden, auch aus Sicht einer historisch vergleichenden Kulturwissenschaft: denn sie gab es zu allen Zeiten, in allen Kulturen und Religionen. Die Frage ist nur, was aus gesellschaftlicher Sicht wahrgenommen, auch ‚für wahr‘ genommen, aus wissenschaftlichen Interessen heraus wann wie erkannt, ‚erlaubt‘ und erforscht wurde. Das gilt es noch genauer zu befragen und zu interpretieren, interdisziplinär weiterzuführen. Das streckenweise mühsam zu lesende Einleitungskapitel zum Forschungsstand ist (wenngleich vermeintlich ‚Pflicht‘ bei Dissertationen) gibt dafür Belege; etwa bei den Begriffen „Volkskultur und Volksfrömmigkeit“ etwa sind in der Volkskunde, definiert als historisch-kritische Kulturwissenschaft, ad acta gelegt, werden allenfalls als zeitgenössische Begriffe genutzt; vgl. Anm. 65, 17). Oder bei den gelegentlich auftauchenden „Desideraten“ (etwa 316ff.), die im Umfeld von Heide Wunder vielfach eingelöst sind. Den Gesamteindruck aber beeinträchtigen solche Mar-
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ginalia nicht. Die fraglos herausragende und erkenntnisreiche, auch methodisch Maßstäbe setzende Studie von Daniel Eißner gibt darauf, als religionswissenschaftlich fundierter Beitrag zur Pietismusforschung und -geschichte, neue Anregungen und Antworten. Christel Köhle-Hezinger
Esslingen, Jena
Elizabeth Harding: Der Gelehrte im Haus. Ehe, Familie und Haushalt in der Standeskultur der frühneuzeitlichen Universität Helmstedt. Wiesbaden: Harrassowitz Verlag 2014 (Wolfenbütteler Forschungen, 139). – 388 S.; Abb. Als zentrale These der hier zu besprechenden Studie Der Gelehrte im Haus. Ehe, Familie und Haushalt in der Standeskultur der frühneuzeitlichen Universität Helmstedt benennt die Autorin Elizabeth Harding, „dass die vermeintlich ‚privaten‘ Themenbereiche Ehe, Familie und Haushalt fundamental für die Standeskonstituierung der Universitätsprofessoren waren“ (12) und dass die von ihr beschriebenen Veränderungen von Familien- und Ehekonzeptionen zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert gerade durch diese funktionale Perspektive erklärbar werden. Die Universität Helmstedt erweist sich für eine historiographische Dekonstruktion der Kategorien „privat“ und „öffentlich“ in dreierlei Hinsicht als Glücksfall. Zum einen wurde sie von den Landesherrn dezidiert als eine protestantische Institution gegründet und kann bis wenigstens ins späte 17. Jahrhundert als eine der einflussreichsten protestantischen Landesuniversitäten gelten, weswegen von einem Einfluss eines protestantisch-konfessionell geprägten Ehe- und Familienverständnisses ausgegangen werden kann (vgl. 32). Zum zweiten kann sowohl der Forschungs- als auch der Quellenstand als durchaus günstig angesehen werden (vgl. 31f.). Zuletzt kann aus der Perspektive der Historikerin auch der Umstand glücklich genannt werden, dass sich die Universität spätestens seit Ende des 18. Jahrhunderts in einer prekären Lage befand – die Schließung erfolgte dann 1810 –, die sich in einem „zunehmenden Krisenbewusstsein“ (30) auf die Universitätsangehörigen übertrug. Glücklich ist dies deshalb, da sich die Universitätsangehörigen in einer existentiellen Weise in ihrer Berufsausübung bedroht sahen und so jegliches Verhalten als entweder die eigene Position stabilisierend oder destabilisierend wahrnehmen mussten. Als theoretischen Zugang wählt die Autorin dahingehend die Analyse des Verhaltens der Gelehrten und die Deutung desselben in Bezug auf deren ständische Positionierung. So richtet sie – nach einleitenden Bemerkungen – ihren Blick in einem ersten Abschnitt auf die ökonomischen Rahmenbedingungen der gelehrten Standesrepräsentation und fragt hier bereits nach der Rolle der Ehepartnerinnen bzw. Familienangehörigen der Gelehrten. Die Frage nach der wirtschaftlichen Grundlage ist vor allem deshalb virulent, da
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die Neugründung der Universität Helmstedt in eine Phase fiel, in der Universitäten sich nicht mehr einfach durch Pfründe finanzierten, sondern der Institution ein Totalvermögen übertragen wurde, aus dem heraus die Besoldungen zu bestreiten waren, wobei der Landesherr die Gehaltshöhen festlegte. Der Typus eines für die Universität festgelegten Etats der fürstlichen Kammer entstand erst später (so etwa bei der Gründung der Universität Göttingen 1737) (vgl. 33f.). Diesen Finanztyp einer Mischung aus übertragenem Vermögen und finanzpolitischem Eingriff des Landesherrn, der zu einer „sehr individuell[en] und kaum verlässlich[en]“ (35) Vergütung führte, behielt die Universität Helmstedt über weite Teile ihrer Geschichte grundsätzlich bei. Die Autorin zeigt nun, dass dies aber mitnichten als einfache Willkürpolitik der Landesherren anzusehen ist, sondern dass sich dieses System in die, aus vielen anderen Zusammenhängen bereits bekannte, frühneuzeitliche Tauschlogik einordnet. Denn zum einen gab es trotz hoher Variabilität für die Dotierungen durchaus „gewisse Richtwerte“ (40) und zum anderen, deutlich wichtiger, existierten für die Gelehrten aufgrund der der universitären Korporation und ihren Mitgliedern zugesprochenen Privilegien große Spielräume, um sich Zusatzeinkünfte zu erwirtschaften:Tischgemeinschaften für Studenten, Hörer- und Promotionsgelder, aber auch diverse Zusatzämter etwa als Stadtkirchenprediger oder fürstliche Rechtsberater sicherten den Gelehrten insgesamt ihr Auskommen. Für die von der Autorin vertretene These ist nun die Beobachtung entscheidend, dass sich über den Untersuchungszeitraum hinweg hinsichtlich dieser ökonomischen Rahmenbedingungen gewisse „Formalisierungs- und Generalisierungstendenzen“ (68 et passim) erkennen lassen, die „für die Dozenten eine größere Entlastung bei Aushandlungsprozessen und eine Sichtund Planbarkeit ihrer monetären Einkünfte bedeutete[n]“ (64). Dies gilt ganz besonders mit Blick auf die eigentliche Besoldung der Professoren durch den Landesherrn. Damit einher ging der zunehmende Trend, im Professor den „Alleinernährer“ (71) seiner Familie zu sehen – eine Vorstellung, die im Rahmen eines immer stärker in ökonomischen Kategorien geführten Diskurses über die Ehe dazu führte, dass „[s]päte Ehen und Ehelosigkeit bei diesem Stand [sc. bei den Gelehrten] dadurch ökonomisch begründet [erschienen].“ (78) Dies steht in deutlichem Gegensatz zu dem konfessionelle Identität stiftenden Konzept einer (frühen) Ehe, wie sie von den Reformatoren propagiert und in der Folge gerade auch für den Gelehrtenstand in gewisser Weise verbindlich wurde – eine Praxis die ihrerseits zur Abgrenzung zum bisherigen, als „altgläubig“ ausgezeichneten, Ideal des zölibatären Gelehrten diente. Harding zeigt im dritten Abschnitt ihrer Studie, dass dieses reformatorische Ehekonzept sich auch an der Universität Helmstedt nachweisen lässt: Zwar hatte sich die Ehe bei den Gelehrten am Ende des 16. Jahrhunderts in Helmstedt noch nicht gänzlich durchgesetzt, jedoch waren bereits im 17. Jahrhundert nahezu alle Professoren verheiratet, in den meisten Fällen bereits in recht jungem Alter, teilweise sogar vor ihrer Berufung auf eine Professur, mithin also vor ihrer ökonomischen Absicherung. Auffällig ist weiterhin, dass die Professoren gege-
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benenfalls nur eine sehr kurze Zeitspanne als Witwer verbrachten. Ab etwa 1700 änderte sich dies: Die Professoren heirateten deutlich später, in den meisten Fällen erst nachdem sie einen gesicherten ökonomischen Status erreicht hatten. Die Dauer der Witwerschaft verlängerte sich. Die Zahl der Gelehrten, die ehelos blieben, stieg signifikant an. Darüber hinaus zeigt die Autorin, dass eine analoge Tendenz auch mit Blick auf damals delinquentes Sexualverhalten zu erkennen ist: Zwar wurden bestimmte Vergehen (Harding untersucht hier etwa das Lösen von Verlobungen oder die Vergewaltigung und Schwängerung einer Magd) nicht direkt straffrei, jedoch „zeigt sich [im Einzelfall] vor allem im Hinblick auf das 18. Jahrhundert ein hohes Maß an Dynamik bei der Bewertung von Verstößen“ (226). So wurde etwa gegenüber den Gerichten und der Landesherrschaft das straffällige Verhalten eines Gelehrten durch dessen Universitätskollegen zunehmend als mit der Lebenspraxis eines Gelehrten vereinbar dargestellt und somit zwar keineswegs Legalität, aber doch so etwas wie sittliche Legitimität suggeriert. Daran wird deutlich, wie diese einem bestimmten Männlichkeitsideal verpflichteten Praktiken dazu dienten, den Stand des Gelehrten in einer spezifischen Weise zu inszenieren und profilieren. In gewisser Weise fand also im Laufe des Untersuchungszeitraums eine (wenn auch keinesfalls vollständige) Rückkehr zur bereits im Mittelalter vorhandenen Vorstellung des unverheirateten, nur der Wissenschaft verschriebenen Gelehrten statt – mit der entscheidenden Veränderung, dass diese Ehelosigkeit nicht zölibatär gedacht wurde, sondern vielmehr „alternative Formen der nicht-ehelichen Kohabitation“ (266) einschloss. Im zweiten Abschnitt der Studie konnte die Autorin bereits mit Hilfe der Bauforschung zeigen, dass sich die Veränderung des Gelehrtenideals auch in die Topographie des Professorenhauses eingeschrieben hat und jenes so architektonisch zu inszenieren half. So erscheint das Gelehrtenhaus im 16. und 17. Jahrhundert als Ort einer familiären Wirtschaftsgemeinschaft, in die zudem das Gesinde und die Studenten als Teil des Haushalts eingegliedert waren, wobei „die familiäre Sphäre und der studentische Wohnraum […] nicht strikt voneinander getrennt“ (93) waren und zugleich ein „bemerkenswertes Desinteresse an der Position der studentischen Stuben und der Studier- und Unterrichtszimmer“ (109) zu verzeichnen ist. Auch die räumliche Trennung zwischen Gelehrtem und Gelehrtenfamilie war kaum ausgeprägt. Die untersuchten Häuser glichen frühneuzeitlichen Bürgerhäusern der Region. Architektonisch wurde die Distinktion vom Bürgertum vor allem über Anlagen zum Bierbrauen erreicht. Es finden sich aus dieser Zeit eine Reihe von Schriftquellen, die das Bierbrauen als ein dem Adel nahestehendes Privileg darzustellen bemüht sind. Der Gelehrte wurde, so lässt sich resümieren, als Vorstand und damit Glied einer familiären Wirtschaftseinheit gedacht, die sich dem Adelsstand näher als dem Stadtbürgertum inszenierte. Die familiäre Produktionsgemeinschaft war also zentral für die Inszenierung des Gelehrten als Mitglied des Gelehrtenstandes; mithin hatte die im heutigen Denken als „privat“ gedachte Familie eine öffentlichkeitswirksame Funktion für den Gelehrten. Mit dem Übergang zum 18. Jahrhundert vollzog
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sich mit Blick auf das Professorenhaus in der Tendenz „ein Wandel von der wirtschaftlich geprägten Wohnweise hin zu der eher häuslichen Lebensgestaltung mit entsprechenden Repräsentationsmöglichkeiten“ (98). Einer größeren Anzahl an Zimmern wurden eindeutige, konkrete Funktionen zugewiesen. Zugleich entwickelte sich die Positionierung der Zimmer zu einem bedeutsamen Element in der Selbstinszenierung der Professoren: Visitenstuben wurden als Schwellenräume eingerichtet, um den Zugang zum Gelehrten zu regeln; das aufkommende Sammeln von Büchern erforderte eigene Bibliotheksräume, die zugleich der Repräsentation des Hausherrn als Gelehrter dienten; die bereits früher diskursiv geforderten Studierstuben lassen sich für diese Zeit verstärkt auch in den Grundrissen von Häusern nachweisen und ihre Positionierung im meist rückwärtigen Gebäudebereich zeigt das zunehmende Ruhebedürfnis der Gelehrten; zeitgleich nahm auch die Anzahl von Prozessen wegen Ruhestörung zwischen Gelehrten und Handwerkern zu; das Auditorium wurde ins Erdgeschoss verlagert, der Eingangsbereich der Häuser teilweise bildprogrammatisch ausgestaltet. Auch mit Blick auf die Brauanlagen zeigen sich deutliche bauliche Veränderungen: Während die Professoren diskursiv nunmehr bemüht waren, das Brauen als eine dem städtischen Handwerk zugehörige und damit ihrem Stand nicht entsprechende Tätigkeit darzustellen, weisen die Grundrisse kaum mehr die für das Brauen wichtigen architektonischen Formationen auf. Dennoch blieb Bier Distinktionsmerkmal, nunmehr durch den Import und Konsum als qualitativ hochwertig etikettierter „‚ausländischer‘ Produkte“ (125) (dies liest Harding zurecht geradezu als Paradebeispiel für Bourdieus Konzept vom ‚feinen Unterschied‘). All diese Entwicklungen ließen „die Bedeutung des Hauses als Wohn- und Wirtschaftsraum“ (110) zurücktreten und verweisen so auf ein gewandeltes Standesideal des Gelehrten. Auch die zunehmende Trennung der weiblichen und männlichen Sphäre innerhalb des Hauses zielt in dieselbe Richtung: Die Vorstellung des Gelehrten war mit einer bestimmten Vorstellung von Männlichkeit gekoppelt, die den Haushaltsvorstand als immer deutlicher von Familie und Hauswirtschaft getrennt und zurückgezogen in seine ‚eigentliche‘ Arbeit darstellte. Letztlich zeigt sich also mit Blick auf die Inszenierung des Gelehrten eine Differenzierung der Bereiche, die klassischerweise mit den Kategorien „privat“ (für die Familie) und „öffentlich“ (für seine amtliche Funktion als Professor) bezeichnet werden.Was durch Hardings Studie nun zu Recht hinterfragt wird, ist die Funktionalität des „privaten“ Bereichs mit Blick auf den „öffentlichen“ Bereich: Dieser, so zeigen die oben zusammengefassten Ausführungen, erschöpfte sich auch im 18. Jahrhundert noch eben nicht in einer „privaten“, also nur auf sich selbst bezogenen Funktion, sondern wurde vom Gelehrten durchgehend zur ständischen Repräsentation herangezogen: Der Gelehrte inszenierte sich seit der Wende zum 18. Jahrhundert gerade in Abgrenzung zum familiären Bereich des Haushaltens als einsamer, nur der Kopfarbeit verpflichteter Tätiger, für den alle ökonomischen Arbeiten nur der lebenspraktischen Ermöglichung seiner ,eigentlichen‘ Funktion dienten und damit ,uneigentliche‘ Tätigkeiten waren. Damit war er aber nicht
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nur existentiell, sondern auch ideell unbedingt von diesem Bereich abhängig. Diesem Bereich selbst kam damit eine öffentliche Funktion zu. Wie sich diese Struktur mit Blick auf die Standesrepräsentation bei unterschiedlichen Festen und Feiern auswirkte, zeichnet Harding im letzten großen Abschnitt nach. Auch hier steht am Ende das Ergebnis, dass sich der Gelehrte zunehmend (wenn auch niemals vollständig) als vom „privaten“ Bereich unabhängig zu inszenieren bemühte und stattdessen seine „umtriebige Gelehrtenbiographie“ (321) in den Fokus rückte, durch die er sich als einzig um die Wissenschaft bemüht (mit der Wissenschaft „vermählt“) darstellte – eine in Zeiten drohender Universitätsschließung politisch als wirksam erhoffte Selbstinszenierung (vgl. 292f.). Einzig anzufragen wäre mit Blick auf die Ausgangsthese m.E., ob die Ergebnisse nicht begrifflich schärfer konturiert werden müssten: Die Autorin zeigt ja gerade, dass es im Verlauf des Untersuchungszeitraums eine zunehmende Differenzierung der Bereiche der (im Verständnis der Universitätsangehörigen der damaligen Zeit) „eigentlichen“ Arbeit des Gelehrten und des (ihm) „uneigentlichen“ ökonomischen Bereichs, zu dem gewissermaßen die Ehe, die Familie und der Haushalt gehören, gegeben hat. Klassischerweise werden diese Bereiche mit den Kategorien des „Privaten“ bzw. des „Öffentlichen“ bezeichnet. Ganz falsch scheint diese Bezeichnung nicht zu sein, werden doch die haushalterischen Tätigkeiten tatsächlich wenigstens z. T. in verborgene Bereiche verlegt bzw. diese Bereiche den Blicken immer mehr entzogen, wie die sich wandelnde Haustopographie veranschaulicht. Und auch mit Blick auf den Bereich seines „öffentlichen“ Amtes lässt sich ähnliches sagen: Denn auch die Arbeitsräume des Gelehrten zogen sich ja gewissermaßen zurück und wurden mehr und mehr verborgen bzw. der Zugang zu ihnen mehr und mehr geregelt. Der „öffentliche“ Gelehrte inszenierte also sein Gelehrtentum gewissermaßen durch einen Rückzug aus einer spezifisch verstandenen Öffentlichkeit, nämlich dem selbstverständlich zur Schau gestellten Wirtschaften im Haus. Über die vielfältigen Einzelerkenntnisse hinaus legt Hardings Studie also deutlich dar, dass der „private“ Bereich sich eben nicht in seiner „privaten“ Funktion erschöpfte, sondern mit Blick auf die Standesrepräsentation des Gelehrten auch eine „öffentliche“ Funktion zugewiesen bekam bzw. trotz aller funktionaler Trennung beibehielt. Mathias Sonnleithner
Halle a.d. Saale
Kelly Joan Whitmer: The Halle Orphanage as Scientific Community. Observation, Eclecticism, and Pietism in the Early Enlightenment. Chicago:The University of Chicago Press 2015. – 202 S.; Ill. Konsequent nimmt dieses Buch von Kelly Joan Whitmer das Franckesche Projekt aus wissenschaftsgeschichtlicher Perspektive unter die Lupe. Seit vielen Jahren beschäftigt sich die heute an der University of the South in Tennessee
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lehrende Autorin mit den Franckeschen Einrichtungen. Dabei kennt sie sich im Archiv ebenso gut aus, wie im Thesenspektrum der wissenschaftsgeschichtlichen Literatur. Man kann davon ausgehen, dass es sich bei dieser Studie um ein Kondensat ihrer weitreichenden Forschungen handelt. So hat Whitmer im September 2008 an der Universität zu Vancouver ihre 450-seitige Doktorarbeit unter dem Titel „Learning to See in the Pietist Orphanage: Geometry, Philantropy and the Science of Perfection 1695–1730” vorgelegt, sie aber nicht veröffentlicht. Jetzt in vorliegender Abhandlung konzentriert sie sich auf fünf Kapitel: Aufbau einer Wissensgemeinschaft (20–37), die Aushandlung von irenischen und eklektischen Akzenten (37–60), Modelle und das versöhnende Sehen (60–86), ein Beobachter und sein Instrument, (86–108), Ausweitung des Waisenhauses (108– 130). Größere Passagen in den Abschnitten über Modellbildung sowie Eklektizismus erschienen bereits gesondert in Aufsätzen. Whitmers Text stellt eine Hommage an die von August Hermann Francke gegründete Einrichtung als Standort der Wissenserzeugung und Wissensvermittlung dar. Francke war es ein besonderes Anliegen, sich von den Schwärmereien der pietistischen Bewegungen abzugrenzen und eine Philantropie mit epistemologischen Zügen zu entwerfen, in der Wahrnehmung, Erkennen und Gefühl eine Symbiose eingehen (scientia affectiva non speculativa). Fast auf jeder Seite stellt Whitmer klar, dass „Aufklärung“ damals nur dann adäquat zu verstehen ist, wenn zwischen Wissen und Glauben eine fruchtbare Verbindung hergestellt wird. In der Beobachtung der Naturphänomene sei es stets darauf angekommen, zugleich die Liebe Gottes zu erkennen. Damit war eine spezifische Form der Anschauung verbunden, das Beobachten mit „dem inneren Auge“, was zugleich die Abgrenzung zum cartesianischen Mechanismus in sich schloss. Einzelne Männer sind es, die bei Whitmer Geschichte machen. Dabei fällt auf, dass mit Gottfried Wilhelm Leibniz (Ideengeber und Visionär), Ehrenfried Walther von Tschirnhaus (Erfinder und Mathematiker) und Christoph Eberhard (Reisender und Instrumentenbauer) Personen eine Hauptrolle spielen, die mit den Franckeschen Stiftungen bestenfalls indirekt verbunden gewesen sind. Zumindest wird deutlich, dass es Francke in der Gründungsphase seiner Einrichtung verstand, innovative wissenschaftliche Ansätze in Halle heimisch zu machen. Francke sei als Waisenhausgründer der „rising star“ gewesen und das „Waisenhaus“ habe als „cutting-edge-institution“ (126) fungiert. Hier lernte man Phänomene aus Natur und Kultur eindringlich zu beobachten, auch mit Hilfe moderner, selbst gebauter Instrumente. Universitäten und Akademien seien auf diesem Sektor bei weitem nicht so ambitioniert und flexibel gewesen. So bestimmte die Schul- und Lehrordnung von 1702 den Besuch des Naturalienkabinetts zu einem konstitutiven Bestandteil der Erziehung. Mit Hilfe von Modellen wurde den Kindern die Architektur, anhand ausgestopfter Tiere, gesammelter Steine, Muscheln und Korallen wurden Naturphänomene vermittelt. Dabei wird eine neue Art der Annäherung gegenüber den Phänomenen der Natur gepflegt, die Whitmer unter dem zeitgenössischen Begriff des Eklektizismus fasst, als „tool for assimilating perspectives and observations and a way of
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improving one’s ability to become a discriminating observer“ (17). In Halle seien Tausende versierter Beobachter herangebildet worden, die das „how to see“ (127) in den Mittelpunkt stellten. „Eklektizismus“, heutzutage eher negativ konnotiert, stellte Ende des 17. Jahrhundert eine befreiende Kategorie dar, um dem fruchtlosen Fundamentalismus in der wissenschaftlichen Diskussion eine Alternative entgegenzusetzen. Statt sich sektiererisch auf einen Standpunkt zu versteifen, sollte es von nun an darauf ankommen, die unterschiedlichen Positionen zu einem Sachproblem wie in einem Prisma aufzufächern. Modelle standen bei der eklektischen Wissensvermittlung des Halleschen Pietismus hoch im Kurs. Ausführlich geht Whitmer auf das Tempelmodell Salomons ein, das vom Modellbauer Christoph Semler entworfen und umgesetzt wurde. Seit 1718 wurde es im Naturalienkabinett des Waisenhauses gezeigt. Das Modell integrierte Vorstellungsinhalte von Juden, Protestanten, Katholiken und Heiden. Zudem rezipierte Semler Christian Wolffs geometrische Überlegungen zum Maß. Semlers Tempelmodell war als work in progress angelegt, Ziel war das perfekte Abbild. Zudem hatte es Teile, die man abnehmen konnte und es war möglich, in das Innere hineinzuschauen (74–80). Im Pietismus fiel eklektisches Gedankengut allein deswegen auf fruchtbaren Boden, weil anders es kaum möglich schien, sich aus den Fesseln der Lutherischen Orthodoxie zu lösen. „Via eclectica“ und „irenical turn“ sind zwei Seiten einer Medaille. Interessant ist nun – und das wird in Whitmers Studie immer wieder deutlich – , dass der Hallesche Pietismus diesen konsequenten Eklektizismus nicht allzu lange aushält und schon frühzeitig außerwissenschaftliche Gesichtspunkte einbezieht, wie die moralische Haltung des Forschers, um so der Gefahr des Relativismus zu entgehen.Whitmer unterscheidet zwischen einem „inklusiven“ und einem „exklusiven“ Eklektizismus (52–60). Gegen zu viel Emphase auf Mechanismus und Rationalismus müsse es ein Ausschlussprinzip geben, das in den inneren Wertmaßstäben fundiert ist. So habe Francke ab 1721 die Perspektive des Theologen Johann Franz Buddeus mit seinem „exclusionary approach to via eclectica“ bevorzugt. Letztlich sollte sich erneut ein Dogmatismus herausbilden, von dem es legitim erschien, bestimmte Richtungen des Wissenserwerbs ganz abzuweisen.Vieles deutet darauf hin, dass in Halle von offizieller Seite ein Naturverständnis zementiert worden ist, das sich unter keinen Umständen von den Wahrheiten der Bibel abkoppeln wollte. Wie sehr die Hallesche Einrichtung in den 1720er Jahren außerwissenschaftliche Gesichtspunkte zur Geltung brachte, vermag Whitmer im fünften Kapitel – „An Observer and His Instrument“ (86–108) – zu zeigen. Die Lösung des Längenproblems beschäftigte damals zahlreiche Mathematiker und Naturforscher, auch einen weit gereisten, wissbegierigen Menschen namens Christoph Eberhard mit eher loser Bindung zum Halleschen Pietismus, der sich als systematischer Beobachter magnetischer Erscheinungen einen Namen gemacht hatte. Eberhard wollte nun auf Anregung des Zaren ein Messgerät bauen, das den Längengrad durch den Neigungsgrad der Magnetnadel bestimmen sollte. Wenn auch die Wissensentwicklung schließlich andere Wege gehen
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sollte, den Längengrad zu bestimmen – mit Hilfe einer präzisen Uhr an Bord, auf der die Uhrzeit des Heimathafens eingestellt war – kann man Eberhards Magnettheorie als angewandten Eklektizismus bezeichnen, der sich über konfessionelle Grenzen hinwegsetzt. So stützte sich Eberhard auf die „inclinatory observations“ des jesuitischen Missionars François Noël. Vertreter des Halleschen Pietismus monierten an seinem Ansatz, dass er mehr von der Allkraft der Vernunft als von moralischen Prinzipien geprägt sei. So legte Eberhard auch keinen Wert auf eine Einbettung seiner Forschung in die Meistererzählung „mosaischer Physik“. Wo war das Wissen vornehmlich zu Hause? In der Kraft des Herzens und der Erweckung oder in der Kraft der Vernunft, in der theologischen Fakultät oder in der philosophischen? Der weitere Verlauf der Geschichte in der Aufklärungsepoche lässt kaum einen Zweifel zu: Dem Potenzial der Vernunft wurde immer mehr zugetraut und die Franckeschen Stiftungen verloren, je länger das 18. Jahrhundert dauerte, zunehmend den Anschluss. Die Vertreibung Wolffs durch die Theologen im Jahr 1723 sollte sich als Pyrrhus-Sieg erweisen. Der Errichtung eines „pious system of natural philosophy“ (38) in der Post-Francke-Ära, das sich Natur nicht anders als in Symbiose mit der biblischen Geschichte vorstellen konnte, war in der Hochphase der Aufklärung keine Zukunft beschieden. Zweifellos bietet Whitmers gut geschriebene bündige Studie einen geeigneten Überblick in die Franckeschen Einrichtungen im Spiegel der Wissensgeschichte. Die Autorin hat sich eine umfassende Expertise angeeignet. Bei Abhandlungen wie der von Whitmer ist Platz kostbar und es ist nicht uninteressant, wie dieser knappe Raum genutzt worden ist. So firmiert das sechste Kapitel unter dem Stichwort „Extending the Orphanage“. War in den vorherigen Kapiteln öfters von der internationalen Ausstrahlung des Halleschen Waisenhauses – nach Indien, Russland und Amerika – die Rede, geht es nun um Waisenhauseinrichtungen, die nach dem Vorbild Halles in der deutschen Provinz entstanden sind, in Langendorf (bei Weißenfels), in Zittau sowie in Züllichau (Neumark). Es ist nicht ganz klar, inwiefern dadurch für das Thema ein Mehrwert erzeugt, wie hier der Begriff der „scientific community“ fruchtbar gemacht werden kann. Im dritten Kapitel gibt Whitmer einen ausführlichen religionspolitischen Überblick über Brandenburg-Preußen seit Ende des Dreißigjährigen Krieges. Nützliches Handbuchwissen zur Auflösung des starren Konfessionalismus wird präsentiert, nichtsdestotrotz scheint die kleinteilige Schilderung eher vom Thema wegzuführen, zumal wenn der Leser vernimmt, dass die Verfasserin gar nicht oder viel zu kursorisch auf die für die Wissensgeschichte kaum zu unterschätzenden Utopieentwürfe der frühen Neuzeit eingeht. So wird die Vision der Christianapolis von Andreae mit keinem Wort erwähnt. Comenius kommt zwar öfter zu Wort, aber nicht die von ihm entworfene Pansophie als Einheitspunkt von Glauben und Wissen, um mit Hilfe universaler Bücher, universaler Schulen und einer universalen Sprache eine Generalreformation umzusetzen.
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Es kann als sicher gelten, dass sich August Hermann Francke von diesen Vordenkern anregen ließ. Das Verhältnis zwischen Leibniz und Francke scheint mir zu einvernehmlich dargestellt. Leibnizens Akademiepläne sowie Franckes Erziehungsvision konvergierten gewiss Ende des 17. Jahrhunderts, beide trafen sich im Ziel der realen Veränderung und Verbesserung der Welt. Dass aber schon damals durchaus bereits Interessengegensätze das Handeln von Francke und Leibniz prägte, thematisiert Whitmer nicht. Die leibnizsche pantheistische Harmonielehre hatte nur wenig mit Franckes auf Buße und Umkehr beruhendem Pietismus gemein. Auch für Kontakte mit China zeigte Francke wenig Interesse.Während Franckes Missionsbegriff weitaus stärker durch den Inhalt der biblischen Botschaft bestimmt war, ließ sich Leibniz in seinem Denken nicht konfessionell einengen. Whitmers Auswahl der als Motto dienenden ausführlichen Zitate, ihre Konzentration auf den Zeitraum der Frühaufklärung, die seit jeher den Halleschen Pietismus in ein positives Licht stellt, verleiht der Abhandlung ein Appeal, das nicht ganz frei von apologetischen Zügen ist. Das Cover von Whitmers Buch ziert ein Kupferstich mit der Frontalansicht des noch heute bestehenden Historischen Waisenhauses, umgeben von Schriftzügen und Girlanden. Kenner fühlen sich sogleich an das Titelbild der Propagandaschrift aus der Entstehungszeit erinnert, an die in England verlegte Pietatis Halensis. Permanent spricht Whitmer von „orphanage“, ohne diesen Kernbegriff zu reflektieren. Dass die Franckeschen Anstalten eine ausdifferenzierte Schulstadt darstellten, die sich des „Waisenhauses“ nicht zuletzt als Initialzündung und als Label bediente, muss sich der Leser zwischen den Zeilen erschließen. Obwohl Tschirnhaus, Leibniz und Eberhard nicht besonders eng mit den von Francke gegründeten Einrichtungen verbunden gewesen sind, lässt Whitmer sie ausführlich zu Wort kommen. Quellen von der unteren Ebene, die den Schulund Wissensalltag in Halle hätten freilegen können, kommen hingegen nicht zur Sprache. Wenn sie darauf hinweist, dass das „Waisenhaus“ auch nach dem Kurswechsel in den 1720er Jahren in Richtung des exklusiven Eklektizismus weiterhin als „scientific community“ fungiert hätte, allein weil Geographie, Geschichte und Geometrie intensiv gepflegt worden seien und weil dortige Lehrer des Waisenhauses auch nach der Verbannung Wolffs durch die Theologen immer noch nach methodischen Lehrbüchen des Philosophen lehrten, dann bleibt es der künftigen Forschung vorbehalten, diesen Wissensalltag zu rekonstruieren. Stefan Laube
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Berlin
Otto Teigeler: Zinzendorf als Schüler in Halle 1710–1716. Persönliches Ergehen und Präformation eines Axioms. Halle 2017 (Hallesche Forschungen, 45). – 345 S. Seit bereits einigen Jahren ist zu beobachten, dass die Zinzendorf- und Herrnhuterforschung einen enormen Aufschwung in den unterschiedlichsten Disziplinen genommen haben. Die behandelten Themen reichen von der Architektur der Herrnhuter Siedlungen, über Kirchenmusik, Liturgie, Mission in Amerika und den Überseegebieten, Lebensläufe der verschiedensten Mitglieder der Brüdergemeine bis hin zu Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf selbst (vgl. die umfangreichen Bibliografien in Unitas Fratrum – so zuletzt in: UnFr 75, 2016, 182–194). Auffällig dabei ist jedoch, dass aus theologischer beziehungsweise kirchenhistorischer Feder immer weniger Forschungsarbeiten zu diesem Themenkomplex erscheinen. Das liegt bei dem hier zu besprechenden Werk jedoch völlig anders: Diese Arbeit von Otto Teigeler, einem ausgewiesenen Kenner der Herrnhuter Theologie und Historie (vgl. seinen wichtigen Forschungsbeitrag: Die Herrnhuter in Russland. Ziel, Umfang und Ertrag ihrer Aktivitäten. Göttingen 2006 [AGP, 60]) behandelt ein bislang sehr vernachlässigtes Feld zur Biografie Zinzendorfs: die Schulzeit des jungen Grafen. Um es vorweg zu nehmen, diese Arbeit ist ein sehr gelungener Neuansatz zur Zinzendorf-Forschung und eine Fundgrube zur Jugendzeit des Grafen, die nun ein völlig neues Licht in die interessante Lebensgeschichte Zinzendorfs bringt. Otto Teigeler nimmt sich intensiv seiner Schulzeit in Halle an und fördert in seiner akribisch durchgeführten Untersuchung Bemerkenswertes zu Tage, sodass die bisherigen Forschungen und Meinungen zur Frühzeit des Gründers der Herrnhuter Brüdergemeine doch kritisch hinterfragt und an einigen Stellen korrigiert werden müssen! Der Autor stellt den Schüler Zinzendorf und seine Zeit in den Glauchaschen Anstalten in den Fokus seiner Untersuchungen – gerade diese Lebensphase im Pädagogium August Hermann Franckes bringt erstaunliche Ergebnisse zu Tage – was sich bei dem „späten Zinzendorf“ dann auch wiederfinden lässt. In sechs Hauptkapitel gliedert der Verfasser seine detaillierte Untersuchung: 1. Einleitung (1–14), 2. Zinzendorfs Schulbesuch in Halle 1710–1716 (15– 108), 3. Zinzendorfs Reden in Halle 1715/16 (109–168), 4. Positionen und Prägungen (169–279), 5. Schluss (281–292), 6. Anhang (293–345). Aus diesem Inhaltsverzeichnis geht schon deutlich hervor, wo Teigeler seine Schwerpunkte setzt: zum einen in biografischen Details über die Zeit in Halle (Kapitel 2 und 3) – zum anderen dann aber besonders im vierten Kapitel, welches die theologische Verortung und Reflexionen umfasst. Nach einer umfangreichen Einführung in die spezielle Thematik erläutert der Autor seine Methode und stellt den aktuellen Forschungsstand und die Quellenlage dar. Besonders positiv hervorzuheben sind hier die detaillierten „Anmerkungen zu Schreibweise und Sprachgebrauch“ (11–14) – gerade hier
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stößt man in vielen anderen Publikationen auf oftmals willkürlich gewählte Abkürzungen und Sonderformen. Teigeler begründet seine kontinuierlich benutzten Begrifflichkeiten und Abkürzungen und dieser Zusatz erleichtert den Zugang zur Lektüre ungemein – der Rezensent wünschte sich solch eine ausführliche Hinleitung auch für andere Untersuchungen; diese Auflistung ist wirklich vorbildlich! Die Forschungen von Otto Teigeler sind sehr komplex und zeigen deutlich auf, wie schwierig eine Verortung des „kleinen Zinzendorf“ bezüglich seiner religiösen Situation ist. Zu Recht spricht der Autor von „erheblichen Wucherungen“ (15), die in der Forschung die gängigen Meinungen beeinflusst beziehungsweise manchmal sogar manipuliert haben und so einer kritischen Hinterfragung eher nicht Stand halten. Teigeler führt seine Leserinnen und Leser in die recht komplizierte familiengeschichtliche Situation ein und belegt augenfällig, dass der Stiefvater, Dubislav Gneomar von Natzmer, die treibende Kraft für Zinzendorfs Schulort Halle war – wohl auch gegen den Willen der Großmutter, Henriette Catharina von Gersdorf (24, 89–93 u.ö.). Das Kapitel über „Zinzendorfs Schulbesuch in Halle 1710–1716“ ist nicht nur für die Zinzendorf-Forschung zentral, sondern stellt ebenso eine wahre Fundgrube für die Sozialgeschichte der Schulen in Halle dar. Teigeler erklärt die Besonderheiten dort und verortet den jungen Zinzendorf in Halle und dem dort favorisierten Schulsystem. Er bietet einen umfassenden Einblick in die Konzepte des dortigen Unterrichts, stellt die wichtigsten Personen im Umfeld Zinzendorfs genauestens vor und führt die mannigfachen Probleme Zinzendorfs mit und in Halle an. Darüber hinaus erfährt die Leserschaft auch genaue Details über die bereits damals aufkommende zahlreiche Kritik am halleschen Schulsystem August Hermann Franckes (25–51): Der Verfasser tituliert ein besonders herausragendes Unterkapitel „Die Schulen – ein Überblick“ (29–35) – das ist jedoch viel zu bescheiden gewählt, denn er liefert weit mehr als einen Überblick! Teigeler vermag noch erheblich mehr und Neues dazu herauszuarbeiten, als der bisher publizierten Literatur zu entnehmen ist. Gerade dieses Themenfeld zieht sich wie ein „roter Faden“ durch diese Arbeit. Immer wieder rücken das pädagogische Konzept und die speziellen Eigenheiten des halleschen Schulsystems in den Fokus – und in der Tat ist dies ein lohnenswerter und wichtiger Forschungsansatz, so werden eben auch die theologischen Grundlagen genauestens untersucht (35–45), allen voran die, an denen Zinzendorf sich später orientierte und an denen er partizipierte, beziehungsweise die er dann ablehnte und gegen die er sich verwahrte. Es ist spannend zu lesen, wie sich Zinzendorf dort im Kreis seiner Mitschüler bewegte, wie er wahrgenommen wurde und wie er selbst jene für ihn so schwere Zeit sah.
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Während der ganzen Schulzeit in Halle war und blieb die Situation für ihn angespannt – und dies in mancherlei Hinsicht: Die ihm zur Seite gestellten Erzieher, das Lehrpersonal in Halle selbst, die zeitweiligen Probleme mit den Mitschülern und eben auch das schwierige Verhältnis zu Mutter und Stiefvater sollten ihn stark prägen, wie der Verfasser prägnant ausführt und recht ausführlich belegt (45–97). Gerade die verschiedenen Episoden, wo Zinzendorf in Konflikt mit der Anstaltsleitung in Halle gerät, sind unerlässlich für das Einordnen und V erstehen der späteren praktisch-theologischen Arbeit des Herrnhuters. Dem Verfasser gelingt hier der schwierige Spagat ausgezeichnet; sowohl die Situation Zinzendorfs und die Beweggründe für seine Handlungen aufzuzeichnen und dem gegenüber das Hallesche Modell zu stellen und diese beiden zu verzahnen. Als wichtige und neue Komponente lässt der Autor immer wieder das familiäre Bild der Verwandtschaft Zinzendorfs miteinfließen, was hier eminent erhellend wirkt. Mischten sich doch Stiefvater, Mutter, Großmutter Henriette Catharina von Gersdorf und der Onkel (und Vormund) Otto Christian Reichsgraf von Zinzendorf immer wieder aktiv in die Schulangelegenheiten des „kleinen Lutz“ ein. So erklärt auch Teigeler den sehr frühen Eintritt Zinzendorfs in das Pädagogium Regium (im Alter von zehn Jahren anstatt üblicherweise mit fünfzehn Jahren) mit dem großen Familieneinfluss: „Bei der engen Verbindung zwischen Canstein, Natzmer und dem Kronprinzen ist es höchst wahrscheinlich, dass Francke trotz vermuteter pädagogischen Bedenken aus politischer Klugheit dem Drängen auf einen möglichst frühen Einzug Zinzendorfs ins Pädagogium nachgab.“ (103) Ein weiteres luzides Kapitel für die frühe Biografie Zinzendorfs und seine spätere entwickelte innovative Theologie arbeitet der Verfasser in dem Part „Zinzendorfs Reden in Halle 1715/16“ genau heraus. Teigeler lässt uns an Zinzendorfs ersten wichtigen schriftlichen Ausarbeitungen teilnehmen, verortet diese in seiner Biografie und zugleich werden auch die politischen Konstellationen erörtert. Dies ist aufschlussreich und wichtig, so vor allem bei der „Bewilligungsrede auf Friedrich Wilhelm I.“ (134–145). Beeindruckend hierbei sind die große Belesenheit und das Allgemeinwissen des jungen Schülers – in einem interessanten Exkurs „Was las der Schüler Zinzendorf“ (154–166) wird dieses explizit angegeben und bewertet. Gleichzeitig lässt uns Teigeler somit indirekt am schulischen Leben beziehungsweise der „freien Zeit“ der Schüler in Halle teilnehmen – dieser wichtige Abschnitt des Buches zeigt noch einmal deutlich die weit gefächerten Interessengebiete des jungen Zinzendorf auf und zugleich gewährt dieser Part einen intimen Einblick in die Schulwelt der Franckeschen Einrichtung.
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Besondere Aufmerksamkeit räumt der Verfasser der längsten Rede des jungen Zinzendorf ein; es handelt sich um seine sogenannte „Abschiedsrede“ (145– 154). Am 2. April 1716 hielt der Schüler seine letzte Rede. Anlass war der Abschied vom Pädagogium in Halle. Der Verfasser sieht hierin bereits „ein mutiges Bekenntnis zur Weltsicht der Aufklärung und des Skeptizismus“ (153) und begründet dieses plausibel! Otto Teigeler setzt diese Einschätzung auch im wichtigen Part „Positionen und Prägungen“ fort, obschon er klar konstatiert, dass Zinzendorf nicht direkt unter die Aufklärer zu subsumieren sei. „Dennoch wäre es fahrlässig und unhistorisch, bestimmte Linien und Spuren der frühen Aufklärung bei ihm nicht wahrzunehmen und zu würdigen.“ (169) Und in der Tat, in den von Teigeler geschilderten weiteren Lebensabschnitten in Wittenberg, wo er sein Studium nach der Zeit in Halle aufnahm und auf Geheiß des Stiefvaters Dubislav Gneomar von Natzmers im April 1719 abbrechen musste – und erst recht auf der Kavalierstour von 1719 bis 1721 kristallisiert sich immer wieder der „suchende Zinzendorf“ heraus. Der Verfasser bringt uns hier den Jurastudenten Zinzendorf mit seinen vielgestalteten Interessen nahe und geht intensiv in diesem zentralen Bereich seiner Untersuchung auf Zinzendorfs Motive für seine spätere Theologie ein, die sich nach und nach entwickelten und etablierten, wenngleich er konstatiert, dass die Tropenidee parallel zur Formgebung von Zinzendorfs Ekklesiologie verlief (vgl. 169 u. ö.). Dieses umfangreiche vierte Kapitel in der Untersuchung Teigelers führt erheblich weiter, als es der Titel des Buches suggeriert. Der Verfasser handelt hier nicht nur die missglückten Vermittlungen des jungen Grafen in der seit über drei Dekaden andauernden Streitangelegenheit der beiden theologischen Fakultäten Halle und Wittenberg ab, sondern geht vor allem „in die theologische Tiefe“! Der Autor untersucht den Einfluss von René Descartes und Pierre Bayle auf seinen Protagonisten und des Weiteren werden die beiden in der damaligen relevanten Theologie und Theologiegeschichte verortet, ebenso Christian Wolff, Christian Thomasius und andere Aufklärer mehr. Teigeler gelingt es auf angenehme Art und Weise, seine Leserinnen und Leser an der Weiterentwicklung Zinzendorfs teilhaben zu lassen und auch deutlich seine Ambivalenzen wahrzunehmen. Deutlich wird dies in dem wichtigen Unterkapitel „Das Jahr 1722/23“ (212– 215). Gewissermaßen im gleichen Zeitfenster erwirbt Zinzendorf das Gut in Berthelsdorf von seiner Großmutter Henriette Catharina von Gersdorf und der Auf- und Ausbau von Herrnhut durch Christian David beginnt parallel dazu „aufzublühen“. Zu Recht konstatiert der Autor: „Die Jahre 1722 und 1723 waren aufregende, bewegende, gefährliche und zugleich beglückende Jahre. Es kann mit Sicherheit angenommen werden, dass sich die Ereignisse und entsprechende Überlegungen durchdrangen, dass etwa Zinzendorfs Reflexionen in Dresden auch die
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mentale und argumentative Vorbereitung waren für die Lösung in Herrnhut und umgekehrt.“ (214) Der Verfasser führt auch in die Verhältnisse zwischen Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf und Johann Konrad Dippel ein, den Zinzendorf dann 1730 in Berleburg in der Grafschaft Sayn-Wittgenstein-Berleburg persönlich treffen und in der dortigen kurzlebigen Gemeine „einsetzen“ sollte – und macht zurecht darauf aufmerksam, dass hierzu noch Forschungsbedarf besteht, desgleichen in den Aufarbeitungen der Beziehungen zwischen Valentin Ernst Löscher und dem Grafen aus Herrnhut (220–229). Die knappen Verweise und Hinweise auf Feuerbach und Eucken (229–231) im Bezug auf Bayle erschließen sich jedoch dem Rezensenten in dieser speziellen Thematik nicht recht und tragen zu Zinzendorf und seiner Schulzeit nur wenig bei. Gleichwohl wartet dieses Kapitel noch mit einigen wichtigen Exkursen auf, die deutlich machen, welch bedeutendes Potential in den frühen Jahren Zinzendorfs zu finden ist. Sodann geht der Verfasser noch einmal intensiv auf Zinzendorfs PädagogikVerständnis (232–257) ein und konkretisiert dieses in allen Einzelheiten. Die Rückbezüge auf seine Kinder- und Jugendzeit und somit auch auf die Ära in den Franckeschen Anstalten werden gleichsam als Muster für spätere Handlungen und seine bewegenden Leitmotive: „Lebensgemeinschaft mit dem Bruder Christus“ und „Herzensbildung als Lernprozess“ (241). Der Autor definiert hier die Pädagogik Zinzendorfs noch einmal ganz ausführlich und dieses steht für eine der vielen Stärken dieses Werkes. Otto Teigeler beschreibt nüchtern und genau, stellt zugleich neue Fragen an die Forschung – Fragen, die er auch – und gerade aufgrund seiner intensiven Untersuchungen nicht direkt und eindeutig beantworten kann – er spekuliert jedoch nicht, wie so viele andere Autorinnen und Autoren, die sich intensiv mit der Theologie des Herrnhuters auseinandergesetzt haben – das hebt sich wohltuend von einem Großteil der Literatur über Zinzendorf ab! Im Schlusskapitel kommt diese erfreuliche Methodik noch einmal besonders zum Tragen, wenn es ein eigenes Unterkapitel mit der Überschrift „Desiderata“ (288–291) gibt. Aber auch hier muss erwähnt werden, dass der Autor noch einmal den hinlänglich bekannten Begriff von „Zinzendorfs Tropenmodell“ (258–279) einführt – und in diesem äußert gelungenen Part lassen sich ebenfalls viele Spuren aus des Grafen Zinzendorfs Frühzeit identifizieren. Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf hat sicher vieles von Halle mitbekommen, was ihn lebenslang prägen sollte und was er auch später in Herrnhut und den daraus erwachsenen Gemeinschaften adaptiert und variierend umgesetzt hat. So hat er dort die aufgeklärten Denkansätze von René Descartes und Pierre Bayle für sich entdeckt und auf seine spezielle Art und Weise weiterentwickelt. Aber zugleich hat er sich auch mehr als deutlich von Halle und der dort
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vorherrschenden Theologie des Franckeschen Musters im Laufe der Jahre abgesetzt, was für die Brüdergemeinen prägend werden sollte. Sicherlich begann seine innere Ablehnung schon in Halle selbst, aber sie reifte weiter aus – zu eruieren ist das besonders an seiner Gottesvorstellung, die eben anders als die Franckes, christologisch, ja christozentrisch war! Otto Teigeler ist mit dieser sehr ausführlichen und genauen Untersuchung ein wahrer Meilenstein für die Zinzendorfforschung gelungen und man kann dem Autor nur dankbar sein, dass er eben vieles neu beleuchtet und gleichzeitig darauf aufmerksam macht und ermutigt, die Forschung weiter voran zu treiben und somit neues Licht in Teilbereiche zu Leben und Werk des (jungen) Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf zu bringen. Dieser Band ist innovativ und zugleich sehr gewissenhaft erarbeitet worden, ein ausführlicher Anhang beschließt diesen außergewöhnlichen Forschungsbericht. Ein winziges „Wermutströpfchen“ bleibt noch ad finem zu erwähnen: Ein Bibelstellenregister hätte der Rezensent noch gerne zur Verfügung gestellt bekommen – aber das ist nur eine Marginalie. Allen die sich mit Zinzendorf und seiner Biografie beschäftigen, eben nicht nur mit der Jugendzeit, denen sei dieses Buch sehr empfohlen – wer sich jedoch intensiver mit Zinzendorfs Leben und seiner Theologie beschäftigt, der kann und wird um dieses famose Werk aus der „Forschungswerkstatt“ Otto Teigelers nicht mehr herumkommen! Ulf Lückel
Bad Berleburg
Hermann Wellenreuther: Heinrich Melchior Mühlenberg und die deutschen Lutheraner in Nordamerika, 1742–1787. Wissenstransfer und Wandel eines atlantischen zu einem amerikanischen Netzwerk. Münster: LIT Verlag 2013 (Atlantic Cultural Studies, 10). – X, 710 S. Heinrich Melchior Mühlenberg remains revered among Lutherans in United States as the organizer and leading figure of the first Lutheran church body in North America. Hermann Wellenreuther’s new book, bristling with erudition and the fruits of many years of research, marks a significant step forward in scholarship on this iconic figure of American Lutheranism. Drawing primarily on Mühlenberg’s extensive correspondence, Wellenreuther portrays Mühlenberg as one of the prime mediators between Halle Pietism and the New World, and he analyzes how over his lifetime, his extensive network moves from an Atlantic to an American one. Although it contains many biographical insights, this book is not a traditional biography of Mühlenberg, a point Wellenreuther makes clear from the outset. Rather, the author adopts a largely structural approach to this figure so that he can highlight the transfers of
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knowledge and culture that occurred across the networks in which Mühlenberg participated. To do so, the author divides the work into three parts of unequal lengths.The first and most compact sets Mühlenberg in his Old World context beginning with Einbeck, his home town, and Mühlenberg’s uncertain path towards university study. Wellenreuther provides rich detail about the social structure of Einbeck, the religious conditions of Lower Saxony, and the Pietist movements there that may have influenced Mühlenberg. He eventually began his studies at the new University of Göttingen, where he experienced a conversion, and then moved on to Halle, gaining a circle of mentors and patrons who would be decisive for his career. After serving as a teacher in the Halle orphanage and then as Diakon in Großhennersdorf, close to the Moravian settlement at Herrnhut, Mühlenberg received a call from G.A. Francke to go to Pennsylvania. Typical of Wellenreuther’s approach here is his close analysis of Mühlenberg’s Stammbuch, just one example of Wellenreuther’s nuanced investigation of the contexts of Mühlenberg’s early life stretching from Einbeck to London, his last European station before sailing for Pennsylvania. This first part provides a baseline for the knowledge and experiences Mühlenberg would bring with him to Pennsylvania. The second part of the book portrays Mühlenberg in Pennsylvania as a mediator between the two worlds.Wellenreuther describes how Mühlenberg conveyed “fields of knowledge” including the understanding of worldly and ecclesiastical authority as well as his conception of the balance between pastoral office and lay authority. This transfer of knowledge was a highly dynamic process, and Wellenreuther deftly shows how the expectations of the laity – especially the differing expectations of South German Lutherans – the importation of books, and the role of immigration all shaped Mühlenberg’s views. Wellenreuther sees Mühlenberg conveying a Hallensian Pietist understanding of pastoral office to North America, one rooted in the Pietist conception of conversion that would endure for most of eighteenth century. His superb longitudinal analysis of the importation of books from Halle to Pennsylvania, supported by detailed appendices, allows one to see how and what kinds of books from Halle dominated in Mühlenberg’s circle and the ways in which these changed over time. The longest and most complex portion of the book is the third part in which Wellenreuther analyzes Mühlenberg’s networks on the basis of his correspondence, for which he constructed a sophisticated databank. In an opening chapter, Wellenreuther lays out in detail the mechanics of Mühlenberg’s correspondence describing the kinds of letters Mühlenberg wrote, others for whom he composed letters, and the logistical problems of conducting transatlantic correspondence. The period for completing a round of letters from Pennsylvania via London to Halle and back again took between 12 and 24 months during much of this era. Anyone wishing to understand the complexity of epistolary correspondence between German lands and the New World in the eighteenth century will benefit from Wellenreuther’s work here.
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With this in place, Wellenreuther turns to a thorough examination of the letters themselves in three blocks: the early Atlantic network 1742 till 1766, the inner-American network 1742 till 1765, and the transformation of the Atlantic to an American network 1765 till 1787. In places, Wellenreuther’s analysis is highly formal – he analyzes exhaustively, for instance, the salutations and closings of the letters to indicate the distinctions among members of his network and the subtle ways his relationship changed with his superiors, especially Ziegenhagen and Francke. He interweaves this with narrative descriptions of key episodes, for instance, the difficulties surrounding Peter Brunnholz, a fellow Halle Pietist in Pennsylvania, whose troubles illustrated Mühlenberg’s communicative difficulties with his “authorities” in Europe as Brunnholz’s struggles with alcohol gradually emerged. Other episodes Wellenreuther handles in detail are his conflict with another of his close colleagues from Halle, Johann Friedrich Handschuch, over pastoral authority and the development of Philadelphia Lutheran church constitution of 1762, both of which, Wellenreuther notes, mark significant turning points for the Lutheran church in Pennsylvania. The final chapters mark shifts in Mühlenberg’s network at the end of his life as the transatlantic correspondence becomes increasingly less important. As Wellenreuther turns to Mühlenberg’s letters with his family, he develops a more narrative approach, illuminating Mühlenberg’s more personal side that was harder to grasp in the earlier chapters.We learn about his wife’s epilepsy and his relationship with his children, especially his hopes for his sons’ clerical careers. The last chapter on Mühlenberg and the American Revolutionary War clarifies Mühlenberg’s personal support for independence amid his public stance of neutrality.Wellenreuther brings new sources to bear on this discussion, emphasizing Mühlenberg’s delicate position between the parties in the context of his cautious political theology. This book is a remarkable achievement. The author’s command of Mühlenberg’s extensive correspondence is extraordinary, and the reader benefits time and again from Wellenreuther’s in-depth analysis and broad knowledge of the eighteenth-century Atlantic world. Wellenreuther’s portrayal of Mühlenberg as an important cultural broker rather than a singular great man, a Macher, is convincing. As with any investigation like this,Wellenreuther leaves the reader wondering about some matters. In general, one wishes for greater depth in the treatment of theology and devotional piety. Conversion, to take the most important theological concept recurring throughout the book, is unquestionably central for Mühlenberg. Yet what it means theologically and in practice is left largely uninterrogated, beginning with Mühlenberg’s extraordinarily tepid allusion to his own conversion experience. This goes to the heart of what it means to describe Mühlenberg as a Halle Pietist. The liturgical and cultic transfer of German Lutheranism to the New World, aside from some brief discussion of hymnody, receives surprisingly little attention, a topic that seems tailor-made to investigate precisely the transfers that Wellenreuther portrays. More surprisingly, perhaps, we hear very little about Mühlenberg’s relationships to religious leaders
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outside the German community that would have allowed readers to contextualize Mühlenberg within North American Protestantism more fully. Even Mühlenberg’s close Lutheran colleague, the Swedish provost, Carolus Magnus von Wrangel, who makes repeated appearances, remains in the shadows. There is even less reference to the broader context of North American revivalism and figures such as George Whitefield. This is a deeply learned and often demanding book. Given Mühlenberg’s significance for American religious history, one wishes for a wide reception in North America. Wellenreuther rightly relativizes the singular, sometimes heroic characterization of Mühlenberg that often emerges in North American depictions, where he is frequently dubbed, “the father of American Lutheranism.” Emphasizing how cultures, transfers of knowledge, and networks shaped American Lutheranism and the indispensable mediating role Mühlenberg played in this process, Wellenreuther clears away misconceptions and puts our understanding of this figure on a much stronger and sophisticated source basis. In doing so, he opens up new perspectives for understanding religion in the Atlantic world and the role of Pietism in forming it. Jonathan Strom
Atlanta, Georgia
Johann Heinrich Jung-Stilling: „… weder Calvinist noch Herrnhuter noch Pietist“. Fromme Populartheologie um 1800. Hg. von Veronika Albrecht-Birkner. Leipzig: EVA 2017 (Edition Pietismustexte, 11). – 304 S.; Ill. „weder … noch Pietist“ – da wird mancher stutzen, gilt Jung-Stilling (1740– 1817, JSt.) doch für viele als Pietist. Mit „Pietist – ja oder nein“ ist also eine Grundfrage von Jung-Stillings Selbstverständnis angesprochen, der auch im vorliegenden Band in Textauswahl und Nachwort gebührend Rechnung getragen wird. Und „weder Calvinist“ – war er nicht reformierter Konfession? Und „noch Herrnhuter“ – ja, Mitglied der Herrnhuter Brüdergemeine war er nicht, trotz seiner Kontakte dorthin (Korrespondenz seit 1798) und zweimaligem Besuch in Herrnhut (1803 und 1804). Der Haupttitel, ein Originalzitat von 1800 an versteckter Stelle (hier 206), lockt also, diese Quellenedition in die Hand zu nehmen. Auch der Untertitel mag irritieren: War JSt. etwa studierter Theologe, mit Schriften für nichttheologische Leser? „Volksmissionarische Laientheologie“, also nicht akademische Theologie, hätte es vielleicht besser getroffen. Wobei die theologisch zu nennenden Veröffentlichungen JSt.s gegenüber seinen erbaulichen Schriften an Zahl zurückfallen; letztlich sind es nur zwei, in der hier vorliegenden Textauswahl nicht berücksichtigte (nur die erste wird häufiger in Fußnoten genannt): der umfangreiche exegetische Band zur Johannesoffenbarung von 1799 (Die Siegsgeschichte der christlichen Religion, 606 S., mit einem Nachtragsband von 1805) und die kontroverstheologische Entgegnung auf das
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Buch eines katholischen Theologen und Kirchenrechtlers von 1811 (Antwort durch Wahrheit in Liebe […] über Katholizismus und Protestantismus, 319 S.). Des christlichen Menschenfreunds biblische Erzählungen, periodisch 1808–1816 erschienen, kommen für die Auswahl nicht infrage. Der neue Band in der wissenschaftlich anspruchsvollen Reihe Edition Pietismustexte (EPT) fällt also auf. Die Reihe, zumindest als sie noch Kleine Texte des Pietismus (KPT) hieß, ist wohl als Arbeitsmaterial mit zuvor ungedruckten oder gedruckten Quellentexten für Seminare gedacht und bisweilen sogar als Anregung für die Forschung. JSt.s gedruckte Hinterlassenschaft ist außerordentlich zahlreich, vielfach heute in (Faksimile-)Nachdrucken oder sogar digitalisiert zugänglich. Zahlreich selbst, wenn man für das hier anzuzeigende Vorhaben alle ökonomischen Schriften des Wirtschaftsprofessors JSt. und das eine medizinische Lehrbuch des Arztes JSt. abzieht.Von JSt.s Erbauungsschriften und seinen eigentlich „theologischen“ Veröffentlichungen sind noch einige der Romane und Erzählungen sowie seine volksaufklärerischen Periodika zu trennen.1 Nachdem seit 2002 außerdem eine umfangreiche, vom Rezensenten erarbeitete Edition von zuvor meist noch nicht gedruckten Briefen vorliegt, ist die Zahl bisher unveröffentlicht erhaltener Texte nur noch sehr gering. Da schließlich auch die Literatur zu JSt. inzwischen längst fast unübersehbar ist, gestaltet sich eine Auswahl von Quellentexten zusätzlich schwierig, zumal wenn diese mehreren thematischen Einheiten zugeordnet werden, statt einem einzelnen Werk entnommen zu werden. Die Herausgeberin wollte „vorrangig weniger bekannte Texte“ in „möglichst aussagekräftiger Vielfalt“ bieten (254). Bisher überhaupt nicht gedruckte Texte, meist Briefe, wurden nicht aufgenommen. Veranlasst ist der Band durch JSt.s 200.Todestag.2 Die Herausgeberin, die sich bisher mehr mit August Hermann Francke und Philipp Jakob Spener beschäftigte, lehrt seit 2009 Kirchengeschichte an der Universität Siegen und hat sich seitdem auch mit dem religiös vielfältig geprägten Siegerland befasst. Und JSt. stammt ja aus dem Siegerland, in dem er bis heute vielfach in Erinnerung gehalten wird. Freilich folgten nach der Siegerländer Kindheit und Jugend für JSt. viele Lebensabschnitte andernorts: im Bergischen Land, in Straßburg (mit dem Beginn der Freundschaft mit Goethe) und Elberfeld, in Kaiserslautern, Heidel1 Wenn im Inhaltsverzeichnis des Editionsbands im zweiten, dem biographischen Kapitel das Lehrbuch der Staats-Polizey-Wissenschaft von 1788 (gemeint ist Staatskunde im umfassenden Sinn) auftaucht, dann wird daraus nur der Text der biographischen Vorrede übernommen. Wenn der vier- bzw. fünfbändige Heimweh-Roman mit seinem Schlüssel von 1796 im Inhaltsverzeichnis auftaucht, dann wird daraus nur die „Zueignungsschrift an alle heimwehkranken Leser“ übernommen. 2 Anlässlich des 270. Geburtstags stand 2010 bereits einmal ein Bändchen JSt. des Rezensenten für die Reihe KPT kurz vor dem Druck, wozu es dann jedoch nicht kam. Diese Edition sah allein Texte aus JSt.s bekanntestem, programmatischem Periodikum Der Graue Mann (1795– 1816, JSt. war Alleinverfasser) vor, zusätzlich als Anhang die Schrift Berichtigung der gewöhnlichen Begriffe von der Mystik (1799) (zus. ca. 200 S.).
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berg und Marburg (mit den Jahren 1787 bis 1803 die längste Zeit an einem Ort), dann noch einmal in Heidelberg und schließlich in Karlsruhe (elf Jahre). Der Editionsband ist in fünf „thematische Rubriken“ (254) gegliedert, mit je vier oder fünf Quellentexten:3 (1) JSt.s Kampf gegen Aufklärung und Neologie, (2) Biographie (und Selbstverständnis) JSt.s, (3) Wahres Christentum, in Abgrenzung zu Pietismus, Mystik und Schwärmerei, (4) Das Geisterreich, (5) Geschichte und Endzeit. – Die Reihenfolge hätte auch 2 – 3 – 1 – 4 – 5 sein können, weil Selbstverständnis und wahres Christentum zusammengehören. Dass die Auseinandersetzung mit dem Aufklärer Friedrich Nicolai ganz nach vorn gerückt wurde, ist wohl damit begründet, dass die drei Anti-Nicolai-Bücher noch vor dem ersten der dann sechs Bände der umfassenden „Lebensgeschichte“ erschienen, nämlich 1775 und 1776. Die Lebensgeschichte (1777–1817), JSt.s bekanntestes Werk, wurde überhaupt nicht berücksichtigt, nur einmal erwähnt. (1) So stehen am Anfang des fünf Quellentexte enthaltenden Kapitels 1 je ein Auszug aus den ersten beiden von drei Bänden, mit denen JSt. während seiner Zeit als praktizierender Arzt in Elberfeld auf einen ebenfalls dreibändigen ironischen Roman Nicolais (der mit vielen berühmten Zeitgenossen in Verbindung, oft in Auseinandersetzung stand) antwortet – „wider den Religionszweifel“, hervorgerufen von der „falschen Aufklärung“, wie JSt. sie in der Leibniz-Wolffschen Aufklärungsphilosophie fand, die christliche Religion verteidigend (worüber Rainer Vinke 1987 seine Mainzer Dissertation veröffentlichte). – Um die wahre Religion geht es dann in vielfältiger Hinsicht in einem JSt.-Brief von 1779, dessen Abdruck nicht plausibel erscheint und der, wenn schon, dann schon eher dem Kapitel 3 hätte zugeordnet werden können. – Den Abschluss bilden Textauszüge von 1803 und 1810 aus JSt.s „Volksschrift“ Der Graue Mann. JSt.s Gegner ist nun die Neologie, also die damalige rationalistische Universitätstheologie, die er auch in Heidelberg zu finden glaubte (zeitweise selbst bei seinem Schwiegersohn, dem Heidelberger Theologieprofessor Friedrich Heinrich Christian Schwarz). Die Begriffe Neologen und neologisch kommen zwar beide zweimal in den Quellentexten vor, doch von deren historisch-kritischer Bibelforschung und expressis verbis von Dogmenkritik ist nichts zu lesen.Vielmehr sind die Neologen hier „tote Moralprediger“ oder „ästhetische Christen“.4 1810 jedoch nimmt JSt. vorwiegend die Gelegenheit wahr, selber Wollust, Unzucht und Luxus als Signale des „Schlussgerichts“ in der nahen Zukunft (1848 oder 1836
Also 5 Themenbereiche mit zusammen 22 Texten, davon 8 Brieftexte und 5 Textauszüge aus dem Grauen Mann sowie Texte aus 7 weiteren Publikationen JSt.s. 4 Bei den ästhetischen Christen, die er auch mit Mythologien in Verbindung bringt, könnte JSt. an Georg Friedrich Creuzer gedacht haben, den Mythen- und Altertumsforscher, ursprünglich auch Theologe, seit 1804 Professor in Heidelberg wie damals JSt. und wie JSt.s Schwiegersohn Schwarz, mit dem er befreundet war. Den ästhetischen Christen attestiert JSt. Ehrlichkeit, Rechtschaffenheit, Lasterfreiheit, sie seien angenehm im Umgang, aber weder wahre Christen noch Nichtchristen und würden in der letzten Probe nicht bestehen. 3
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werden prophezeit) und des großen Kampfs zwischen Licht und Finsternis anzuprangern. Insofern hätte dieser letzte Text mindestens ebenso gut dem fünften Kapitel zugeordnet werden können (s.u.). (2) Das zweite, das biographische Kapitel bietet Briefe von 1777 (zum Anfang der öffentlichen Publikationstätigkeit JSt.s) und von 1801 (lange vor deren Ende) und zwei größeren Werken vorangestellte biographische Rückblicke von 1788 und 1796.5 – Im ersten Brief an den neuen Berliner Verleger seiner Autobiographie Georg Jakob Decker, geschrieben in Elberfeld, äußert JSt., dass er Goethe das Manuskript des ersten Bands Henrich Stillings Jugend überließ und dass dieser es bearbeitete und zum Druck beförderte, und dass und wie er die Lebensgeschichte fortzusetzen entschlossen sei und dass er auch einen Roman angefangen habe und was er als Honorar erwarten könne – der Beginn seines schriftstellerischen Selbstbewusstseins. – In der langen Vorrede („Meine Geschichte als Lehrer der Staatswirthschaftlichen Wissenschaften“, 30 Seiten) zu seinem in Marburg verfassten ökonomischen Lehrbuch (dem neunten!) blickt JSt. zurück auf die ersten zehn Jahre seiner wirtschaftswissenschaftlichen Lehrtätigkeit in Kaiserslautern, Heidelberg und Marburg, schildert zuvor aber in sehr persönlicher Selbstreflexion ausführlich seine Prägung in Kindheit und Jugend und was ihn für seine ökonomische Lehrtätigkeit vorbereitet und befähigt hat.6 – In der „Zueignungsschrift an alle heimwehkranken Leser meines Heimwehbuches“, des vierbändigen allegorischen Romans Das Heimweh, zum fünften Band, dem Schlüssel von 1796, berichtet JSt., wie es zu diesem Werk kam: Solch eine Christenreise zur himmlischen Heimat auch zu schreiben, sei sein Vorhaben gewesen, seit er als Achtjähriger in deutscher Übersetzung John Bunyans Reise eines Christen nach der seligen Ewigkeit gelesen hatte.Verschiedenes hätte ihn an der Verwirklichung gehindert, besonders seine durch den philosophischen Determinismus hervorgerufenen Glaubenszweifel. Nach eigenem Zeugnis hatte JSt. schon zwanzig Jahre lang ein „Determinismuszweifel“ gequält, bis ihn 1788/89 die Lektüre von Immanuel Kants Kritik der reinen Vernunft davon befreite.7 – In seinem Sendschreiben an seinen Freundeskreis von 1801, genauer an die Tersteegenanhänger im Bergischen Land mit Wilhelm Berger an der Spitze, verteidigt sich JSt. gegen den Vorwurf, den sozialen Aufstieg gesucht und geistlichen Hochmut gezeigt zu haben: „Warum bin ich Hofrath und Professor, Vgl. Anm. 14. Die ersten etwa 25 Seiten sind wie eine Kurzfassung seines bisherigen Lebens, das er in den, heute zum Teil online zugänglichen Bänden 1 bis 4 seiner Lebensgeschichte, erschienen 1777– 1787, viel eingehender erzählt. Allerdings übergeht er wichtige Ereignisse, so in den Jahren 1774 und 1775 und vor allem unerklärlicherweise 1786, als er beim Heidelberger Universitätsjubiläum eine vielbeachtete Festrede Über den Geist der Staatswirtschaft hielt, die ihm den Dr. phil. („der Weltweisheit“) ehrenhalber einbrachte, welchen er fortan meistens stolz noch vor dem Dr. med. („der Arzneikunde“) nannte. – Vgl. vom Rez.: Der Wirtschaftswissenschaftler Johann Heinrich Jung als Vertreter der Aufklärung in der Kurpfalz, 1778–1787. Siegen 2013. 7 Dies bezeugt JSt. mehrfach. Auch ein Briefwechsel mit Kant ist erhalten. – Sachlich gehört das Zeugnis vom Determinismuszweifel in das Kapitel 1. 5 6
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warum ein vornehmer und angesehner und berühmter gelehrter Mann geworden und nicht Schneider und Schulmeister, also nach dem Muster und Beyspiel unseres Herrn nicht in der Niedrigkeit geblieben?“ Es sei allein Gottes Führung, wie sein Lebenslauf zeige. Seit seiner Erweckung 1762 „blieb der Trieb, für den Herrn zu leben und zu sterben, beständig in mir“. So entstanden der Heimweh-Roman, Der Graue Mann, die Siegsgeschichte u.s.w. (3) Im gewichtigen 3. Kapitel geht es mit fünf Quellentexten um die Abgrenzung des „wahren Christentums“ von Pietismus, Mystik und Schwärmerei und damit um JSt.s Selbstverständnis. Schon in dem teilweise autobiographischen Roman Theobald oder die Schwärmer von 1784/85 wandte JSt. sich gegen heuchlerische Frömmigkeit (Text 1, das 1. Kapitel, mit 47 Seiten!). – Etwa zwölf Jahre später, nach der Wende in seinem geistlichen Leben, schreibt JSt. im Herbst 1796 an den damaligen Sekretär der Christengemeinschaft in Basel, einer erwecklichen Gemeinschaft, den jungen württembergischen Pfarramtskandidaten Karl Friedrich Adolf Steinkopf, nach vorangehendem Austausch über pietistische Frömmigkeit: „Ich verspreche Ihnen nochmals feyerlich, das Wort [Pietist] nie wieder im üblen Sinn zu gebrauchen [wie er es getan hatte, aber doch wieder tun wird!], sondern wenn ich Mängel anzeigen muß, solches in Liebe zu thun.“8 Darauf heißt es sogleich, dass auch die wahren Pietisten „höchst bedauernswerte Feler“ an sich haben. Für JSt. haben solche auch die „Erweckten“, eine Bezeichnung, welche JSt. neben der der wahren Christen bevorzugt. Kurz weist er dabei auf seinen Theobald hin und nennt solche, die den Mystizismus reformierten, die Väter der Mystik bzw. des Pietismus Arndt, Spener, Francke und Arnold. – Der dritte, mit 27 Seiten wiederum lange Text beschäftigt sich mit der wahren Mystik, wie JSt. sie bei Tersteegen fand: Berichtigung der gewöhnlichen Begriffe von der Mystik, Vorrede zu einem 1799 von JSt. anonym herausgegebenen Buch von Johann Christian Stahlschmidt, einem bergischen Tersteegianer und Freund Bergers. – Es folgt ein kurzer Brieftext von 1800 (Original im Stadtarchiv Siegen; schon einmal gedruckt 1978) an einen jungen Kaufmann in Elberfeld, der JSt.s Berichtigung gelesen hatte. – Den Abschluss bildet ein Auszug aus dem Grauen Mann von 1811. Zu den Rivalitäten zwischen den verschiedenen Gruppen heißt es da: „Last Euch doch den Namen Tersteegianer oder Herrnhuter oder Mysticker nicht trennen! – die Frage ist nur: glaubst du an den Herrn Jesum Christum? und ist dein Glaube fruchtbar in guten Werken?“ Anstelle von Sektiererei solle Bruderliebe treten. (4) Ein Kapitel „Das Geisterreich“ durfte wohl nicht fehlen, weil dieser Komplex bis heute oft kritisch mit JSt. in Verbindung gebracht wird (wie das Geisterwesen überhaupt um 1800 ein Thema vieler Literaten war). Die Grundlage für JSt.s Geisterlehre bilden die beiden zunächst anonym erschienenen Bände Scenen
8 Vgl. von der Herausgeberin jetzt auch den Aufsatz: V . A-B., „Ich verspreche Ihnen nochmals feyerlich, das Wort Pietist nie wieder im übelen Sinne zu gebrauchen …“ [Jung-Stilling]. Fromme Identitätsfindung im späten 18. Jahrhundert. In: PuN 42 [2016] 2017, 183–202.
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aus dem Geisterreiche von 1795 und 1801 (schon kurz danach mit mehreren „vermehrten und verbesserten“ Auflagen). Mehr noch war es die Theorie der Geisterkunde von 1808 (öffentlich sehr umstritten und regional verboten), mit einer Apologie von 1809, die alle allerdings hier nicht berücksichtigt, nur wiederholt im Nachwort auf den Seiten 279–283 in den Fußnoten genannt wurden. Die ersten drei ausgewählten Texte stammen aus den ersten drei Auflagen von 1795, 1801 und 1806 des ersten Bands der Scenen. Doch nur die dritte Quelle behandelt, ausgehend von der 15. Szene „Lavaters Verklärung“ (vorweg bereits 1801 veröffentlicht, nachdem JSt.s Schweizer Freund Johann Kaspar Lavater 1801 zu Tode gekommen war; also kein Separatdruck!), den „Zustand der Seelen nach dem Tode“, mit spekulativen „Vorstellungen von dieser dunklen Sache“ (drei Himmelreiche und drei Höllenreiche!). Es folgt noch als vierter Text ein kurzer seelsorgerlicher Brief von 1805 zur Seelenwanderung. – In den ersten beiden Texten, die ebenso gut der „Rubrik“ 3 hätten zugeordnet werden können, muss JSt. sich erneut über seine Einschätzung der Pietisten erklären, ausgelöst von der Szene 14: Die Pietisten, die bei Lesern Ärger hervorgerufen hatte. Die Szene benannte JSt. in der zweiten Auflage um in: Die christlichen Pharisäer, fügte aber erneut eine Szene über die Pietisten ein, laut Vorrede beteuernd, dass er keine wahren, sondern falsche Pietisten gemeint habe. Man verbinde ja „mit dem Wort Pietist den Begriff eines Frömmlers“. Es folgt der Satz, der den Titel dieser Edition hergab: „Ich will weder Calvinist noch Herrnhuter noch Pietist heißen, das alles stinkt nach dem Sektengeist.“ Da aber jeder eine „Uniform“ haben müsse, habe er die der evangelisch-reformierten Kirche (206). Und: „Mein innerer Beruf drängt mich seit vielen Jahren, auf die Einigkeit des Geistes, auf innere, nicht äußere Vereinigung aller wahren christlichen Religionspartheyen zu würken.“ (209) (5) Das letzte Kapitel: „Geschichte und Gegenwart im Horizont der Endzeit“ bietet zwei Texte aus dem Grauen Mann von 1806 und 1811 und zwei Briefe von 1813 und von 1814. Sie enthalten Deutungen der „Zeichen der Zeit“ angesichts biblischer Apokalyptik.Wiederholt äußert JSt. sich darin zu verschiedenen Prophezeiungen und Weissagungen aus der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Ausführlich beschäftigt er sich im Anschluss an solche und dann konkret an Johann Albrecht Bengel mit Endzeitberechnungen: für 1836, dann auch 1816, schon im Text von 1806 und wieder 1811. Vor der Zukunft des Herrn komme der Abfall von Christus; wie im Gleichnis die zehn Jungfrauen gelte es zu wachen und zu beten. Doch die Hoffnung des ewigen Lebens werde durch keine verfehlte Zeitrechnung geschwächt; der wahre Christ bedauert diese, dem bloßen „Namchristen“ ist sie gleichgültig, der Ungläubige spottet über sie. – In einem kurzen Brief an den Schneider und den Kopf eines mystisch-erweckten Kreises im Siegerland Johann Georg Siebel (jun.) tauchen biblisch fundierte Stichwörter auf, die JSt. auch sonst immer wieder beschäftigt haben: das Tier aus dem Abgrund, der Mensch der Sünde, der Antichrist, die große Versuchungsstunde, der endzeitliche Bergungsort. Im Brief von 1814 an Wilhelm Berger (noch vor JSt.s Audienz bei Zar Alexander I., vor dem Wiener Kongress und vor
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der Heiligen Allianz der drei alliierten christlichen Monarchen: des russischen Zaren, des österreichischen Kaisers und des preußischen Königs) geht JSt. auf Ereignisse und Personen der Zeitgeschichte ein: auf Napoleon (dessen Deutung bei JSt. ambivalent ist), auf den Zarenhof, der zu Besuch im badischen Bruchsal weilte, dem Witwensitz der Schwiegermutter des Zaren, und auf die echt christlichen Persönlichkeiten am Hof, wie überhaupt seit dem gescheiterten Russland-Feldzug Napoleons 1812 eine Erweckung durch Russland gegangen sei. Selbst im preußischen Charakter, mit Berlin als „Sitz des Unglaubens“, hätten sich Veränderungen vollzogen. Die seit dem „Pionier der Jung-Stilling-Forschung“ (288) Max Geiger und seiner Habilitationsschrift von 1963 verbreitete Charakterisierung des Anliegens und des Schrifttums JSt.s mit dem Begriff „Erweckung“ wird von der Herausgeberin begrifflich nicht eigens thematisiert; stattdessen formuliert sie: fromme Populartheologie“ 9. Direkt unter den Texten stehen Fußnoten, häufig mit Worterklärungen, welche anscheinend für eine heutige Generation von Lesern nötig sind. Daran schließt sich ein mit 33 Seiten langes Nachwort an. In diesem stellt die Herausgeberin, ihre Textauswahl interpretierend, allerdings nicht nach deren gewählter Abfolge, diese in den größeren Zusammenhang sowohl des Gesamtwerks JSt.s als auch der Pietismusgeschichte und begründet damit ihre Auswahl von Texten aus verschiedenen Lebenszeiten JSt.s. zu je einem der Oberthemen. Bei aller Bemühung darum, scheint dem Rez. jedoch eine Kontinuität im Lebensverlauf oder gar eine durchgehende Stringenz in den Aussagen JSt.s über Jahrzehnte hin nicht konstruierbar zu sein (Periodenmodell oder Kontinuitäten). Das gilt nicht nur für die verschiedenen Namensformen, die JSt. benutzte und denen die Herausgeberin mehr als drei Seiten widmet; wobei sie die in den Originalhandschriften auftauchenden Namensformen noch hätte mit einbeziehen können, außerdem die aufschlussreichen verschiedenen, oft ausführlichen Titeleien und Zusätze zum Autorennamen auf den Titelblättern der Werke. Ein (Quellen- und) Literaturverzeichnis, in dem nur die Titel verzeichnet sind, die in den Fußnoten jeweils mit Kurztiteln angegeben werden, ein tabellarischer Lebenslauf JSt.s und ein Register der Personen und eins der Bibelstellen (die in den Fußnoten zu den zahlreichen versteckten biblischen Bezügen bei JSt., bei diesem selbst aber nur selten angegeben werden, viele aus Matthäus und aus der Apokalypse) schließen den Band ab. Dieser ist übrigens durch eine viel zu enge Klebebindung im Grunde erst nach dem Aufschneiden benutzbar. Schließlich: Der Editionsband erscheint dem Rez. in Textvielfalt und Textdeutung durch das Nachwort für ein normales Studentenseminar zu anspruchs-
9 Die Bezeichnung JSt.s als Erbauungsschriftsteller, die der Rez. 1994 für seine Dissertation wählte, trifft zugestandenermaßen auch nur einen Teil, wenn auch eine wesentliche Anzahl seiner Schriften.
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voll zu sein. Auch sind die Themen des Bands so komplex, dass er kaum als Ganzer die Grundlage für ein Forschungsprojekt sein könnte. Zu fast allen Einzelthemen gibt es zudem bereits Literatur, die in den Fußnoten oft auch genannt wird. Ansonsten zeugt der Band von einer enormen Kenntnis der Herausgeberin im Blick auf das überaus umfangreiche Opus Jung-Stillings, eingeschränkt auch im Blick auf die längst unüberschaubar zahlreiche Literatur zu Person und Werk Jung-Stillings. Gerhard Schwinge
Durmersheim (bei Karlsruhe)
Ursula Broicher: Die Übersetzungen der Werke von Johann Heinrich JungStilling (1740–1817). Ihre Verlage, Drucker und Übersetzer. Siegen: JungStilling-Gesellschaft 2017 (Jung-Stilling-Studien, 7) – 208 S.; Ill. Das Echo, das der erweckliche Erbauungsschriftsteller Jung-Stilling (JSt.) schon zu seinen Lebzeiten und bis heute erfahren hat, erstaunt immer wieder. Dies gilt insbesondere für die fremdsprachigen Übersetzungen seiner Werke, welche 1786 einsetzten. Übersetzungen in insgesamt neun europäische Sprachen, verlegt in elf Ländern können nachgewiesen werden, beginnend mit niederländischen und russischen Übersetzungen und endend mit einer italienischen und einer finnischen Übersetzung aus unserer Zeit. Das zu dokumentieren, war bislang ein Desiderat der nun über 50 Jahre währenden wissenschaftlichen JungStilling-Forschung. Bei dem jetzt vorliegenden Buch der promovierten Germanistin und ehemaligen freien Mitarbeiterin des Krefelder Stadtarchivs handelt es sich, nach einer Einleitung, um elf beschreibende Kapitel, je mit Fußnoten versehen. Jedoch wurde für die Übersetzungen auf spezielle Titellisten mit den üblichen bibliographischen Angaben verzichtet; nur in der Einleitung wird auf zwei existierende ältere Bibliographien und drei Spezialuntersuchungen verwiesen (zwei zu JSt. und Russland und eine zu JSt. und den Elsässer Johann Friedrich Oberlin). Ein Personen- und ein Ortsregister ermöglichen eine gewisse Erschließung des Bands; vier alte Titelblätter wurden abgebildet; Sekundärliteratur gelegentlich und Internet-Links häufig werden in den Fußnoten verzeichnet; Kolumnentitel fehlen.1 – Zu den einzelnen Kapiteln (mit informierenden Ergänzungen des Rez.): 1 Informationen zur Biographie JSt.s übernimmt die Vf.n aus der populären Biographie von Gerhard Merk: Jung-Stilling. Ein Umriss seines Lebens. Siegen 2015. (Eine englischsprachige Biographie, verfasst von Gerhard Merk, erschien 2017: Johann Heinrich (John Henry) Jung, named Jung-Stiling (1740–1817). A biographical and bibliographical survey in chronological order. Siegen. Außerdem bezog sich Broicher oft auf die umfangreiche Edition von Briefen JSt.s.
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Die niederländischen Übersetzungen (13–38) waren die ersten und sind wohl am zahlreichsten. Einsetzend 1786, waren es in einer ersten Phase bis etwa 1800 die erzählenden Werke JSt.s: seine Lebensgeschichte mit den ersten vier Teilen aus den Jahren 1777 bis 1789 und seine drei je mehrbändigen Romane aus den Jahren 1779 bis 1783, entsprechend dem literarischen Interesse des ersten Übersetzers Joannes Petrus Kleijn (1760–1805). Danach waren es fast alle „religiösen Werke“ (Broicher) JSt.s, die vor allem von dem Verleger und Übersetzer Christiaan Sepp Jansz. [Jans Sohn] (1773–1835) aus der großen Familie Sepp stammten, einem Mennoniten, dessen Interesse mehr den erbaulichen, nach seinem Urteil predigtartigen Werken JSt.s. galt. Das entsprach der Entwicklung und einem Neubeginn der schriftstellerischen Tätigkeit JSt.s im Jahr 1794 mit dem HeimwehRoman und dem Periodikum Der Graue Mann. 1793 bis 1796 hatte JSt. mit Kleijn und Sepp sen. korrespondiert, 1810 bis 1816 mit Sepp jun. – Mit der Zeit gab es für fast alle infrage kommenden Werke Übersetzungen, vor allem bis etwa 1828, oft in wiederholten Auflagen. Meistens sind den Übersetzungen Vorreden vorangestellt, oft werden Fußnoten hinzugefügt, später sogar eine Art Kommentar und Briefzitate. In den niederländischen Ausgaben der Lebensgeschichte finden sich nach JSt.s. Tode 1817 auch im Deutschen erschienene Beigaben in Übersetzung. In unserer Zeit gibt es wie in Deutschland so auch in den Niederlanden Faksimile-Reprints, E-Books und Digitalisate von Schriften JSt.s. – Sollte es wirklich keine niederländischen Übersetzungen von keinem der vielen ökonomischen Werke JSt.s gegeben haben, fragt der Rez. Doch siehe unten bei den dänischen Übersetzungen. Russland, mit den zweitmeisten Übersetzungen, spielte in JSt.s theologischer Sicht, seiner Heilsgeographie, und auch persönlich in seinen letzten Lebensjahren eine besondere Rolle.2 Seit dem Heimweh-Roman und dem Grauen Mann war Russland für ihn symbolisch einer der endzeitlichen „Bergungsorte“ im Osten, auch wegen der dort schon bestehenden Herrnhuter Brüdergemeinen. Auf den Weg dorthin sollten sich die wahren Christen aufmachen. (Das geschah konkret aus ökonomischen Gründen im Hungerjahr 1817 und danach in einer großen Auswanderungswelle von Deutschland nach Russland.) Der seit 1801 regierende Zar Alexander I. war zudem seit 1793 mit einer badischen Prinzessin vermählt. 1813 und 1814, nach dem Ende der napoleonischen Kriege, weilte der Zar wiederholt vorübergehend in Karlsruhe und in Bruchsal, dem Witwensitz seiner Schwiegermutter, wobei es zu bewegenden Begegnungen zwischen von 2002, stellte aber auch selbst Recherchen zur Korrespondenz im außerdeutschen Raum an. Dabei ergab sich mehrfach zumindest das Wissen um weitere, bisher unbekannte Korrespondenzen. 2 Die Vf.n konnte sich in diesem Kapitel auf die beiden schon erwähnten Spezialschriften von Tatjana Högy (1984, eine Diss. von 1954), und Michael Schippan 2000 stützen. – JSt. hatte seit etwa 1804 persönliche Beziehungen und Begegnungen mit dem russischen Zarenhof. Finanzielle Zuwendungen des Zarenhofs minderten JSt.s Schulden; sein jüngster Sohn Friedrich Jung, ein Problemkind, wurde 1827 in den russischen Erbadel erhoben und 1838 Oberpostmeister und Staatsrat in Riga.
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Alexander und JSt. kam. – Übersetzungen von Werken JSt.s ins Russische (39– 60), vorwiegend fast alle seiner religiösen Schriften, setzten 1805 ein, herausgebracht von verschiedenen Übersetzern aus hohen Administrations- und Freimaurerkreisen, oft mit Bearbeitungen der originalen Texte JSt.s., mündlich vorgetragen auch auf Vorleseabenden. Auf besonderes Interesse stieß selbstverständlich der Heimweh-Roman, der Schlüsselroman über den Weg des Christen zu seiner himmlischen Heimat im ewigen Osten; aber zum Beispiel ebenfalls die Scenen aus dem Geisterreich. Zur Verbreitung der Übersetzungen trugen bestehende Bibelgesellschaften bei. Manches Buch fand irgendwann auch Feindschaft, so die Übersetzung von JSt.s Siegsgeschichte der christlichen Religion (1799), einer Auslegung der Johannesoffenbarung, in der die russische orthodoxe Kirche eine Diskriminierung zu finden glaubte. Die folgenden neun Kapitel, zu Übersetzungen in weiteren sieben verschiedenen Sprachen, brauchen hier nicht alle in gleicher Ausführlichkeit referiert zu werden. Dass es seit 1806 schwedische Übersetzungen verschiedener Übersetzer in verschiedenen Verlagen gab, wiederum in der Mehrheit der religiösen Werke JSt.s, wurde dadurch gefördert, dass der schwedische König, wie vorher schon der Zar, eine badische Prinzessin geheiratet hatte. Mehrere Zeitschriftenbeiträge über JSt. aus diesen Jahren sind ebenfalls nachweisbar. 1811 bis 1816 hat ein Briefwechsel mit einem schwedischen Universitätsdrucker stattgefunden. Bei den dänischen Übersetzungen fällt eine – sonst nicht nachweisbare – Übersetzung eines ökonomischen Buchs JSt.s auf: 1824 die Übersetzung des Lehrbuchs der Handlungswissenschaft von 1785. In Norwegen scheint JSt. erst 1843 bekannt geworden zu sein, als ein 16-Seiten-Auszug aus dem Grauen Mann auf Norwegisch erschien. Nach England bestanden engere Beziehungen JSt.s, seit die Religious Tract Society, gegründet 1799, sich im Jahr 1802 erstmals an ihn gewandt hatte mit dem Ziel, auch in Deutschland eine Erbauungsbüchergesellschaft ins Leben zu rufen und Erbauungsschriften zu verbreiten. Die Engländer ließen JSt. sogar ungefragt einen größeren Geldbetrag zukommen; mit diesem Geld begann JSt. sein Periodikum Der christliche Menschenfreund in Erzählungen für Bürger und Bauern (erschienen 1803 bis 1807). – In JSt.s Augen waren ebenso die Missionary Society von 1795 und die British and Foreign Bible Society von 1804 vorbildlich in ihren Aktivitäten. Auslandssekretär aller drei englischen Gesellschaften war ab 1802 der württembergische Pfarrer der deutschen lutherischen Gemeinde in London Karl Friedrich Steinkopf (der leider im Buch nicht erwähnt wird), JSt. vertraut seit dessen Zeit als Sekretär der Basler Christentumsgesellschaft 1795 bis 1801. Dass sich ein Briefwechsel zwischen den Engländern und JSt. ergab, versteht sich von selbst; JSt.s Briefe wurden zum Teil, ins Englische übersetzt, in dem Londoner Evangelical Magazine abgedruckt. In seinem Brief vom 3. März 1803 verwies JSt. auf den Leseerfolg von Übersetzungen seiner Werke, besonders des Heimweh-Romans, in Amerika, Dänemark, Schweden und Russland und wünschte sich auch eine Übersetzung seiner Lebensgeschichte
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ins Englische. Dennoch sollte eine erste Übersetzung, und zwar eine der Theorie der Geisterkunde, noch über 30 Jahre auf sich warten, bis 1834. In Nordamerika waren es wegen der deutschen Auswanderer in Neu-England mehrheitlich deutschsprachige Nachdrucke von Werken JSt.s (seit 1797). Später gab es zudem Übersetzungen, so zuerst 1815 die der Scenen aus dem Geisterreiche. Verantwortlich für die Nachdrucke waren durchweg lutherische Pfarrer. Aus unserer Zeit gibt es Reprint-Ausgaben der Werke JSt.s. JSt.s Verhältnis zum republikanischen Frankreich war zwiespaltig; darauf kann hier nicht eingegangen werden. Es ist anzunehmen, dass originale deutschsprachige Werkeausgaben JSt.s früh im teils alemannisch-, teils deutschsprachigen Elsass bekannt wurden. Johann Friedrich Oberlin und dessen Familiemitglieder übersetzten, aus persönlicher, familiärer Betroffenheit heraus, seit etwa 1799 einzelne Szenen aus dem ersten Band der Scenen aus dem Geisterreiche von 1795 ins Französische, wie entsprechende Handschriften im Nachlass Oberlin bezeugen. Die Freundschaft zwischen Oberlin und JSt. begann bald darauf, wahrscheinlich 1801, mit späteren Korrespondenzen und persönlichen Besuchen. Eine erste gedruckte Übersetzung von JSt.-Schriften erschien dagegen schon 1795, nämlich die von Teilen des Romans Die Geschichte Florentins von Fahlendorn (1781–1783). Erst 1842 waren als Nächstes übersetzte Teile der Lebensgeschichte in einer französischen Zeitschrift zu lesen. JSt.s Verbindungen in die Schweiz bestanden in der Freundschaft mit Johann Kaspar Lavater in Zürich (den er schon 1774 auf einer Elberfelder Zusammenkunft kennen gelernt hatte), in intensiver Korrespondenz 1774 bis 1800, in drei Patientenreisen des Arztes JSt. in die deutschsprachige Schweiz nach Lavaters Tod 1801 bis 1803; in Korrespondenzen mit verschiedenen Briefpartnerinnen und -partnern; später waren sie aber auch durch das Verbot seiner Theorie der Geisterkunde 1808 in Basel bestimmt. Es ist anzunehmen, dass JSt.s Schriften verbreitet in ihren Originalausgaben gelesen wurden. Ins Französische übersetzt erschienen erst 1835 bis 1841 die sechs Teile der Lebensgeschichte in Auszügen. Für 1862 ist die Theorie der Geisterkunde auf Französisch nachweisbar. Im katholischen Italien fanden Werke JSt.s keine erkennbare Resonanz. Der erste Teil der Lebensgeschichte auf Italienisch: Giovinezza di Enrico Stilling von 1949 verdankte sich literaturgeschichtlichem Interesse. In Finnland erschien ebenfalls erst 1946 ein Werk JSt.s in Finnisch, nämlich die Lebensgeschichte. Wiederum ist es jedoch wahrscheinlich, dass deutsche JSt.Ausgaben schon lange zuvor gelesen wurden, dazu sicher auch schwedischsprachige. Die Reihenfolge der elf Länderkapitel folgt keiner erkennbaren Ordnung. Die beschreibenden Kapitel selbst sind im Allgemeinen nicht chronologisch geordnet und bisweilen verwirrend detailreich. Das gilt insbesondere für die oft langen Informationen über Übersetzer und Verleger, sogar zu deren Leben, was die wenigsten Leser, noch weniger Benutzer des Buchs interessieren dürfte. – Welche Übersetzungsdrucke der Vf.n in Autopsie vorlagen, wird nicht mitgeteilt, kann manchmal aber aus dem Zusammenhang geschlossen werden. Eine bewunderns-
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werte mehrsprachige Kompetenz und eine notwendige außerordentliche Recherchetätigkeit derVf.in im fremdsprachigen Internet warenVoraussetzungen für die Erarbeitung dieses vielfältig informativen Buchs. Die Verfasserin schreibt in der Einleitung: „So entstand auch eine Geschichte der Rezeption Jung-Stillings im nichtdeutschen Raum im Zeitraum von über zweihundert Jahren.“ Aber eben aufgeteilt in die elf Länderkapitel und leider nicht zusammengefasst in einem Fazit. Gerhard Schwinge
Durmersheim (bei Karlsruhe)
Sara Janner: Zwischen Machtanspruch und Autoritätsverlust. Zur Funktion von Religion und Kirchlichkeit in Politik und Selbstverständnis des konservativen alten Bürgertums im Basel des 19. Jahrhunderts. Basel: Schwabe Verlag 2012 (Basler Beiträge zur Geschichtswissenschaft, 184). – 595 S.; Ill., Abb. Im Zentrum dieser von Josef Mooser betreuten umfangreichen und bebilderten Basler Dissertation steht der Verein der Freunde Israels. Dieser 1830 gegründete Basler Männerverein widmete sich der Judenmission. Er war eine wichtige Vereinigung innerhalb der zahlreichen Gesellschaften und V ereine, die während des 19. Jahrhunderts zentrale Bestandteile der Lebenswelt des konservativen Basler Bürgertums darstellten. Diese weit ausdifferenzierte soziative Landschaft ist wesentlich weniger erforscht, als man auf den ersten Blick meinen sollte. Bislang standen vor allem die Entwicklungen einzelner V ereine im Fokus der Forschung, die personellen Bezüge zwischen religiösen Vereinen und seinem politischen Umfeld sind indes ebenso wenig untersucht wie die Mechanismen, die der frommen Minderheit direkte wie indirekte Einflussnahmen auf die städtische wie kantonale Politik ermöglichten. Am Beispiel des Vereins der Freunde Israels geht die Studie diesen Fragen nach und rekonstruiert soziale wie politische Differenzierungsprozesse sowie die damit zusammenhängende Genese religiöser Haltungen. Methodisch geht die Vf. dabei so vor, dass sie sich „auf einen gut dokumentierten Verein und eine Teilgruppe der konservativen Stadtbürgerschaft“ beschränkt (20). Dabei konnte sie auf breites Quellenmaterial zurückgreifen, denn das Vereinsarchiv ist für den Zeitraum von 1830 bis 1914 praktisch vollständig und im originalen Aktenzusammenhang erhalten. Die Arbeit wertet erstmalig dieses umfangreiche Archiv, das im Staatsarchiv des Kantons Basel-Stadt deponiert ist, aus. Der Verein, der zur religiös-konservativen Stadtbürgerschaft gehörte, die vornehmlich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine politisch einflussreiche Untergruppe der Staatsbürgerschaft darstellte, pflegte eine pietistisch geprägte Kirchlichkeit, wie sie für Teile des Stadtbürgertums durchaus typisch war. Nur in diesen pietistischen Kreisen pflegte man Judenmission, anderen religiösen Gruppierungen in Basel oder gar der politischen Obrigkeit war sie im Gegen-
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satz beispielsweise zu Preußen fremd. Im Zentrum der Untersuchung stehen das soziale und politische Umfeld des Vereins, die Transformationen des Religionsund Kirchenverständnisses sowie die Interdependenz von religiösen Überzeugungen und sozialen wie politischen Funktionen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Basel. Zudem untersucht die Vf. die Rezeption des rasch voranschreitenden Säkularisierungsprozesses aus der Sicht des Vereins und seiner Mitglieder. Diese vielfältigen Perspektiven, ein personenzentrierter Forschungsansatz sowie ein ausgeprägtes terminologisches wie historisches Bewusstsein zeichnen diese Studie aus, der es auch darum geht, die traditionelle Geschichtsschreibung und die aus ihr resultierenden Geschichtsbilder kritisch zu hinterfragen. Die Arbeit, die sich nach einer umsichtigen Einleitung in fünf Kapitel gliedert, setzt mit einer Rekonstruktion der heutigen Überlieferungslage ein und beschreibt ausführlich das Archiv sowie die Selbstdokumentation des Vereins. Da man sich selbst als Werkzeug Gottes beim Bau des Reiches Gottes verstand, kam der archivalischen Dokumentation eine eminent religiöse, geradezu heilsgeschichtliche Bedeutung zu, die bei der Interpretation der Akten zu berücksichtigen ist. Dass sich dieses Verständnis spätestens in den 1870er Jahren veränderte, zeigt die sich nun unübersehbar wandelnde Selbstdokumentation, die immer weniger als religiöse Praxis interpretiert wurde.Von besonderem Interesse sind in diesem Kontext der Selbstdarstellung die „ikonographischen“ Ausführungen zu den überlieferten Portraits und zur pietistischen Bildtradition beispielsweise, die in der Forschung bislang viel zu wenig Aufmerksamkeit fanden. Auf Entstehung, Hintergründe und Bedeutung dieser zunehmend personalisierten Historiographie im Frommen Basel geht die Vf.n ausführlich und erhellend ein. Das zweite Kapitel „Stadtbürgerschaft und altes Bürgertum zwischen 1803 und 1889“ bietet einen vielschichtigen und differenzierten Einblick in die Stadtgeschichte und zeigt neben den Basler politischen Spezifika des engen Nebeneinanders von kantonalen und städtischen Obrigkeiten vor allem die Entwicklung der politischen Stadtgemeinde im Kontext des bis zur Verfassungsrevision von 1875 bestehenden Zunftzwanges im Halbkanton Basel-Stadt, der unmittelbar mit dem Wahlsystem und mit der städtischen Ökonomie zusammenhing. Daneben kommen die vielfältigen bildungspolitischen, armenfürsorgerlichen und volksaufklärerischen landwirtschaftlichen Reformbemühungen in den Blick, wie sie beispielsweise der Stadtpfarrer Daniel Kraus-Bachofen vertrat. Abgesehen von den frommen Vereinen agierte in diesem reformerischen Sinne in der Stadt vornehmlich die Gesellschaft für das Gute und Gemeinnützige, in der liberale Reformer einen größeren Einfluss besaßen. Auf der Basler Landschaft engagierten sich zahlreiche Pfarrer, die zur Herrnhuter Predigerkonferenz gehören, als Reformer. Für die weitere Geschichte Basels spielten – auch in religionsgeschichtlicher Perspektive – die Unruhen der frühen 1830er Jahre, die so genannten „Dreissiger Wirren“ eine entscheidende Rolle. Sie führten schließlich zur Kantonstren-
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nung im Jahr 1833. Fortan bestand neben dem Halbkanton Basel-Stadt ein politisch wie religiös durchaus anders geprägter Halbkanton Basel-Landschaft. Danach nimmt die Vf.n in ihrem dritten Kapitel „Kirche, Kirchgemeinden und religiöse Vereine zwischen 1803 und 1894“ in den Blick und stellt kenntnisreich und detailliert neben den religionsrechtlichen wie religionspolitischen Verhältnissen die kirchliche Situation vor. Wichtige Zäsuren dieser Geschichte waren zweifelsohne die Aufhebung des Bekenntniszwangs in der Basler Kirche sowie der Eintritt in das bis heute bestehende interkantonale Konkordat im Jahr 1871, ferner die kirchlichen Richtungskämpfe, die nicht nur in Basel das kirchliche Leben und die theologischen Debatten der reformierten Eidgenossenschaft im 19. Jahrhundert maßgeblich prägten. Neben der reformierten Staatskirche widmet sich die Vf.n knapp der Geschichte der Katholischen Kirche sowie – ausführlicher – der Juden in Basel und ihrem Verhältnis zum Basler Bürgertum seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert. Das Kapitel schließt mit einer umfangreichen Beschreibung der Basler religiösen Vereine, Gesellschaften und Anstalten. Diese Vereine besaßen – waren sie kirchlich oder außerkirchlich initiiert und verortet – als zentrale Vergemeinschaftungsformen für die Geschichte der Stadt in sozialer wie religiöser Hinsicht höchste Bedeutung. Gerade den außerkirchlichen Vereine kam häufig eine oppositionelle Rolle gegenüber der Kirche zu, hier konnten beispielsweise im Anschluss an die Erweckungsbewegung neue Formen von Frömmigkeit gelebt werden, ohne dass aber damit ein Auszug aus der Landeskirche verbunden sein musste. Die religiösen Akteure bespielten durchaus unterschiedliche Bühnen christlichen Lebens und suchten sich ihre „Ausweichzonen“. Eine Zeitlang sammelte und koordinierte die Deutsche Christentumsgesellschaft das religiöse Vereinsleben und entwickelte ein weites kommunikatives Netzwerk, das Gleichgesinnte im Inund Ausland miteinander verband. Genauere quantitative Angaben über die Vereine lassen sich erst seit Mitte des 19. Jahrhunderts machen, als 1854 ein erstes Vereinsregister im Basler Adressbuch erschien. Wenige Jahre später verzeichnete ein Verzeichnis schon 138 Vereine. Dazu kommen noch einige Vereine, die entweder nicht mitgezählt worden waren oder selbst – wie manche Frauenvereine – nicht den Gang an die Öffentlichkeit taten. Schon allein in quantitativer Hinsicht ist die Bedeutung dieser religiösen und nichtreligiösen Vereine evident.Weiter ist offensichtlich, dass trotz des Wachstums der religiösen Vereine in absoluten Zahlen ihr Anteil im Verhältnis zu den nichtreligiösen seit 1862 rückläufig war. Die religiösen Vereine wurden vor allem von Laien getragen und finanziert, auch wenn sie unter der Leitung von Pfarrern standen. Eine Unterscheidung zwischen kirchlich oder außerkirchlich ist bei vielen Vereinen schwierig. Zu den außerkirchlichen Vereinen zählte die schon genannte Christentumsgesellschaft, die 1780 gegründet worden war. Dennoch pflegte sie ein enges Verhältnis zur Basler Kirche und zu ihren Geistlichen. Mit der Zeit wuchs in den Kreisen dieser Vereine sogar der Wunsch, auch auf der theologisch-akademischen Ebene aktiv zu werden, um eher liberalen Theologen Paroli bieten zu können. Zu diesem Zweck gründete sich 1836 der V er-
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ein für christlich-theologische Wissenschaft und christliches Leben, der an der Theologischen Fakultät in Basel eine Stiftungsprofessur einrichtete, die beispielsweise der spätere Tübinger Professor Johann Tobias Beck innehatte. Ferner nahmen Vereine Bibelverbreitung, Mission und Stadtmission in den Blick. Neben vielen anderen größeren und kleineren Tätigkeitsfeldern fand auch die Mission der Juden Aufmerksamkeit. Dieser letztgenannten Aufgabe verschrieb sich der Verein der Freunde Israels, dessen Tätigkeit in den Jahren 1830 bis 1894 im vierten Kapitel thematisiert wird. In dieser gut 200 Seiten langen Darstellung geht S. Janner, die 2004 einen Forschungsbericht zur „Judenmission in Basel in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts“ vorgelegt hat, zunächst von der Förderung dieses Engagements durch die beiden Württemberger Christian Heinrich Spittler und Christian Gottlieb Blumhardt aus. Diese beiden Namen stehen für die überaus enge Verbindung zwischen Württemberg und Basel, die sich anhand zahlreicher Personen festmachen lässt, auch jenseits pietistischer und erweckter Kreise im liberalen theologischen Lager. Der judenmissionarische Verein wurde vergleichsweise nur von einer kleinen Anzahl Basler Stadtbürger unterstützt. Die Mission unter den Juden ging mit den sich verschlechternden Verhältnissen für Juden in Basel und der Umgebung einher. Im weiteren Verlauf informiert die Vf.n über die Arbeitsgebiete und Organisationskonzepte des Vereins, beschreibt die personellen und finanziellen Entwicklungen und geht auf die geographischen Einzugsgebiete und die überregionalen Beziehungsnetze ein. Dabei kommt auch die geschichtstheologische Dimension der Vereinstätigkeit in den Blick. Als ein für die Stadtbevölkerung sichtbares Manifest der missionarischen Tätigkeit wurde 1842 – in vollem Bewusstsein dieser Provokation – in unmittelbarer Nähe zum privaten Betsaal der jüdischen Gemeinde das so genannte Proselytenhaus errichtet. Im weiteren Verlauf verdichteten sich die Beziehungen zur Pilgermission, die auf Chrischona ihren Sitz hatte. Der Verein war um 1844 eine in der Erweckungsbewegung „anerkannte, auf die Aufklärungsarbeit unter Christen und die Betreuung evangelisierter Juden spezialisierte Missionsgesellschaft“ (342). Der Verein sah sich in der Folgezeit zunehmender Kritik ausgesetzt und ihm drohte der finanzielle Zusammenbruch. In dieser Phase näherte man sich der Basler Missionsgesellschaft an. Seit Mitte der 1850er Jahre verlor der Verein kontinuierlich an Ansehen und Attraktivität. Über die folgenden zahlreichen Auseinandersetzungen und Debatten informiert die Vf.n sehr detailliert und zeigt dabei die interessanten personellen Konstellationen auf und geht auf das Engagement von Frauen im Verein ein. Die so genannte „Proselytenpflege“, die Betreuung konversionswilliger Juden bis zur Taufe, stellte für den Verein bis 1890 die zentrale Aufgabe dar und erfolgte meist in Basel. Darüber hinaus erstreckte sich die Arbeit auf einen weiten internationalen Raum, über den die Studie ebenso umfassend informiert wie über die dort involvierten Personen und die Korrespondenz- und Unterstützungsnetze. In den dieses Kapitel abschließenden Abschnitt über die geschichtstheologischen Perspektiven wird die enge Verbindung der Judenmission mit eschatologischen und heilsgeschichtli-
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chen Vorstellungen und Erwartungen deutlich. Dabei hielt die Missionstheologie des Vereins im Gegensatz zu anderen reformierten respektive protestantischen Konzepten an den Heilsversprechungen an das „alte Bundesvolk“ im Alten Testament fest: „Das christliche Judenbild gab der missionarischen Arbeit der Freunde Israels eine eschatologische Dimension, die nur der Judenmission eigen ist“ (499). Es ging darum, die in der christlichen Tradition als „Gottesleugner“ verurteilten Juden zur Anerkennung der Messianität Jesu zu führen. Darüber hinaus waren die in der Stadt vorgenommenen Judentaufen und die Aufnahme von getauften Juden in die Geschäfte oder als Schwiegersohn in die Familie „hochpolitische Symbolhandlungen, die die geschichtstheologische Deutung der zeitgenössischen Ereignisse der religiös-konservativen Kreise konkretisierten und für andere anschaulich machten“ (506). Im letzten und fünften Kapitel „Religion und Kirchlichkeit von Stadtbürgerschaft und altem Bürgertum im Basel des 19. Jahrhunderts“ geht die Vf.n abschließend Differenzierungsprozessen in der Stadtbürgerschaft Basels nach, untersucht „Entstehung und Entwicklung der Kirchlichkeit von Stadtbürgerschaft und altem Bürgertum“ sowie die politische Funktion der Missionstätigkeit, um abschließend recht knapp „Geschichtsbild und Geschichtstheologie des konservativen und religiös-konservativen alten Bürgertums nach 1850“ zu erörtern. Zahlreiche Tabellen sowie ein Personenregister runden den Band ab. Die Dissertation von Sara Janner zeichnet anhand einer breiten Quellenbasis in eindrücklicher Weise die vielfältigen religiösen Prozesse, Netzwerke und personellen Verflechtungen nach. Ihr gelingt es in hervorragender Weise politische und religiöse Entwicklungen in Beziehungen zu setzen. Für die Erforschung der Religionsgeschichte Basels im 19. Jahrhundert hat sie zweifelsohne einen überaus wichtigen Beitrag geleistet, der nicht nur durch seine methodische Reflektion und inhaltliche Präzision überzeugt, sondern auch durch seine formale wie sprachliche Gestaltung. Wer sich zukünftig über das religiöse Leben im Basel des 19. Jahrhunderts informieren will, findet in dieser vorzüglichen Dissertation einen überaus reichen Fundus an Informationen. Thomas K. Kuhn
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Greifswald
Bibliographie
Christian Soboth
Pietismus-Bibliographie Gliederung der Bibliographie: I. Allgemeines I.01 I.02 I.03
Bibliographien, Forschungsberichte Sammelwerke, Festschriften Gesamtdarstellungen, Gesamtwürdigungen
II. Vorgeschichte, begleitende Strömungen III. Deutschland III.01 Frömmigkeitsbewegung seit Johann Arndt III.02 Philipp Jakob Spener III.03 August Hermann Francke und der hallische Pietismus III.04 Radikaler Pietismus III.05 Reformierter Pietismus III.06 Zinzendorf und die Herrnhuter Brüdergemeine III.07 Württembergischer Pietismus III.08 Regionalgeschichte III.09 Orthodoxie und Aufklärung in ihren Beziehungen zum Pietismus III.10 Übergang zur Erweckungsbewegung III.11 Strömungen und Entwicklungen nach 1830 IV. Andere Länder IV.01 England und Schottland IV.02 Niederlande IV.03 Schweiz IV.04 Skandinavien IV.05 Nordamerika IV.06 Östliches Mitteleuropa, Osteuropa, Südosteuropa IV.07 Sonstige V. Übergreifende Themen V.01 V.02 V.03 V.04 V.05 V.06
Theologie und Frömmigkeit Sozial- und Staatslehre, Pädagogik Ökumene, Mission und Diakonie Philosophie, Literatur, Kunst, Architektur und Musik Medizin, Naturwissenschaften und Psychologie Ökonomie, Industrialisierung
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V.07 Buch-, Bibliotheks- und Verlagsgeschichte, Medien und Kommunikation V.08 Gender V.09 Geschichtsbewusstsein und -konstruktion Es gelten die Abkürzungen des Abkürzungsverzeichnisses der TRE. Im Folgenden bedeutet: ABQ American Baptist Quarterly AGP Arbeiten zur Geschichte des Pietismus AHR American Historical Review AKG Arbeiten zur Kirchengeschichte ARG Archiv für Reformationsgeschichte ARPs Archiv für Religionspsychologie ASKG Archiv für schlesische Kirchengeschichte ASNS Archiv für das Studium der neueren Sprachen ASSR Archives de sciences sociales des religions BHTh Beiträge zur historischen Theologie BLT Brethren life and thought BPfKG Blätter für pfälzische Kirchengeschichte und religiöse Volkskunde BSHPF Bulletin de la Société de l’Histoire du Protestantisme Français BSHST Basler und Berner Studien zur historischen und systematischen Theologie BWKG Blätter für Württembergische Kirchengeschichte ChH Church history ChM Churchman CrSt Cristianesimo nella storia CScR Christian scholar’s review CTQ Concordia Theological Quarterly CV Communio viatorum DeP Doctrina et Pietas DNR Documentatieblad Nadere Reformatie DtPfrBl Deutsches Pfarrerblatt EMKG.M Evangelisch-methodistische Kirche Geschichte. Monographien EnglSt English studies ERT Evangelical review of theology ETR Études théologiques et religieuses EvQ The Evangelical quarterly EvTh Evangelische Theologie FBPG Forschungen zur brandenburgischen und preußischen Geschichte FiHi Fides et historia FKDG Forschungen zur Kirchen- und Dogmengeschichte FZPhTh Freiburger Zeitschrift für Philosophie und Theologie GeGe Geschichte und Gesellschaft GlLern Glaube und Lernen HerChr Herbergen der Christenheit HJ Historisches Jahrbuch HThR Harvard theological review HoLiKo Homiletisch-liturgisches Korrespondenzblatt HS Historische Studien HSR Historical Social Research/Historische Sozialforschung
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HTS Hervormde teologiese studies JBBKG Jahrbuch für Berlin-Brandenburgische Kirchengeschichte JBLG Jahrbuch für brandenburgische Landesgeschichte JEH Journal of ecclesiastical history JES Journal of ecumenical Studies JETh Jahrbuch für evangelikale Theologie JETS Journal of the Evangelical Theological Society JGNKG Jahrbuch der Gesellschaft für Niedersächsische Kirchengeschichte JGPrÖ Jahrbuch für die Geschichte des Protestantismus in Österreich JHKGV Jahrbuch der Hessischen Kirchengeschichtlichen Vereinigung JLT Journal of literature and theology JRH Journal of religious history JSKG Jahrbuch für schlesische Kirchengeschichte JWKG Jahrbuch für westfälische Kirchengeschichte KHÅ Kyrkohistorisk årsskrift KTP Kleine Texte des Pietismus KuD Kerygma und Dogma LKW Lutherische Kirche in der Welt LuthBei Lutherische Beiträge LuThK Lutherische Theologie und Kirche LuthQ Lutheran Quarterly MdKI Materialdienst des Konfessionskundlichen Instituts Bensheim MEKGR Monatshefte für evangelische Kirchengeschichte des Rheinlandes MennQR The Mennonite quarterly review MethH Methodist history MGB Mennonitische Geschichtsblätter Miss Missiology MoTh Modern theology MSR Mélanges de science religieuse MuK Musik und Kirche MWF Missionswissenschaftliche Forschungen NAKG Nederlands archief voor kerkgeschiedenis NEQ The New England Quarterly. A Historical Review of New England Life and Letters NZfM Neue Zeitschrift für Musik ÖEBB Ökumenische Existenz in Berlin-Brandenburg OGE Ons geestelijk erf OiC One in Christ. A catholic ecumenical review PH Paedagogica historica PosLuth Positions Luthériennes PuN Pietismus und Neuzeit PWS Pietist and Wesleyan studies QBGHM Quellen und Beiträge zur Geschichte der Hermannsburger Mission QSt Quaderni storici QuHi Quaker History Ref. Reformatio RestQ Restoration quarterly RExp Review and expositor
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RGG RHE RHPhR RHR RKZ RoJKG RSLR SCJ SDLKG SKGNS SVRKG SVSHKG ThBeitr ThFPr ThLZ ThR ThRv ThRef ThZ TJT TRE TrSt TrZ.B TThZ TynB UnFr VDWI VMPIG WeZ WThJ WTJ WuD ZBKG ZfG ZGO ZHF ZKG ZMiss ZNThG ZPT ZRGG ZSKG ZSRG.K ZThK Zwing. ZWLG
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Religion in Geschichte und Gegenwart Revue d’histoire ecclésiastique Revue d’histoire et de philosophie religieuses Revue de l’histoire des religions Reformierte Kirchenzeitung Rottenburger Jahrbuch für Kirchengeschichte Rivista di storia e letteratura religiosa The Sixteenth century journal Studien zur deutschen Landeskirchengeschichte Studien zur Kirchengeschichte Niedersachsens Schriftenreihe des Vereins für Rheinische Kirchengeschichte Schriften des Vereins für Schleswig-Holsteinische Kirchengeschichte Theologische Beiträge Theologie für die Praxis Theologische Literaturzeitung Theologische Rundschau Theologische Revue Theologia reformata Theologische Zeitung Toronto journal of theology Theologische Realenzyklopädie Trinity studies. Trinity Evangelical Divinity School Trierer Zeitschrift für Geschichte und Kunst des Trierer Landes … Beiheft Trierer theologische Zeitschrift Tyndale bulletin Unitas Fratrum Veröffentlichungen des Diakoniewissenschaftlichen Instituts Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte Wereld en Zending Westminster Theological Journal Wesleyan Theological Journal Wort und Dienst. Jahrbuch der Kirchlichen Hochschule Bethel Zeitschrift für bayerische Kirchengeschichte Zeitschrift für Geschichtswissenschaft Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins Zeitschrift für Historische Forschung Zeitschrift für Kirchengeschichte Zeitschrift für Mission Zeitschrift für neuere Theologiegeschichte Zeitschrift für Pädagogik und Theologie Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte Zeitschrift für schweizerische Kirchengeschichte Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte. Kanonistische Abteilung Zeitschrift für Theologie und Kirche Zwingliana. Zürich Zeitschrift für württembergische Landesgeschichte
I. Allgemeines I.01 Bibliographien, Forschungsberichte 1. Soboth, Christian u. Oliver Seide: Pietismus-Bibliographie. In: PuN 42 [s. Nr. 10], 225–248. 2. Bray, Emma Rachel: A Local Study of the Dynamics of Wesleyan Methodist Revival in North Cumbria, 1840–1920. In: Wesley and Methodist Studies 9,1,2017, 57–79. 3. Klosterberg, Brigitte: Das Francke-Portal: Rechercheplattform für die Forschung. Zum Abschluss des vierjährigen DFG-Projekts am Studienzentrum August Hermann Francke. In: Das Jahresmagazin der Franckeschen Stiftungen. Halle: Franckesche Stiftungen 2017, 26f.
I.02 Sammelwerke, Festschriften 4. »Schrift soll leserlich seyn«. Der Pietismus und die Medien. Beiträge zum IV. Internationalen Kongress für Pietismusforschung 2013. Hg. v. Christian Soboth u. Pia Schmid. Halle: Verlag der Franckeschen Stiftungen 2016. – 818 S. – [enth. Nr. 23, 29, 33, 44, 46f., 50, 56f., 63, 69, 80, 83, 86, 93, 97, 100, 108, 111, 113f., 117, 121, 131, 134f., 139, 141f., 144, 146, 148, 161, 166f., 170, 182, 187–189, 191–193, 195– 198, 201, 206] 5. Erziehung als ,Entfehlerung‘. Weltanschauung, Bildung und Geschlecht in der Neuzeit. Hg. v. Anne Conrad u. Alexander Maier. Bad Heilbrunn: Verlag Julius Kinkhardt 2017. – 244 S. – [enth. Nr. 42, 138, 145, 203] 6. Halle als Zentrum der Mehrsprachigkeit im langen 18. Jahrhundert. Hg. v. Mark Häberlein u. Holger Zaunstöck. Halle: Verlag der Franckeschen Stiftungen 2017. – 265 S. – [enth. Nr. 32, 35f., 40, 115, 149, 190, 200] 7. Handbuch Evangelische Spiritualität. Band 1: Geschichte. Hg. v. Peter Zimmerling. Göttingen:Vandenhoeck & Ruprecht 2017. – 828 S. – [enth. Nr. 25, 43, 45, 65, 70, 90] 8. Innerlichkeit – Existenz – Subjekt: Kierkegaard im Kontext. Dokumentation zweier internationaler Arbeitsgespräche an der Theologischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin und an den Franckeschen Stiftungen zu Halle an der Saale. Hg. v. Eberhard Habsmeier u. Christian Senkel. Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2017. –190 S. 9. Pietismus. Eine Anthologie von Quellen des 17. und 18. Jahrhunderts. Hg. v.Veronika Albrecht-Birkner [u. a.]. Leipzig: Evang.Verl.-Anst. 2017. – 714 S. 10. Pietismus und Neuzeit. Jahrbuch zur Geschichte des neueren Protestantismus. Bd. 42. Im Auftrag der Historischen Kommission zur Erforschung des Pietismus hg. v. Udo Sträter [u. a.]. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2017. – 260 S. – [enth. Nr. 1, 26, 30, 73, 79, 127, 164, 199] 11. Radicalism and Dissent in the World of Protestant Reform. Hg. v. Anorthe Kremers u. Bridget Heal. Göttingen:Vandenhoeck & Ruprecht 2017. – 273 S. – [enth. Nr. 133, 151, 169] 12. Reporting Christian missions in the Eighteenth Century: communication, culture of knowledge and regular publication in a cross-confessional perspective. Hg. v.
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Markus Friedrich u. Alexander Schunka. Wiesbaden: Harrassowitz 2017. – 196 S. – [enth. Nr. 150, 154, 156, 159, 186, 194] 13. Magdalena Sibylla von Württemberg: Politisches und kulturelles Handeln einer Herzogswitwe im Zeichen des frühen Pietismus. Hg. v. Joachim Kremer. Ostfildern: Jan Thorbecke Verlag 2017. – 208 S. – [enth. Nr. 68, 72, 74–76, 171, 183]
I.03 Gesamtdarstellungen, Gesamtwürdigungen 14. Gleixner, Ulrike: Pietism. In:The Oxford handbook of the Protestant reformations. Oxford: Oxford University Press 2017, 329–349. 15. Harasimowicz, Jan: Sichtbares Wort – Die Kunst als Medium der Konfessionalisierung und Intensivierung des Glaubens in der Frühen Neuzeit. Regensburg: Schnell und Steiner 2017. – 360 S. 16. Schloms, Antje: Institutionelle Waisenfürsorge im Alten Reich 1648–1806. Statistische Analyse und Fallbeispiele. Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2017. – 395 S. 17. Jung-Stilling, Johann Heinrich. „... weder Calvinist noch Herrnhuter noch Pietist“: Fromme Populartheologie um 1800. Hg. v. Veronika Albrecht-Birkner. Leipzig: Evang.Verl.-Anst. 2017. – 304 S. 18. Gozdek, Frank-Georg:Valentin Ernst Löscher und die Pietisten. Eine Debatte bis in die heutige Zeit. In: LuthBei, 3, 2017. 19. Schwarz, Berthold: Martin Luther: aus Liebe zur Wahrheit. Die bleibende Bedeutung der Anliegen des Reformators für heute. Dillenburg: Christliche Verlagsgesellschaft 2017. – 499 S. 20. Oertel, Gerhard: Reich Gottes: Jenseits von Rom und Wittenberg: Mit Anliegen Luthers und der Reformation zum 500. Jubiläumsjahr 2017 und mit Gedanken aus dem Wirken von Johann Christoph Blumhardt und Christoph Friedrich Blumhardt. Nürnberg:VTR 2017. – 150 S.
II.Vorgeschichte 21. Geschichte des globalen Christentums. 1.Teil. Frühe Neuzeit. Hg. v. Jens Holger Schjørring [u. a.]. Stuttgart: Kohlhammer 2017. – 709 S. 22. Gespaltene Welt: Schauplätze der Reformation. Hg. v. Günter Kowa u. Henning Keitel. Halle/Saale: Mitteldeutscher Verlag 2017. – 320 S. - [enth. Nr. 118] 23. Hof, Willem Jan op’t: Kommunikationsformen der reformierten Frömmigkeit im 16. und 17. Jahrhundert in internationaler und interkonfessioneller Sicht. In: Schrift soll leserlich seyn [s. Nr. 4], 625–638. 24. Weigelt, Horst: Migration and faith: the migrations of the Schwenkfelders from Germany to America – risks and opportunities. Göttingen:Vandenhoeck & Ruprecht [dtspr. Original 2007] 2017. – 230 S. 25. Sommer, Wolfgang: Die Spiritualität zwischen lutherischer Orthodoxie, Mystik und Pietismus am Beispiel von Johann Arndt (1555–1621). In: Handbuch Evangelische Spiritualität 1 [s. Nr. 7], 213–238. 26. Bütikofer, Kaspar: Johann Heinrich Römer (1628–1697): Zwischen dem Spiritualismus des 17. Jahrhunderts und frühem Pietismus. In: PuN 42 [s. Nr. 10], 116–147.
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III. Deutschland III.02 Philipp Jakob Spener 27. Kettering-Lange, Denise: Philipp Spener and the Role of Women in the Church: The Spiritual Priesthood of All Believers in German Pietism. In: The Covenant Quarterly 75, 1, 2017, 50–69. 28. Wallmann, Johannes: Leibniz’ Beziehungen zu Philipp Jakob Spener, dem Begründer des Pietismus. In: Leibniz im Lichte der Theologien. Hg. v. Wenchao Li u. Hartmut Rudolph. Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2017, 227–253. 29. vom Orde, Klaus: Die Bedeutung eines nie fertiggestellten Buches. Die von Philipp Jakob Spener betreute Kommentierung der Bibel aus Schriften Martin Luthers. In: Schrift soll leserlich seyn [s. Nr. 4], 245–259. 30. Ders.: Die ersten Kontakte Johann Heinrich Sprögels und Anna Dorotheas von Sachsen, Stiftsäbtissin in Quedlinburg, mit Philipp Jakob Spener. In: PuN 42 [s. Nr. 10 ], 65–86.
III.03 August Hermann Francke und der hallische Pietismus 31. Franckesche Stiftungen Handbuch. Hg. v. Kerstin Heldt u. Metta Scholz. Halle/ Saale: Franckesche Stiftungen 2017. – 111 S. 32. Kuhfuß, Walter: Französischunterricht im Paedagogium Regium des Halleschen Waisenhauses in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts und sein Fortwirken in Preußen. In: Halle als Zentrum der Mehrsprachigkeit [s. Nr. 6], 121–138. 33. Lohsträter, Kai: Die periodische Nachrichtenpresse und der Hallesche Pietismus: Anmerkungen zu einem vergessenen Aspekt der Mediengeschichte. In: Schrift soll leserlich seyn [s. Nr. 4], 177–192. 34. Mejrup, Kristian: Grand prospects of Halle pietism: the acrobat, the project-maker and the shepherd. Kopenhagen: The Faculty of Theology, Department of Church History 2016. – 214 S. –[Online Ressource unter: http://teol.ku.dk/uddannelser/ ph_d_uddannelse/dokumenter/KRM_afhandling_PDF_hjemmeside.pdf] 35. Rocher, Michael: Fremdsprachen am Königlichen Pädagogium der Franckeschen Stiftungen. In: Halle als Zentrum der Mehrsprachigkeit [s. Nr. 6], 85–106. 36. Mengel, Swetlana: Slavische Sprachen im Kontext der Glauchaschen Anstalten. In: Halle als Zentrum der Mehrsprachigkeit [s. Nr. 6], 157–166. 37. Müller-Bahlke, Thomas J.: Francke in Luther’s footsteps: The continuation of reformatory issues in Halle Pietism. In: Luther’s land Saxony-Anhalt. Hg. v. Investitionsund Marketinggesellschaft Sachsen-Anhalt. Halle: Mitteldeutscher Verlag 2016, 119–135. 38. Lebensläufe August Hermann Franckes: Autobiographie und Biographie. Hg. v. Markus Matthias. Leipzig: Evang.Verl.-Anst. 22016. – 193 S. 39. Eber, Jochen: Johann Christoph Schinmeyer und sein „Schatzkästlein“, die Vorlage von „Dr. Martin Luthers Christlicher Wegweiser für jeden Tag“. In: JETh 30, 2016, 105–121. 40. Haas, Daniel: »es kam mir diese Sprache etwas schwer vor«. Stephan Schultz (1714 –1776), Mitarbeiter und später Direktor des Institutum Judaicum et Muhammedicum in Halle, und seine Beschäftigung mit orientalischen Sprachen. In: Halle als Zentrum der Mehrsprachigkeit [s. Nr. 6], 167–200.
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41. Schmalz, Björn: Die Glaubenswelt Friedrich Heinrich von Seckendorffs. Eine Studie zu hallischem Pietismus und Adel im 18. Jahrhundert. Halle: Verlag der Franckeschen Stiftungen 2017. – 500 S.
III.04 Radikaler Pietismus 42. Martin, Lucinda: Pietistische Briefe als Mittel der Erziehung in radikal-pietistischen philadelphischen Kreisen um 1700. In: Erziehung als ,Entfehlerung‘ [s. Nr. 5], 69–80. 43. Türk, Sebastian: Die Spiritualität des radikalen Pietismus. In: Handbuch Evangelische Spiritualität 1 [s. Nr. 7], 339–358.
III.05 Reformierter Pietismus 44. Albrecht-Birkner,Veronika: Erbauungsversammlungen im reformierten Bereich als Parameter und Multiplikatoren von (pietistischen) Reformbestrebungen bis 1710. In: Schrift soll leserlich seyn [s. Nr. 4], 68–86. 45. Meyer, Dietrich: Die Spiritualität des reformierten Pietismus am Beispiel Gerhard Tersteegens (1697–1769). In: Handbuch Evangelische Spiritualität 1 [s. Nr. 7], 419– 437. 46. van de Kamp, Jan: Internationale Vermittlung von Reformprogrammen: die Rezeption von Willem Teellincks Noodwendigh vertoogh in Deutschland im 17. Jahrhundert. In: Schrift soll leserlich seyn [s. Nr. 4], 261–283.
III.06 Zinzendorf und die Herrnhuter Brüdergemeine 47. Abels, Birgit: „Außerdem wurden Nachrichten aus St. Thomas und Grönland gelesen“. Musikbezogene Kommunikation aus den ersten Missionen in den Herrnhuter Diarien und Missionsgeschichten. In: Schrift soll leserlich seyn [s. Nr. 4], 601–610. 48. Beck, Christoph Th.: Geordnete Intimität: das Circular-Schreiben der UAC vom Mai 1773 an die Aeltesten-Conferenzen in den Gemeinen, die Medicos und Chirurgicos betreffen. In: UnFr 75, 2016, 47–70. 49. Fogleman, Aaron Spencer: A Moravian Mission and the Origins of Evangelical Protestantism among Slaves in the Carolina Lowcountry. In: Journal of Early Modern History 21, 2017, 38–63. 50. Peucker, Paul: Schreiben als Liturgie: Schreiben und Archivbildung in der Herrnhuter Brüdergemeine. In: Schrift soll leserlich seyn [s. Nr. 4], 431–443. 51. Philipp, Guntram: Ein Nieskyer Glockenspiel. In: UnFr 75, 2016, 167–172. 52. Poole, Dan: The Influences of Pietism on the Development of the Church of the Brethren. In: BLT 62, 1, 2017. 53. Reichel, Naomi: Herrnhuter Tradition und Theologie in der Karibik:Transferprozesse in der Herrnhuter Mission im 18. Jahrhundert. In: UnFr 75, 2016, 121–149. 54. Schmid, Pia: „[…] daß es des Heilands Wille ist, daß wir weg gehen sollen.“ Migration mährischer Glaubensflüchtlinge in Lebensläufen der Herrnhuter Brüdergemeine des 18. Jahrhunderts. In: Migration und Familie – Historische und aktuelle
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Analysen. Hg. v. Meike Sophia Baade [u. a.].Wiesbaden:Verlag für Sozialwissenschaften 2017, 39–60. 55. Speaking to body and soul: instructions for the Moravian choir helpers, 1785–1786. Hg. v. Katherine M. Faull. University Park, Pennsylvania:The Pennsylvania University Press 2017. – 185 S. 56. Vogt, Peter: Die Medialität göttlicher Willenskundgebung in der Lospraxis der Herrnhuter Brüdergemeine. In: Schrift soll leserlich seyn [s. Nr. 4], 465–480. 57. Võsa, Aira: Die Bittschriften der estnischen Nationalgehilfen als ein Zeugnis der Wirksamkeit des herrnhutischen Kulturtransfers. In: Schrift soll leserlich seyn [s. Nr. 4], 671–680. 58. Wheeler, Rachel u. Everly, Sarah: Songs of the Spirit: Hymnody in the Moravian Mohican Missions. In: Journal of Moravian History 17, 1, 2017, 1–25. 59. Philipp, Guntram: Konrad Balcke (1870–1946): Lehrer der Kleinen. Ein Beitrag zur brüderischen Pädagogik. In: UnFr 75, 2016, 151–165. 60. Just, Jiří: Jan Hus in der alten Brüder-Unität. In: UnFr 75, 2016, 9–20. 61. Kokel, Susanne: Die Herrnhuter Gemeine in Pottenstein und die Hus-Feiern zur Jahrhundertwende. In: UnFr 75, 2016, 33–46. 62. MacDonald, Gerald Theodore: Johann Georg Walchs Darstellung und Beurteilung des Grafen Nikolaus Ludwig von Zinzendorf und der Herrnhuter Brüdergemeine. In: UnFr Beihefte 25, 2016. –211 S. 63. Gruner, Marita: Das religiöse Wunderkind und die fromme Gemeindeleiterin: zwei Töchter von Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf. In: Schrift soll leserlich seyn [s. Nr. 4], 117–130. 64. Teigeler, Otto: Zinzendorf als Schüler in Halle 1710–1716. Persönliches Ergehen und Präformation eines Axioms. Halle/Saale: Verlag der Franckeschen Stiftungen 2017. – 345 S. 65. Vogt, Peter: Evangelische Spiritualität bei Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf (1700–1760) und der Herrnhuter Brüdergemeine seiner Zeit. In: Handbuch Evangelische Spiritualität 1 [s. Nr. 7], 438–460. 66. Dose, Kai: Die „neue Musik“ in der Brüdergemeinde nach 1749. Zu einem Gelegenheitsgedicht Zinzendorfs. In: UnFr 75, 2016, 71–103.
III.07 Württembergischer Pietismus 67. Jenkins, Paul:Württemberg als Hauptsäule der historischen Basler Mission – transregionale Erwägungen über Entwicklungen bis 1914. In: BWKG 116, 2016, 29– 54. 68. Fritz, Eberhard: „Hier liegt mein Heiland in dem Garten“ – Herzogin Magdalena Sibylla und der Pietismus in Württemberg. In: Magdalena Sibylla von Württemberg: Politisches und kulturelles Handeln [s. Nr. 13], 51–71. 69. Kannenberg, Michael: Verbergen und veröffentlichen – Privatsammlungen in Württemberg am Anfang des 19. Jahrhunderts. In: Schrift soll leserlich seyn [s. Nr. 4], 445–452. 70. Ising, Dieter: Spiritualität in der Seelsorge des württembergischen Pietisten Johann Albrecht Bengel (1687–1752). In: Handbuch Evangelische Spiritualität 1 [s. Nr. 7], 400–418.
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71. Blumhardt, Johann Christoph. Auszüge aus Briefen,Tagebüchern und Schriften. Hg. v. Dieter Ising. Leipzig: Evang.Verl.-Anst. 2016. – 266 S. 72. Münzmay, Andreas: Philipp Heinrich Erlebachs „Harmonische Freude musicalischer Freunde“ in der Bibliothek der Magdalena Sibylla von Württemberg: Ansätze zu einer Standortbestimmung. In: Magdalena Sibylla von Württemberg: Politisches und kulturelles Handeln [s. Nr. 13], 147–167. 73. Ehinger, Siglind: „… sie gehen […] vor ihm her, wie der Morgen-Glantz der Sonne“. Die Reformation Martin Luthers und ihre ‚Vorläufer‘ im Kirchengeschichtswerk des württembergischen Pietisten Georg Konrad Rieger (1687–1743). In: PuN 42 [s. Nr. 10], 148–161. 74. Loeser, Martin: Johann Rists Liedsammlung in der Bibliothek der Herzogswitwe Magdalena Sibylla von Württemberg. Zum Verhältnis von geistlicher Lebensführung und höfischer Galanterie. In: Magdalena Sibylla von Württemberg: Politisches und kulturelles Handeln [s. Nr. 13], 167–181. 75. Bepler, Jill: Schreiben und Sammeln in dynastischen Bezügen – Magdalena Sibylla von Württemberg. In: Magdalena Sibylla von Württemberg: Politisches und kulturelles Handeln [s. Nr. 13], 93–117. 76. Holtz, Sabine: Die politischen Handlungsoptionen der Herzogin Magdalena Sibylla von Württemberg. In: Magdalena Sibylla von Württemberg: Politisches und kulturelles Handeln [s. Nr. 13], 9–29.
III.08 Regionalgeschichte 77. Lückel, Ulf: Adel und Frömmigkeit. Die Berleburger Grafen und der Pietismus in ihren Territorien. Siegen:Vorländer 2016. – 248 S. 78. Ders.: Die Wittgensteiner Pietisten und ihre Beziehungen nach Halle und Herrnhut in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts. In: JWKG 112, 2016, 119–155. 79. Mahling, Lubina: Alphabetisierung und Pluralisierung. Zur Wirkung des Pietismus unter den Sorben im 18. Jahrhundert. In: PuN 42 [s. Nr. 10], 162–182. 80. Dies.: Das Klixer Seminar und die Uhyster Anstalten – zwei sorbische Bildungsinstitutionen zwischen Halle und Herrnhut. In: Schrift soll leserlich seyn [s. Nr. 4], 319–334. 81. Dies.: Die zweite Reformation – die Sorben und der Pietismus. In: Fünf Jahrhunderte: die Sorben und die Reformation. Bautzen: Domowina-Verlag 2017, 90–97. 82. Schloms, Antje: Das Waisenhaus in Esens als „Pflanzgarten“ des Pietismus in Ostfriesland. In: JGNKG 114, 2016, 53–72.
III.09 Orthodoxie und Aufklärung in ihren Beziehungen zum Pietismus 83. Greve, Stephanie: „Kein Protestant kann selig werden“ – eine theologische Kontroverse zwischen Katholizismus, Orthodoxie, Pietismus und Aufklärung. In: Schrift soll leserlich seyn [s. Nr. 4], 683–698. 84. Höpsel, Ingrid: Emblematik im Dienst von Pietismus und Aufklärung – die Katharinenkirche in Enge. In: Emblematik im Ostseeraum. Hg. v. ders. u. Lars Olof Larsson. Kiel: Ludwig 2016, 179–190.
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85. Raatz, Georg: Die Erbsündenkritik der protestantischen Aufklärungstheologie – Forschungsskizze zu einem Topos der anthropologischen Wende. In: KuD 63, 1, 2017, 38–62. 86. Salvadori, Stefania: The representation of Pietism in European lexicons and encyclopedias in the age of Enlightement. In: Schrift soll leserlich seyn [s. Nr. 4], 783– 798. 87. van Horn, Michael A.: Within My Heart: The Enlightenment Epistemic Reversal and the Subjective Justification of Religious Belief. Eugene: Wipf and Stock Publishers 2017. – 220 S. 88. Hannemann, Tilman: Religiöser Wandel in der Spätaufklärung am Beispiel der Lavaterschule 1770–1805. Göttingen:Vandenhoeck & Ruprecht 2017. – 365 S. 89. Beutel, Albrecht: Martin Luther im Urteil der deutschen Aufklärung – Beobachtungen zu einem epochalen Paradigmenwechsel. In: Martin Luther. Monument, Ketzer, Mensch. Hg. v. Andreas Holzem u. Volker Leppin. Freiburg [u. a.]: Herder 2017, 215–247. 90. Lindner, Andreas: Spiritualität zwischen Orthodoxie und Pietismus am Beispiel Johann Martin Schamelius (1668–1742). In: Handbuch Evangelische Spiritualität 1 [s. Nr. 7 ], 377–399. 91. McCall, Roy K.: Confucius & the Enlightenment’s Christian von Wolff. Bloomington: Xlibris 2017. – 302 S.
III.10 Erweckungsbewegung 92. Pietismus – Neupietismus – Evangelikalismus: Identitätskonstruktionen im erwecklichen Protestantismus. Hg. v. Frank Lüdke u. Norbert Schmidt. Berlin: LITVerlag 2017. – 275 S. 93. Lüdke, Frank: Das Evangelisationsverständnis von Charles Grandison Finney (1792–1875) und seine Auswirkungen auf Deutschland. In: Schrift soll leserlich seyn [s. Nr. 4], 743–752. 94. Schäufele, Wolf-Friedrich: Jung-Stilling und die Vorsehung. In : JWKG 112, 2016, 157–181.
III.11 Strömungen und Entwicklungen nach 1830 95. Pickering, Andrew Nelson: Wesleyan Chaplaincy on the Western Front during the First World War. In: Wesley and Methodist Studies 9, 2, 2017, 163–183. 96. Andersen, Dieter: Eine schwierige Annäherung (1980): Karl Barth und der Pietismus. In: Humanismus Gottes: Beiträge zu theologischer Identität und diskursfähigem Christentum. Hg. v. D. Andersen. Berlin: LIT Verlag 2017, 376–380. 97. Grutschnig-Kieser, Konstanze: Die Zeitschrift Blätter aus Bad Boll und ihre Funktion in der Kommunikation von Johann Christoph Blumhardt (1805–1880) und seiner Hausgemeinde. In: Schrift soll leserlich seyn [s. Nr. 4], 163–175.
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IV. Andere Länder IV.01 England und Schottland 98. Brietz Monta, Susannah: Imitatio Christi. The poetics of piety in early modern England. Hg. v. Nandra Perry. In: JEH, 3, 2016 99. Woolley,Tim: ,Have Our People Been Sufficiently Cautious?’:Wesleyan Responses to Lorenzo Dow in England and Ireland, 1799–1819. In: Wesley and Methodist Studies 9, 2, 2017, 141–162.
IV.02 Niederlande 100. Exalto, John: Mimetic conversion: a narrative approach of Dutch reformed piety. In: Schrift soll leserlich seyn [s. Nr. 4], 651–659. 101. Mouthaan, J.N.: Besprekingsartikel: Gereformeerden en de middeleeuwse kapittels. In: DNR 41, 2017, 1, 86–90. 102. Muis, M.: Wilhelmus à Brakels De waare christen. Toch geen preken van à Brakel? In: DNR 41, 2017,1, 45–67. 103. Baarssen, D.: ,Bekeering van Mr. Salomo den Jood‘. De visie van Alexander Comrie op de gemeente in verhouding tot de toelatingspraktijk der Engelse independenten in de 17e eeuw. In: DNR 41, 2017, 1, 28– 44. 104. Ders.: ,Aan Comrie komt de eere toe‘. De receptie van Alexander Comries rechtvaardigingsleer door A. Kuyper. In: DNR 41, 2017, 1, 3–27. 105. van Lieburg, Fred A.: Luther in Dutch Reformed Pietism. Theological and cultural dynamics of the experience of justification by faith. In: Luther and Calvinism: image and reception of Martin Luther in the history and theology of Calvinism. Hg. v. H.J. Selderhuis [u. a.]. Göttingen [u. a.]: Vandenhoeck & Ruprecht 2017, 443–462. 106. van der Woude, R.E.: Om waarheid en godzaligheid ’t zaam te paren (1). Een poging tot een historische analyse van Johan Verschuirs De zegepralende waarheid. In: DNR 41, 2017, 1, 68–80.
IV.03 Schweiz 107. Bacciagaluppi, Claudio: Artistic disobedience. Music and confession in Switzerland, 1648–1762. Leiden, Boston: Brill 2017. – 263 S. 108. Becker, Judith: „Dear reader, remember this“: Mission reports as paradigms for revival in Europe: the Barmer Missionsblatt and Basel Evangelischer Heidenbote in the 19th century. In: Schrift soll leserlich seyn [s. Nr. 4], 149–162. 109. Jecker, Hanspeter: Täufertum und Pietismus als Herausforderung für Obrigkeit und Kirche in Bern 1650–1720. In: Reichsstadt im Religionskonflikt. Bd. 4. Hg. v. Helge Wittmann u.Thomas Lau. Petersberg: Michael Imhof Verlag 2017, 363–382. 110. Mack, Julia U.: Menschenbilder. Kultur und Zivilisation und ihre Bedeutung für die anthropologischen Konzepte in der Publizistik der Basler Mission (1816 – 1914). In: BWKG 116, 2016, 55–70. 111. Seidel, Johannes Jürgen: Kommunikationskontrolle ohne Zukunft? Chorherr Beat Werdmüller (1698–1749) und sein erfolgloser Kampf gegen den „Pseudopietismus“
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im geistigen Zürich des 18. Jahrhunderts. In: Schrift soll leserlich seyn [s. Nr. 4], 699–711.
IV.04 Skandinavien 112. Jarlert, Anders: Orthodoxie und Pietismus – der schwedische Sonderweg (1648– 1740). In: Der Luthereffekt: 500 Jahre Protestantismus in der Welt. Hg. v. AnneKatrin Ziesak [u. a.]. München: Hirmer 2017, 98–106. 113. Koski, Suvi-Päivi: Zu den Vermittlern der „Halleschen Lieder“ in Schweden, Finnland und Estland im frühen 18. Jahrhundert. In: Schrift soll leserlich seyn [s. Nr. 4], 561–577. 114. Claesson, Urban: Fromme Leserkreise des 17. Jahrhunderts als Schlüssel der Reinterpretation Lutherischer Theologie an einem Beispiel aus Schweden: Jacob Boethius. In: Schrift soll leserlich seyn [s. Nr. 4], 453–464.
IV.05 Nordamerika 115. Berger, Markus: Hallesche Pastoren im anglophonen Nordamerika 1742–1825. Hindernisse und Herausforderungen der Bilingualität. In: Halle als Zentrum der Mehrsprachigkeit [s. Nr. 6], 201–214. 116. Bronner, Simon J.: Pennsylvania Germans: An Interpretive Encyclopedia. Baltimore: Johns Hopkins University Press 2017. – 590 S. 117. Hahn-Bruckart, Thomas: Die deutschsprachige Publizistik der American Tract Society bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts. In: Schrift soll leserlich seyn [s. Nr. 4], 193–207. 118. Kowa, Günter: Letzter Ausweg Amerika: Die Schwenckfelder in Berthelsdorf. In: Gespaltene Welt [s. Nr. 22], 195–201. 119. Randall, Ian: Early Moravian Spirituality and Missionary Vision. In: Wesley and Methodist Studies 9,2,2017, 123–140. 120. Collins Winn, Christian T.: Die Blumhardts in Amerika: Zur ihrer Rezeption und Bedeutung für die amerikanische Theologie. In: BWKG 116, 2016, 375–394. 121. Lückel, Ulf: Johann Christoph Sauer (1695–1757), ein deutscher Drucker und Verleger in Amerika – seine ersten Jahre in Amerika und sein Netzwerk nach Deutschland. In: Schrift soll leserlich seyn [s. Nr. 4], 351–361. 122. Black, Jeremy: John Wesley and History. In:Wesley and Methodist Studies 9,1, 2017, 1–17. 123. Kawanishi, Takao: Wesley in Oxford and the Legend of Holy Grail’s Knight: The Study about the Root of Methodism to the World, and the Foundation of KwanseiGakuin in Japan. In: Academic Journal of Interdisciplinary Studies 6, 1, 2017, 9–16. 124. Maddox, Randy L.: John Wesley on ,Patriotism‘. In: Wesley and Methodist Studies 9, 2, 2017, 184–188. 125. Collins, Kenneth J.: The Method of John Wesley’s Practical Theology Reconsidered. In: Wesley and Methodist Studies 9, 2, 2017, 101–122. 126. Rainey, David: Beauty in Creation: John Wesley’s Natural Philosophy. In: Wesley and Methodist Studies 9, 1, 2017, 18–35.
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V. Übergreifende Themen V.01 Theologie und Frömmigkeit 127. Albrecht-Birkner, Veronika: „Ich verspreche Ihnen nochmals feyerlich, das Wort Pietist nie wieder im übelen Sinne zu gebrauchen“. Fromme Identitätsfindung im späten 18. Jahrhundert. In: PuN 42 [s. Nr. 10], 183–204. 128. Beyer, Jürgen: Lay prophets in Lutheran Europe (c. 1550–1700). Leiden, Boston: Brill 2017. – 474 S. 129. Jaspert, Bernd: Frömmigkeit in der Kirchengeschichte. Nordhausen: Verlag Traugott Bautz 2017. – 146 S. 130. Kröger, Rüdiger: Martin Eugen Beck und die Anfänge der Erneuerung der evangelischen Paramentik in Sachsen im 19. Jahrhundert. In: UnFr 75, 2016, 105–120. 131. Dietz, Thorsten: Zeichen des Geistes. Religiöse Gefühle und ihre theologische Reflexion bei Johathan Edwards und Johann Joachim Spalding. In: Schrift soll leserlich seyn [s. Nr. 4], 729–742. 132. Jung, Martin H.: Luther im Pietismus. In: Martin Luther [s. Nr. 89], 199–214. 133. Lehmann, Hartmut: Martin Luther’s Unruly Offspring: The Protestant Reformation and Radical Critique. In: Radicalism and Dissent [s. Nr. 11], 15–26.
V.02 Sozial- und Staatslehre, Pädagogik und Erziehung 134. Eißner, Daniel: Unberechenbare Multiplikatoren – pietistische Hauslehrer. In: Schrift soll leserlich seyn [s. Nr. 4], 131–145. 135. Jacob, Joachim: Lebensart vermitteln. Lebensregeln und Verhaltenslehren im Pietismus. In: Schrift soll leserlich seyn [s. Nr. 4], 587–599. 136. Mahling, Lubina: Pietistische Bildung in der Oberlausitz. Das Hallesche Waisenhaus als Vorbild von Oberlausitzer Schulanstalten und Waisenhäusern. In: Neues lausitzisches Magazin 139, 2017, 75–106. 137. Dies.: Pietistische Lehrerbildung in der sorbischen Lausitz. Die Belowsche Schulanstalt in Großwelka und das Gräflich Dohnasche Institut Uhyst/Spree: Lětopis/ Sorbisches Institut e.V., Bautzen: Časopis za rěč, stawizny a kulturu Łužiskich Serbow: Zeitschrift für sorbische Sprache, Geschichte und Kultur/ Sorbisches Institut. Bautzen: Domowina-Verl. 2017, 22–43. 138. Rohmer, Ernst: Spracharbeit und Seelenheil im 17. Jahrhundert. In: Erziehung als ,Entfehlerung‘ [s. Nr. 5], 29–39. 139. Schmid, Pia: Medien des Beispiels: zur Frömmigkeitsdidaktik pietischer Exempelgeschichten des 18. Jahrhunderts. In: Schrift soll leserlich seyn [s. Nr. 4], 401–416. 140. Winter, Agnes: Das Gelehrtenschulwesen der Residenzstadt Berlin in der Zeit von Konfessionalisierung, Pietismus und Frühaufklärung (1574–1740). Berlin: Duncker & Humblot GmbH [2008] 2017. – 474 S. – [Online Ressource unter: https:// www.wiso-net.de/document/DUHU__9783428524396474] 141. Wöbkemeier, Rita: Gelegenheits- und andere Schriften. Schulmänner und Gottesgelehrte „in Unserer Stadt Altona“. In: Schrift soll leserlich seyn [s. Nr. 4], 87–101. 142. Schröter, Marianne: Siegmund Jacob Baumgarten als Lehrer der Vermittlung. In: Schrift soll leserlich seyn [s. Nr. 4], 103–115. 143. Halama, Jindrich: Die sozialethischen Implikationen der Lehre von Jan Hus. In: UnFr 75, 2016, 21–30.
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144. Würkert, Reinhardt: Johann Christoph Schinmeiers pädagogische Einrichtungen in Stettin 1730–1737. Ein Beitrag zur Geschichte der pietistischen Frömmigkeitsvermittlung in Pommern. In: Schrift soll leserlich seyn [s. Nr. 4], 335–350. 145. Schmidt, Heinrich Richard: Philipp Albert Stapfers Erziehungsidee und das Reich Gottes auf Erden. In: Erziehung als ,Entfehlerung‘ [s. Nr. 5], 131–143.
V.03 Ökumene, Mission und Diakonie 146. Djahangiri, Keyvan: Mission, Hallescher Pietismus und mediale Konzepte der Konfliktbewältigung im 18. Jahrhundert. In: Schrift soll leserlich seyn [s. Nr. 4], 713–728. 147. Fisher, Kyle: After Gnadenhütten – The Moravian Indian Mission in the Old Northwest 1782–1812. In: Journal of Moravian History 17,1, 2017, 27–58. 148. Fluck, Marlon Ronald: Die Übersetzung und Verbreitung der Bibel in portugiesischer Sprache im Zuge der Tranquebarmission (1706–1765). Ein Kapitel aus der Medien- und Kommunikationsgeschichte des Pietismus. In: Schrift soll leserlich seyn [s. Nr. 4], 521–532. 149. Frenz, Matthias: »Die meiste Schwierigkeit bestehet in ihren Gutturalibus«. Sprachaneignung im Kontext der Dänisch-Halleschen Mission. In: Halle als Zentrum der Mehrsprachigkeit [s. Nr. 6], 229–254. 150. Gareis, Iris: Missionary Reports and their Relevance as Ethnographic Sources. In: Reporting Christian Missions in the Eighteenth Century [s. Nr. 12], 19–34. 151. Gleixner, Ulrike: Millenarian Practices and the Pietist Empire. In: Radicalism and Dissent [s. Nr. 11], 245–256. 152. Glen, Robert: An Early Methodist Revival in the West Indies. Insights from a Neglected Letter of 1774. In: Wesley and Methodist Studies 9,1, 2017, 36–56. 153. Hedlund, Roger: Christianity Made in India. From Apostle Thomas to Mother Teresa. Minneapolis: Fortress Press 2017. – 320 S. 154. Liebau, Heike: Controlled Transparency. The Hallesche Berichte and Neue Hallesche Berichte between 1710 and 1848. In: Reporting Christian Missions in the Eighteenth Century [s. Nr. 12], 133–148. 155. Dies.: Cultural Encounters in India.The Local Co-workers of Tranquebar Mission, 18th to 19th Centuries. [New Delhi: Social Science Press 2013]. London: Taylor and Francis 2017. – 567 S. 156. Pyrges, Alexander: Domestic(ating) Expansion in the Publications of the Society for Promoting Christian Knowledge. Translocal Activism, National Church Reform, and Global Missionary Operations before 1800. In: Reporting Christian Missions in the Eighteenth Century [s. Nr. 12], 93–116. 157. Quack, Jürgen: Zur Geschichte der Basler Mission – Deutscher Zweig. In: BWKG 116, 2016, 55–70. 158. Ruhland, Thomas: Zwischen grassroots-Gelehrsamkeit und Kommerz – Der Naturalienhandel der Herrnhuter Südasienmission. In: Verfahrensweisen der Naturgeschichte. Akteure, Tiere, Dinge in der Frühen Neuzeit. Hg. v. Silke Förschler u. Anne Maris. Köln [u. a.]: Böhlau-Verlag 2017, 29–45. 159. Schunka, Alexander: Representing Catholic and Protestant Missions in German Periodicals of the Early Eighteenth Century. In: Reporting Christian Missions in the Eighteenth Century [s. Nr. 12 ], 169–186.
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160. Strom, Jonathan: German pietism and the problem of conversion. University Park, The Pennsylvania State University Press 2017. – 240 S. 161. Olsthoorn, Thea: Christian Drachardt unterweist die Labrador-Inuit in der christlichen Religion. Seine Mittel, Methoden, Techniken, auf ihre Wirkung hin untersucht. In: Schrift soll leserlich seyn [s. Nr. 4], 417–430.
V.04 Philosophie, Literatur, Kunst, Architektur und Musik 162. Bothe, Rolf: Protestantische Kirchen und die Blütezeit des Kanzelaltars im 17. und 18. Jahrhundert. In: Kirche, Kunst und Kanzel. Luther und die Folgen der Reformation. Hg. v. dems. Köln [u. a.]: Böhlau Verlag 2017, 97–127. 163. Degen, Andreas: Ästhetische Faszination: die Geschichte einer Denkfigur vor ihrem Begriff. Berlin: De Gruyter 2017. – 288 S. 164. Eißner, Daniel: „Heydnische Tantz-Greuel“ – Zur pietistischen Auseinandersetzung mit dem Tanz. In: PuN 42 [s. Nr. 10 ], 87–115. 165. Franke, Matthias: Die Bedeutung des Halleschen Pietismus für die Architektur in Brandenburg-Preußen. In: Kunst in Preußen – preußische Kunst? Hg. v. Peter Betthausen und Frank-Lothar Kroll. Berlin: Duncker & Humblot 2016, 17–34. 166. Hirschmann, Wolfgang: Musik als Distinktionsmedium. Pietistische Musikkultur und galanter Habitus um 1720. In: Schrift soll leserlich seyn [s. Nr. 4], 535–546. 167. van Ingen, Ferdinand: Der Roman als Multiplikator pietistischer Denkform und Mentalität. Am Beispiel Goethe: Bekenntnisse einer schönen Seele. In: Schrift soll leserlich seyn [s. Nr. 4], 579–586. 168. Kadelbach, Ada: Zwischen lutherischer Orthodoxie und Pietismus. Lübecker Gesangbuchpolitik um 1700 und ein wieder entdecktes Gesangbuch. In: Dies.: Paul Gerhardt im Blauen Engel und andere Beiträge zur interdisziplinären Kirchenliedund Gesangbuchforschung. Tübingen: Narr Francke Attempto 2017, 37–53. 169. Kaufmann, Thomas: Radical Political Thought in the Reformation Era. In: Radicalism and Dissent [s. Nr. 11], 27–35. 170. Kendrová, Zlatica: Pietism in light of the sources of hymns in Slovakia in the first half of the 18th century. Comments on the question of the influence of Halle Pietism’s hymn culture. In: Schrift soll leserlich seyn [s. Nr. 4], 547–559. 171. Kremer, Joachim: Zwischen Hofleben und pietistischer Erbauung – Magdalena Sibylla und der Pietismus in Württemberg und die Musik. In: Magdalena Sibylla von Württemberg: Politisches und kulturelles Handeln [s. Nr. 13], 29–51. 172. Suitner, Riccarda: Die philosophischen Totengespräche der Frühaufklärung. Hamburg: Felix Meiner Verlag 2016. – 276 S. 173. Burkhardt, Johannes: Der Bau des Jung-Stilling-Denkmals in Hilchenbach (1836– 1872). In: JWKG 112, 2016, 183–297. 174. Akimoto, Yasutaka: Das Lügenproblem bei Kant. Frankfurt/Main: PL Academic Research 2017. – 212 S. 175. Davis, Stephen T.: A New Kant on Religion? In: TJT 33,1, 2017, 63–67. 176. Hare, John: Kant and Theology. In: TJT 33, 1, 2017, 69–73. 177. Szyrwińska, Anna: Wiedergeborene Freiheit. Der Einfluss des Pietismus auf die Ethik Immanuel Kants. Wiesbaden: Springer VS 2017. – 291 S.
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178. Hainz, Martin A.: Silbenzwang. Text und Transgreß bei Friedrich G. Klopstock, unter besonderer Berücksichtigung des ,Messias‘. Tübingen: Narr Francke Atempto 2017. – 305 S. 179. Lee, Charlotte: Movement and embodiment in Klopstock and Goethe. In: German life and letters 70, 4, 2017, 506–515. 180. Zühlke, Hanna: Musik und poetisches Sylbenmaß. Friedrich Gottlieb Klopstocks antikeorientierter Vers im Lied von 1762 bis 1828. Würzburg: Königshausen & Neumann 2017. – 478 S. 181. Lass uns leuchten des Lebens Wort. Die Lieder Martin Luthers. Im Auftrag der Franckeschen Stiftungen anlässlich des Reformationsjubiläums 2017 vorgelegt und erläutert von Hans-Otto Korth. Halle: Verlag der Franckeschen Stiftungen 2017. – 353 S. 182. Hänsel, Sylvaine: Pietisten und Porträts. Überlegungen zu den Bildnissen von Philipp Jakob Spener, August Hermann Francke und August Hermann Niemeyer. In: Schrift soll leserlich seyn [s. Nr. 4], 209–228. 183. Aikin, Judith P.: Magdalena Sibylla von Württemberg als Dichterin und Herausgeberin geistlicher Lieder. In: Magdalena Sibylla von Württemberg: Politisches und kulturelles Handeln [s. Nr. 13], 71–93.
V.05 Medizin, Naturwissenschaften und Psychologie 184. Van Gent, Jacqueline: Moravian Memoirs and the Emotional Salience of Conversion Rituals. In: Emotion, Ritual and Power in Europe, 1200–1920. Hg. v. Marridee Bailey u. Katie Barclay. Palgrave: Macmillan 2017, 241–260.
V.07 Buch-, Bibliotheks- und Verlagsgeschichte, Medien und Kommunikation 185. Bütikofer, Kaspar: Eine nonkonformistische Bibliothek des 17. Jahrhunderts. Klandestine Literatur am Vorabend des Pietismus. In: Zwingl. 43, 2016, 335–385. 186. Friedrich, Markus: Between Curiosity and Edification. Printing and Editing the Nouveaux Mémoires de la Compagnie de Jésus dans le Levant. In: Reporting Christian Missions in the Eighteenth Century [s. Nr. 12], 35–56. 187. Gleixner, Ulrike: Kommunikation und Medien im „Reich Gottes“: Forschungszugänge und Spezifika. In: Schrift soll leserlich seyn [s. Nr. 4], 47–64. 188. Grbić, Dragana: The channels of transmissions of Pietistic ideas among Christian-Orthodox Serbs in the Balkans in the 18th century. In: Schrift soll leserlich seyn [s. Nr. 4], 753–765. 189. Jensz, Felicity: Briefe, Bibeln und Bilder. Das Medienbewusstsein der Society for Promotion Christian Knowledge in Bezug auf die Verbreitung von Informationen über die Dänisch-Hallesche Mission in Tranquebar innerhalb der englischsprachigen Welt am Anfang des 18. Jahrhunderts. In: Schrift soll leserlich seyn [s. Nr. 4], 611–624. 190. Klosterberg, Brigitte: Französischsprachige Titel im Verlag der Buchhandlung des Waisenhauses. In: Halle als Zentrum der Mehrsprachigkeit [s. Nr. 6], 63–84.
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191. Dies.: Traditionsbildung und Archivierung. Die Anfänge des Archivs der Franckeschen Stiftungen im 18. Jahrhundert. In: Schrift soll leserlich seyn [s. Nr. 4], 379– 397. 192. Kuhn, Thomas K.: „Erbauung und Communication“. Die Auseinandersetzungen um die mediale Präsenz in der Frühzeit der Deutschen Christentumsgesellschaft. In: Schrift soll leserlich seyn [s. Nr. 4], 285–300. 193. Lehmann, Hartmut: Grenzen der Kommunikation und der Öffentlichkeit im Pietismus. In: Schrift soll leserlich seyn [s. Nr. 4], 33–45. 194. Mettele, Gisela: Global Communication among the Moravian Brethren. The Circulation of Knowledge and its Structures and Logistics. In: Reporting Christian Missions in the Eighteenth Century [s. Nr. 12], 149–168. 195. Dies.: Unbeschreibliches mitteilen. Die Medien des Pietismus im langen 18. Jahrhundert. In: Schrift soll leserlich seyn [s. Nr. 4], 1–32. 196. Rymatzki, Christoph: Die zwangsläufige vielseitige Mediennutzung bei spendengetragenen Einrichtungen – am Beispiel des Institutum Judaicum et Muhammedicum in Halle. In: Schrift soll leserlich seyn [s. Nr. 4], 303–318. 197. van Lieburg, Fred A.: Gute Nachricht aus den Niederlanden, Pietismus und Erweckungsbewegung als Medienkonstruktionen. In: Schrift soll leserlich seyn [s. Nr. 4], 639–649. 198. Decker, Klaus Peter: Die Druckerei von Regelein und Stöhr vor dem Hintergrund des Büdinger „Toleranzpatents“ von 1712. In: Schrift soll leserlich seyn [s. Nr. 4], 363–377. 199. Weiß, Ulman: Pseudonyme Publizistik im Umkreis Fratris Rosatae Crucis. Jakob Schalling und Christian Theophilus. In: PuN 42 [s. Nr. 10], 9–64. 200. Häberlein, Mark: Matthias Christian Sprengel als Vermittler englischer und romanischer Literatur über die außereuropäische Welt. In: Halle als Zentrum der Mehrsprachigkeit [s. Nr. 6], 215–228. 201. Karnitscher, Tünde Beatrix: Das mediale Profil der veröffentlichten Schriften von Johann Theodor von Tschesch (1595–1649). In: Schrift soll leserlich seyn [s. Nr. 4], 229–244.
V.08 Gender 202. Gleixner, Ulrike: Die lutherisch pietistische Ehe im Entwurf und in der Praxis. Bestimmende Faktoren und Möglichkeiten. In: RoJKG 35, 2016 (2017), 137–146. 203. Moeller, Katrin: „Die Veredelung der Frauen!“ Höhere Töchterbildung und öffentliche Teilhabe als Projekt gesellschaftlicher Wohlfahrt und Neuordnung der Gesellschaft (Halle/Saale, 1750–1850). In: Erziehung als ,Entfehlerung‘ [s. Nr. 5], 113–130. 204. Petterson, Christina u. Faull, Katherine M.: Speaking about Marriage. Notes from the 1744 Married Choir Conferences. In: Journal of Moravian History 17, 1, 2017, 58–103.
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V.09 Geschichtsbewusstsein und -konstruktion 205. Kotsch, Michael: Der Pietismus als Weiterführung der Reformation. In: Martin Luther – aus Liebe zur Wahrheit. Hg. v. Berthold Schwarz. Berlin: Christliche Verlagsgesellschaft 2017, 465–479. 206. Schnurr, Jan Carsten: „Pietist“ als Selbst- und Fremdbezeichnung im 19. und 20. Jahrhundert. Einige begriffsgeschichtliche Beobachtungen. In: Schrift soll leserlich seyn [s. Nr. 4], 767–781.
V.10 Kulturgeschichte 207. Medizin- und kulturgeschichtliche Konnexe des Pietismus. Heilkunst und Ethik, arkane Traditionen, Musik, Literatur und Sprache. Hg. v. Irmtraut Sahmland und Hans-Jürgen Schrader. Göttingen:Vandenhoeck & Ruprecht 2017. – 428 S.; Abb.
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Register
Ortsregister Die gerade gesetzten Seitenzahlen verweisen auf den Haupttext, die kursiv gesetzten auf die Anmerkungen, die Nr.-Angaben auf die Bibliographie.
Aberdeen 272, 280 Adelaide 277 Ahrendsburg 249, 251, 254f., 257, 284, 287 Aivilik 219, 223 Altenschlawe 107 Altona Nr. 141 Ammendorf 80 Amsterdam 98, 183, 310f. Atlanta 33, 262 Bad Blankenburg 256 Bad Boll Nr. 97 Baffin 217, 219, 245 Baltimore 264 Basel 253, 297, 339, 345–350; Nr. 108 Berg 77 Berlin 61, 78f., 107, 143–147, 155, 157, 159, 166f., 171–173, 175-177, 251f., 255–257, 260f., 263, 269f., 272, 274– 276, 279, 282–285, 292–294, 341; Nr. 140 Bern Nr. 109 Berthelsdorf Nr. 118 Beyersdorf 283 Bischofsheim 261 Borgholzhausen (Borchholtzhausen) 98 Braunschweig 46, 101 Brehna (Brena) 100f Breslau 24f., 136, 140 Brieg 309, 311 Bruchsal 341, 343 Bützow 302 Cardiff 272–275, 280f. Chester 185 Chicago 249, 263, 267–269, 283f. Chrischona 349 Cincinnati 262
Coburg 307, 315 Courrières 277f. Cumberland Sound 224 Darmstadt 102, 175, 184 Delitzsch 100–103 Dornum 82 Dresden 147, 155, 157, 166, 173–175, 330 Ebenezer 181, 189, 198, 200, 206 Ebstorf 78 Einbeck 330 Elberfeld 336–339 Enge Nr. 84 Erfurt 43, 55, 76, 78–80, 82, 127 Esens Nr. 82 Finsterwalde 145, 174f. Flechtdorf 301 Frankfurt (Main) 43, 50, 88 Frankfurt (Oder) 17, 24 Fraustadt 13, 17f., 20, 24f., 31 Gelsenkirchen 278 Germantown 185–187, 189, 192 Gießen 102, 175, 300 Glasgow 280 Glaucha 58, 127, 152 Glogau 24 Göhren 255f., 260, 267, 285 Goldberg 24 Görlitz 24 Gotha 78, 315 Groß Brüskow 104 Großmangelsdorf 77 Großwelka Nr. 137 Grünenwalde 108 Guhrau 24f.
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Hachenburg 144–147, 153–155, 158–160, 164, 165, 167, 171, 173f. Hackensack 183 Hagen 65 Halberstadt 37, 73–85, 86, 102, 127 Halle 33, 36f., 39, 40–47, 51, 53, 55, 56, 62–70, 72, 79, 82, 100–108, 117, 121, 133, 135f., 138, 145, 152, 154f., 157f., 171f., 175, 176f., 178, 179–189, 193, 200–203, 206f., 209, 213, 301, 314, 323–334; Nr. 6, 8, 40, 64, 78, 80, 196 Hamburg 76, 206, 254f., 257, 259, 261, 261, 284 Hannover 149, 284 Hartmannsdorf 133 Heidelberg 18, 129, 309, 337, 337, 338 Hellebaek 267, 270 Helmstedt 49, 101, 319 Helsingör 267, 269 Herne 278 Herrnhut 330f., 333, 335; Nr. 78, 80 Hilchenbach Nr. 173 Holgate 259 Iglulik 219, 222f., 230, 234, 239, 246 Jerusalem 96 Jeser 27 Kabelitz 77 Kantreck 283 Karlsruhe 337, 343 Kauffung 17 Kensington 193 Kiel 261, 272, 281 Kirchheim u.T. 263 Köln 159 Königsberg 106f. Kopenhagen 133, 235, 257, 269–271 Krummin 283 Lancaster 187 Landsberg 100 Langenburg 315 Langendorf (b. Weißenfels) 325 Leipzig 20, 33, 34, 52, 64, 74, 75, 78, 82, 87, 89, 100, 102, 104, 138, 173, 299, 309f., 314
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Liegnitz 24, 309 London 179, 180f., 184f., 188, 190, 192f., 193, 196, 198–200, 203, 205f., 259, 269, 277f., 280f., 285, 333, 344 Lübeck 76, 78 Lüneburg 74, 76, 78f. Magdeburg 40, 48, 74, 75, 78, 81, 103 Manneriktok 240 Marbug 309, 337f. Marienwerder 17, 24, 30 Merseburg 175 Minneapolis 271 Nain 220, 223, 228f., 231, 233, 234, 238, 242, 243 Naugard 283 Naugarten 176 Naujaat (Repulse Bay) 222 New Jersey 183 New York (Neuyork) 182–186, 249, 258, 264, 266–269, 278 Niatak 220 Niederndodeleben 74 Niemptsch (Niemtsch) 133, 135 Nukasusuktok 229, 231 Nunavut 217 Nuuk (Godthaab) 216f., 222, 235 Ohrdruf 315 Öhringen 315 Pangnertok 238 Peine 197 Penrhiwceiber 275 Perleberg 176 Philadelphia 179, 180, 182–192, 195, 201f., 205, 267, 334 Ponds Inlet 219, 237 Pontypridd 273, 278, 280f. Potsdam 145 Pottenstein Nr. 61 Pyritz 283 Quedlinburg 73f., 76, 78–87, 102, 105, 127; Nr. 30
Reichau (Dobroszów) 133 Riddagshausen 301 Riga 343 Rügen 255–257, 260, 283, 285, 316 Saalfeld 315 Sageritz 107 Salt Lake City 264 San Francisco 261 Satorsoak 228, 232, 242 Schmiedeberg 101 Schmolsin 108 Schonberg (Schönburg) 155 Schwedt (Oder) 17 Siegen 339 Sölyst 284 St. Gallen 186 St. Petersburg 108 Stolp 73f., 87, 88, 100–108 Straßburg 47f., 336 Stuttgart 263, 271 Teplice 78 Thorn 24f.
Thule 218 Torgau 101 Tranquebar Nr. 189 Tübingen 308 Tunungarsorsoak 220 Uhyst Nr. 80, 137 Veßin (Vessin) 87, 103, 108 Viby 264 Wellington 279 Werben 73, 102 Wittenberg 100f., 111, 133, 330; Nr. 20 Wittgendorf (b. Zittau)13 Wolfenbüttel 46, 76 Wollin 108 Zinnowitz 283 Zirchow 107 Zittau 13, 16f., 20, 24f., 27, 325 Zitzewitz 108 Züllichau 88 Zürich 345; Nr. 111
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Personensregister Die gerade gesetzten Seitenzahlen verweisen auf den Haupttext, die kursiv gesetzten auf die Anmerkungen, die Nr.-Angaben auf die Bibliographie.
Abels, Birgit Nr. 47 Achilles, Andreas 80, 82, 84 Adelung, Johann Christoph 130 Ahland, Kurt 300 Ahle, Johann Rudolf 305 Aikin, Judith P. Nr. 183 Akimoto,Yasutaka Nr. 174 Alarak 231 Alberti, Michael 114 Alberti,Valentin 100 Albinus, Samuel Theodor 185, 193f., 197–200 Albrecht, Ruth 143 Albrecht-Birkner,Veronika 72, 127, 295f.; Nr. 9, 17, 44, 127 Alexander I., Zar von Russland 340, 343 Alexander III., Zar von Russland 271 Alexandra, Prinzessin von Dänemark 268 Amundsen, Roald Engelbregt Gravning 218 Anagnostou, Sabine 113 Andersen, Dieter Nr. 96 Andrae, Hedwig 252 Andreae, Johann Valentin 134, 325 Anna Dorothea von Sachsen Nr. 20 Anna Sophia K. v. R., geb. P. v. H. auff A. und H. 306 Anton, Paul 33, 36, 43, 47–54, 56, 60 Aristoteles 46, 46, 51, 57 Arndt, Johann 128, 300, 310, 312, 339; Nr. 25 Arnold, Gottfried 50, 53, 59, 67, 102, 105, 339 Asseburg, Rosamunde Juliane von der 74, 75–79, 81f., 86, 292 Attalus 30 Attuguna (Rebecca) 221, 230–238, 243ff.
Augusta Marie Luise Katharina, Kaiserin des Deutschen Reiches und Königin von Preußen 260, 277, 279, 285 Augustin 43, 44, 45, 47, 48, 54 Averdieck, Elise 255 Avignon, Franz Lambert von 48–54, 68 Baade, Meike Sophia Nr. 54 Baarssen, D. Nr. 103f. Bacciagaluppi, Claudio Nr. 107 Bailey, Marridee Nr. 184 Balcke, Konrad Nr. 59 Ballin, Adaes Sarah 260 Bandemer, Dietrich von 108 Bandemer, Friedrich Asmuß von 103f., 108 Barclay, Katie Nr. 184 Barclay, Robert 51 Barth, Barbara 101 Barth, Christina Magdalena 102 Barth, Eleonora Sibylla 101 Barth, Elisabeth Dorothea 101 Barth, Emanuel Gottfried 102 Barth, Gottfried 101–104 Barth, Johann Gottfried 101, 102 Barth, Johanna Salome 102 Barth, Karl Nr. 96 Barth, Maria Christina 101 Battafarano, Italo Michele 306 Bäumer, Gertrud 285 Baumgarten, Johann Jacob Nr. 142 Bayle, Pierre 330f. Beck, Christoph Th. Nr. 48 Beck, Johann Tobias 349 Beck, Martin Eugen Nr. 130 Becker, Judith Nr. 108 Bengel, Johann Albrecht 302, 340; Nr. 70 Benz, Ernst 51
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Bepler, Jill Nr. 75 Berckenmeyer, Wilhelm Christoph 182– 185 Berger, Markus Nr. 115 Berger, Wilhelm 338, 340 Bernstorff, Andreas Graf von 284f. Berry, Oscar C.D. 260 Best, George 217 Betke, Heinrich (Beets, Hendrick) 50 Betthausen, Peter Nr. 165 Beutel, Albrecht Nr. 89 Beyer, Jürgen Nr. 128 Beyer, Michael 53, Nr. 128 Beyreuther, Erich 291 Bilefeld, Johann Christoph 102 Birket-Smith, Kaj 218 Bitzel, Alexander 293 Black, Jeremy Nr. 122 Blaufuß, Dietrich 47, 291, 294 Blücher, Toni von 252 Blumhardt, Christian Gottlieb 349 Blumhardt, Christoph Friedrich Nr. 20 Blumhardt, Johann Christoph Nr. 20, 71, 97 Boas, Franz 216, 217, 224, 227, 235 Böhme, Jakob 128, 134, 136, 308–313, 315 Bohnstedt, Georg 132 Boltzius (Bolzius), Gotthilf Israel 198, 203 Boltzius (Bolzius), Johann Martin 181, 189, 198, 206 Boor, Friedrich de 72f., 86 Borden, Mrs.William 283 Born, Martin 35 Bothe, Rolf Nr. 162 Bothmer, Sophie Charlotte von 151 Bourdieu, Pierre 321 Brakel, Willem à Nr. 102 Brandanum, D. 46 Brandenburg-Kulmbach, Sophie Magdalena 150 Brasen, Christoph 232 Bray, Emma Rachel Nr. 2 Breckling, Friedrich 50, 50 Breithaupt, Joachim Justus 39, 43–47, 48, 56, 57, 59, 60, 64, 66, 301 Brenner-Sulger, Carl 297f. Breul, Wolfgang 151f. Brieg, Johann Christian von 311
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Brietz Monta, Susannah Nr. 98 Broicher, Ursula 342f. Bronner, Sinon J. Nr. 116 Brückner, Hieronymus 80 Bruckner-Eglinger, Ursula 297f. Brüning,Volker Fritz 133 Brunnholtz (Brunholz), Peter 179f., 184– 189, 191f., 195f., 205, 208 Bücher, Friedrich Christian 127 Buchholz, Bert 175 Bucholzer, Gottfried 28 Bucretius, Daniel 20, 28 Buddeus, Johann Franz 324 Bullinger, Heinrich 52 Bunyan, John 338 Burgstaller, Johann 117 Burkhardt, Johannes Nr. 173 Bütikofer, Kaspar Nr. 26, 185 Caetano, Domenico Manuel 129 Callenberg, Johann Heinrich 105f., 108f., 186 Calvin, Johannes 52 Camden, Willia 22 Canstein, Carl Hildebrand Freiherr von 114, 120, 120, 121, 130,131, 140, 143f., 147, 152, 155–168, 171–174, 175, 176, 178, 329 Carl, Johann Samuel 112, 113 Carpzov, Johann Benedikt d.Ä. 67 Carpzov, Johann Benedikt d.J. 35f., 38, 299 Chalkis, Lykophron von 21f. Christian Ernst, Reichsgraf zu StolbergWernigerode 151 Christian IX., König von Dänemark 268, 270f. Claesson, Urban Nr. 114 Clark, Francis E. 262, Clark, Harriet 262 Cleffels, Friedrich Wilhelm 177 Coccejus, Johannes 98 Colberg, Ehregott Daniel 112, 129, 310 Collins Winn, Christian T. Nr. 120 Collins, Kenneth J. Nr. 125 Collrepp, Peter Benedict von 103 Collreppen, Bartholomäus Rüdiger von 103 Comenius, Johann Amos 325
Comer, George 227 Comrie, Alexander Nr. 103, 104 Conklin, Harold 246 Conrad, Anne Nr. 5 Cook, Anna 259 Cook, Joseph 262 Cory, John 272, 274 Cory, Richard 274, 274 Cranz, David 240, 246 Creuzer, Georg Friedrich 337 Crusius, Adam 26 Crusius, Caspar 46, 196 Cunradi, Caspar 15, 25, 31 Cunradi, Johann Heinrich 31 d’Anglure, Bernard Saladin 222 Dagmar, Prinzessin von Dänemark 271 Dalager, Lars 239 Dannhauer, Johann Conrad 38, 300 Daun-Falckenstein, Charlotte Auguste Gräfin von 164 David, Christian 216, 330 Davis, Stephen T. Nr. 175 Decker, Georg Jakob 338 Decker, Klaus Peter Nr. 198 Degen, Andreas Nr. 163 Dening, Greg 214, 241, 247 Descartes, René 88, 330f. Dietz, Thorsten Nr. 131 Dilfeld, Johann Conrad 64 Dimpel, Barbara, geb. Werbig 100f. Dimpel, Beate 100 Dimpel, Christian 100 Dimpel, David Israel 74, 86–110 Dimpel, Justina Sophia 100 Dippel, Johann Conrad 112, 113, 129, 131 Djahangiri, Keyvan Nr. 146 Döderlein, Christian Albrecht 302 Dose, Kai Nr. 66 Dow, Lorenzo Nr. 99 Dowie, John Alexander 271 Drachard(t), Christian (Larsen, Christian) 222, 223, 225–227, 230–232, 235– 237, 242, 243, 248; Nr. 161 Drese, Claudia 42 Drotse, Caspar 23
Eber, Jochen Nr. 39 Eberhard, Christoph 323–326 Eduard VII., König von England 268, 279 Edwards, Jonathan Nr. 131 Egede, Hans 216, 218, 235, 243 Egede, Niels 218 Ehinger, Siglind Nr. 73 Ehrius (Ebrius), David 80 Eißner, Daniel 314, 318; Nr. 134, 164 Elers, Heinrich Julius 101, 103, 176 Elrich, Magdalena, gen. Schultzin 80, 82, 85 Erastus, Thomas 130 Erhardt, Johannes 240 Erlebach, Philipp Heinrich Nr. 72 Eucken, Rudolf 331 Everly, Sarah Nr. 58 Exalto, John Nr. 100 Eyssel, Caspar Jacob 138 Fabricius, Sebastian Andreas 199, 203, 315 Falckenstein Broich, Charlotte von 164 Falckner, Daniel 75, 183 Faull, Katherine M. Nr. 55, 204 Fellers, Joachim 35-37 Feuerbach, Ludwig 331 Ficino, Marsilio 123 Finke, Rainer 337 Finney, Charles Grandison Nr. 93 Fisher, Kyle Nr. 147 Fleming, John 280 Fluck, Marlon Ronald Nr. 148 Fludd, Robert 132 Fogleman, Aaron Spencer Nr. 49 Fölten, Sophie Marie 149 Förschler, Silke Nr. 158 Francke, Anna Magdalena, geb. von Wurm 171 Francke, August Hermann: 33–70, 72, 75f., 78f., 80, 82, 84–86, 90, 99, 101– 105, 110, 111, 116f., 127f., 133, 135f., 142–147, 150, 152–160, 166–178, 181, 295f., 298f., 301, 314, 323f., 326, 329, 336, 339; Nr. 3, 37f., 182 Francke, Gotthilf August 180f., 184f.,187, 189–191, 193–197, 199–202, 204f., 333f.
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Franckenberg, Abraham von 310 Franke, Matthias Nr. 165 Frech, Theobald 229 Frenz, Matthias Nr. 149 Freylinghausen, Johann Anastasius 67 Friedrich I., König in Preußen 129, 144 Friedrich II., König von Preußen 305 Friedrich V., gen. der Winterkönig 309 Friedrich Wilhelm I., König in Preußen 177, 329 Friedrich Wilhelm III., Kurfürst von Brandenburg 44, 115 Friedrich, Markus Nr. 12, 186 Friedrich, Prinz von Dänemark 270 Fritz, Eberhard Nr. 68 Frobisher, Martin 217 Fröhlich, Jakob (Iucundus) 14 Fromman, Gottlob Benjamin 88, 104 Fuhrmann, Augustin 310 Gareis, Iris Nr. 150 Gebhardt, Michael 28 Geiger, Max 341 Gerhard, Johann 293, 300 Gersdorf, Henriette Katharina von 328-330 Gilbert, David 311 Gleixner Nr. 14, 151, 187, 202 Glen, Robert Nr. 152 Gmehlin, Sigmund Christian 301f. Gobius, Joachim 30 Goethe, Johann Wolfgang von 336, 338; Nr. 179 Gössner, Andreas 292 Götz, Johann Christoph 113 Gozdek, Frank-Georg Nr. 18 Graf, Maria 80 Grbić, Dragana Nr. 188 Greve, Stephanie Nr. 83 Grischow, Johann Heinrich 118 Gröschl, Jürgen 33 Grunaeus, Simon 15, 31 Grünberg, Paul 291 Gruner, Marita Nr. 63 Grutschnig-Kieser, Konstanze Nr. 97 Güldenklee, Balthasar Timaeus von 17, 30 Gummelt,Volker 283
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Haas, Daniel Nr. 40 Häberlein Nr. 6, 200 Habsmeier, Eberhard Nr. 8 Hacket Stevenson, Sarah 283 Hafenreffer, Matthias 293 Hagenbuch, Bernadette 298 Hahn-Bruckart, Thomas Nr. 117 Haine, Georg Christian 143–160, 163– 178 Haine, Johann 175 Hainz, Martin A. Nr. 178 Halama, Jindrick Nr. 143 Handschuch, Johann Friedrich 187–189, 192, 193, 203–206, 334 Hannak, Kristine 112 Hannemann, Tilmann Nr. 88 Hänsel, Sylvaine Nr. 182 Harasimowicz, Jan Nr. 15 Harding, Elizabeth 318–322 Hare, John Nr. 176 Harforth, Samuel 263f. Harland, Marion 262 Harrison, Mrs. Carter H. 283 Hartmann, Ludwig 57 Hase, Thomas 314 Hassart, Paul 26 Hattenbach, Johann Salomon 78 Haug, Johann Friedrich 302 Haven, Jens 220f., 232, 235, 239, 242, 248 Hawkes, Ernest 243 Heal, Bridget Nr. 11 Hedlung, Roger Nr. 153 Heerbrand, Jacob 293 Hein, Eva 52 Hein, Markus 52 Heinzelmann, Johann Dietrich Matthias 105, 188 Heldt, Kerstin Nr. 31 Helm, Jürgen 113f., 121 Hennings, Ingeborg von 253 Hennings, Therese von 252 Heppe, Heinrich 51 Herberger,Valerius 13–17, 18, 20, 27, 29, 31 Herberger, Zacharias 19, 31 Herrmann, Johann 18f., 25, 31f. Herrnschmidt, Johann Daniel 40, 58, 66, 167
Heshusius, Tilemann 293 Hess, Tobias 134 Heunisch, Caspar 97, 98 Hirschmann, Wolfgang 306; Nr. 166 Hochenau, Hochmann von 51 Hof, Jan op’t Nr. 23 Hoffmann, Matthias 98 Högy, Tatjana 343 Holley, Marietta 262 Holstein-Sonderburg zu Franzhagen, Ludwig Carl Herzog von 149 Holthaus, Stephan 253 Holtsheuser, Martin 20 Holtz, Sabine Nr. 76 Holzem, Andreas Nr. 89 Höpsel, Ingrid Nr. 84 Horn, Michael A. van Nr. 87 Howard, General Oliver Otis 262 Hubele, Bernhard 206 Hungerlandin, Anna Martha 304 Hus, Jan Nr. 60f.,142 Hutter, Leonhard 293 Ingen, Ferdinand van Nr. 167 Ising, Dieter Nr. 70, 71 Jacob, Joachim Nr. 135 Jahn, Anna Margaretha 78, 86 Jakubowski-Tiessen, Manfred 303f. Janner, Sara 349f. Jarlert, Anders Nr. 112 Jaspert, Bernd Nr. 129 Jecker, Hanspeter Nr. 109 Jenkins, Paul Nr. 67 Jensen, Stephan 232 Jensz, Felicity Nr. 189 Jepsen, Mads 271 Jones, George Fenwick 206 Juncker, Gräfin Charlotte Sophie, geb. von Waldeck, 152, 170 Juncker, Johann 152, 170, 172 Jung, Martin H. Nr. 132 Jung-Stilling, Johann Heinrich 302, 335–346, Nr. 17, 94, 173 Junius, Samuel 16f., 27 Just, Jiři Nr. 60
Kadelbach, Ada Nr. 168 Kamp, Jan van de Nr. 46 Kannenberg, Michael Nr. 69 Kant, Immanuel 305, 338, Nr. 174–177 Karnitscher, Tünde Beatrix 308–311, 313; Nr. 201 Kaufmann, Thomas Nr. 169 Kawanishi, Takao Nr. 123 Keitel, Henning Nr. 22 Keller, Uwe 175 Kendrová, Zlatica Nr. 170 Kettering-Lange, Denise Nr. 27 Kingminguse 229, 233 Kirch, Gottlieb 76 Kirchberg, Ernestina Karolina von 153 Kirchberg, Georg Friedrich Burggraf von 144f., 147, 152, 158–162, 164–166, 173, 175 Kirchberg, Sophia Amalie Burggräfin von 177 Kirchberg, Christine von 152 Kirchberg, Elisabeth Dorothea von 152f. Kirchberg, Magdalena Christina Gräfin von 144–147, 152, 153, 154f., 160– 162, 165f., 169–171, 173, 175–178 Kirchberg, Wilhelmine Christina von 153 Kleinjn, Johannes Petrus 343 Klopstock, Friedrich Gottlieb Nr. 178– 180 Klosterberg 132; Nr. 3, 190f. Knorr von Rosenroth, Christian 305–308 Koch, Hugo 278 Koch, Johann Friedrich 118 Kock, Peter (Koch) 184f. Kockel, Susanne Nr. 61 Kolberg, Martin 13f. Konfuzius Nr. 91 Köppen, Johann Ulrich Christian 177 Korth, Hans-Otto Nr. 181 Kortholt, Christian 44 Koski, Suvi-Päivi Nr. 113 Koß, Christiane Friederike von 150 Köster, Beate 300 Kotsch, Michael Nr. 205 Kowa, Günter Nr. 118 Kowa, Günter Nr. 22 Krafft, Johann Valentin 184 Kratzenstein, Henrich 85, 292
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Kraus-Bachofen, Daniel, 347 Kremer, Joachim Nr. 13, 171 Kremers, Anorthe Nr. 11 Kröger, Rüdiger Nr. 130 Kroll, Frank-Lothar Nr. 165 Krusenstjerna, Ada Fürstin von 251 Kuhfuß, Walter Nr. 32 Kuhl, Marcus 185 Kuhn, Thomas K. Nr. 192 Kulliut 228f., 242 Kunckel, Johannes 132 Kurtz, Johann Nikolaus 180, 184 La Flesche, Francis 246 Lange, Helene 260 Lange, Joachim 36, 55, 60–63, 90 Lange, Johann Christian 147 Lange, Johann, Friedrich 107 Larsson, Lars Olof Nr. 84 Lau, Thomas Nr. 109 Laurentius, Gotthilf August 157, 176 Lauterbach, Samuel Friedrich 18, 20 Lavater, Johann Kaspar 52, 340, 345; Nr. 88 Lavoisier, Antoine Laurent 130 LeBlanc, Guillaume 22 Lee, Charlotte Nr. 179 Lehmann, Hartmut 214; Nr. 133, 193 Lehmann, Silke 214 Lehmann-Brauns, Sicco 127 Leibniz, Gottfried Wilhelm 78, 323, 326, 337; Nr. 28 Leiningen-Westerburg, Gräfin Sophie Charlotte zu 151 Leopold I., Kaiser des HRR 306 Leppin,Volker Nr. 89 Leví-Strauss, Claude 246, 248 Li, Wenchao Nr. 28 Libavius, Andreas 120, 132 Liebau, Heike Nr. 154f. Liebisch, Samuel 233–235, 237f., 243f. Lieburg, Fred A. van Nr. 105, 197 Linck, Johann Ehrenreich 107 Lindner, Andreas Nr. 90 Lipenius, Martin 21 Lipton, Thomas 266 List, E.M. von 105 Lister, Christian 219f., 231
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Listich, Friedrich 107 Loeser, Martin Nr. 74 Lohsträter, Kai Nr. 33 Löning, Henning 97f. Löscher,Valentin Ernst 51, 127, 175, 331, Nr. 18 Lückel, Ulf Nr. 77f., 121 Lüdke, Franck Nr. 92f. Ludwig, Nikolaus 17 Luise, Königin von Dänemark 286 Luise, Prinzessin von Dänemark 270 Luther, Martin 13, 20, 48, 52f., 55, 62, 64, 67, 91; Nr. 19f., 29, 37, 39, 73, 89, 105, 132f., 162, 181, 205 Lyon, Alexander 280 MacDonald, Gerald Theodore Nr. 62 Mack, Julia Nr. 110 Madai, Carl August von 118 Madai, Carl Wilhelm Samuel von 135 Madai, David Samuel von 118f., 135f., 141 Maddox, Randy L. Nr. 124 Magdalena Sybilla, Herzogin von Württemberg Nr. 13, 68, 72, 74–76, 171, 183 Mahling, Lubina Nr. 79-81, 136f. Mai, Claudia 214 Maier, Alexander Nr. 5 Maillard, Christine 128 Manitius, Johann Andreas 106 Manuina 220f., 228, 231f. Maria Elisabeth, Herzogin von SachsenCoburg 306f. Maris, Anne Nr. 158 Marquart, Gabriel Christoph 36 Martin, Lucinda Nr. 42 Mathiassen, Therkel 219 Matthias, Markus 34, 100, 105, 291f.; Nr. 38 Maul, Johann Philipp 112 McCall, Roy K. Nr. 91 Mearns, Daniel 280 Meissner, Michael 28 Mejrup, Kristian Nr. 34 Mengering, Arnold 50, 51 Menzel, Johannes 23 Mettele, Gisela Nr. 194f.
Meyer, Bartholomäus 81 Meyer, Dietrich Nr. 45 Mikak 222 Milde, Heinrich 40 Millek (Millik) 223, 225f., 230f., 242 Mills, Luther Laflin 283 Mirandola, Giovanni Pico della 123 Moeller, Katrin Nr. 203 Moller, Martin 27 Moody, Dwight L. 262, 272 Moody, William R. 262 Mooser, Josef 346 Morhard, Ludwig 220 Mori, Ryoko 316 Mosheim, Johann Lorenz von 69 Mouthaan, J.N. Nr. 101 Mühlenberg (Muhlenberg), Heinrich Melchior 179, 181f., 184–186, 188, 190f., 193, 197f., 198, 199–208, 210f., 232, 333–335 Mühlenberg, Friedrich August 207 Mühlenberg, Gotthilf Heinrich Ernst 207 Mühlenberg, Johann Peter Gabriel 200, 206f. Mühlenberg, Margretha Henrietta 188 Muis, M. Nr. 102 Müller, Gerhard 49, 53 Müller-Bahlke, Thomas 214; Nr. 37 Münzmay, Andreas Nr. 72 Mylius, Martin 18, 27 Napoleon 341 Nassau-Saarbrücken, Gräfin Sophie Amalie von 159 Natzmer, Dubislav Gneomar 87, 147, 156, 172, 176, 328–330 Nazzius, Heinrich Gottlieb 108 Nebe, August 55 Neisser, Joseph 232 Neugebauer-Wölk, Monika 112, 123 Nicolai, Friedrich 337 Niemeyer Nr. 182 Nippe, Olaf 214 Nizolius, Matthias 28 Noël, François 325 Nolandt, Carl 264, 266 Nujelliak 231, 231
Oberlin, Johann Friedrich 342, 345 Oertel, Georg Nr. 20 Oetinger, Friedrich Christoph 310, 313 Okarloak 229, 234 Oldenburg, Großherzogin Elisabeth von 257 Olsthoorn, Thea Nr. 161 Orlich, Gottfried Valentin 167 Ostfriesland, Edzard Eberhard Wilhelm Graf von 149 Palmer Davies, Marie, geb. Freiin von Dungern 252, 256 Paracelsus (Hohenheim, Theophrastus Bombastus von) 111, 116, 118–121, 119f. 124, 129, 131 Parker, Joseph 262 Pasche, Friedrich Wilhelm 203 Pečar, Andreas 110 Peck, Edmund James 217 Penn-Lewis, Jessie 277, 277 Perry Shonts, Mrs. 283 Peschke, Erhard 64 Petersen, Johann Wilhelm 73, 76, 81, 86, 292 Petersen, Johanna Eleonora 34, 72, 73, 86, 91, 93–95, 97–99 Petterson, Christina Nr. 204 Peucker, Paul Nr. 50 Pfeiffer, Julius Franz 75 Philipp, Guntram Nr. 51, 59 Pickering, Andrew Nelson Nr. 95 Platon 123 Plinius 18 Plotho, Jenny von 277 Poeckern, Hans-Joachim 118, 136, 137 Pohl, Georg 291 Poole, Daniel Nr. 52 Posselt, Zacharias 25 Prätorius, Johannes 80 Prescott Spofford, Harriet 262 Priesner, Claus 124 Promnitz, Maria Eleonore Emilia von 150 Provost, Lord of Aberdeen 280 Prunius, Heinrich 311f. Ptolemaius II. 22 Pütter, Johann Stephan 149
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Puttkammer, General Casimir von 108 Pyrges, Alexander 181; Nr. 156 Quack, Jürgen Nr. 157 Quast, Elisabeth 113 Raatz, Georg Nr. 85 Rainy, David Nr. 126 Rambach, Johann Jakob 64, 301 Randall, Ian Nr. 119 Rasmussen, Knud 216, 217–219, 223, 228, 230, 234–236, 239, 243, 246 Redern, Hedwig von 251f., 256, 277 Reichel, Naomi Nr. 53 Reinecke, Catharina 80, 82 Reusner, Nikolaus 21, 21 Reuß zu Köstritz, Heinrich XXIV., Graf 150 Reuß, Heinrich XXVIII. Graf 232 Reuß-Obergreiz, Heinrich II. Graf von 151 Reuß-Schleiz, Heinrich XI. Graf 150 Reventlow, Franziska Gräfin zu 284f. Reventlow, Melitta Gräfin zu 253 Rhamba, Johannes 23 Rhodes, James 220 Richards, N.M. 274 Richter, Christian Friedrich 110, 113f., 117, 118, 120–126, 130, 131, 137– 142 Richter, Christian Sigismund 118, 120f., 134f., 138 Richter, Matthäus 28 Richter, Samuel 132–140, 142 Rieger, Geog Konrad Nr. 73 Rist, Johann Nr. 74 Ritter, Christian Friederich 303 Roberts, Evan 275 Rocher, Michael Nr. 35 Roeber, A. Gregg 185 Rohmer, Ernst Nr. 138 Römer, Johann Heinrich Nr. 26 Rudinger, Bartholomäus 28 Rudolf II., Kaiser des HRR 24 Rudolph, Hartmut Nr. 28 Ruhland, Thomas Nr. 158 Rymatzki, Christoph 86, 88; Nr. 196
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Sachs, Bartholomäus 29 Sachsen-Coburg-Saalfeld, Christian Ernst von 150 Sachsen-Zeitz, Moritz Herzog von 144 Sahmland, Irmtraut 112f.; Nr. 207 Salm-Horstmar, Eduard Prinz zu 255, 261 Salvadori, Stefania Nr. 86 Sandhagen, Kaspar Hermann 93, 98 Sangster, Margaret E. 262 Sauer, Johann Christoph Nr. 121 Scaliger, Julius Caesar 21 Schade, Johann Caspar 89, 293 Schalling, Jakob Nr. 199 Schamelius, Johann Martin Nr. 90 Schäufele, Wolf Friedrich 94 Schaum, Johann Helfrich 180, 184 Schede Melissus, Paul 18 Scheffler, Andreas 23 Scheider, Johann 232f., 248 Schellenberg, Jacob Ludwig 63 Schicketanz, Peter 157, 294 Schiffert, Christian 88, 106, 108 Schimmelmann, Christian 255 Schimmelmann, Adelaide Luise Caroline Gräfin von 249–287 Schimmelmann, Heinrich Carl 254 Schimmelmann, Paul 253, 259, 261, 267, 268, 269f., 273f., 276, 280f., 286 Schimmelmann, Sophie 255 Schinmeyer, Johann Christoph Nr. 39, 144 Schippan, Michael 343 Schjørring, Jens Holger Nr. 21 Schlatter (Slatter), Michael 186f., 189, 195, 208, 213, 211 Schleupner, Christoph 67 Schleydorn, Elisabeth, geb. Chevalier 185–188, 205 Schleydorn, Heinrich Junior 180–182, 188f., 192f., 195–207 Schleydorn, Heinrich Senior 179f., 182– 193, 195–197, 200–202, 204–206 Schleydorn, Johannes 188, 191f., 195 Schleydorn, Maria 186 Schloezer, A. 235 Schloms, Antje Nr. 16, 82 Schmalz, Björn Nr. 41
Schmid, Pia Nr. 4, 54, 139 Schmidt, Andreas 177 Schmidt, Heinrich Richard Nr. 145 Schmidt, Norbert Nr. 92 Schnorr von Carolsfeld, Julius 276 Schnurr, Jan Carsten Nr. 206 Scholz, Metta Nr. 31 Schottel, Justus Georg 22 Schrader, Christoph 46, 56, 57, 113, 214; Nr. 207 Schreiber, Lucia Amalia Elisabeth 80 Schröter, Marianne Nr. 142 Schuchart, Anna Maria 72, 79f. Schulenburg, H. 201, 206f. Schultz, Franz Albert 106 Schultz, Stephan Nr. 40 Schulz, Martin 73 Schulz, Otto 267, 282 Schulz, Willi 267, 282 Schulze, Friedrich 188 Schunka, Alexander Nr. 12, 159 Schütz, Johann Jacob 50 Schwartz, Adelheid Sybille 75 Schwarz, Berthold Nr. 19, 205 Seckendorf,Veit Ludwig von 58, 69f., 300f.; Nr. 41 Seide, Oliver Nr. 1 Seidel, Johannes Jürgen Nr. 111 Selderhuis, H.J. Nr. 105 Semler, Christoph 324 Semler, Johann Salomo 131 Semmler, Gebhard Levin 75, 77f Senkel, Christian Nr. 8 Sepp Jansz, Christiaan 343 Siebel, Johann Georg 340 Sigismund III. Wasa 24 Sikkulliak (Sekullia/Segulia(k)/Sek(k)ul(l)iak) 219f., 220, 222, 229, 230, 238, 240 Sikora, Michael 148 Smith Foggitt, William 259 Soboth, Christian 131, 214; Nr. 1, 4 Solms-Sonnenwalde, Luisa Sophie Gräfin von 151 Sommer, Wolfgang Nr. 25 Sonne, Birgitte 214, 217, 239 Spalding, Johann Joachim Nr. 131 Sparn, Walter 97
Spener, Jakob Philipp 34, 36–38, 43, 44f., 51, 61, 63, 64, 70, 72, 76, 79, 88, 98f., 104, 162–164, 166, 291–294, 299–301, 310, 314, 336, 339; Nr. 27–30, 182 Spittler, Christian Heinrich 349 Sprengel, Matthias Christian Nr. 200 Sprögel, Johann Heinrich 73, 79, 81f., 84– 87, 100–109, Nr. 30 Spurgeon, Charles Huddon 262 Spurgeon, Thomas 262 Stach, Christian 216–218, 216 Stach, Matthäus 216 Stahl, Georg Ernst 114, 121f., 124, 130, 142 Stahlschmidt, Johann Christian 339 Stapfer, Philipp Albert Nr. 145 Steinkopf, Karl Friedrich Adolf 339, 344 Stengel, Friedemann 110, 122, 131 Straßberger, Andres 33, 292 Sträter, Udo 72, 314; Nr. 10 Strom, Jonathan 33; Nr. 160 Struensee, Johann Adam 63 Stubenrauch, Timotheus Christian 107 Suitner, Riccarda Nr. 172 Sulzbach, Christian August von 306 Szyrwińska, Anna Nr. 177 Taubmann, Friedrich 19, 31 Teellinck, Willem Nr. 46 Teigeler, Otto 327–332; Nr. 64 Tentzel, Wilhelm Ernst 300 Tersteegen, Gerhard 54, 339, Nr. 45 Teschner, Melchior 26 Teschnern, Frantz 20 Teske, David 28 Thalbitzer, William 244 Thomasius, Christian 330 Thurmair, Marie Luise 305 Tiburtius, Franziska 260 Tiele-Winckler, Eva von 251, 277 Timaeus, Balthasar 17, 30f. Timaeus, Johannes 13–32 Tolstoi, Leo 274 Tostlöwe, Christoph 314 Trauzettel, Holger 143f. Tschesch, Johann Theodor von 308–313; Nr. 201 Tschirnhaus, Ehrenfried Walther 323, 326
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Tuglauvina (Tugluina/Tuksiavina) 222, 229, 238, 240 Türk, Sebastian Nr. 43 Turner, William 220, 231 Ujarak 222 Valentinus, Basilius (Thölde, Johann) 120f., 137 van Dieren, Johann Bernhard (van Deuren) 183 Van Gent, Jacqueline Nr. 184 van Helmont, Franciscus Mercurius 306 van Helmont, Johan Baptista 121, 134 Vera, Herzogin von Württemberg 251 Verschuir, Johan Nr. 106 Vincent, John H. 262 Vogt, Peter Nr. 56, 65 vom Orde, Klaus 299, Nr. 29f. Võsa, Aira Nr. 57 Waiblinger, Christoph 219f. Walch, Johann Georg Nr. 62 Waldemar, Prinz von Dänemark 268 Waldersee, Graf Alfred 284 Waldersee, Gräfin Marie Esther von 251, 277, 284 Walker of Richmondhill, James 280 Wallmann, Johannes Nr. 28 Wasserzug, Jeannes 277 Weigel,Valentin 128 Weigelt, Horst Nr. 24 Weiß, Ulmann Nr. 199 Weling, Anna Theckler von 251, 256 Wellenreuther, Hermann 214, 332–335 Wenzel, Andreas 30 Wenzel, Sophia 17 Werdmüller, Beat Nr. 111 Wesley, Johan Nr. 122, 124–126 Westphal, Heinrich 75
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Wettstein, Johann Jakob 279, 284 Weyer, Edward Moffat 240 Wheeler, Rachel Nr. 58 Whitefield, George 192, 335 Whitmer, Kelly Joan 322–326 Wichern, Johann Hinrich 255 Wilhem II., Kaiser von Preußen 270, 278, 281 Wilson, Renate 113 Windischgrätz, Graf von 176 Winter, Agnes Nr. 140 Winterfeld, Anna Dorothee von 149 Wittmann, Helge Nr. 109 Wöbkemeier, Rita Nr. 141 Wolff, Christian 324–326, 330; Nr. 91 Woltersdorf, Ernst Gottlieb 303 Wooley, Tim Nr. 99 Woude, R.E. van de Nr. 106 Woyten, Wilhelm von 103 Wrangel, Carolus Magnus von 335 Wunder, Heide 317 Würkert, Reinhardt Nr. 144 Wüstefeld, Martina 271 Zaunstöck, Holger 110; Nr. 6 Zeise, Jacob Benjamin 107 Zeise, Philipp Christoph 107 Zeller, Rosmarie 306f. Zeller, Winfried 54 Ziegeler, Caspar 91 Ziegenhagen, Friedrich Michael 181, 184f., 190f., 193, 196, 204f., 334 Ziesak, Anne-Katrin Nr. 112 Zimmerling, Peter Nr. 7 Zimmermann, Rolf Christian 131 Zinzendorf, Nikolaus Ludwig Graf von 184, 327–332; Nr. 62–66 Zinzendorf, Reichsgraf Otto Christian 329 Zinzow, Elias Hermann 283, 283 Zühlke, Hanna Nr. 180