Pietismus als theologische Erscheinung. Gesammelte Studien zur Geschichte des Pietismus ; 2. Arbeiten zur Geschichte des Pietismus ; 20. 3525558031, 9783525558034


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Pietismus als theologische Erscheinung. Gesammelte Studien zur Geschichte des Pietismus ; 2. Arbeiten zur Geschichte des Pietismus ; 20.
 3525558031, 9783525558034

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Martin Schmidt Der Pietismus als theologische Erscheinung

ARBEITEN ZUR GESCHICHTE DES PIETISMUS IM AUFTRAG DER

HISTORISCHEN KOMMISSION ZUR ERFORSCHUNG DES PIETISMUS

HERAUSGEGEBEN VON

K. ALAND, K. GOTTSCHICK UND E. PESCHKE

BAND 20

VANDENHOECK & RUPRECHT IN GÖTTINGEN

DER PIETISMUS ALS THEOLOGISCHE ERSCHEINUNG GESAMMELTE STUDIEN ZUR GESCHICHTE DES PIETISMUS BAND II VON

MARTIN SCHMIDT

IN VERBINDUNG MIT K. BREUER U N D E. STOVE HERAUSGEGEBEN V O N

K. ALAND

VANDENHOECK & RUPRECHT IN GÖTTINGEN

D i e e r s t e n 16 B ä n d e d i e s e r R e i h e e r s c h i e n e n i m L u t h e r V e r l a g , B i e l e f e l d . A b B a n d 17 e r s c h e i n t d i e R e i h e i m V e r l a g v o n V a n d e n h o e c k & R u p r e c h t in G ö t t i n g e n

CIP-Kurztitelaußiahme

der Deutschen Bibliothek

Schmidt, Martin: D e r Pietismus als theologische Erscheinung/von M a r t i n Schmidt. - Göttingen: Vandenhoeck u n d Ruprecht, 1984. (Arbeiten zur Geschichte des Pietismus; Bd. 20) I S B N 3-525-55803-1 NE: GT

© Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1984. - Printed in G e r m a n y . Alle Rechte vorbehalten. O h n e ausdrückliche Genehm i g u n g des Verlages ist es nicht gestattet, das Buch oder Teile daraus auf f o t o - oder akustomechanischem Wege zu vervielfältigen. Gesetzt aus B e m b o auf Linotron 202 System 3 (Linotype). Satz u n d Druck: Guide-Druck G m b H , Tübingen. Bindearbeit: H u b e r t & C o , Göttingen.

Vorwort Im Jahre 1969 erschien als Band 2 der „Arbeiten zur Geschichte des Pietismus" der erste Sammelband mit den „Gesammelten Studien zur Geschichte des Pietismus" von Martin Schmidt unter dem Titel „Wiedergeburt und neuer Mensch". Er ist lange vergriffen, ein Hinweis darauf, welche positive Aufnahme er gefunden hat. Der jetzt vorgelegte Sammelband ist unter den Titel des ersten (bisher unveröffentlichten) hier abgedruckten Aufsatzes gestellt worden: „Der Pietismus als theologische Erscheinung". Das geschieht zu Recht, denn er vereint eine Reihe von zentralen Aufsätzen M. Schmidts zum Gegenstand. Über seinen Aufbau haben noch Gespräche mit Martin Schmidt selbst stattfinden können, die endgültige Auswahl erfolgte in Verbindung mit Frau Eva Schmidt und seinen früheren Mitarbeitern K. Breuer und E. Stove sowie nach Beratungen in der Historischen Kommission zur Erforschung des Pietismus in deren Auftrag durch den Unterzeichnenden. K. Breuer und E. Stove ist für die Kontrolle und Aktualisierung der Anmerkungen des Bandes (insbesondere bei der Umstellung der Verweise) und die Korrektur sowie die Bibliographie der Veröffentlichungen M. Schmidts seit 1974 (im Anschluß an die in der Festschrift fur ihn „Der Pietismus in Gestalten und Wirkungen", Arbeiten zur Geschichte des Pietismus Band 14, Bielefeld 1975, S. 493-524 veröffentlichte) zu danken, Frau Pastorin von Schroeder, ebenfalls Schülerin von M. Schmidt, besonders für die Bearbeitung des Registers. Dieses Register schließt erfreulicherweise den ersten Sammelband mit ein und faßt beide so zu einer Einheit zusammen, zum Vermächtnis Martin Schmidts für die Erforschung der Geschichte des Pietismus. Denn am 20. Mai 1982 ist M. Schmidt nach längerer Krankheit im Alter von 73 Jahren gestorben. So wurde der als Geschenk gedachte Band zum Denkmal für ihn. Die Historische Kommission zur Erforschung der Geschichte des Pietismus, deren Vorsitz er von ihren Anfängen bis zu seinem Tode innehatte, gedenkt seiner mit großer Dankbarkeit (ein Nachruf auf ihn erschien in Band 8 von „Pietismus und Neuzeit. Ein Jahrbuch zur Geschichte des neueren Protestantismus", S. 9—14). Aber das geschieht nicht nur durch die Kommission, sondern alle, die an der Geschichte des Pietismus interessiert sind. Denn niemand kann sich heute damit beschäftigen, ohne die Arbeiten des „Nestors der deutschen Pietismusforschung", wie sie in den beiden Sammelbänden vorgelegt sind, mindestens heranzuziehen. Er wird hier Aufschlüsse zu Gegenständen erhalten, die bisher oft genug am Rande geblieben sind, und reiche Anregungen für seine Beschäftigung mit den zentralen Themen aller Gruppen des deutschen Pietismus. Münster/W., den 20. Mai 1983

Kurt Aland 5

Inhalt Vorwort

5

Der Pietismus als theologische Erscheinung

9

Epochen der Pietismusforschung

34

Der Pietismus und die Einheit der Kirche

84

Das pietistische Pfarrerideal und seine altkirchlichen Wurzeln

122

Spener und Luther

156

Recht und Grenze der Kirchenkritik. Ph. J. Speners Schrift: „Der Klagen über das verdorbene Christenthum mißbrauch und rechter gebrauch."

182

Der Pietismus in Nordwestdeutschland

199

Das Verständnis des Reiches Gottes im Hallischen Pietismus

230

August Hermann Franckes Erklärung des 139. Psalms

257

Das hallische Waisenhaus und England im 18. Jahrhundert

270

Zinzendorf und die Confessio Augustana

284

Bibliographie Martin Schmidt

318

Nachweis der Erstveröffentlichungen

323

Orts-und Personenregister

325

7

Der Pietismus als theologische Erscheinung 1.

Vorüberlegungen

In jüngster Zeit ist die Anteilnahme am Pietismus neu erwacht, nicht zuletzt unter der Erkenntnis, daß die Erschütterung des institutionellen Gefuges in der Kirche mindestens zum Teil in ihm ihre Wurzeln hat. Eine umfassende Geschichte, die die einzelnen Vorgänge erhellte und die entscheidenden Anliegen ins Licht setzte, wäre dringend erforderlich. Auf der anderen Seite zeigt die emsige Einzelforschung, wieviel noch vorher zu tun ist, ehe eine Gesamtdarstellung möglich wird. Allgemein zugestanden ist die Notwendigkeit, über die bloß emotionale Betrachtung und Bewertung hinauszukommen, die ein Klischeebild erzeugte, etwa unter den Stichworten Reaktion des Herzens gegen intellektualistische reine Lehre, lebendige Frömmigkeit gegen toten Traditionalismus, Subjektivität gegen Objektivität. Dieses Klischeebild ist erstaunlich alt. Es findet sich in einem der eindrucksvollsten und wirkungsmächtigsten Bücher des 19. Jahrhunderts, in Carl Bernhard Hundeshagens Zeitkritik „Der deutsche Protestantismus, seine Vergangenheit und seine heutigen Lebensfragen im Zusammenhang der gesammten Nationalentwicklung beleuchtet von einem deutschen Theologen" aus dem Jahre 1847. Dort wird der Pietismus in folgender Weise geschildert: Gegen die tote Orthodoxie suchte er die innige ethischpraktische Beziehung zum Volke wiederherzustellen, die Theologie in Verbindung mit der gläubigen Gemeinde zu bringen. Er setzte aber die strenge theologische Wissenschaft zu seinem Schaden beiseite. Für ihn lautete der christliche Imperativ nur ora, nicht labora 1 . Nach dieser allgemeinen Kennzeichnung bestimmte Hundeshagen sein Wesen durch die folgenden Einzelzüge: An die Spitze stellte er die Subjektivität. Das einzelne Ich, das Ich des einzelnen Gläubigen rückte in den Mittelpunkt der Frömmigkeit. Als Kern der Subjektivität glaubte Hundeshagen das Sündenbewußtsein nennen zu müssen. Als pietistisch empfand er das Gefühl der Sünde und Schuld, ohne je darüber hinauszukommen 2 . Man sieht deutlich, daß hier das Armesünderbewußtsein der berüchtigten RabenaasStrophe, wie es im Neupietismus, wenn auch ohne jeden Exzeß, gepflegt worden ist, als festes Datum zugrunde liegt 3 . Die Dogmen von der 1

Anonym (Karl Bernhard Hundeshagen), Der deutsche Protestantismus, seine Vergangenheit und seine heutigen Lebensfragen im Zusammenhang der gesammten Nationalentwicklung beleuchtet von einem deutschen Theologen. Frankfurt/M. 1847, S. 235f., 239f. 2 Ebda S. 237. 3 Vgl. dazu Wilhelm Nelle, Die Rabenaasstrophe und einige andere Seeschlangen. Monatsschrift für Gottesdienst und kirchliche Kunst 7 (1902), S. 323-327; 358-362 und Thomas Mann, Buddenbrooks. Verfall einer Familie (1901) V,5 Ges. Werke in 12 Bden Frankfurt-

9

Erbsünde und von der alleinigen Rechtfertigung des Sünders aufgrund der Gnade, die durch den Opfertod Christi erworben ist, beherrschen das ganze Denken. Damit war der Pietismus in der gleichen Weise aufs nächste an das reformatorische Christentum herangerückt wie zwei Generationen später durch Karl Holl 4 . Weiterhin gab dem Pietismus der asketische Zug das Gepräge: Er lehnte die Freude und den unbefangenen Genuß des Natürlichen ab und erkannte das Ziel einer Weltverklärung durch den Gottesglauben und das Gottesbewußtsein überhaupt nicht an. Kunst und Wissenschaft stand er mit Abneigung gegenüber und befand sich in der Gefahr, im Sinne des Manichäismus dualistische Satzungen aufzurichten, so daß der ethische Begriff der Sünde zum physischen gesteigert wurde. Es war das typisch negative Verständnis von „Welt", was hier gemeint war und sich immer wieder im praktischen Verhalten wie im theoretischen Urteil Geltung verschaffte. Freilich erkannte Hundeshagen, daß dieser manichäischen Tendenz die ethische beständig entgegenwirkte, und so stellte er dem Pietismus das lobende Zeugnis aus, daß er den ethischen Faktor des Protestantismus in ursprünglicher Kräftigkeit bewahrt hatte 5 . Für die Weiterentwicklung des Christentums in der Mitte des vorigen Jahrhunderts forderte er eine kritische, aber im wesentlichen positive Aufnahme der pietistischen Anliegen, insbesondere die Ernstnahme der Sünde, zugleich jedoch ihre Läuterung durch ein echtes, weltfreudiges und weltüberwindendes wissenschaftliches Bewußtsein 6 . Dieses Klischeebild, das wir hier in seiner frühesten und edelsten Gestalt kennenlernen, entsprach keineswegs demjenigen, das die ersten Gegner, insbesondere die orthodox-lutherischen Theologen Wittenbergs, von ihm gezeichnet hatten. Es entsprach aber auch nicht dem Selbstverständnis der ursprünglichen Wortführer der pietistischen Bewegung. Die „Christ-lutherische Vorstellung", in der die Wittenberger Theologische Fakultät 1695 hart mit dem Führer des Pietismus im evangelisch-lutherischen Deutschland, Philipp Jakob Spener, nunmehr in Berlin, ins Gericht ging, stellte die Frage der theologia irregenitorum in den Mittelpunkt, also das Problem, ob zwischen wissenschaftlicher Erkenntnis in Glaubensfragen und persönlicher Bekehrung zu Gott ein notwendiger Zusammenhang bestand. Sie Berlin I 1956, S. 284. Diese Strophe ist anscheinend als Parodie frei erfunden worden und zwar von einem mit Friedrich Engels befreundeten Manne, Friedrich Wilhelm Wolff, der sie ohne Verfasserangabe in den Schlesischen Provinzialblättem Bd 112 (1840), S. 359ff. als Probe „Aus einem alten Gesangbuch" zum Abdruck brachte. Er war offenbar ein Vertreter oder Sympathisant des antichristlichen "Jungen Deutschland". 4 Hundeshagen (s. A. 1) S. 238. Karl Holl, Die Bedeutung der großen Kriege fur das religiöse und kirchliche Leben innerhalb des deutschen Protestantismus (1917) = Ges. Aufsätze z. Kirchengeschichte III (1928) S. 325f.; ders., Die Rechtfertigungslehre im Lichte der Geschichte des Protestantismus (1922) Ges. Aufsätze z. Kirchengeschichte III (1928) S. 541. 5 Hundeshagen aaO (s. A. 1) S. 244f. 6 Ebda S. 248 f.

10

ging sodann genau nach der Reihenfolge der Lehrpunkte vor, welche im Augsburgischen Bekenntnis von 1530, der maßgebenden Bekenntnisurk u n d e des Luthertums, angewandt w o r d e n war. Zweifellos stand dabei die Frage der subjektiven Orientierung gegenüber der objektiven N o r m im V o r d e r g r u n d der Polemik. Aber es verhielt sich keineswegs so, daß damit alles gesagt sein sollte, oder daß auch nur ein durchgängiger Z u g als grundlegende Irrlehre für alles haftbar gemacht worden wäre. Vielmehr w u r d e bei j e d e m Lehrstück die Abweichung von der orthodoxen Auffassung aufgewiesen. Gleichzeitig erhob einer der ärgsten Pietistenverfolger der Frühzeit, Samuel Schelwig (1643-1715), in Danzig unter dem Titel „Die sectierische Pietisterey" (ο. Ο . I 1696, II 1697, III 1697) dogmatische V o r w ü r f e gegen die Bewegung. Er tadelte, daß sie beinahe selbstverständlich v o m Verfall der Kirche ausging u n d sich zu ihrem Reformator aufwarf, daß sie das Predigtamt, das Kirchenregiment, die Universität, die Philosophie und die weltlichen Studien verdächtigte, das geistliche Priestertum aller Gläubigen an die Stelle des geordneten Pfarramtes setzte, die freien Vereinigungen (collegia pietatis) an die Stelle der geordneten Gemeinde, daß sie damit schwärmerische Freigeisterei erzeugte, das Ansehen der Lehrbücher in der evangelischen Kirche schwächte, chiliastische H o f f n u n g e n nährte und die heilige Schrift durch die eigene Erleuchtung, welche der heilige Geist gewährte, zu übertreffen suchte. Infolgedessen m u ß t e sich das Verhältnis zwischen Gesetz u n d Evangelium, zwischen dem Glauben und den guten Werken, zwischen der Rechtfertigung und der Heiligung von der gesunden Mitte verschieben und die Wiedergeburt einseitig in den V o r d e r g r u n d rücken. Trotz aller Gehässigkeiten wird man nicht bestreiten können, daß der orthodox-lutherische Verfasser wesentliche Punkte im Pietismus richtig sah 7 . Der Pietismus selbst brachte verhältnismäßig spät eine eigene D o g m a t i k hervor. Es war J o h a n n Anastasius Freylinghausens (1670-1739) „Grundleg u n g der Theologie", die zuerst 1704 erschien und 1730 die 8. Auflage erreichte. Der Verfasser erläuterte den sehr allgemeinen Titel durch den Relativsatz „darin die Glaubens-Lehren aus göttlichem Wort deutlich vorgetragen u n d z u m thätigen Christentum wie auch Evangelischem Trost angewendet w e r d e n " und folgte zunächst der orthodox-lutherischen A n o r d n u n g der einzelnen Glaubensartikel, darüber hinaus der klassischen dogmatischen Tradition seit d e m Mittelalter. Geht m a n jedoch in die Einzelheiten, so empfindet man an mehr als einer Stelle eine Auflockerung 7 Es ist selbstverständlich nicht ganz leicht, zu diesem Urteil zu gelangen, weil die polemische Gesamthaltung und das beständige Abgleiten in persönliche Erfahrungen sich derartig in den Vordergrund drängt, daß der sachliche Gedankenfluß gestört wird. Wir brauchten eine auf den Sachgehalt gerichtete Darstellung der pietistischen Polemik gegen die Orthodoxie und umgekehrt. Für meine eigenen Bemühungen um die Erkenntnis des Pietismus hat die Wahrnehmung, daß sich beide in einer polemischen Situation befinden, eine entscheidende Rolle gespielt.

11

des bekannten Schemas, etwa darin, daß die Wiedergeburt ihren Platz vor der Rechtfertigung erhielt, daß Buße und Bekehrung vor dem Glauben und die guten Werke unmittelbar nach dem Glauben behandelt wurden, daß das Kreuz und das Gebet der Erörterung des Kirchenbegriffs vorangingen 8 . Noch deutlicher kam die pietistische Eigenart in Joachim Langes Heilsordnung „Oeconomia Salutis Evangelica, i n j u s t o articulorum nexu, Methodo demonstrativa digesta, et uti acuendo spirituali judicio, juvandaeque memoriae, sic etiam Christianae praxi accommodata", Halle Magdeburgicae (1728), 2 1730, zum Ausdruck. Hier war alles auf das Heil, seinen Urheber, seinen Verlust und seinen Wiedergewinn bezogen 9 . Eine Geschlossenheit war erreicht, die die nachfolgende dogmatische Orientierung im Luthertum entscheidend bestimmte. Ehe wir selbst im Anschluß an Philipp Jakob Spener die theologische Grundlegung des Pietismus wiedergeben, wenden wir uns der besonderen pietistischen Prägung und Beziehung dieses Ortes Idstein im Taunus zu. Hier wirkte von 1712-1716 als Hofprediger Johann Daniel Herrnschmid (1675-1723), ein schwäbischer Pfarrerssohn, der von hier unmittelbar als Subdirektor der Franckeschen Stiftungen und Professor der Theologie nach Halle ging. Er war offenbar ein überdurchschnittlich begabter Mann, der schon früh in verantwortliche Stellung gelangte und bei seinem Tode als 48jähriger ein erhebliches Ansehen erreicht hatte. Am 11. April 1675 in Bopfingen im Jagstkreis geboren, besuchte er seit 1696 die Universität Altdorf bei Nürnberg, wo er 1698 den Magistergrad in Philosophie erwarb und sich besonders im Griechischen, Hebräischen, Aramäischen, Italienischen und Französischen auszeichnete. Dann wandte er sich an die junge, aber bereits berühmte Universität Halle und erhielt den Mittagstisch bei August Hermann Franckes Freund und Leipziger Leidensgenossen Paul Anton (1661-1730). Er wurde Lehrer fur Griechisch am Pädagogium der Franckeschen Stiftungen, 1700 Lehrer fur Religion und Griechisch am Gynäceum, zog in Franckes Haus und unterstützte ihn in seiner Korrespondenz, wodurch er in ein nahes Verhältnis zu ihm kam. Als 1701 Francke Dekan der Theologischen Fakultät wurde, nahm er sich Herrnschmid als seinen Adjunkt und ließ ihn Vorlesungen halten. Seine schwache Gesundheit unterbrach eine hoffnungsvolle Laufbahn. 1702 kehrte er als Adjunkt seines Vaters nach Bopfingen zurück und blieb dort bis 1712. In dieser verhältnismäßig ruhigen Zeit betätigte er sich literarisch. Er 8 Johann Anastasius Freylinghausen, Grundlegung der Theologie, darinn die GlaubensLehren aus göttlichem Wort deutlich vorgetragen und zum thätigen Christenthum wie auch Evangelischen Trost angewendet werden. Halle 8 1730, S. 171-181, 182-192, 333f., 345-360. 9 Joachim Lange wird normalerweise unterschätzt, weil er nur als Polemiker gewürdigt wird, zuletzt von Rolf Dannenbaum, Joachim Lange als Wortführer des Hallischen Pietismus gegen die Orthodoxie. Theologische Dissertation Göttingen 1951. Es ist nötig, ihm auch positiv gerecht zu werden, wie ich es in der Studie Das Verständnis des Reiches Gottes im hallischen Pietismus (s. u. S. 230—256 versucht habe.

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verfaßte eine Dankschrift an Halle, eine Dissertation über ein ungewöhnliches Thema, nämlich die geistliche Trägheit (Acedia) und gegen Bossuet, den letzten Kirchenvater des römischen Katholizismus, gerichtete „Reflexiones über den Abtritt von der Evangelisch-Lutherischen zu der RömischCatholischen Religion" (1706), die durch den Übertritt der Braunschweigischen Prinzessin Elisabeth Christine wegen ihrer Heirat mit dem späteren Österreichischen Kaiser Karl veranlaßt waren. Im Jahre 1712 nahm er die Berufung nach Idstein an, obwohl die Hallischen Freunde ihm abrieten. Zuvor erwarb er mit der Abhandlung über die geistliche Trägheit in Halle den theologischen Doktorgrad und hielt seine Beziehung dorthin lebendig. August Hermann Francke wollte ihn unbedingt zurückgewinnen und versuchte alles, bis er das Ziel erreichte. Er selbst war 1714 Pfarrer von St. Ulrich in Halle mit Residenzzwang im Pfarrhaus in der Stadt geworden und brauchte einen Vertreter für die Schulen im Waisenhause in Glaucha, zumal seine Anstalten ein riesiges Wachstum erlebt hatten. Herrnschmid kam unvermutet zur Einfuhrungspredigt Franckes nach Halle, und der Waisenvater sah darin einen Wink Gottes. Er brauchte u m so mehr einen Helfer, als seine eigene Frau aus Mißvergnügen über den Wohnungswechsel noch ein dreiviertel Jahr in Glaucha verharrte. Ein Subdirektor war ihm durch ein königliches Privileg 1702 zugesichert worden. Andererseits befand sich der gewünschte junge Hofprediger in Idstein in einer hohen Stellung, aus der ihn der Fürst nicht entlassen wollte. Francke und seine Freunde versuchten das äußerste. Sie wirkten auf den sparsamen König von Preußen beharrlich ein, Herrnschmid außer der Subdirektion der Franckeschen Anstalten noch eine vollbezahlte Universitätsprofessur zu bewilligen. So wurde nach mehreren Anläufen im April 1716 erreicht, daß der 41jährige Hofprediger mit zwei Gehältern nach Halle berufen wurde. Nach Idstein sandte Francke seine Mitarbeiter Neubauer und Achilles, die den Fürsten dadurch zur Entlassung Herrnschmids bewegten, daß sie einen Ersatzmann aus Halle gleich mitbrachten. In Halle hielt Herrnschmid fast alle Vorlesungen Franckes während dessen Prorektorat, in dem dem großen Meister auch ein Studentenskandal nicht erspart blieb. Insbesondere lehrte er Kirchengeschichte und Ethik als Tugendlehre (Aretologie). Außerdem führte er die neue Vorlesung der Dogmengeschichte ein. Weiterhin bemühte er sich u m die praktische Theologie, insbesondere homiletische Lektionen und Erbauungsstunden. Trotzdem galt seine Hauptarbeit der Leitung der Franckeschen Anstalten. Er wurde der eigentliche Schöpfer der lateinischen Hauptschule, der berühmten Latina, und seine Ordnungen galten bis ins 20. Jahrhundert. 1718 wurde er ihr Direktor nach dem Tode von Justus Töllner. Unter ihm nahm die Schule einen großen Aufschwung. Seine Abendandachten und Bibelbesprechstunden wurden von Leuten aus der Stadt besucht. V o m 10. bis 12. Mai 1719 fand das v o m jungen Grafen Zinzendorf angeregte Merse13

burger Religionsgespräch zwischen den grimmigen Feinden Valentin Ernst Löscher und August Hermann Francke unter Herrnschmids Vorsitz statt. Er erstattete darüber auch den eigentlichen Bericht. Das Gespräch endete wie die meisten derartigen Veranstaltungen unentschieden, aber Herrnschmids Nachverhandlungen führten zu größerer Sachlichkeit. Er verfaßte die Gesangbuchlieder „Lobe den Herren, o meine Seele!" und „Gott will's machen, daß die Sachen gehen, wie es heilsam ist. Laß die Wellen höher schwellen, wenn Du nur bei Jesus bist." Aus dieser reichen, fruchtbaren Tätigkeit riß den knapp 48jährigen am 5. Februar 1723 der Tod, ein schwerer Schlag auch für August Hermann Francke, der ihn als seinen Erben vorgesehen hatte. 2. Geschichtliche

Stellung des

und

Wesensbestimmung

Pietismus

Der Augsburger Religionsfriede von 1555 hatte zum ersten Mal in Europa, zunächst in Deutschland als dem Zentrum der abendländischen Glaubenskämpfe, die rechtliche, nicht bloß tatsächliche Möglichkeit eröffnet, daß zwei christliche Glaubensbekenntnisse und Kirchenformen, die einander widersprachen, auf demselben Boden nebeneinander - schiedlich friedlich - lebten. Seine geschichtliche Bedeutung beruhte nicht auf dem Recht des Landesherrn zu bestimmen, welche der beiden großen Gestaltungen, die römisch-katholische oder die evangelisch-lutherische, die maßgebende sein sollte (cuius regio - eius religio), sondern auf der ausdrücklichen Durchbrechung dieses Rechtes, das ja als Ausgangspunkt von der mittelalterlichen Ordnung und Gewöhnung her selbstverständlich war 1 0 . Es waren die geistlichen Gebiete und die freien Reichsstädte, in denen sich das zuerst ereignete. Freilich fiel es beiden Seiten schwer, sich daran zu halten, und die verschiedenen Mißhelligkeiten führten - neben dem weltpolitischen Kampf zwischen Frankreich und der habsburgischen Dynastieschließlich zum Dreißigjährigen Krieg (1618-1648), der einen Anfang in kirchengeschichtlicher Hinsicht setzte. Seit seinem Ende war es klar, daß keine christliche Konfession die andere mit politischer Gewalt niederringen oder beseitigen konnte. Jede mußte mit der anderen rechnen. N u r in Frankreich wurde mit der Aufhebung des Edikts von Nantes (1685), das der König Heinrich IV. 1598 zum Schutz seiner reformierten Untertanen (Hugenotten) erlassen hatte, der Versuch der Vernichtung unternommen. Er glückte zwar fürs erste, bereitete aber den Boden für die fortschreitende Abwendung der geistig führenden Schichten vom römischen Katholizismus zugunsten eines atheistischen Materialismus oder prinzipiellen Skepti-

10 Diese Sicht des Augsburger Religionsfriedens ist selbstverständlich nicht aus seiner Absicht, sondern aus seiner Wirkung geschöpft. Vgl. dazu die sorgfaltige und behutsame Erörterung von Stephan Skalweit, Reich und Reformation. Berlin 1967, S. 391—416.

14

zismus und entlud sich ein Jahrhundert später in der Französischen Revolution mit ihrer zeitweiligen Abschaffung des Christentums überhaupt (1793). Auf britischem Boden war die Regierung klüger zu Werke gegangen. Sie hatte zwar seit Elisabeth I. den römischen Katholizismus für lange Zeit ausgeschieden, so daß er erst im 19. Jahrhundert wieder Gegenstand der Religionspolitik wurde. Aber auch mit den verbleibenden Gruppen war ihr keine leichte Aufgabe gestellt. Sie versuchte, diese durch eine gewisse Weitherzigkeit mit minimalen Loyalitätsforderungen zu lösen. Man nannte das Vorgehen „comprehension, comprehensiveness" Umfassung vieler Spielarten 11 . Auch nach dem Ende von Crommwells Revolutionsherrschaft, die sich kirchlich als Unterdrückung der vorher herrschenden anglikanischen Staatskirche ausgewirkt hatte, wollte die Staatsfìihrung durch eine neue Gesetzgebung (Clarendon Code) wieder eine einheitliche Kirche anglikanischer Gestalt im gleichen Sinne aufrichten 12 . Sie mußte jedoch nachgeben und schließlich 1689 das Toleranzgesetz bewilligen. Damit bestanden auch hier verschiedene Glaubensformen nebeneinander. Die Folgen konnten kaum überraschen: Das Ansehen institutionell garantierter und praktizierter Kirchlichkeit sank, ja verfiel. Immer deutlicher traten die damit verbundenen Mängel zutage. Sie wurden in der Polemik übertrieben. Das Christentum der Zukunft mußte in der Lage sein, auf solche Stützen zu verzichten. Es ließ sich absehen, daß es immer mehr und nahezu ausschließlich zur persönlichen Frömmigkeit wurde. Auf alle Fälle mußte es seine überzeugende Kraft aus ihr beziehen. Die Grundfragen des Glaubens selbst, die Aufgaben der sittlichen Lebensführung, die Stellungnahme zur Welt rückten in den Vordergrund. Die Probleme des kirchlichen Rechts, des Amts, auch der Liturgie, schließlich des fixierten Dogmas verloren an Gewicht. Die Kirche wurde aus einer Lebensordnung zu einer Größe der Innerlichkeit; sie wurde im Endstadium zur Atmosphäre. Als radikale Erscheinungen, als bedrohliche Symptome meldeten sich zwei konkurrierende Strömungen zu Worte. Die eine war der nackte Atheismus, der, frivol gerichtet oder philosophisch aus dem Skeptizismus geboren, das Christentum völlig verwarf. Er hatte seine Heimat in Frankreich, an dessen Staatskirchenpolitik er sich nährte, zumal sie von Jesuiten geleitet war. Von hier, dem politisch siegreichen und gesellschaftlich tonangebenden Lande, verbreitete er sich in die europäischen Hofkreise 13 . Die andere 11

Diese Eigentümlichkeit des englischen (anglikanischen) Kirchendenkens wirkt bis heute in den Bestrebungen der Wiedervereinigung der Christen im Lande (home reunion) nach. Es ist selbstverständlich, daß alle Getrennten zur Kirche von England zurückkehren. Ein Zusammenwachsen durch partnerschaftlichen Austausch wird viel seltener ins Auge gefaßt. 12 Dadurch sollte der römische Katholizismus ausgeschlossen bleiben. Karl II., der ihn seiner katholischen Gemahlin wegen zulassen wollte, erklärte sich deshalb fur die „Toleranz" (toleration), die Gleichberechtigung aller christlichen Bekenntnisse und verfiel der Ächtung durch das Volk. 13 Dieser Vorgang vollzog sich atmosphärisch und läßt sich daher schwer durch exakte

15

Strömung hielt am Christentum fest, verstand es jedoch als reine Innerlichkeit ohne kultische Formen und Bindungen. Sie eroberte, von Spanien ausgehend, als romanische Mystik die römisch-katholische Welt, an der Spitze Frankreich, und griffais mystischer Spiritualismus im evangelischen Bereich das kirchliche Normalchristentum heftig an, weil sie sich ihm überlegen wußte. In beiden Konfessionen drohte ein Christentum ohne Kirche, in polemischer Zuspitzung ein Christentum gegen die Kirche. In dieser Lage trat der Pietismus auf den Plan. Er erkannte die echten urchristlichen Werte, vor allem die urchristliche Lebendigkeit im Streben nach Vollkommenheit, die Betonung der Liebe, der Einfalt und der Kraft, die im mystischen Spiritualismus laut wurden, und verstand es doch, den Zusammenhang mit der Tradition zu wahren, noch im Rahmen des vorgegebenen orthodoxen Kirchentums zu bleiben, vor allem sich auf Luther zu berufen und ihn damit für die eigenen Ziele in Anspruch zu nehmen. So war er revolutionär und konservativ zugleich. Doch im ganzen schlug sein Herz stärker auf der revolutionären Seite. Das zeigte sich in dem Grunddatum für Frömmigkeit und Theologie, das er an die Spitze des christlichen Wertsystems stellte. Es war die Wiedergeburt, die völlige Neuschöpfung, die neue Kreatur, der neue Mensch, der innere Mensch, der verborgene Mensch des Herzens, das Kind Gottes. Die Leidenschaft dafür einte alle Pietisten. Die reformatorische Mitte, die Rechtfertigung des Sünders allein aus Gnade durch den Glauben, wurde keineswegs preisgegeben. Im Gegenteil: Ihre Hauptaussage, daß die Annahme des Menschen bei Gott allein aus Gnade geschehe, wurde aufs stärkste betont, u m die Alleinwirksamkeit Gottes herauszustellen. Aber der Vorgang selbst wurde in die Wiedergeburt eingebaut, in der man das größere und umgreifende Ereignis erblickte. Der wichtigste Wortführer des mystischen Spiritualismus, Christian Hoburg (1607-1675), hatte in seiner Anklageschrift „Spiegel der Mißbräuche beim Predigamt im heutigen Christentum" (1644) entschieden erklärt: Rechtfertigung ist Fiktion, Wiedergeburt ist Wirklichkeit 14 . Soweit ging der Pietismus nicht. Aber auch für ihn lag der stärkere Lebensgehalt, die größere Nähe zur Erfahrung bei der Wiedergeburt. Darüber hinaus entsprach sie der Urforderung Jesu, daß die Menschen von Grund auf anders werden sollten, sehr viel besser 1 5 . Philipp Jakob Spener (1635-1705), der unvergleichlich verehrte und geprieBelege fassen. Besonders aufschlußreich und wichtig ist die Tatsache, daß Veit L u d w i g von Seckendorf, der erste Mann des deutschen Adels, seinen „Christen-Stat" 1685 als Apologie des Christentums gegen die Atheisten konzipierte und darin mit besonderem Nachdruck Pascals Pensées als Hilfe auswertete. (Christen-Stat. Leipzig 1685, Vorrede b2 v , 3 r und Additiones M V . 3 S. 114, I.XI.3. S. 175. 1 4 Elias Praetorius, Spiegel der Misbräuche beim Predig-Ampt im heutigen Christentumb. o . O . 1644, S. 175 f. 1 5 D a m i t hängt der betont biblische Charakter des Pietismus zusammen, der ihn im Neupietismus des 19. und 20. Jhs. häufig gegenüber der reformatorischen Theologie kritisch werden ließ.

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sene Führer, der im Maße des erreichten Ansehens Theologen wie Luther, Schleiermacher und Karl Barth an die Seite gesetzt werden kann, hat das in seiner theologischen Lebensarbeit deutlich gemacht, zuletzt in seiner großen Predigtsammlung über die Wiedergeburt, die er 1684 in Frankfurt a. M. begonnen hatte und in Berlin 1691-1694 auf die Zahl von 66 Wochenpredigten steigerte 16 . Hier entwickelte er den Inhalt und die Beziehungsfülle des biblischen Bildes nach allen Seiten. Der sündlichen Verderbnis des Menschen stellte er den Adel der Wiedergeborenen gegenüber 17 . Als die einzelnen Phasen des Geschehens nannte er abgekürzt die Entzündung des Glaubens, die Rechtfertigung mit der Annahme an Kindes Statt und die Schaffung eines neuen Menschen 18 . An dem genaugenommenen Bild der Wiedergeburt wurden daher die folgenden Züge besonders wichtig: die Passivität des Menschen, die Innerlichkeit des Vorgangs, die Größe des Existenzwandels, die Gotteskindschaft und das aufweisbare Ergebnis. Für die Passivität des Menschen gab es keinen stärkeren Ausdruck als die Geburt. Aber Spener war das nicht genug. Er ging dahinter zurück auf die Empfängnis, weil sie ihm die Möglichkeit gewährte, den geheimnisvollen Charakter, die Spontaneität und vor allem die Aktivität Gottes zu unterstreichen 19 . Die Innerlichkeit des Vorgangs verbürgte seine Echtheit und Tiefe. U m das zu zeigen, suchte Spener die Grenzsituation der Anfechtung auf, wo der Mensch auf sich selbst zurückgeworfen war und alles Äußere dahinschwand. Aber während Luther dann den Zuspruch Gottes, der von außen kam, als den entscheidenden Trost geltend machte, notfalls sogar als Gebot, an die Heilsbotschaft in seinem Worte zu glauben, verwies Spener den Verzweifelten auf die innerste Sphäre seines eigenen Herzens. Dort, so urteilte er, steckte - ihm selbst, dem Angefochtenen vielleicht nicht einmal bewußt, - die Aufrichtigkeit des Glaubens. Sie aber war durch die Wiedergeburt als inneres Geschehen, als Empfängnis gewirkt 20 . Die Tiefe des Verderbens ließ sich nicht besser kennzeichnen als durch das Gegensatzpaar zwischen Leben und Tod, der Umschwung nicht stärker als durch die Geburt. Spener wählte bewußt absolute Kategorien, u m den Existenzwandel in seiner Größe auszudrücken 21 . Ebenso bewußt bezog er die leibliche Verwandtschaft zwischen dem Vater und seinem Kinde auf den Glaubenden und sein Verhältnis zu Gott. 16

Vgl. meinen Aufsatz Speners Wiedergeburtslehre in: „Wiedergeburt und neuer Mensch" Ges. Studien zur Geschichte des Pietismus (AGP 2) 1969, S. 169-194. 17 Ph. J. Spener, Der hochwichtige Articul von der Wiedergeburt (1696) 21715, S. 31-44. 18 Ebda S. 157-172, 173-188, 189^-204, 205-223. 19 Ebda S. 7; S. 6; Ph. J. Spener, Erste geistliche Schriften. Frankfurt/M. 1699, S. 1246f. 20 Ph. J. Spener, Erste geistliche Schriften (s. A. 19) S. 291. 21 Spener verfuhr in seiner Bildwahl sorgfältig, was vor allem die Pia Desideria (1675) beweisen, wo das Bild vom kranken Leibe Christi, dem die Theologen als Ärzte helfen sollen, das Ganze beherrscht.

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Diese Beziehung war in seiner Sicht enger geknüpft als diejenige, in der er aufgrund der Schöpfung zu dem Schöpfer stand 2 2 . Daher pflegte er liebevoll in allen seinen Predigten den Bibelspruch 2.Petr 1,4, die große Verheißung, daß der Glaubende an der göttlichen Natur teilnehmen sollte 2 3 , und hob den naturhaften Charakter, die Spontaneität, so stark hervor, daß er urteilte, die neue göttliche Natur sei dem Wiedergeborenen so unmittelbar zu eigen wie seine Gesundheit 2 4 . So wie die Geburt darin ihr Ziel erreichte, daß eine neue Wirklichkeit entstand, der zuvor nicht sichtbar und selbständig vorhandene Mensch, so kam auch in der Wiedergeburt alles auf den neuen Menschen an. Diese teleologische Blickrichtung spiegelte sich darin, daß Spener in seiner großen thematischen Predigtsammlung nur eine von 66 Darlegungen dem nicht wiedergeborenen Menschen widmete, der Wiedergeburt als Geschehen acht, dem neuen Menschen hingegen 57. So eingehend beschrieb er dessen Art und Betätigung, die Früchte der Wiedergeburt. Zugleich strebte er mit einer solchen Orientierung der christlichen Vollkommenheit als dem Richtpunkt und Fernziel des neuen Lebens zu, und folgerichtig sorgte er dafür, daß dieser durch die Rechtfertigungslehre vergessene Wert wieder auf den Leuchter gestellt wurde 2 5 . 2 2 Spener, Der hochwichtige Articul 2 1715 S. 7: „Aus der empfängnüß und geburt k o m p t es her/daß einer seiner eitern kind und söhn ist/und also auch aus der Wiedergeburt werden wir eigentlich Gottes kinder und söhne. Z w a r aus der schöpffung ist Gott auch bereits unser Vater. Mal. 2,10. Aber . . . wie noch eine genauere kindschafft G O t t e s ist/nach welcher allein die glaubige G O t t e s kinder sind/und aus solcher kindschafft das erbe haben/so k o m p t solche kindschafft allein aus der Wiedergeburt her. Jac. 1 , 1 7 f . " 2 3 Vgl. meine Studie, Teilnahme an der göttlichen Natur. 2.Petr. 1,4 in der theologischen E x e g e s e des Pietismus und der lutherischen Orthodoxie in „Wiedergeburt und neuer M e n s c h " Witten (Ruhr) 1969, S. 238-298, besonders 265-272. Außerdem bietet Speners Auseinandersetzung mit dem Frankfurter Canonicus an St. Bartholomae, D . J o h a n n Breving, „ D i e Evangelische Glaubens Gerechtigkeit Von Herrn D . Johann Brevings vergeblichen Angriffen . . . gerettet. Frankfurt 1684 viele Belege, insbesondere S. 74, 87, 295, 332, 625, 1406. Ü b e r Spener und die sonstigen fuhrenden Pietisten hinaus ist der Katechismus von Bernhard Peter Karl, Die lautere Milch des Evangelii . . . 1704 besonders eindrucksvoll, w o die Stelle 2.Petr. 1,3.4 die Architektonik des Ganzen bestimmt, vgl. meinen Aufsatz Ein unbekannter pietistischer Katechismus ökumenischer Prägung in „Pietismus und Neuzeit" Jahrb. z. Geschichte des neueren Protestantismus 1 (1974) S. 32-64, insbesondere 54-60, 62 f. 2 4 Ph. J . Spener, Der hochwichtige Articul . . . 2 1715 (s. A. 19), S. 217: „daher wüßt ichs nicht deutlicher zu sagen/als daß G O t t in der Wiedergeburth in des menschen seele schaffe eine gantz neue art und natur/welche dem menschen so innerst ist als sein leibliches leben oder seine gesundheit." 2 5 Dies tat Spener vor allem durch die grundsätzliche Erörterung über die Vollkommenheit und den Grad, den man erreichen könne, immer unter Beistand des heiligen Geistes, in Pia Desideria (1675) S. 47,30-52,10 (Ausgabe von Kurt Aland 1940 u . ö . ) . Außerdem ist die grundlegende Vorrede Speners zu Balthasar K ö p k e , Dialogus de templo Salomonis sive de tribus sanctorum gradibus, Amsterdam 1689 (deutsch Ruppin 1695 2 1706 mit dem lateinischen Titel und dem deutschen Untertitel D a s ist ein geistlich Gespräch von der Heiligung oder von dem Wachsthum der Christen in der Heiligung. Halle 1706) heranzuziehen. Vgl. meine Darlegungen in dem Aufsatz „Speners Pia Desideria, Versuch einer theologischen

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Das alles ergab eine in sich sinnvolle, geschlossene Linienführung mit dem Nachdruck auf dem Ziel und auf der Spontaneität. Die Thematik des neuen Menschen und der neuen Gemeinschaft von neuen Menschen war seitdem unüberhörbar angeschlagen. Sie sollte in der geistigen Geschichte der Menschheit nicht mehr verstummen und außerhalb des eigentlich christlichen Zusammenhangs im Deutschen Idealismus, in der Romantik, politisch vor allem im Sozialismus seit Saint Simon und Karl Marx nicht mehr verstummen. Gegenüber der reformatorischen Gesamthaltung trat die Betonung der Sünde in der Linienführung, nicht in der konkreten Predigt zurück. Der alte, im Bösen gefangene Mensch erschien im Grunde als eine überwundene Stufe des Lebens, während für Luther der beständige Kampf zwischen dem alten und neuen Menschen, zwischen Fleisch und Geist (nach Rom 7 und 8) das Dasein bestimmte 26 . Auf pietistischem Boden galt Wachstum und Fortschritt im Geiste Gottes, in der Heiligung. Infolgedessen lag ein Siegesbewußtsein näher27 als die Verzweiflung in der Anfechtung, die auf ein von außen kommendes Wort Gottes angewiesen blieb. Mit dem Pietismus setzte eine genauere Selbstbeobachtung ein. Weit mehr als zuvor richtete sich das Nachdenken auf das eigene Ich, seine Grundbefindlichkeiten, und seine Schwankungen, seine Sehnsüchte und seine Erwartungen, seine Beseligungen und seine Enttäuschungen. Der Mensch selbst wurde zum Thema, und Fleisch und Geist, die in ihm gegeneinander stritten, konnten später - bei Schleiermacher - als seine niedere und höhere Potenz, als sinnliches Selbstbewußtsein und kräftiges Gottesbewußtsein unterschieden werden 28 , während sie im Alten und Neuen Testament wie bei Luther

Interpretation" in Wiedergeburt und neuer Mensch 1969. S. 138 f. und Ph. J. Spener und die Bibel in „Pietismus und Bibel" hrsg. v. Kurt Aland 1970 (AGP 9) S. 42-48. 26 Vgl. dazu vor allem Rudolf Hermann, Luthers These „Gerecht und Sünder zugleich" 1925 und seinen Schüler Erdmann Schott, Fleisch und Geist nach Luthers Lehre unter besonderer Berücksichtigung des Begriffs totus h o m o 1928. 27 Wie so oft in der Geschichte wurde das nicht sofort, sondern später formuliert. A m deutlichsten brachte das im Anschluß an Johann Albrecht Bengel der Spätpietist Johann Heinrich Jung-Stilling in seiner Erklärung der Offenbarung Johannis zum Ausdruck. Er gab ihr den Titel: „Die Siegsgeschichte der christlichen Religion" (in einer gemeinnützigen Erklärung der Offenbarung Johannis. Nürnberg Rawsche Buchhandlung 1799) im Buche selbst besonders S. 511-586 (Apoc. 19-21). Für die individuelle Situation, für den glaubenden Menschen ist Schleiermachers Theologie als ganze heranzuziehen. Insbesondere ist die Christliche Sitte die größte und eindrucksvollste seiner Vorlesungen (hrsg. von Ludwig Jonas Berlin 1843) so zu verstehen (vgl. dazu Hans Joachim Birkner, Schleiermachers Christliche Sittenlehre im Zusammenhang seines philosophischen Systems. Berlin 1964, darin besonders S. 27, 101 f., 140f.), obwohl sie weit über den individuellen Rahmen hinausschreitet. Vgl. dazu nach Birkner bes. Siegfried Keil, Mensch und Gesellschaft in der Christlichen Sittenlehre Schleiermachers. Theol. (sozialethische) Habilschrift Marburg 1969. Für die Frühzeit vgl. bes. Johann Arndt Wahres Christentum III, 3, S. 22-26. 28 So besonders in der Glaubenslehre und zwar mehr in der ersten als in der 2. Auflage, '1821 §§ 11, 16, 2 1831 §§ 5, 9. »1821 Überschrift des ersten Teils der Glaubenslehre: Entwick-

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Gegensätze erster Ordnung für den in sich gefangenen Menschen und für Gott bezeichnet hatten, die einander ausschlossen 29 . In dieser klaren und einfachen Gesamtschau des Heilsprozesses, in der durchdachten und darum immer wieder zäh verteidigten theologischen Grundhaltung lag die Kraft des Pietismus. Aller Tadel, den er an der früheren und gleichzeitigen Theologie vorbrachte, alle Gemeinsamkeit, auf die er sich berief, hatte hier ihre Wurzel. Von dieser positiven Grundlage aus ergaben sich auch die negativen Akzentsetzungen. An der Spitze stand der negative Weltbegriff, der den Schöpfungsglauben völlig in den Hintergrund drängte. Dafür konnte der Pietismus fast die gesamte christliche Tradition geltend machen, die in der klassischen Dreiheit von Welt, Fleisch und Teufel seit Augustin im Abendland, seit dem griechischen Mönchtum im Morgenland ihren beredten Ausdruck gefunden hatte. Die Welt war die große Versucherin, die Kinder der Welt stellten den Gegenbegriff zu den Kindern Gottes, dem Lieblingsnamen der Pietisten, dar. Nicht die alte, vorgefundene Welt, in welcher das Böse und die Kreatürlichkeit herrschten, fand die Anteilnahme der Pietisten, sondern die neue, die sie als Wiedergeborene aus der Kraft des heiligen Geistes, als geheiligte Wirklichkeit zu gestalten berufen waren. 3. Vorbereitende

Kräfte

Lagen schon im Denken des deutschen Reformators - trotz der prinzipiellen Andersartigkeit - Motive und Elemente bereit, die den Pietismus des 17. und 18. Jahrhunderts möglich machten? Gab es Momente und Werte, die ihm vorarbeiteten? Man wird diese Frage bejahen müssen. Das pietistische Grundthema der Wiedergeburt war auch das Thema Luthers, freilich unter dem Oberbegriff der wahren Buße, wie es der mittelalterlichen sakramentalen Einbettung des Themas entsprach. Bereits die erste öffentliche Kundgabe seiner Meinung, die 95 Thesen zur Ablaßfrage vom 31. Oktober 1517, bewies es mit der ersten These. Denn sie nahm Jesu grundlegenden und umfassenden Ruf: „Tut Buße, werdet anders!" voll auf und wandte ihn gegen die institutionelle Verkürzung, wie sie das Bußsakrament der Kirche darstellte. Im Gegensatz zu diesem war es Luther darum zu tun, daß der alte Mensch unterging und der neue Mensch emporkam. Es handelte sich um einen Vorgang, der das ganze Leben hindurch anhielt, aber keineswegs biologisch aufgefaßt war, sondern juridisch. Der Mensch sollte sein eigenes Ich voll verurteilen, ja, wie der werdende Reformator im Anschluß an Augustin sagte, es geradezu has-

lung des frommen Selbstbewußtseins als eines der menschlichen Natur einwohnenden, dessen entgegengesetzte Verhältnisse zum sinnlichen Selbstbewußtsein sich erst entwickeln sollen. 29 So besonders Erdmann Schott (s. o. A. 26). Ernst Wolf, Staupitz und Luther. 1928, S. 99-103 u. ö.

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sen 30 . Allerdings schieden sich die Geister an der Frage, ob es einen Abschluß, ein - wenn auch einstweiliges - Ergebnis in diesem Ringen geben könnte. Luther neigte hier zum Nein, die Pietisten zum Ja. Sie gingen mit dem wiedergeborenen Menschen gern als einer festen Größe um und sprachen mit Vorliebe von den Früchten der Wiedergeburt. Die juridische Verurteilung stellten sie zugunsten der biologischen Neugeburt zurück. Der Reformator blieb daher beim Ringen zwischen dem alten und dem neuen Menschen stehen, wie es später vor allem seine Erläuterung des Taufsakraments aussprach 31 . Die Frage der Erreichbarkeit beschäftigte ihn nicht in entscheidender Weise. Sie trat ihm hinter der Tatsache zurück, daß die Gnade Gottes, sein freischöpferisches Wirken alles Wesentliche leiste. Er verwies den Kämpfenden auf sie, aber nicht als auf eine Kraft, die magisch wirkte, sondern als die gültige Zusage, daß seine Sünde vergeben sei. Der neue Mensch ging aus dem Gnadenspruch, aus der befreienden Botschaft hervor, daß der Sünder gerechtfertigt sei. So blickte der Christ im Sinne des Reformators nie auf sich selbst und auf die Stufe, die er in seiner Gotteskindschaft erreicht hatte, sondern auf den Herrn des ganzen Vorgangs und verließ sich auf sein Wort. Eine der klassischen Schriften aus dem großen Jahre 1520, der „Sermon von den guten Werken", war hier ganz besonders beredt. Sie enthielt eine Fülle von Sätzen, die sich durchaus im Munde eines späteren Pietisten denken ließen. Es waren vor allem diejenigen, die von der Selbstverständlichkeit redeten, mit der die guten Werke hervorgebracht wurden 3 2 . Aber sie waren anders begründet und zielten in eine andere Richtung. Luther ging es um den Glauben als das erste gute Werk, den Pietisten um die Früchte des Glaubens als den gültigen Ausweis. Das klassische Lutherdokument der Pietisten, gleichsam ihre reformatorische Magna Charta, wurde der Abschnitt aus der Vorrede zum Römerbrief aus den Vorreden zur Heiligen Schrift (1522): „Der Glaube ist ein göttlich Werk in uns, das uns wandelt und neu gebirt aus Gott (Joh 1,13) und tötet den alten Adam, macht uns ganz andere Menschen von Herzen, Mut, Sinn und allen Kräften, und bringt den heiligen Geist mit sich. O, es ist ein lebendig, schäftig, tätig, mächtig Ding um den Glauben, daß es unmöglich ist, daß er nicht ohn Unterlaß sollte Gutes wirken. Er fragt auch nicht, ob gute Werke zu tun sind, sondern ehe man fragt, hat er sie schon getan und ist immer im Tun. " 3 3 Luthers Lehre vom lebendigen Glauben 30 Vgl. Adolf Hamel, Der junge Luther und Augustin I 1935, S. 40-77 u. ö., wo geradezu statistisch dies Thema behandelt ist. 31 A m kürzesten in den beiden Katechismen Kleiner Katechismus IV.4 (Sakrament der heiligen Taufe) BSLK 1930, S. 516. Großer Katechismus IV,4 („Aufs letzt") ebda S. 704. 32 WA 6,206,3; 205,20; 207,35 u.ö., im Grunde die ganze Schrift. 33 WA Deutsche Bibel 7,2-27. Dazu Horst Beintker, Glaube und Handeln nach Luthers Verständnis des Römerbriefs. Luther-Jahrbuch 28 (1961) S. 52-73 und meine Untersuchung Luthers Vorrede zum Römerbrief im Pietismus in „Wiedergeburt und neuer Mensch" 1969, S. 299-330.

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war es, woran die Pietisten anknüpften; diese wollten sie wieder zur Geltung bringen. Dabei verschoben sie die Betonung: die Lebendigkeit, die sich in guten Werken zu erkennen gab, galt ihnen mehr als der Glaube selbst, der sich an die göttliche Verheißung hielt und sich darauf verließ, daß der Glaubende Gott mit seinem ganzen Dasein wohlgefalle. Es waren Nuancen, die die beiden Betrachtungsweisen trennten, aber entscheidende Nuancen. Den Satz des Reformators, daß es nicht auf die Größe und die Zahl der Werke ankomme, sondern auf die Größe und Echtheit des Glaubens, der unbefangenen Zuversicht zu Gott, hätte kaum ein Pietist nachsprechen können. Trotzdem war es verständlich, daß in der Auszeichnung des Glaubens das Gemeinsame überaus stark empfunden wurde. Auch wenn Luther im Streitgespräch Erasmus von Rotterdam darauf hinwies, daß die Bibelstelle Joh 1,12: „Denen, die ihn (Jesus Christus, den Logos) aufnahmen, gab er Macht, Gottes Kinder zu werden" nicht, wie der Humanistenfurst meinte, für den freien Willen des Menschen zeugte, sondern das große Gesamtwerk bezeichnete, die Umwandlung des alten Menschen in den neuen, so daß aus dem Sohne des Teufels der Sohn Gottes wurde, und wenn der Reformator dabei betonte, daß eine solche Verwandlung völlig passiv vor sich ging, hätten die meisten Pietisten, Spener an der Spitze, zustimmen müssen 34 . Wenn freilich von Stufen des Glaubens die Rede war und der Reformator drei unterschied, den Glauben, der sich in Werken äußerte, denjenigen, der sich in irdischen Leiden bewährte, schließlich denjenigen, der in Tod, Hölle und Sünde unverrückt an Gott festhielt 35 , so kam die pietistische Art als erste der drei auf die unterste Stufe zu stehen. Luther und die Pietisten stimmten in der grundlegenden Thematik überein, in der Wiedergeburt als der umfassenden Änderung des Menschen. Ebenso verband sie die grundlegende Orientierung, die Zusammengehörigkeit von Glauben und Werken, von Rechtfertigung und Heiligung, von Befreiung und neuem Gehorsam. Schließlich betonten beide die grundlegende Wirksamkeit der Gnade, den Primat Gottes. Sie unterschieden sich jedoch in dem, worauf es zuletzt ankam. Die Früchte des Glaubens wurden fur die Pietisten wichtiger als der Ursprung, der Glaube selbst. Immerhin ging die Gemeinsamkeit weit. Aber noch mehr hatte der Reformator zu bieten: Der kühne, radikale und mit destruktiver Dynamik geladene Gedanke des kirchenkritischen mystischen Spiritualismus, daß es ein Christentum ohne Kirche und damit polemisch gegen die vorgefundene, institutionelle Kirche geben könne, wenn nicht müsse 36 , war bei ihm vorgebildet. In der Schrift „Vom Papsttum zu Rom wider den hochbe34

WA 18,697,26 De servo arbitrio 1525 (Clemen 3,191,12). WA 6,208,7 Von den guten Werken 1520. 36 A m schärfsten vertreten von Christian Hoburg (Elias Praetorius) Spiegel der Misbräuche beim Predig-Ampt im heutigen Christenthum o. O. 1644 „Alle Kirchen sind Babel" bes. Bl. )( 5"ff. (Vorrede), S. 595, 621 u. ö. 35

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rühmten Romanisten (Augustin Alveld) zu Leipzig" (1520) wandte er sich leidenschaftlich gegen die Meinung, als ob nur das von Rom approbierte Christentum legitim sei 37 . Das christliche Leben, die Gestalt des christlichen Glaubens in menschlicher Existenz, war für den Reformator grundsätzlich frei, unmittelbar zu Gott. Es gab kein kirchenamtliches Monopol. Nächst Luther selbst muß Johann Arndt (1555-1621) genannt werden. So entsprach es dem geschichtlichen Selbstverständnis der fuhrenden Pietisten Philipp Jakob Spener, August Hermann Francke und seinem Kreise, Johann Albrecht Bengel, und Arndts Einfluß gewann über das deutsche evangelische Christentum hinaus eine universale Ausdehnung, vor allem durch das Erbauungsbuch „Vom wahren Christentum" (zuerst 1606, seitdem in unzähligen Auflagen verbreitet). Johann Arndt, ursprünglich anhaltinischer Pfarrer in Badeborn bei Ballenstädt (1583), wurde 1590 aus seinem Amt entlassen, weil er bei dem Übergang seiner Landeskirche zum Calvinismus Widerstand leistete, der sich im Festhalten am Exorzismus bei der Taufe äußerte. Er hatte schon 1585 das extrem lutherische Abendmahlsbekenntnis unterschrieben und dadurch ein unzweideutiges Zeugnis für seine Orthodoxie abgelegt. In der Folgezeit jedoch, wo er zunächst in Quedlinburg, seit 1599 in Braunschweig wirkte, nahm er in einer überraschenden Weise unbedenklich die mystische Überlieferung des Neuplatonismus aus der mittelalterlichen Tradition auf, ebenso wie die mystische Jesusliebe aus der Auslegung des Hohenliedes, insbesondere bei Bernhard von Clairvaux. Dies schlug sich im „Wahren Christentum" und in dem Gebetbuch „Paradiesgärtlein" (1612) nieder. 1608 wurde er Pfarrer in Luthers Geburtsstadt Eisleben, und 1611 stieg er trotz der Anfeindungen in Braunschweig zu dem hohen Amt eines Generalsuperintendenten in Celle auf. Seine vorbereitende Wirkung auf den Pietismus knüpft sich vorwiegend an das klassisch gewordene Erbauungsbruch „Vom wahren Christentum". Hier ging er von der Tatsache aus, daß der Mensch nach dem Bilde Gottes geschaffen war, dieses Bild in der Sünde verloren hatte und wiedergewinnen mußte. Der menschliche Adel, der damit dem Geschöpf vom Schöpfer eingeprägt war, bedeutete eine unverlierbare Mitgift. So lag es nahe, das Verhältnis der beiden mit dem platonischen Analogiegedanken auszudrücken und die Ähnlichkeit, noch schärfer gesagt: die grundsätzliche Gleichheit mehr zu betonen als den Bruch, den die Sünde unwiderruflich herbeigeführt hatte. Der Mensch, wie er sich vorfand, mußte anders werden. Er mußte zur göttlichen Art aufsteigen, und dies geschah durch die Buße, die Verleugnung des eigenen Ich, die Kreuzigung der alten und die Auferstehung der neuen Schöpfung. Wiedergeburt als völlige Veränderung war der zentrale Vorgang, der erfordert wurde. In der Liebe gipfelte sie, weil Gott selbst die Liebe war, wie Jesus Christus in seinem Wesen und 37

WA 5,287,1 Von dem Papsttum zu Rom wider den hochberühmten Romanisten zu Leipzig (Augustin Alveld) 1520.

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Wandel zeigte. Sie konnte man am besten erlangen, wenn man die Welt mied und in die Einsamkeit des inneren Menschen, in die Selbstbesinnung einkehrte. Dazu trat die Erfahrung, die freilich nicht nur eigene innere Erfahrung blieb, sondern sich nach außen wandte und im Umgang mit dem Nächsten Demut, Liebe, Sanftmut und Friedfertigkeit übte 38 . Das Entscheidende ereignete sich allerdings im Innern: Gott und die Seele, die Seele und ihr Gott - dieses Thema bildete den eigentlichen Inhalt des „Wahren Christentums", und Christian Scriver (1629-1693), der nahe Freund Speners, der sich in seinem weitverbreiteten „Seelenschatz" (1675-1695) eng daran anschloß, nannte seine dort niedergelegten Predigten mit Betonung „Seelenpredigten". Immer wieder wurde von Johann Arndt die Liebe beschworen: „Die christliche Liebe ist das rechte neue Leben im Menschen, ja Christi Leben in den Gläubigen und die kräftige tätige Beiwohnung Gottes des heiligen Geistes, welche uns St. Paulus wünschet, Eph 3,19: Daß wir erfüllet werden mit aller Gottesffille, und St. Johannes l.Epist. 4,16: Gott ist die Liebe, und wer in der Liebe bleibet, der bleibet in Gott und Gott in ihm. Darum, wer die Liebe in seinem Herzen fühlet, der empfindet Gott in ihm. Auf daß wir aber dessen eine gewisse Probe hätten und nicht durch falsche eigene Liebe betrogen würden, so malet sie St. Paulus fein ab als einen schönen Baum mit ausgebreiteten Zweigen, l.Kor. 13,4: Die Liebe ist langmütig, geduldig, sie verträgt alles, sie glaubt alles, sie hofft alles, sie duldet alles. Welches ist des neuen Menschen ganzes Leben." 3 9 Die Liebe war insbesondere das Geheimnis von Jesu Leiden am Kreuze: „Wenn du den gekreuzigten Christum recht wirst anschauen, so wirst Du nichts denn eitel reine, vollkommene unaussprechliche Liebe in ihm sehen, und er wird dir sein Herz zeigen und sprechen: Siehe, in diesem Herzen ist kein Betrug, kein Lügen, sondern die höchste Treue und Wahrheit." Arndt scheute sich nicht, erotische Töne der mittelalterlichen Brautmystik anzuschlagen, die auf das Hohelied Salomos zurückgingen: „Neige dein Haupt her und ruhe auf meinem Herzen! Reiche deinen Mund her und trinke aus 38 Das T h e m a der „ E r f a h r u n g " verdient eine umfassende sorgfältige B e h a n d l u n g . Bei J o h a n n A r n d t scheint sie noch im wesentlichen mystisch gefaßt zu sein, v o r allem im B u c h e III des W a h r e n C h r i s t e n t u m s Liber conscientiae. J e d o c h steht d e m die B e s t i m m u n g des Glaubens B u c h I cap. 5 (S. 28-34) u. cap. 6 (S. 34-41) gegenüber, w o der Glaube eng m i t ihr v e r b u n d e n wird u n d z w a r ganz in der Weise Luthers als Verheißungsglaube. Für die spätere Zeit k o m m e n v o r allem Christian H o b u r g , der H a u p t v e r t r e t e r des mystischen Spiritualismus m i t seiner T h e o l o g i a mystica oder Geheimen K r a f f t - T h e o l o g i e der Alten (1656 u . ö . ) u n d G o t t f r i e d A r n o l d mit seiner Theologia experimentalis 1712 in Betracht. Bei H o b u r g ist sie bereits nicht m e h r i m K e r n Mystik, sondern Selbsterfahrung des Willens. Vgl. meine Studien Christian H o b u r g s Begriff der mystischen T h e o l o g i e in „Wiedergeburt u n d neuer M e n s c h " 1969, S. 51-91, bes. S. 59 A 15 u n d „ D e r Pietismus u n d das m o d e r n e D e n k e n " in „Pietismus u n d m o d e r n e Welt", Witten 1974 ( A G P 12) S. 39-52. 39

J o h a n n A r n d t , F ü n f Bücher v o m W a h r e n C h r i s t e n t u m 1,32, Ausg. Leipzig 1693 (auf G r u n d der Rigischen Ausgabe von 1679) S. 224.

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meinen Wunden die allersüßeste Liebe, welche aus meines Vaters Herzen durch mich entspringt und quillt!" Ja, er verfiel in das schwärmende Bekenntnis: „So du nun diese Liebe schmecken wirst, so wirst du der ganzen Welt darüber vergessen und vor dieser überschwänglichen Liebe verschmähen und nichts mehr denn diese Liebe wünschen und zu deinem Herrn sagen: Ach Herr gib mir nichts mehr, denn die Süßigkeit deiner Liebe! Ja, wenn du mir gleich die ganze Welt geben wolltest, so will und begehre ich nichts anderes denn dich allein und deine Liebe." Darin wußte er sich im Einklang mit Paulus: „Als Paulus die Süßigkeit geschmeckt hatte, fragt er Rom. 8,39: Ich bin gewiß, daß uns weder Leben noch Tod, noch keine andere Kreatur scheiden kann von der Liebe Gottes, verstehe: damit mich Gott liebt, die ich in mir empfunden habe. Daher Augustinus spricht: Ich empfinde oft eine Bewegung in mir. Wenn dieselbe immer in mir bliebe, so könnte dieselbe nichts anderes sein, denn das ewige Leben. Diese ist, die unsere Seele gern wollte füllen und nach sich ziehen und daraus lernen wir schmecken, was das ewige Leben sei. Denn solcher Lieblichkeit und Freude wird die Seele ewig voll sein. Daher die liebhabende Seele im Hohenliede Salomonis im Kapitel 5,8 spricht: Meine Seele ist gar zerflossen und zerschmolzen. Das ist: Meine Seele jammert und seufzet immer danach, daß sie diesen ihren lieblichen Bräutigam möchte finden und sich in seiner Liebe sättigen; ihren rechten himmlischen Adel wieder erlangen, welcher steht in der Vereinigung mit Christo; daß sie nicht ihre Lust und Freude am Nichtigen, Vergänglichen, viel weniger an der Sünde und Fleischeslust haben möge." 4 0 Der Mensch und sein inneres Leben gelangten in den Mittelpunkt der ganzen Betrachtung, und auch das Buch der Natur, das zwar den Schöpfer verherrlichte, diente in symbolischer und allegorischer Auslegung diesem Thema vom Menschen. Wörtlich forderte Arndt: „Dieweil der Mensch schuldig ist, Gott zu lieben über alles, so muß er auch zugleich dasjenige mit lieben, was Gott von allen seinen Kreaturen am liebsten hat, oder er ist mit seiner Liebe zuwider und kann mit Gott nicht eins sein. N u n aber liebt Gott über alle seine Kreaturen den Menschen, darum auch der Mensch nach Gottes Bilde geschaffen ist; derohalben so ist auch der, der Gott liebt, schuldig, den Menschen, als der nach Gottes Bilde geschaffen ist, zu lieben. Derowegen so kann der nicht recht Gott lieben, der sein Bild im Menschen nicht liebt. Denn nächst Gott soll die Liebe in seinem Ebenbilde ruhen. Daß aber der Mensch Gottes Bild sei, sagt und ruft die ganze Kreatur. " 4 1 Diese einfachen, häufig wiederholten und leicht abgewandelten Grundgedanken verliehen dem Werke eine überzeugende Einheitlichkeit und Geschlossenheit. Der Leser begegnete immer derselben Botschaft, derselben Verheißung, derselben Aufforderung. Bei allem Ernst der Forderun40 41

E b d a II cap. 27, S. 192, III, cap. 6, S. 37f. E b d a IV cap. 22, S. 168.

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gen nach Umkehr und Sinneswandel überwog die optimistische Erwartung: Der Mensch darf seinen ursprünglichen Adel wieder in Besitz nehmen, wenn er zu seinem Ursprung zurückkehrt. Glaube trat zurück hinter Liebe, und wenn Arndt vom Glauben sprach, dann tat er es nicht in der Weise Luthers, daß sich der Mensch am zugesprochenen Verheißungswort von der Sündenvergebung festhielt, sondern so, daß er bei sich selbst einkehrte und den Sabbat der Seele feierte. Die innere Verpflichtung gegen dieses Erbauungsbuch war allgemein. Überall trifft man auf seine Spuren. Spener selbst hielt Predigten darüber, wie es auch sein Freund Christian Scriver getan hatte 42 . Der eigentliche Stammvater des württembergischen Pietismus, Johann Valentin Andreae (1586-1654), widmete sein Frühwerk, den phantasievollen Entwurf einer christlichen Idealgemeinde, die Utopie Christianopolis (1619), Johann Arndt 4 3 . Der größte theologische Denker der lutherischen Orthodoxie, Johann Gerhard in Jena (1586-1637), war sein persönlicher Schüler, sein Konfirmand in Quedlinburg. Die spätere pietistische Judenmission von Johann Heinrich Callenberg (1694-1760) und seinen jungen Mitarbeitern übersetzte es ins Jüdisch-Deutsche (Jiddische) und verteilte es mit Vorliebe zu Bekehrungszwecken 44 . August Hermann Franckes „Statthalter" in London, Anton Wilhelm Böhme (1673-1722), übersetzte es ins Englische 45 und sorgte fur weite Verbreitung. Noch vorher verehrte Arndt in England John Worthington, der Betreuer eines mystisch gerichteten Freundeskreises, zu dem Jan Amos Komensky (Johann Amos Comenius) Beziehungen pflegte 46 . Auch ins Russische und andere slawische Sprachen wurde durch die Aktivität des Hallischen Waisenhauses das „Wahre Christentum" übertragen. Die Aufnahme der mystischen Bildwelt, Sprache und Gedanken in die 42 Ph. J. Spener, Predigten über des seeligen J. Arnd(t)s Geistreiche Bücher v o m Wahren Christentum 1711. Christian Scriver, Seelen-Schatz, darinnen von der menschlichen Seelen hohen Würde, tieffen und kläglichen Sünden-Fall, Buße und Erneuerung durch Christum, göttlichen heiligen Leben, vielfältigen Creutz und Trost im Creutz, seligen Abschied aus dem Leibe, triumphirlichen und frölichen Einzug in den Himmel, und ewiger Freude und Seligkeit erbaulich und tröstlich gehandelt wird. 1675-1692, von mir benutzt in der Ausgabe von Johann Georg Pritius Magdeburg u. Leipzig 1723. 43 Reipublicae Christianopolitanae descriptio Straßburg 1619, vgl. die Neuausgabe von Richard van Dülmen, Johann Valentin Andreaes Christianopolis deutsch und lateinisch. Stuttgart 1972. 44 Johann Heinrich Callenberg, Bericht an einige Christliche Freunde von einem Versuch, das arme Jüdische Volk zur Erkenntnis und Annehmung der christlichen Wahrheit anzuleiten. Halle 2 1730, II. Fortsetzung S. 86,116. 45 O f True Christianity, Four Books. Wherein is contained the whole Oeconomy of G O D towards Man; And thewhole Duty of M A N towards G O D . Written Originally in the HighDutch, By the Most Reverend J O H N A R N D T , late Superintendent-General of Lünebourgh, N o w Done into English. I London 1712 2 1720 II London 1714. 46 John Worthington, Preface to The Christians Pattern or a Divine Treatise of the Imitation of Christ. London 1657, ρ 2b.

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Theologie und Predigt beschränkte sich keineswegs auf Johann Arndt. Schon Philipp Nicolai (1556-1608) hatte zur gleichen Zeit in dieser Richtung vorgestoßen. Später war es vor allem der Rostocker Theologe Heinrich Müller (1631-1675). Er gab einem seiner Predigtbücher den Titel „Himmlischer Liebeskuß" (1659). Das alles zeigte die Stärke des mystischen Spiritualismus; er begleitete als Unterströmung das evangelische Kirchentum. Der genannte führende Theologe .Württembergs Johann Valentin Andreae weitete ihn positiv bis zur Pansophie aus zu dem Anspruch, aufgrund der biblischen Offenbarung eine umfassende Gotteserkenntnis und Welterkenntnis zu gewinnen, ja darüber hinaus eine gottgefällige Lebensordnung in allen Bereichen aufzurichten. Die Voraussetzung zu solcher Weltreform bildete die Wiedergeburt 47 . Christentum war hier nicht nur Glaube und Liebe, sondern auch Wissen eigener Vollmacht und Sozialgestaltung, wenn nicht Rechtsverwirklichung - Züge, die dem württembergischen Christentum bis zu Hegel und Schelling eigentümlich geblieben sind und große Früchte getragen haben. Daher gründete Johann Valentin Andreae aufgrund seiner pansophischen Orientierung eine geheime Bruderschaft, die Rosenkreutzer. Hier vereinigten sich Schüler des Paracelsus und Jakob Böhmes; Theologie, Philosophie, Alchemie und Medizin fühlten sich zusammengehörig 48 . Im Reformationsjahrhundert hatte am meisten Caspar Schwenckfeld von Ossig (1489-1561) in die Richtung des Pietismus gewiesen 49 . Sein Denken kreiste um den vollkommenen Menschen, der die göttliche Natur Jesu Christi in sich selbst verwirklichte 50 . Er war davon überzeugt, daß Gott in der Wiedergeburt nichts Geringeres schenkte als sich selbst und verwahrte sich leidenschaftlich dagegen, von dem Heilsvorgang, seinem Urheber und seinem Empfänger, zu niedrig zu denken. Dementsprechend waltete zwischen Jesus Christus und seiner Braut, der Kirche, die engste Beziehung wie in einer wirklichen Ehe, und es war die Aufgabe der echten Theologie, dieses Wunder gebührend zur Geltung zu bringen. Die Gestalt christlichen Denkens, die er bei den Reformatoren, vor allem bei Melan47

Vgl. vor allem Will-Erich Peuckert, Pansophie 1935 2I 1950, II 1962, außerdem sehr sorgfältig Martin Kruse, Speners Kritik am landesherrlichen Kirchenregiment und ihre Vorgeschichte. 1971 (AGP 10) S. 90-117. 48 Vgl. Will-Erich Peuckert, Die Rosenkreutzer 1928. 49 Vgl. jetzt zusammenfassend Horst Weigelt, Spiritualistische Traditionen im Protestantismus. Die Geschichte des Schwenckfeldertums in Schlesien (AKG 43) Berlin 1973, bes. S. 31-96, w o erstmalig die hohe Bedeutung des Humanisten Valentin Krautwald aus Neiße (ca. 1490-1545), eines stillen Gelehrten herausgearbeitet worden ist. Dort ist auch die weitere Literatur zu Schwenckfeld verzeichnet. 50 Zur Frage des Perfektionismus bei Schwenckfeld, die wahrscheinlich noch gesondert aufzunehmen wäre im Anschluß an Reinhold Pietz, Der Mensch ohne Christus. Eine Untersuchung zur Anthropologie Caspar Schwenckfelds, ev. theol. Diss. Tübingen 1956 (maschinenschriftlich) vielleicht sogar durch ihn selbst, wie ursprünglich ins Auge gefaßt. Sonst vgl. namentlich Gottfried Maron, Individualismus und Gemeinschaft bei Caspar Schwenckfeld 1961, S. 54-58 und Weigelt (s.o. A. 49) S. 40.

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chthon, aber auch bei dem selbständigsten Vertreter derj iingeren Generation, Mathias Flacius Illyricus (1520—1575) feststellte, war ihm als Theologie des Wortes „buchstäbische" Theologie. Sie drang nicht ins Wesen ein und vermochte nicht, das Wesen mitzuteilen 51 . Der Imperativ „Mensch werde wesentlich!", den Johann Scheffler (Angelus Silesius) (1609-1677) später formulierte 52 , blieb unerfüllt. Die doppelte Enttäuschung von der reformatorisch bestimmten Theologie und vom Kirchentum des landesherrlichen Regiments scheint weitere Kreise ergriffen zu haben, als sichtbar werden konnte. Solche Gruppen der „unterdrückten Kirche" waren die prädestinierten Schüler des schlesischen Adligen und bildeten eine eigene Überlieferung aus. Sie wurde in dem genannten Christian Hoburg (Elias Praetorius, Andreas Seuberlich, Bernhard Baumann) (1607-1675) am stärksten greifbar und fand vorher in Augustin Fuhrmann (1591-1648) und Paul Felgenhauer (1593 bis nach 1677) ihre Vertreter. Wahrscheinlich verband sich häufig damit der nachhaltige Einfluß, der von den geheimen Mystikern im Zeitalter des melanchthonischen Denkens ausging, im besonderen von Andreas Oslander (1498-1552), Valentin Weigel (1533-1588) und Jakob Böhme (1575-1624). So verschieden sie unter sich waren, hatten sie doch eines gemeinsam: einen gottförmigen Individualismus, der der U r forderung der Wiedergeburt eine besondere Zuspitzung verlieh, sei es als Wiedergeburt der Erkenntnis bei Weigel 53 , sei es als Verwirklichung von Gottes eigentlichen Absichten im Reiche der Natur und ihrem Abbild im Menschen wie bei Böhme 5 4 . Luther, die lutherische Orthodoxie und ihre Abwandlung durch den mystischen Spiritualismus, schließlich dieser selbst in seiner ursprünglichen Gestalt, waren keineswegs die einzigen Wegbereiter für den Pietismus. Noch von einer anderen Seite kam ein Zubringer: Von der theologi51 Corpus Schwenckfeldianorum Leipzig und Hartford (Conn. USA) 1907-1961 (C Sch) XV (1961) S. 271-275 ähnl. XIII (1935) S. 862; Theologia literalis XV, S. 271. 52 Angelus Silesius, Cherubinischer Wandersmann II, 30 Ausgabe von Will-Erich Peuckert, 1949 (Slg Dieterich Bd. 64) S. 43. 53 Vgl. bes. Von der Seligmachenden erkentnüs Gottes nach der Heiligen Dreyeinigkeit M.B.W, (zu berichtigen: M.V.W.) aus der Handschrift R. 346 der Stadtbibliothek Breslau, abgedruckt von August Israel, Magister Valentin Weigels Leben und Schriften. Beigabe zum 18.-20. Jahresbericht über das königliche Schullehrerseminar zu Zschopau. 1887/88, S. 97-129; Der Güldene Griff/das ist/Alle Ding ohne Irrtumb zu erkennen/vielen Hochgelehrten unbekand/und doch allen Menschen nothwendig zuwissen. Newenstatt (Magdeburg) 1616, S. 35-68; ν ώ θ ι σεαυτόν Nosce teipsum. Erkenne dich selbst Newenstatt (Magdeburg) 1615 S. 34-79. 54 Jacob Böhme: bes. Aurora oder Morgenröthe im Aufgang. 1619/20. De tribus principiis oder Beschreibung der drei Prinzipien Göttlichen Wesens (1619). De incarnatione verbi oder Von der Menschwerdung Jesu Christi (1620), Mysterium pansophicum oder Gründlicher Bericht von dem Irdischen und Himmlischen Mysterio (1620), De triplici vita hominis oder Vom dreyfachen Leben des Menschen (1620), jetzt sämtlich im Faksimile-Neudruck der auf Johann Georg Gichtel zurückgehenden Ausgabe in 11 Bänden von Johann Wilhelm Uberfeld 1730; besorgt von Will-Erich Peuckert 1955-61 Bd. 1-4.

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sehen Entwicklung, die sich im reformierten Christentum Englands - und zwar im südlichen Teil der britischen Hauptinsel - sowie in den benachbarten Niederlanden abspielte. Als Gegenbewegung gegen die traditionalistische Art der Kirche von England, wie sie sich vor allem im Ritus, in der Liturgie, im Amtsaufbau, aber auch in der Theologie ausdrückte, hatte sich seit 1560 der calvinistisch beeinflußte „Puritanismus" herausgebildet. Der Name, der das Streben nach einer reinen vollgültigen Reformation bezeichnete, war ein Sammelbegriff, dessen einzelne Elemente sich schwer aufhellen lassen. Zweifellos hatten die Eindrücke, die die reformatorisch gesinnten Glaubensflüchtlinge in der Mitte des 16. Jahrhunderts auf dem europäischen Festland, vor allem in Frankfurt (Main), Emden, Zürich, Genf, Basel und Heidelberg gewonnen hatten, dazu beigetragen, auf Calvin und sein imponierendes ökumenisches Werk zu blicken. Aber nicht diese Dinge des Vordergrunds, die Fragen und Vorbilder der Kirchenordnung, wurden fur den deutschen Pietismus des 17. und 18. Jahrhunderts wichtig. Vielmehr griff der Puritanismus weit über seine Anfänge hinaus und entwickelte sich zu einer geistesmächtigen literarischen Bewegung. Seit etwa 1600 schuf er ein reiches Schrifttum als Andachtsliteratur, vielfach aus Predigten hervorgegangen, das nach seinem Umfang, seiner inneren Energie und wohl auch seiner Verbreitung einzig dasteht. In ihm wurde eine unbestechliche, tief dringende Gewissenserforschung betrieben, ja eine „Theologie des Gewissens" erstellt, die Wegleitung für das tägliche Leben im Blick auf Gott bot. Sie knüpfte an die mittelalterliche Scholastik an, ging aber darüber hinaus und trat mit der jesuitischen Beichtkasuistik bewußt in Wettbewerb. William Perkins (1558-1602) in Cambridge leistete die entscheidende Denkarbeit, sein Schüler William Ames (1576-1633) setzte sie fort und baute sie aus 55 . Ein hochgespanntes, dabei wirklichkeitsnahes Bild des Christen wurde entworfen, das durch seine innere Vollmacht werbend wirkte. Auch hier ging es entscheidend um die Wiedergeburt, um den neuen Menschen nach Gottes Willen 56 . Dafür wurde die Bibel, namentlich das Neue Testament und damit wieder die Paulinische Paränese, in einer schwer zu überbietenden Weise ausgewertet. Jeder Christ wurde verpflichtet und durch Ernstnahme der apostolischen Aussage auch instand gesetzt, diese biblischen Worte auf sich selbst anzuwenden. Die Pietisten erkannten früh die innere Verwandtschaft und

55 Eine Gesamtdarstellung des Puritanismus nach seinen inneren Energien fehlt und ist gegenwärtig bei der Fülle von Einzeluntersuchungen und der verschiedenartigen Aspekte auch schwer zu geben. Vgl. vor allem William Haller, The Rise of Puritanism. 1938-1947 3 1957 (Harper Torchbook). Für meine eigene Sicht muß ich auf zwei ältere Studien verweisen: Die Problematik des Puritanismus im Lichte seiner Erforschung Z K G 60 (1941) S. 207-254 und Biblizismus und natürliche Theologie in der Gewissenslehre des englischen Puritanismus ARG 42 (1951) S. 198-219 und 43 (1952) S. 70-87. 56 Vgl. Petrus von Streithagen, H o m o novus d. i. ein Tractätlein von des Menschen Wieder-Gebuhrt, aus englischen Theologen zusammengetragen. Heydelberg 1658.

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sorgten in der Folgezeit in zunehmendem Maße fur die Übersetzung solcher Traktate. Nicht zufállig war es der Verleger Philipp Jakob Speners, David Zunner in Frankfurt (Main), der sich hier vorzugsweise betätigte. Bei ihm erschien zum Beispiel 1698 Richard Baxters (1615-1691) „Mitleidiger Rat an die Jugend", bei einem anderen Frankfurter Verleger, Johann Michael Polich, von demselben Verfasser „Die wahre Bekehrung" 1690. In den Niederlanden hatte sich unter Führung von William Ames, einem umfassend gebildeten und nach vielen Richtungen hin tätigen Denker und Praktiker, der 1613 aus England nach Holland geflohen war, dort bald zum gefeierten Lehrer der Universität Franeker aufstieg und diese durch seine Wirksamkeit zu einem theologischen Wallfahrtsort im Europa des frühen 17. Jahrhunderts machte, der Puritanismus eine zweite Heimat erobert. Neben dem eingebürgerten Engländer wirkten die Einheimischen Gisbert Voetius (1589-1676) und die Glieder der großen Familie Teellinck: Willem, der Jurist und Theologe (1579-1629), mit seinen beiden Söhnen Maximilian (1606-1653) und Jan (nach 1613-1674), die Theologen waren. Dazu gesellte sich sein Bruder Eewoud (1570-1629), der als Jurist Generalschatzmeister der Provinz Zeeland wurde. Er war ein überaus einflußreicher und wohlhabender Mann, der durch seine Stellung das weithin sichtbare Beispiel gab, die Welt zu haben, als hätte man sie nicht. Ein wichtiges Zentrum wurde die Gemeinde Middelburg, die Hauptstadt von Zeeland, wo Willem Teellinck 16 Jahre lang unermüdlich wirkte und einen Mustergarten der Frömmigkeit schuf. Hier unternahm es nahezu 40 Jahre später (1668) Jean de Labadie (1610-1674), ein ehemaliger Zögling der Jesuiten und römisch-katholischer Priester, der 1650 in Montauban zur evangelisch-reformierten Kirche Frankreichs übergetreten war, eine reine Gemeinde der wahrhaft Wiedergeborenen sichtbar darzustellen. Er wurde dadurch freilich zur Trennung von der offiziellen Kirche getrieben 57 . Damit ist ein letzter Geistesverwandter des Pietismus ins Blickfeld getreten: der römische Katholizismus des 17. Jahrhunderts, und zwar vor allem der französische, der von den schweren Streitigkeiten zwischen den von Augustin bestimmten Jansenisten, den Anwälten von Gottes freier Gnade, und ihren jesuitischen Gegnern, den Verteidigern der menschlichen Leistung und der kirchlichen Form zerrissen wurde. In seiner Mitte trat eine zweite Bewegung für die göttliche Gnade auf den Plan: der Quietismus oder die romanische Mystik, die sich an die große neue Heilige Spaniens, Teresa de Jeses von Avila (1515-1582), angeschlossen hatte. Auch hier wurde die Wiedergeburt nicht nur gefordert, sondern als lebendige Wirklichkeit erfahren. Die Träger der romanischen Mystik, etwa der Marquis Gaston Jean-Baptiste de Renty (1611-1649), Elisabeth von BailS 7 Vgl. bes. Wilhelm Goeters, Die Vorbereitung des Pietismus in der reformierten Kirche der Niederlande bis zur labadistischen Krisis 1670. 1911 Neudruck Amsterdam 1974, bes. S. 61-119.

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lau, genannt von der Kindheit Jesu, oder auch die schlichte Armelle Nicolas waren, was die Pietisten erstrebten, „Kinder Gottes aus der neuen G e b u r t " 5 8 . Bei ihnen kam alles auf den inneren Menschen, nichts auf die äußere F o r m der Kirchlichkeit an. Jeder konnte allein stehen, aber sie wußten sich im tiefsten miteinander verbunden, ohne sich von Angesicht oder mit N a m e n zu kennen. 4. Abschließende

Bemerkungen

Wir stehen vor einem reichen und höchst lebendigen Bilde, das eine vielfältige und vielseitige Bewegung zeigt. Die Pietisten dachten klar und handelten entschieden danach. Sie bestimmte ebenso ihr eigenes Verhältnis zur Vergangenheit wie ihre Erwartungen und Forderungen gegenüber der Zukunft der Christenheit. Sie nahmen in Anspruch, die Reformation, insbesondere die Reformation Luthers, zu vollenden. So wußten sie sich ganz in seiner Nachfolge, jedoch in einer kritischen Weise. Anliegen, die bei ihm zu kurz gekommen waren oder zu kurz gekommen schienen wie die Wiedergeburt über die Rechtfertigung hinaus, die Vollkommenheit als Wille Gottes und als hohes Ziel für den Christen und die ganze Kirche, die Früchte des Glaubens als Ausweis für den echten Glauben, die unerschöpfliche Vollmacht des heiligen Geistes - all das brachten sie mit Nachdruck zur Geltung. Zugleich lauschten sie aufmerksam in ihre eigene Zeit hinein und fanden über die traditionellen Grenzen der Konfessionen hinweg echte Geistesverwandte bis weit in den römischen Katholizismus hinein. Sie waren durch und durch ökumenisch gesinnt und gestimmt. Egid Günther 5 8 „Kinder Gottes aus der neuen Geburt". Dieser volle Ausdruck findet sich nicht so häufig, wie man annehmen sollte. Besonders deutlich Anton Wilhelm Böhme (handschriftlich) an August Hermann Francke aus Wierborn bei Pyrmont 19. Februar 1697: „Die Kinder Gottes aus der neuen Geburt" im Francke-Archiv Halle/S., Photokopie im Lutheran Theological Seminary in Philadelphia (Penns.) U S A fPB 67D 1696-1723 Brief Nr. 2.

Vorher im mystischen Spiritualismus: Christian Hoburg, Postilla Evangeliorum Mystica II Amsterdam 1663 S. 180: „Sol der Geist in dir zeugen/daß du seyst ein Kind Gottes/so muß er j e von Dingen zeugen/die warhafftig in dir/an dir geschehen/und so mustu daher ein Kind Gottes warhafftig auß der Newen Geburth gebohren seyn . . . " ähnlich S. 179: „Ach Seele/ durch Gott bitte ich dich/lerne dich selbst kennen/bestreiten/besiegen und überwinden/so wirstu dieses gute Zeugnuß/als ein verborgen Manna in dein Herz bekommen/und mit und in demselben einen Newen Namen/nemblich auß der Newen Geburth/ein Newer Mensch/ein Kind Gottes." Über Gaston Jean-Baptiste de Renty vgl. Maurice Souriau, La Compagnie du Saint Sacrement de l'Autel à Caen. Deux Mystiques Normands au X V I I m e Siècle, M . de Renty et Jean de Bernières. Paris 1913, 2 unter dem Titel Le Mysticisme en Normandie au X V I I m e Siècle. Paris 1923; R. P. Bessières, Au Temps de Saint Vincent de Paul. Deux Grands méconnus, précurseurs de l'action catholique et sociale, Gaston de Renty et Henry Buch. (Publications de l'Ecole des Sciences Sociales et Politiques de Lille) Paris 1931; Martin Schmidt, Die Biographie des französischen Grafen Gaston Jean-Baptiste de Renty (1611-1649) und ihre Aufnahme im 18. Jahrhundert in „Wiedergeburt und neuer Mensch" (AGP 2) 1969, S. 390-438.

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Hellmund (1678-1749), ein Schüler und Freund August Hermann Franckes, erklärte offen in einer programmatischen Predigt „Der Enthusiast und Syncretist" (1720), daß dem wahrhaft Wiedergeborenen Glaubensbrüder aus einer fremden Kirche näher stünden als Kirchenbrüder aus der eigenen 59 . Gottfried Arnold (1666-1714), der Lutheraner, Johann Henrich Reitz (1655-1720) und Gerhard Tersteegen (1697-1769), die Reformierten, gaben in ihren Sammlungen von Biographien vielen Katholiken den gleichen oder sogar einen höheren Rang als den Evangelischen, was die Verwirklichung des echten christlichen Lebens anging 60 . In alledem wirkten die Pietisten ausgesprochen modern 6 1 . In ihnen kündigte sich die Gesamttendenz der Neuzeit an: persönliche Erfahrung und Wirkung wurden Werte, auf die man gerade auch als Jünger Jesu Christi zu achten hatte. Sie wurden wichtiger als eine lehrmäßige Formulierung, erst recht als ein dogmatisches System und als polemische Auseinandersetzungen über Glaubenswahrheiten. Leben statt Lehre - Leben und noch einmal Leben hieß das pietistische Losungswort. N i m m t man die theologischen Grundsätze, die den Charakter von Urentscheidungen trugen, in den Blick, so ist nicht zu übersehen, daß der Boden der Reformation verlassen wurde. Die Fragestellung und die Zielsetzung lauteten anders. Die Rechtfertigung des Sünders als schöpferischer Spruch Gottes im Heilsgeschehen durch Jesus Christus genügte nicht mehr, die Wiedergeburt wurde als größerer Vorgang im Menschen mit einem sichtbaren Ergebnis gefordert und begrüßt. Ebenso war der Glaube allein zu wenig. Es kam auf die Erscheinungen an, an denen man ihn feststellte. So wurde unvermerkt die sittliche Haltung, die Ethik wichtiger als das schlichte Vertrauen zu Gottes Verheißungswort - obwohl die ursprünglichen Pietisten das nie zugegeben hätten. Es drohte - und es droht bis heute - die Gefahr, daß anstatt der Rechtfertigung auf dem Grunde des Glaubens eine Rechtfertigung auf dem Grunde der Werke eintrat, die aus dem Glauben hervorgehen. Seitdem ist die Christenheit atemlos bemüht, Werke und Leistungen 59 Egid Günther Hellmund, Der Enthusiast und Syncretist 1720, S. 58: „Und ob wir gleich die Schwachglaubigen in andern Christlichen Kirchen/z. E. in der Rom. Cath./Griechischen u.dgl. nicht vor unsere Kirchen-Brüder erkennen dürfften/weil sie zu unsrer Kirchen nicht gehören/noch eine äußerliche Kirchen Gemeindschafft mit uns haben/etc. so mögen und müssen wir sie doch wohl vor unsere Glaubens-Brüder erkennen/die mit uns von G O t t geboren sind und mit uns einen Glauben an JEsum Christum im Hertzen haben/gleichwie ich ley der! nicht alle Kirchen-Brüder auch vor Glaubens-Brüder erkennen kan/wel sie nehmlich keinen wahren lebendigen Glauben im Hertzen haben/noch solches mit der That beweisen." 60 Gottfried Arnold, Das Leben der Gläubigen oder Beschreibung solcher Gottseligen Personen/welche in den letzten 200 Jahren sonderlich bekandt worden. 1701; Johann Henrich Reitz, Historie der Wiedergebohrnen 1701, 2 1717, 3 1730; Gerhard Tersteegen, Auserlesene Lebensbeschreibungen heiliger Seelen I 1733, II 1735, III 1753. 61 Vgl. den Sammelband „Pietismus und moderne Welt" hrsg. von Kurt Aland. 1974 (AGP 12).

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vorzuweisen, die sie legitimieren. Sie hat weithin die innere Ruhe verloren, die sich auf nichts anderes stützt und verläßt als auf Gottes Verheißungswort, auf die feste Zusage des allmächtigen Herrn, der auch das Versagen seiner Jünger in Ordnung bringt, weil er die Sünde vergibt. Kein Pietist würde diese Wahrheit leugnen oder auch nur in den Schatten stellen wollen. Aber wenn man die theologischen Grundsatzentscheidungen, die die neue pietistische Wertordnung bestimmten, auf ihr inneres Gefalle prüft, so wird man den Unterschied zur Reformation nicht verkennen dürfen. A u f der andern Seite vermag wohl die Christenheit den Stachel nicht zu entbehren, der mit der großartigen Zielsetzung gegeben war, die Vollkommenheit vor Gott als Angebot, als Möglichkeit, wenngleich in Schwachheit, ernst zu nehmen. So dürfte die letzte Antwort die sein, daß beständig ein Gespräch, ein Ringen, eine gegenseitige Korrektur zwischen reformatorischer und pietistischer Grundhaltung stattfindet, ohne daß beide Seiten gleichmäßig recht hätten.

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Epochen der Pietismusforschung I. Vorüberlegungen

und

Vorbemerkungen

Die Aufgabe ist aus folgenden Gründen schwierig: a) Der Pietismus bietet, wenigstens zunächst, kein einheitliches Bild. Viele Spielarten erscheinen dem Betrachter, die möglicherweise gleiches Recht nebeneinander haben. Jedenfalls läßt sich nicht ohne weiteres ausmachen, welche von ihnen die maßgebende Geltung in Anspruch nehmen darf. b) Die Auffassung des Pietismus ist bei den verschiedenen Forschern nicht einheitlich. Sie hängt einerseits von den Schwerpunkten ab, die jeder für sich setzt und dann durchzuhalten versucht, andrerseits von der theologischen Orientierung des Forschers selbst, von seinem theologischen Wertmaßstab, von seinen Grundsätzen. Unter den Forschern des 19. Jahrhunderts ist dies am stärksten bei Albrecht Ritsehl wahrnehmbar, eingeschränkt, jedoch deutlich genug auch bei Heinrich Schmid. c) Kein Forscher überblickt das ganze, weitverzweigte Geschehen in seinem vollen Umfang, keiner ist imstande, alle Quellen selbst zu lesen, die hier in Betracht kommen, geschweige, sämtliche Erscheinungen gleichmäßig zu beherrschen. Jeder sucht sich sein Teilgebiet heraus und läuft Gefahr, das übrige Material, das sich ihm darbietet, nach den im Hauptgebiet gewonnenen Maßstäben zu beurteilen, Erkenntnisse, die er dort gewonnen hat, sich bestätigen zu lassen und neue Züge als wesensfremd oder unerheblich beiseite zu schieben. So bleibt auch das im folgenden gebotene Forschungsbild, das keine numerische, quantitative Vollständigkeit erreichen kann, sondern nur auf qualitative, der Problematik und Problemfülle angemessene Wiedergabe ausgeht, im letzten und eigentlichen Sinne unbefriedigend. Es sucht der Gesamterscheinung des Pietismus gerecht zu werden, es sucht echte, aus der Sache stammende und für sie passende Schwerpunkte zu setzen und vermag doch nicht das zu erreichen, was von der Sache aus und in ihrem Dienste erreicht werden müßte. Zur Ergänzung und Berichtigung sei bereits hier auf die letzten drei wertvollen und wegweisenden Forschungsberichte hingewiesen, die aus den Federn von Johannes Wallmann, Martin Greschat und Hartmut Lehmann stammen 1 . Jeder von ihnen besitzt seine eigene Note und seine besondere Absicht wie Zuspitzung. Mir selbst steht derjenige von Martin Greschat am nächsten, weil er die theologische 1 Johannes Wallmann, „Reformation, O r t h o d o x i e , Pietismus", in: J a h r b . der Gesellsch. f. niedersächs. Kirchengesch., 70 (1972), S. 1 7 9 - 2 0 0 ; Martin Greschat, „Zur neueren Pietismusforschung. Ein Literaturbericht", in: J a h r b u c h des Vereins fur Westfál. Kirchengesch., 65 (1972), S. 2 2 0 - 2 6 8 ; Hartmut Lehmann, „Der Pietismus im Alten R e i c h " , Hist. Zeitschrift, 2 1 4 (1972), S. 5 8 - 9 5 . E s ist bezeichnend, daß alle drei gehaltvollen Übersichten i m selben J a h r e 1972 erschienen.

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Grundlage und die theologische Ausprägung des Pietismus am stärksten ins Auge faßt. Zu den Schwierigkeiten, die die Forschungslage bereitet, treten die anderen, die sich aus der Quellenlage ergeben. Auch sie lassen sich in drei Gruppen gliedern: a) Es handelt sich um ein riesiges Quellenmaterial, das ein einzelner überhaupt nicht zu bewältigen vermag. Er kann froh sein, wenn er es einigermaßen nach Art, Umfang, Herkunft und Bedeutung zur Kenntnis zu nehmen Gelegenheit hat. Ich selbst hatte dieses schlechthin grundlegende Erlebnis, als ich im Juni 1939 als Dreißigjähriger vor den Bücherregalen der Hauptbibliothek in den Franckischen Stiftungen zu Halle stand und mir sagen mußte: „Dieses alles solltest du lesen und beurteilen." Es handelte sich um - geschätzt - 100000 Bände von teils erheblichem Umfang. Man macht sich davon eine Vorstellung, wenn man erwägt, daß allein Philipp Jakob Speners Predigtsammlung Der hochwichtige Articul von der Wiedergeburt in 66 Wochenpredigten in der Berliner Nicolaikirche vorgetragen (1696, 2 1715) etwa 1200 Seiten umfaßt, daß seine Auseinandersetzung mit seinem römisch-katholischen Gegner in Frankfurt/Main, dem Domherrn Johann Breving an der Bartholomäuskirche etwa 1500 Seiten stark ist und daß ähnliche Zahlen für die Schriften von August Hermann Francke, Joachim Lange, Gottfried Arnold, Johanna Eleonora und Johann Wilhelm Petersen gelten. Erst mit dem Grafen Zinzendorf nehmen die Umfänge etwas ab. Zu dem gedruckten Material ist das handschriftliche hinzuzufügen. Denkt man da an den ausgebreiteten Briefwechsel von Spener, der in den Theologischen Bedenken gedruckt vorliegt, so faßt einen bereits der Schrecken, erst recht, wenn man sich den etwa 25000 nur handschriftlich zu benutzenden Briefen Franckes gegenübersieht - ganz abgesehen von den riesigen Sammlungen im Herrnhuter Archiv der Brüderunität und der Hamburger Staats- und Universitätsbibliothek, im Tübinger Stift und einer Fülle von lokalen Archiven, wovon etwa die Biographie Ernst Christoph Hochmanns von Hochenau durch Heinz Renkewitz (1935, 2 1969) eine Vorstellung gibt. Begibt man sich außerhalb Deutschlands, so hat vor allem das unübertroffene Werk von Wilhelm Goeters, Die Vorbereitung des Pietismus in der reformierten Kirche der Niederlande bis zur labadistischen Krisis 1670 (1911, Neudruck 1974) deutlich gemacht, was hier alles zu lesen ist. Ein ähnliches, noch mehr entmutigendes Bild empfängt der Benutzer der ausgebreiteten puritanischen und verwandten Andachtsliteratur und Predigtbearbeitungen, die in ihrer Art und ihrem Umfang einzig in der gesamten Kirchengeschichte dasteht. Ich selbst hatte in meiner Jugend - als ehemaliger relativ langjähriger Jünger der englischen Philologie - den verwegenen Plan, diese maßgeblich zu erforschen und darzustellen, wollte ihr auch meine Habilitationsschrift widmen, mußte aber die Segel streichen, weil es einfach in einer begrenzten Zeit nicht zu schaffen war. b) Der Pietismus hat eine schwer aufzuhellende Vorgeschichte. Ist er, 35

wie er weithin behauptete, Fortsetzung, Erneuerung, Wiederaufnahme oder Radikalisierung der Reformation, ebenso sehr der Absichten und Grundsätze Luthers wie Butzers und - vor allem - Calvins? Gehört er in den großen, breiten Strom der Mystik hinein, und in welchem U m f a n g ? Welche mystischen Traditionen nahm er auf? Wie verhält er sich zum mystischen Spiritualismus, zu Schwenckfeld, Valentin Weigel, Jakob Böhme, Paracelsus? Was bedeutet die romanische Mystik Frankreichs, vielleicht auch Spaniens und Italiens für ihn - hatten doch Francke und Arnold das Lieblingsbuch weiter römisch-katholischer Kreise, den Guida spirituale des Molinos übersetzt, und hatte doch Tersteegen diese ganze Literatur, hauptsächlich die französische, im reformierten Pietismus eingebürgert? Welches ist der Beitrag des englischen Puritanismus und wieweit ist dieser überhaupt einheitlich? Welche Wirkungen gingen v o m Jansenismus aus? Alle diese naheliegenden Fragen harren der Antwort. Sie kann - das sollte sich von selbst verstehen - gar nicht erteilt werden, ehe die Wesensbestimmung des Pietismus einigermaßen geklärt, festgelegt und angenommen ist. A u f die vielfältige und zahlreiche Probleme bergende Vorgeschichte ist gleichwohl - vor Erledigung der Hauptfrage nach dem Wesen - oft in der Forschungsgeschichte eingegangen worden. Ernst Troeltsch hat zum Beispiel den Pietismus ohne weiteres als evangelisch-reformiertes, calvinistisches Gewächs, vielleicht sogar als derartigen Import angesprochen und sein Schüler Walther Köhler ist ihm - wie fast immer - unbesehen gefolgt. c) Weil hier noch viel Arbeit getan werden muß, läßt sich bisher auch nicht eindeutig entscheiden, wo der Geschichtsschreiber der Bewegung zu beginnen hat. Für einen der großen und fuhrenden Forscher, Albrecht Ritsehl, stand es ohne nähere Untersuchung fest, daß sein Ursprung in der römisch-katholischen Mystik des Mittelalters lag. Infolgedessen müßte der gewissenhafte Historiker dort einsetzen. Nach Troeltsch und Köhler wäre mit Calvin zu beginnen. Nach einem der gründlichsten Forscher, der freilich voreingenommen war, hätte man mit Martin Butzer, dem eigentlichen Pietisten unter den Reformatoren, einzusetzen. Es war der überzeugt Reformierte August Lang in Halle, der so urteilte und auch den gesamten Puritanismus Englands von Butzer herleiten wollte. Wer davon überzeugt ist, wie es Troeltschs Hauptgegner Karl Holl war, daß alle wesentlichen Stücke in der Bewegung von Luther stammen, muß ihn zugrundelegen und möglichst genau diejenigen Seiten des Reformators aufweisen, die zum Pietismus führten. Er wird dann, wie es Holl durch seinen Schüler Emanuel Hirsch getan hat, einem Manne wie Andreas Oslander, dem Gegner Melanchthons und des Matthias Flacius Illyricus, die Schlüsselstellung im Geschehen zuweisen. Wer, wie August Tholuck zum Teil, dann Kurt Aland und zuletzt Johannes Wallmann in der (lutherischen) Orthodoxie, namentlich in ihrer Straßburger Gestalt, den eigentlichen Blutspender für den Pietismus erblickt, wird mit ihr einsetzen müssen. So türmen sich Schwierigkeiten über Schwierigkeiten, die er nur nach und nach überwin36

den kann. Er muß eigentlich jahrelang lesen und urteilen, prüfen, abwägen, verwerfen, ausscheiden und neu aufnehmen, ehe er die ersten Sätze niederschreiben kann. Daß Forscher von so hohem Rang wie Albrecht Ritsehl einfach vorgefaßten Meinungen erlagen und sie ungescheut wie ungeschützt in die eigene Forschung einbrachten, ist ein unüberhörbares Warnungszeichen. Man kann unter den Schwierigkeiten noch weitere in diese Vorbemerkungen und Vorüberlegungen einbringen. So erhebt sich die Frage, ob der Pietismus wirklich eine theologische, das heißt: eine gedanklich durchdachte, auf Reflexion und Systematik gerichtete Bewegung war oder nur eine solche der Frömmigkeit. Forscher von beachtlichem Range wie Wilhelm Goeters haben ihn damit zu charakterisieren und sogar zu definieren geglaubt, daß es ihm ausschließlich um das fromme Leben zu tun war, wie es etwa der englisch-niederländische Theologe puritanischer Prägung William Ames (Guilelmus Amesius 1576-1631) von der Theologie selber sagte. Weiterhin läßt sich das Problem aufwerfen, ob der Pietismus durch führende Männer zu seiner Bedeutung und seiner Wirkung gelangte, in erster Linie durch Spener, Francke, Arnold, Zinzendorf, Bengel und Oetinger, oder ob er Exponent einer Bewegung des allgemeinen kirchlichen Lebens, darüber hinaus vielleicht noch ursprünglicher des seelischen Geschehens war, wie ihn etwa Gottlob Wieser auffaßte, der das ganze Geschehen in Frömmigkeit und Kirche, den Jansenismus, den Quietismus (die romanische Mystik in Frankreich) und den Pietismus in Deutschland, psychologisierte. Man könnte versuchen, neben den individualpsychologischen auch sozialpsychologische Kriteria auf ihn anzuwenden. Wie immer man sich zwischen derartigen Alternativen entscheidet, ist dem einzelnen Forscher überlassen. Es kann nicht überraschen, daß das reiche Material, das in theologischen Schriften, in Andachtsbüchern, in Bekenntnissen, in Briefen, in Tagebüchern, in Stammbüchern und sonst, nicht zuletzt in Liedern sowohl persönlich-individueller Art als auch in Kirchenliedern, für alle derartigen Überlegungen Ansatzpunkte und Anhaltspunkte liefert. Eine vollständige, auch in den Aspekten in voller Variationsbreite ausgeführte Geschichte des Pietismus wird es nicht geben können, vor allem nicht aus der Feder eines einzelnen Forschers. Hier wird man sich immer neu ergänzen müssen. Einer soll und darf dem andern die Hand reichen. All das Genannte lockt und regt an. Aber es entmutigt auch. So ist es verständlich, daß wir seit Ritschis großem Werk, also seit rund hundert Jahren, keine neue Gesamtgeschichte des Pietismus erhalten haben, obwohl von allen Seiten, von der Kirche wie von der Wissenschaft, danach gerufen wird. Es liegt nahe, auf eine Gemeinschaftsleistung zuzugehen, obgleich gegen sie verständlicherweise eingewandt wird, daß ihr die bei Ritsehl gegebene innere Einheit fehlen müsse. Lassen wir es bei der Hoffnung.

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II. Epochen der Pietismusforschung I. Die Leistung des 19.

Jahrhunderts

In dem nun folgenden Überblick lasse ich das 18. Jahrhundert bis auf einige notwendige Bemerkungen beiseite, obwohl auch dazu Erhebliches zu sagen wäre. Denn in diesem Jahrhundert, in welchem der Pietismus stattfand und Platz griff, in welchem er seine unmittelbare Wirkung entfaltete und auf ökumenischem Felde eine so große und folgenreiche Bewegung wie den Methodismus von John Wesley und George Whitefield gebar, ereigneten sich bedeutende innere Entscheidungen, die die Forschungsgeschichte aufnehmen muß. Zuerst wäre das Selbstverständnis und das Geschichtsbewußtsein zu erörtern, mit dem er seinen Ort in der kirchengeschichtlichen Entwicklung bestimmte, sein Verhältnis zur O r thodoxie und zur Reformation festlegte, seine Beziehungen zu gleichzeitigen Bewegungen anderswo knüpfte und beurteilte, etwa zu dem, was im römischen Katholizismus vor sich ging. Auch wären die Stellungnahmen zu eigenen Gruppierungen einzubeziehen, zum weiterlebenden mystischen Spiritualismus, der sich mit dem Pietismus verband, aber auch wieder von ihm löste und gegen ihn polemisierte; auch etwa der spätere, überall zu beobachtende Gegensatz zwischen Halle und Herrnhut würde hierher gehören. Weiterhin gälte es, das Verhältnis des Pietismus zur Aufklärung zutreffend zu bestimmen. Es war j a durch alles andere als den bloßen Gegensatz oder gar Widerspruch bestimmt. Vielmehr liefen Fäden genug von der einen Richtung des Geistes zur anderen. Ähnliches wäre fur die Verbindung mit der Romantik zu tun. Auch hier überwiegt wahrscheinlich die Verwandtschaft, und eine allumfassende Gestalt wie Herder, der von Rousseau so stark ergriffen wurde, gehört allen dreien an, ohne sich einer ganz zu verschreiben. Man könnte von da aus eine eigene, aus dem späteren 18. Jahrhundert geschöpfte Wesensbestimmung für den Pietismus unternehmen, aus der Wirkung auf seine innere Kraft, auf das bewegende Zentrum zu schließen versuchen. Es zeigt sich bei genauer Prüfung, daß auch das 19. Jahrhundert mit seinem intensiven Eindringen in den Pietismus vom 18. zehrte. In diesem Zusammenhang genüge es, daraufhinzuweisen, daß Albrecht Ritschis Gesamtauffassung des Pietismus weitgehend auf den sieben Theologischen Bedenken fußte, die der Hallenser Pietist und Schüler Christian Wolffs Siegmund Jakob Baumgarten (1706-1757) gegen die Herrnhuter gerichtet hatte 2 . Jedoch zum 19. Jahrhundert selbst! An der Spitze der Forscher steht Friedrich August Gottreu Tholuck (1799-1877), ein Polyhistor, der unzählig viele Gebiete mit seinem wachen, aufnahmefähigen Geiste durchdrang, 2 S i e g m u n d J a c o b B a u m g a r t e n , T h e o l o g i s c h e Bedencken I, Halle 1744, S. 1 2 5 - 1 7 8 ; IV, ebd. 1749, S. 8 5 - 6 9 0 (die wohl umfangreichste Auseinandersetzung); V , ebd. 1751, S. 2 1 1 - 2 5 2 ; S. 3 6 1 - 4 6 4 ; VI, ebd. 1748 (?!), S. 6 6 3 - 8 8 8 .

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als Indologe begann und als systematischer wie praktischer Theologe endete. Es ist bezeichnend, daß kein Geringerer als Friedrich Schleiermacher 1824 gegen seine Habilitation in der Berliner Theologischen Fakultät Einspruch erhob, weil ihm die theologische Reife bei dem jungen Manne nicht gewährleistet schien, und er ihn nur als Indologen für ein akademisches Lehramt qualifiziert halten konnte. Das änderte sich freilich in einer Weise, die auch den gestrengen Richter überzeugt haben würde. Tholuck wurde mehr und mehr Theologe, und zwar in sämtlichen Disziplinen dieser Wissenschaft, von biblischen Kommentaren, in welchen Zusammenhang auch seine Neuausgabe der exegetischen Schriften Calvins gehört, bis zu systematischen Abhandlungen, auch wenn diesen immer etwas Flüchtiges, Gelegentliches, Journalistisches anhaftete. Den Kern seiner Bemühungen bildete jedoch die Historie, allein schon durch den Umfang der Quellenmasse, die er durchdringen mußte. Seine Vorgeschichte und Geschichte des Rationalismus, die von 1853-1865 erschien, besitzt den Charakter des Monumentalen. In sie sind seine Forschungen zum Pietismus hineinverwoben. Es war also nicht der Pietismus selbst der Gegenstand seiner Bemühungen, sondern der Rationalismus, den er trotz seiner eigenen gegensätzlichen Grundeinstellung als ein berechtigtes Element in der Entwicklung des Protestantismus anerkannte - berechtigt freilich nicht in dem, was er theologisch oder theologisch-philosophisch und, allgemeiner gesprochen, religionsphilosophisch vertrat, sondern in dem, was er auslöste. In der Vorrede zu dem Bande der Vorgeschichte, der dem kirchlichen Leben des 17. Jahrhunderts gewidmet war (Berlin 1861), sprach der Verfasser aus, was ihn bewegte: „Die Absicht dieser Vorgeschichte war: den Rationalismus durch alle ihn vermittelnden Phasen hindurch bis an seine ersten Anfänge in einem ihm noch polarisch entgegengesetzten Zeitalter zu verfolgen. Jedem Geschichtsforscher bietet sich die Beobachtung dar, daß neue Geistesphasen, viel länger vorher, als eine oberflächliche Ansicht meint, durch unmerkliche Veränderung von Farbe und Gefälle des Strombettes sich ankündigen und vorbereiten. Die vorliegende Ausführung wird zeigen, daß dies auch beim Rationalismus der Fall ist. Derselbe ist keine zufällige Episode in der geschichtlichen Entwicklung der Theologie, keine äußerliche Hautkrankheit am Körper der Kirche: er ist eine allgemeine, durch stockende oder unreine Säfte des kirchlichen Organismus herbeigeführte, heilsame Krankheitskrisis, nach deren Überwindung der erkräftigte Organismus eine erhöhte Lebenstätigkeit zu entfalten im Stande ist." 3 Es war die Sprache der Nachromantik, die hier erklang. Das Leben bildete den beherrschenden Gesichtspunkt, es stellte den eigentlichen Leit3

A. T h o l u c k , Vorgeschichte des Rationalismus. Z w e i t e r und letzter Teil: Das kirchliche

Leben des siebzehnten Jahrhunderts bis in die Anfänge der Aufklärung. Erste Abteilung: D i e erste Hälfte des siebzehnten Jahrhunderts bis zum westphälischen Frieden, Berlin 1861, S. V .

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begriff dar. Die Kirche war als Organismus vorgestellt, ihre Entwicklung erfolgte biologisch, Gesundheit und Krankheit ergaben sich daher als die angemessenen Kategorien. Tholuck wollte einen biologischen Entwicklungsprozeß darstellen und vorfuhren, der von der ursprünglichen oder als ursprünglich angenommenen Gesundheit über die Krisen von Krankheiten wieder zur Gesundheit gelangte. Schon diese wenigen Sätze lassen erkennen, daß der Pietismus, der in den Rationalismus inkorporiert war, nicht als selbständiger Wert aufgefaßt wurde, sondern als Reaktion, als Entwicklungselement. Wahrscheinlich ist es Tholuck gewesen, der das lange Zeit wirksame Klischeebild begründete, die Orthodoxie habe ihre Zeit gehabt und sei dann wie ein absterbender B a u m verdorrt und nach ihr habe der Pietismus neues Leben in die Kirche, in die Frömmigkeit, in das allgemeine Verhalten der Christen gebracht. Freilich stimmt das keineswegs ganz. Er war selbst viel zu gut in den Quellen belesen, die er mit einem Bienenfleiß durchstöberte und sich keine Mühe verdrießen ließ, auch Entlegenes zu beschaffen, als daß er gegen die wirklichen Werte blind hätte sein können. Wie er in seinem Buche Der Geist der lutherischen Theologen Wittenbergs im Verlauf des 17. Jahrhunderts (Berlin 1852) sich um historische Gerechtigkeit bemüht und in den Lebenszeugen der lutherischen Kirche in und nach dem Dreißigjährigen Kriege (Berlin 1859) in Biographien wirkliche Denkmäler dargeboten hatte, so wollte er auch hier allein der geschichtlichen Wahrheit dienen. Immerhin war das Schema „der lebendige, fromme Pietismus gegen die tote, sittlich verfallene Orthodoxie" nicht zu verkennen; es leitete mindestens heuristisch den Gang der Erkenntnis und Darstellung. Den Pietismus definierte er eindrucksvoll, schlicht und den Quellenzeugnissen nahe durch die drei Leitmotive: Gebetsgeist, Glaubensfeuer und Heiligungsernst. Die Theologie hatte darin keine Stelle. Er urteilte im ganzen: „Seit dem Reformationszeitalter hatte die Kirche nicht eine Belebung erfahren wie in dieser Periode"; und setzte den gewichtigen abschließenden Satz als Krönung des Urteils hinzu: „auch in der Gegenwart nicht" 4 . Beherrschend war bei ihm die Frage nach der Wirkung des Pietismus, nicht nach den Motiven und Zielen. Diese erstaunliche Tatsache erklärt sich aus der vorherrschenden soziologisch-statistischen Betrachtungsweise, welche die meisten seiner Arbeiten leitete. Die materialreichen Darlegungen hatten zur Folge, daß das vulgäre Klischeebild befestigt wurde, obgleich er das selbst nicht wollte. Er schrieb in dem genannten Buche über das kirchliche Leben des 17. Jahrhunderts (Berlin 1861): „Wie auch in den früheren Bearbeitungen der orthodoxen Periode, so ist auch in dieser mein Ziel, die Vergangenheit weder zu verherrlichen, noch herabzusetzen, sondern sie zu zeigen, wie sie ist. Wie ich mich nicht schäme zu bekennen, daß ich trotz ihrer Mängel und Makel 4 D e r s . , Geschichte des Rationalismus. Erste Abteilung: Geschichte des Pietismus und des ersten Stadiums der Aufklärung, Berlin 1865, S. 83.

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die Kirche jener Periode, wie sie, das ganze Volk durchdringend, in ihrem D o g m a und in ihren trefflichen Institutionen eine compakte Gestalt darstellt, bewundere und ehre, so scheue ich auch das Bekenntnis nicht, daß nicht sie, wie sie gewesen, das Ziel meiner Wünsche und H o f f n u n g e n , sondern jene, welche durch den Pietismus hindurchgegangen, praktisch lebendig geworden, und durch die Krise des Rationalismus, des kritischen u n d des philosophischen, hindurchgegangen, wissenschaftlich gereinigt u n d vertieft - eine solche lutherische Kirche, wie sie angefangen hat sich zu bauen und wie sie als solche Gegenstand der H o f f n u n g Vieler in der Z u k u n f t ist. Dies der Standpunkt, von d e m aus diese Geschichte des Rationalismus geschrieben ist. " s Das heißt: Das Schema, das mit den absoluten, metaphysischen und moralischen Gegensätzen: gut-schlecht, positiv-negativ arbeitet und entweder zu Lob oder zu Tadel als abschließendem Urteil gelangte, w u r d e ersetzt durch den Entwicklungsgedanken. Blüte-Verfall-neue Blüte w u r den die maßgebenden Kategorien. Es trat eine Biologisierung der Kirchengeschichte ein, wie sie wahrscheinlich zuerst und weithin ausstrahlend der Berliner Kirchenhistoriker August Neander (1789-1850) angewandt hatte der M a n n , der die meisten Schüler u m sich scharte und mit seiner bis fast an das Ende des Mittelalters reichenden Gesamtkirchengeschichte z u m Range eines Klassikers der Theologie aufgestiegen war. Mit solcher Biologisierung hob sich Tholucks Anschauung von derjenigen Gottfried Arnolds deutlich ab, o b w o h l sie ihr zunächst im Lobpreis des Pietismus und i m Tadel an der O r t h o d o x i e ähnelte. Für Arnold hatten noch die absoluten Maßstäbe gut und schlecht gegolten. Die dogmatische Kategorie des Sündenfalls besaß in seiner Darstellung eine beherrschende Rolle, niemand hat sie vor ihm und nach ihm so eindurcksvoll auf die Geschichte der Kirche angewandt, und mehr als einer ist i h m darin gefolgt. Das vulgäre Bild des Pietismus, daß er lebendig war, und gesunde Reaktion auf die abgelebte, w e n n nicht tote O r t h o d o x i e darstellte, w u r d e herrschend. Es fand auch in ein so bedeutendes und wirksames Buch wie Karl Bernhard Hundeshagens Auseinandersetzung mit d e m „Jungen Deutschland" u n d Analyse des gegenwärtigen kirchlichen, geistigen und gesellschaftlichen Lebens Eingang, Der deutsche Protestantismus, seine Vergangenheit und seine heutigen Lebensfragen im Zusammenhang der gesammten Nationalentwicklung beleuchtet. Von einem deutschen Theologen (Frankfurt/ Main 1847). Es erhebt sich die k a u m zu beantwortende Frage: Geht dieses Bild v o m Versagen der O r t h o d o x i e und d e m daraus folgenden sachlichen Recht wie der erstaunlichen Kraft des Pietismus auf Gottfried Arnold oder gar auf Spener selbst zurück? Ist es womöglich b e w u ß t und absichtlich geschaffen,

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Ders., aaO (s. A. 3), S. VII f.

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w i e H a n s Leube in seiner Habilitationsschrift, Die Reformideen in der deutschen lutherischen Kirche im Zeitalter der Orthodoxie (Leipzig 1924) a n n a h m ? Leube arbeitete dabei besonders mit d e m T ü b i n g e r Kirchenhistoriker Christian E b e r h a r d W e i s m a n n (1677-1747), einem abgeschwächten Gottfried Arnold. Betrachtet m a n T h o l u c k s Leistung i m ganzen, so ergibt sich f o l g e n d e Bilanz: E r zeichnete Zustandsbilder u n d lieferte gleichsam p h o t o g r a p h i s c h e A u f n a h m e n der Universitäten u n d des kirchlichen Lebens. Die Lehre stellte dabei einen P u n k t dar, flankiert v o m Gottesdienst, v o n der F r ö m m i g k e i t , v o n der Sittlichkeit u n d v o m Kirchenrecht. Diese statistisch-soziologische Arbeitsweise läßt ihn heute i m Zeitalter der Soziologie u n d der soziologisch b e s t i m m t e n Analyse g e g e n w ä r t i g e r Institutionen, namentlich auch der Kirche, als ausgesprochen m o d e r n erscheinen. Er n a h m vieles v o r w e g , was heute als N e u i g k e i t a n g e b o t e n w i r d u n d hatte es häufig besser b e g r ü n det wie eingeordnet. N a c h T h o l u c k m u ß der emsige, findige u n d gewissenhafte Archivar der rheinischen Kirche M a x Goebel (1811-1857) genannt w e r d e n , der in einem relativ kurzen Leben erstaunlich viel an Material zu T a g e gefördert hat, darunter allerlei, was inzwischen verlorengegangen ist, so daß die F o r s c h u n g auf seinen Sammelfleiß angewiesen ist. M a x Goebel hat das dreibändige W e r k verfaßt, Geschichte des christlichen Lebens in der rheinischwestphälischen evangelischen Kirche, erschienen in Koblenz v o n 1849 bis 1860. D e n dritten B a n d gab sein Mitarbeiter T h e o d o r Link nach seinem T o d e heraus. B e i m ersten Blick k a n n m a n diese drei B ä n d e f ü r eine Fleißarbeit halten. Sie stellen j e d o c h weit m e h r dar. D e r Verfasser w a r in B o n n Schüler v o n Carl I m m a n u e l Nitzsch, d e m praktischen T h e o l o g e n , der in besonderer Intensität das Vermächtnis Schleiermachers f o r t f ü h r t e , die praktische T h e o l o g i e als die K r o n e der T h e o l o g i e betrachtete u n d betrieb u n d in die allgemeine Kirchengeschichte dadurch bedeutungsvoll eingriff, daß er f ü r die wichtige preußische Generalsynode v o n 1846 in Berlin ein eigenes unionistisches Glaubensbekenntnis entwarf, das „ N i t z s c h ä n u m " , das sich freilich nicht durchsetzte. I m m e r h i n zeigt das alles, welchen R a n g er e i n n a h m u n d was m a n i h m zutraute. I m Geiste seines Meisters Schleiermacher w a r f ü r ihn „Leben", „christliches Leben" Leitbegriff ganz ebenso, wie es der Berliner T h e o l o g e in seinem H a u p t w e r k , der „Christlichen Sitte" gemeint u n d ausgeführt hatte. Goebel hatte das ü b e r n o m m e n , „Christliches Leben" i m Titel des dreibändigen S a m m e l w e r k e s hieß d e m n a c h : Geschichte der christlichen Wirklichkeit in Glaube, Sitte, Gemeinschaftsgestaltung u n d A u s w i r k u n g in j e d e m Lebensbereich. Das zeigt, daß der Pietismus v o n i h m nicht als Reaktion aufgefaßt w u r d e , als polemisch g e m e i n t e E r g ä n z u n g zur O r t h o d o x i e . Vielmehr w a r v o n i h m diese B e w e g u n g als selbständige Erscheinung, als ein neuer T r i e b a m B a u m e der Kirchengeschichte erkannt u n d eingereiht w o r d e n . D e m suchte er überall A u s d r u c k zu geben. Wie stark er i m Sinne v o n Nitzsch u n d 42

Schleiermacher dachte, läßt das Vorwort zum zweiten Bande (Koblenz 1852) erkennen, w o er schrieb: „Meinen eigenen christlichen und kirchlichen Standpunkt darf ich wohl mit Bezug auf das in dem Vorworte und in der Einleitung zu Band I Gesagte als bekannt voraussetzen. Er gründet sich auf den felsenfesten Glauben, daß es in der christlichen Kirche heiligen Geist giebt, daß dieser Geist in den Herzen der Gläubigen wirksam ist, daß er ihr Leben regiert und ein christliches Leben in dem Glauben an den Herrn und in seiner Nachfolge erzeugt, daß aber dieses von dem heiligen Geiste gewirkte christliche Leben wegen der uns immerfort inwohnenden und anklebenden Sünde vielfach gehemmt, gestört und verunstaltet wird, und es desto mehr die Aufgabe jedes Christen ist, die Sünde zu meiden und zu überwinden, auf daß er nicht den heiligen Geist betrübe, sondern ein vollkommener Mann werde in Christo Jesu unserm Herrn. Kirchlich und confessionell habe ich Niemanden zu Liebe und zu Leide geschrieben, sondern nur die Wahrheit, die Thatsachen, das Leben, das weit mehr die Lehre bedingt als es durch die Lehre beherrscht wird, fur sich reden lassen. Dadurch hat sich mir wenigstens ergeben, daß in dem Streite irdischer Kirchen und sündiger Christen die Wahrheit aber auch der Irrthum selten ausschließlich auf Einer Seite zu finden ist, und daß namentlich auch in dem Streite der herrschenden Kirche mit den Sekten die große Kirche durch Mißbrauch weltlicher Gewalt und ungerechter Mittel leider vielfach sich versündigt und sich geschadet hat. J e mehr sie dies jetzt anerkennt, desto mehr wird sie das den einzelnen Sekten und Christen früher angethane Unrecht sühnen können und am Ende doch wider sie vor Gott und Menschen Recht behalten." 6 So identifizierte er sich weitgehend mit dem Pietismus und seinem Grundverständnis der christlichen Existenz und Haltung überhaupt. Das zeigt sich in den soeben wiedergegebenen Worten in der Herrschaftsstellung des heiligen Geistes und in dem eindeutig festgehaltenen Primat des Lebens über die Lehre. An diesem Punkte unterschieden sich Orthodoxie und Pietismus grundlegend und schieden sie sich praktisch. Goebel trat klar und entschieden auf die Seite des Pietismus. In der Verhältnisbestimmung zwischen Großkirche und „Sekten" hört man vernehmlich den Nachklang von Gottfried Arnold: Die Sekten haben weithin recht, sie sind die Unterdrückten, die sich nur mühsam äußern können. Das Grundschema von Herrschaft und Unterdrückung, das im 19. Jahrhundert vor allem durch Karl M a r x und seine Sympathisanten aufs politische Gebiet angewandt wurde, stammte aus Arnolds Unparteiischer Kirchen- und Ketzerhistorie. Gerade an einem Werke wie dem von Goebel wird deutlich, 6 M a x Goebel, Geschichte des christlichen Lebens in der rheinisch-westphälischen evangelischen Kirche. Z w e i t e r Band: Das siebenzehnte Jahrhundert oder die herrschende Kirche und die Secten, Coblenz 1852, S. VII f.

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wieviel die Forschungsgeschichte gewinnt, wenn das 18. Jahrhundert, das Jahrhundert der pietistischen Entwicklung selbst, einbezogen wird. Erwägt man das alles, dann wird man die Bedeutung und Wirkungsmacht von Goebels sorgfältiger, nach großen Gesichtspunkten unternommener Sichtung und Sammlung der Nachrichten hoch veranschlagen müssen. Hier vereinigten sich in vorbildlicher und wegweisender Art Historie und Theologie, Bestandsaufnahme und Durchdringung durch selbständiges, wohl begründetes Urteil. Vielleicht hat der Verfasser den Rang, daß aus seinem Werk - als einzigem - abgelesen werden kann, wie Kirchengeschichtsschreibung in der Nachfolge Schleiermachers ausgesehen hätte, nachdem von ihm selbst nur sehr formale Skizzen und Schemata vorliegen, die für den konkreten historischen Stoff nichts hergeben. Goebels Werk trägt auch dadurch eine eigene Note, daß seine Darstellung mit der Reformation beginnt und so das Verhältnis zwischen mystischem Spiritualismus, dem er besondere Aufmerksamkeit schenkte, reformatorischem und pietistischem Christentum einbegreift. Sicher sagte er nicht das letzte und entscheidende Wort über die sachliche und genetische Beziehung zwischen diesen Größen. Aber er trug dazu bei, die Frage vernehmlich zu machen. Das von ihm - bescheiden - Gesagte wird in die künftige Forschung zu diesen Themen aufgenommen werden müssen. Es besitzt eine besondere Aktualität, da den hier angerührten Fragen eine erhöhte Aufmerksamkeit unter theologischem Vorzeichen gebührt. Der dritte Band, den Goebel nicht mehr vollenden konnte, ist ein Torso geblieben. Er hat aber in der Gestalt, die der Verfasser ihm gab und die der Herausgeber Theodor Link ihm beließ für die Forschungsgeschichte insofern eine besondere Bedeutung erlangt, als hier zum ersten Male der Einfluß, besser gesagt: die unmittelbare modellartige Einwirkung der benachbarten reformierten Kirche der Niederlande erstmalig und wegweisend ziemlich hoch veranschlagt worden ist. Diese Bemerkungen und Aspekte machten sich zuerst Heinrich Heppe, sodann Albrecht Ritsehl und schließlich Wilhelm Goeters für ihre Arbeiten zunutze. Sie bestätigten alle drei den Archivar der rheinischen Kirche. So ging von dem bescheiden im Gewände des Sammlers auftretenden Werke eine ziemlich bedeutende und nachhaltige Wirkung auf die spätere Forschung aus. Man darf ohne Übertreibung sagen, daß ohne Goebel weder Heppe und vor allem Ritsehl nicht möglich gewesen wären. Insbesondere der letzte hat als theologischer Systematiker in hohem Maße sich auf die genauen Belege des rheinischen Kirchenarchivars verlassen und verlassen können. Nach Goebel gilt es den Neulutheraner Heinrich Schmid in Erlangen ins Auge zu fassen (1811-1885). Seine Geschichte des Pietismus (Nördlingen 1863), die allerdings nur Spener und Francke behandelt, sowie die von orthodox-lutherischer Seite, vor allem von Schelgwi(n)g und Löscher gegen sie erhobenen dogmatischen Einwände, steht in Gefahr, unterschätzt 44

zu werden, besonders da Ritsehl sie verächtlich als bloßen unselbständigen Auszug aus Johann Georg Walchs Historischer und theologischer Einleitung in die Lehrstreitigkeiten der evangelisch-lutherischen Kirche (Jena 1731-1739) bezeichnet und keiner selbständigen Auseinandersetzung wert erachtet hat. In Wirklichkeit verhält es sich ganz anders. Schmid stellte sich die Aufgabe, einerseits ein Gegenbild vom „kirchlichen", d.h. vom neulutherischen Kirchenverständnis aus zu geben, andrerseits die vor allem durch Tholuck, aber auch durch Gustav Moritz Konstantin von Engelhardt (1828-1881), den Lehrer Adolf Harnacks, gewonnenen neuen stofflichen Erkenntnisse in ein Gesamtbild aufzunehmen. Das Gegenbild, das er zu zeichnen versuchte, war durch Wilhelm Hoßbachs Biographie über Philipp Jakob Spener und seine Zeit (Berlin 1828, 3 1861) ausgelöst worden, da der Biograph sich mit seinem Helden weitgehend identifiziert hatte. Schmid sprach es ausdrücklich aus: „Der Pietismus ist eine Erscheinung, welche ihrer Natur nach j e von dem verschiedenen dogmatischen Standpunkt, den man einnimmt, eine verschiedene Beurteilung erleidet. Darum ist es auch von Interesse, ihn von den verschiedenen dogmatischen Standpunkten aus beleuchtet zu sehen, und schon von diesem Gesichtspunkt aus möchte es gerechtfertigt sein, wenn an die Beleuchtung, welche Hoßbach in seiner Schrift „Philipp J a k o b Spener und seine Zeit" (I. Aufl. 1828, 3. Aufl. 1861) von einem dem Pietismus sehr nahestehenden Standpunkt aus gegeben hat, sich eine andere v o m kirchlichen Standpunkt anreiht." 7 V o n diesem kirchlichen neulutherischen Standpunkt aus erschien Schmid der Pietismus schlechthin negativ. Zwar gab er zu, daß er „neues Leben" in die Kirche gebracht habe, aber dieses „neue Leben" wirkte kirchenauflösend, weil einmal das Verhältnis von Rechtfertigung und Heiligung nicht richtig bestimmt war und ein übergroßer Nachdruck auf das eigene Tun des Christen fiel, so daß die Grundwahrheit der Rechtfertigung des Sünders allein aus Gnade erschüttert wurde. Sodann zerstörten die Konventikel, die collegia pietatis die Kirche von innen her: die Gruppe trat an ihre Stelle, in der Gruppe geschah die eigentliche Übung der Frömmigkeit. Schmid räumte wohl ein, daß sich Spener ehrlich und eifrig um die Gottseligkeit, die wahre Frömmigkeit und den vollen Gehorsam gegen Gott bemüht hatte, aber er hatte eben falsche Schwerpunkte gesetzt. Wenn er davon ausgegangen war, daß Luthers Reformation unvollendet war, daß sie nur einen Anfang, einen Ansatz bedeutete, so lag darin der erste und grundstürzende Irrtum. Die Herabsetzung der Leistung, welche Luther und seine Mitarbeiter vollbracht hatten, gehörte zum Wesen, zur Selbstdarstellung und zur Selbstrechtfertigung der pietistischen B e w e gung. Hier Schloß er sich voll an Valentin Ernst Löscher an, der nach seiner Überzeugung das Wesen des Pietismus zutreffend erfaßt hatte. Dazu fügte er die Hervorhebung dessen, was die Orthodoxie tatsächlich für Kirchen7

Heinrich Schmid, Die Geschichte des Pietismus, Nördlingen 1863, S. III.

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tum, Glauben, Seelsorge und Volkserziehung getan und geschaffen hatte. So beurteilte er die Gemeinden des 17. Jahrhunderts ausgesprochen günstig - nicht als verfallen und halb tot, wie es in den pietistischen Schriften zu lesen war. Nur in einem Punkte erkannte er eine deutliche Schranke der Reformation Luthers: Es fehlte ein echtes, funktionierendes Kirchenregiment. Die Kirchenordnung war nicht gelungen. Jedoch bedeutete es angesichts dieses Mangels ein um so größeres Verdienst, daß die Gemeinden in der Weise gebaut und geleitet wurden, wie es tatsächlich im 17. Jahrhundert geschah und daß in solcher Kraft der Dreißigjährige Krieg bestanden wurde. In dem Hinweis auf die fehlende Kirchenordnung, deren Versäumnis Luther damit begründete, daß er die Leute nicht dazu habe und alles allmählich wachsen lassen wollte, Schloß sich Schmid an Theophil Großgebauers (1627-1661) Wächterstimme aus dem verwüsteten Zion (1661) an, aus der er reichlich zitierte. Dabei entging ihm offenbar, daß der Rostocker Pfarrer und Professor aufs stärkste unter reformiertem Einfluß stand. Ihn wollte er nicht als Wegbereiter des Pietismus gelten lassen, meinte vielmehr, daß er in seinem betonten Institutionalismus den institutionellen Grundcharakter des orthodoxen lutherischen Landeskirchentums fortführte. Forschungsgeschichtlich waren die folgenden Erkenntnisse und Urteile in dieser Darstellung des Pietismus bemerkenswert: 1. Die lutherische Orthodoxie wurde eindeutig positiv bewertet und dies mit ihrer Leistung im Dreißigjährigen Kriege begründet. 2. Der Pietismus wurde als kirchenauflösend beurteilt. In der schroffen Gegenüberstellung zwischen institutioneller Kirche und individualistisch angelegter Gruppe wurde hier derselbe Gegensatz erkannt, der sich im 20. Jahrhundert zwischen den beiden Führergestalten der evangelischreformierten Theologie in der deutschen Schweiz abspielte: Karl Barth trat für die Kirche und gegen die Gruppe ein, während Emil Brunner die Gruppe als Helferin zur Kirche pries. 3. Der evangelisch-reformierte, dem evangelisch-lutherischen Charakter entgegengesetzte und ihn an der Wurzel bedrohende Ausgangspunkt und die entsprechende Grundeinstellung wurden hervorgehoben. 4. Das Wesen des Pietismus wurde weitgehend auf die „Konventikel" festgelegt - eine Stellungnahme, die lange und weithin nachwirkte, zum Teil sogar bis zu Johannes Wallmann heute. 5. Die Akzentverschiebung von Rechtfertigung auf Heiligung wurde stark hervorgekehrt und damit der Pietismus theologisch - wenn auch negativ — interpretiert und qualifiziert. 6. Die Kritik an der Reformation Luthers wurde vom kirchenrechtlichen, kirchenverfassungsmäßigen Gesichtspunkt aus deutlich und nachdrücklich geübt. 7. Z u m ersten Male wurde Valentin Ernst Löschers theologische Ableh-

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nung des (hallischen) Pietismus in der modernen Forschung ernstgenommen, wenngleich sich Heinrich Schmid vorschnell mit ihr identifizierte. Alle diese Gesichtspunkte enthielten ein Korn Wahrheit, und es ist bezeichnend, daß sie in der Folgezeit nicht verlorengingen, sondern immer wieder einmal aufgenommen, teilweise eingeschränkt, teilweise sogar verschärft wurden. Schmid hatte sie alle anspruchslos, nüchtern und gewissenhaft aus den Quellen belegt vorgebracht. Das hochfahrend abwertende Urteil, das Albrecht Ritsehl über sein Buch fällte, war bei der großen Autorität und dem weitreichenden Einfluß des Rezensenten freilich geeignet, seine Erkenntnisse zu verdunkeln und ihren Wert zu schmälern. Vielleicht erst heute ist es klar, was er bedeutete und wie stark er den Fortgang der Forschung forderte, ohne darauf besonders zu pochen. Nach ihm widmete sich der streitbare hessische Kirchenhistoriker Heinrich Heppe (1820-1879), der grimmige Widersacher des ebenso kämpferischen August Vilmar (1800-1868), beide in derselben theologischen Fakultät zu Marburg an der Lahn tätig, der Erforschung des Pietismus. Sein Buch Geschichte des Pietismus und der Mystik in der reformierten Kirche, namentlich der Niederlande, in Leiden bei E. J . Brill (!) 1879 erschienen, was das letzte, das aus seiner Feder hervorging. Er hatte einen großen Teil seines verhältnismäßig kurzen Lebens mit dem umständlichen, immer wieder erneuten Nachweis verbracht, daß die melanchthonische, „philippistische" Abwandlung der Reformation Luthers die eigentlich zukunftsträchtige, fortschrittliche Linie darstellte und in der evangelischen Kirche Hessens Gestalt gewonnen habe. Mit diesem Buche über den Zusammenhang und Unterschied zwischen Mystik und Pietismus wandte er sich einem neuen T h e m a zu, und es ist von da aus verständlich, daß ihm manch anfängerhaft wirkender Zug anhaftete. In vorbildlicher Methode, hinter welcher eine Größe wie Ritsehl später zurückfiel, begann er mit einer Wesensbestimmung, in welcher er die Mystik voranstellte, offensichtlich aus zwei Gründen: Einmal war sie die frühere und mehr umfassende der beiden fraglichen Bewegungen. Zweitens ließ sie der Pietismus, wenn er auch sich ihr im Anfang bis zu einem gewissen Grade verbunden und verpflichtet fühlen mußte, hinter sich und gewann sein eigenes Profil. Auch er griff wie Heinrich Schmid Speners Tadel an der Reformation auf. Diese war auch ihm unvollendet hauptsächlich in der Frage der Kirchenordnung. Für ihn begann der Pietismus bereits im 16. Jahrhundert auf der Universität Cambridge mit dem dort gepflegten Puritanismus. Er wanderte dann nach Schottland, nach England, nach den Niederlanden und von dort nach Deutschland. Man erkennt deutlich, daß es ihm um die Unterstreichung des reformierten Charakters zu tun war. Er führte die Reformation des 16. Jahrhunderts insofern mit Nachdruck fort, als er sich gegen die Reste des Papsttums wandte, vor allem im Kirchenrecht, wie dem hierarchischen Aufbau, wozu auch der Kirchenpatronat gehörte. Sein Grunddatum wurde demgemäß neben der Gottseligkeit, der entscheidend ethisch

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aufgefaßten praxis pietatis, das allgemeine Priestertum aller Gläubigen, das nach seiner - anfechtbaren - Meinung zuerst die Puritaner in England gegen die bischöfliche Struktur der Kirche geltend machten. Weiterhin wertete er die reine Lehre und ihren formelhaften Ausdruck, das Glaubensbekenntnis, ab zugunsten des Gott gehorsamen Lebens in der Heiligung. Der Gesichtspunkt der Nachfolge Jesu gewann eine beherrschende Stellung. Die Mittel, wodurch der Pietismus seine Grundsätze einfuhren und zu wirklichem Leben bringen wollte und auch weithin brachte, waren die Konventikel, die hier wie bei Heinrich Schmid ein besonderes Gewicht zugebilligt erhielten, weiterhin die Erziehungsanstalten, wodurch erstmalig die große pädagogische Leistung der Bewegung von innen her begründet wurde, schließlich bestimmte asketische Pflichten, die eingeübt und in der Andachtsliteratur empfohlen wurden. Es entsprach der Zurückdrängung, welche die theologisch saubere reine Lehre erlitt, daß der Pietismus zum Unionismus tendierte. Die Konfessionen wurden von der Sache her gleichgültig. Schließlich hob Heppe den missionarischen Eifer hervor. Zwei Züge betrachtete er als von der Mystik entlehnte Eigentümlichkeiten, welche nicht zu ihm gehörten, aber sich häufig mit ihm verbanden: den Chiliasmus und die enge, beinahe physische Gemeinschaft, wenn nicht Identifikation des Gläubigen mit Jesus Christus. Alle diese Beobachtungen und Urteile zeigten, wie gründlich sich der Verfasser mit den Quellen vertraut gemacht hatte. Z u m Nachweis des spezifisch reformierten Charakters fugte er eine folgendermaßen konstruierte Vorgeschichte des Pietismus an: Die Föderaltheologie des Johannes Koch (Coccejus) (1603-1669), die nicht von diesem erfunden sei, sondern von Heinrich Bullinger (1503-1575), dem Mitarbeiter und Nachfolger Zwingiis, stammte, wirkte im Sinne einer verstärkten Ernstnahme der Bibel nach Deutschland - auf Spener durch die Vermittlung von Labadie, den er in G e n f hörte. Dadurch sei der Pietismus von Anfang an zur Bibelbewegung prädestiniert gewesen und habe darin seine Überlegenheit über die lutherische Orthodoxie und seinen Anschluß an die Reformation erhalten. Ü b e r die bislang bekannten Erkenntnisse bestand das Neue, das Heppe in die Diskussion über den Pietismus einbrachte, in folgenden Zügen: 1. Er bestimmte klar den Unterschied und die Gemeinsamkeit von Pietismus und Mystik, auch wenn er dabei zu äußerlich verfuhr. Er ging damit auf eine Art theologischer Phänomenologie der Bewegung, bzw. sogar beider Bewegungen zu, die wegweisend war. Ermächtigt dazu hatte ihn seine vorausgehende Beschäftigung mit der romanischen Mystik (Geschichte des Quietismus in der katholischen Kirche, 1875). 2. Er bemühte sich um eine überaus vollständige Wesensbestimmung des Pietismus, die neben den bekannten Zügen wie der praxis pietatis und den Konventikeln vor allem das allgemeine Priestertum zur Geltung brachte, selbst wenn er den Gegensatz, in dem es zum hierarchisch

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aufgefaßten P f a r r a m t der evangelisch-lutherischen O r d n u n g stand, etwas übertrieb. 3. E r näherte den Pietismus der r e f o r m i e r t e n T r a d i t i o n an, o h n e ihn einfach m i t ihr gleichzusetzen u n d v e r f u h r darin m e t h o d i s c h feiner als i m 20. J a h r h u n d e r t E r n s t Troeltsch u n d Walther Köhler, die solche Gleichsetz u n g vollzogen. 4. E r erkannte klarer als die Forscher v o r i h m den Biblizismus als G r u n d z u g , der nivellierend auf die konfessionellen Unterschiede wirkte. I m ganzen w a r freilich sein W e r k eher grundsätzlich, systematischtheologisch als beschreibend u n d erzählend gerichtet. D a d u r c h unterschied es sich a m stärksten v o n T h o l u c k , der das S c h w e r g e w i c h t auf Z u s t a n d s schilderungen gelegt hatte. D e r Beitrag v o n H e p p e s D e u t u n g des Pietism u s , die i m scharfen Gegensatz zu Heinrich Schmid positiv gehalten w a r , k a n n k a u m überschätzt w e r d e n . E r ist bisher nicht g e n ü g e n d ins B e w u ß t sein getreten. A u f den Ergebnissen aller bisher genannten Forscher baute der Gelehrte auf, der als einziger bisher eine theologisch konzipierte u n d weithin k o n s e q u e n t d u r c h g e f ü h r t e Gesamtdarstellung vorgelegt hat, Albrecht Ritsehl (1822-1889). Seine Geschichte des Pietismus, in drei B ä n d e n v o n 1880-1886 vorgelegt, ist v o n keiner späteren B e h a n d l u n g ü b e r t r o f f e n oder ersetzt w o r d e n . Das hat m e h r e r e Gründe: Z u n ä c h s t einen rein stofflichen: Alle bisherigen Geschichten des Pietismus w a r e n Torsi. Erst er n a h m sich die g e s a m t e B e w e g u n g v o r u n d wollte sie ursprünglich bis einschließlich der der E r w e c k u n g i m 19. J a h r h u n d e r t f ü h r e n . Sodann lag die Ü b e r l e g e n heit seines Werkes in der entschiedenen theologischen G r u n d h a l t u n g . D r i t t e n s gab er trotz seiner d u r c h w e g festgehaltenen G e s a m t l i n i e n f u h r u n g eindrucksvolle Einzelbilder, er b e w ä h r t e die Liebe z u m Detail. I m m e r h i n ist die starke W i r k u n g unter anderen Gesichtspunkten rätselhaft. D e n n Ritsehl stand seinem Gegenstand mit ausgesprochener A b l e h n u n g gegenüber. Bis zu einem gewissen G r a d e lehnte er sich an Goebel, aber auch an H e p p e an! M i t Goebel verband ihn die G r u n d a u f f a s s u n g , daß der Pietismus ein ermäßigtes W i e d e r t ä u f e r t u m sei, daß ihn vieles mit d e m s o g e n a n n t e n „linken Flügel der R e f o r m a t i o n " verbinde. E r w a r aber keinesfalls die V o l l e n d u n g der R e f o r m a t i o n , sondern ihr Widerspiel, ihr sachliches Gegenteil. W e r zur R e f o r m a t i o n , insbesondere zu M a r t i n Luther Ja sagte, m u ß t e z u m Pietismus N e i n sagen. Dieser m u ß t e als die k a u m gebrochene, eher als die genaue Fortsetzung der spätmittelalterlichen M y stik angesprochen w e r d e n . Insbesondere B e r n h a r d v o n Clairvaux kehrte hier m i t seiner an das Hohelied Salomos angeschlossenen M y s t i k wieder. Als die wesentlichen Z ü g e des Pietismus zählte er auf: den Individualismus, den Heilsegoismus, der die „ B e k e h r u n g " als Beseligung faßte, die Gesetzlichkeit, die K o n t e m p l a t i o n als vermeintliche V o l l k o m m e n h e i t , die N e i g u n g z u m Separatismus aus geistlichem H o c h m u t . N a h e z u jeder, erst recht sie in ihrer Gesamtheit standen i m Gegensatz zu Ritschis eigener theologi-

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scher Wertskala. Denn er betonte die Gemeinschaft, dargestellt in der Volkskirche, das Reich Gottes als Leitbegriff der Theologie wie der christlichen Existenz des einzelnen, die Freiheit, die sittliche Aktivität. Immerhin gestand er zu, daß der Pietismus auf dem Boden des Rechtfertigungsglaubens blieb. Durch diesen polemischen Ausgangspunkt, dessen durch und durch subjektive Färbung überall durchschimmerte, und durch den für einen Systematiker erstaunlichen Verzicht einer Wesensbestimmung zu Anfang, wie sie vor allem Heppe gegeben und Schmid am Ende als Krönung geboten hatten, beraubte sich Ritsehl einer überzeugenden Erzählung dessen, was unter dem Namen des Pietismus geschehen war. Er übersah ganz entscheidende Elemente wie die zentrale Stellung der Wiedergeburt des einzelnen, das allgemeine Priestertum, den ethischen Aktivismus in der Formel vom „lebendigen" Glauben, und bewertete andere zu hoch wie vor allem die erotische Mystik, für die er im wesentlichen auf Arnold, Zinzendorf und Tersteegen fußte, weil ihm Spener, Francke, Bengel und Oetinger keine Anhaltspunkte dafür boten. Er unterschätzte die kirchliche Verpflichtung, der auch ein freilich selten artikulierter Kirchenbegriff entsprach, ebenso wie die Weltverantwortung, die sich in einer lebendigen Hoffnung auf Weltverwandlung kundgab. Weil dem ganzen, überaus eindringend gearbeiteten Werke eine aus den Quellen geschöpfte Wesensbestimmung des Pietismus fehlte, entstand die Gefahr, die Bewegung als Rückschritt ins Mittelalter zu betrachten. Auch entging Ritsehl völlig, wie ernsthaft sich der Pietismus um Anknüpfung an Luther, um Wiederaufnahme seiner Anliegen, um kirchliches Handeln in seinem Sinne bemüht hatte. Ebensowenig nahm er wahr, wie stark er selbst vom Pietismus abhing: sowohl sein Glaubensbegriff, der unter dem Eindruck des neutestamentlichen Liebesgebots wie unter dem ethischen Rigorismus von Kants kategorischem Imperativ ein in der Liebe tätiger Glaube war, als auch sein subjektiver auf der eigenen Erfahrung ruhender Bekenntnisbegriff, der in betonten Gegensatz zu dem objektiven neulutherischen von Theodosius Harnack trat, trugen ein pietistisches Gepräge! Weiterhin wies sein Gottesbild, das auf den Zorn verzichtete zugunsten der uneingeschränkten Liebe eher auf den Pietismus und seinen Testamentsvollstrecker Schleiermacher zurück als auf Luther und die anderen Reformatoren, die im Gegensatz von Gesetz und Evangelium als einer Realdialektik dachten. Erwägt man das alles, so kann man nur erstaunen, einmal über das bedeutende Werk, das er als Geschichte des Pietismus zustande brachte, sodann über die bedeutende Wirkung, die es hervorbrachte. Es ist eines der im ganzen seltenen Beispiele dafür, wie ein aus der Abneigung stammendes Bild, auch wenn es in wesentlichen Punkten verzeichnet ist, auf seine Betrachter tiefe Wirkungen ausüben kann. Ritsehl begann seine Darstellung, die er aus historischen Gründen konfessionell aufteilte, weil durch die Bücher von Goebel und Heppe inzwischen klar erwiesen schien, daß die eigentlichen pietistischen Eigentüm50

lichkeiten, nämlich das R e f o r m v e r l a n g e n u n d die Konventikel als seelsorgerliche u n d zur Pflege des christlichen Lebens eingerichteten Intensivg r u p p e n , schon v o r h e r auf r e f o r m i e r t e m B o d e n zu finden waren, mit der r e f o r m i e r t e n Kirche der Niederlande. Die Frage, inwieweit die späteren E r s c h e i n u n g e n auf lutherischem B o d e n d a v o n abhängig seien, erörterte er nicht bis auf gelegentliche B e m e r k u n g e n . M a n g e w i n n t ü b e r h a u p t den E i n d r u c k , daß er derartigen U n t e r s u c h u n g e n keine besondere A n t e i l n a h m e entgegenbrachte. Viel stärker w i r d sein E n g a g e m e n t bei den grundsätzlichen Fragen, v o r allem bei der H a u p t f r a g e , ob der betreffende M a n n , die b e t r e f f e n d e religiöse Ü b u n g , das betreffende W e r k reformatorischen oder mystischen C h a r a k t e r trägt. Bisweilen w i r k t seine Urteilsbildung wie eine V o r w e g n a h m e v o n E m i l B r u n n e r s an Schleiermachers Glaubenslehre entwickelter Alternative: die M y s t i k oder das W o r t . Infolgedessen erreichte er keine wirklich genetische D a r b i e t u n g . Die Einzelbilder herrschen vor. E r sagt es nicht direkt, aber er läßt ahnen, daß nach seiner Ü b e r z e u g u n g in den N i e d e r l a n d e n der T y p u s des pietistischen C h r i s t e n t u m s ausgebildet w o r d e n ist. D a b e i unterläßt er, auf f u n d a m e n t a l e Tatsachen hinzuweisen wie diejenige, daß die kleine Universität Franeker durch das W i r k e n v o n William A m e s (Guilelmus Amesius 1576-1631), d e m Schüler u n d Fortbildner v o n William Perkins (1558-1602) v o n C a m b r i d g e , d e m ersten T h e o l o gen des Puritanismus, i m 17. J a h r h u n d e r t europäisch-ökumenischen R a n g erreichte, u n d ebenso, daß Amesius in seiner Antrittsvorlesung die jesuitische Beichtkasuistik mit d e m zugrundeliegenden Gewissensbegriff als V o r b i l d f ü r die evangelische T h e o l o g i e empfahl. Bei der B e h a n d l u n g der E n t w i c k l u n g auf lutherischem, d. h. i m w e s e n t lichen auf d e u t s c h e m B o d e n m a c h t e er, wie zu erwarten, die mystischen S t r ö m u n g e n u n d Lehrbildungen n a m h a f t , aber nicht Valentin Weigel oder J a k o b B ö h m e ; auch Schwenckfeld schenkte er keine besondere B e a c h t u n g . Die entscheidende Schlüsselfigur w u r d e vielmehr J o h a n n Arndt (1555-1621) u n d die an ihn anschließende unio mystica als Kernstück des o r d o salutis. Spener b e s t i m m t e er treffend in seiner Zwischenstellung zwischen der O r t h o d o x i e u n d d e m N e u e n , das dann den N a m e n „Pietism u s " e m p f i n g . E r erkannte sein Festhalten an der Rechtfertigungslehre, ebenso sein Gewichtlegen auf die Lebendigkeit des Glaubens, die sich in den W e r k e n der Liebe k u n d t a t . A u c h sonst charakterisierte er weithin richtig. Francke freilich beurteilte er n u r nach seinen A n w e i s u n g e n z u m S t u d i u m der Theologie. S o w o h l seine Predigten, w o z u die entscheidend w i c h t i g e n K a t e c h i s m u s p r e d i g t e n gehören, als auch die v o n i h m i m m e r w i e d e r bearbeitete u n d geliebte Schrift Nikodemus oder von der Menschenfurcht (1701) ließ er außer acht. Infolgedessen gelangte er zu f o l g e n d e m v e r k ü r z t e n Urteil: „ A n praktischen Gedanken also, deren theoretischer W e r t zugleich einleuchtet, hat es Francke nicht gefehlt. W a r u m hat er d e n n o c h der T h e o l o g i e i m Ganzen nicht weiter zu helfen v e r m o c h t ? " Hier k ö n n t e m a n bereits die Fragestellung anfechten. D e n n w a r das die A u f g a -

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be, die ihm, d e m Alttestamentier und Praktiker, d e m Katecheten und Organisator, zuerst gestellt war? Ritsehl fuhr fort: „Diese Frage findet ihre A n t w o r t aus der Tatsache, daß er die notwendige Wechselbeziehung zwischen Theologie und Kirche nicht erkannt hat, und die individuelle Heilsordnung, die das theologische Studium einfassen soll, ebenfalls außer aller Beziehung zur Kirche darstellt. Dadurch verkürzt er zunächst den notwendigen U m f a n g der christlichen Lebensansicht. Die Vorbereitung z u m theologischen Studium durch Gebet und Meditation über die heilige Schrift setzt, nach Francke, eigentlich den Stand der Wiedergeburt voraus; aber durchgehends mutet er jene Leistungen zum Gewinn des heiligen Geistes als die Praxis der Selbstbekehrung denen zu, welche er eben dadurch als unwiedergeboren annimmt, oder welche sich selbst dahin beurteilen sollen. Denn das Zugeständnis, der Durst und das brennende Verlangen nach Gnade sei schon Gnadengabe, ist bloß theoretisch gemeint. Für das praktische Bewußtsein, welches Francke in seinen Z u h ö r e r n anregen will, soll jedoch dieses Urteil nicht gelten. Dieselben ruft er stets und überall nur zu gründlicher Buße auf ohne ihnen gemäß der Taufe den Stand der Gnade zu gute k o m m e n zu lassen . . . (S. 258) . . . Die gründliche Selbstprüfung auf die Sünden gehört zum Vorgange der Bekehrung; aber in diesem Bußkampf soll man sich nicht niederwerfen lassen, sondern sich mit der Gnade und Treue Gottes trösten und mit seinem Gebet getrost ins Heiligtum eingehen, in welches Christus vorangegangen ist. Man soll sich nicht in ein gesetzliches Streben begeben, das einen Angstzwang in sich hätte, daß der Mensch darüber von Sinnen k o m m e n m ö c h t e . " 8 Ritsehl mischt hier Richtiges und Falsches. Richtig erkennt er, daß die Buße aus d e m Angebot der Gnade, also aus dem Evangelium, k o m m e n soll. Jedoch war hier Francke nicht einheitlich. Unzutreffend ist die Bezeichnung des Vorgangs als B u ß k a m p f . Ein solcher scheint erst nach Franckes T o d e unter seinem Sohne in Halle eingeführt oder gar auferlegt worden zu sein. Ebenso trifft die ungenügende Berücksichtigung und Einbeziehung der Kirche in das theologische System nicht zu. Fehl ging Ritsehl bei Zinzendorf, den er weithin zur Mystik schob. Hier w a r er von den theologischen Bedenken Baumgartens abhängig. Immerhin entdeckte er - auf Grund der 21 Discurse über die Augsburgische Confession (1747/48) und im Anschluß an das große Werk von Bernhard Becker über Zinzendorfs Verhältnis z u m Kirchentum und zur Philosophie seiner Zeit (Leipzig 1886) - die Mittelstellung des ins Fleisch gekommenen, geschichtlichen Jesus Christus, die der mystischen Anschauung ins Gesicht schlug. Er hat Anlaß, sein von da aus bestimmtes Abweichen von der Schultheologie zu loben, was bis zur Ablehnung der Inspirationslehre geht.

8 Albrecht Ritsehl, Geschichte des Pietismus. Zweiter Band: Geschichte des Pietismus in der lutherischen Kirche des 17. und 18. Jahrhunderts, Erste Abteilung, Bonn 1884, S. 257 f.

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Auch die innere Verwandtschaft mit Luthers Gesamtauffassung wurde ihm, Ritsehl, deutlich. Im ganzen bedeutet sein dreibändiges Werk einen großen Fortschritt in der Forschung. Es ist mehr die Gesamtauffassung als die Einzeldarstellung anzufechten, in welcher vielmehr Sorgfalt waltet. Allerdings, wie bemerkt, war die Gefahr, daß sie in Einzelbilder zerfloß, nicht durchweg gebannt. Die Stärke des Verfassers lag naturgemäß in der theologischen Interpretation, und darin bleibt diese Geschichte des Pietismus methodisch verpflichtend. Keine künftige kann dahinter zurückgehen. Mangelhaft und einseitig ist die Auswahl der Quellenstücke, auf denen die Urteile aufgebaut sind. Die folgenden Punkte waren für den Fortgang der Forschung bedeutsam: 1. und vor allem: Der Pietismus wurde dogmatisch, d.h. sachlichtheologisch gewürdigt nach seinen Anliegen, Zielen und Motiven - erst danach nach seinen Wirkungen. Hier lag ein tiefer Unterschied zu Tholucks Methode vor. Ja, man kann dies dahin verschärfen: Es wurde der umgekehrte Weg zu seiner Art beschritten. Dazu gehört, daß der Pietismus auf das reformatorische Christentum Luthers bezogen wurde - wie er es selber anstrebte. Wenn Ritsehl das auch einseitig tat und ihn von der Reformation aus abwertete, war es bedeutsam, daß es ernsthaft geschah, mit weit größerem Ernst als bei dem Neulutheraner Heinrich Schmid. 2. Die Vorherrschaft des reformierten Elements war proklamiert und durchgeführt. 3. Die Individualisierung der einzelnen Vertreter und Kreise war gewährleistet, auch, mindestens im Ansatz, der Württemberger. 4. Es wurden von Ritsehl eindringende Analysen geboten, wobei er stets auf das Verhältnis zum Neuen Testament und zum reformatorischen Christentum achtete. Freilich drohte hier die Gefahr, daß sein eigenes Lutherverständnis die N o r m schlechthin abgab. Seit Albrecht Ritsehl erhielt die Pietismusforschung leicht einen bekennenden Charakter. Ritschis Gesamtdarstellung wurde flankiert und ergänzt durch biographische und regionalgeschichtliche Fleißarbeiten, unter denen an erster Stelle Paul Grünbergs dreibändige Biographie und Würdigung Speners (Göttingen 1893-1906) und die zweibändige Biographie Franckes von Gustav Kramer (Halle 1880-1882) zu nennen sind. Hier kam es jeweils auf Genauigkeit, weniger auf theologische Beurteilung und Eingliederung in den Gang der Entwicklung in Theologie und Kirche an. Beide Verfasser gaben sich große Mühe, und ihre Leistungen waren für ihre Zeit beachtlich, zumal Kramer, der juristische Direktor der Franckischen Stiftungen, aus dem reichen Archivmaterial schöpfen konnte. Grünbergs Spenerbiographie, neben dem elsässischen Pfarramt erstellt, war namentlich durch eine im letzten Bande gebotene Bibliographie mit Wirkungs geschieh te einzigartig, auch in methodischer Hinsicht. Er hatte mit unsäglicher Ge53

duld alle E r w ä h n u n g e n des Pietistenführers in späteren Schriften aufgesucht und mitgeteilt. Im rein Biographischen hat die neue Arbeit von Johannes Wallmann, Philipp Jakob Spener und die Anfinge des Pietismus (Tübingen 1970) eine Reihe von Fehlern aufgedeckt und berichtigt. V o n allen Spielarten des Pietismus war i m m e r die herrnhutische am besten erforscht, weil hier eine lebendige, geistig hochstehende Trägerschaft das Erbe des Gründers als besondere Gemeinschaft fortführte und die Kette nie abriß, außerdem ein vorzüglich geordnetes Archiv zur V e r f u g u n g stand. In dieser Generation tat Bernhard Becker mit seinem Buche, Zinzendorf im Verhältnis zu Philosophie und Kirchentum seiner Zeit (Leipzig 1886, 2 1900) 9 das Entscheidende. Er erkannte die Z u s a m m e n g e h ö rigkeit des Grafen mit Luther und legte das so eindrücklich dar, daß sich Ritsehl, der damals seinen dritten Band schrieb, weitgehend an ihn anschloß. Gerade auch dieser Beitrag erwies sich in der Folgezeit als unentbehrlich. Auf i h m bauten die Zinzendorfforscher des 20. Jahrhunderts auf und rückten den Grafen noch enger an Luther heran. Die Biographien konnten freilich höheren Ansprüchen nicht genügen. Denn einerseits isolierten sie ihren Helden - außer Becker, der schon den Titel anders gewählt hatte. Andrerseits stellten sie die entscheidende Frage nicht, inwieweit die M ä n n e r die B e w e g u n g leiteten und inspirierten oder nur ihre Exponenten waren. Auch sonst fehlten psychologische und theologische Gesichtspunkte, die man hätte einbringen können. Infolgedessen m u ß man i m allgemeinen für die genaue Wiedergabe des Hergangs, des Lebensgangs, dankbar sein. Eine A u s n a h m e bildete allerdings die Biographie Gottfried Arnolds durch Franz Dibelius (Berlin 1873). Hier war, wenn auch v o m positivistischen Standpunkt aus ein echter Versuch u n t e r n o m m e n , in das Geheimnis der Persönlichkeit einzudringen, die besondere Prägung durch Mystik und Separatismus zu beurteilen und die theologische Leistung angemessen zu erfassen. Dadurch daß der Verfasser, damals Privatdozent in Berlin, aus dem akademischen Lehramt ausschied und Mann der Kirche im K ö n i g reich Sachsen wurde, w o er bis zur höchsten W ü r d e des O b e r h o f p r e d i gers, des Vorläufers des Landesbischofsamtes, aufstieg, folgten keine Fortsetzungen ähnlicher Art, die er sonst vermutlich angeregt hätte. Es bleibt erstaunlich, daß er bereits als 26jähriger ein solches reifes Buch vorlegen konnte; darin Gottfried Arnold selbst verwandt. Die regionalen Forschungen blieben vereinzelt. Es ist leider unmöglich, sie hier vollständig zu verzeichnen. Einzelne, besonders wichtige und wegweisende, gehören erst dem 20. Jahrhundert an und werden dort ihre E r w ä h n u n g e n finden. Im ganzen gilt, daß sich die regionalen kirchengeschichtlichen Vereine und Arbeitsgemeinschaften im 19. Jahrhundert noch nicht d e m zeitlich zu naheliegenden Pietismus, d . h . dem 18. Jahrhundert 9

Die zweite Ausgabe hat als Titel: Zinzendorf und sein Christentum im Verhältnis zum kirchlichen und religiösen Leben seiner Zeit.

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widmeten, sondern dem Mittelalter und der Reformationszeit. So fallen die Hauptforschungen und Darstellungen erst ins 20. Jahrhundert. Das gilt insbesondere von der emsigen Arbeit, welche Theodor Wotschke, der gelehrte Dorfpfarrer in Pratau bei der Lutherstadt Wittenberg, durch die Durchstöberung zahlreicher Archive leistete. Eine regionalgeschichtliche Arbeit muß jedoch besonders hervorgehoben werden, weil sie an Sorgfalt, Umsicht und theologischem Gehalt einen hohen Rang einnimmt, das Buch von Ludwig Renner, Lebensbilder aus der Pietistenzeit (Bremen und Leipzig 1886). Hier wurden nacheinander Johann Adam Steinmetz, Samuel Lau und Samuel Urlsperger behandelt. Der erste wirkte in Teschen, Neustadt an der Aisch in Mittelfranken und zuletzt als Abt und Generalsuperintendent für Magdeburg im Kloster Bergen, der Tochteranstalt des hallischen Waisenhauses. Lau führte den bedeutenden, Francke und Halle besonders nahestehenden Pietismus in der Grafschaft Stolberg-Wernigerode, Urlsperger, der erst württembergischer Pfarrer und Hofprediger war, dann aber nach Verlust seines Amtes, weil er, der Ermahnung August Hermann Franckes folgend, an der Mätresse Wilhelmine von Grävenitz des Herzogs Eberhard Ludwig seelsorgerlichen Tadel geübt hatte, Superintendent von Herrenberg und Senior von Augsburg war, sorgte für die Salzburger Emigranten gemeinsam mit August Hermann Franckes Sohn Gotthilf August, namentlich für denjenigen Zweig, der in die neugegründete Kolonie Georgia in Nordamerika auswanderte. Renners genaue Untersuchung lieferte ein anschauliches Kleinbild für jeden der drei Männer und gab damit Auskunft über die konkrete Auswirkung des Pietismus in einem begrenzten Gebiet und durch Gestalten zweiten Ranges. Überblickt man das alles und nimmt es zusammen, so hatte das 19. Jahrhundert in der Erforschung des Pietismus mächtige Schneisen geschlagen. A u f diesen Leistungen und Erkenntnissen konnte das unsrige sicher weiterbauen, obwohl durch die enormen Kriegsverluste und Verlagerungen, teilweise ins Ausland, wichtige Quellen verlorengegangen und unbenutzbar geworden sind.

2. Die Fortfohrung

durch das 20.

Jahrhundert

a) Die Zeit von 1900 bis zum Ersten Weltkriege (1914) Die anderthalb Jahrzehnte v o m Beginn unsres Jahrhunderts bis zum Ersten Weltkriege wird man später einmal in der Rückschau als die Hochblüte historischer Forschung bezeichnen. Das gilt auch für die Kirchengeschichte. Das zu Ende gegangene 19. Jahrhundert war die Epoche des Historismus, der fortlaufenden Erschließung von gedruckten und handschriftlichen Quellen und der Archive, der nahezu unbeschränkten

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finanziellen Mittel fur Reisen, Editionen und sonstige Drucke, der Fülle von begabten, an der Historie interessierten und zu aufopfernder Forscherarbeit bereiten j u n g e n Mitarbeitern. In der Theologie ist diese Zeit einerseits gekennzeichnet durch die Vorherrschaft der liberalen Theologie, als deren glänzender, eleganter Vertreter der deutschbaltische Gelehrte Adolf Harnack (1851-1930) galt. Es w a r bedeutungsvoll, daß er der Kirchengeschichte diente und sie zu besonderem Glänze führte. Wenn auch seine eigene überragende Leistung auf d e m Felde des kirchlichen Altertums lag, so strahlte sie doch auf die anderen Epochen aus. D e m theologischen Liberalismus, wie er in radikaler Zuspitzung durch Ernst Troeltsch (1865-1923) verkörpert war, einem M a n n , dem, o b w o h l Systematiker, Religionsphilosoph und Soziologe i m Gefolge M a x Webers, die neuzeitliche Kirchengeschichte und Geistesgeschichte am Herzen lagen, stand als Gegenpol die konservative Theologie des N e u l u t h e r t u m s gegenüber. Ihre Wortführer waren i m systematischen Felde Ludwig Ihmels (1858-1933), auf historischem der Neutestamentier T h e o d o r Z a h n (1838-1933). Bei dem Erstgenannten lag eine pietistisch mitbestimmte O r t h o d o x i e vor. Das m u ß t e auch der Bewertung des geschichtlichen Pietismus zugute k o m m e n , zumal dieser sich in seiner N e u auflage als E r w e c k u n g s b e w e g u n g im 19. Jahrhundert i m m e r mehr als Anwalt des Bibelglaubens gegen die historisch-kritische Bibelforschung und ihre teilweise umstürzenden Ergebnisse dargestellt hatte. Ein M a n n wie T h e o d o r Zahn m u ß t e ihm als wertvoller, nicht aus dem Sattel zu hebender Bundesgenosse erscheinen. Als weitere, selbständige Spielart trat der Biblizismus von Martin Kähler (1835-1912) und Adolf Schlatter (1852-1936) hervor, der sich in der theologischen Fakultät der Universität Greifswald eine eigene Residenz schuf. Z u ihr gehörte auch H e r m a n n C r e m e r (1834-1913), der seine geistige Heimat im niederrheinischen lutherischen Pietismus von Samuel Collenbusch (1724—1803) hatte und somit die Föderaltheologie des Coccejus seit Kindertagen kannte. Auch hier lag eine innere N ä h e z u m Pietismus vor, die sich fruchtbar auswirken mußte. U n t e r den Forschern, die Wesentliches fur den Pietismus leisteten, sind zunächst Carl Mirbt (1860-1929) und Horst Stephan (1873-1954) a u f z u f ü h ren. Mirbt verfaßte den wichtigen, gehaltvollen Artikel „Pietismus" in der Realencyklopädie jtir protestantische Theologie und Kirche (RE 3 ), Bd. 15, S. 774-815. Hier war der Pietismus vorurteilslos im direkten Gegensatz zu Ritsehl und in bewußter Abkehr von seiner Sicht als A u f b r u c h zu neuen U f e r n gewertet. Mirbt, der auch und mit besonderer Betonung Missionswissenschaft und Missionsgeschichte lehrte, legte hohen Wert auf die missionarische Aktivität der Bewegung. Er stellte zuerst den Grundsatz auf, der sich j e d e m Erforscher des Pietismus aufdrängt und in unsern Tagen durch Wallmann erneuert w o r d e n ist: „Die Geschichte der Entstehung des Pietism u s ist z u m großen Teil die Geschichte des Lebens von Philipp Jakob

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Spener." 1 0 Als wesentliche Elemente betrachtete er das persönliche C h r i stentum, die Z u w e n d u n g zur Bibel und ihre A n w e n d u n g im eigenen Leben wie in der Kirche, schließlich die Konventikel, die Kleingruppenarbeit. Z u den negativen Erscheinungen, die mit ihm nicht zufällig, sondern wesensnotwendig verbunden waren, rechnete er die Erschütterung des Kirchenbewußtseins, worin er Tholuck und - abgeschwächt - Ritsehl folgte. N o c h weiter als er ging Horst Stephan in seiner überragend gehaltvollen Schrift, Der Pietismus als Träger des Fortschritts in Kirche, Theologie und allgemeiner Geistesbildung (Tübingen 1908), einer Darlegung, die eines N e u d r u c k s wert wäre. Hiernach erschien der Pietismus so betont als E x p o n e n t des N e u e n und Weiterfuhrenden im allgemeinen kirchlichen, kulturellen und gesellschaftlichen Leben, als Herausbildner neuer Lebensformen, daß der Charakter des Fortschritts die Titelwahl bestimmte. Stephan, der zu meinen theologischen Lehrern zählte und mir viel aus seinen Anfängen berichtete, teilte mir vor 40 Jahren mit, daß er damals die pietistische Quellenliteratur in Waschkörben aus der Gymnasialbibliothek in Zittau, w o er als Oberlehrer tätig war, holte, u m seine Studien zu unterbauen. Sie hat nichts von ihrem Wert verloren und brachte eine Wende in der Forschungsgeschichte. Das ist deswegen bemerkenswert, weil er, der als Kirchenhistoriker begann, dann allerdings auf A u f f o r d e r u n g von Wilhelm H e r r m a n n hin bald zur systematischen Theologie überwechselte, in dieser seiner eigentlichen Disziplin zur Schule Albrecht Ritschis gehörte. In der Beurteilung des Pietismus jedoch wandte er sich völlig von ihm ab. D u r c h ihn erhielt der Protestantismus erstmalig einen Blick für die Weite und Größe des Pietismus. Er war nicht eng, wie Ritsehl gelehrt hatte, sondern weit, nicht starr und gesetzlich, sondern lebendig und frei. Zahlreiche Einzeluntersuchungen haben diese Auffassung inzwischen bestätigt und unterbaut. Mein eigener Beitrag zu dem Sammelband Pietismus und moderne Welt (Witten/Ruhr 1974) unter d e m Titel: „Der Pietismus und das moderne D e n k e n " hat sich bemüht, Stephans Erkenntnisse fortzufuhren. Anders als die beiden Genannten urteilte Wilhelm Koepp (1885) in seiner bahnbrechenden Analyse von J o h a n n Arndts Wahrem Christentum (Berlin 1912; Eine Untersuchung über die Mystik im Luthertum). Als Schüler von Reinhold Seeberg war er d a r u m bemüht, Kirchengeschichte in Geschichte der Frömmigkeit umzuwandeln. Wie Ritsehl war er kritisch bis ablehnend gegen die Mystik und ging soweit, in dem „Wahren Christentum" Johann Arndts den Beginn der römisch-katholischen Gegenreformation zu erblikken, weil damit die Mystik wieder in den Protestantismus einzog - im Widerspruch zu Luther. Er ging mit vorbildlicher Sorgfalt der ersten Wirkungsgeschichte von Johann Arndt und seinen Schriften im Protestan10

Carl Mirbt, RE 3 Bd. 15, Leipzig 1904, Art. Pietismus S. 775, Z. 66.

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tismus nach und leistete damit auch methodisch etwas, was noch nicht vorhanden war. Wilhelm Goeters (1878-1953) gab in seiner Vorbereitung des Pietismus in der reformierten Kirche der Niederlande bis zur labadistischen Krisis i 670 (Leipzig 1911, Neudruck Amsterdam 1974) eine aktenmäßige Geschichte der reformierten Kirchengeschichte der Niederlande im 17. Jahrhundert als nahezu vollständige Frühgeschichte. Er tat das in bewundernswerter Weise mit Sorgfalt und Treffsicherheit, in der Auffindung und Auswertung unbekannter Quellen. Demgemäß stellte sich ihm die dortige Entwicklung, die er denkbar schlicht beschrieb, wie er auch einen sehr einfachen Begriff des Pietismus als „frommes Leben" zugrunde legte, darin an Tholuck anknüpfend, als geradezu urbildlich für den gesamten Pietismus hin. Alles Spätere sei von hier abzuleiten und zu interpretieren. Auch bei ihm sind die Konventikel das für die Bewegung kennzeichnende Mittel des kirchlichen und geistlichen Handelns. In der Hausgemeinde Labadies erblickte er im Grunde die Inkarnation pietistischen Bemühens um die Seelsorge, ebenso in der Separation, die naturgemäß und mit innerer Notwendigkeit daraus folgte. Goeters arbeitete rein historisch, gar nicht dogmatisch. So konnte auch seine eindringende Untersuchung nichts für die Wesensbestimmung des Pietismus erbringen, sondern nur für den geschichtlichen Hergang. Da ist aber seine Auffassung von dem urbildlichen, typenbildenden und strukturbegründenden Charakter der niederländischen Vorgänge etwas Neues in der Forschung. Wie wenig ihn dogmatische Gesichtspunkte leiteten, ergibt sich auch daraus, daß er in keinen Gegensatz zu Ritsehl trat, sondern sich von ihm abkehrte. Trotzdem hat er im Vorwort mit wenigen gehaltvollen Sätzen sein Urteil über die früheren Bearbeitungen deutlich ausgesprochen. An Tholuck hat er die Einbeziehung der Niederlande gelobt, bei Goebel hat er den Materialreichtum, bei Heppe eine ähnliche Leistung gerühmt. Ritschis geistig-theologische Klarheit und Überlegenheit über diese beiden Materiallieferanten hat er anerkannt, aber seine Einseitigkeit in der Grundhaltung und seine entsprechend schiefen Folgerungen getadelt. Er selbst fühlte sich Goebel nächstverwandt und wollte in seiner bescheidenen Art dessen Werk der Methode nach erneuern, d.h. verbessern und gleichzeitig dessen papiernen Stil überwinden. Das Werk von Goeters hatte seine großen Verdienste, und es ist berechtigt, daß es im Jahre 1974 neu gedruckt wurde. Trotzdem haften auch ihm Mängel an. Zu ihnen gehört im stofflichen Bereich vor allem, daß es überhaupt keinen Bezug auf die britische Insel nimmt, w o doch in Amesius ein denkbar bedeutendes Glied die beiden Welten verband. Daß er in der Begriffsbestimmung des Pietismus nichts Neues bot, daß er einseitig auf das reformierte Gebiet fixiert war, kann man hingehen lassen, da es in der Thematik lag bzw. die Wesensbestimmung geleistet schien und damals auch kaum weiter gefördert werden konnte. Trotzdem bedeutete das Werk 58

als gründliche Darstellung eines Teils der Vorgeschichte einen großen Schritt vorwärts, was durch den modellartigen Charakter der niederländischen Vorgänge noch verstärkt wurde. Diese Bücher und Artikel wurden flankiert durch regionale und biographische Untersuchungen. Unter ihnen nahm die Darstellung der Frühgeschichte, welche die Universität Gießen, die erste pietistische, damals durchlief, von Walther Köhler (1870-1946) beschrieben (1909), eine hervorragende Stelle ein. Auch hier war - positivistisch - mit einer vorbildlichen Sorgfalt und Umsicht der Tatbestand im einzelnen entwickelt worden. Der Verfasser, damals Privatdozent an dieser Universität, beschränkte sich nicht auf die Universität selbst, sondern gab eine eingehende Schilderung dessen, was in Hessen-Darmstadt geschah. Für die Forschung wichtig wurde seine Vermutung, daß dort zuerst der Spottname „Pietisten" angewandt worden sei. Eine volle Gewißheit ließ sich nicht erreichen, so blieb es bei der allgemein angenommenen Meinung, daß durch die Streitigkeit in Leipzig um August Hermann Francke und Paul Anton sowie durch das Gedicht Joachim Fellers, das im Zusammenhang damit entstand, der Name aufgekommen sei. Das politische und kirchenpolitische Kräftespiel in Darmstadt machte Köhler ebenso deutlich wie die akademischen Auswirkungen in der aima mater. Jedoch fur die Wesensbestimmung des Pietismus kam nichts heraus und konnte wohl auch nichts herauskommen. Man bedauert, daß ein so hochbegabter und methodisch so zuverlässig arbeitender Gelehrter nie wieder zu dem Thema seiner Jugend zurückgekehrt ist. Seine Berufung nach Zürich brachte ihn ganz in die Zwingliforschung und Reformationsgeschichte. Von ihr wurde seine Kraft absorbiert, zumal er hier Höchstleistungen erreichte wie die Geschichte des Abendmahlsstreites zwischen Luther und Zwingli und die Aufhellung der Kirchen- und Eheordnung in Zürich und Genf, was ihm mit Recht den juristischen Ehrendoktor eintrug. Die letzte Schaffensperiode in Heidelberg bot sowohl durch die BibliotheksVerhältnisse, die für das 18. Jahrhundert hier denkbar ungünstig liegen, als auch durch die Hemmungen des Zweiten Weltkrieges keinen Anreiz, zum Pietismus zurückzukehren. Es fehlte, wenn man auf die Gefilde der Biographien blickt, eine solche für den Grafen Zinzendorf. Damit war eine Aufgabe gestellt, die ungewöhnlich viel forderte. Man mußte diesem genialen, aber oft skurrilen Geist, der ähnlich wie Johann Georg Hamann die Rätselrede liebte, gerecht werden, man mußte die unzähligen kleinen und großen Persönlichkeiten kennenlernen, mit denen er umging, man mußte sich in die Umwelt vertiefen, man mußte in dem Archiv der Brüderunität heimisch werden und eine Reihe andrer aufsuchen - sämtlich Aufgaben, die nicht leicht zu lösen waren. Es lag nahe, daß der Herrnhuter Dozent für Kirchengeschichte etwas derartiges unternahm, und das geschah auch. Gerhard Reichel machte sich an die Arbeit. Er schrieb 1912 über die Anfänge des Senfkornordens als Teil einer Biographie des Grafen, 1922 fugte er Die Anfinge 59

Herrnhuts hinzu, was als Fortsetzung g e m e i n t war. 1913 trat er der p s y c h o analytischen D e u t u n g u n d Entstellung entgegen, die der Schüler S i g m u n d Freuds O s k a r Pfister in Z ü r i c h mit der F r ö m m i g k e i t des Grafen v o r g e n o m m e n hatte (Die F r ö m m i g k e i t des Grafen Z i n z e n d o r f i m Lichte der Psychoanalyse) u n d wies nach, daß es sich in der aus d e m H o h e n l i e d Salomonis g e s c h ö p f t e n erotischen Bildersprache u m T r a d i t i o n s g u t h a n d e l te, das nahezu allgemein umlief u n d i m Barock mit besonderer Liebe gepflegt w u r d e . Insbesondere m a c h t e er Heinrich Müller aus R o s t o c k als Q u e l l e u n d Vorläufer n a m h a f t . Weiterhin verfaßte er eine B i o g r a p h i e A u g u s t Gottlieb Spangenbergs (1908), w o b e i auch allerlei innere u n d äußere Schwierigkeiten zu ü b e r w i n d e n waren. Schließlich m a c h t e er die b e d e u t u n g s v o l l e E n t d e c k u n g v o n d e m a u f k o m m e n d e n Gegensatz z w i schen Halle u n d H e r r n h u t sowie d e m hallisch b e s t i m m t e n W e r n i g e r o d e , die der späteren Geschichte des Pietismus weithin das Gepräge verlieh (Zeitschr. f . Kirchengeschichte, 1903). U n t e r den kleineren regionalen M o n o g r a p h i e n sei n o c h diejenige v o n Wilhelm Irmer e r w ä h n t , die die Geschichte des Pietismus in der Grafschaft Waldeck behandelt (Greifswald 1912), ein Seitenstück zu der eindrucksvollen, m i t M e i s t e r h a n d geschriebenen Reformationsgeschichte dieser L a n d schaft die sein Lehrer Victor Schultze (1851-1937) verfaßt hatte. Irmer hatte seine Sache gut gemacht, Sorgfalt u n d U m s i c h t , Anschaulichkeit u n d treffendes U r t e i l kennzeichneten diese U n t e r s u c h u n g , die durch die genaue A u f h e l l u n g der V o r g ä n g e unentbehrlich ist. Sie kann als ein Beispiel d a f ü r gelten, wie derartige begrenzte T h e m e n angefaßt w e r d e n müssen, u m zu einem haltbaren Ergebnis zu gelangen 1 1 .

b) Die B e d e u t u n g des Ersten Weltkrieges Hier ist i m G r u n d e n u r ein einziges B u c h zu nennen, Karl Holls (1866-1926) gewichtige Schrift Die Bedeutung der großen Kriege fiir das geistige und religiöse Leben des deutschen Protestantismus (1915). Aus Kriegsv o r t r ä g e n entstanden, hat diese Arbeit den g r o ß e n Kirchenhistoriker u n a b lässig beschäftigt, bis er sie sozusagen auf H o c h g l a n z gebracht hatte. Fast alle Studien m u ß t e er neu u n d selbständig treiben, was allerdings die damalige Preußische Staatsbibliothek in Berlin, unzerstört u n d u n g e t r e n n t , b e d e u t e n d erleichterte. W o h l an k e i n e m andern Platz hätte sie in dieser Qualität u n d in dieser Schnelligkeit entstehen k ö n n e n . Sie zählt zu Holls

11 Erwähnt werden muß hier vor allem noch die Geschichte des Pietismus in den Schweizerischen Reformierten Kirchen von W(ilhelm) Hadorn, Konstanz/Emmishofen 1901, ein umfangreiches, gründlich bearbeitetes Werk, das auch das 19. Jahrhundert umfaßt - leider ohne Anmerkungen. Es wurde fortgesetzt durch Paul Wernle, Der schweizerische Protestantismus im 18. Jahrhundert, Tübingen 1, 1922; II, 1924. Außerdem wären für die Niederlande die Arbeiten von Sepp und S. van der Linde, fiir Schweden die von Hilding Pleijel zu nennen.

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Meisterwerken. Ihre Bedeutung lag in folgenden Punkten, in welchen sie die Forschung erheblich vorwärts brachte: a) In ihr geschah eine entscheidende Aufwertung der lutherischen Orthodoxie. Holls Kernsatz lautete, daß sie nicht aus dem 30jährigen Kriege hervorgegangen sei, als ob sie durch ihn widerlegt worden wäre. Sie hatte vielmehr ihre Bewährungsprobe glänzend bestanden. b) Die Reformmotive der Orthodoxie wurden klar erfaßt und feinsinnig differenziert. So wurde deutlich gemacht, daß die gesamte Orthodoxie reformwillig und reformeifrig war, keineswegs nur ein Ausschnitt aus ihr. c) Der Pietismus, besonders Speners, noch mehr aber derjenige Franckes, wurde nahe an Luther herangerückt und die - m. E. unzutreffende, aber eindrucksvolle, wenn nicht faszinierende Kurzformel geprägt: Der Pietismus wollte die Rechtfertigung erlebbar machen. d) Alles wurde auf den Horizont des 30jährigen Krieges projiziert. Diesen hohen, bedeutungsvollen Werten stand ein schwerer Mangel gegenüber: Karl Holl ahnte nichts von der Untergrundliteratur des mystischen Spiritualismus, der die Kirche vor allem von innen bedrohte und in so harten Anklägern wie Christian Hoburg (1607-1675) alles Bestehende in der Kirche unbarmherzig herunterriß, dabei aber von urchristlicher Leidenschaft nach der christlichen Vollkommenheit erfüllt war. Diese gesamte Untergrundliteratur trat nicht in sein Blickfeld, nur gelegentlich zitierte er den „Kriegsbelial" von Arnold Mengerung, aber ohne sich über dessen Bedeutung klar zu werden. Freilich konnte man das auch von einem so großen Kirchenhistoriker damals kaum erwarten. Sein eigentliches Arbeitsgebiet war die griechische und lateinische Patristik, dazu neuerdings Luther. Alles Spätere interessierte ihn wohl, lag aber von seiner sonstigen Beschäftigung zu weit ab. Aber die vier oben zusammengestellten Erkenntnisse genügen auch, um den Rang dieses einen Beitrags deutlich zu machen, der ja nur eine Gelegenheitsschrift war. c) Die Zeit zwischen den beiden Weltkriegen Die unerwartete Aufwertung der lutherischen Orthodoxie, die wohl in Heinrich Schmids Darstellung (1863) ein schwaches Vorspiel hatte, mußte sich auswirken. Das geschah in den Arbeiten des Heinrich BöhmerSchülers Hans Leube (1896-1947), vor allem in seiner Habilitationsschrift Die Reformideen

der deutschen lutherischen Kirche im Zeitalter

der

Orthodoxie

(Leipzig 1924). Hier gab der junge Privatdozent ein genaues, sorgfältig belegtes, vollständiges Bild von den Reformgedanken, die damals nach dem 30jährigen Kriege umliefen, manche davon auch bereits während seiner Dauer. Teilweise in den Bahnen Holls, teilweise selbständig ging der Verfasser vor und machte solchen Eindruck dadurch, daß er das Material selber sprechen ließ, daß er rasch mit dieser Darstellung berühmt wurde. 61

Das Klischeebild von der toten O r t h o d o x i e war damit selbst tot. Leube hat sonst noch eine Geschichte der pietistischen Bewegung in Leipzig geschrieben (Diss. phil. Leipzig 1921. In: O r t h o d o x i e und Pietismus. Ges. Studien von Hans Leube. A G P 13. Bielefeld 1975, S. 153-267) und regional separatistische Bestrebungen u m Leipzig untersucht, dann aber das T h e m a „Pietismus" verlassen, u m sich der englischen und französischen Kirchengeschichte zuzuwenden. Jedoch bleiben seine Untersuchungen Marksteine, auch wenn die Selbständigkeit nach d e m Vorgang Holls nicht mehr den höchsten Rang erreichen konnte. Ü b e r den meisten seiner Arbeiten liegt diese gewisse Entsagung. N u r in der Kirchengeschichte Englands gelang es ihm, mit der Ideengeschichte der Mikrokosmosvorstellung einen neuen Faden eindrucksvoll aufzuzeigen (Reformation und Humanismus in England, 1930). So wie Leubes Arbeit der A u f w e r t u n g der lutherischen O r t h o d o x i e diente, so vermochte Erich Seeberg (1888-1944) in seiner Monographie über Gottfried Arnold. Die Wissenschaft und die Mystik seiner Zeit (Meerane 1923) die unerhört große Bedeutung und weitreichende Kraft des mystischen Spiritualismus deutlich und sichtbar zu machen, wozu seine gehaltvolle Sonderstudie Zur Frage der Mystik (1921) trat. Mit einer staunenswerten Gelehrsamkeit untersuchte er nicht nur Gottfried Arnold, sondern legte die gesamte Traditionsgeschichte der Verfallsidee in der Kirchengeschichte bis z u m griechischen M ö n c h t u m dar und stellte ihr die Traditionsidee, das konservative Gegenstück, an die Seite. So entstand ein ungeheuer lebendiges, bewegtes Bild. Kirchengeschichte w u r d e zum Ideenkampf, und der Pietismus gewann in solchem Ringen in der Person und in der schriftstellerischen Leistung Gottfried Arnolds Format und Konturen. Seine Enge schien wie weggeblasen. Seeberg gelang es, eine Schule begabter j u n g e r Kirchenhistoriker heranzubilden, von denen sich Ernst Benz (geb. 1907) der Mystik und d e m Pietismus, Winfried Zeller (geb. 1911) d e m mystischen Spiritualismus, Arnold Schleiff (1907-1943) desgleichen und Erhard Peschke (geb. 1907) August H e r m a n n Francke widmeten. Seeberg stellte einen Gegenpol zu Leube dar. War der zweite, j ü n g e r e exakt und verlor sich gern in die Kleinarbeit, allerdings ohne auf die großen Perspektiven zu verzichten, so lag die Stärke des ersten in den großen Linien, die er mit Vorliebe aufzeigte und weiterführte. Seine eigentliche fruchtbare und große Entdeckung war der mystische Spiritualismus als Vorläufer u n d Zubringer des Pietismus. Jedoch die Verhältnisbestimmung zwischen ihm und Luther blieb unklar, u m so mehr als Seeberg sich i m m e r m e h r Luther selbst und Meister Eckhart zuwandte und den eigentlichen Pietismus andern überließ. Einer seiner Schüler, Herbert S. Stahl (geb. 1908) w i d m e t e sich in seinem Sinne der Untersuchung des Verhältnisses, in welchem August H e r m a n n Francke, der Übersetzer des Molinos ins Lateinische, zu diesem spanisch-italienischen Mystiker und zu Luther 62

stand. Das Ergebnis hätte wegweisend sein können, wenn es schärfer ausgefallen wäre. Heinz Renkewitz (1902-1974), wie Leube ein Schüler Heinrich B ö h mers, und wie Leube zu denkbar unbestechlicher, die Kleinarbeit nicht scheuender Sorgfalt erzogen, erregte Aufsehen mit seiner bewundernswerten Dissertation über den mystischen Spiritualisten und urchristlichen Kommunisten Ernst Christoph Hochmann von Hochenau (1670-1721) (Breslau 1935, 2 Witten/Ruhr 1969 - AGP 5 - ) , der die Gräfin Benigna von Solms-Laubach, die Schwiegermutter des Grafen Zinzendorf, aufs stärkste beeinflußte. Renkewitz, der sehr jung als Nachfolger Gerhard Reichels Dozent der Kirchengeschichte am Theologischen Seminar der Brüdergemeine in Herrnhut wurde, zeigte die ganze reiche Welt des mystischen Spiritualismus auf, namentlich auch seine Verbreitung im Adel und bestätigte so unabhängig die Sicht Erich Seebergs weithin. Er schrieb später noch eine ansprechende gehaltvolle Biographie Zinzendorfs (Herrnhut 1935, 2 1953) und andere Einzelstudien zu dem Grafen, namentlich auch zur Geschichte der „Losungen" aus der Bibel. Vorher verdient noch die großartige Biographie der Gräfin Erdmuth Dorothea von Zinzendorf geb. Reuß-Ebersdorf eine lobende Erwähnung, die der jugendliche Wilhelm Jannasch (1888-1966) verfaßte (Herrnhut 1914), ein Meisterwerk an menschlicher Einfühlung, Takt und sicherem Urteil bei einem schwierigen Stoff. Zuvor hatte er auch den einzigen Sohn des Grafen, Christian Renatus, in einem Aufsatz in der Zeitschrift für Brüdergeschichte (1912) geschickt und ansprechend dargestellt. So war gerade auf dem Felde Herrnhuts einiges geschehen. D e m traten die gewichtigen theologischen Untersuchungen von Otto Uttendörfer (1870-1955) an die Seite, die hier, weil zu speziell, nur genannt, nicht ausführlich besprochen werden können. Er trat mit seiner Darstellung von Zinzendorfs religiösen Grundgedanken, seinem Verhältnis zur Jugend, seinem Verhältnis zur Mystik, seiner Ethik (Zinzendorfs christliches Lebensideal, 1942) an die Spitze aller Erforscher des Grafen, ohne jedoch die Biographie zu liefern, die er wahrscheinlich hätte leisten können, war er doch wie kein zweiter im Archiv zu Hause. Daneben müssen die Arbeiten von Samuel Eberhard, Kreuzestheologie (München 1937) und Wilhelm Bettermann, Theologie und Sprache bei Zinzendorf (Gotha 1935) genannt werden, die der Eigenart des Grafen tief gerecht werden und zugleich die unterirdische Urverwandtschaft mit Martin Luther aufweisen. Durch diese ganz an den Quellen orientierten Forschungen ist ein ziemlich stark konvergierendes Bild von der geistigen Eigenart des Grafen hervorgebracht worden, das die theologische Qualität der gegenwärtigen Pietismusforschung unübersehbar zeigt. Die Zeit nach dem Zeiten Weltkrieg konnte auf dieser Bahn nur fortschreiten. Sie führte weiter, was begonnen war und fügte Ergebnisse hinzu, die das Bild bestätigten. Methodisch von besonderer Bedeutung war es, daß auch die Wirtschaftsethik und die Wirtschaftsgestaltung Ge63

genstand der E r f o r s c h u n g w u r d e n . Für Francke tat das E r n s t Bartz in einer Dissertation i m J a h r e 1937, f ü r H e r r n h u t der Altmeister U t t e n d ö r f e r in seinen beiden B ä n d e n Alt-Herrnhut. Wirtschaftsgesinnung und Wirtschaftsgestaltung der Brüdergemeine (1935, 1939).

d) Die Zeit nach d e m Z w e i t e n Weltkrieg. Die G e g e n w a r t Spener b e h a u p t e t e sich die ganze Zeit h i n d u r c h als die f u h r e n d e Gestalt des Pietismus. Das w u r d e auch durch die Spener-Studien v o n K u r t Aland (geb. 1915) bestätigt, die (Berlin 1940) mit äußerster Akribie den Spuren seines Lebensweges u n d Wirkens nachgingen, dabei inzwischen vernichtetes handschriftliches Quellenmaterial auswerteten u n d so m a n c h e Einzelheit klarstellten. Sie w a r e n Bausteine zu seiner Biographie, die in erster Linie seine Berliner Zeit ins A u g e faßten, sodann seine F r a n k f u r t e r u n d d a n n speziell die P r o g r a m m s c h r i f t , die Pia Desideria, die seinen k i r c h e n g e schichtlichen R a n g b e g r ü n d e t e n . Aland legte - wie später W a l l m a n n besonderes G e w i c h t auf die Straßburger lutherische O r t h o d o x i e als die eigentliche Bildungsstätte u n d geistig-theologische B r u n n e n s t u b e des pietistischen Führers u n d f ö r d e r t e n da manches schöne Ergebnis zutage. V o n besonderer m e t h o d i s c h e r B e d e u t u n g w u r d e es, daß daraus die jetzt m a ß g e b e n d e historisch-kritische A u s g a b e der Pia Desideria h e r v o r g i n g . Aland hat sich später intensiv v o r allem mit Francke befaßt u n d die ganze U m w e l t , den H i n t e r g r u n d Franckes, d . h . den Pietismus a m O r t e , i m Waisenhause u n d in der Universität Halle genau erforscht. Er hat auch die Geschichte der Privatbeichte i m L u t h e r t u m u n d ihrer A b s c h a f f u n g g e schrieben, er hat die B e k e h r u n g Franckes i m Gegensatz zu H e r b e r t Stahl, d e m Schüler Seebergs untersucht (Kirchengeschichtliche Entwürfe, Gütersloh 1960) u n d so an allen m ö g l i c h e n Stellen in die P i e t i s m u s f o r s c h u n g eingegriffen. V o n i h m darf i m Z u s a m m e n w i r k e n mit E r h a r d Peschke die m a ß g e b e n d e historisch-kritische Ausgabe der W e r k e Franckes erwartet w e r d e n . Insbesondere w i r d er darin Franckes T a g e b ü c h e r bearbeiten. Besonderes G e w i c h t hat es, daß er auf den Versuch einer Geschichte des Pietismus i m 18. J a h r h u n d e r t selbst a u f m e r k s a m g e m a c h t hat, die der J u d e n m i s s i o n a r J o h a n n Heinrich Callenberg (1694—1760) in Halle b e g o n nen hatte. Für die Forschungsgeschichte haben Alands U n t e r s u c h u n g e n nicht allein m e t h o d i s c h h o h e B e d e u t u n g , sondern auch inhaltlich, weil sie stärker als bisher unter g e w i s s e m Verzicht auf theologische Kategorien f ü r die e n d gültige U r t e i l s b i l d u n g den historisch-soziologischen H i n t e r g r u n d u n d U n t e r g r u n d aufweisen. D a d u r c h w i r d es möglich, Voraussetzungen u n d W i r k u n g e n des Pietismus jeweils a m k o n k r e t e n Standort genau in den Blick zu b e k o m m e n . W e g w e i s e n d in b e s o n d e r e m Sinne ist die historischkritische A u s g a b e der P r o g r a m m s c h r i f t . Erst w e n n nach seinem Beispiel die m a ß g e b e n d e n Schriften so ediert sind, daß m a n sie e i n w a n d f r e i b e n u t -

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zen kann, wird eine exakte Erkenntnis möglich. Er hat das Entsprechende für den gewichtigen großen Aufsatz von Francke durch O t t o Podczeck in Halle tun lassen (Berlin-Ost 1962). Im ganzen ist die Zeit nach den Erschütterungen, die der Zweite Weltkrieg brachte, durch drei Tendenzen gekennzeichnet: 1. Die historisch-kritische Quellenuntersuchung w u r d e unabweisbar u n d setzte sich durch. Die einfache Tatsache, daß durch die Kriegseinwirk u n g viele ursprüngliche Ausgaben nicht mehr zur V e r f u g u n g standen, war dabei hilfreich. 2. Die theologische Interpretation der Quellen verstärkte sich, ohne selbstverständlich zu werden. 3. Die allgemein kulturelle W i r k u n g des Pietismus, namentlich in Politik und Wirtschaft w u r d e sichtbar. Infolgedessen beteiligten sich mehr N i c h t theologen an der Erforschung als früher. Während vorher im G r u n d e nur die pädagogische Seite der Einwirkungen voll ernst g e n o m m e n w o r d e n war, geschah es n u n m e h r auf allen Gebieten, auch etwa in der Literatur. Selbst die Kunst ging nicht völlig leer aus, o b w o h l sie zweifellos das Gebiet darstellte, in d e m der Pietismus am schwächsten und am wenigsten engagiert war. Für die erste Tendenz stehen die Arbeiten von Kurt Aland an der Spitze. Ihm u n d ihnen ist es zu danken, daß von der 1964 gegründeten Historischen Kommission zur Erforschung des Pietismus die Erstellung von kritischen Werkausgaben der führenden Pietisten in Angriff g e n o m m e n wurde. V o n der zweiten Tendenz zeugen am stärksten Emanuel Hirsch (1888-1972) und ich selbst (geb. 1909). Für die dritte Tendenz sind an erster Stelle die auf den hallischen Pietismus als soziale und politische R e f o r m b e w e g u n g gerichteten U n t e r s u chungen von Carl Hinrichs (1900-1961), in seiner Fortsetzung diejenigen von Klaus D e p p e r m a n n (geb. 1926) und H a r t m u t Lehmann. Emanuel Hirsch, der älteste Schüler Karl Holls, der mit einer theologischen W ü r d i g u n g von Adreas Oslander (1498-1552) begonnen hatte, in welcher er diesen Denker als legitimen Fortsetzer Luthers gegen Melanchthons Verengung der Rechtfertigungslehre hatte erweisen wollen, k a m auf den Pietismus, speziell Spener als den fuhrenden Theologen der B e w e g u n g in seiner umfangreichen, überaus kundigen, jedoch auch erstaunlich subjektiven Geschichte der neuern evangelischen Theologie im Zusammenhang mit den allgemeinen Bewegungen des europäischen Denkens (Bd. II, Gütersloh 1951, S. 91-155: Die Grundlegung der pietistischen Theologie durch Philipp Jacob Spener). Er rückte, wie in der Nachfolge Holls zu erwarten war, den Führer des lutherischen Pietismus, den er eindeutig und bewußt vor dem reformierten bevorzugte, weil er in ihm die stärkere theologische Potenz sah u n d i h m größere Bedeutung für die Z u k u n f t zuerkannte, ganz nahe an den R e f o r m a t o r heran. Methodisch legte er wie es die bisherige Spenerfor65

schung getan hatte, vor allem die Theologischen Bedenken, d. h. Speners ausgedehnten Briefwechsel zugrunde, nicht seine thematischen Predigten und seine Bibelerklärungen, auch nicht seine polemischen und apologetischen Gelegenheitsschriften, vor allem auch nicht seine so wichtigen, von der gegnerischen Orthodoxie besonders aufs Korn genommenen Vorreden zu den Schriften andrer. Inhaltlich ergab sich ihm, daß Spener wie Luther die Rechtfertigung im Zentrum der christlichen Glaubensaussage und der Theologie sah. Nur im Gewand, das er ihr umlegte, bestand eine Verschiedenheit zu dem Reformator. Weiterhin erkannte er die zentrale Stellung der Bibel und die Revolution in der Bibelwissenschaft, die das nach sich zog. Hierin wies seine Theologie am deutlichsten in die Zukunft, auch wenn er die historisch-kritische Bibelbetrachtung noch nicht übte und ihr vielleicht sogar skeptisch gegenübergestanden hätte. Ebenso war es vorwärtsweisend, daß er die Erfahrung als „Erleuchtung" betonte, auch wenn er die mystisch-spiritualistische Herkunft, Speners Anknüpfung daran und seine Abwandlung des überkommenen Konzepts an diesem Punkte nicht erkannte. Jedenfalls bereitete der Führer des lutherischen Pietismus eine neue moderne Gestalt der Theologie vor, die sich mindestens im Gewand von der reformatorischen unterschied, jedoch im Kern, in der Sache ihr treu blieb und sie sinngemäß, sachgemäß fortführte. Zu den Verdiensten in der Theologie rechnete er, daß er das unbiblische Element im orthodoxen System, im wesentlichen den philosophischen Einschlag, erkannte. Die Übereinstimmung mit dem Lehrer Karl Holl springt bei Emanuel Hirsch in die Augen. Es ist jene berühmte faszinierende Formel, daß der Pietismus, Spener so gut wie später Francke, die Absicht hatten, die Rechtfertigung erlebbar zu machen. Nur liegt das Besondere bei Spener darin, daß er dem Anliegen des Erlebbaren, Erlebnisfähigen und dem Vorgang des Erlebens eine eigene Aufmerksamkeit widmete. Darin war eingeschlossen, was Hirsch nicht besonders hervorhob, aber nie geleugnet haben würde, daß es hier in ganz neuer Weise und mit einer ungewohnten Intensität um Menschen ging, daß hier eine Theologie vom Menschen aus und auf den Menschen hin geschaffen wurde. Darin bestand das Zukunftsträchtige. Der Wiedergeburt, dem tatsächlichen Hauptanliegen des Pietistenführers, schenkte Hirsch keine Aufmerksamkeit. V o n ihr aus erklären sich die Züge, die er als neue zutreffend beobachtete, noch leichter und schlüssiger als von der Rechtfertigung. Dort wirkten sie mehr herangetragen, während in der Wiedergeburt organisch, mit innerer Notwendigkeit entsprießend. An diesem Punkte besteht in der Tat, wie zuerst Johannes Wallmann richtig bemerkte, eine Differenz zwischen Hirsch und mir. Ich bin davon überzeugt, daß sich von der Wiedergeburt aus die Neuartigkeit der pietistischen Gesamtorientierung deutlich machen läßt, sowohl die Betonung des Lebensmotivs, der Erfahrung und die allgemeine Richtung auf den M e n schen - der große kopernikanische Wandel in der Grundorientierung. In der Besprechung Franckes (ebd. S. 155-177) hob Hirsch - m . E . zu stark

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und einseitig - die Vorbereitung der Aufklärung in seinem Verständnis des Glaubens als Frömmigkeit und T u g e n d k r a f t hervor. Nach meinem Urteil besteht dieser Z u s a m m e n h a n g vor allen Dingen in der Pädagogisierung der Theologie, in d e m groß angelegten Erziehungsgedanken, d e m dann Lessing in seiner Erziehung des Menschengeschlechts durch den Ersatz des O f f e n barungsgedankens durch den Erziehungsgedanken den klassischen Ausdruck verlieh. Die übrigen Theologen der pietistischen B e w e g u n g wie Arnold, Dippel, vor allem Zinzendorf nehmen in seiner historischen Darlegung einen geringeren R a u m ein, er stand ihnen offenbar f r e m d e r gegenüber als Spener und Francke. D e m Ehepaare Petersen gönnte er k a u m Platz. A m Grafen Zinzendorf stellte er mit Recht zwei H a u p t p u n k t e als wesentlich heraus: Erstens vertrat der Graf das radikale Urteil, daß derjenige Mensch, der ohne Jesus Christus glaubt und lebt, Atheist ist. Theologie war i h m - wie i m 20. Jahrhundert Karl Barth und wie im 19. Jahrhundert Friedrich Schleiermacher, mindestens der Absicht nach in der Substanz Christologie bis zur vollen Deckung beider Größen. Mit Recht h o b er hervor - und auch das läßt sich, mindestens cum grano salis auf Barth anwenden - , daß damit jedes Verhältnis zur Bildung und Philosophie der Zeit zerschnitten war. Es entstand auf diese Weise Kulturverneinung und Kulturlosigkeit, wie sie vor allem Paul Tillich der Dialektischen Theologie, Karl Barth an der Spitze, zum V o r w u r f machte. D e n zweiten entscheidenden Satz Zinzendorfs fand Hirsch in der B e g r ü n d u n g aller theologischen Erkenntnis auf das Gefühl - das gleiche, was der zweite M a n n der Dialektischen Theologie, Emil Brunner, dem herrnhutisch gebildeten Schleiermacher z u m V o r w u r f machte (Emil Brunner, Die Mystik und das Wort, Tübingen 1924, 2 1928). Darüber m ü ß t e man ausfuhrlich diskutieren, einmal darüber, ob tatsächlich das „Gefühl" bei dem Grafen die behauptete Rolle spielt u n d das alles zu tragen vermag, was er ihm nach Hirsch - aufbürdet, sodann darüber, welchen Inhalt sein Gefühlsbegriff hat. Da diese Einzelfragen trotz ihrer Wichtigkeit in diesem Ü b e r blick, der das Ganze der Pietismus fors chung zum Gegenstand hat und daher n o t w e n d i g gegen manchen Forscher und seine Leistung ungerecht wird, nicht behandelt werden können, sei im Sinne der Kontinuität festgestellt, daß Hirsch im ganzen der am klarsten von H o r t Stephan vertretenen M e i n u n g beipflichtet, der auch ich mich anschließe, daß nämlich der Pietismus keineswegs retrospektiv, konservativ und traditionalistisch, oder auch eng gewesen sei, sondern vorwärtsgewandt, eher revolutionär, daß er der Z u k u n f t offen, frei den neuen Möglichkeiten sich zuwandte und namentlich in der Art seiner Bibelbehandlung, was am deutlichsten bei J o h a n n Albrecht Bengel zutage trat, von der Textkritik bis zur Exegese, die m o d e r n e Zeit vorbereitete, auch wenn er sie noch nicht selbst herbeiführte. Hirschs eindringende Behandlung des Pietismus hat außer in den - wie häufig etwas zu breit vorgetragenen - Erkenntnissen und ihren Folgen ihr Hauptverdienst in der Feststellung des theologischen Charakters, minde67

stens der theologischen Grundlage dieser Bewegung. Es ist zu hoffen, daß die künftige Forschung nicht mehr dahinter zurückfällt. Es ist nun leider nicht zu vermeiden, daß ich an dieser Stelle von mir selbst und meinen Bemühungen um die Wesenserkenntnis des Pietismus spreche 1 2 , und so, wie es Herr Kollege Dankbaar liebenswürdig ausgedrückt hat, in der Art eines mittelalterlichen Malers in einer Ecke mich selbst anbringe. Meine Bemühungen gelten der Gesamterscheinung, zuerst Spener, aber auch Francke, sodann Arnold, dem Ehepaar Petersen, dem Spötter Johann Konrad Dippel, Oetinger und etwas weniger Bengel, sodann der Vorgeschichte von Schwenckfeld bis zu Johann Arndt, insbesondere Christian Hoburg und Friedrich Breckling, und den Auswirkungen im Gesamtraum von Oikumene und Theologie, beginnend mit J o h n Wesley, und endend mit der Romantik, Novalis, Schleiermacher und der Erweckungsbewegung, insbesondere dem Neuluthertum. Ein weitgespanntes Feld, wo dem Bearbeiter täglich schwere Bedenken kommen, ob er es j e wird meistern können, ob er nicht Irrtümern verfällt, die sich unheilvoll nicht nur für ihn selbst und seine Erkenntnis auswirken, sondern auch für andere, die ihm ahnungslos und bedenkenlos vertrauen. Ich darf zunächst die vorwiegend methodischen Erwägungen punktweise nennen, die mich geleitet haben: 1. A m Anfang stand die Einsicht, daß sich beide, Orthodoxie und Pietismus, in einer polemischen Situation befanden. Diese Lage muß ernstgenommen und beständig bedacht werden. Die Orthodoxie hatte gegenüber dem Pietismus wichtige Grundsätze zu vertreten und sich aus Verantwortung gegen diese zu wehren gegen den Angriff, dem sie sich ausgesetzt fand. Jeder der beiden Partner hatte etwas zu verteidigen, keiner konnte ohne weiteres nachgeben. 2. Hinter dem Pietismus stand eine durchdachte theologische Konzeption, die in der Wiedergeburt als dem zentralen Datum der christlichen Aussage wurzelte und bis zur Teilnahme an der göttlichen Natur als Vollendungsziel fortschritt, darum teleologisch bis eschatologisch gerichtet war. Im Gegensatz zu Johannes Wallmann, der die Eschatologie aus äußeren Einflüssen, wahrscheinlich vom englischen Puritanismus, herleiten möchte, gehört sie für mich zu den Ausgangswerten, die der pietistischen Theologie mindestens bei Spener strukturell inhärieren. 3. Die Wiedergeburt ist der sachliche Einheitspunkt für alle Pietisten. Darum nannten sie sich mit Vorliebe „Kinder Gottes aus der neuen Geburt". Dieses Grundverständnis bestimmte auch ihre Aktivität und ihre Begründung in der Judenmission und Heidenmission. 1 2 Eine Übersicht meiner teilweise verstreuten Arbeiten zur Geschichte des Pietismus findet sich in Pietismus und Bibel, hrsg. v. Kurt Aland, ( A G P 9) W i t t e n / R u h r 1970, S. 2 3 4 - 2 3 6 . V g l . auch: Klaus B r e u e r und Eckehart Stove, Bibliographie Martin Schmidt. In: D e r Pietismus in Gestalten und Wirkungen. Martin Schmidt zum 65. Geburtstag ( A G P 14) Bielefeld 1975, S. 4 9 3 - 5 2 4 (ergänzt u. S. 3 1 8 - 3 2 2 ) .

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4. N u r scheinbar waren die Pietisten weltfern, weltfeindlich. Bei näherem Zusehen enthüllen sie sich dem Betrachter als weltoffen und welterobernd. Deshalb habe ich mir j e länger, desto mehr die Kurzformel für ihr Bestreben zurechtgelegt: Weltverwandlung durch Menschenverwandlung. 5. V o m Pietismus gingen fortschrittliche Wirkungen aus und waren früh bei ihm zu beobachten, so etwa bei Spener die eigentümliche Verbindung von traditioneller Befürwortung der Judenmission mit dem neuartigen Judenrespekt, der das Judentum als eigenständigen religiösen Weg achtete und gelten ließ, oder beim hallischen Pietismus, der das Zeitungslesen als Teilnahme an der gegenwärtigen Geschichte im Gegensatz zu dem Orthodoxen Valentin Ernst Löscher nicht fìir ein indifferentes, sondern für ein Gott wohlgefälliges, ja v o m Glauben gebotenes Werk hielt, schließlich die Einführung der Realwissenschaften in den Gymnasiallehrplan zur Ergänzung oder zum Ersatz der Alten Sprachen. Mit dem erstgenannten bereitete der Pietismus - was bisher nicht erkannt ist - den Weg zur Judenemanzipation, die dann freilich nicht unter religiösen Vorzeichen, sondern in Namen der Humanität in der Aufklärung erfolgte. Auch die sozialen Wirkungen, die v o m Pietismus ausgingen, an der Spitze die finanzielle Organisation einer großangelegten Diakonie, wie sie die Unternehmungen Franckes in Halle und die ihrem Vorbild nacheifernden Waisenhäuser überall zeigten, die eigentümliche Verbindung von industriell-„kapitalistischer" Unternehmungsfreude mit Dienstbereitschaft und Hilfsabsicht, trugen ein modernes Gepräge. 6. Der mystische Spiritualismus, dessen hohe Bedeutung zuerst Erich Seeberg sichtbar gemacht hat, muß als wesentlicher Zubringer für den kirchlichen Pietismus eingesetzt werden. Dabei liegt vielfach - keineswegs immer - die schöpferische Potenz bei ihm. Es war die Größe Speners, daß er im Unterschied zur gesamten kirchlichen Haltung seiner Zeit klar erkannte, daß in ihm biblische, urchristliche Leidenschaft zu einem vollkommenen Leben nach dem Willen Gottes lebte, und daß man diese kirchlich fruchtbar machen müßte, anstatt sie sich durch kurzsichtige Polemik kirchenauflösend verströmen zu lassen. Darin liegt seine epochale kirchengeschichtliche Bedeutung, die von keinem anderen erreicht wird. Wieweit Francke v o m mystischen Spiritualismus erfaßt war, wie weit er ihn zu beurteilen vermochte oder auch nur willens war, bleibt offen. Arnold und Zinzendorf schwankten zwischen ihm und der kirchlichen Haltung mindestens eine Weile hin und her. Allein Spener stand unabhängig über ihm und war daher auch zu einer Strategie ihm gegenüber befähigt. 7. Das Verhältnis zur Reformation, insbesondere zu Luther, besitzt fundamentale Bedeutung, nicht nur, weil sich die Pietisten, Spener an der Spitze, immer wieder auf ihn, namentlich seine Vorrede zum Römerbrief aus den Vorreden zur heiligen Schrift von 1521, eines der eindrucksstärksten Zeugnisse des jungen Luther, beriefen. Hier stimme ich mit Albrecht 69

Ritsehl überein, aber wahrscheinlich noch mehr mit Karl Holl, der das Verhältnis positiv sah. Es geht mir darum, daß der Pietismus als selbständige Größe erfaßt wird, nicht einfach als Fortsetzung oder Wiederholung des reformatorischen Christentums. Es geht mir weiterhin darum, daß seine verschiedenen Wesenseigentümlichkeiten und seine Komponenten gerecht in die Wesensbestimmung einbezogen werden, vor allem sein ursprüngliches, selbständiges Eintauchen in die biblische Botschaft, wobei der paulinische und der johanneische Teil des Neuen Testaments im Vordergrund stehen und das Alte Testament auffallend zurücktritt, was der Preisgabe des ersten Glaubensartikels von der Schöpfung entspricht. Luther als der Hauptanreger muß gebührend in Anschlag gebracht werden, und, das was ich (1957) in dem knappen Aufsatz Spener und Luther (s. u. S. 156—181) geschrieben habe, reicht keineswegs aus. Sodann gilt das Entsprechende für den mystischen Spiritualismus, den ich keineswegs für das einzige, vielleicht noch nicht einmal für das Hauptelement aus der Vergangenheit halte - hier bin ich trotz langjährigen Studien immer noch nicht sicher. Weiter ist die lutherische und reformierte Orthodoxie gerecht einzustellen, schließlich die verwandten Bewegungen im römischen Katholizismus und der englische Puritanismus, der keineswegs, wie es vor allem August Lang (Puritanismus und Pietismus 1941) wollte, aus Martin Bucer hergeleitet werden kann. All das fordert emsige eindringende Arbeit und fordert viel an Urteilskraft. Es erfüllt mich verständlicherweise mit Freude, daß meine Untersuchungen und Einsichten, in begrenztem Maße auch meine Urteile eine so wohlwollende Aufnahme gefunden haben, wie sie in den Forschungsberichten von Greschat und Wallmann geschehen ist - besonders, da ich mich zu ihren eigenen Auffassungen nicht immer in Übereinstimmung befinde. Es ist wohl immer meine Art gewesen, etwas zugespitzte Thesen aufzustellen - nicht nur aus Überzeugung von ihrer Richtigkeit, sondern auch in der Absicht zu stimulieren. Es ist mir lieb, wenn dadurch Gegenthesen und Abwandlungen hervorgerufen werden. Ein letztes Wort in diesem Zusammenhang, womit dann aber über mich genug, wenn nicht bereits zu viel gesagt ist: Da das selbständige, ursprüngliche Eindringen in die biblische Wirklichkeit das eigentlich Bestimmende, Formgebende und, wenn man so will, Schöpferische am Pietismus ist, habe ich großes Gewicht auf die Untersuchung kennzeichnender Bibelworte und biblischer Konzepte durch ihn gelegt. V o r allem drei kommen hier in Betracht: das Bild von der Wiedergeburt, das beherrschende Bedeutung gewann, die Forderung und Erwartung der Vollkommenheit nach Matth. 5,48 und paulinische Stellen wie Kol. 3,14 und die Teilnahme an der göttlichen Natur nach 2. Petr. 1, 4. Unter den zentral gebrauchten Stellen stehen die drei ersten Bitten des Vater Unsers mit der Bedeutung, die dem Reiche Gottes eingeräumt wird, und J o h . 7,17 - das Wort von der Erkennbarkeit für die Richtigkeit von

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Jesu „Lehre" auf ethischem Grunde, das zu einem Lieblingswort von Albrecht Ritsehl und seiner Schule wurde, w o r ü b e r gelegentlich Karl Barth spottete. Ü b e r h a u p t ist die U m s e t z u n g von Mystik in Ethik einer der durchgehenden Z ü g e im theologischen Denken des Pietismus. Inzwischen ist durch den Nordamerikaner deutscher H e r k u n f t F. Ernest Stoeffler (geb. 1922) eine neue Gesamtdarstellung des Pietismus in englischer Sprache vorgelegt worden, die v o m Puritanismus bis zu Johann Heinrich Jung-Stilling reicht ( T h e Rise of Evangelical Pietism, Leiden, Brill 1965; German Pietism during the Eighteenth Century, ebd. 1973). Diese beiden Bände werden fur lange das standard w o r k für das ganze Gebiet darstellen. Ihr Wert besteht in folgenden Zügen: 1. D e r Pietismus ist von Anfang bis Ende - mit Recht - als ökumenische B e w e g u n g aufgefaßt und dargestellt worden. Das, was Erich Beyreuther (geb. 1904) und ich i m einzelnen aufzuzeigen versucht haben, Beyreuther an Francke, ich an Spener, Francke und Zinzendorf, darüber hinaus Fritz Blanke und Heinz Motel (geb. 1910: Zinzendorfs ökumenische Gedankenwelt, Diss. Basel 1940) an dem letzteren, ist hier beherrschendes Prinzip. 2. D u r c h einen relativ einfachen, aber klaren, keineswegs v e r s c h w o m menen Begriff v o m Pietismus, der u m „experiential religion", „religious experiency" kreist, der mit dem einfachen von Goeters „das f r o m m e Leben" verwandt ist, aber mehr besagt als dieser, w u r d e es möglich, die verschiedenartigen Erscheinungen und Spielarten, deren Verschiedenheit Friedrich Wilhelm Kantzenbach (geb. 1932) so stark empfindet, daß er den einheitlichen Begriff überhaupt preisgibt (Orthodoxie und Pietismus, Gütersloh 1966) als eine Einheit zusammenzufassen. Dabei fand keine Vergewaltig u n g statt. 3. Die Abhängigkeit wird jeweils nur soweit in Anschlag gebracht, als sie unbestritten ist und sich nachweisen läßt. 4. Die ausgesprochen theologischen Denker wie in erster Linie Zinzendorf u n d Oetinger werden nach den besten Forschern wiedergegeben und in überzeugender, zwangloser Weise in den Gesamtgang des Geschehens hineingenommen, so daß eine wirkliche und überzeugende Einordnung erfolgt. In wohl keinem der bisherigen Bücher ist der Ü b e r g a n g v o m „theologischen" z u m schlichten „nichttheologischen" Pietismus so bruchlos vollzogen w o r d e n . Dazu half auch der unter 2. wiedergegebene einfache Begriff für die gesamte B e w e g u n g mit. 5. Sämtliche bisher geleisteten Forschungsbeiträge wurden einbezogen und in angemessener Weise eingebaut. Die gleichmäßige Vertrautheit des Verfassers mit der deutschen und mit der englischen Sprache wirkt sich dahin aus, daß eine flüssige, für jedermann lesbare Darstellung entstand, die sich an das Tatsächliche hält, aber die theologischen Hintergründe nicht zurückdrängt. Betrachtet m a n das Werk im ganzen, so bleibt hauptsächlich die Frage, ob nicht doch noch mehr an theologischer Reflexion angewandt werden

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m u ß , u m das gedankliche Konzept klar zu erfassen und die - m. E. entscheidende - Gegenüberstellung mit der Reformation so zu vollziehen, daß sie wirklich brauchbar wird und die Alternative deutlich werden läßt. Wenn das in der gebotenen Tiefe geschieht, dann m ü ß t e auch das Verhältnis zwischen Reformation und O r t h o d o x i e sowie dasjenige zwischen O r t h o d o x i e und Pietismus klar werden. Erich Beyreuther hat der Erforschung des Pietismus im wesentlichen durch Beiträge zu August H e r m a n n Francke und Zinzendorf gedient. U n t e r den von i h m verfaßten Büchern steht die Habilitationsschrift August Hermann Francke und die Anfänge der ökumenischen Bewegung (Leipzig 1957) an der Spitze. Hier ist nicht nur sorgfältig, vor allem aus dem FranckeArchiv in Halle und aus d e m in Tübingen aufbewahrten Briefwechsel des Waisenhausgründers, alles Erforderliche herausgeholt und ansprechend dargeboten worden, sondern überhaupt ein neues T h e m a angefaßt und z u m Bewußtsein gebracht worden. Es gab dafür zwar Vorarbeiten, vor allem von Richard K a m m e l (August Hermann Francke und die Diaspora in Osteuropa, 1938, dasselbe für Südosteuropa 1939 [Gustav-Adolf-Verein Leipzig]), v o n Ilmari Salomies (Der hallische Pietismus und Rußland im Zeitalter Peters des Großen, Helsinki 1935) und von mir (England und der deutsche Pietismus, E v T h 13 (1953), S. 205-224; Das hallische Waisenhaus und England im 18. Jahrhundert. - Ein Beitrag zum Thema: Pietismus und Oikumene (1951) s. u. S. 270—283; „The Ecumenical M o v e m e n t in Continental E u r o p e during the 17th and 18th Century", in: A History of the Ecumenical Movement 1517-1948, London 1953, pp. 73-120; deutsch (erweitert): „Die ökumenische B e w e g u n g auf dem europäischen Festlande im 17. und 18. Jahrhundert", in: Geschichte der ökumenischen Bewegung 1517-1948, G ö t tingen I 1957, S. 100-166). Aber erst durch Beyreuther erhielt es die notwendige Bearbeitung in der erforderlichen Selbständigkeit. An Archivgut konnte er, damals in Leipzig, nicht das benutzen, was das Londoner Archiv der S P C K (Society for P r o m o t i n g Christian Knowledge) enthält, Franckes Partnerin fur Britannien und Nordamerika. Die Biographie Franckes ist flott geschrieben u n d gewinnt durch ihre Anschaulichkeit. Die überreichen Bestände des Archivs in Halle ebenso wie die Darstellung der Theologie lassen noch viele Wünsche unerfüllt. Das war in der begrenzten Zeit nicht zu schaffen. Infolgedessen konnte der notwendige Fortschritt über Kramer hinaus nicht erreicht werden. Dazu bedarf es einer neuen, gründlichen Durchforschung des inzwischen wesentlich besser geordneten Archivs. Anders steht es mit der dreibändigen Biographie des Grafen Zinzendorf (Bd. I: Der junge Zinzendorf, M a r b u r g 1957; Bd. II: Zinzendorf und die sich allhier beisammen finden, ebd. 1959; Bd. III: Zinzendorf und die Christenheit 1732-1760, ebd. 1961). Hier hat er sich von vornherein mehr Zeit g e n o m m e n und die Archivstudien weiter ausgedehnt. Seine lebendige Schreibart u n d sein uneingeschränkt positives eigenes Verhältnis zu dem, was er

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darstellte, kamen d e m Ganzen zugute. Freilich trat auch hier trotz aller B e m ü h u n g e n das theologische Anliegen und damit das Verhältnis z u m mystischen Spiritualismus, von dem er lange Zeit als einer großartigen Gesamtdeutung der christlichen Aussage angezogen worden war, bis er durch die Gespräche mit J o h a n n Konrad Dippel zur endgültigen Absage gelangte, nicht genügend in seiner Größe heraus. Ebenso kamen die K ä m p f e in Nordamerika, die überraschenderweise zugunsten seines Gegners Heinrich Melchior Mühlenberg (1711-1787) ausgingen und die B r ü dergemeine auf ein bescheidenes Sonderdasein zurückwarfen, während das kirchliche Luthertum einen stetigen, im ganzen beachtlichen und glanzvollen Aufstieg n a h m , nicht zu ihrem Recht. So wird man das dreibändige Werk trotz seiner Vorzüge nicht als die abschließende Biographie der einzigartigen Erscheinung des Grafen betrachten dürfen. T r o t z d e m sind Beyreuthers Verdienste groß. Bei seiner Art der erzählenden Darbietung versteht man, daß seine Bücher in allen Schichten gelesen werden und sich einen festen Platz i m Herzen der neupietistischen F r o m m e n erobern. Er begleitete seine Studien durch zahlreiche Aufsätze, die teilweise noch mehr enthalten und noch tiefer eindringende Studien verraten als in die biographischen Bücher einging. Erhard Peschke widmete eine lang dauernde und tief eindringende Forscherarbeit der theologischen Erkenntnis August H e r m a n n Franckes (zusammenfassend: Studien zur Theologie August Hermann Franckes, BerlinO s t I 1964; II 1966). Ihm gelang es, zum ersten Male, den Begründer des Waisenhauses, den m a n bisher nahezu ausschließlich als Organisator und Praktiker gewürdigt hatte, theologisch zu deuten. Das ist in der Forschungsgeschichte ein Wendepunkt. Auch w e n n er sich weitgehend auf die Darbietung der Positionen beschränkte und auf den Vergleich etwa mit der O r t h o d o x i e oder mit Spener verzichtete, bedeuteten seine materialreichen A u s w e r t u n g e n der Predigten und sonstigen Schriften eine unerwartete Bereicherung. In den bisher vorliegenden zwei Bänden trat vor allem die selbständige eigenartige Hermeneutik Franckes zutage. Peschke ist auch der Hauptanteil an der k o m m e n d e n historisch-kritischen Gesamtausgabe v o n Franckes Werken anvertraut. Im Z e n t r u m seines theologischen Franckebildes steht der Gegensatz zwischen den Kindern Gottes und den Kindern der Welt. In allem, in der Gesamthaltung wie in der Einzeldeutung steht er meiner Gesamtauffassung des Pietismus sehr nahe und bestätigte insbesondere, was mir wertvoll war, die beherrschende Rolle der Wiedergeburt für sein Denken, die ich als Grundlage seiner Katechismuspredigten erweisen konnte („A. H . Franckes Katechismuspredigten", in: Luther-Jahrbuch, X X X I I I (1966), S. 88-117; wiederabgedruckt in meiner Aufsatzsammlung: Wiedergeburt und neuer Mensch. Gesammelte Studien zur Geschichte des Pietismus (AGP 2) Witten/Ruhr 1969, S. 195-211). So bin ich davon überzeugt, daß sich Peschkes Auffassung Franckes behaupten wird, gerade in ihrer Korrektur des herrschenden Bildes. Wenn auch einmal der 73

dritte abschließende B a n d vorliegen w i r d , d a n n w i r d sich die Möglichkeit eines theologischen Q u e r s c h n i t t s durch die f u h r e n d e n D e n k e r A r n d t , Spener, Francke u n d Z i n z e n d o r f , vielleicht sogar Bengel u n d v o r allem O e t i n g e r ergeben. D a n n k ö n n t e der Pietismus adäquat in die Geschichte des christlichen D e n k e n s eingereiht u n d sein Standort dort zutreffend bestimmt werden13. W i n f r i e d Zeller e r b a r m t e sich vor allem Valentin Weigels (1530-1588), G e r h a r d Tersteegens (1697-1769) u n d C o n r a d Mels (1666-1733), eines M a n n e s , der v o m Pietismus ausgehend, als B e f ü r w o r t e r der Mission, der Irenik zwischen den Konfessionen u n d als T e c h n o l o g e in m a n c h e m die B r ü c k e zur A u f k l ä r u n g bildete. Aus der Schule Erich Seebergs h e r v o r g e gangen, schränkte er dessen h o h e B e w e r t u n g des mystischen Spiritualism u s eher ein u n d gab der F r ö m m i g k e i t v o r der T h e o l o g i e den ersten Platz. Besonders w e r t v o l l w a r es, daß er auch der K i r c h e n m u s i k seine A u f m e r k samkeit z u w a n d t e u n d d a m i t die These v o n der künstlerischen U n f r u c h t barkeit des Pietismus widerlegte (Theologie und Frömmigkeit. G e s a m m e l t e Aufsätze herausgegeben v o n B e r n d Jaspert, M a r b u r g 1971). Seine sorgsam e Interpretation der mystischen S t r ö m u n g e n u n d Literatur w i r d w e g w e i send bleiben, auch w e n n er die ziemlich scharfe E n t g e g e n s e t z u n g H e p p e s nicht w i e d e r a u f g e n o m m e n hat. In der Historischen K o m m i s s i o n zur E r f o r s c h u n g des Pietismus betreut er die historisch-kritische A u s g a b e der W e r k e Tersteegens, w o b e i das v o n Wilhelm Goeters seinerzeit g e s a m m e l t e Material einbezogen wird. Diese überaus emsige v o r w i e g e n d theologisch gerichtete Arbeit w u r d e in den letzten dreißig J a h r e n flankiert d u r c h Biographien. Die beiden v o n B e y r e u t h e r über Francke u n d Z i n z e n d o r f sind bereits genannt, auch diejenige v o n R e n k e w i t z über Z i n z e n d o r f . H i n z u k o m m e n v o r allem m e i n e beiden B ä n d e über J o h n Wesley (Zürich, F r a n k f u r t a . M . 1953 u n d 1966). A n dieser Stelle m ö c h t e ich n u r folgendes in aller K ü r z e dazu sagen: M i r w a r es d a r u m zu tun, das Verhältnis z u m deutschen Pietismus klar zu b e s t i m m e n . M o t o r der inneren E n t w i c k l u n g bei d e m B e g r ü n d e r des M e t h o d i s m u s bildete das Verlangen, die innere L e b e n s f o r m des U r c h r i s t e n t u m s w i e d e r z u g e w i n e n . Das veranlaßte ihn, das N e u e T e s t a m e n t beständig in der U r s p r a c h e zu lesen u n d als Heidenmissionar nach Georgia in N o r d a m e r i k a zu gehen. Die dort e m p f a n g e n e n E i n d r ü c k e bedeuteten nach meiner Ü b e r z e u g u n g m e h r f ü r ihn als die v o r a u s g e h e n d e n stillen J a h r e in O x f o r d , die in der britischen u n d teilweise auch in der n o r d a m e r i kanischen F o r s c h u n g als die entscheidende Phase f ü r sein W e r d e n angesehen w e r d e n . D o r t vollzog sich der Wandel v o n einem meditativen zu e i n e m aktiven Leben, dort begegnete i h m der deutsche Pietismus in zwei 13 Die als Band III der genannten Studien geplante Arbeit erschien u. d. T . B e k e h r u n g u n d R e f o r m . Ansatz u n d Wurzeln der T h e o l o g i e August H e r m a n n Franckes. Bielefeld 1977 ( A G P 15).

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voneinander verschiedenen und miteinander konkurrierenden Gestalten. Z u meiner Überraschung m u ß t e ich feststellen, daß sich Wesley nach d e m ersten starken Eindruck, den er von den Herrnhutern empfing, doch auf die Seite des hallischen Pietismus schlug, der ihm in den Pfarrern der Salzburger Emigranten begegnete. Z w a r ü b e r w o g zunächst noch der herrnhutische Einfluß, der auch seine Bekehrung am 24. Mai 1738 in London bestimmte. Aber bei d e m abschließenden Gespräch mit d e m Grafen Zinzendorf i m September 1741 in London, das mit der T r e n n u n g der beiden endete, waren es die klassischen A r g u m e n t e des hallischen Pietismus, die Wesley ins Feld führte. Weiterhin k a m es mir darauf an, am A u f b a u der methodistischen Gemeinschaften zu zeigen, wie sich eine Gemeindeorganisation ausnimmt, die von der Seelsorge als dem zentralen D a t u m ausgeht. Einen neuen T y p u s der biographischen Forschung hat für den Pietismus Johannes Wallmann (geb. 1930) begründet, und zwar mit dem sorgfältig gearbeiteten Bande Philipp Jakob Spener und die Anfänge des Pietismus (Tübingen 1970). Er bewährte die am stärksten von Mirbt hervorgehobene Tatsache, daß die Frühgeschichte des Pietismus weithin mit der Biographie Speners zusammenfällt. Nach einer denkbar genauen Milieuschilderung, in der namentlich die einzelnen Personen deutlich hervortreten, die für den j u n g e n Spener wichtig wurden, seine Lehrer, die Professoren der Straßburger Adelsuniversität, der Hofprediger Joachim Stoll, der später sein Schwager wurde, widmete er der inneren Entwicklung seines Helden seine bis in die archäologische Kleinarbeit reichende Aufmerksamkeit. Keine Ecke bleibt unbeleuchtet. Der bisher vorliegende erste Band führt die Lebensgeschichte bis in die Frankfurter Frühzeit. Der Charakter Speners wird vielleicht nicht allzusehr in dieser neuen Darstellung gegenüber dem bisher gültigen Bilde verändert. Immerhin wird seine wissenschaftliche Beflissenheit, namentlich im Felde der Geschichte, nicht als einziges Kennzeichen vorgeführt. Ergänzt wird es durch die Hingabe an die Bibelwissenschaft, in der vor allem der Obersachse (Lausitzer) Sebastian Schmidt aus Bautzen für ihn entscheidende Bedeutung erlangte. Höchst bedeutungsvoll ist die völlig neue Darlegung des Verhältnisses zwischen Spener und J o h a n n Jakob Schütz (1640-1690), des j u n g e n Juristen in Frankfurt (Main), der ein Anhänger der Labadisten war und mit Anna Maria van Schurman (1607-1678) in Verbindung trat. Spener erscheint in Wallmanns neuer Darstellung als der Getriebene, nicht als der fuhrende Geist in d e m tatsächlich von Schütz geleiteten f r o m m e n Kreise auf dem Salhof der Baronin von Eyseneck, auch nicht eigentlich als Diplomat, sondern als ein M a n n , der sich fortlaufend in Verlegenheit befindet. Hier wird sich m ö g licherweise ein gewisser Dissensus in der Forschung bilden. Eine volle W ü r d i g u n g des überaus wertvollen Werkes, das Grünbergs Biographie in vielen Punkten, nebensächlichen und wichtigen, berichtigt, wird erst möglich sein, w e n n weitere Bände vorliegen, vor allem die Frankfurter 75

Zeit ganz dargestellt ist. Bisher handelt es sich u m Einflüsse, Anregungen und Vorbereitungsstadien. Ein entscheidendes D a t u m ist Wallmann gelungen: Er konnte die Beschäftigung Speners mit Luther endgültig aufhellen. Danach ergab sich, daß er ein großes L u t h e r k o m m e n t a r w e r k mit Frankfurter Pfarrern übernahm, das ihm eine unter den Zeitgenossen einzigartige Vertrautheit mit d e m Reformator verschaffte. Seine Straßburger Lehrer hatten ihm in dieser Hinsicht nichts geboten. Die eigenartige, große Gestalt von Johann Albrecht Bengel (1685-1754) hat zwei Biographen gereizt: Karl H e r m a n n (Stuttgart 1937) und Gottfried Mälzer (Stuttgart 1970). Der erstere konnte nur die Frühzeit schildern, tat das jedoch mit einer vorbildlichen, mustergültigen Ausführlichkeit, so daß der Leser dieses schlichte konzentrierte Leben gleichsam mit vollzieht. Der zweite, der durch seine Dissertation über Bengel und Zinzendorf. Zur Biographie und Theologie Johann Albrecht Bengels (AGP 3. Witten 1968) in vorzüglicher Weise dafür vorbereitet war, m u ß t e etwas großzügiger verfahren. Im ganzen sind wir durch beide Arbeiten über den Hauptvertreter des schwäbischen Pietismus, in dem die bibelnahe positive und kritische Schrifttheologie zu ihrer eigentlichen Darstellung kam, gut orientiert, w e n n wir noch die entsprechenden Abschnitte in d e m Sammelband Pietismus und Bibel (AGP 9) Witten/Ruhr 1970 von Kurt Aland (S. 89-147) und von Martin Brecht (S. 193-218) und weitere Studien desselben Verfassers hinzunehmen. Dagegen vermissen wir entsprechende Vorstöße f ü r Friedrich Christoph Oetinger (1702-1782), der allerdings ungleich schwieriger darzustellen ist, weil hier spezielle Kenntnisse auf fernliegenden Gebieten n o t w e n d i g werden, auf denen diese pansophisch-polyhistorische N a t u r tätig wurde. Hier wären die umfassenden, nahezu ein Leben lang betriebenen Vorarbeiten von Friedrich Häussermann, des Kenners der Kabbalistik in ihrer jüdischen und christianisierten Gestalt, aufzunehmen. Hingegen w u r d e uns (1959) eine Biographie des Oetingerschülers Philipp Matthäus H a h n (1739-1790) geschenkt. In diesem Z u s a m m e n h a n g sei die Arbeit von Robert Schneider genannt: Hegels und Schellings schwäbische Geistesahnen (Berlin 1938), die die H e r k u n f t der beiden großen schwäbischen Philosophen aus der Theologie Bengels und in noch höherem Grade Oetingers erweisen wollte. Weithin in ihren klugen Beweisgängen a n g e n o m m e n , ζ. B. von d e m führenden Philosophen Hans Georg Gadamer 1 4 und von mir 1 5 , hat Martin Brecht erheblichen Einspruch dagegen geltend gemacht, weil sich die A b k u n f t nicht aktenmäßig belegen läßt. Die Schlüsselfigur Gottfried Arnold (1666-1715) hat verständlich genug in dieser Zeit neue Beachtung gefunden, außer von mir selbst (Die Interpretation der neuzeitlichen Kirchengeschichte, Z T h K 54 (1957), S. 180-188, und 14 Hans Georg Gadamer, Inquisitio in sensum communem et rationem (1753). Neudruck Stuttgart-Bad Cannstatt 1964, S. V. 15 Martin Schmidt, „Der Pietismus und das moderne Denken", in: Pietismus und moderne Welt (AGP 12) Witten/Ruhr 1974, S. 66-68.

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Das pietistische Pfarrerideal und seine altkirchlichen Wurzeln, 1973, s. u. S. 122—155) v o r allem v o n H e r m a n n Dörries, der seine ü b e r r a g e n d e B e h e r r s c h u n g der Alten Kirchengeschichte u n d seine g r o ß e Belesenheit in allen andern E p o c h e n auf dieses Gebiet a n g e w a n d t hat (Geist und Geschichte bei Gottfried Arnold, G ö t t i n g e n 1963). D a n a c h verdient nicht die U n p a r t e i ische K i r c h e n - u n d Ketzerhistorie die Mittelpunktstellung bei diesem D e n k e r u n d Historiker, sondern das U r c h r i s t e n t u m , so daß der Widerstreit zwischen „Geist" u n d „Geschichte", zwischen urchristlicher F o r d e r u n g u n d V e r h e i ß u n g einerseits, der kirchlichen G e g e n w a r t andrerseits sein D i c h t e n u n d T r a c h t e n erfüllt. Es ist i h m u m eine Kirchengeschichte v o n innen, u m das i n w e n d i g e C h r i s t e n t u m zu tun, wie es sich besonders in seinen Liedern ausspricht, die T r a u g o t t Stählin vortrefflich untersucht hat (Göttingen 1959). Ich k ö n n t e d e m weithin z u s t i m m e n u n d sehe den Gegensatz zwischen Dörries u n d m i r weit geringer (vgl. a. meinen Beitrag Das Frühchristentum in der evangelisch-lutherischen Überlieferung vom 18.-20. Jahrhundert, in: Oecumenica 1971/72, S. 89-97). M a r t i n Greschats g r o ß e M o n o g r a p h i e über Valentin E r n s t Löscher (1673-1749) den letzten bedeutenden Gegner des Pietismus u n d Vertreter der lutherischen O r t h o d o x i e k a n n hier n u r begrenzt zur Sprache k o m m e n , da das L e b e n s w e r k dieses M a n n e s eine ganze Reihe andrer T h e m e n einschließt (Zwischen Tradition und neuem Anfang. Valentin Ernst Löscher und der Ausgang der lutherischen Orthodoxie. W i t t e n / R u h r 1971). A u c h in diesem gedankenreichen u n d geistig eleganten Buch, das auf solider G r u n d l a g e ruht, o h n e i r g e n d w i e d a m i t zu p r u n k e n , ist die herrschende R i c h t u n g auf eine theologische Interpretation u n d B e w e r t u n g des Pietismus u n v e r k e n n bar. Als Kennzeichen des hallischen Kreises erscheint die Wiedergeburt, hier zugespitzt u n d verschärft zur persönlichen B e k e h r u n g . A u ß e r d e m r ü c k t — u n d dies ist ein neuer Beitrag zur F o r s c h u n g - die Geschichtstheologie, die in der E n t w i c k l u n g des Waisenhauses einen direkten Gottesbeweis i m Zeitalter des U n g l a u b e n s sieht, in den R a n g eines solchen auf. D a m i t bietet Halle etwas Neues, das über Spener hinausgeht u n d in gewisser Weise in H e r r n h u t wiederholt w i r d . Greschat zieht selbst diese Linien nicht, aber sie legen sich bei der Lektüre seines Buches nahe. Im ganzen ist es i h m gelungen, den letzten ernsthaften G e g n e r des Pietismus nicht n u r lebendig, m o d e r n , j a vielleicht sogar aktuell zu machen, auf alle Fälle aber den E r n s t e r k e n n e n zu lassen, mit d e m er k ä m p f t e u n d K o m p r o m i s s e n abhold blieb. Beide, der hallische Pietismus u n d sein Widersacher, v e r t r a ten g r o ß e b e d e u t e n d e Positionen, die nicht widerstandslos zu r ä u m e n w a r e n . Ein wesentlicher w e i t e r f ü h r e n d e r Z u g liegt auch darin, daß G r e schat die M o d e r n i t ä t beider klar erkennen läßt. Gerade d u r c h seine Darstellung w i r d deutlich, daß B e s c h ä f t i g u n g m i t d e m Pietismus nicht W ü h l e n in der V e r g a n g e n h e i t bedeutet, s o n d e r n die Sachen u n d Fragen zur Sprache bringt, die heute in der Christenheit gegenüber der Welt wie i m eigenen H a u s e zur E n t s c h e i d u n g anstehen. 77

Nach dieser umfassenden Heerschau über die eigentlich theologische Bemühung um den Pietismus ist es Zeit, die außertheologische Beschäftigung mit ihm vorzufuhren. Hier stehen die Untersuchungen von Carl Hinrichs (1900-1961) an der Spitze. Er stieß im Zusammenhang seiner Darstellung der brandenburgischen Wollindustrie und des Regierungsbeamten Kraut auf den hallischen Pietismus, sodann als Biograph Friedrich Wilhelms I. (Bd. I Hamburg 1943). Francke hatte an der Erziehungsinstruktion Friedrich Wilhelms I., des Soldatenkönigs entscheidend mitgewirkt. Das ging auf seinen Vater Friedrich III. /I. von Brandenburg-Preußen zurück und setzte sich im Wirken des Erzogenen breit fort. Dabei erschien dem Biographen der Pietismus, das hallische Bemühen um Lebensreform und Weltdurchdringung, als pädagogische, politische und soziale Reformbewegung. V o n da aus war Hinrichs die Thematik „Pietismus und Preußentum" gegeben, die er 1971 in dem großen Buche mit der Umkehrung des Titels zur glänzenden Darstellung brachte. In diesem Werk hat er die Summe gezogen. Der hallische Pietismus erschien nun, und diese Erkenntnis dürfte sich durchsetzen, eben als großangelegte Weltreform, als pädagogisch-soziale Weltverwandlung, die mit kleinen, mindestens mit begrenzten Mitteln auf das große Ziel zuging. Das erste gewichtige Kapitel trug darum die Überschrift „Die universalen Zielsetzungen des hallischen (,Halleschen') Pietismus". Der Verfasser zeigte den inneren Zusammenhang zwischen Pietismus und Militarismus auf, ebenso zwischen Pietismus und Frühkapitalismus, schließlich geistesgeschichtlich ebenso wie sozialgeschichtlich zwischen Pietismus und Aufklärung. Er prüfte das Verhältnis zu den verschiedenen Ständen und kam nahezu überall zu neuen, grundlegenden und wegweisenden Ergebnissen. Damit war das Klischeebild vom weltfernen, introvertierten, allein um das eigene Heil kreisenden Pietismus endgültig zerbrochen. Vor den erstaunten Augen entstand ein weltzugewandter, positiver, weltbewältigender Pietismus, der Zukunft in sich trug. Es ist hier nicht möglich, sämtliche Ergebnisse in ihrer Tragweite vorzuführen. Jedenfalls wurde klar, daß hier für die künftige Forschung noch kaum bestellte Felder warten. Es war dann vor allem Klaus Deppermann (geb. 1934), der in seiner meisterhaften Untersuchung Der hallische Pietismus und der preußische Staat unter Friedrich I I I . / I . (Göttingen 1961) die Forschungen von Hinrichs fortsetzte. Bei ihm trat als wertvoller Zug neu hinzu, daß er - beinahe zum ersten Male - die theologische Erforschung des Pietismus voll einbezog und an seinem Teile die beherrschende Stellung der Wiedergeburt als Grundrichtungspunkt bestätigte. Ähnliche Wege beschritt er in dem Beitrag „Pietismus und moderner Staat" in dem Sammelband: Pietismus und moderne Welt (AGP 12) Witten/Ruhr 1974, S. 75-98. Hier stellte er abschließend fest: „Der preußische absolutistische Staat und der lutherische Pietismus verbündeten sich, um gemeinsam in der preußischen Gesellschaft interkonfessionelle Toleranz und das Menschenrecht auf Gewissensfreiheit durchzusetzen. Allein

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mit Hilfe staatlicher Dekrete wäre dies nicht möglich gewesen. Der Pietismus leistete einen wesentlichen Beitrag zur Befreiung des Individuu m s von den dogmatischen Fesseln der O r t h o d o x i e und zur sozialen Gleichstellung religiöser Minderheiten. Theologisch war dieser Einsatz zur Verwirklichung von Toleranz und Gewissensfreiheit in dem pietistischen Begriff der Wiedergeburt, des Herzensglaubens und in der T r e n n u n g der „Welt" v o m „Reich Gottes" gegründet." Die Bedeutung der Studien von Hinrichs kann kaum übertrieben w e r den. Das gilt sowohl für die neuen Erkenntnisse, die sie erbrachten, als auch für die Forschungsgeschichte und ihren Gang im ganzen. Die U m kehrung des Bildes v o m Pietismus ist fundamental: Nicht mehr verk r ü m m t e , in sich gekehrte Menschen sind seine Repräsentanten, sondern frische, risikofreudige U n t e r n e h m e r . Für den Theologen erhebt sich freilich sofort die Aufgabe, das Verhältnis zur reformatorischen, zuerst zur lutherischen, d . h . von Luther selbst bestimmten Weltbeurteilung und Weltbewältigung, Welterfassung wie Weltgestaltung festzulegen. Zweifellos liegen die Dinge in beiden Sphären anders: Eine gewisse Selbständigkeit, wie sie Luther auf Grund des Freiheitsmoments, das in Gottes Schöpferabsicht für den Menschen und für die Welt enthalten war, gab der Pietismus nicht zu. Er ging sofort auf die Veränderung, auf die V e r w a n d lung zu einer Stätte für Gottes Ehre, nicht nur für die Bewährung christlicher Geduld unter widrigen U m s t ä n d e n zu. Es war eine Freude für den Verleiher wie für den Geehrten, als im Dezember 1959 die Evangelischtheologische Fakultät der Johannes Gutenberg-Universität in Mainz auf meinen Antrag an Carl Hinrichs die Würde des Ehrendoktors verlieh, nur ein Vierteljahr vor seinem Tode. Ich selbst m u ß gestehen, daß ich nie einen Gelehrten getroffen habe, mit dem ich so unmittelbar und in großer sachlicher Ü b e r e i n s t i m m u n g zusammenarbeiten konnte. Unmittelbar vor meinem Weggang nach Mainz hatten wir in Berlin ein gemeinsames Seminar vereinbart. Außer Hinrichs und D e p p e r m a n n ist es vor allem H a r t m u t Lehmann gewesen, der den politischen und wirtschaftlich-sozialen Auswirkungen des Pietismus nachgegangen ist, allerdings nicht in Brandenburg-Preußen, sondern in Württemberg. Sein großes Werk Pietismus und weltliche Ordnung in Württemberg (Stuttgart 1969) gibt einen eindrucksvollen Längsschnitt und gehört daher in die Regionalgeschichte. Infolgedessen kann es hier nicht die W ü r d i g u n g finden, die es verdient. Es ist sorgfältig und mit ζ. T. scharfem Urteil v o m 18. Jahrhundert bis z u m 20., bis z u m unheilvollen Jahre 1933 geführt. D e r große Reichtum läßt sich gar nicht mit knappen Worten wiedergeben. Hervorgehoben seien nur einige leitende Züge: Die in W ü r t temberg besonders enge Z u o r d n u n g von Kirche und Staat, die die Sozialo r d n u n g und das Bildungsgefüge trug, erwies sich j e länger desto weniger als günstig. Insbesondere w u r d e sie v o m Liberalismus des 19. Jahrhunderts unterhöhlt. Auch der Pietismus selbst war hier zwiespältig. Er unterstützte 79

keineswegs allgemein diese O r d n u n g . D e r einflußreiche Bengel b e w i r k t e eine Spaltung unter den Pietisten. Die eschatologische O r i e n t i e r u n g setzte sich nicht bei allen durch, u n d so gab es solche, die die Welt ausdrücklich Welt sein ließen. U n t e r den letzten m a ß g e b e n d e n B ü c h e r n sei z u m Abschluß dieses forschungsgeschichtlichen Rückblicks eine gründliche U n t e r s u c h u n g genannt, die d e m landesherrlichen K i r c h e n r e g i m e n t g e w i d m e t ist: M a r t i n Kruse, Speners Kritik am landesherrlichen Kirchenregiment und ihre Vorgeschichte ( A G P 10) W i t t e n / R u h r 1971. Im M i t t e l p u n k t seiner Studien stand d a r u m w i r d das B u c h organisch hier an L e h m a n n s g r o ß e Darstellung a n g e f u g t - der w ü r t t e m b e r g i s c h e christliche Klassiker J o h a n n Valentin A n d r e ä (1586-1654), der als Lutheraner d u r c h einen Besuch in G e n f z u m B e w u n d e r e r der calvinistischen Kirchenzucht g e w o r d e n w a r u n d sein g r u n d l e g e n d e s B u c h Christianopolis (1619) J o h a n n A r n d t w i d m e t e . Das Ergebnis, das K r u s e g e w a n n , kleidete er in folgende Sätze: „Johann Valentin A n d r e ä hat das landesherrliche K i r c h e n r e g i m e n t nicht ü b e r w i n d e n , s o n d e r n zu seinem eigentlichen Sinn bringen wollen . . . Dies k a n n n u r v o n o b e n geschehen, u n d z w a r in einem doppelten Sinn: 1. als T a t Gottes, der a) so etwas wie Wiedergeburt (von w a h r e r E r k e n n t n i s u n d a k t i v e m Willen zur praxis pietatis) im einzelnen erweckt, b) einen messianischen K ö n i g als Erlöser des O r b i s Christianus schickt, 2. als W e r k der O b e r e n , der f ü r die Welt i m g r o ß e n u n d i m kleinen V e r a n t w o r t l i c h e n . " 1 6 Dies galt v o n A n d r e ä . Für Spener selbst, den A b s c h l u ß p u n k t der ganzen E n t w i c k l u n g , stellte K r u s e fest, daß seine Kritik a m landesherrlichen K i r c h e n r e g i m e n t a m N e u e n T e s t a m e n t u n d an der Geschichte der Kirche v o r K o n s t a n t i n orientiert w a r . Das weltliche A m t der O b r i g k e i t , das in seiner - begrenzten - Eigenständigkeit wiederentdeckt zu haben, sich Luther als besondere E r k e n n t n i s zurechnete, n a c h d e m es „im P a p s t t u m " , unter den „geistlichen Riesen" verschüttet w o r d e n war, bedeutete f ü r den Führer des Pietismus nichts. Die A u f g a b e der O b r i g k e i t w a r ausschließlich, das Reich Christi zu fördern. A n d e r s stand es bei J o h a n n A r n d t ; er hing der lutherischen u n d o r t h o d o x - l u t h e r i s c h e n Obrigkeitslehre an. A n dreä, D a n n h a u e r u n d Spener, aber auch Christian H o b u r g , der i m G r u n d e a m w e n i g s t e n an der weltlichen O b r i g k e i t u n d ihrer A u f g a b e wie Leistung interessiert war, wollten aus d e m E v a n g e l i u m die O r d n u n g des Staates ableiten. Die überaus w e r t v o l l e u n d sorgfältige U n t e r s u c h u n g , die den Verfasser J a h r e beschäftigt hat, stößt ein neues T o r zu alten P r o b l e m e n auf, die aber lange g e s c h l u m m e r t hatten. H a n s Leubes Aufsatz „Staatsgesinnung u n d Staatsgestaltung i m deutschen P r o t e s t a n t i s m u s " (in: Das Erbe Martin Luthers und die gegenwärtige Forschung. Festschrift f ü r L u d w i g Ihmels hrsg. v. 16 Martin Kruse, Speners Kritik am landesherrlichen Kirchenregiment und ihre Vorgeschichte (AGP 10) Witten/Ruhr 1971, S. 116.

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Robert Jelke, Leipzig 1928, S. 135-164) war der wichtigste Vorläufer. Hier waren die Akzente teilweise anders gesetzt. Es ist zu erwarten, daß die höchst aktuellen Fragen die künftige Forschung noch erheblich beschäftigen werden, nachdem nach 1945 Luthers Lehre von den beiden Reichen und Regimenten und die altprotestantische Lehre von den Drei Ständen, die tatsächlich die Folgezeit beherrscht hat, während die beiden Reiche und Regimente auffallend zurücktraten, in den Vordergrund der politischen und sozialen Ethik im Protestantismus gerückt ist. Dabei ist es nötig, i m m e r wieder einmal daran zu erinnern, daß sie für den Reformator gerade das nicht war, w o z u sie in der gegenwärtigen Erörterung hochstilisiert oder besser: erniedrigt, wenn nicht herabgewürdigt w o r d e n ist, nämlich eine Anweisung für politisches oder soziales Handeln. Bei i h m hatte sie die Funktion einer geschichtstheologischen Verdeutlichung seines Handelns i m Geschehen der Welt. Kruse hat erneut auf die Wichtigkeit des mystischen Spiritualismus hingewiesen, auch w e n n er im einzelnen meine Vermutung, daß Spener bei der Abfassung der Pia Desideria von H o b u r g s Spiegel der Mißbräuche im Predigamt im heutigen Christentum (1644) beeinflußt worden ist, nicht bestätigt, sondern unwahrscheinlich gemacht hat. An diese Frage, wie sich die beiden B e w e g u n g e n zueinander sachlich und persönlich verhalten, ob der Pietismus den mystischen Spiritualismus beerbte, was er aufnahm und was er abstieß, werden sich künftig zahlreiche Erörterungen, Behauptungen, V e r m u t u n g e n und Urteile ansetzen. Deshalb sei auf eine Arbeit hingewiesen, die diesen ganzen Fragenkreis ziemlich früh und weitblickend ins Auge faßte, Heinrich B o r n k a m m s Forschungsbericht Mystik, Spiritualismus und die Anfange des Pietismus im Luthertum (Gießen 1926). Die sorgsam abgewogenen Urteile des Kenners vor allem von Meister Eckhart, Paracelsus, J a k o b B ö h m e und ihren Verzweigungen wie Hintergründen verdienen i m m e r wieder und gerade in der gegenwärtigen Forschungslage hohe A u f m e r k s a m k e i t - zumal der Verfasser zu den besten Lutherexperten zählt und in der gleichzeitigen geistigen Beherrschung der Mystik von niemand e m übertroffen wird. e) Schluß und Ausblick Blickt man zurück, so drängt sich bei aller Verschiedenheit in der ungemein angewachsenen und intensivierten Forschung, bei aller Verschiedenheit i m Ausgangspunkt und in der Stellung eine deutliche Konvergenz auf. Sie liegt etwa in den folgenden Erkenntnissen: 1. Der Pietismus ist nicht Reaktion, sondern eine selbständige Größe. 2. Es ist ein Kurzschluß, wenn m a n ihn allein oder auch vorwiegend aus d e m Gegensatz zur O r t h o d o x i e verstehen will. 3. Es geht darauf aus, die Reformation, insbesondre die Reformation Luthers zu erneuern, zu aktualisieren, fortzuführen und zu vollenden.

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4. Mit alledem ist seine im Grunde theologische Prägung nicht zu bestreiten. Sie drängt sich fast allen Forschern unwiderstehlich auf. 5. Auch seine Frömmigkeit muß theologisch begriffen und nicht nur der Orthodoxie, sondern der Reformation, aber auch dem mystischen Spiritualismus als in sich geschlossenen, profilierten Gestaltungen der christlichen Aussage gegenübergestellt werden. 6. Die Absicht und erst recht die Wirkung des Pietismus greifen weit über den kirchlichen Bereich hinaus in Politik, Wirtschaft, Kultur und vor allem Erziehung. Sie nehmen zwar nicht die Aufklärung vorweg, aber deuten sie da und dort an. 7. Wenn auch hinsichtlich der Vorgeschichte erhebliche Differenzen bestehen, am stärksten hinsichtlich der Rolle, die dem mystischen Spiritualismus zukommt, so besteht doch größere Übereinstimmung im Blick auf die Wirkungen, die v o m Pietismus ausgingen und die sich keineswegs auf die Erweckungsbewegung im 19. Jahrhundert, auf den Methodismus und seine Folgen im englischsprechenden Bereich beschränken. Denker von hohem Range wie Friedrich Schleiermacher und Sören Kierkegaard, aber etwa auch eigenartige und bedeutungsvolle B e w e gungen wie der Anglokatholizismus und die Innere Mission stammen mindestens zum Teil von ihm ab. Die Beziehung zur Romantik läßt sich nicht in eine kurze Formel fassen, aber auch hier liegen Verwandtschaften vor, die aufgehellt werden müssen. Ein Ausblick kann nur einige Aufgaben nennen, die gelöst werden sollten. Die erste besteht in der Bereitstellung von mehr Quellen in historisch-kritischen Ausgaben, wozu vor allem auch das Kirchenlied gehört, das bis auf Traugott Stählin fur Gottfried Arnold sträflich vernachlässigt worden ist, die zweite in Biographien, die dritte in Verhältnisbestimmungen zu andern Bewegungen, die letzte in einer neuen Gesamtdarstellung in Ergänzung zu der neuesten von Stoeffler. Mein eigenes T a schenbuch Pietismus (Stuttgart 1972), das nicht auf eigenen Wunsch entstand, sondern auf den Wunsch des Verlegers, vermag das nicht zu leisten, zumal der Platz aufs äußerste beschränkt war und die Entwicklung des 19. Jahrhunderts mit hineingenommen werden mußte. Vergleicht man die augenblickliche Situation der Forschung mit dem Ausgangspunkt bei Tholuck vor reichlich einhundert Jahren, so ist zweifellos seitdem quantitativ und qualitativ Erhebliches geleistet worden, so daß man in Versuchung gerät, von einem echten Fortschritt zu sprechen. M ö c h t e es in solcher Weise weitergehen, damit die letzte entscheidende auf das Zentrale gerichtete und Glauben, Kirche und Welt umfassende B e w e gung in der Geschichte der Christenheit in ihrer vollen Größe, in ihrem Reichtum, in ihren Vorzügen wie in ihren Mängeln, in ihren Ursprüngen und in ihren Zielen, in ihren Leistungen wie in ihren Wirkungen voll in Erscheinung trete und angemessen beurteilt werde! Es bewährt sich auch an ihr, daß die stärkste bestimmende Kraft in der Kirchengeschichte das

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Verlangen war, die innere Lebensform des Urchristentums wiederzugewinnen 1 7 , um die Aufgaben zu bestehen, die der Schar der Jünger Jesu auf ihrem Wege durch die Welt gestellt sind.

1 7 Vgl. Martin Schmidt, Ursprung, Gehalt und Reichweite der Kirchengeschichte nach evangelischem Verständnis (Rektoratsrede der Johannes Gutenberg-Universität Mainz-Rhein v o m 6. Dezember 1962), Mainz 1963, S. 9-13 u . ö .

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Der Pietismus und die Einheit der Kirche Die i m Titel bezeichnete Frage enthüllt sich bei näherer B e t r a c h t u n g als schwierig u n d p r o b l e m r e i c h . D e n n so sehr sich der Pietismus i m Ergebnis u n d in der N a c h w i r k u n g f ü r die Einheit der Kirche positiv darstellt - ist d o c h insbesondere die allumfassende Evangelische Allianz (seit 1846) w e n n auch nicht eigentlich eine pietistische G r ü n d u n g , d o c h z u m H e i m a t b o d e n der neupietistischen, b e t o n t bibelgläubigen Christen g e w o r d e n - so m u ß m a n historisch fragen, ob der Pietismus i m letzten an der Einheit der Kirche als Kirche interessiert w a r . M a n k a n n die Frage n o c h verschärfen u n d f o l g e n d e r m a ß e n formulieren: Ist der Pietismus ü b e r h a u p t an der Kirche interessiert, oder spielt sie nicht f ü r ihn bestenfalls die Rolle des A u s g a n g s p u n k t s , w e n n nicht des primitiven Stadiums, der Kindesstufe, die zu ü b e r w i n d e n ist - ähnlich wie Nietzsche sagte: D e r M e n s c h ist etwas, das ü b e r w u n d e n w e r d e n m u ß 1 , u m d e m Ü b e r m e n s c h e n R a u m zu schaffen? D e n n das u r s p r ü n g l i c h e u n d eigentliche Streben des Pietismus richtet sich eindeutig auf den einzelnen Gläubigen. Ihn gilt es, z u m neuen M e n s c h e n , z u m K i n d e Gottes aus der neuen Geburt, z u m v o l l k o m m e n e n J ü n g e r Jesu zu m a c h e n u n d - i m E n d s t a d i u m - bis zur T e i l n a h m e an der göttlichen N a t u r (2.Petr. 1,4) zu f ü h r e n 2 . Die P r o g r a m m s c h r i f t des Pietismus i m beherrschenden lutherischen Bereich, Speners Pia Desideria v o n 1675, w a r z w a r ganz der Besserung der Kirche g e w i d m e t , aber sie erwartete alles Heil f ü r sie v o n der W i e d e r g e b u r t der einzelnen Christen, die d a n n diese erneuerte G e m e i n s c h a f t bilden u n d das allgemeine Priestertum w a h r n e h m e n w ü r d e n 3 . Es w a r n u r folgerichtig, daß i m Kirchenbegriff selbst f ü r den B e g r ü n d e r der B e w e g u n g der T o n v o m H a u p t auf die Glieder des Leibes Christi fiel4. D a r u m ist der Pietismus i m m e r wieder als Wegbereiter des m o d e r n e n Individualismus in der deutschen Klassik, der Goethezeit u n d der R o m a n t i k angesprochen w o r d e n . U n d d o c h ist das eine Teilwahrheit. D e r Wiedergeborene steht nicht allein, er sucht den Austausch, er ist angewiesen auf die Gemeinschaft, die i h m diesen v e r b ü r g t . Er weiß, daß er zu dienen hat, u n d der Dienst weist ihn an den Mitchristen. Vielleicht darf m a n so formulieren: Für den Pietisten w a n d e l t sich die Frage nach der Kirche in ihrer Wirklichkeit zu der 1 Friedrich Nietzsche, Also sprach Zarathustra (Aus dem Nachlaß 1882-1885) I, 3 (Anfang) N . s Wke. Bd. 7, Alfr. Kröner Leipzig o.J. S. 13. 2 Vgl. meine Arbeit: Teilnahme an der göttlichen Natur. 2.Petr. 1,4 in der theologischen Exegese des Pietismus und der lutherischen Orthodoxie. In: Wiedergeburt und neuer Mensch (AGP 2) 1969, S. 238-298. 3 Vgl. meine Arbeit: Speners Pia Desideria. Versuch einer theologischen Interpretation. In: Wiedergeburt und neuer Mensch (AGP 2) 1969, S. 138ff. 4 Ebda. S. 132 ff.

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Frage nach der wahren Kirche. Das könnte noch reformatorisch verstanden werden. Aber der Unterschied ist deutlich: Für die Reformatoren war die wahre Kirche dort, w o das Wort Gottes erklang, für die Pietisten dort, wo sich die wiedergeborenen Kinder Gottes zusammenfanden. Í. Die mystisch-spiritualistische

Tradition

Mit der in diesem Sinne abgewandelten Frage nach der wahren Kirche gliederte sich der Pietismus in die Überlieferung der ecclesia spiritualis, der Kirche des heiligen Geistes ein, die vom Mittelalter her, insbesondere repräsentiert durch die franziskanisch-joachitische Gedankenwelt, bestand 5 . Sie hatte sich alsbald als „biblischer Protest" 6 gegen die Wittenberger und Zürcher Reformation zu Worte gemeldet, eine radikale Wiederherstellung des Urchristentums gefordert 7 und späterhin in dem Kreise um den schlesischen Adligen Caspar Schwenckfeld von Ossig (1491?—1561) ein gewisses Sammelbecken gefunden - einen Mann, der sich weitgehend der Polemik enthielt, zeitlebens um eine Verständigung mit Luther und Melanchthon rang, sie aber zu seinem Schmerze nicht fand 8 . Auf ihn beriefen sich die mystischen Spiritualisten des 17. Jahrhunderts vorzugsweise, und ihn bekämpfte ausdrücklich die lutherische Konkordienformel von 1577, 5 Vgl. besonders Ernst Benz, Ecclesia spiritualis. Kirchenidee und Geschichtstheologie der franziskanischen Reformation. Stuttgart, Kohlhammer 1934. 6 Diese Formulierung ist der Ertrag von Karl Eckes Schwenckfeldstudien: Schwenckfeld, Luther und der Gedanke einer apostolischen Reformation. Berlin 1911; ders., Caspar Schwenckfeld. Ungelöste Geistesfragen der Reformationszeit (Alte und neue Wege zur lebendigen Gemeinde, hrsg. v. Karl Ecke und O. S. von Bibra H. 1) Gütersloh 1952; ders., Der reformierende Protestantismus. Streiflichter auf die Entwicklung der lebendigen Gemeinde von Luther bis heute (Alte und neue Wege. H. 2) Gütersloh 1952. 7 Vgl. besonders Fritz Blanke, Brüder in Christo. Zollikon b. Zürich 1955; zusammenfassend die Quellensammlung von Heinold Fast, Der linke Flügel der Reformation. Glaubenszeugnisse der Täufer, Spiritualisten, Schwärmer und Antitrinitarier (Klassiker des Protestantismus, hrsg. v. Christel Matthias Schröder Bd. IV). Carl Schünemann Bremen 1962. 8 Über Schwenckfeld vgl. Emanuel Hirsch, Zum Verständnis Schwenckfelds (Festgabe für Karl Müller Tübingen 1922, S. 145-170), jetzt wiederabgedruckt u. d. T . : Schwenckfeld und Luther. Lutherstudien II. Bertelsmann Gütersloh 1954, S. 35-67; Hans Urner, Die Taufe bei Schwenckfeld. Theol. Litztg. 73 (1948), 329-342; Seiina Gerhard Schultz, Caspar Schwenckfeld von Ossig. Norristown (Pennsylvania) 1946 (Biographie); Joachim Wach, Caspar Schwenckfeld, a pupil and a teacher in the School o f Christ. The Journal o f Religion (Chicago) X X V I (1946), pp. 1-29; Hans Joachim Schoeps, V o m himmlischen Fleisch Christi. (Slg. gemeinverständl. Vorträge und Schriften aus dem Gebiet der Theologie und Religionsgeschichte 195-196) Tübingen 1951; Reinhold Pietz, Der Mensch ohne Christus. Eine Untersuchung zur Anthropologie Caspar Schwenckfelds. Ev.-theol. Diss. Tübingen 1956; Paul L. Maier, Caspar Schwenckfeld on the person and work o f Christ. (Graduate Study IV). Published for the School o f Graduate Studies at Concordia Theological Seminary in St. Louis (Missouri) / U S A by Rooyal Van Gorcum Ltd., Assen, The Netherlands. 1959; Gottfried Maron, Individualismus und Gemeinschaft bei Caspar von Schwenckfeld. Seine Theologie, dargestellt mit besonderer Ausrichtung auf seinen Kirchenbegriff. (Beiheft zum Jahrbuch „Kirche im Osten" Bd. II) Ev. Verlags werk Stuttgart 1961.

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was seine Bedeutung beweist 9 . In der Folgezeit wurde sein Einfluß im Grunde nur durch den Johann Arndts (1555-1621) überboten. Bei Schwenckfeld wich die täuferische, insbesondere mennonitische, hoffnungsfreudige Erwartung einer darstellbaren urchristlichen Jüngergemeinde 1 0 einem deutlichen Individualismus, der sich aller Gemeinschaftsbildung gegenüber im Grunde abwartend bis pessimistisch verhielt, auf die eigene Vervollkommnung das Gewicht legte und darum in der Kirche - wenngleich er sie in der Zerstreuung der wahren Christen gegeben sah eigentlich eine Schule, eine Bildungsanstalt, erblickte 11 . War schon hier ein verborgener Radikalismus spürbar, der kirchenauflösende Möglichkeiten in sich barg, so kam dies bei Theophrast von Hohenheim, genannt Paracelsus (1493-1541) zum Ausdruck, wenn er die im Christentum und Heidentum zerstreute echte Kirche des Geistes aufsuchte und Papisten, Zwinglianer, Lutheraner und Täufer als „vier Paar Hosen eins Tuchs" verwarf 1 2 . Diese Linie setzte der Zschopauer lutherische Pfarrer Valentin Weigel (1533-1588) fort, wenn er tadelnd von der „Mauerkirchen" sprach 13 und damit einen festen Sprachgebrauch begründete, zugleich aber 1580 die Konkordienformel unterschrieb, weil auf die sichtbare Kirche nach seiner Meinung doch nichts ankam. Johann Arndt bewährte sich zwar als überzeugter lutherischer Pfarrer, der bei der Calvinisierung seiner Heimatkirche lieber sein Amt aufgab, als daß er sich der Umgestaltung unterwarf. Doch im Grunde ging es ihm um den wahren Gottesdienst, der 9 Konkordienformel Epitome XII, (BSLK 6 1967, S. 825f.); Solida Declaratio XII (ebda. S. 1091, 1096-1098). 10 Vgl. dazu vor allem Franklin H. Litteil, The Anabaptist Concept of the Church, in: The Recovery of the Anabaptist Vision Scottdale (Pennsylvania) 1957, pp. 119-134, bes. 122ff. ; ders. The Anabaptist View of the Church. Boston 2 1958. 11 Dies ist treffend hervorgehoben von Gottfried Marón, Die Anschauung von der religiösen Unmittelbarkeit bei Kaspar Schwenckfeld, seine Stellung zu den Sakramenten und sein Urteil über Katholizismus, Reformation und Täufertum. Jahrb. der schlesischen Friedrich Wilhelms-Universität zu Breslau IV (1959), S. 25-55, gekürzt wiederholt in seinem Buche über Individualismus und Gemeinschaft b. Schw. (s. o. A. 8), 98-109. Kirche als Schule, d. h. als Bildungsanstalt für den wahren Christen: Corpus Schwenckfeldianorum 1907-1962 X, 1064, 18 dazu Wach aaO (s. A. 8), 14-19; Maron (s. A. 8), 118; zu Schwenckfelds Kirchenbegriff im ganzen ebda. S. 110-153. 12 Vgl. Karl Sudhoff, Versuch einer Kritik der Echtheit der paracelsischen Schriften II 1899, S. 411. 13 Valentin Weigel, Kirchen- oder Hauspostill Neuenstatt (Magdeburg) 1617, I, S. 5, 15, 163, 239; II, S. 92, 94, 97 („vermauret"), 99, 95 („Stein-Kirchen"); III, S. 100, 134, 135, 202 („zwo Kirchen"), 208, 209, 329. Wichtig ist auch der von Elias Praetorius (Christian Hoburg), Spiegel der Misbrauche beym Predig-Ampt im heutigen Christenthumb vnd wie solche gründlich vnd heilsam zu reformiren o. O. 1644, S. 475-483 im Auszug mitgeteilte Briefjohann Arndts, der statt einer Vorrede der Ausgabe der Theologia deutsch von 1597 beigegeben wurde (neu abgedruckt bei Wilhelm Koepp, Johann Arndt 1912 (Die Klassiker der Religion Bd. 2), S. 47-55, dazu ders., J. A. Eine Untersuchg. üb. d. Mystik im Luthertum 1912 (Neue Stud. ζ. Gesch. d. Theol. u. d. Kirche 13), S. 24—26). Darin wird schlechtweg die Einheit der Kirche von der wahren Buße und dem christlichen Leben erwartet.

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an keine äußerlichen Zeremonien gebunden war, um eine innerliche Kirche des Neuen Testaments, die die rituelle, gesetzliche Stufe des Alten Bundes überwunden hatte 14 . Die positive Kehrseite solcher Kritik an den bestehenden Kirchen war der Christus in uns, der lebendig im Herzen wirkende Geist Gottes, die neue Geburt, die als völliger Existenzwandel im Sinne von Jesu Bußforderung angesichts des Reiches Gottes vor sich gehen sollte, die Erneuerung zum Bilde Gottes, wie es in der ursprünglichen Schöpfung gegeben und angelegt war. Es ist ein mystischer Individualismus des Heilserlebens, der sich gleichwohl die zentralen paulinischen Aussagen über die Heilserfahrung anzueignen vermag und sich letztlich auf Gal. 2,20, den im einzelnen Glaubenden persönlich lebenden Jesus Christus beruft. Gerade an diesem Punkte nahm Spener den mystischen Spiritualismus entschieden auf 15 . Ähnlich wie Weigel und Arndt, der eigentliche Propagandist der Gottesebenbildlichkeit, lehrte an dem in Frage stehenden Punkt trotz aller sonstigen Unterschiede Jakob Böhme (1575-1624) mit dem durch schmerzliche polemische Erfahrungen an seinem Ortspfarrer Gregor Richter in Görlitz bestimmten polemischen Akzent. Von den gegenwärtigen institutionellen Kirchen ist jede fur sich eine „Mauerkirche". „Der Steinhauffe machet keinen neuen Menschen." 1 6 Die wahre Kirche befindet sich im Herzen des Gläubigen, sie muß er in den Gottesdienst mitbringen, um mit Gewinn daran teilzunehmen 17 . Solche Gläubige bilden dann eine universale Kirche des Geistes. Das Märtyrerbewußtsein der Täufer, das von der Überzeugung getragen war, von der herrschenden römisch-katholischen Kirche, der Hure Babylon, verfolgt zu sein 18 , setzt sich in der 14 Johann Arnd(t), Wahres Christentum I, 21 Ausg. Leipzig 1693, S. 139-151. Der Name ist nach Friedrich Arndt, Johann Arndt. Ein biographischer Versuch, Berlin, Ludwig Oehmigke 1838, S. 15, A n m . * Arndt zu schreiben, da er selbst es stets in deutschem Zusammenhang so tat. N u r wenn er lateinisch schrieb, nannte er sich Arndius. Von da aus drang der Verlust des „t" überall ein. 15 Vgl. seine ausfuhrliche Erörterung über die Behauptung „Ich bin Christus". Erste geistliche Schriften 1699, S. 170-214. Dabei ist bemerkenswert, daß er die Problematik in einer Predigt über den entgegengesetzten Text Joh. 1,20 aufgräbt. 16 Jakob Böhme, Von der Menschwerdung Jesu Christi I, 13,3. (Faksimiledruck der Ausgabe von Johann Wilhelm Überfeld (1730); Frommann-Holzboog 1955-61 Bd. IV, Schrift V (1957), S. 102); vgl. dazu Heinrich Bornkamm, Luther und Böhme 1925, S. 271. 17 Jakob Böhme, Der Weg zu Christo. Viertes Büchlein: Von der neuen Wiedergeburt 6, 14. 16 (Faksimiledruck der Ausg. Überfelds (1730) Frommann-Holzboog Stuttgart. 1955-61 Bd. IV, Schrift IX, S. 135); ebenso wörtlich bei Philipp Jakob Spener, Der hochwichtige Articul von der Wiedergeburt. Frankfurt und Leipzig 2 1715, S. 873f.; vgl. meine Studie: Speners Wiedergeburtslehre, Wiedergeburt und neuer Mensch (AGP 2) 1969, S. 185. 18 Vgl. Ethelbert Stauffer, Märtyrertheologie und Täuferbewegung, Z K G 52 (1933), S. 545 ff. und meine Studie: Luther und die Täufer im Gesamtverständnis der christlichen Botschaft, Zeichen der Zeit 5 (1951), S. 89f.; Jakob Böhme, Von der Menschwerdung Jesu Christi III, 8, 7 (Faks.-Ausg. Bd. IV (1957), Schrift V, S. 221); Erste Schutz-Schrift wider Balthasar Tilken 16-18 (Faks.-Ausg. Bd. V, (1960), Schrift X, S. 4); Mysterium Magnum,

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Verwerfung, der die herrschende Kirchengemeinschaft verfällt, ebenso fort, wie es die eschatologische Erwartung neu belebt, daß man am Anbruch der endgültigen Heilszeit steht 19 . Jakob Böhme hat die beiden Bäume in der biblischen Paradieseserzählung auf die Kirchengeschichte gedeutet. Sie stehen einander als gutes und böses Prinzip gegenüber; die Kirche Abels wird von der Kirche Kains verfolgt und umgebracht, so urteilt er in der Auswertung der von Augustins De civitate Dei begründeten Typologie 2 0 . Aber die echte Kirche Abels lebt als verborgene Wirklichkeit unter der Kirche Kains weiter, sie ist das „unparteiische" Christentum 2 1 und als solches das Wunder Gottes.

(Erkl. d. 1.Buches Mose) Cap. 58 (Gen. XXX), 1 (Faks.-Ausg. Bd. VII (1958), Schrift XVII, S. 603). Für die positive Seite, das Einheitsbewußtsein und den Einheitsdrang vgl. seine beredten Worte in der Schrift: Der Weg zu Christo, Teil IV: Von der neuen Wiedergeburt Cap. 7,3-5: „Die Christenheit in Babel zanckt um die Wissenschaft, wie man GOtt dienen, ehren und erkennen soll, was Er sey nach seinem Wesen und Willen; und lehren schlecht, wer nicht in allen Stücken mit ihnen einig sey (S. 137) in der Wissenschaft und Meinung, der sey kein Christ, sondern ein Ketzer. 4. N u n wolte ich doch gerne sehen, wie man alle ihre Secten solte zusammen in eine bringen, die sich die Christliche Kirche könte nennen, weil sie allesamt nur Verächter sind, da je ein Hauffe den andern lästert und für falsch ausschreyet. 5. Ein Christ aber hat keine Secte, er kann mitten unter den Secten wohnen, auch in ihrem Gottesdienst erscheinen, und hangt doch keiner Secte an: Er hat nur eine einige Wissenschaft, die ist Christus in ihme: Er sucht nur einen Weg, der ist die Begierde, daß er immerdar wolte gerne recht thun und leben, und stellt alle sein Wissen und Wollen ins Leben Christi ein. Er seufftzet und wünschet immerdar, daß doch GOttes Wille in ihme möchte geschehen, und sein Reich in ihme offenbar werden: Er tödtet täglich und stündlich die Sünde im Fleisch: Dann des Weibes Same, als der innere Mensch in Christo, zertrit stets dem Teufel in der Eitelkeit den Kopf. Gen. 3: 15 . . . 7. Darum sage ich, ist alles Babel, was sich miteinander beisset, und um die Buchstaben zancket. Die Buchstaben stehen alle in einer Wurtzel, die ist der Geist GOttes: Gleichwie die mancherley Blumen alle in der Erden stehen, und wachsen alle nebeneinander; keine beist sich mit der andern um die Farben, Geruch und Schmack, sie lassen die Erde und Sonne, sowol Regen und Wind, auch Hitze und Kälte mit sich machen was sie wollen, sie aber wachsen eine iede in ihrer Essentz und Eigenschafft: Also ists auch mit den Kindern GOttes, sie haben mancherley Gaben und Erkenntniss, aber alles aus Einem Geiste" (Faks.-Ausg. Bd. IV (1957), Schrift IX, S. 136f.). 19 Vgl. meine Studie, Luther und die Täufer . . . (aaO s. A. 18), S. 89f. für Jakob Böhme: Morgenröte im Aufgang 23, 85 (Faks.-Ausg. I (1955), S. 350) zur Apokalyptik und ihrem inneren Zusammenhang mit dem Verfolgungsbewußtsein vgl. bes. Erich Seeberg, Gottfried Arnold. Die Wissenschaft und die Mystik seiner Zeit, Studien zur Historiographie und zur Mystik. E. R. Herzog Meerane 1923, S. 354-363. 20 Jakob Böhme, Mysterium Magnum (Erklärung des Ersten Buches Mose) Cap. 27 und 28, bes. 28, 2. 64 (Faks.-Ausg. Bd. VII (1958), Schrift XVII, S. 213-245, bes. 229, 243); Von den drey Principien Göttliches Wesen 21, 48-50 (Faks.-Ausg. Bd. II (1960), Schrift II, 363f.) Augustin De civ. Dei Lib. X V Ausg. Emanuel Hoffmann CSEL 40 II Wien-Prag-Leipzig 1900, pp. 58-122. 21 So hat Erich Seeberg aaO (s. A. 19) 361 die Quintessenz formuliert. Soviel ich sehe, findet sich nur der negativ gemeinte Ausdruck „Partei", gleichbedeutend mit „Secte", bei

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Damit war eine Losung formuliert, der eine weittragende Wirkung beschieden war. Unter den Männern, die sie aufnahmen und weitergaben, ragt neben Augustin Fuhrmann (1591-1648) 2 2 Paul Felgenhauer (1593 bis etwa 1677) hervor, ein deutschböhmischer Theologe aus Puschwitz bei Saaz, der nach mannigfachem Wanderleben schließlich in Niedersachsen seine Heimat fand und in Bederkesa starb, ein fruchtbarer Schriftsteller aus der Schule Jakob Böhmes. Er erblickte in der persönlichen Wiedergeburt, die völlig unabhängig von der konfessionellen und religiösen Zugehörigkeit, also auch bei Juden und Heiden vor sich gehen könne und müsse, und in der entsprechenden Liebe zueinander den Schlüssel für die Vereinigung der Getrennten 2 3 . Zugleich aber erwartete er sie von einem unmittelbaren, B ö h m e , nicht der positive „unparteiisch". Erst sein Schüler Johann Theodor v. Tschech hat ihn 1646 vgl. die Belege unten A. 25. 2 2 Ü b e r Augustin Fuhrmann vgl. Winfried Zeller, Zeitschr. f. Relig.- und Geistesgesch. 4 (1952), S. 1-16; ders., Der Protestantismus des 17. Jahrhunderts. Bremen 1962 (Klassiker des Protestantismus B d . V), S. X L I I - X L I V . ; über seine Schrift „Rettung der alten wahren Religion" Amsterdam 1710, Unschuldige Nachrichten 1710, S. 890-893. 2 3 Paul Felgenhauer, Spiegel der Weissheit und Wahrheit, o. O. 1632, S. 52: „Diess ist aber die rechte wahre Religion und Gottesdienst / durch welche wir Gott im geist und in der warheit dienen / wenn nemblich der gantze mensch an vnnss mit allem wass er nur j m m e r ist / sein kann und mag / gleichsam göttlich / geistlich vnd himlisch worden ist / nach dem Bilde J E S V C H R I S T I " ; ausführlich S. 145-152. Die Empfehlung der Liebe ebda. S. 108f.: „ D e n n auss Gnaden werden wir seelig durchs verdienst C H R I S T I im glauben an jhn / ohne die werck dess Gesetzes / mit nichten aber ohne die werck / die da G O T T / C H R I S T U S und sein Geist in vnss wircket / und durch die wercke werden wir seelig / die G O T T in der Gotteseeligkeit in vnss wircket / vnd die seind j e nicht des Gesetzes / noch vnser Eigen / dass wir vnss davon rühmen möchten / sondern C H R I S T I / ohne welchen wir nichts thun können / vnd alless was gut ist / ist von G O T T / der alleine guth ist / vnd es muss auch also sein / vnd also bleibet Gnade gnade / gegen vnss / vnd Gnade v m b Gnade gegen Gott / vnd gnade durch gnade gegen C H R I S T O / zum lobe GOttes / der alless in allen wircket durch seinen Geist in denen die an j h n glauben / die j h m gehorchen. Wer ist es nun der da sagen kan (S. 10), dass er jemahls ein guth werck gethan habe / thun könne oder thun wolle? D a r u m b ist ewer dünckel falsch / Jhr Ersten / gleichwie auch der andern / denn wer ist jemals ohne die Liebe / als ein werck aller wercke / seelig worden?" Ders., Harmonía Fidei et Religionis, Harmony des Glaubens, d . i . : Ver-Einigung des Glaubens zur Seligkeit an Gott und seinen Sohn, d . i . : Deutliche und unwiedersprechliche Darzeigung und Unterweisung / wie und auff was weise / alle Menschen beydes Christen / Juden / Türcken und Heyden / gar gewiss / leichte und bald / zu Einerley Erkentnis / Glauben und Religion zur Seeligkeit / an G O t t und seinen Sohn gelangen können . . . Amsterdam 1654, S. 108: (Vorher hat Felgenhauer S. 105-108 zwei Mittel, u m zu einerlei Glauben und Religion zu k o m m e n , empfohlen, nämlich (S. 105) die Erkenntnis, daß wir alle von Gott zur Kreatur abgefallen sind, und (S. 106) den Entschluß, die Kreatur preiszugeben und zu Gott zurückzukehren.) „ D a s Dritte mittel / durch welches wir gar leichte / bald und gewies zu Einerley Glauben und Religion k o m m e n können / ist die Liebe: nemlich / dass wir uns untereinander lieben / daran wird man erkennen / daß wir Kinder G O t t e s Seind / und dass wir Alle nur Einen Vater haben / und dass uns alle Ein G O T T geschaffen habe / und (S. 109) dass wir Allesamt / Eines Leibes glieder seindt: Weil denn diesem also ist / wie kein einiger mensch auff der weit leugknen kan / auch die heyden müssen bekennen. Daß Alle Menschen Eines Leibes glieder seind / vntereinander / so ist es j a v o m anfangk der Welt noch nie erhöret worden / dass die glieder Eines Leibes einander sollten feindseeligk

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dem Pfingstereignis ähnlichen Wehen des heiligen Geistes als einem überwältigenden Geschehen in der nächsten Zukunft 2 4 . ansehen / hassen und leyd anthun / oder dass ein glied zu dem andern solte sagen / ich kenne dich nicht / ich bedarff dein nicht / ich wil dich verderben . . . " (S. 111) „Weil denn nicht allein die h. Schrifft / sondern auch die natur und Vernunfft vns unterweiset / dass wir einander lieben sollen / so ist derowegen offenbar fur aller heyden / türcken / Juden und Christen vernunfft. Daß kein besserer wegk und mittel irgends sey / zu G O T T zu kommen und seelig zu werden / in Einerley glauben und Erkentnus als die LIEBE l . C o r . 13 und zwar solches darumb / dieweil G O T T eben Selbst die Liebe Ist: 1 Johan. 4,7.8. Denn es ist ja offenbar / beydes aus dem Alten und Neuen Testament / dass dies die Einige Summa des Glaubens im Gesetz und Evangelio ist / und die Einige wahre Religion / G O T T und seinen Nechsten lieben / Matth. 22,37-39 / 5.Mose 6,5 / l . T i m . 1,5 / l.Joh. 4,19-21 / Joh. 13,34." Es ist bemerkenswert und war für die Entwicklung der Unionsgedanken zum 19. Jahrhundert hin folgenreich, daß hier eine zentral christliche, aus der Botschaft Jesu und dem Neuen Testament geschöpfte Beweisführung mit einer rationalen, aus natürlicher Theologie stammenden zusammenfloß. 24 Felgenhauer, Spiegel der Weissheit und Wahrheit, 1632 (s. A. 23), 180f.: „Diess ist nun das Einige / darumb wir alle zu bitten haben / wir mögen Christen / Juden / Türcken oder Heyden sein / auff (S. 181) dass wir nemlich allesampt zu Einerley Glauben / Religion und Erkenntnus Gottes vnd vnserer Seeligkeit kommen / und diess wird es auch nun sein / nemlich dass Gott vber vnss alle seinen Geist aussgiessen wirdt / durch welchen wir alle mit einander / nach Einerley Glauben / Religion vnd Erkentnus / Einmütiglich zu GOtt, Christo und den Heiligen Geist / werden bekehret werden / auff welche verheissung wir denn auch / und zwar auch all Creatur mitt vnss / warttet / nach welcher aussgiessung des Geistes GOttes die Gantze Welt zu GOtt wird bekehret / vernewert / und vom bösen Geist erlöset vnd voll Erkenntnis GOttes werden / gleichwie das Meer voll Wassers ist." Nach diesen Worten kommt, abweichend von den in der vorigen Anmerkung dargebotenen Zitaten, die Einheit der Kirche als Wunder, als erfüllte Verheißung zustande. Als weitere Zeugnisse für die Sehnsucht nach der einen Kirche bei den mystischen Spiritualisten vgl. Felgenhauer, (anonym) Palma Fidei et Veritatis in Cruce Christi ad Salutem: Palmbaum des Glaubens und der Wahrheit im Creutze Christi zur Seeligkeit o. O . 1656, A 8': „unter denen dreyen Haupt Secten / als Pabstisch / Lutrisch und Reformirt etwan eine Harmony und Einigkeit zu treffen." Johann Theodor von Tschech, Kurtzer und einfaltiger Bericht / Von der einigen wahren RELIGION. Männiglichen zur Erbauung / Durch J. T. V. T. treulich dargestellet, Amsterdam, 1646, erwartet wie Arndt die Einigung letztlich von dem praktischen Verhalten der Nachfolge Christi und Übernahme seines Kreuzes, vgl. Bl. Α 4 r : „Nun aber nimt man aus H. Schrift / was iedem Teil beliebet; das andere muss sich beugen unter diese und jene Auslägungen und Satzungen der Menschen. (A 4V) U n d solches so viel destomehr / weil das übrige Gute / welches Gott noch zum Samen in dieser und jener Religion übrig gelassen / nicht zur wahren ehrsten und unparteiischen Grund-Religion / sondern zur Bestätigung der Menschen-Secten angewendet wird: . . . (B 4') Das richtige unparteiische Wort GOttes / wie es Christus selber gelehret / ist der richtige Grund / darauf wir uns / als auf ein festes sicheres Wort GOttes / einig und allein gründen müssen / dasselbige fleis- (Bl. Β 4V) sig zu lehren und zu tuhn: in welchem wir für allen Dingen Christum / wie Er sich darinnen offenbahret / greiffen / unser kreutz auf uns nehmen / und Ihme nachfolgen müssen. Act. 10, 34. " (Dieser Spruch wurde im Pietismus zur Lieblingsstelle fur die Begründung konfessioneller Indifferenz vgl. Paul Kaim-Liegnitz, Bekäntniss eines unpartheyischen Christen wegen des einig seeligmachenden Glaubens unter

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Der große Wortführer des mystischen Spiritualismus im 17. Jahrhundert wurde Christian Hoburg (1607-1675), der mit dem Worte „Babel" so freigebig umging wie kaum ein anderer. Bei ihm kann man mit Fug und Recht fragen, ob er überhaupt noch einen Sinn für die Kirche als Gemeinschaft hat, denn er setzt sie schlicht mit der erleuchteten „hochgeadelten" Seele gleich 25 . Freilich rechnet er damit, daß sich die Wiedergeborenen, die

allen Religionen und Völckern auff Erden / darinnen sonderlich gezeiget wird / wie G O t t die person nicht ansehe / sondern aus allerley volck Gott furchtende und recht thuende ihm angenehm seyen, mitgeteilt bei Gottfried Arnold, Unparteiische Kirchen- und Ketzerhistorie, 1699, II, S. 21 (Theil III, Cap. 3); Gottfried Arnold, Unpart. Kirchen- u. Ketzerhist. I 1699, Bl. +2 V (Vorr. 23); ders. Erklärg. vom gemeinen Secten-Wesen, 1700, Vorr. 19 (abgedr. bei Erich Seeberg, Gottfried Arnold. Auswahl (Mystiker des Abendlandes) München 1934, S. 140; Anton Wilhelm Böhme, Pietas Hallensis (= engl. Ausgabe der „Segensvollen Fußstapfen" des noch lebenden und waltenden liebreichen und getreuen GOttes. Zur Beschämung des Unglaubens und Stärckung des Glaubens entdecket durch eine wahrhaffte und umständliche Nachricht von dem Wäysen-Hause und übrigen Anstalten zu Glaucha vor Halle, 1701, 1705, p. XV). (v. Tschech aaO, S. 6) „Darum so bleibets richtig dabey / dass dieses / nämlich die Lehre Christi / seiner Apostel und Propheten / jah JEsus Christus selber / die einzige / wahre / richtige / sichere / volkommene Grund-Religion seye: in welcher ein ieder / so da sählig wird / allein sählig werden muss / und kan." 25 Christian Hoburg, Theologia Mystica Oder Geheime Krafft-Theologia der Alten, A m sterdam und Franckfurt / Mayn 3 1700 II, S. 275 (Theil II, Cap. XV, 8): „Ja diese so hochgeadelte Seele wird auch daher genennet in der Biblischen H. Schrifft / die Kirche und Gemeine J E S U CHRISTI: das ist zwar auch kurtz geschrieben / bald gesagt / aber hat und begreifft viel in sich"; ähnlich ders., Der Sicherste WEG Z u m Reich GOttes / und Dessen würcklichen Erhöh- und Befestigung in dem Grund der Seelen / Krafft der wahren Wiedergebuhrt oder Erneuerung im heiligen Geiste . . . Leipzig, Andreas Luppius 1684. (Bl.) (IIP): „9. Wie aber alles Suchen Maria und Josephs unter Gefreundten und Bekandten vergebens war / biss sie umbkehreten nach Jerusalem und in den Tempel kamen / da sie das Kind endlich funden: also wird warlich alles Suchen umbsonst seyn / da man ohne umbkehren / hie und da bey Ceremonien und Sacramenten und dergleichen äußerlichen Dingen das Kind JEsum suchet; biss man wieder umbkehret auff den rechten Weg nach dem Tempel Christi / in (Bl.)(IV r ) uns und also und allda das Kind JEsum suche eyfertig / biss man es finde seeliglich. 10. Dieses Umbkehren ist die ware Busse / und dieser Weg ist der rechte sichere Weg der neuen Wiedergebuhrt / wer auff diesen Weg nicht umbkehret / und suchet das Kind JEsum / wird ihn warlich nimmer finden; Ja dieser Tempel ist nicht der äußerliche in dem blinden falschen Jerusalem der so genandten Christenheit / sondern der innere lebendige HertzensTempel nemlich / die wider gebohrne erleuchtete und erneuerte Seele. " Vgl. a. Nicolaus Tscheer (anonym), Abbildung des verborgenen Menschen des Hertzens / In der Unzerstörlichkeit des sanfftmüthigen und stillen Geistes / welcher ist köstlich in dem Angesicht GOttes. l.Petr. 3,4. Vor die Augen gemahlet und gründlich vorgestellet in einem Einfältigen Gespräch über die 12. Articul der Christlichen Apostolischen Glaubens-Bekäntnüss. (1715) 2 1721, Bl. )(8r: „Und betriegen sich diejenige gar sehr / die da / wie unlängst einer gar fein bezeuget / sich einbilden / Christus müsse noch vor seiner Zukunfft nothwendig Lutherisch oder Reformirt werden. An statt dass sie sich in ihrem Amt befleissen solten dass Lutherische/Reformirte und andere dergleichen Secten Christlich würden. Glaubige Kinderlein GOttes aber reissen sich los aus allen dergleichen Religionen / Secten und Rotten / und trachten nach dem verborgenen Menschen des Hertzens so bald in den Einen Christum

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echten Jünger Jesu, die zerstreut unter den zahlreichen, das Bild beherrschenden Weltchristen leben, kennen; aber nicht der Zusammenschluß, sondern die Vereinzelung und Fremdlingschaft bestimmt ihre Situation 2 6 . Bei seinem wenig älteren Freunde Joachim Betke (1601 bis 1663), einem Manne, der zeitlebens landeskirchlicher Pfarrer blieb, war hingegen der Gemeinschaftsgedanke als Sehnsucht nach der wahren Kirche, wie sie im Aufblick zur Urchristenheit als einer einfältigen, armen „Lambsartigen / Jungfräwlichen / Christförmigen / Creutz-liebenden / Fried-suchenden / Gedültigen / Welt-hassenden und Himmlischgesinneten" Gemeinde gesucht wurde, weit stärker lebendig 2 7 und bereitete ein ökumenisches Bewußtsein vor. Die Wertschätzung der Kirche unterlag, wie man sieht, gewissen Schwankungen. Während Schwenckfeld, Valentin Weigel und Johann Arndt keinen eigentlichen Gemeinschaftsgedanken hatten, bedeutete er für Jakob B ö h m e ein wesentliches Stück seines Denkens, und im heiligen Abendmahl nahm er die neutestamentliche Grundaussage v o m Leibe Christi wörtlich ernst: „Es ist ein brüderliche, gliedliche Verbindniß: Wir verbinden uns darmit in Christo zu einem einigen Menschen, und derselbe einige Mensch ist ein ieder in Christo selber. " 2 8 So gelang ihm etwas, was in der Geschichte des christlichen Denkens selten erreicht worden ist: die organische Verbindung zwischen Kirchenbegriff und Abendmahlsverständnis unter dem gemeinsamen Nenner des Leibes Christi. In dieser Hinsicht hat er kaum einen Nachfolger gefunden. Vielmehr dominierte der Individualismus, der sich aus dem Wiedergeburtsbewußtsein, der Kindschaft Gottes aus der neuen Geburt nährte, auch bei denen, die die einmüthig einzufliessen / als in welchem man allein die lang gesuchte Vereinigung der Religion findet." 2 6 Christian H o b u r g , Theologia Mystica 3 1700 II, S. 279f. (Theil II, Cap. X V , 15), so auch Bartholomäus Herxheimer in seinem handschriftlichen Glaubensbekenntnis, das in den Unschuldigen Nachrichten 1702, S. 181 f. mitgeteilt ist: „ G O t t hat in allen Secten seine liebe K i n d e r " (S. 182) und schon Valentin Weigel, a a O (s. A. 13), II, S. 102. 2 7 Joachim Betke, Decretum Stultitiae, angehängt an Excidium Germaniae Amsterdam 1666, S. 405; dazu Margarete Bornemann, Der mystische Spiritualist Joachim Betke (1601-1663) und seine Theologie. Eine Untersuchung zur Vorgeschichte des Pietismus. Theol. Diss. Kirchl. Hochschule Berlin-Zehlendorf 1959, S. 94-110. 2 8 J a k o b B ö h m e , Von Christi Testamenten (1623): Von Christi Testament des H. Abendmahls Cap. 3,51 f. (Faks.-Ausg. der A u s g . Joh. Wilh. Überfelds 1730 B d . VI Stuttgart 1957), Schrift X V I , S. 99: „ D a r u m sollen wir dieses recht betrachten, und nicht mit unwürdigem Hertzen und M u n d e zu solcher Gemeinschaft treten, und meinen, es sey genug dass wir B r o t und Wein niessen. Nein, es ist eine brüderliche, gliedliche Verbindniss: Wir verbinden uns darmit in Christo zu einem einigen Menschen, und derselbe einige Mensch ist ein ieder in Christo selber.

52: D a r u m soll unser Fürnehmen bey solcher Zusammenkunft seyn dass wir uns, als Glieder eines Leibes, wollen mit solcher Niessung feste verbinden, und dem Satan mit seinem Widerwillen absagen, und uns hertzlich lieben, wie uns Christus geliebet hat, und hat sein Leben für uns in T o d g e g e b e n . " Vgl. dazu Heinrich B o r n k a m m , Luther und B ö h m e 1925, S. 275 f.

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Gemeinschaft - nachträglich - positiv bewerteten und in ihren Ansatz aufnahmen. Johann Georg Gichtel (1638-1710), der verflachende Interpret J a k o b Böhmes, stellte die schon auf Erden erreichbare Freude an der Gemeinschaft mit der himmlischen Sophia in den Mittelpunkt 2 9 und war eifrig bemüht, einen überschaubaren Freundeskreis auf dem Boden solcher Überzeugungen zu gewinnen und zusammenzuhalten. Zu ihm gehörte vor allem auch der junge Gottfried Arnold (1666-1715). Gegen ihn schleuderte er aber 1701, tief enttäuscht über seine Eheschließung mit Anna Maria Sprögel in Quedlinburg, der Tochter des mystisch-spiritualistischen H o f predigers Johann Georg Sprögel, des Traupfarrers von August Hermann Francke, seinen Bannstrahl 3 0 . Gottfried Arnold selbst, das bedeutendste Verbindungsglied zwischen mystischem Spiritualismus und Pietismus, hat zwar von Anfang an, auch als er in „Babels Grablied" die Zerschmetterung der falschen Kirche besang, die Gemeinschaft der wahren Christen im Blick gehabt - hat er doch gerade in seinen reich belegten historischen Werken zum Frühchristentum ihr Bild verpflichtend gezeichnet. Aber bei näherem Zusehen enthüllt sich, daß auch für ihn der Nachdruck auf der individuellen Ausgestaltung liegt: Der „lebendige Glaube" und das „heilige Leben" der ersten Christen ist ihre Verwurzelung in der Wiedergeburt und das entsprechende Handeln jedes einzelnen 3 1 . Ähnlich hat Speners Freund, Balthasar Köpke (1646-1711) in Nauen bei Berlin, in seinem Dialog vom Tempel Salomonis nach dem Vorbild der katholischen mystischen Theologie die verschiedenen Stufen der Heiligkeit und Vollkommenheit beschrieben, die die Christen erreichen müssen, aber auch erreichen können 3 2 , so daß auch hier das persönliche Ziel für jeden einzelnen das Wort führte. 2 9 Deshalb verwarf er entschieden die Ehe. Über Gichteis Theosophia practica vgl. Erich Seeberg, Gottfried Arnold. Die Wissenschaft und die Mystik seiner Zeit. Studien zur Historiographie und zur Mystik 1923, S. 6f., 364-366. Ernst Benz, Der vollkommene Mensch bei Jakob Böhme 1937. 3 0 Johann Georg Gichtel, Theosophia practica 3 1722, I, S. 572; V, S. 3640, 3647; VI, S. 1430. 3 1 Babels Grablied in „Göttliche Liebesfunken aus dem großen Feuer der Liebe Gottes" Frankfurt/Main 1698 abgedruckt bei Gottfried Arnold, in Auswahl hrsg. v. Erich Seeberg München 1934 (Mystiker des Abendlandes hrsg. v. Rudolf Franz Merkel), S. 276-278. Die Erste Liebe der Gemeinen Jesu Christi, d. i. Wahre Abbildung der ersten Christen nach ihrem lebendigen Glauben und heiligen Leben. Aus der ältesten und bewährtesten Kirchen-Scribenten eigenen Zeugnissen / Exempeln und Reden / Nach der Wahrheit der Ersten Einigen Christlichen Religion / allen Liebhabern der Historischen Wahrheit / und sonderlich der Antiqvität, als in einer nützlichen Kirchen-Historie / Treulich und unpartheyisch entworffen". 3 2 Balthasar Köpke, Dialogus de Templo Salomonis d. i. : Ein geistliches Gespräch von der Heiligung und deroselben dreyen Stuffen der Anfangenden / Wachsenden und Geübten Heiligen . . . aus dem Fürbilde des Tempels Salomo / und dessen dreyen Vorhöffen . . . sampt der Vorrede Hrn. D. Philip. Jac. Speneri von der Christlichen Vollkommenheit. A. 1695. Mir lag eine spätere lat. Ausg. vor: Dialogus de templo Salomonis sive de tribus sanctorum gradibus nempe incipientium, proficientium & adultorum. Amstelodami 1698. Die darin enthaltene Vorrede an den Leser sagt, daß das Buch schon 18 Jahre früher (also 1680)

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Heinrich Wilhelm Ludolf (1655-1712), der Sekretär des mit der britischen Königin Anna vermählten Prinzgemahls Georg von Dänemark, hat als Anhänger des mystischen Spiritualismus die Möglichkeiten seiner Stellung dazu benutzt, die echten Christen aus allen Konfessionen zusammenzubringen. Auch für ihn baute sich der mystische Leib Christi, dem er in tiefer Hingabe zugetan war, auf den Gliedern auf. Die Kirche stand auf den religiösen Menschen und ihrer Erfahrung der Wiedergeburt 33 . Durch planmäßigen Briefwechsel und durch eigene Reisen suchte er das nicht nur persönlich unter großen Opfern ins Werk zu setzen, sondern empfahl beides, dazu aber noch christliche Schulgründungen, als die geeigneten Methoden 3 4 . Der Schlesier Quirinus Kuhlmann (1651-1689), der das Hoffnungsgut des mystischen Spiritualismus, nicht nur die Überwindung aller Konfessionen und Kirchentümer, sondern die Juden- und Türkenbekehrung und als ihr Ergebnis die Einigung aller Menschen im rechten Glauben leidenschaftlich bejahte, zog in solchen Erwartungen nach Moskau und endete dort, durch Intrigen in der deutschen Kaufmannsgemeinde dem Zaren als Hochverräter in die Hände gespielt, auf dem Scheiterhaufen 35 . Ernst Christoph Hochmann von Hochenau (1670-1721) suchte die von ihm auf mystisch-spiritualistischer Grundlage erstrebte Sozialreform als Menschheitserneuerung im Kreise von auserwählten, zerstreuten Gemeinden in die Wirklichkeit umzusetzen und gründete in solcher Absicht die „Friedensburg" in Schwarzenau bei Berleburg 36 . Johann Konrad Dippel (1673-1734), der bissige Kirchenkritiker und Einsiedler aus Grundsatz, in mancher Hinsicht ein selbstquälerischer Vorläufer Kierkegaards, vor allem in seinem prinzipiellen Individualismus, erneuerte Christian Hoburg, wenn er als unfehlbare Methode zur Kirchenvereinigung die strenge Rückkehr zur biblischen Forderung der neuen Kreatur empfahl, die er, der unbedingte Gegner der Rechtfertigungslehre und Anwalt der Willensfreiverfaßt wurde - nicht mit der Absicht der Veröffentlichung, sondern zur privaten Übung in der Gottseligkeit. Es war Spener, der in seiner Dresdner Zeit durch Zusendung von dem Verfasser Einblick in den Traktat gewann und daraufhin zur Veröffentlichung drängte. Sie erfolgte 1690 lateinisch mit Speners Vorrede über die christliche Vollkommenheit und mit der Billigung durch die Leipziger theologische Fakultät (so in der Ausg. von 1698, Bl. A 4' und A 4V.) 33 Reliquiae Ludolfianae. The Pious Remains of Mr. Hen. Will. Ludolf o. O. u.J. 186 pp. Brit. Ms. London 700 1. 23 hrsg. v. Anton Wilhelm Böhme, daraus besonders: Considerations on the Interest of the Church Universal (printed in 1712) pp. 125-142, insbes. p. 132f. 34 Ebda. p. 134, 138. 35 Vgl. über ihn die abschließende Monographie von Walter Dietze, Quirinus Kuhlmann. Ketzer und Poet. Versuch einer monographischen Darstellung von Leben und Werk Berlin 1963, insbes. S. 99-208. Eine Zwischenstellung zwischen Kuhlmann und Dippel nimmt die anonyme, wahrscheinlich von Wolf von Metternich (f 1731) verfaßte Schrift „Von der wahren Kirche" o. O . 1709 ein. Vgl. die Zitate A. 47 und 48. 36 Heinz Renkewitz, Hochmann von Hochenau (1670-1721) Quellenstudien zur Gesch. d. Pietismus, Breslau 1935 (Berichte des theol. Seminars der Brüdergemeine in Herrnhut XII 1934), S. 211 f. (= AGP 5, Witten 1969).

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heit, streng ethisch verstanden wissen wollte. N u r durch die Wiedergeburt der einzelnen, die sich als Glieder der unsichtbaren Kirche erkennen, ist eine Wiedervereinigung zu erwarten. Alle bisherigen Mittel wie Religionsgespräche, Konzilien, sowie staatlicher Zwang zur Uniformität haben versagt. Die Aufgabe der Fürsten besteht schlicht darin, den Untertanen das Gesamtverhalten eines Wiedergeborenen vorzuleben, dann aber nur wiedergeborene Theologen in die Kirchen- und Schulämter zu bringen und so Gottesdienst wie Unterricht von oben und unten zugleich zu reformieren 37 . Dippel sprach damit nur aus, was gemeinpietistischer Überzeugung entsprach. Ganz ähnlich hatte der kirchliche Pietist Johann Joseph Winckler in Magdeburg 1703 vorgeschlagen: „Zum Grunde der Vereinigung muß die Lehre von der Gottseligkeit gesetzt werden / daß der Landesherr dieselbe auff alle Art und Weise befördere / eitel solche Prediger in die vacanten Stellen einsetze / die G O T T hertzlich lieben / und daß er sich freue / wenn in seinem Lande 100 fromme Hertzen sich finden / als die eben der heilige Saame seyn durch welche die Vereinigung zum erwünschten Ende kommen kan." 3 8 Auf dem Boden der wahren Gottseligkeit würden alle Spaltungen mit einem Schlage wegfallen 39 . Vielleicht den Gipfel des gläubigen Individualismus erreichte der Böhmenachfolger Nicolaus Tscheer. Ihm bedeutete es die große, grundlegende Erleuchtung, als er erkannte, daß Babel nicht in der organisierten Kirche oder Sekte seinen Platz hatte, sondern in seinem eigenen Herzen, und daß demgemäß der Tempel des lebendigen Gottes ebenfalls im Herzen errichtet werden mußte 40 . Ist das geschehen, dann gibt es auch die Möglichkeit, daß sich solche 37 Christianus Democritus, Ein Hirt und eine Heerde oder ohnfehlbare Methode, alle Secten und Religionen zur einigen wahren Kirch und Religion zu bringen / und ohne einigem Syncretismo beständig zu vereinigen. Amsterdam 1706, S. 4. 38 Johann Joseph Winckler, Arcanum regium das ist / ein königlich Geheimniss für einen regierenden Landes Herrn / darinnen ihm entdecket wird / wie er sich bey seinen über die Religion zertheilten Unterthanen nach GOttes Willen zu verhalten habe / damit er eine GOtt wohlgefällige Vereinigung bey seinem Volcke unvermerckt stiffte und in kurtzer Zeit befördere. Frankfurt 1703 (Nr. 3) Bl.):(2\ 39 Ebda. Bl.):(3 r . 40 Anon. (Nicolaus Tscheer), Abbildung des verborgenen Menschen des Hertzens / In der Unzerstörtlichkeit des sanfftmüthigen und stillen Geistes / welcher ist köstlich in dem Angesicht GOttes l.Petr. 3,4. Vor die Augen gemahlet und gründlich vorgestellet in einem Einfaltigen Gespräch über die 12 Articul der Christlichen Apostolischen Glaubens-Bekäntnüss (1715) a21721 o. O . , Bl. ) (5V: Bissher machte ich mir ein eigen Bild und Form einer wahren Kirchen / und alles / was sich nicht in dieses Bild und Form meines eigen Sinnes gleichen und richten wolte / ware mir Babel / und meynete Wunder / was tieffe Einsichten ich hatte / wann ich sähe / wie alle die Babylonische Abgötterey und Hurerey nicht nur im Papstthum / sondern auch in denen anderen Secten / fürnemlich der Lutherischen und so genannt Reformirten Religion bemercken und entdecken konte; gedachte aber nicht / daß die große Babel die Mutter aller Hurerey und Abgötterey in meinem Hertzen gegründet seye. Ich hatte großen Eyffer / das Geheimnüss der Ungerechtigkeit in allen Secten zu eröffnen / und zu bezeugen / in mir selbst aber bliebe es ein tieffes versiegletes Geheimnüss / obschon es sich selbst durch viel und mancherley Kräffte / ziemlich hervor thate. Ich meynte alle Tieffen des

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Seelen vereinigen und miteinander austauschen: „Ich verwerffe mit JEsusKrafft alle Gemeinschafft / Gesellschafft und Bruderschafft die nicht in JEsus (sic) Name oder Wesen geschieht / ist nun diese innere Gemeinschaft in JEsus fest / daß sie sich nach GOttes innerem Triebe auch ins äußere füget / so ist sie auch in dem äußeren gesegnet / und ein VersicherungsPfande der inneren Vereinigung unserer Seelen und Hertzen." 4 1 Überblickt man die zahlreichen Äußerungen und sucht man aus der Vielfalt der Stimmen einen Grundton herauszuhören, so darf man wohl das folgende sagen: Schlechthin entscheidende Bedeutung besitzt die Wiedergeburt des einzelnen, die als Gehorsam gegen Jesu grundlegende Forderung: „Werdet anders!" verstanden und bis zur christlichen Vollkommenheit mit dem Ziel, an der göttlichen Natur Anteil zu gewinnen, gesteigert wird 4 2 . Viele mystische Spiritualisten haben den Eindruck, daß der gegenwärtige Christ damit ausreichend beschäftigt ist, so daß die Frage der Antichrists ergründet zu haben / da ich in die Erkanntnüss gelanget / dass dieser Mensch der Sünden und das Kind des Verderbens / der da ist ein Widerwärtiger / und sich erhebet über alles das GOtt und Gottesdienst heisset / nicht nur auf den Päpstlichen Stuhl / da man ihne bissher allein gesuchet / sondern in den Tempel GOttes / und in diejenigen Secten / welche sich vor anderen ein Tempel GOttes zu seyn rühmeten / gesetzet. N u n aber fände ich dass er seinen Sitz-Platz gar in meinem Hertzen / welches ich ein Tempel des heiligen Geistes zu seyn meynete / genommen habe. Alle diejenige welche sich nicht nach meinen gefassten Meynungen richteten / und mir im geringsten widersprachen / diese hielte ich für falsche Propheten / so doch eben dieses eine Würckung ware des falschen Propheten / der eigenwilligen und eigensinnigen Vernunfft in mir / mit einem Wort / ich fände äusserlich nichts in gantz Babylon / in allen Secten und Religionen / welches seinen Grund nicht in des Menschen Hertz hat / und seine Kräffte in allem dem äusseren Religions-Wesen so scheinbar erzeiget / dannoch ware es mir bissher verborgen / weil mein Aug auf das äussere Babel allzusehr ausgekehret ware; Auf der anderen Seiten fanden nun all die Gründe der Liebe und Gnade Gottes in einem neuen Menschen in der alten verfinsterten Creatur verborgen und verhüllet / welche meine Seele (Bl. ) (6') mit solcher Begierde in denen mancherley Formen und Gottesdienst gesuchet. Dieser Schatz läge in dem Acker des Innersten meines Hertzens / den ich in denen äussersten und obersten Himmlen gesuchet. O welch eine Tieffe des Reichthums beyder der Weisheit und Erkänntnüss GOttes! Ich weiss diese Stunde / wann ich mich selbst einschaue / nicht / ob ich mich über meine kindische Anschläge und begangene Thorheit vor G O t t schämen / oder vielmehr die verborgene überschwengliche Größe der Krafft Gottes in stiller Verwunderung verherrlichen und preisen solle!" 41

Ebda. S. 293. Vgl. meinen Aufsatz, „Teilnahme an der göttlichen Natur". 2.Petr. 1,4 in der theologischen Exegese des Pietismus und der lutherischen Orthodoxie. Wiedergeburt und neuer Mensch (AGP 2) 1969, S. 238-298. Außer den dort mitgeteilten zahlreichen Stellen vgl. noch aus dem eben zitierten Werk Nicolaus Tscheers (s. A. 40), S. 16-19, wo er mit Nachdruck den ganzen Gehalt zur Geltung bringt, indem er bewußt über die Adoptionsvorstellung für die Gotteskindschaft des Wiedergeborenen hinausgeht und das volle natürliche Sohnesverhältnis proklamiert: „Es ist nicht genug / daß wir nur blos und obenhin glauben / wir Seyen um Christus willen aus Gnaden zu Kindern GOttes angenommen und adoptirt. Die Schrifft erfordert von uns eine wesentliche und warhafftige Ausgeburt aus GOtt / daß wir nemlich aus lauter Gnaden um des theuren Verdiensts des Sohns GOttes willen im Wesen und Warheit aus G O t t gebohren werden / und als Söhne GOttes göttlicher Natur theilhafftig / siehe Joh. 1/ 12.13. 1 .Joh. 3/1:2:9. Cap. 4/6. Cap. 5/18. 19. 20. 2.Petr. 1/4." 42

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Gemeinschaft zwischen den neugeborenen Kindern Gottes erst in zweiter Linie wichtig wird und - über der Polemik gegen das äußere Kirchentum, das sie überall vor Augen haben - gar nicht zu Worte kommt. Übereinstimmend kann es sich bei den Versuchen, sie doch ins Leben zu rufen, nur um die Sammlung weniger Gleichgesinnter handeln, die in der Zerstreuung leben und auf gelegentliche Besuche und Briefwechsel angewiesen bleiben. Dies wird darum auch die normale Gestalt mystisch-spiritualistischer Gemeinschaftspflege, für die Johann Georg Gichtel, Johann Wilhelm Petersen (1649-1727), Heinrich Wilhelm Ludolf, Ernst Christoph Hochmann von Hochenau sowie die philadelphische Sozietät der Engländerin Jane Leade geb. Ward (1624-1704) mit ihrem deutschen Gesandten Johann Heinrich Dittmar und der Jüngerkreis um Jean de Labadie (1610-1674) mit der übergelehrten Anna Maria van Schurman (1607-1678), schließlich der ökumenische Korrespondent Friedrich Breckling (1629-1711) in Amsterdam die größten Zeugen sind 43 . 43 Über Friedrich Breckling vgl. L. J. Moltesen, F. B. Et Bidrag til Pietismens Udvuklings Historie Kübenhavn 1893 sowie D. Blaufuß Art. Breckling in: TRE 7, S. 150-153 (Lit.). Sein charakteristischer Brief an den Gießener Professor Johann Heinrich May (1653-1719) vom 16. August 1697 (Handschriftlich in der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg Cod. MS. Supellex epistolica Uffenbachii et Wolffianorum 4 ° 17, p. 7) beginnt folgendermaßen: „Nachdem hat er lieber Gottes Mensch und recht edler Hertzensfreund Möns. Codwitz 1. Br. (lieben Bruders) Brieff mit dessen uns sehr angenehmen Schrifften selbst behändiget, die Ich hier zum gemeinen nutzen (wie all das unsere dahin ziehlen muss u m b in die concassation und concentration Gott zu Ehren und vielen zu Dienst sic vos non vobis mellificatis apes aves oves et quid non, verfasset zu werden) gebrauche, und an Liebhaber und prediger so viel und weit ich kan communicire, dass sie vielen nutzen und lob zu Gott einbringe in die Arcam Noach und Christi, darauss sie in die Welt ausgesandt werden, wie ich denn zu dem Ende alles was gutes und erbauliches in Deutschland ausskompt, soviel ich gekont, herbeyschaffe, u m b also fortgepflanzet und zum gemeinen nutzen und auffweckung gebrauchet zu werden. Dazu Ich sehr viele testimonia testium veritatis sonderlich von denen die nach Lutheri Reformation die warheit bezeuget unter allen Secten wie der die heutige von Gott abtrünnige Welt und Ihre Secten, so gedrücket alss in manuscriptis versamlet abgeschrieben und auffgehoben, und weil es heisst habenti dabitur, so beschicket Gott es also, dass die übrige Zeugen der Warheit mir Ihre Schrifften soweit sie können zusenden, selbst H. D. Veyel auss Ulm, H. D. Spener auss Franckfurt und Berlin, die Hallenses auss Halle & c., und so aus gantz Europa so weit Ich meine Schriften perite in universum mundum durch alle Posten und mir offt wunderbar von Gott an die Hand gegebene gelegenheit fortgesand, auch biss in die Moschou, Sweden, Dennemarck, Hunger und Syrien, nach Aleppo, ja biss in Ost- und Westindien, daß Ich nur getreu in meinen Gott in seinem Dienst möge erfunden werden und mit meinem Pfunde treulich wuchern, biss unser Herr und Vergelter bald wiederkompt, unterdess muss Christi Wort und Reich in alle Welt verkündiget und ausgebreitet werden Ihnen zum Zeugnis aber auch die Buchdruckerey und Posten Gott dienen müssen, und andere unsere Handlanger sein wie Ihre seyn müssen alles weiter fort durch die gantze Welt zu treiben und senden, was Gott zum gemeinen nützen auch in re literaria giebet, u m b die liebliche fruetus ingeniorum und mancherley Weissheit Gottes in und an seiner gemeinte bey allen Menschen bekandt zu machen, dass Gottes Gnade Christi Liecht und des hl. Geistes Trieb Ihnen so so innig offenbahret und dargezeiget werde alss der Himmel samt dessen Sonnenlicht und Lufft allen allgemein lieblich lustig umbfangen durchgehend und sich selbst mitzutheilen bereit sind, sie dona animi sui communione crescunt biss die Erde von Erkenntniss des Herren alss mit einer

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Für die wenigen, die einen wirklichen Kirchenbegriff als Kirchenideal besitzen, gewann der - im Anschluß an Luthers Schrift De instituendis ministris (1523), aber in durchaus eigenwilliger Verwertung und Weiterflihrung gearbeitete - Traktat Joachim Betkes „Sacerdotium h. e. N e w Testamentisches Königliches Priesterthumb / auß dem Typischen fleißig heraus gesuchet / vnd vnserm fast Priester-losem Christenthumb zum Vnterricht vnd Nutzen auffgesetzet" (1640) wegweisende Bedeutung 4 4 . Das geistliche Priestertum wird hier mit einem seltenen Nachdruck, vielleicht zum ersten Male seit der Reformation, zur Begründung des Laienrechts in der Kirche aufgeboten. Kirche im wahren Sinne ist eine Gemeinschaft, in der das geistliche Priestertum im umfassenden Verständnis des Neuen Testaments betätigt wird und zugleich als Gestaltungsgrundsatz herrscht. Es war insbesondere Hochmann von Hochenau, der sich ausdrücklich auf Betke berief 4 5 . Die Übergänge zwischen mystischem Spiritualismus und Pietismus waren fließend. Es gab eine ganze Reihe von Persönlichkeiten, die beiden Bewegungen angehörten und sich auf alle Fälle, auch dann, wenn sie die offizielle kirchliche Linie innehielten, ein freundschaftliches Verhältnis zu den Spiritualisten bewahrten. Als der Größte in dieser Reihe darf Johann Valentin Andreä (1586-1654) gelten, der Bewunderer Johann Arndts, dem er seine Utopie Christianopolis (1619) widmete, den E n t w u r f eines christlichen Idealstaates mit beigemischten Zügen calvinischer Kirchenzucht in Genf, wie er sie 1611 bei seinem dortigen Besuch kennengelernt hatte. Andreä gründete in seiner Jugend die geheime Bruderschaft der Rosenkreutzer, die sich im Namen Jesu zur Pansophie, zur Welt- und Kirchenverbesserung zusammenfanden. In seinem reifen Alter (1638) wurde er tatsächlich der Reorganisator der württembergischen Landeskirche nach der Zerstörung, die der Dreißigjährige Krieg im Zusammenhang mit einer drohenden Rekatholisierung angerichtet hatte. Viele der von ihm geschaffenen Einrichtungen dauern bis heute an, und vor allem hat sich die Prägung eines landeskirchlich gebundenen, aber freien Vereinigungen offenen Pietismus als ihr besonderes Kennzeichen erhalten 4 6 . neuen Sundfluht gereiniget bedecket und mit der gantzen Fülle der Gaben und Gnaden Gottes überschüttet werde, weil G o t t nicht minder ist alle seine Verheissungen als seine Dräuungen und frembdes W e r c k nun in gäntzlicher Vollheit zu erfüllen und zu vollfuhren. Dazu Ich m e i n e m G o t t gern ebenso getreu dienen wolte, alss ein jedes Sternlein, das der Sonnen tag und nacht folget und rund u m b die Erden laufft." Auch der wortreiche, sentimentale Stil gehört zu diesem ökumenischen Berufsbewußtsein hinzu. Die im Brieftext genannten Auszüge aus Schriftstellen waren seine Beiträge zu Gottfried Arnolds Unparteiischer K i r c h e n - und Ketzerhistorie, die dieser ohne solche Hilfe im Stofflichen gar nicht in solcher J u g e n d und in so kurzer Zeit hätte abfassen können. 44

V g l . darüber Margarete B o r n e m a n n , aaO (s. A. 27), S. 3 6 - 4 4 , 9 6 - 1 0 6 .

V g l . Heinz Renkewitz, H o c h m a n n von Hochenau ( 1 6 7 0 - 1 7 2 1 ) , Breslau 1935 (Wiederabdruck: A G P 5), S. 95 A n m . 25. 45

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Ü b e r J o h a n n Valentin Andreä vgl. Wilhelm Hossbach, J . V . A. und seine Zeit 1819; J . P.

Vielleicht darf die folgende Definition der wahren Kirche, die der Diplomat Wolf von Metternich (f 1731) im Jahre 1709 gab, als eine zusammenfassende Äußerung des mystisch-spiritualistischen Denkens am Ende dieses Abschnitts stehen: „Die wahre Kirche ist warhafftig und in der That gerecht und heilig . . . Sie ist die Menge derer / die da seelig werden / mithin der wahren Wiedergebohrnen / (Joh. 3,5) derer / die den Willen GOttes thun / die keine Sünde sondern recht thun und gerecht seyn / wie Christus gerecht ist / das ist der wahren Heiligen." 47 Daraus ergab sich ganz von selbst eine gewisse Gleichgültigkeit gegen ein dogmatisches Selbstverständnis der Kirche, das auf die Lehre den Nachdruck legte: „Ich sage nicht/", erklärte von Metternich wörtlich: „daß alle Secten der Christlichen Religion gleich gut und GOtt gleich angenehm seynd / sondern bekenne daß in einer mehr und gefährlicher Irrthümer als in einer andern seyn. Aber es kan wohl jemand ohne seiner Schuld in einer GOtt mißfälligen Secte stecken / und dabey ein redlich Hertz vor GOtt haben / und ihm den reinen wesentlichen Dienst leisten / also daß ihm die übele Hirn-Meinungen seiner Secte nicht zugerechnet werden." 4 8 Umgekehrt hatte als Ketzer der zu gelten, der dem Willen Gottes widerstrebte, und „sich selbst zum letzten Augmerck und Ziel hatte in seinem Thun und Lassen" 49 - unabhängig von seiner rechtlich-institutionellen Kirchenzugehörigkeit. Eine solche Auffassung mußte sich für kirchliches Unionsbemühen überaus fruchtbar auswirken, besonders auch deshalb, weil hier die Einheit der Kirche nicht

Glöckler, J. V. A. 1886; Karl Hüllemann, J. V. A. als Pädagoge. Schulprogr. der Thomasschule Leipzig 1 1884 II 1893. RE 3 1,506-513; August Tholuck, Lebenszeugen der lutherischen Kirche aus der Zeit des 30jährigen Krieges 1859, S. 314ff.; Paul Joachimsen J. V. A. und die evangelische Utopie. Zeitwende 2 (1926), S. 485-503; 633-642; Will-Erich Peuckert, Die Rosenkreutzer 1928, bes. S. 59-184; F. Fritz, J. V. A.s Wirken im Dienste der württembergischen Kirche, Blätter f. württ. Kirchengesch. 32 (1928), 37-126; ders.: Konventikel in Württemberg ebda. 49 (1949), S. 115-134, auch ebda. 25 (1921), S. 215-217; Hans Leube, Die Reformideen in der deutschen evangelisch-lutherischen Kirche im Zeitalter der Orthodoxie 1924, S. 86-96; Rudolf Kienast, J. V. Andreä und die vier echten Rosenkreutzerschriften 1926; G. H. Turnbull, J. V. A.s Societas Christiana Zeitschr. f. dtsche. Philologie 73 (1954), S. 407-432; 74 (1955), S. 151-185; H. Scholtz, Evangelischer Utopismus b e i j . V. A. phil. Diss. Göttingen 1955. Vgl. auch R. van Dülmen, Art. Andreae in T R E 2, S. 680-683 (Lit.). 47 Anon. (Wolf v. Metternich), Von der wahren Kirche / was und wo sie sey / von ihrem Eigenschaften und Kennzeichen / auch Was die Geist- und Weltlichen Obrigkeiten für Recht über sie haben: Wobey überall die rechtschaffene Wesen / so in J E S U ist / gewiesen und bewehret wird / Zur Bevestigung und Beruhigung der Gemüther in diesen ungewissen Zeiten. Im Jahr Christi 1709, S. 14 §§ 20. 22. Über v. Metternich vgl. Max Wieser, Der sentimentale Mensch, gesehen aus der Welt holländischer und deutscher Mystiker im 18. Jahrhundert. 1924, S. 157-169 (wenn auch einseitig unter Vorherrschaft psychologischer Kategorien). 48 Von der wahren Kirche (s. A. 47), S. 128 (Cap. VII § 61) vgl. dazu das Urteil des Spenerschülers Egid Günther Hellmund (1678-1749) s. u. Anm. 75. 49 Ebda. (s. A. 47) S. 168f. Cap. X §§ 15. 16): „So sind alle Fleischliche oder Weltlichgesinnte sogenannte Christen / unter welcher Partey sie sich auch befinden / die eigentliche und wahre Ketzer" Das wörtliche Zitat im Text S. 169 § 16.

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eigentlich als aufgegeben, sondern als vorgegeben 50 verstanden war und mit der christlichen Grundrichtung der Glaubenden als bereits verwirklichte Tatsache galt. Es hatte demgegenüber eine Bedeutung zweiten Ranges, daß die mystischen Spiritualisten Bruderschaften der Gleichgesinnten ins Leben riefen, wie vor allem Johann Valentin Andrea die Rosenkreutzer (1696) und Jane Leade geb. Ward die philadelphische Sozietät (1696), eher schon, daß sie Mittelpunkte für den geistigen Austausch schufen wie Berleburg mit Schwarzenau und Saßmannshausen am Rothaargebirge und Büdingen in Oberhessen. Dort traf man sich, wurde miteinander persönlich bekannt, führte Auseinandersetzungen über die Grundfragen und gestaltete zugleich — ohne Zwang — ein gemeinsames Leben, wobei nach der Art der frühchristlichen Mönche in Ägypten auch dem Einsiedlertum Raum gelassen wurde 5 1 .

50 Ebda. (s.A. 47), S. 11-13 (Cap. II §§ 8-19): „§8. Es ist nur Eine wahre Kirche / und diese ist eines. § 9. Denn es ist nur Eine Braut des Lammes (Apoc. 21/9. 10). § 10. Christus selber spricht / dass nur Eine Heerde und Ein Hirte seyn solle (Joh. 10/16). § 11. U n d Christus ist gestorben / dass Er alle Kinder GOttes / die zerstreuet sind / zusammenbringe (Joh. 11/52). (S. 12) § 12. Diese sind allzumahl einer in Christo Jesu (Gal. 3/28). § 13. Sie sind alle beruffen in einen Leib (Col. 3/15). § 14. Ein Brod ists / so sind wir viel Ein Leib / dieweil wir alle eines Brods theilhafftig sind (l.Cor. 10/16, 17). § 15. Vertraget einer den andern in der Liebe / und seyd fleissig zu halten die Einigkeit im Geist / durch das Band des Friedes. Ein Leib und Ein Geist / wie ihr auch beruffen seyd auf einerley Hoffnung eures Beruffs. Ein HErr / ein Glaube / Eine Tauffe / Ein GOtt und Vatter unser aller / der da ist über euch alle / und durch euch alle und in euch allen (Eph. 4/2-6). Drum § 16. Lasset uns rechtschaffen seyn in der Liebe / und wachsen in allen Stücken an den / der das Haupt ist / Christus / aus welchem der gantze Leib zusammen gefiiget / und ein Glied am anderen hänget durch alle Gelencke / dadurch eines dem andern Handreichung thut / nach dem Werck eines jeglichen Gliedes in seiner Maasse / und machet / dass der Leib wachset zu seiner selbst Besserung / und das alles in der Liebe (Eph. 4/15. 16). § 17. Und diese Einigkeit oder vielmehr Einheit hat der Sohn GOttes von seinem Vatter erbeten / und gesagt / dass dadurch die Welt solle erkennen / Er der Vatter / habe Ihn (S. 13) gesandt. / Erhalte sie in deinem Nahmen / spricht Er / die du mir gegeben hast / daß sie eines seyen gleich wie wir (Joh. 17/11). Ich bitte aber nicht allein für sie (für die Apostel) sondern auch fur die / so durch ihr Wort an mich glauben werden / (Joh. 17/20) auf daß sie alle eines seyn / gleich wie du Vatter in mir und ich in dir / dass auch sie in uns eines seyn / auf dass die Welt glaube / du habest mich gesandt (Joh. 17/21). Und ich habe ihnen gegeben die Herrlichkeit / die du mir gegeben hast / dass sie eines seyn / gleich wie wir eines seynd (Joh. 17/22). Ich in ihnen / und du in mir / auf dass sie vollkommen seyn in eines / und die Welt erkennen / dass du mich gesandt hats / und liebest sie / gleich wie du mich liebest (Joh. 17/23)." 51 Vgl. dazu Max Goebel, Geschichte des christlichen Lebens in der rheinisch-westphälischen evang. Kirche Bd. III hrsg. v. Theodor Link, Koblenz 1860, S. 71-234; Ernst Benz, Die protestantische Thebais. Zur Nachwirkung Makarios des Ägypters im Protestantismus des

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2. Der

Pietismus

In mehrfacher Hinsicht nahm der Pietismus das reiche Erbe des mystischen Spiritualismus als Verheißung und Verpflichtung auf. Er wußte es durch Entschränkung, vor allem durch die Preisgabe des negativen Tones, der immer nur anklagte, und durch die Umsetzung der mystischen Elemente in ethische, kirchlich möglich zu machen, wenn nicht überhaupt zu legitimieren. Seinen Höhepunkt erreichte er in Deutschland, weil er hier im wesentlichen durch Philipp Jakob Spener - tief in zentrale Gedankengänge Luthers eintauchte und sich, soweit es irgend anging, auf ihn berief. Damit erschien er zwanglos als Fortsetzung der Reformation oder, wie es die volltönenden Worte seines Selbstzeugnisses in Halle 52 aussprachen, als „zweite Reformation", was bereits Jane Leade in London für die philadelphische Bewegung in Anspruch genommen hatte 53 . Von vornherein und grundsätzlich griff er weit über das deutsche Sprachgebiet hinaus und wußte sich als umfassenden Aufbruch der ganzen Christenheit mit dem Ziel, die urchristliche Wirklichkeit wiederzugewinnen, einen Aufbruch, der auf ökumenischen Austausch angewiesen ist und erst in ihm seine Bestimmung erreicht 54 . So dehnte sich sein Wirkungsbereich vom englischen Puritanismus, vom niederländischen Präzisismus, der die labadistische Bewegung einbezog 55 , von der romanischen Mystik Frankreichs, die die spanische der Teresa von Avila und des Juan de la Cruz selbständig abgewandelt hatte und Deutschland durch den französisch-reformierten Pfarrer Pierre Poiret 56 in Annweiler (1646-1719; 1672-1676 in Annweiler, 17. und 18. Jahrhunderts in Europa und Amerika Wiesbaden 1963 (Abh. d. Mainzer Akademie Geistes- und sozialwissenschaftl. Kl. 1963, 1), bes. S. 62-115. 52 Vgl. die Einzelnachweise in meinem Aufsatz Spener und Luther, s. u. S. 156—181; außerdem die prinzipielle Verwerfung dieses Anspruchs durch Valentin Ernst Löschers Vollständigen Timotheus Verinus I Wittenberg 1718, S. 719ff. 53 Vgl. bes. Jane Leade, Ein Garten-Brunn, gewässert durch die Ströhme der göttlichen Lustbarkeit / und hervorgrünend in mannigfaltigem Unterschiede geistlicher Plantzen: die durch den reinen Anhauch zu einem Paradiese aufgeblasen / und nunmehro ihren anmuthig süssen Geschmack und starcken Geruch zur Seelen-Erquickung von sich geben oder: Ein rechtes Diarium und ausfuhrlich Tag-Verzeichnis alles desjenigen / was sich mit dieser theuren Autorin / in Ihrem hohen Beruff vom Jahre 1670 her / zugetragen / auch wie die wesentliche Weissheit Sie auf Ihr Gebeth und Fragen in Ihrem gantzen Glaubens-Processe und magischen Kampff und Streit unterrichtet / und von einem Grade zum andern durchs Paradeis hinauf ins Reich des Berges Sion und des Oberen Jerusalems eingeleitet habe. Amsterdam, Heinrich Wetstein 1697, bes. 355ff. diesselbe, Der himmlische Bottschaffter eines Allgemeinen Friedens oder eine dritte Botschafft an die Philadelphische Gemeinden Joh. 14,27 Amsterdam 1698 bes. S. 35f. 54 Spener an Friedrich Breckling, den er möglicherweise schon von Strassburg her kannte (freundliche Mitteilung von Johannes Wallmann-Bochum) 5. April 1678 handschriftlich in der Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg Cod. MS Supellex Epist. Uff. et Wolff, (s. Α. 43) 4 o 6, 194b. Nils Thune, The Behmenists and the Philadelphians Uppsala 1948, p. 126. 55 Vgl. vor allem Wilhelm Goeters, Die Vorbereitung des Pietismus in der reformierten Kirche der Niederlande bis zur labadistischen Krisis 1670. Leipzig 1911. 56 Über Pierre Poiret vgl. die Monographie von Max Wieser, Peter Poiret. Der Vater der

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dann in Leiden, seit 1688 in Rynsburg bei Leiden) vermittelt wurde, von den Reformwünschen und Vorschlägen der lutherischen Orthodoxie während des Dreißigjährigen Krieges und danach zur philadelphischen Bewegung und zu den von dem ursprünglich deutschen reformierten, später anglikanischen Theologen Anton Horneck (1641-1697) 57 begründeten religious societies aus, welche die Vorläufer, teilweise die Werkzeuge des Methodismus wurden 5 8 . Er gelangte damit zu einer Reichweite, die in der neuzeitlichen Kirchengeschichte nur durch die Aufklärung übertroffen worden ist. Als besonders eigenartige und aussagekräftige Gestalt muß - auch in ihrer dogmatischen Unbestimmtheit und entsprechenden Weite - der Schotte John Dury (Durie, Duraeus) (1595—1680)59 gelten, der in einem langen Leben nahezu zwei Menschenalter völlig in den Dienst der christlich-kirchlichen Einigung gestellt hat. Bereits die äußeren Stationen seines Lebensweges wiesen ihn in diese Richtung. In Edinburgh als Sohn eines presbyterianischen Pfarrers geboren, studierte er in Sedan, Leiden und Oxford und wurde 1625 als Prediger an die seit 1580 bestehende englische Fremdengemeinde in das hanseatische Elbing berufen. Ein Jahr darauf (1626) ging die Stadt aus polnischer Herrschaft in schwedische über. Daraufhin hob der polnische Reichstag 1628 die englische Handelsgesellschaft auf und leitete den Handel über Danzig. Viele Angehörige der englischen Kolonie verließen die Stadt, und der kleine Kreis der Zurückgebliebenen schloß sich an die deutschen lutherischen oder reformierten Gemeinden an. So bestand bereits eine Art praktischer Union, die nach theologisch-juristischer Begründung verlangte. Der schwedische Rechtsgelehrte Jakob Godeman versuchte sie, indem er eine Einigung in der romanischen Mystik in Deutschland. 1932, die aber infolge ihrer zum Grundsatz erhobenen Ablehnung der theologischen Fragestellung zugunsten eines matten Psychologismus nicht genügt. 57 Über Anton Horneck vgl. meinen Aufsatz: Anton Horneck aus Bacharach (1641-1697) und seine Bedeutung für die Kirchengeschichte Englands, Monatshefte für Evangelische Kirchengeschichte des Rheinlandes XVI (1967), S. 254-261. 58 Vgl. meine Biographie John Wesleys, Zürich I 1953 II 1966, bes. S. 13ff. 59 Über John Durie vgl. vor allem Hans Leube, Kalvinismus und Luthertum im Zeitalter der Orthodoxie I: Der Kampf um die Herrschaft im protestantischen Deutschland, Leipzig 1928, S. 204-243. Gunnar Westin, Negotiations about Church Unity 1628-1634. John Durie, Gustavus Adolfus, Axel Oxenstierna. Uppsala 1932; ders., Svenska kyrkan och de protestantiska enhetssträvenden under 1630-talet 1934; ders. John Durie in Sweden 1934/36 Sven Göransson, Schweden und Deutschland während der synkretistischen Streitigkeiten 1645-1660 Archiv f. Refgesch. 42 (1951), S. 220-243; ders., Ortodoxi och Syncretism i Sverige 1647-1660. Uppsala 1950; J. Minton Batten, John Dury, Advocate of Christian Reunion 1944; Martin Schmidt in A History of the Ecumenical Movement 1517-1948 London 1954, p. 97 ff.; ders. in Geschichte der ökumenischen Bewegung 1517-1948 Göttingen I 1957, S. 137 ff. früher die Monographie von Karl Brauer, Die Unionstätigkeit John Duries unter dem Protektorat Cromwells 1907. Vgl. auch C. H. W. van den Berg, Art. Durie in: T R E 9, S. 242-245 (Lit.).

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Abendmahlsfrage entwarf und das Schriftstück dem englischen Ortspfarrer Durie vorlegte, ohne zu ahnen, daß er dem jungen Mann den Anstoß zu seiner Lebensarbeit gab. Dieser spann in der Folgezeit Fäden über Fäden nach Schweden, Polen, England und Deutschland und fand viel Vertrauen, namentlich auch auf entgegengesetzten Seiten, zunächst bei den Anglikanern William Laud, dem Erzbischof von Canterbury, den Bischöfen T h o m a s Morton von Durham, John Davenant von Salisbury und Joseph Hall von Exeter, später bei dem Lordprotektor Oliver Cromwell, bei H u g o Grotius, bei Gustaf Adolf und dem Kanzler Oxenstierna, bei dem Woiwoden für Lissa (Lezno), Rafal Leszczynski, bei dem reformierten brandenburgischen Hofprediger Johann Berg, der sich 1631 im Leipziger Religionsgespräch mit dem entschiedenen Lutheraner Matthias Hoe von Hoenegg unter der politischen Bedrohung des Krieges verständigt hatte, so daß eine Art Schutzgemeinschaft zustande gekommen war. Der mystische Spiritualismus und der beginnende Pietismus forderten Duries Pläne atmosphärisch. Wenn sie schließlich scheiterten, so lag das größtenteils an seinem eigenen diplomatischen Ungeschick, das die Männer und Gelegenheiten nicht zu nutzen wußte. Aber es war bezeichnend, daß er als innere Grundlage für die Einigung zwei klassische Erbauungsbücher ins Auge faßte, die beide fur den Pietismus Geburtshilfe leisteten: Johann Arndts Wahres Christentum und die Practice of Piety des Bischofs Lewis Bayly (1563-1631) von Bangor (Wales), Schriften, die sich in ihrer Wirkung gegenseitig steigern konnten 6 0 . Freilich nahm er, unselbständig wie er war, auch die meisten früheren Motive und Gegebenheiten, die ihre Werbekraft bereits erprobt hatten, in seinen Ansatz auf: die Einfalt Jesu Christi und der frühen Kirche (simplicitas Christi et primaevae ecclesiae), den Lieblingsbegriff der humanistisch-anglikanischen Tradition, die Harmonie der Glaubensbekenntnisse (Harmonía confessionum) des Genfer reformierten Theologen François Salvart (Sainar) (1581) 61 , das Vater-Unser, den Dekalog und das apostolische Glaubensbekenntnis. Doch der Nerv lag in den beiden modernen Büchern Arndts und Baylys. Als oberstes Ziel stand Durie eine praktische, zugleich aber theologisch tief begründete Wirklichkeit vor Augen: die Gemeinschaft der Heiligen, die in unauflöslicher Verbundenheit als Glieder am geheimnisvollen Leibe Christi miteinander lebten, gemeinsam nach der Frömmigkeit und Heiligkeit strebten und dabei einander zu Hilfe kamen 6 2 . Dieser neutestamentliche Kirchenbegriff, den die Korintherbriefe, der 6 0 Ü b e r das in sämtliche Sprachen Europas einschließlich des Rhätoromanischen, sowie in das Indianische Nordamerikas übersetzte Buch Lewis Baylys T h e Practice o f Piety vgl. meine Studie „Eigenart und Bedeutung der Eschatologie im englischen Puritanismus (Arthur Dent, Lewis Bayly, J o h n B u n y a n ) " Theologia Viatorum (Jb. d. Kirchlichen Hochschule BerlinZehlendorf) V (1952), S. 205-266, insbes. 224-251. 61 62

Vgl. bes. Leube a a O (s. A. 59), S. 225ff. Leube ebda. S. 240.

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1. Petrusbrief, der Jakobusbrief und die Apokalypse eindringlich zeigten, trug alle Bemühungen des Schotten und machte es verständlich, daß er den dauernden Enttäuschungen zum Trotz sie ungebrochen fortsetzte. Er verlieh seinen Briefen, Reisen, Gesprächen und Schriften, die - auch darin dem Pietismus verbunden - in der Apokalyptik endeten, das über alle Zufälligkeiten und Ungeschicklichkeiten erhabene Siegesbewußtsein und eine unbestreitbare Größe. War Durie nicht eindeutig dem mystischen Spiritualismus, den er auf britischem Boden in dem Freundeskreise u m den aus Elbing in London eingewanderten Samuel Hartli(e)b (ca. 1600-ca. 1662) 63 und John Worthington kennenlernte, verpflichtet, sondern daneben auch dem Anglikanismus und Presbyterianismus, so verhielt sich das bei einer zweiten Übergangsgestalt anders. Der Baronjustinian von Weltz (1621-1668) 6 4 , der wie der Graf Zinzendorf einer österreichischen, später in Sachsen ansässigen Adelsfamilie entstammte, stand in beherrschender Weise unter m y stisch-spiritualistischem Vorzeichen. Im Jahre 1663 schrieb er den „Kurzen Bericht, wie eine neue Gesellschaft unter den rechtgläubigen Christen Augsburgischer Konfession aufgerichtet werden könne", nämlich durch die Wiederherstellung echter Gottseligkeit. Unmittelbar auf sie folgte 1664 der „Einladungstrieb zum herannahenden großen Abendmahl und Vorschlag zu einer christlichen Jesus-Gesellschaft, behandelnd die Besserung des Christentums und Bekehrung des Heidentums", die erste eigentliche Missionsschrift im deutschen Luthertum. Hier dachte er auch konkret an die Vereinigung von Lutheranern und Reformierten und redete nicht mehr nur die „Christen Augsburgischer Konfession" an. Erst recht wandte er sich in der dritten, im selben Jahre herausgekommenen Schrift an „alle Jesus liebende Hertzen" 6 5 . U m seine Vorschläge bei der politischen Vertretung des deutschen Protestantismus, dem Corpus Evangelicorum in Regensburg, durchzusetzen, bediente er sich des dort als Rechtsanwalt tätigen Jakob-Böhme-Schülers Johann Georg Gichtel (1638-1710); später wandte 6 3 Über Hartlib vgl. meinen Artikel N D B (Neue Deutsche Biographie) Bd. 7 (1966), S. 721 f. 6 4 Ü b e r Justinian von Weltz vgl. Wolfgang Grössel, J . v. W, der Vorkämpfer der lutherischen Mission. Leipzig 1891; ders., Die Mission und die evangelische Kirche im 17. Jahrhundert 1897, S. 33ff. F. Laubach, J . v. W. und der Plan einer Missionsgesellschaft (Ev.-theol. Diss. Tübingen 1955 maschinenschr.). 6 5 Justinian von Weltz, Eine Christliche und treuherzige Vermahnung An alle rechtgläubige Christen der Augspurgischen Confession, Betreffend eine sonderbahre Gesellschafft / Durch welche nechst Göttlicher Hülffe / unsere Evangelische Religion möchte außgebreitet werden / von Justiniano. In den Druck verfertiget / zu einer Nachrichtung / 1. Allen Evangelischen Obrigkeiten. 2. Baronen, und von Adeln. 3. Doctorn, Professorn und Predigern. 4. Studiosis Theologiae am meisten. 5. Auch Stud. Juris und Medicinae. 6. Kauffleuten / und allen Jesus-liebenden Hertzen. In Verlegung des Autoris. Anno 1664. Nürnberg / Gedruckt bey Christoff Gerhard. Neudruck u. d. T . : Der Missionsweckruf des Barons Justinian von Weltz Leipzig 1890. (Faber's Missionsbibliothek Nr. I)

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er sich zu dem ökumenischen Korrespondenten und mystischen Spiritualisten und Haupthelfer Gottfried Arnolds bei seiner Unparteiischen Kirchenund Ketzerhistorie, Friedrich Breckling (1629-1711) in Amsterdam und Zwolle. Von dieser Geisteswelt und gerade auch v o m hier entwickelten, an den Pietismus weitergegebenen Missionsgedanken zeigt sich schließlich kein Geringerer als Gottfried Wilhelm von Leibniz (1646-1716) befruchtet. Er betrieb Mission unter den Heiden und ökumenische Wiedervereinigung der Christen im großen Stil, freilich nun nicht mehr primär aus Leidenschaft für die Gottseligkeit der vollkommenen Kinder Gottes, sondern durch Steigerung der Pansophie Johann Valentin Andreas und seiner Freunde zu einem weitausgreifenden Kulturprogramm 6 6 . Die eigentümliche Verbindung von tief eingewurzelter Frömmigkeit unter dem Stichwort „Gottseligkeit" mit einem universalen Wissensanspruch, der sich in Johann A m o s Komensky's (Comenius) Bildungsreform und in den Vorformen der „Akademie der Wissenschaften" verdichtete, hat in der Pflege des Missionsgedankens eine theologische Religionswissenschaft begründet, die die Voraussetzung, die Kunde von der Heidenwelt, bereitstellen sollte 67 . Spener ist in all solchen ins Organisatorische und Technische hinüberspielenden Bereichen kein Bahnbrecher geworden; seine Kraft lag im Gedanklichen und im Persönlichen. Er bot eine geschlossene Konzeption an, und er wählte die richtigen Leute für die richtige Stelle aus; seine Pfarrstellenbesetzung, insbesondere seine Hofpredigerstellenbesetzung verdiente eine eigene Würdigung 6 8 . So sehr er, namentlich in seiner großen Predigtsammlung über die Wiedergeburt alles v o m einzelnen Gläubigen bzw. Wiedergeborenen aus konstruierte und ein frühes voll ausgereiftes Modell eines christlichen Individualismus zur Verfügung stellte, so sehr dachte er auch an die Kirche. Denn die Wiedergeburt, die das neue Kind Gottes erzeugte, isolierte nicht, sondern schuf neue Gemeinschaft; sie brachte eine geheime „geistliche" Kirche hervor, die über alle historischkonkreten Kirchengrenzen als die „wahre" Kirche weit hinaus reichte. Die wahren Gläubigen, die das wahre Christentum leben, mußten sich in der Sache, aber auch den Personen nach, im tiefsten eins wissen; sie waren unsichtbar und sichtbar verbunden. Wiedergeburt bedeutete Wiederge6 6 Vgl. Franz R u d o l f Merkel, Gottfried Wilhelm von Leibniz und die Chinamission 1920, Ernst Benz, Leibniz und Peter der Große 1947. 6 7 Vgl. Erich Beyreuther, Die Begründung einer theologischen Religionswissenschaft im 18. Jahrhundert E L K Z (Ev.-luth. Kirchenzeitung) 5 (1951), S. 107-109. 6 8 Besonders kennzeichnend ist in dieser Hinsicht der Ü b e r g a n g seines Freundes Christian Scriver (1629-1695) im vorgerückten Alter (im Jahre 1690) von M a g d e b u r g ins Oberhofpredigeramt nach Quedlinburg. Spener wollte offenbar den dortigen mystischen Spiritualismus, den Johann Georg Sprögel, der zweite Hofprediger, der Traupfarrer August Hermann Franckes (mit Anna Magdalene von Wurm) und der Schwiegervater Gottfried Arnolds, pflegte, mäßigen. Gottfried Arnold hat dort seine eigentliche geistig-geistliche Prägung empfangen.

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winn der urchristlichen Wirklichkeiten, die in der Gegenwart ebensogut erreichbar waren wie damals. Das apostolische Leben, das die ersten Christen in Demut, Liebe und Frieden führten, wurde als Verpflichtung und Möglichkeit für die Gegenwart und Zukunft empfunden. So erwartete Spener - wie im 19. Jahrhundert Wilhelm Löhe - „bessere Zeiten" für die Kirche und hielt allen Verketzerungen zum Trotz eisern daran fest 69 . Der lebendige Glaube und seine Früchte in der Liebe 70 , die an die Stelle der Lehre, insbesondere an die Stelle der konfessionellen Polemik traten, wurden zu den Kennzeichen der Kirche. Beispielhafte Lebensläufe vermochten den Wert und die Wahrheit des christlichen Glaubens weit besser gegen den aufkommenden Atheismus sicherzustellen als gelehrte Erörterungen und mühsame Beweisführungen 7 1 . Darum blühte durch den Pietismus nicht nur die Autobiographie, sondern auch die Biographie auf, vor allem durch die großen Sammlungen, die mit Gottfried Arnolds Leben der 69 Zu Speners hartnäckigem Festhalten an dieser Hoffnung vgl. vor allem Paul Grünberg, Philipp Jakob Spener I. Göttingen 1893, S. 470-476 u. ö. (s. Register Bd. III 1906 „Chiliasmus"). Für Löhe: Drei Bücher von der Kirche 1845 I, 2, 3.4., III, 10., Wke (hrsg. v. d. Gesellsch. f. Inn. u. Äuß. Mission) V, 1 (1954), S. 92f., 93f., 97, 178. 70 Davon ist insbesondere Gottfried Arnolds Erstlingswerk „Die Erste Liebe der Gemeinen Jesu Christi" 1696 bestimmt. Es darf als historisches Bekenntnisbuch des Pietismus bewertet werden. 71 Philipp Jakob Spener, Pia Desideria (ed Aland 1940 41964) 26, 24; 74, 5; 72, 15; 76, 2; August Hermann Francke, Nicodemus 31707, a 7', a 8V, a 10v, S. 101 ders., Mónita pastoralia theologica 1729, S. 11 und 12, 32f., 34, 109ff., 112ff. Ders. Lectiones paraeneticae 1726, S. 171 f. Idea studiosi theologiae 1723, S. 40f. Für Zinzendorf vgl. Bernhard Becker, Zinzendorf und sein Christentum im Verhältnis zum kirchlichen und religiösen Leben seiner Zeit 1900 S. 342ff., Wilhelm Bettermann, Theologie und Sprache bei Zinzendorf 1935, S. 113ff. Als Quellenbeleg z. B. Peri Heautou. Das ist: Naturelle Reflexiones über allerhand Materien, nach der Art, wie Er bey sich selbst zu denken gewohnt ist: Denenjenigen Verständigen Lesern, welche sich nicht entbrechen können, über Ihn zu denken, in einigen Send-Schreiben bescheidentlich dargelegt, o. O. u.J. (1746-1749), S. 97: „Ich glaube, daß es unstreitig besser ist, wenns aufs blosse Unterlassen des Bösen ankömmt, sich der mystischen Methode zu bedienen, als der philosophischen, und des in die Theologie eingeschlichenen, in der Bibel aber nirgends befindlichen Zwey-Kampfs mit der Sünde." Im folgenden setzt Zinzendorf auseinander, was er damit meint, nämlich das praktisch-emotionale Verlieren des Geschmacks an der Sünde - wie es in der Tat der mystischen Tradition und dem mystischen Spiritualismus seiner Zeit entsprach. Die Stelle ist äußerst aufschlußreich fur die Beantwortung der Frage, was den Grafen wie viele andere ernste Christen so übermächtig am mystischen Spiritualismus anzog: „Ich weiß nach der Schrift keine andere Methode, als daß das Gemüth der Sünde absterbe. Ein Gemüth, daß die Sünde lieb hat, ist bey der äussersten Unvermögenheit und Ersterbung des Leibes nicht ein Haar besser vor GOtt, als ein anders, das sich noch aller seiner natürlichen Munterkeit bedienen kan, die Affecten zu vergnügen: hingegen wird der allerverderbteste Körper, der gedrükteste Patient an den Nachwehen der Natur, von einem Gemüthe, daß der Sünde feind und in den Heiland verliebt ist, nicht nur an und für sich selbst souverain regiert, sondern er hat auch noch die Avantage, daß ihm sein Elend in den Augen des Heilands nicht schlechter macht, und daß der heilige Geist mit seiner gründlichen Cur nicht säumet". Die weitere Erörterung legt (S. 98) gedankenreich und entschieden dar, daß aus diesem Grunde die Menschheit Jesu das Grunddatum der christlichen Aussage ist.

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Gläubigen (1701) in der jüngsten Vergangenheit begannen und sich über Johann Heinrich Reitzens Historie der Wiedergeborenen (1701 in 3 Bänden, 1717 in 5 Bänden, 1730 ein 6. Band), Christian Gerbers Historie der Wiedergeborenen in Sachsen (1725-29) bis zu Gerhard Tersteegens Ausgewählten Lebensbeschreibungen heiliger Seelen (1733-1753) erstreckten. Diese hagiographisch angelegten Biographien sprengten sowohl naiv als auch gewollt und überlegt alle konfessionellen Grenzen. In bunter Reihe standen Katholiken neben evangelischen Männern und Frauen. Zu den Einzelgestalten traten die beispielhaften Gemeindegründungen und Mittelpunkte für christliches Leben wie christliche Arbeit größeren Stils, die vielfach ein Gepräge zeigen, das den modernen Industrialismus ahnen läßt, allen voran das hallische Waisenhaus August Hermann Franckes mit dem Plan eines Seminarium universale 72 , die Herrnhuter Brüdergemeine des Grafen Zinzendorf mit ihren verschiedenen Kolonien überall in der Welt 73 , später die Pilgerruh auf der Otterbeck am Niederrhein von Tersteegen, die deutsche Christentumsgesellschaft in Basel, schließlich die Schöpfungen des schwäbischen Pietismus in Korntal bei Stuttgart und Beuggen bei Basel, denen sich im 19. Jahrhundert die lutherischen Zentren Neuendettelsau in Mittelfranken und Hermannsburg in der Lüneburger Heide anreihten. Zinzendorf sprach es aus, daß die verborgene Kirche der wahrhaft Glaubenden der Welt sichtbar werden könne durch verbundene Glieder 74 . Zugleich war darin christliche Elitebildung als Schrittmacher der Zukunft angelegt. 72

Vgl. besonders Otto Podczeck (Hrsg. und Kommentator), August Hermann Franckes Schrift über eine Reform des Erziehungs- und Bildungswesens als Ausgangspunkt einer geistigen und sozialen Neuordnung der Evangelischen Kirche des 18. Jahrhunderts: Der Große Aufsatz Akademie-Verlag Berlin 1962. Carl Hinrichs, Friedrich Wilhelm I. König in Preußen. Eine Biographie. Jugend und Aufstieg. Hamburg 1941, S. 559-599, ders. Preußentum und Pietismus. Gött. 1971. Für einen wichtigen Einzelpunkt vgl. Albert Krebs, Α. H. Fr. und Friedrich Wilhelm I. ein Beitr. z. Gesch. d. Schul- und Anstaltswesens 1925. 73 Vgl. dazu besonders Otto Uttendörfer, Zinzendorf und die Entwicklung des theologischen Seminars der Brüderunität ZBG (Zeitschr. f. Brüdergeschichte X) (1961), S. 32-88; ders., Z. und das theol. Seminar d. Brüderunität II. Teil: Das Seminar in der Wetterau von 1739-1749 ebda. XI (1917), S. 71-123; ebda. XII (1918), S. 1-78; ebda. XIII (1919), S. 1-63. 74 Büdingische Sammlung Einiger in die Kirchen-Historie einschlagender, sonderlich neuerer Schriften I Büdingen, Joh. Chr. Stöhr 1742, S. 40 f. (Stück VII: Plan, die Schwartzenauische und Berleburgische Verfassungen in eine Ordnung zu bringen 1730, Punkt 1-4): „1. Alle Gemeinschafft die bloss auf Ubereinstimmung der Meynungen und (S. 41) Formen ohne Aenderung des Hertzens sich gründet / ist eine schädliche Secte. 2. Die eigentliche und gantze Gemeinde Christi ist nicht sichtbar sondern unsichtbar. 3. Die Glieder dieser unsichtbaren Kirche sind unter allen Secten der Christen, und vermuthlich auch untern andern. 4. Die unsichtbare Kirche kan der Welt sichtbar werden, durch verbundene Glieder." Ebda. I S. 48 (Stück VIII: Privat-Erklärung der von G O T T selbst zusammengebrachten einfältigen Gemeine zu Herrnhuth 1730. Abschnitt IV, Pkt. 7): „Die eigentliche Gemeine JEsu Christi ist unsichtbar und auf dem gantzen Erdboden ausgestreuet; Es giebt aber auch sichtbare Gemeinen, dadurch immer alle zwey oder drey in seinem Nahmen versammlete

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Fragt man, was der mystische Spiritualismus und der Pietismus fur das ökumenische D e n k e n bereitstellten, so sind es die folgenden Leitmotive: 1. die Wiedergeburt des einzelnen Gläubigen, die als umfassende N e u s c h ö p f u n g durch den lebendig in ihm wirkenden Christus erfolgt und als individuelles menschliches Ereignis i m Kirchenbegriff die hohe B e w e r t u n g der Glieder a m Leibe Christi vor d e m H a u p t e nach sich zieht; 2. der Perfektionismus, der s o w o h l für den einzelnen Gläubigen als auch als Chiliasmus, als „ H o f f n u n g besserer Zeiten" für die Kirche, wenn nicht für die ganze Welt gilt; 3. das biographische Interesse, das aus der Wiedergeburt und besonders ihrem Ergebnis, d e m wahren Kinde Gottes, organisch folgte; 4. der Sozietätsgedanke, der an die Stelle des von der Obrigkeit organisierten Staatskirchentums trat und die freie Vereinigung aller lebendigen Christen gegen die geschichtlich gewordenen, juristisch festgelegten K o n fessionen mit ihren Grenzen aufbot - versicherte doch der Schüler Speners E g i d Günther H e l l m u n d (1678-1749) ausdrücklich, daß einem echten Christen „ G l a u b e n s b r ü d e r " aus der fremden Kirche näher stünden als „ K i r c h e n b r ü d e r " aus der eigenen 7 5 ; 5. der Missionsgedanke, der die universale Ausbreitung christlichen Geistes ohne konfessionelle B e s o n d e r u n g mit Leidenschaft wünschte; 6. der innerliche Gottesdienst des Herzens, der sich gegen die äußeren, in Wahrheit bedeutungslosen F o r m e n wandte und nach d e m wahren Wesen Gottes suchte 7 6 . N i m m t man das alles z u s a m m e n , so ist schon i m Gedanklichen der Beitrag des Pietismus zu d e m T h e m a „Einheit der K i r c h e " bedeutend, erst Personen gemeinet werden können. E s findet sich eine äusserliche Verfassung in der R e p u blic, die nach denen Glaubens-Bekäntnissen und Liturgien abgetheilet, worinnen 1.) Glieder der wahren und unsichtbaren Kirche / 2. obbeschriebene kleine Gemeinen / und 3.) unbekehrte Menschen und Kinder der Finsterniss leben. Unsere Gemeine befindet sich in der Evangelischen Kirchen-Verfassung A. C . , (Augustanae Confessionis), lebet in publicis nach derselben Liturgie, in privato aber als zwey oder drey in Christi N a m e n versammlete Glaubigen und glaubet, dass, was Christus ihrer zweyen versprochen hat, ihrer 100. und 1000. w o ihrer so viel eines Sinnes beysammen wohneten, nicht versaget ist." Zur Sache vgl. Heinz Motel, Zinzendorf als ökumenischer Theologe Theol. Diss. Basel 1942, S. 58; Fritz Blanke, Zinzendorf und die Einheit der Kinder Gottes Basel 1950, S. 12-14. 7 5 E g i d Günther Hellmund, Der Enthusiast und Syncretist Frankfurt/Main und Leipzig 1720, S. 58: „ U n d ob wir gleich die Schwachglaubigen in andern Christlichen Kirchen / z. E. in der R o m . Catholischen / Griechischen u. dgl. nicht vor unsere Kirchen-Brüder erkennen dürfften / weil sie zu unsrer Kirche nicht gehören / noch eine äusserliche Kirchengemeindschafft mit uns haben /) (so m ö g e n und müssen wir sie doch wohl vor unsere GlaubensBrüder erkennen / die mit uns von G O t t gebohren sind und mit uns einen Glauben an J e s u m Christum im Hertzen haben / gleichwie ich leyder / nicht alle Kirchen-Brüder auch vor Glaubens-Brüder erkennen kan / weil sie nehmlich keinen wahren lebendigen Glauben im Hertzen haben / noch solchen mit der That beweisen." E s folgt bezeichnenderweise eine B e r u f u n g auf Speners Schrift „Aufrichtige Übereinstimmung mit der Augsburgischen C o n fession" 1695, S. 225 (Art. VIII th. 10 § 1). 76

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Christianus Democritus, Fatum Fatuum Altona 1730, S. 50.

recht, wenn man den prinzipiellen Individualismus der Bewegung gebührend in Anschlag bringt. Gegenüber der Reformation ist ein entscheidender Wandel eingetreten, der die Neuzeit mit ihrer durch und durch anthropologischen Orientierung anzeigt: Die Einheit der Kirche beruht nicht auf dem Wort Gottes, das als eindeutig vorausgesetzt ist. Sie beruht nicht auf der ihm gemäßen Lehre, die kunstvoll ausgearbeitet und polemisch abgesichert sein muß, wie die Orthodoxie wollte. Einheit der Kirche ist nicht mehr Einheit der Lehre. Sie beruht vielmehr auf der Frömmigkeit im denkbar umfassenden Sinne: auf der Wiedergeburt als Wiedergewinn der Haltung, welche Jesus forderte, auf dem urchristlichen Charakter mit dem - im Grunde als geradlinig erreichbar vorgestellten - Ziel der Vollkommenheit. Dadurch gerieten alle bisherigen Einigungspunkte und Einigungsmerkmale in eine sekundäre Rolle: die Theologie, der Gottesdienst, die Sakramente oder gar die Kirchenordnung. Dafür kamen Erbauungsbücher, Briefe, Lebensläufe, Gespräche in den Vordergrund. Weil der Pietismus in der Nachfolge des mystischen Spiritualismus so tief und ursprünglich, bei der Umkehrforderung Jesu und dem johanneischen Bilde der Neugeburt von oben her, ansetzte und damit soviel biblisches Recht für sich in Anspruch nehmen konnte, weil er gleichzeitig der neuzeitlichen Orientierung am Menschen und seinen Zielen, der Leidenschaft für den „neuen Menschen", der eine neue Ordnung schafft und ein neues Weltalter eröffnet, aus Urverwandtschaft so entgegenkam, darum war ihm eine große und tiefgreifende Wirkung sicher. Das Handeln des Pietismus entsprach dem. Philipp Jakob Spener hat bereits im Erscheinungsjahr 1675 seine Programmschrift, die Pia Desideria, die durchaus folgerichtig nicht selbständig, sondern als Vorrede zu einer Neuausgabe von Johann Arndts Postille ans Licht der Öffentlichkeit trat, mit der ausdrücklichen Zweckbestimmung ins Lateinische übersetzt, damit sie auch die Ausländer haben könnten 7 7 . Das Aufkommen neuen Glaubenslebens in England, Schottland und Flandern, wovon ihm der ehrerbietig begrüßte, ihm vielleicht schon von Straßburg her bekannte Friedrich Breckling (1629-1711) berichtet hatte, beobachtete er aufmerksam 7 8 . Der philadelphischen Gemeinschaft Jane Leades scheint er sich geöffnet zu haben, jedenfalls zählte sie ihn wie seinen Adjunkten Konrad Gottfried Blanckenberg zu ihren deutschen Freunden, zu denen vor allem noch Johann Wilhelm Petersen, Gottfried Arnold, sein Schwiegervater Johann Georg Sprögel in Quedlinburg, Gottfried Vockerodt in Gotha gehörten, während August Hermann Francke infolge des ungeschickten

7 7 Philipp J a k o b Spener, Gründliche Beantwortung einer mit Lästerungen angefüllten Schrift „ U n f u g der Pietisten . . . " 1693, S. 22. 7 8 Spener an Friedrich Breckling 5. April 1678 (Handschrift in der Staats- und Universitätsbibliothek H a m b u r g . C o d . M S . Supellex epistolica Uffenbachii et Wolffiorum 4° VI, p. 194b.

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und unglücklichen Auftretens, das der Londoner Abgesandte Johann Heinrich Dittmar in Halle an den Tag legte, außerhalb blieb 79 . Francke griff jedoch selbst zielsicher und tatkräftig zu, um ökumenische Verbindung in großem Stil zu bekommen und auszugestalten. Seit dem Jahre 1700, schon kurz nach ihrer Gründung, hatte er die Zusammenarbeit mit der Society for the Promoting of Christian Knowledge in London gesucht und gefunden und sie zu einem regelmäßigen Austausch besonders über Erziehungsfragen ausgenutzt 80 . Über deutsche Kaufleute, denen sie als Hauslehrer dienten, sandte er junge, in Halle gebildete, mit pietistischem Geist und Sendungsbewußtsein erfüllte Theologen auf die britische Insel und fand in dem Bedeutendsten von ihnen, Anton Wilhelm Böhme (1673-1722), einen einzigartigen Helfer. Böhme, der ursprünglich mystischer Spiritualist gewesen war und deswegen Schwierigkeiten in seiner waldeckischen Heimat bekommen hatte, war in London durch Wilhelm Heinrich Ludolfs Fürsprache Hofprediger des Prinzgemahls Georg von Dänemark geworden und erblickte seine Lebensaufgabe darin, durch persönliche Einflußnahme, Korrespondenz, intensive Mitarbeit in der Society for the Promoting of Christian Knowledge, eigene Schriftstellerei und Übersetzungen als Statthalter Franckes zu wirken 81 . Was dieser Mann, der weitgehend, wenn auch nicht so vollständig wie Anton Horneck, mit der englischen Welt eins wurde, für die weltweite Ausbreitung des pietistischen Geistes und für die Gemeinsamkeit christlicher Verantwortung bedeutete - nicht zuletzt durch seine persönlich gewinnende Art, die ihn in den Augen des kongregationalistischen Liederdichters Isaac Watts (1674—1748), des Paul Gerhard Englands, zum Inbegriffeines Friedensstifters machte 82 - läßt sich kaum abschätzen, da es ebenso stark im praktischen Tun wie in der beständigen Präsenz und damit im Atmosphärischen lag. Unter den Büchern, die er den Engländern zugänglich machte, stand Arndts Wahres Christentum obenan; daran schlossen sich die „Segensvollen Fußstapfen des noch lebenden und waltenden liebreichen und getreuen Gottes", der Bericht von der Entwicklung des hallischen Waisenhauses, der den bezeichneten Titel „Pietas Hallensis" im Gegensatz zu einer für Rom werbenden Pietas Parisiensis erhielt. Es folgten die Berichte von der 79

Nils Thune, The Behmenists and the Philadelphias Uppsala 1948, pp. 125-131. Vgl. Erich Beyreuther, A. H. Francke und die Anfánge der ökumenischen Bewegung Leipzig 1957, S. 105-211. 81 Über Anton Wilhelm Böhme vgl. bes. nach der Biographie durch Johann Jakob Rambach in „A. W. Böhme, Erbauliche Schriften" Altona 2 Bde. 1731/32 und S. Wilford, Memorials of Eminent Persons 1741 Wilhelm Irmer, Geschichte des Pietismus in der Grafschaft Waldeck 1912, S. 26 ff. Erich Beyreuther, Francke und die Anfange der ökumenischen Bewegung 1957, S. 126 ff. 82 The Recommendation of A. W. Böhme by Isaac Watts in: Memoirs of the Life and Death of the late Rev. Mr. Anthony William Boehm . . . Drawn up by the Reverend John Jacob Rambach . . . N o w made English, by John Christian Jacobi London, Richard Ford 1735, pp. XIII-XVI, vor allem pp. XIV f. 80

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eben beginnenden südindischen Mission Bartholomäus Ziegenbalgs und Heinrich Plützschaus, die im Elternhause John Wesleys vorgelesen wurden 83 , dann August Hermann Franckes besonders sorgfältig abgefaßter und von ihm selbst als Kernschrift betrachteter Traktat „Nicodemus oder von der Menschenfurcht", den derselbe John Wesley hochschätzte und gekürzt seiner „Christlichen Bibliothek" einverleibte 84 . Sehr bezeichnend fehlte auch der „Tempel Salomos" des Nauener Pfarrers Balthasar Köpke nicht, der ein bedeutungsvolles Vorwort Speners über die christliche Vollkommenheit enthielt 85 . Schließlich verdient die erbauliche Lebensbeschreibung eines jungen Adligen von Exter eine besondere Erwähnung, weil einerseits die pietistische Hochschätzung von unmittelbaren Lebenszeugnissen vor theoretisch argumentierenden Abhandlungen, andrerseits der durch und durch pädagogische Wille Franckes sich darin deutlich aussprachen. Francke baute sein Waisenhaus bewußt zu einer ökumenischen Anstalt aus, stand doch dahinter der große Plan eines Seminarium universale, einer Pflanzstätte von Christen aller Berufe, namentlich auch „frommer Politici" 86 für die ganze Welt 87 . Er nahm Knaben aus allen Ländern auf, die später, 83 Vgl. darüber meinen Aufsatz „Der Missionsgedanke des jungen Wesley auf dem Hintergrunde seines Zeitalters" Theologia Viatorum I (1948/49), S. 80-97. 84 August Hermann Francke, Nicodemus 31707; Über John Wesleys Christian Library vgl. Ferdinand Sigg, John Wesley und die „Christliche Bibliothek" Einblicke in die verlegerische Tätigkeit des Methodismus im 18. Jahrhundert in: Schweizer Evangelist, Sondernummer zum 250. Geburtstag des Begründers des Methodismus 1953, S. 381-385 und meine Biograp h i e j o h n Wesleys II 1966, S. 323-329. 85 Balthasar Köpke, Dialogus de templo Salomonis (s. o. Anm. 32). 86 Relation von denen merckwürdigen Begebenheiten der Evangel. Kirche in Teutschland und andern Provincien vom Jahr 1730-1733 handschr. im Francke-Archiv der Universität Halle h I L 3. Darin wird berichtet, daß im Paedagogium Regium, wo die Söhne adliger wohlhabender Eltern erzogen werden, etliche 90 sich befinden, die ihre besonderen Inspectores und Praeceptores haben. Dort hat sich - unter Leitung adliger Studenten der Rechtswissenschaft - ein collegium pietatis gebildet, das sich regelmäßig im Gebet und in der Erbauung aus Gottes Wort zusammenfindet. Man hofft auf diese Weise fromme Políticos, die den Bau des Reiches Gottes fördern, zu bilden, „die bishero noch immer ziemlich seltsam gewesen" vgl. a. August Hermann Francke selbst, der Grosse Aufsatz hrsg. v. Otto Podczeck Adademie-Verlag Berlin 1962 (Abh. d. Sachs. Akademie d. Wissensch, phil.-hist. Kl. Bd. 53, H. 3) S. 88, 6; 90, 4; S. 109-111. Als Idealgestalt diente Veit Ludwig von Seckendorff (1626 bis 1692), der Kanzler Herzog Ernst des Frommen von Sachsen-Gotha, des Herzogs Moritz von Sachsen-Zeitz und schließlich der neuen Universität Halle (vgl. August Hermann Francke, ebd. 86 f. (MS Β und C). Den um sich greifenden Atheismus schilderte Gotthilf August Francke in der genannten „Relation 1730-1733" mit folgenden bewegten und bewegenden Worten: Zunächst hat er die politischen Konversionen zum römischen Katholizismus namhaft gemacht und daraufhingewiesen, daß die Katholiken sich rühmen, es gebe keine vornehme Familie in Deutschland, wo nicht wenigstens ein Glied übergetreten sei. Dieser Umstand rühre meistens daher, daß sich die Standespersonen der Pracht und Wollust ergeben, die Religion für nichts achten, „mehr fur eine Ceremonie als etwas reelles ansehen, und daß der Indifferentismus in der Religion ia gar Atheistische Principia sich allenthalben einschleichen, ia die Atheisten nun schon so gemein werden, daß man dergl. zu bekennen keine Scheu mehr traget, und sich hin und wieder gantze Gesellschafften und Banden Atheisten befinden" (Francke-Archiv h I L 3).

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nach Abschluß ihrer Studien und einer Präzeptorentätigkeit a m Waisenhause, Sendboten des hallischen Pietismus in ihrer H e i m a t w u r d e n 8 8 . M i t 8 7 August Hermann Franckes Project zu einem Seminario universali oder Anlegung eines Pflanz-Gartens, in welchem eine reale Verbesserung in allen Ständen in und außerhalb Deutschlands, j a in Europa und allen übrigen Theilen der Welt zu gewarten; hrsg. v. O t t o Frick als: Gratulationsschrift zum 50jährigen Lehrer-Jubiläum Fr. A u g . Ecksteins Halle 1881, S. 10. 8 8 Ein besonders bedeutsames Beispiel war der Slovake Matthias Bei, der 1723 die Imitatio Christi des T h o m a s a K e m p i s mit einer eigenen pietistischen Vorrede neu herausgab. Bezeichnend darin ist die Liste der besten Theologen, die das Büchlein empfohlen haben (p. ) ( 1 Γ u. v ) (§ VIII): B . Lutherus, Arndius, Gerhardus, Höpffnerus, Hildebrandus, Olearius, Spenerus, Fabricius, Buddeus) und die Verbindung von Christus pro nobis mit Christus in nobis (ebd. p.)(6 v A n m . z): Apage, fanaticas eorum opiniones, qui aut alium I N N O B I S Christum, q u a m qui P R O N O B I S datus est, comminiscuntur; aut Christo, P R O N O B I S , sine vera fide gloriantes, eius I N N O B I S efficacem inhabitationem, negant, saltern sugillant: diuitiarum mysterii huius inter gentes, qui est Christus IN N O B I S , spes gloriae, Coloss. I 27, ignari prorsus & expertes.

Matthias Bei (1684-1749), der als der gelehrteste U n g a r seiner Zeit galt, und zum kaiserlichen Geschichtsschreiber fur Ungarn (durch Karl VI.) erhoben wurde, auch die Mitgliedschaft der Akademien Petersburg, London und Berlin erreichte, wurde wegen dieser seiner Herausgabe der Imitatio Christi des T h o m a s a Kempis v o m römisch-katholischen Klerus seiner Heimat angegriffen, jedoch durch den Kaiser geschützt. Durch sein entschiedenes Eintreten fur eine gute N e u a u s g a b e der tschechischen Bibel, sowie durch seine eigenen Übersetzungen von Johann Arndts „Wahrem Christentum" und Freylinghausens „Grundleg u n g der T h e o l o g i e " ins Tschechische (auch Ungarische) nimmt er in der Frühgeschichte der slavischen Philologie einen fuhrenden Rang ein, vgl. bes. Eduard Winter, Die Pflege der west- und südslavischen Sprachen in Halle im 18. Jahrhundert. Akademie-Verlag Berlin 1954, S. 90-105, 119, 121, 126, 128f., 139-141, 161 f., 186, 189. Zu den dort gegebenen Briefabdrucken aus dem Francke-Archiv in Halle, in denen er erwähnt wird (S. 231, 242f., 249-251) möchte ich, u m seine Leidenschaft - die im Kern trotz aller Heimatliebe eine ökumenische ist - folgende eigene Äußerung von ihm an Francke hinzufugen: (Francke-Archiv D 81, 1078-1080) Neosolii, Maji 1708. Excellentissime D o m i n e , Pater in Christo venerande! . . . (p. 1079) Bel, der zu dieser Zeit Gymnasialrektor in Neusohl ist, hat drei Schüler aus dem G y m n a s i u m entlassen, die darauf brennen, Halle zu sehen (Michael Peschke, Andreas Brtosch, Benedictus Gal) quippe qui viam poenitentiae ac fidei semel ingressi nihil magis in votis habebant q u a m vt ea, quae hic ex rimulis meis degustaverunt, apud V O S ex ipsis fontibus biberent . . . Sed vnum est, quod abs Te, Vir, DEI! implorare supplex statui. Scilicet, cum N o u i Testamenti editio, Halae, bohemice excusa, longe lateque sparsa per patriam nostram, vel ipsa invidia confitente, fructus ferat vberrimos, animum, iam pridem induxi meum, vt integra Fratrum B o h e m o r u m Biblia, secundum fontes reviderentur, calumnianismis, quibus obnoxia sunt, expungerentur, parallelis illustrarentur, adeoque, s u m m a Verbi D E I in patria nostra, in primus gente Slavonica inopia leuaretur. Q u a n d o q u i d e m ergo Pentateuchum, librosque historíeos omnes, additis summariis capitum, et rubricarum titulis, reuisos, et qua oportuit, emendatos iam habeam; (neque enim in hagiographis et Prophetis, in q u o r u m versione felicissimi fuere fratres Bohemi, tanta, si quaedam pauca excipiantur, occurrerent emendanda:) et vero desperatis fere Patriae rebus n e m o sit, qui in excudendum volumen hoc biblicum, aliquid sumtuum, vel conferre possit, vel velit: ad T e Venerande Pater confugio, T V V M exoro patrocinium, vt pro singular! T V O in Ecclesiam D E I amore ac studio, operis huius biblici editionem promouere dignareris ex qua oppido plus in coetus fidelium c o m m o d i redundaturum spero quam si innumera pene tempia Ecclesiis nostris tribuerentur. Tantus

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Hilfe der Society for the Promoting of Christian Knowledge setzte er die dänisch-hallische Mission in Südindien ins Werk 89 . Sein Sohn Gotthilf August Francke (1696-1769) und sein jüngerer Freund Samuel Urlsperger (1685-1772), der Senior in Augsburg, taten das gleiche mit der Diasporafursorge für die deutschen Einwanderer in Nordamerika. Es begann 1734 mit der Ansiedlung von Salzburger Bauern in Georgia (Nordamerika), wodurch John Wesley den hallischen Pietismus in ihren jugendlichen Pfarrern Johann Martin Boltzius und Israel August Gronau kennenlernte 90 , und schritt 1742 zur Begründung einer deutschsprachigen evangelischlutherischen Kirche in Pennsylvanien durch Heinrich Melchior Mühlenberg (1712-1788) fort. Aber Francke blickte über die westliche Welt weit hinaus. Er ließ, erstmalig seit den Bemühungen des österreichischen Freiherrn Hans U n gnad von Sonneck aus der Steiermark (1493—1565)91, auch die Slawen an der Erneuerungsbewegung des Protestantismus teilnehmen und begründete so als Nebenfrucht die Wissenschaft der Slawistik als Sprach- und

namque exemplorum est defectus, vt Pastorum multi, codice vernáculo careant, alii, quibus salus Ecclesiae cordi est volumen integrum, molestissimo labore, sed maiore temporis iactura, conscribere cogantur. Igitur, dum ea VOS, Venerandi Patres, Deus dignatur benedictione, vt apud ipsos quoque Malabaras, Verbum DEI, VESTRIS curis propagetur: decorum piumque existimetis genti etiam huic nostrae quae suae vix sufficit calamitati, opitulari. Quodsi itaque institutum isthoc, Vir DEI, cum Patribus reliquis, promouere potueris ( : potes autem commodissime : ) exemplar nitidissimum in folio, vna cum apparatu parallelorum, quae ex vltima Hallensium Bibliorum editione, aliisque congesta, huicque versioni sunt accommodata, pro architypo ad VOS dimittam. Correctoris muñere, aliqvis e meis discipulis, commode posset defungi. Quid? (p. 1080) qvod moles exemplaris, vltima illa Hallensi editione, maior haud sit futura, cuius generis typi qvoqve essent elegantissimi. Memini autem, O p t i m u m Virum, Bibliopolam Orphanotrophei, D n u m Eilers, me Halis existente, cum editionis huius bohemicae, quam tvm meditabar, fieret mentio, sumtus non piane denegassem m o d o 500 exempla (etwa Versehen fur exemplaria?) confestim distraherentur. Ea vero, facile, distractum iri, in tanta exemplarum inopia, facile est colligere. Alias, si Deus voluerit et vixerimus, meo ipsius Sumtu, excudendum Psalterium Bohem. adorne. Hae ergo meae sunt preces, Pater Venerande! quas, quia praeter Deum, in ista rerum corruptione, alibi non potui, in T V V M sinum effudi. Deus vero omnis misericordiae lucem verbi sui, inter nos et in nobis accendat Ipse, vt regno tenebrarum relieto, tamquam fìlli lucis in luce ambulemus. Ceterum pro orphanis TVIS, quorum in numero, et ego quondam vititavi, n u m m u l u m hunc aureum pio animo mitto ac fronte serena accipi eundem peto. Q u o d reliquum est, Venerandam Dignitatem T V A M gratiae Diuinae, cum toto muneris onere, quod gens, commendo supplex Magni TVI Nominis / observantissimus / Matthias Bel, V D M / Gymn. Montano Neosol. Rect. 89 Vgl. zuletzt zusammenfassend Arno Lehmann, Es begann in Trankebar Berlin 1955, 2 1956. 90 Vgl. meine Untersuchung: Die Anfänge der Kirchenbildung bei den Salzburgern in Georgia (Nordamerika) in: Lutherische Kirche in Bewegung Festschrift für Friedrich Ulmer zum 60. Geburtstag Erlangen 1937, S. 21-40. 91 Vgl. über ihn Bernhard Hans Zimmermann, Hans Ungnad Freiherr von Sonneck als Förderer reformatorischer Bestrebungen bei den Südslaven, Südostdeutsche Forschungen II (1937), S. 1-23.

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Kulturkunde überhaupt 92 . In Heinrich Milde 93 wuchs ihm ein junger Übersetzer zu, der fur die Übertragung der Bibel ins Russische, Tschechische und Polnische, sowie für die von Arndts Wahrem Christentum ins Russische das Entscheidende leistete. Durch den Obersten von Wreech wirkte er unter den deutschen Gefangenen des nordischen Krieges im sibirischen Tobolsk, darüber hinaus in den deutschen evangelisch-lutherischen Gemeinden Rußlands 94 . Auf allen Wegen, insbesondere durch reisende Adlige, Offiziere, Kaufleute und Gelehrte breitete er den hallischen Pietismus aus, der so bis nach Südeuropa, nach Skandinavien, nach Russisch-Innerasien 95 , nach England und nach Nordamerika ausstrahlte. Alles das geschah, obwohl planmäßig und bewußt, doch mit der Selbstverständlichkeit einer ursprünglichen Bewegung, die von dem Anspruch lebte, die Trägerin des echten Christentums in der Gegenwart zu sein. In einem umfassenden, sorgfältig gepflegten und geschickt organisierten Briefwechsel schlug sich dieses Wirken nieder, das in seinen Absichten und Ausmaßen an die großen Zeiten ökumenischen Handelns, die Reformation, und die persönlichen Vorbilder Luther, Melanchthon, Bucer, Bullinger und Calvin gemahnt 9 6 , aber auch den eigentlichen Wünschen Speners selbst genau entsprach, den man in vielem als den Mitschöpfer Halles ansehen muß 9 7 . Schon Heinrich Wilhelm Ludolf hatte ein ökumenisches Seminar in Halle gewünscht, das die deutschen Pietisten und die Erweckten der orthodoxen Kirche des Ostens zur Ausbildung für das Missionswerk zusammenführen sollte 98 . Wie ein urchristlicher Apostel hatte er von Gemeinde zu Gemeinde eilen wollen, um die Verbundenheit der Glieder am Leibe Christi durch seine Person zu schaffen und zu festigen. So dachten im Grunde alle Pietisten, und der Schweizer Hieronymus d'Annone (1697-1770) sprach es in seinem schlichten Liede aus: „Ein Christ besuchet oft und gerne die Gotteskinder

92 Vgl. zusammenfassend Eduard Winter, Halle als Ausgangspunkt der deutschen Rußlandkunde im 18. Jahrhundert Akademie-Verlag Berlin 1953. 93 Über Heinrich Milde vgl. Alfred Mietzschke, Heinrich Milde. Phil. Diss. Halle 1942 und Winter aaO (s. A. 92) Register. 94 Vgl. darüber Ernst Benz, August Hermann Francke und die deutschen evangelischen Gemeinden in Südrußland. Jahrb. Auslanddeutschtum und evangelische Kirche 5 (1936), S. 145 ff. 95 Vgl. Richard Kammel, August Hermann Franckes Tätigkeit fur die Diaspora des Ostens 1939 (Sonderdruck aus „Die evangelische Diaspora") auch: Ilmari Salomies, Der hallische Pietismus in Rußland zur Zeit Peters des Großen, 1935. 96 Vgl. Richard Kammel, A. H. Franckes Auslandsarbeit in Südosteuropa in: Jahrb. Auslanddeutschtum und evangelische Kirche 8 (1939), S. 121 ff. 97 Vgl. Paul Grünberg, Philipp Jakob Spener I 1893, S. 317-329 und August Schürmann, Z u r Geschichte der Buchhandlung des Waisenhauses und der Cansteinschen Bibelanstalt in Halle 1898, S. 85-89. 98 Reliquiae Ludolfianae: The Pious Remains of Mr. Hen. Will. Ludolf o.J. (ca. 1715), pp. 147 ff.

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nah und ferne. " " Elitebildung und Wanderapostolat wirkten so zusammen, u m die neue eine Kirche der wahren Christen ins Leben zu rufen. Vielleicht darf m a n hier - trotz der Verkirchlichung, die inzwischen eingetreten war an Jean de Labadie (1610-1674) erinnern, der in seinem eigenen Lebenswege - v o m französischen Jesuitismus über die hugenottische Kirche in Frankreich und Genf z u m niederländischen, v o m englischen Puritanismus durch die große Gestalt von William Ames (Guilelmus Amesius 1576-1631) mitgebildeten Präzisismus und von da z u m deutschen mystischen Spiritualismus in Herford, schließlich ins mennonitische Altona - die O i k u m e n e symbolisierte und praktizierte. Seine Gemeinde der Wiedergeborenen, die aus der Welt und aus Babel ausgeschieden war, w u ß t e sich als die eine evangelische Kirche, der das tausendjährige Reich Jesu Christi gehörte 1 0 0 . D e r kongregationalistische Theologe Nordamerikas, C o t t o n Mather (1663-1728), der Verfasser der ersten, bis heute wegweisenden Kirchengeschichte Nordamerikas, der Magnalia Christi Americana (1702), der mit August H e r m a n n Francke u n d Anton Wilhelm B ö h m e i m Briefwechsel stand, forderte im selben Sinne, daß Lutheraner und Calvinisten auf der Grundlage der echten Frömmigkeit zu einer Einigung gelangen sollten 1 0 1 . Es w a r nach alledem nur folgerichtig, daß Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf und Pottendorf (1700-1760) schon als Zögling im hallischen Waisenhause, w o er als jugendlicher Reichsgraf mit August H e r m a n n Francke am selben Tische essen durfte und alle Nachrichten über die Ausbreitung des Reiches Gottes aus erster Hand empfing, den Anstoß zu einer ökumenischen G r ü n d u n g erhielt. Er nannte den kleinen Verein, den er mit einigen Kameraden bildete, später „Senfkornorden" und drückte dadurch aus, daß er Jesu Verheißung von dem überwältigenden Wachstum des göttlichen Herrschaftsbereichs an seinem Teile wahrmachen sollte 102 . Während aber für Spener und Francke der Ansatzpunkt für ihr ö k u m e n i sches Handeln subjektiv in der Wiedergeburt des einzelnen Christen lag, fand ihn Zinzendorf, der Wiederentdecker Luthers, - wenn auch vielleicht ohne ausgesprochene Polemik gegen den klassischen Pietismus - objektiv im Kreuze Christi 1 0 3 , zu dem, wie erwähnt, die Sichtbarkeit der Kirche

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Vgl. Christoph Riggenbach, Hieronymus Annoni. Ein Abriß seines Lebens samt einer Auswahl seiner Lieder 1870. io» v g l . v o r a ] i e m Wilhelm Goeters, Die Vorbereitung des Pietismus in der reformierten Kirche der Niederlande bis zur labadistischen Krisis 1670. Leipzig 1911. 101 Cotton Mather, Diary (Massachusetts Historical Society Collections 7 th Series vol. VIII) 1912, vol. II, p. 663: Des. 7, 1721:1 entertain a Purpose, of writing in the Latin Tongue, a Discourse about the Union of Lutherans and Calvinists, on the Basis of PIETY; and of sending it unto the University of Hall in the Lower Saxony. Who can tell, what may be the Consequences? Assist me, and accept me, O my SAVIOUR! 102 Gerhard Reichel, Der „Senfkornorden" Zinzendorfs I 1914, bes. S. 137ff. 103 Heinz Motel, Zinzendorf als ökumenischer Theologe. Theol. Diss. Basel 1942.

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durch „verbundene Glieder" hinzutrat 104 . Das Augsburger Bekenntnis, auf das er sich immer wieder mit Nachdruck berief und dem er eine gehaltvolle, auch ins Englische übersetzte Erklärung widmete 1 0 5 , und das auf ihm gegründete Luthertum sah er als das ökumenische Bekenntnis schlechthin an. Dadurch wurde er der Vater des inklusiv - nicht exklusiv - gemeinten Luthertums, auch wenn er den hieraus folgenden Gedanken von der lutherischen Kirche als der einigenden Mitte der Konfessionen nicht mehr formulierte, sondern dies den lutherischen Theologen der Erweckungsbewegung Claus Harms, Ferdinand Guericke und vor allem Wilhelm Löhe überließ 106 . Er konnte wohl gelegentlich 107 sagen, es sei Pflicht der wahren Christen, aus jeder Kirche etwas zu lernen. So gelte es, aus der römischkatholischen die Armut des Geistes zu übernehmen - wobei er offenbar an das Mönchtum und die romanische Mystik mit ihrer Betonung der Demut, der humilitas, dachte - , weiterhin die Gleichstellung des Namens Gottes und des Namens Jesu, seinen eigenen Lieblingsgedanken in gemilderter Form, schließlich die tiefe Ehrerbietung gegen die sichtbare Kirche. Aus der reformierten Kirche empfahl er die Gnadenwahl als göttlichen Hoheitsakt, durch den das Erbe des Lammes berufen sei, während ihm an der lutherischen das allgemeine Erbarmen Gottes und der wahre Trost, der in den Sakramenten lag, wichtig war. Von den Quäkern wollte er die unbedingte Gewissensfreiheit als Achtung vor der Glaubensüberzeugung der anderen aufnehmen, von den Mennoniten die strenge Ethik als Nachfolge Jesu. In dem aus Gewissensernst nicht nur geduldeten, sondern geforderten freundlichen Nebeneinanderleben der verschiedenen Glaubensgemeinschaften, wie es in England seit dem Toleranzgesetz von 1689 Tatsache war, begrüßte er das Modell der künftigen allgemeinen Kirchenordnung und beurteilte es als Erfüllung der chiliastischen Erwartungen 1 0 8 . 104

S. o. Anm. 74. Ein und zwanzig Discurse über die Augspurgische Confession, gehalten vom 15. Dec. 1747. bis zum 3. Mart. 1748. denen Seminariis Theologicis Fratrum zum Besten aufgefaßt und bis zur nochmaligen Revision des Auctoris einstweilen mitgetheilet, o. O. u. J. engl. Twenty O n e Discourses or Dissertations upon the Augsburg Confession Which is also the Brethren's Confession of Faith . . . Translated from the High Dutch by F. Okeley B. A. London, W. Bowyer: 1753. Gegen Zinzendorfs Berufung auf die Augsburgische Konfession wandten sich vor allem: Johann Philipp Fresenius in der Vorrede zu anon. (Johann Georg Becherer, Nötige Prüfung der Zinzendorfischen Lehr-Art von der Heil. Dreyeinigkeit . . . Frankfurt/M., Joh. Benjamin Andrea 1748, (Bl. ) (4r) und Johann Georg Schütz, Herrnhuthianismus in dolo oder Augenscheinlicher Beweis aus XXI Zinzendorffischen Discursen über die Augspurg. Confession dass die Herrnhuther sich betrüglich für Augspurgische Confessions-Verwandte ausgeben. Hamburg R. Beneke 1752. Vgl. auch meine Studie Zinzendorf und die Confessio Augustana (1968), s. u. S. 284-317. 106 Vgl. Claus Harms, 95 Thesen zum Reformationsjubiläum 1817 Thesen 94. 95. 105

107 Περι εαυτου. Naturelle Reflexionen o.J. (1746/49) Beilage zu Stück III, S. 43 in einem Briefe, den er am 17./18. Mai 1742 aus Philadelphia (Pennsylvanien) ausgehen ließ. 108 Ein und zwanzig Discurse . . . (s. ο. Α. 105), S. 200f.: Die Hütte GOttes bey den Menschen, die hernieder kommen wird an den Ort, den ihr der heilige Geist bestimmt hat,

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Es ging ihm um das Praktische, Persönliche, um die Beachtung und Ernstnahme der konkreten, geschichtlich differenzierten Situation jedes Christen. Er erblickte in den Konfessionen der Christenheit „Tropen" (tropoi paideias), Erziehungsformen, in denen Gott das geistliche Leben bewahrte. Er war darum überzeugt, daß sie als Zeichen der göttlichen Geduld bis zur Heimkehr der Kinder Gottes in die Einheit bestehen bleiben würden. So wollte er sie ausdrücklich aufrechterhalten und lehnte den „latitudinarischen Mischmasch", der oberflächlich und rücksichtslos alles in einen Topf warf, entschieden ab 109 . Damit ist schon ausgesprochen, daß seine ökumenische Haltung und Verpflichtung ihren Ausdruck stärker im Handeln als im Denken finden mußte. Ähnlich wie August Hermann Francke, von dem er herkam, hat er eine Seminargründung als Lieblingsgedanken gepflegt und immer wieder versucht, von den kleinen Anfängen in der Jenenser Studentengemeinde bis zu dem großen Plan einer ökumenischen, substantiell christlich bestimmten „Akademie der Wissenschaften" in Marienborn in Hessen mit dem inneren Mittelpunkt des Bibelstudiums 110 , eine Nachblüte der christlichen Pansophie Johann Valentin Andreäs und Jan Amos Komensky's (Comenius) und der Idee nach der „heiligen Philosophie" (philosophia sacra) Friedrich Christoph Oetingers urverwandt. Den ökumenischen Charakter seiner Erziehungs- und Bildungsanstalt hat er mit größter Klarheit und mit glühendem Eifer am dänischen Hofe 1731 vorgetragen, wo er in dem König Christian VI. den geeigneten Förderer gefunden zu haben meinte: „Da brach ich los und offerirte dem Könige, Ich wolte Ihm eine Universität anlegen, welche die ganze Welt mit Evangelio erfüllen könte." 1 1 1 . Die hochfliegenden Pläne zerschlugen sich sämtlich. Übrig blieb das und den wir auch nicht wissen, wird ein verborgenes, ein Friedens-Haus seyn; Er wird in Silentio & Pleura wiederkommen. Wie Er aber seine Leute von allen vier Winden der Erden wieder zusammen bringen, und die Diasporam, die zerstreuete Kinder GOttes versammlen wird; das weiss Er, dazu wird Er uns nicht brauchen, am allerwenigsten wird Er dazu eine Armee nöthig haben, noch einen einzigen Potentaten deswegen vom Throne stossen, noch ein einziges Königreich der Welt deswegen in eine andere Verfassung setzen. Aber das ist wahr dem Satan wird zu der Zeit nicht erlaubt seyn, das Reich des Heilands zu verachten, noch weniger zu zerstöhren, und den (S. 201) Lauff des Evangelii unter den Nationen zu hemmen; sondern es wird eine gewisse General-Inclination seyn fürs geistliche Reich Christi. Die Principia, die z. E. in England Grund-Principia sind für die Toleranz der Menschen, um sie nach ihrem Gewissen handeln zu lassen, da man gleich alle Untersuchung abschneidet, so bald man weiss, dass die Leute etwas denken conscientiously, und so persuadirt sind, denn da hört gleich alles Judicium darüber auf: diese Verfassung und Ideen werden zur Zeit des tausendjährigen Reichs allgemein seyn; der Teuffei wird nichts zu befehlen, noch drein zu reden haben; der Gott dieser Welt wird zu der Zeit, wie es heisst, gebunden, und ein Charme oder Siegel auf ihm seyn. U n d so werden die Menschen menschlich regieren, sie werden raisonnabeln menschlichen und nicht den satanischen Einflüssen folgen." 109 110 111

Ebda. Stück XII, S. 306. Hierzu Uttendörfer aaO (s. A. 73). Ebda. X (1916), S. 56.

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bescheidene theologische Seminar der Brüdergemeine, das zuerst in der Nähe Büdingens in Oberhessen seinen Platz hatte, dann aber infolge der Schwärmerei, die die „Sichtungszeit" hervorgebracht hatte, strafweise nach Barby an der Elbe verlegt wurde, wo Schleiermacher sein größter Student wurde. Zinzendorf hat in seiner einfallsreichen Aktivität sein ökumenisches Wirken aber nicht auf die Gründung von Herrnhut, Marienborn und Herrnhag und allen sonstigen Siedlungen in Deutschland, Herrendyk und Zeist in den Niederlanden, Fulneck und London in England, Bethlehem in Pennsylvanien, Christiansfeld in Dänemark, Montmirail am Neuenburger See an der Sprachgrenze zwischen der deutschen und französischen Schweiz, Wolmarshof im Baltikum sowie auf unsicher bleibende Anfänge hie und da sonst beschränkt, sondern darüber hinaus unmittelbar zu fremden Kirchen Beziehungen hergestellt 1 1 2 . Von 1719 bis 1728 stand er in persönlicher und brieflicher Verbindung mit dem jansenistenfreundlichen Kardinal Erzbischof Louis Antoine de Noailles (1651-1729) in Paris und versuchte, dem echten evangelischen Glauben durch Arndts Wahres Christentum und durch die geistlichen Lieder Johann Schefflers (Angelus Silesius), Boden zu schaffen, wofür er französische Übersetzungen herstellen ließ. Dieses Beginnen führte zu keinem Erfolg, ebensowenig wie sein anderes Unternehmen, im quäkerischen Pennsylvanien, dem Zufluchtsort der überall in Deutschland mißliebigen mystischen Spiritualisten, der „radikalen Pietisten", durch seine persönliche Autorität die verschiedenen Kirchen und Gruppen, namentlich auch die Reformierten unter dem Verwaltungsbeamten Heinrich Anthes, um ein herrnhutisch verstandenes Luthertum zu einigen. Hier unterlag der Graf nach harten Kämpfen, die bis zu Streitigkeiten u m Kirchenschlüssel und Abendmahlsgeräte fortschritten, dem weit schlichteren, aber wirklichkeitsnäheren Heinrich Melchior Mühlenberg (1711-1787), dem Patriarchen der evangelisch-lutherischen Kirche Nordamerikas 1 1 3 . Ein letzter groß gedachter, aber wenig wirksamer Versuch ökumenischer Gestaltung war das Londoner Gesangbuch von 1753, dem das Liturgienbüchlein von 1755 und das Litaneienbüchlein von 1757 folgten. Hier wollte er den in territorialer Beschränktheit verharrenden Christen die heilige Harmonie aller Zeiten und Zonen in der „Anbetung des L a m m e s " zeigen. Die ökumenische Tätigkeit war für den Grafen selbstverständlich, schuf freilich auch durch seinen leichten, von seinen Gegnern als leichtfertig empfundenen U m g a n g mit Kirchengrenzen und Kirchenkörpern eine Fülle Fritz Blanke a a O (s. A. 74). Für Heinrich Melchior Mühlenberg fehlt bisher eine überzeugende Biographie. Einblick in die häßlichen K ä m p f e gewähren handschriftliche Berichte im Archiv der Franckischen Stiftungen in Halle, die ich seit 1939 wiederholt benutzte. Vgl. jetzt Kurt Aland, Ecclesia Plantanda. Die ersten brieflichen Dokumente zur Wirksamkeit H. M . Mühlenbergs in den Vereinigten Staaten. In: Der Pietismus in Gestalten und Wirkungen. (AGP 14) 1975, S. 9-49. 112 113

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von Konflikten, so daß sich einer seiner grimmigsten Gegner, der Senior des Straßburger Kirchenkonvents Johann Leonhard Fröreisen (1694—1760) zu dem Urteil verstieg, es handle sich bei ihm um einen Affen M o h a m meds, der j a auch die bestehenden Religionen geplündert habe 1 1 4 . Christentum ohne ökumenische Weite und weltumspannendes Einigkeitsbemühen wäre Zinzendorf als eine Unmöglichkeit erschienen. Darum führte er wie Spener, auf den er sich gern berief, und wie Francke einen umfassenden Briefwechsel, reiste viel öfter und weiter als jene und rief, wo immer es ihm günstig schien und die Wege geebnet wurden, brüderische Siedlungen ins Leben. Daß er dabei nicht immer einwandfrei und klug verfuhr, ändert nichts an dem großen Tatbestand seines ökumenischen Verpflichtungsbewußtseins. Infolgedessen sind die ökumenischen Wirkungen, die von seinen Niederlassungen ausgingen, bedeutungsvoll und folgenreich gewesen. Das größte Beispiel bieten die Anfänge der methodistischen Bewegung, die Wesentliches dem Zusammentreffen der Brüder John und Charles Wesley mit August Gottlieb Spangenberg und Peter Böhler, aber auch David Nitschmann, dem Bischof in Georgia (Nordamerika) und England, später den Gesprächen John Wesleys mit Christian David in Herrnhut dankten. Er fand in Herrnhut, das damals ohne den Grafen sein Leben führte, im Sommer 1738 das, wonach er suchte, die verwirklichte U r g e meinde. Bedeutungsvoll war es, daß er sich keineswegs unbesonnen und rückhaltlos den Brüdern anvertraute, vielmehr in den Sendboten des hallischen Pietismus, den jungen Pfarrern der Salzburger Emigranten in Georgia und in den Liedern des Freylinghausenschen Gesangbuchs ein v o m hallischen Pietismus bestimmtes Korrektiv dazu erhielt. Bei einer letzten eigenartigen und eigenwilligen Persönlichkeit, Gerhard Tersteegen (1697-1769) in Mülheim an der Ruhr, läßt sich das Widerspiel zwischen mystisch-spiritualistischem Individualismus, Einheitsbewußtsein der lebendigen Kinder Gottes und Gleichgültigkeit gegen institutionelle Formen der Kirche eindrucksvoll beobachten. Er war durch Wilhelm Hoffmann, einen Schüler Pierre Poirets, der von dem mystischen Spiritualisten Ernst Christoph Hochmann von Hochenau mindestens flüchtig berührt war 1 1 5 , erweckt worden und hatte so das geistige Klima des kirchlichen Indifferentismus als Lebensbedingung gehabt. Dieser T o n klingt nach, wenn er schreibt: „Ich glaube und bin darin gewiß, daß sowohl in der Partei der Römisch-Katholischen als unter den Lutheranern, Reformierten, Mennoniten usw. und bei allen den besonderen Meinungen und Gebräuchen dieser Parteien die Seelen nicht weniger als unter den Separatisten zu dem höchsten Gipfel der Heiligkeit und Vereinigung mit Gott gelangen können." Für sich selbst betont er freilich, daß er „keiner 1 , 4 Johann Leonhard Fröreisen, Vergleichung des Grafen Zinzendorfs mit dem Mahomet . . . Frankfurt/Main und Leipzig 1748, bes. S. 8 (I. Schrift: Abschilderung des Mahomets und des Zintzendorfs als seines heutigen Affens) S. 13 f. 1 1 5 Vgl. Heinz Renkewitz, Hochmann von Hochenau Breslau 1935, S. 211 ff.

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Partei sektiererische weise zugetan" sei, aber sich ebensowenig von einer gelöst habe. Er will jeder Sonderkirche „das ganze Gebäude ihrer Kirchenverfassung und Meinungen" - wie er bezeichnend in grundsätzlicher Verachtung von Lehre und Ordnung und in gesteigerter Geringschätzung der ersteren die Reihenfolge gestaltet - unangetastet stehen lassen, „so lange es Gott stehen läßt" 116 . Aber obwohl aus seiner Ausdrucksweise, daß es ihm gleich gelte, ob einer dieses oder jenes „Religionsröcklein anhabe" 117 , eine starke Entwertung der historischen Kirchen spricht, hat er sich weder des Schimpfwortes „Babel" bedient, noch an eine Gegengründung gedacht, wofür Hochmann von Hochenau mit seiner „Friedensburg" in Schwarzenau bei Berleburg 1700-1703/4 das erste Beispiel gegeben hatte 118 . Darum hat sich Tersteegen auch dem Liebeswerben der herrnhutischen Brüdergemeine verschlossen und ein entschiedenes Nein zu dem Grafen gesprochen. Ihm genügte es, Seelen für den Heiland zu gewinnen, ohne sie planmäßig zu sammeln. Er bedurfte der massiven Polemik gegen die Institution nicht und überantwortete die Kirche des Geistes ganz der ungreifbaren Sphäre persönlicher Begegnungen. Es ist ein reiches, bisweilen schillerndes Bild, das mystischer Spiritualismus und Pietismus in ihrem ökumenischen Denken, Wollen und Gestalten bieten. Aber einheitlich bleibt die tiefe urchristliche Leidenschaft zur vorgegebenen und aufgegebenen Einheit der Kirche 119 , die als Einheit der wahren Christen, als ihre Einheit im Ursprung und im Ziel, der Vollkommenheit, aufgefaßt ist. Gegen die reformatorische Grundlegung von der Einheit im Wort steht hier die Einheit in den Gliedern am Haupte Christus, gegen die Institutionen steht die persönliche Ergriffenheit, die man heute gern als Engagement bezeichnet, gegen das schlichte Hören auf die Botschaft und das Vertrauen darauf, daß sie sich durchsetzt, steht der Austausch der einzelnen untereinander, gegen die Lehre steht das Leben selbst in seiner ganzen Kraft. Es ist in allem ausgesprochen neuzeitlich empfunden. So war abzusehen, daß dieser Art von Einheitsbewußtsein die Zu-

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Tersteegens Gesammelte Schriften o.J. Bd. 8, S. 173f. Ebda. Man halte dagegen, was der mystische Spiritualist Viktor Christoph Tuchtfeld in seinem Glaubensbekenntnis im Gefängnis zu Clausthal am 17. Juli 1724 geschrieben hatte: „Ich bekenne mich zu der allein-seeligmachenden Christlichen Religion, wie solche Christus in denen Propheten Alten Testaments vorher verkündiget, und in der Evangelisten und Apostel Worte klar geoffenbahret . . . Was aber die Sectirische Nahmen Cephisch, (S. 26) Lutherisch, Calvinisch, Papistisch und derer so genandte Sectirische Glaubens-Articul betrifft, dadurch die gantze Christenheit in lauter Hass, Neid und Feindschafft zertheilet und zertrennet wird, mache mich derselben nicht theilhafftig, weil Christus durch seinen Tod solche Scheide-Wände und Zäune in mir gäntzlich zerbrochen. Eph. II, 14—20." Victor Christoph Tuchtfeldt, Der von Christo zubereitete Neue lebendige Weg 1724, S. 25 f. 117

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Vgl. Renkewitz aaO (s. A. 36, 45,115) S. 91 ff., 183ff. Vgl. dazu das Schlußzitat aus Eph. 2,14-20 in dem A. 117 mitgeteilten Glaubensbekenntnis Tuchtfelds. 119

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kunft gehörte, nicht zuletzt deshalb, weil sie, der Verwurzelung im gläubigen Individualismus entsprechend, dem Gestaltungswillen und der Gestaltungskraft so viel Spielraum gewährte und dabei die Spontaneität des Lebens zu ihrem Recht kommen ließ.

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Das pietistische Pfarrerideal und seine altkirchlichen Wurzeln Die Beschäftigung mit dem Frühchristentum gewährt nicht nur den hohen, für den Historiker unwiderstehlichen Reiz, die Anfänge späterer Entwicklungen, die zu festen Ergebnissen und meist institutionellen Größen geführt haben, zu ergründen. Sie empfängt darüber hinaus ein einmaliges sachliches Gewicht, weil in der Gesamtgeschichte des Christentums ein vorherrschender Zug das Bestreben ist, das Urchristentum in seiner inneren Energie wiederzugewinnen - häufig auf dem gesetzlichen Wege, indem man versucht, die äußeren Bedingungen und Lebensformen wiederaufzunehmen. Damit erhält die erste geschichtliche Phase - über das eigentliche Neue Testament hinaus ausgedehnt - kanonischen Rang. Im Grunde hat sie ihn nie verloren 1 - höchstens konnte ihn etwa die Lutherrenaissance unseres Jahrhunderts etwas verdunkeln. Es war darum folgerichtig, daß der Gelehrte, dem dieses Buch gewidmet ist, in seinem letzten großen Werk die Entstehungsgeschichte des christlichen Kanons im ideellen Sinne behandelte. Wir danken ihm nicht nur hier, sondern in allen seinen Monographien ein unerhört reiches Bild der entgegenstehenden und sich verbindenden Tendenzen, der verwirklichten und abgeschnittenen Möglichkeiten, der siegreichen und abgebrochenen Linien und der zugehörigen Begründungen. Das Frühchristentum als eine durch und durch bewegte Welt, angestoßen von der schlechthin überragenden Autorität Jesu selbst das ist der Eindruck, den seine Forschungen vermittelt haben. Unter den späteren großen und selbständigen Gestaltungen hat sich der Pietismus dem Urchristentum in einer ursprünglichen Weise verbunden und verpflichtet gefühlt. Auf verschiedenen Wegen ist von ihm versucht 1

Vgl. zuletzt den Sammelband „Tradition im Luthertum und Anglikanismus" = Oecumenica Jb. f. ökumenische Forschung 1971/72 hrsg. v. Günther Gaßmann und Vilmos Vajta, einschließlich des römisch-katholischen Beitrags von Maurice Nédoncelle ebd. S. 156-174: Le développement de la doctrine chrétienne: J. Β. Mozley, critique anglican de Newman. Innerhalb des englischsprechenden Bereichs ist es bemerkenswert, daß selbst die sozinianisch inspirierte theologisch liberale Kritik an der orthodox-anglikanischen Überlieferung im Geiste der Aufklärung sich das klassische Schlagwort, das ζ. B. auch fur John Wesley als Spitzname verwandt wurde, „Primitive Christianity" aneignete: William Whiston, Primitive Christianity revived 5 Bde. 1711/12. Zu John Wesleys Spitznamen: The Letters of John Wesley. Standard Edition by John Telford 1931 I, p. 50 nach Lady Lianover, The Autobiography and Correspondence of Mrs. Delany (vorher Mrs. Pendarves née Mary Granville) o.J. I, p. 250. Der Brief, den Mrs. Delany-Pendarves née Granville an ihre Schwester schrieb, war vom 4. April 1730 und der Satz lautet: „I honour Primitive Christianity, and desire, you will let him know as much when next you see him." Im orthodox-anatolischen und römisch-katholischen Christentum zeigt sich die Autorität des Frühchristentums vor allem darin, daß alle späteren Erscheinungen keimhaft auf die Anfangsphase zurückgeführt werden, so daß es im Prinzip keinen Bruch, keinen Neuansatz, aber auch keine Epigenesis gibt, vielmehr streng organisch-evolutionistisch gedacht wird.

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worden, solcher Verpflichtung Ausdruck zu verleihen - nicht zuletzt in einer intensiven Beschäftigung mit den Quellen, nicht in antiquarischer, theoretischer Absicht, sondern mit dem Ziel praktischer Gestaltung. Das gilt neben anderem vor allem vom Pfarrerideal 2 . Philipp Jakob Spener hatte seine Programmschrift „Pia Desideria" (1675) den Pfarrern gewidmet und trotz aller Wertschätzung des geistlichen Priestertums, das sämtlichen Christen galt, die entscheidende Besserung der kirchlichen Verhältnisse von ihnen erwartet 3 . In entschiedener Abgrenzung, soweit der Inhalt in Frage stand, aber in prinzipieller Fortsetzung der vernichtenden Kritik am Pfarrerstande, die der mystische Spiritualismus, vor allem in Christian Hoburg geübt hatte 4 , hatte er ihnen die Verantwortung fur Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft auferlegt. Er hütete sich peinlich vor dem donatistischen Mißverständnis - vielleicht deshalb so betont, weil er ihm bei seinem Ansatz kaum entgehen konnte 5 . Auf alle Fälle hegte er eine hochgespannte Vorstellung vom Diener des Wortes, der durch sein gesamtes Verhalten das bekräftigte, was er verkündigte. Er sollte ein wiedergeborenes Kind Gottes sein 6 , das in seinem 2 Es greift über die Möglichkeiten dieses Aufsatzes hinaus, schon fur den Pietismus vollständig zu sein. Sowohl die Mónita pastoralia Franckes, als auch seine Lectiones paraeneticae, die 1970 gründlich von Friedrich de Boor in einer bisher ungedruckten hallischen Habilitationsschrift untersucht worden sind, und das von ihm besonders geliebte Büchlein „Nicodemus oder Tractätlein von der Menschen-Furcht" (1701), das er „denen verordneten Kirchen- und Schul-Lehrern in Teutsch-Land" widmete, und seine handschriftlichen Instruct i o n s an die Missionarios wären hier genauer zu würdigen, schließlich die entsprechenden Äußerungen Zinzendorfs, vor allem „Jeremias, ein Prediger der Gerechtigkeit" 1740 und die Theologischen Bedenken 1741. Wesentlich wäre der Vergleich mit der orthodox-lutherischen, reformatorischen und mystisch-spiritualistischen Konzeption, wie sie vor allem Joachim Betkes Büchlein Sacerdotium 1640 und Christian Hoburgs (Pseudonym: Elias Praetorius) „Spiegel der Misbräuche beim Predig-Ampt im heutigen Christenthumb" (1644) und „Ministerii Lutherani Purgado: Das ist Lutherischer Pfaffenputzer" 1648 zum Ausdruck brachten. Zu Betke vgl. Margarete Bornemann, Der mystische Spiritualist Joachim Betke und seine Theologie, Diss. Kirchl. Hochschule Berlin-Zehlendorf 1959, S. 36-44, 96-107. Unter den orthodox-lutherischen ragt Johann Ludwig Hartmann, Speners Schwager, mit seinem Pastorale Evangelium seu instruction plenior ministrorum verbi 1678 hervor, das in der vierten Auflage (1722) Johann Daniel Herrnschmid herausgab und mit Anmerkungen aus den Schriften Speners, Seckendorfs, Brunnemanns, Strycks und Böhmers ausstattete. 3 Philipp Jakob Spener, Pia Desideria 1675, hrsg. v. K. Aland S. 18,12: „Wie dann mir kein zweiffei ist / daß wir bald eine gantz andere kirche haben würden / wo wir lehrer derselben grösten theils die jenige wären / daß wir mit Paulo ohnerröthet unsern gemeinden zuruffen dörfften: l . C o r . 11 v. 1 Seyd meine nachfolger / gleich wie ich Christi"; vgl. a. 15,20; 16,11; 67,5; 67,18: „Solle man aber dergleichen tüchtige Personen zu dem Kirchendienst beruffen / so muß man auch solche haben / und daher in den Schulen und auff Universitäten erziehen." 4 Christian Hoburg zählt in seiner Schrift Ministerii Lutherani Purgatio: Das ist Lutherischer Pfaffenputzer (veröffentlicht unter dem Pseudonym Elias Praetorius 1648, S. 58-87), einhundert Entartungen der Pfarrer auf. 5 Spener, Pia Desideria: 17,32; 32,29. Ein Gegenbeispiel bietet John Wyclif, der trotz seinem engen Anschluß an Augustin durch seinen Kampf gegen das verdorbene Priestertum insbesondere der Bettelorden und gegen die Simonie dem Donatismus verfiel. 6 Spener, Pia Desideria 18,1; 17,13.

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inneren Leben völlig seinem Vater zugewandt war 7 . Nach außen sollte er Liebe ausstrahlen 8 . In seiner Predigt sollte er die apostolische Einfalt bewähren, auf Ausstellung von Gelehrsamkeit und auf rechthaberische Streitsucht verzichten 9 . Luther 10 und vor allem die Mystiker, auf die ja der Reformator selbst hingewiesen hatte, gaben hier die besten Vorbilder 11 . „Geistreiche", das heißt, aus dem Geiste Gottes stammende Kraft und höchste Einfalt sollten wie im Urchristentum zusammengehen 12 . Der Pfarrer sollte in seiner gelebten „Gottseligkeit" als Musterchrist der Gemeinde voranleuchten und vorangehen, sollte, paulinisch und mystisch gesprochen, „inwendiger Mensch" werden 13 , der Welt absterben 14 , den lebendigen Glauben üben und sichtbar machen 15 . Da alle diese Forderungen nicht auf einmal zu erfüllen waren, sollte durch eine überlegte Erziehung auf der Universität in diese Richtung gezielt werden 1 6 . Frühchristliche Zeugnisse von den Apostolischen Vätern bis zu Gregor von Nazianz 17 belegten das gezeichnete Leitbild in reichem Maße, dessen Hauptzüge in der Wiedergeburt, in der Liebe, in der Vereinigung von Einfalt und Vollmacht, von Verkündigung und persönlicher Lebensführung mit starken sozialethischen Akzenten bestanden. Der Nachdruck lag eindeutig auf der subjektiven Ausgestaltung des Amtes durch den Amtsträger 18 . Jedoch zog Spener die objektive Einsetzung nie in Zweifel und konnte sie gelegentlich, etwa in seiner Auslegung des Apostolats in den paulinischen Briefen, sogar betonen 19 . Sie bildete für ihn den gegebenen, wenngleich vielleicht nicht mehr selbstverständlichen Ausgangspunkt. Über dem Ganzen stand die ernste Erinnerung an das göttliche Gericht 20 . Auf der gekennzeichneten Linie hielt sich sein Amts Verständnis zeitlebens. Er widmete ihm keine 7

AaO 18,1; 71,16. AaO 18,1; 28,9. 9 AaO 26,23; 27,2; 74,5; 84,36. 10 A a O 22,30. 11 A a O 74,10. 12 AaO 22,30; vgl. a. 79,18: „einfältig, aber gewaltig". 13 A a O 16,27 vgl. mit 79,34. 14 AaO 71,17; 76,29. 15 A a O 8,5: 17,21; 18,12 (s. o . A . 3). 16 AaO 67,18-78,26. 17 AaO 49,28 Ignatios ad Eph. 14,2; 50,19 Tatianus, Oratio ad Graecos XXXIII,2; 50,16 Justinus Martyr, Apol. sec. II; 51,7 ders., Apol. XVI,8; 50,30 Orígenes Contra Celsum 111,51; 49,12 Tertullian, Ad Nationes 1,4; 50,9 ders. Ad Scap. 4; 76,29 Augustin, De doctr. christ. 2,11; 68,18 Gregor von Nazianz über Basilius carm. 119. 18 Vgl. Paul Grünberg, Spener als praktischer Theologe und Reformer (= Philipp Jakob Spener II) 1905, S. 22. 19 Philipp Jakob Spener, Erklärung der Epistel an die Galater 1697, S. 5-8 zu „Apostel". Er führte die Berufung nach Rom. 1,4 l.Kor. 15,14 auf die Auferstehung Jesu zurück, ebenso nach l.Petr. 1,3 (und 3,21) die Frucht des Predigtamts, die Wiedergeburt (Spener, aaO S. 12). 20 Spener, Pia Desideria 7,27 ähnlich bei August Hermann Francke, Idea studiosi theologiae lat. 1723, p. 23 (Paraenesis ad studiosos theologiae) deutsch i.d. Ausg.: A. H. Franckes Pädagogische Schriften hrsg. v. G(ustav) Kramer 2 1885, S. 387. 8

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besonderen Schriften, sondern erteilte nur auf Verlangen konkrete Ratschläge für die Amtsführung 2 1 . Betritt man einen anderen Boden, wenn man sich zu August Hermann Francke wendet? Offenbar nicht. Sein Übergang zum Pietismus nach der schweren Erfahrung seiner Lüneburger Bekehrung (1687), in der er von der radikalen Skepsis aus dem Atheismus ins Auge gesehen hatte 22 , begründete Spener gegenüber, zu dem er sich alsbald für mehrere Wochen begab, nicht eigentlich ein Schülerverhältnis. Die neue Beziehung war vielmehr der Anschluß eines zwar jungen, aber selbständigen Mannes an einen älteren auf Grund unabhängig gewonnener Überzeugung. U m so schwerer wiegt die Übereinstimmung. Doch sind gewisse Abweichungen unverkennbar. Francke hat in mehreren Schriften seiner Auffassung vom Pfarramt Ausdruck gegeben: zuerst in dem von ihm besonders geliebten und gepflegten Traktat „Nikodemus oder von der Menschenfurcht" (1701)23, sodann in der Idea studiosi theologiae (1712), weiter in den Mónita pastoralia (1718) und zuletzt in den Lectiones paraeneticae (1726)24. Man 21 Sie sind zu einem großen Teil in seinen Theologischen Bedenken und Consilia theologica latina enthalten. Darüber hinaus gab er Anweisungen für die Pfarramtsfuhrung in der Widmung seines Buches „Natur und Gnade" 1687 an die Superintendenten, Adjunkten, Pfarrherrn und Diakonen der evangelisch-lutherischen Kirche in Sachsen vom 2. April 1687 nach Antritt seines Amtes als Oberhofprediger in Dresden. 22 Der Bericht zuerst (unvollständig) gedruckt bei Johann Jakob Moser, Altes und Neues aus dem Reich Gottes und der übrigen guten und bösen Geister III 1733, S. 56-69, dann vollständig bei G(ustav) Kramer, Beiträge zur Geschichte August Hermann Franckes 1861, S. 28-79, sowie bei demselben in August Hermann Francke I 1880, S. 5-36. Dann wieder gekürzt bei Werner Mahrholz, Der deutsche Pietismus. Eine Auswahl von Zeugnissen, Urkunden und Bekenntnissen aus dem 17., 18. und 19. Jahrhundert 1921, S. 107-118, und bei Martin Schmidt und Wilhelm Jannasch, Das Zeitalter des Pietismus (Klassiker des Protestantismus VI) 1965, S. 68-82, mit einem bisher unbekannten handschriftlichen Urteil Franckes darüber aus seinem Todesjahr 1727. Zu beachten ist die Zweckbestimmung (im Briefe an Spener vom 15. März 1692, bei Kramer, Beiträge (s.o.) 1861, S. 219: „Wegen des jüngst uns zugesandten Briefes eines mit dem Atheismo luctirenden Menschen sende hiebey den Anfang und Fortgang meiner Bekehrung, weil die Exempel mehr zu moviren pflegen und gewiß eben desgleichen in meinem Gemüthe vorgegangen. Könte solchem, so es rathsam befunden wird, quamquam nomine meo plane suppresso, communicirt werden. Es k o m m t alles darauf an, daß die Vernunfft sich dem Glauben unterwerffe und der Mensch nicht den Ruhm behalte, daß er es selbst erlauffen habe, sondern Gott sich über alles erbarme", vgl. auch Kurt Aland, Bemerkungen zu August Hermann Francke und seinem Bekehrungserlebnis. Kirchengeschichtliche Entwürfe 1960, S. 543-567 (Vergleich mit Augustins Bekehrung, um die echten Gesetzmäßigkeiten herauszustellen und die Zuordnung zur Mystik durch Ritsehl, Erich Seeberg und (den nicht genannten) Fritz Blanke abzuweisen). 23 August Hermann Francke, Segensvolle Fußstapfen des noch lebenden und waltenden liebreichen und getreuen GOttes zur Beschämung des Unglaubens und Stärckung des Glaubens entdecket durch eine wahrhaffte und umständliche Nachricht von dem WäysenHause und übrigen Anstalten zu Glaucha vor Halle 3 1709. I. Forts. S. 71 f., II. Forts. S. 26. 24 Diese Schriften bildeten in Franckes Sinne eine Einheit, vgl. den Untertitel zu den Mónita pastoralia theologica „als eine weitere Fortsetzung der Ideae Studiosi Theologiae im Druck mitgetheilet" und Vorr. B1 ) (4V. Ich benutzte die folgenden Ausgaben: Nicodemus 3 1707 und 5 1729 (die erste Auflage ist nicht mehr vorhanden) Idea studiosi theologiae deutsch 1712 und

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kann die drei letztgenannten als A u s f ü h r u n g dessen verstehen, was Spener empfohlen hatte: Da man jetzt keine geeigneten, wiedergeborenen Pfarrer besitzt, m u ß m a n sie durch Erziehung hervorbringen 2 5 . Darin lag ein Widerspruch z u m pietistischen U r d a t u m der Wiedergeburt, sowohl prinzipiell als auch zu der besonderen Zuspitzung, die ihr der Führer des Pietismus gegeben hatte: Sie war ein Wunder, ein geheimnisvolles Widerfahrnis in der Seele, das eine Gestaltung nach außen zur Folge hatte - nicht anders als die natürliche Empfängnis und Geburt 2 6 . Derartiges konnte nicht Gegenstand eines erzieherischen Handelns sein, es m u ß t e abgewertet und in seiner Wirklichkeit anerkannt werden. Es zeigt sich hier die Grundeigentümlichkeit des Pietismus, daß er von der Sachwelt und der Bildersprache der Mystik ausging und sie in Ethik umsetzte. In der Tat scheint bei Francke die ethische Orientierung, dazu eine realistische Tendenz auf das Methodische, Technische und Alltägliche vorzuherrschen u n d die ursprüngliche Voraussetzung, die Wiedergeburt als Urausstattung des Theologen, zurückzutreten. Seine vier praktischtheologischen Bücher enthalten zu einem guten Teile Anweisungen, die bis zur Aufzählung der Institutionen und Lehrveranstaltungen gehen, die Halle d e m Studenten anzubieten hat 2 7 . Das entspricht genau seiner Rolle im Pietismus, die bei aller theologischen Fundierung i m Praktisch-Organisatorischen ihren Schwerpunkt besitzt. Immerhin fehlt die Wiedergeburt in den genannten Schriften keineswegs. Der Traktat „ N i k o d e m u s " beginnt geradezu mit ihr: Menschenfurcht, so stellt Francke fest, ist das Zeichen der Unwiedergeborenen 2 8 . Sofort fügt er freilich hinzu, daß sie auch den Wiedergeborenen noch anklebe, wie er sich in Anlehnung an den auch sonst wiederholten Gedankengang des 12. Kapitels im Hebräerbrief ausdrückt 2 9 . Immerhin besteht der vielsagende Unterschied: dort ist sie „herrschende Sünde", hier nur „anklebender Fehler". Dadurch wird die Wiedergeburt als die große Wasserscheide im Leben des Christen bestätigt 3 0 .

Abdruck in Ausgust Hermann Franckes Pädagogischen Schriften hrsg. von Gustav Kramer 2 1885, S. 369-435 (leider leicht gekürzt; der Anhang und die Anmerkungen nur im Auszug wiedergegeben) lat. 1723. Die lateinische Ausgabe enthält pp. 31-44 wichtige Anmerkungen, welche in der deutschen fehlen, vgl. Praefatio nova 1723, p. )( 2V. Die Mónita pastoralia theologica lagen mir deutsch 2 1729, lat. 1723 vor, die Lectiones paraeneticae 1726. 25 Spener, Pia Desideria 67,19; vgl. zu diesem Thema Bill Widén, Bekehrung und Erziehung bei August Hermann Francke, Abo 1967, bes. S. 7-13. 26 Spener, Der hochwichtige Articul von der Wiedergeburt in Sechsundsechzig Wochenpredigten (1695) 2 1715, S. 7. 27 Francke, Idea . . . (s. Α. 24) Appendix der lat. Ausg. 1723 pp. 129-204. 28 Francke, Nicodemus oder Tractätlein von der Mensch-Furcht /Deren Beschreibung, Ursachen, Kennzeichen, Schaden, Bemäntelung, dagegen geordneten Mitteln, und wie zu einem freudigen Glauben zu gelangen, und derselbe weislich und nützlich zu gebrauchen, Zu Pflantzung der wahren Furcht GOttes / In allen Ständen heilsam / besonders aber dem LehrStande dediciret 5 1729, S. 2. 30 Dies gilt auch sonst für Francke, besonders in seinen Katechismuspredigten vgl. Martin

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Ebenso bestimmt die erste umfangreiche Erläuterung in der zweitgenannten Schrift, der „Idea Studiosi Theologiae" die Grundforderung, daß das Herz des Studenten der Theologie rechtschaffen sei vor Gott, näher dahin, daß sein Sinn durch die Wiedergeburt und Erneuerung, welche der Geist Gottes vollbringt (Tit. 3,5), in den rechten Stand versetzt worden ist 31 . Wer etwa die Bekehrung noch nicht erfahren hat, wenn er sein Studium beginnt, soll um nichts mehr besorgt sein, als sobald wie möglich zu ihr zu gelangen 32 . So bildet auch nach Francke die Wiedergeburt die Voraussetzung für die Führung des Pfarramts. Menschlicher Fleiß allein tuts nicht, auch nicht menschliche Gelehrsamkeit, so sehr er die Studenten dazu, zum Eifer und zum Erwerb von Kenntnissen, die über die Frömmigkeit hinausgehen, aufruft 3 3 . In gleicher Weise wie bei Spener hat die Aufmerksamkeit des jungen Theologen dem Wachstum seines inneren Menschen zu gelten. Er muß mit Jesus Christus so eins werden, daß dieser, sein Herr und sein Bruder, in ihm Gestalt gewinnt 3 4 . Hier werden die entsprechenden paulinischen Wendungen voll aufgenommen, wie überhaupt die biblische Verwurzelung sich stärker und reicher ausprägt als bei Spener 35 . Die Forderung der Einfalt, die ja eine mystische Vorgeschichte hatte, erscheint bei Francke mehr konventionell als „Demut" 3 6 , und ihre Verbindung mit der apostolischen Art ist weniger eng gefügt; sie besitzt offenbar einen Wert für sich selbst. Ja, obwohl er auch auf die ersten Christen als Vorbilder hinweist, knüpft er sofort eine Mahnung und eine Warnung daran: Man soll die Berichte von ihrem Leben und ihren Wundern am Neuen Testament als der gültigen Richtschnur prüfen. Denn nur dort ist die gesunde Lehre zu finden37. Man muß sich vor einer übertreibenden Schilderung hüten, die den Verdacht auf Unwahrheit erweckt, weil man das Mitgeteilte um seine anspornende Wirkung bringen und eher Verzweiflung wecken würde 3 8 . Hier sprach der Realist. Die Empfehlung der Mystiker beschränkte FranSchmidt, Α. H. Franckes Katechismuspredigten. In: Wiedergeburt und neuer Mensch. (AGP 2) 1969, S. 212-237. 31 Francke, Idea studiosi theol. (s. Α. 24) lat. 1723, p. 31 Anm. 1 (reicht bis p. 33). 32 A a O p. 33 Anm. 1 (reicht bis p. 35). 33 AaO p. 25 (deutsch Abdruck bei Kramer (s. A. 24) 2 1885, S. 388; ebd. lat. p. 75 § XXVII (deutsch Abdruck bei Kramer S. 405). 34 AaO lat. § IV p. 38f.; § VIII p. 45-47. Mónita pastoralia deutsch 2 1729, § 29 S. 45f. Es ist bemerkenswert, daß hier - stärker von Luther bestimmt - der Glaube ins Spiel gebracht wird. 35 Francke, Idea . . . (s. Α. 24) lat. § V p. 40 s. § XXVIII p. 79, p. 84. Hierher gehört auch die Betonung der symbolischen Bücher § XXVIII p. 84; Mónita past. lat. § LXIX p. 300 s. deutsch 2 1729, § 69 S. 116f. 36 Francke, Mónita pastoralia lat. § IX p. 231 s. deutsch 2 1729 § 9, S. 11-13; Idea stud, lat § IV p. 37s.; § III p. 36 Anm. 1. 37 Francke, Idea . . . lat. § XXVIII p. 79, p. 84; Mónita past. § LXIII p. 290 s. deutsch 2 1729, § 63, S. 99-101. 38 Francke, Mónita past. ebd.

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cke im wesentlichen auf Johann Arndt, den er als beständigen Begleiter neben der Bibel in die Hand des Theologiestudenten wünschte 39 . Daneben nannte er bezeichnend noch ein zweites Buch: es war eines aus der romanischen Mystik der römisch-katholischen Welt, die er sich und anderen durch die lateinische Übersetzung des Guida spirituale des Miguel de Molinos eröffnet hatte 40 . Jetzt wies er auf den Combattimento spirituale des Lorenzo Scupoli hin - ein damals ökumenisch verbreitetes Andachtsbuch, das auch die Mutter John Wesleys benutzte - freilich in der hispanisierten Gestalt des Juan de Castaniza 41 . Aber man kann nicht eigentlich sagen, daß er zum Gebrauch des Schriftchens anriet. Er führte es nur als Beispiel dafür an, daß die Besinnung auf den inneren Menschen die beiden großen Konfessionen eine 42 . Auch für Francke hatte der Theologe der Musterchrist zu sein 43 . Aber stärker als Spener schärfte er dem jungen Manne ein, auf sich selbst zu achten 44 . Die puritanische Gewissenserforschung mit dem Leitspruch von 2. Kor. 13,7, über den er selbst eine ins Englische übersetzte Predigt hielt, war auch ihm ein kategorischer Imperativ 45 . Dafür fehlte eine Entsprechung bei Spener. Auch unterschied er sich von diesem durch die höhere Wertschätzung der Wissenschaft, gegen die der Führer des Pietismus die Einfalt und die Liebe aufgeboten hatte. Francke wußte, daß ernsthaftes, vor allem biblisches, aber auch kirchengeschichtliches Wissen not tat 46 . Der Aufruf zur Liebe fehlte freilich - überraschend bei dem Waisenvater 47 . Gemeinsam war wieder die Anerkenntnis der äußeren, objektiven Beru39

Francke, Idea . . . (s. Α. 24) lat. § VI p. 44. Vgl. Herbert Stahl, August Hermann Francke. Der Einfluß Luthers und Molinos' auf ihn 1939, bes. S. 251-254. Das Buch erfordert eine gesonderte Auseinandersetzung, da es in vielem zu wenig differenziert verfahrt. 41 Francke, Idea (s. Α. 24) lat. § IV p. 39 Anm. 1. 42 AaO: Nec et pontifieiis desunt scriptores, mystici inprimis, qui vocantur qui studiosissime laborarunt ea removere, in quibus perperam alii perfectionem, ut illi loqui amant, collocarent, et e contrario ostendere conati sunt, qua in re vere consistât perfectio Christiana. Inter eos est auctor, qui a nonnullis dicitur L A U R E N T I U S S C U P U L U S , libelli Italice primum scripti, qui deinde sub titulo: Combat spirituel, gallica lingua, & Pugna spiritualis latina prodiit, & in linguam germanicam etiam aliasque dudum versus est. 43 AaO § I p. 31; § IV pp. 37-39; außerdem: pp. 20-25, 28-30 (Paraenesis); Nicodemus (s.A. 28) 5 1729, Bl. a8 v -b4 r (Widmung); Lectiones paraeneticae 1726, S. 83. 44 August Hermann Francke, Mónita pastoralia latina (s. Α. 24) §§ X X , XXI pp. 241-244. 45 Vgl. Martin Schmidt, Biblizismus und natürliche Theologie in der Gewissenslehre des englischen Puritanismus ARG 42 (1951), S. 198-219; 43 (1952) S. 70-87. Franckes Predigt befindet sich als MS im Francke-Archiv. 46 Francke, Idea . . . lat. § XXVIII p. 89; er wies mit Nachdruck auf Johann Andreas Bosius, Oratio de historia ecclesiastica nostro praesertim tempore diligentius colenda, Jenae 1960, hin; vgl. a. Mónita pastoralia lat. (s.A. 24) (= Idea studiosi theologiae lat. 2. Teil) § LVII-LXIV pp. 282-294 und Lectiones paraeneticae (s.A. 24) S. 279f., w o er Christian Kortholts Geschichte Luthers empfahl. 47 „Liebe" begegnet auf Grund von Tit. 1,8 φιλόξενον, φιλάγαϋον Lectiones . . . (s.A. 24) S. 29, vgl. a. Idea . . . (s. Α. 24) § XXIV p. 70. 40

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fung als Grundlage für das Pfarramt 4 8 . Francke betonte weniger die Objektivität des Apostolats als den Grundcharakter des Dienstes 49 . Darüber hinaus machte er - anders als Spener, mehr im Sinne und auf den Spuren Luthers - das Verständnis des Reiches Gottes im Kampfe mit den Machenschaften des Teufels lebendig. Der Träger, auch schon der künftige Träger des kirchlichen Amtes, hatte hier seine eigentliche Aufgabe zu erfüllen. Er war ein Kämpfer für das Reich Gottes, das in Gerechtigkeit, Friede und Freude aus dem Geiste Gottes sein Wesen hatte. Allein so überwand man das dem Theologen immer naheliegende Moralisieren, in dem Francke die neuartige Verwässerung des eigentlichen Amtsauftrages erkannte 50 . Auf diese Weise erhielt das Pfarramt einen großen Horizont und eine tiefe Qualität, wenngleich der Nachdruck alsbald wieder vom Grundsätzlichen auf die zahllosen verschiedenen Erscheinungsformen fiel, die der listenreiche Satan zu wählen verstand - ähnlich wie im „Nikodemus" 73 verschiedene Gestalten der Menschenfurcht kasuistisch aufgespürt worden waren 51 . 48

Francke, Lectiones . . . (s.A. 24) S. 19f., 35. Objektivität des Amtes Lectiones . . . (s. A. 24) S. 35; Idea . . . (s. Α. 24) § XXVIII p. 91. 50 Francke, Lectiones . . . (s. A. 24) S. 300-302: „Man findet auch dieses, daß tempore reformationis, und bald nach der Reformation, die Theologi viel kräftiger auf die Gerechtigkeit, die in Christo JEsu ist, und auf ein rechtes Evangelisches Wesen des Christenthums in ihren Schriften dringen, als in den nachfolgenden Zeiten geschehen ist. Wenn man da des Iohannis Brentii, des Aegidii Hunnii und anderer dergleichen Schriften lieset, darunter auch Iohannes Draconites gehöret, dessen Schriften aber nicht mehr so leicht zu haben sind: so findet man darinnen einen rechten Kern des Evangelii, und wird dadurch sehr erwecket. In den nachfolgenden Zeiten ist man wol mehr auf exegetica und critica gegangen; aber nicht so sehr auf eine solche Evangelische Erweckung. Tempore reformationis schrieben sie ihre commentarios in scripturam sacram, zugleich ad instruendam totam ecclesiam de doctrina evangelii und mit der Absicht, die Leute recht aufzuwecken; hernach hat man öfters die commentarios geschrieben, nur seine Gelehrsamkeit sehen zu lassen, und ist in speculation hineingegangen, da der Zweck bey vielen (denn von allen kan das nicht so gesaget werden) nicht so lauter gewesen. U n d eben diese obseruation haben auch verständige von den Engelländern gehabt, daß ihre ersten Theologi in viel größerer Kraft von der Rechtfertigung geschrieben, und auf Christum gewiesen. Aber von etliche 50 Jahren her und drüber ist es schon mehr in Abgang gekommen. Da sind sie auf das raisonniren und moralisiren, gefallen, und haben JEsum CHristum recht in der Kraft zu verkündigen fast vergessen. Denn das ist gantz was anders, moralisiren und JEsum Christum recht (S. 302) verkündigen, daß der das Reich GOttes in der Seele anrichte. Das eine ist Kinderspiel, wenns auf nichts anders ankommt, als nur aufs raisonniren; aber Christum, den gecreutzigten, nach Apostolischer Art recht zu verkündigen, das ist gar eine viel höhere Sache. Kommts etwa hoch, so wird man durch das moralisiren ein ehrbarer sittiger Mensch, aber die rechte Kraft des Reiches GOttes, Gerechtigkeit, Fried und Freude in dem Heiligen Geist, zu erlangen, Leib und Leben daran zu wagen, seine eigene Ehre nicht zu achten, sondern sich von der Welt bis ins Alter hinein schmähen und schelten lassen, das muß durch das Evangelium von Christo kommen. . . . Es ist gantz was anders, recht zu G O t t bekehret seyn, daß man ein andrer Mensch werde von Hertzen, Muth, Sinn und allen Kräften, wie es Lutherus in der Vorrede zu der Epistel an die Römer beschrieben hat, und gantz ein anders, ein äusserlich ehrbares Leben führen." Vgl. a. Idea . . . (s. Α. IV) § IV Anm. 1 p. 39, vorher ebd. p. 18 (Paraenesis) später § X X I X p. 94 und § XXVII p. 75. 49

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Die altkirchliche Grundlage wirkte gegenüber Spener äußerst schmal. Wirklich zitiert und ausgewertet wurde nur ein Brief Augustins an Valerius, in welchem sich der Kirchenvater anklagte, daß er - ohne kirchliches A m t - leicht andere des Versagens beschuldigen konnte, als mitverantwortlicher Helfer des Bischofs hingegen erkannte, wieviel zu bedenken war und wie schwer sich das Schiff der Kirche lenken ließ 52 . Im übrigen wies Francke allgemein auf die Schriften der Apologeten des zweiten und dritten Jahrhunderts, auf die unter dem Namen des Makarios gehenden Homilien und auf die modernen Darstellungen der Christenverfolgungen und Märtyrerberichte von Heinrich Benckendorf, Christian Kortholt und Gottfried Arnold hin 53 . Offenkundig lagen ihm Luther und spätere evangelische Autoren wesentlich näher 54 . Hier wich er deutlich von Spener ab, obgleich er ihm in den wesentlichen Stücken der Amtsauffassung, vor allem in der subjektiven Durchdringung des objektiven Rahmens so nahestand. Ganz anders verhielt sich das bei dem dritten führenden Theologen des lutherischen Pietismus, bei Gottfried Arnold, dem eigentlichen Klassiker in der Aktualisierung der frühchristlichen Tradition. Gegenüber dem streng, beinahe exklusiv biblisch orientierten Hallenser herrschte hier eine große Weite und eine intime Kenntnis. Schon das erste Werk des dreißigjährigen Verfassers, „Die Erste Liebe der Gemeinen Jesu Christi oder Wahre Abbildung der ersten Christen nach ihrem lebendigen Glauben und heiligen Leben" (1696), polemisch gegen die idealisierende Darstellung des Anglikaners William Cave Primitive Christianity (1672) gerichtet, die im konstantinischen Bund zwischen Reich und Christenheit den Gipfel der frühen Kirchengeschichte sah, entrollte ein reiches, dabei keineswegs schematisches Bild, wozu der Zwang der Verfallsidee, Arnolds Leitgedanke,

Francke, Idea . . . (s. Α. 24) §§ X L I I I - X L V I I pp. 113-128. Francke, Idea . . . ( s . A . 24) § X L I I Anm. p. 108s. 5 3 Francke, Mónita pastoralia . . . (s. A. 24) § L X I V pp. 292-294. 5 4 Luther wurde von Francke g e m ins Spiel gebracht, vgl. Mónita pastoralia . . . (s. Α. 24) deutsch 2 1729, § 27, S. 40-43, Lectiones paraeneticae (s. Α. 24) S. 279f. aus Kortholts historia ecclesiastica 1697, p. 697s. und ebd. S. 299: „Lutherus hat darinnen seine eigene Gabe gehabt, daß er so kräftig hat können aufwecken, und hat deßwegen noch der Churfürst Johann Friedrich aus dem Gefangniß in einem Briefe geschrieben: Andre möchten andre Theologos aestimiren, wie sie wolten, er müste bekennen, es erwecke ihn keiner mehr, als Lutherus. Aber wer hat Lutheri Schriften groß gelesen? Kein Studiosus hat sich sonderlich darum bekümmert . . . (S. 300) . . . Die kleinen Schriften, die Lutherus so heraus gab, die gingen in die Welt hinein, damit trugen sich die Leute, das lasen sie durch, erweckten sich und stärckten sich; hernach, da sie in die tomos gebracht worden, so kontens die Leute nicht mehr bezahlen; a part konte mans nicht mehr kriegen, also hat die Lesung der Schriften Lutheri aufgehöret. N u n ist davon wieder ein guter Anfang gemacht wie insonderheit unser Herr Adjunctus Rambach von Lutheri seinen Kern-Schriften gar manche heraus gegeben hat, die sehr erwecklich sind." Empfehlung Speners Mónita . . . (s.A. 24) § 30, S. 46-48; § 32, S. 49-52. 51

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hätte verleiten können 5 5 . Der moderne Verfasser lobte, wo zu loben war, ließ aber den gebotenen Tadel durch die Kirchenväter selbst aussprechen 56 . Eine Reihe von Einzeldarstellungen setzte das fort 57 . Für unsere Fragestellung entscheidend war es, daß er 1704 die Gestalt eines „evangelischen Lehrers" nach ihrer Prägung und ihren Aufgaben ganz überwiegend mit altchristlichen Farben malte 58 - so sehr, daß die langen Zitate beinahe mehr 55

Vgl. Erich Seeberg, Gottfried Arnold. Die Wissenschaft und die Mystik seiner Zeit 1923, S. 257-497. 56 Vgl. Hermann Dörries, Geist und Geschichte bei Gottfried Arnold (Abh. d. Akad. d. Wissensch, in Göttingen phil.-hist. Kl. III, 51) 1963, S. 209-213; auch Jürgen Büchsei, Gottfried Arnold - Sein Verständnis von Kirche und Wiedergeburt (Arbeiten zur Geschichte des Pietismus 8) 1970, S. 36-39; Martin Schmidt, Das Frühchristentum in der evangelischlutherischen Überlieferung vom 18.-20. Jahrhundert, insbesondere in Deutschland, in: Tradition im Luthertum und Anglikanismus (= Oecumenica. Jb. f. ökumenische Forschung 1971/ 72) S. 89-93. 57 Vorausgingen: Erstes Martertum 1695; Fratrum sororumque appellatio inter Christianos maxime et alios quondam usitata tum et cognatio Christianorum spiritualis 1696). Es folgten: Historia Christianorum ad metalla damnatorum (1697); Des heiligen Macarii Homilien verdeutscht 1697, später erweitert u.d. T.: Ein Denckmahl des alten Christenthums, bestehend in des heil. Macarii und anderer hocherleuchteter Männer aus der alten Kirche höchsterbaulichen und außerlesenen Schriften 1699. Das Leben der Altväter 1700; Das eheliche und unverehelichte Leben der ersten Christen 1702; Die Abwege oder Irrungen und Versuchungen gutwilliger und frommer Menschen aus Beystimmung des gottseligen Alterthums angemercket 1708. 58 Gottfried Arnold, Die geistliche Gestalt eines Evangelischen Lehrers Nach dem Sinn und Exempel der Alten Auff vielfältiges Begehren Ans Licht gestellet. Halle in Verlegung des Wäysen-Hauses M D C C I V . Aus der Einleitung (= Vorrede) sind folgende Sätze bemerkenswert: Bl.):( 2" „Dahero ich dieses alles erstlich nur vor mich selbst zu eigener Untersuchung und Vorschrifft aufgesetztet gehabt. Nachdem ich aber von so vielen münd- und schrifftlich befraget worden / was doch bey solchem Zustand zu thun und zu lassen sey / und was mir dießfalls aus denen alten Zeugnissen beywohne: So wird es nun auch andern zum Nachdencken übergeben / damit ein jeder sich dessen nach Belieben gebrauchen / und ich des vielen Wiederholens in privat-Schreiben entübriget werden möchte." Damit ist der „Sitz im Leben" bestimmt. Arnold hatte damit begonnen, daß es manchen seiner Leser befremden könne, wenn er zur Frage des geistlichen Lehramts das Wort nehme, weil er kaum darin gestanden habe. Er rechtfertigte das zunächst mit der Feststellung, daß er einen Bericht biete, der aus dem kirchlichen Altertum geschöpft sei, sodann autobiographisch mit seiner eigenen Hochschätzung des Lehramts (Pfarramts), die ihn zum Nachdenken gezwungen habe. Dabei ist besonders zu beachten, daß der von ihm 1714 in der Theologia experimentalis zum Grundsatz erhobene Ausgangspunkt und Bewährungsnachweis in der Erfahrung hier fehlen mußte und nur durch den historischen Rückgriff ersetzt werden konnte. Über das Pfarramt urteilte er (BL.):(2 r ): „Das rechte Göttliche Lehramt ist mir allezeit und von Jugend auf als das wichtigste Werck / nechst dem inwendigen Wandel mit G O T T / im menschlichen Leben vor dem Gemüth und Sinn geschwebet / also daß ich mich dazu immerdar selbst vor untüchtig achten müssen / noch achte. Denn daß ich solches niemals verworffen / sondern in allem gebührenden Werth gelassen habe; können alle öffentliche Zeugnisse überflüßig darthun." Am ausfuhrlichsten ist das Buch durch Hermann Dörries aaO (s.A. 56) S. 88, 118, 127-130 gewürdigt worden, worauf hier mit Nachdruck verwiesen sei, vor allem, weil die Einzeichnung in Arnolds Lebensgeschichte und in sein ambivalentes Verhältnis zur Geschichte, entsprechend der als Polarität gemeinten Titelwahl, geleistet ist. Dazu k o m m t Jürgen Büchsei, aaO (s.A. 56) S. 184-187, der ebenfalls zutreffend Arnold wiedergibt, aber S. 187

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Platz in A n s p r u c h nahmen als der eigene Gedankengang des Verfassers. D i e Pastoraltheologie, die er damit bot, wollte er ausdrücklich als n o t w e n dige E r g ä n z u n g der geschichtlichen Darstellung des Frühchristentums verstanden wissen, mit der er acht Jahre früher hervorgetreten war und auf die er sich jetzt i m m e r wieder b e z o g 5 9 . D o r t hatte er sich auf die äußere Gestalt des evangelischen Lehrers, w o m i t er den christlichen A m t s t r ä g e r i m ganzen meinte 6 0 , beschränken m ü s s e n 6 1 . Jetzt erst k a m er zur Sache. D e n n das Wesen eines echten Lehrers, der als vollmächtiger B o t e Gottes gelten durfte, lag in seiner inneren Gestalt, in seinem „inwendigen M e n schen", wie A r n o l d mit der Sprache der M y s t i k sagte 6 2 . D a r a u f w a r f er als A u t o r und als Interpret der altkirchlichen Zeugnisse seine ganze K r a f t und erreichte ein K o n z e p t v o n eindrucksvoller Geschlossenheit, das als Inbeg r i f f des pietistischen Pfarrerideals gelten darf, zumal er sich d a r u m bemühte, auch Luther reichlich und - soweit passend - die lutherische Überlieferung wenigstens angemessen zu Worte k o m m e n zu lassen 6 3 . A. 77 zu scharf gegen Dörries polemisiert, wenn er die Gegenüberstellung zwischen Pfarrer und Gemeinde, die Dörries als Ausgangspunkt Arnolds behauptete, bestreitet. 5 9 Arnold, Die geistliche Gestalt (s. A. 58) S. 9, 60, 62, 75,158, 215, 338, 349, 375, 376, 402, 431, 447, 452, 462, 463, 487, 524, 545, 570. 6 0 A a O Bl. ):( 2', ):( 4': E s m a g überraschen, daß hier das Pfarramt als Lehramt verstanden wird - eine Auffassung, die man landläufig erst der Aufklärung zuschreibt. E s wäre im einzelnen zu untersuchen, wann diese Bezeichnung des Pfarrers als „Lehrer" a u f k o m m t , die sich deutlich von der reformatorischen und orthodoxen als verbi divini minister unterscheidet. Sie scheint schon vor dem Einsetzen der Aufklärung geläufig zu sein, wie z . B . Johann G e o r g Wilisch, Kirchen-Historie der Stadt Freyberg in Sachsen 1735 beweist, w o die Pfarrer ganz selbstverständlich so benannt werden. Für Arnold ist seine Grundauffassung von der himmlischen Sophia als der eigentlichen Lehrmeisterin und Erzieherin hinzuzunehmen, deren Werk der Pfarrer fortsetzen muß. Vgl. Geistliche Gestalt (s. A. 58) S. 6-34; sonst: Gottfried Arnold, D a s Geheimniß der göttlichen Sophia 1700, S. 84-110. 6 1 Arnold, Die geistliche Gestalt (s.A. 58) Bl. ):( 2 r , ):( 4 r : Vgl. a. den klassischen Satz, den Arnold aus dem Traktat der M a d a m e von Guyon über das Gebet übernahm: „ D i e Ketzereyen sind durch den Verlust des Innern in die Welt k o m m e n : Wäre das Inwendige wieder aufgerichtet / so würden sie bald aufhören." Die geistliche Gestalt (s.A. 58) S. 643 ( = Anderer Anhang). 6 2 A a O , S. 3 f . , 247, 358, 397f., 399, 403-405 unter Berufung auf Luther (!), 410f. D i e antithetische Gegenüberstellung von äußerem und innerem Sein und Handeln setzt sich bei Arnold in dem „äußeren und inneren B e r u f f ' ( = Berufung) fort, vgl. ebd. S. 41-46, 48f. Zur Vorgeschichte vgl. vor allem Heinrich B o r n k a m m , Äußerer und Innerer Mensch bei Luther und den Spiritualisten. I m a g o Dei ( = Festgabe für Gustav Krüger) 1932, S. 85-109. 6 3 Luther: Arnold, D i e geistliche Gestalt (s.A. 58) S. 45, 53, 77, 85f., 135, 136, 144, 145, 164, 165, 214f., 230, 255, 283f., 307, 310f., 335f., 354 (Luthers erster Sinn positiv beurteilt, d . h . zwischen dem j u n g e n und dem alten Luther unterschieden), 354-356, 359, 366-368, 381 f., 383, 394, 403-405, 408, 411, 438, 439, 440, 447, 452, 454, 487, 531, 550; Die lutherischen Bekenntnisschriften: ebd. S. 63: Confessio Augustana und Apologie der Conf. Augustana: Ordination nicht nötig; S. 243f.; Tract, de pot. ac prim, papae: Gleichheit der Kirchendiener ( l . K o r . 3,6) A m t des Neuen Testaments nicht an Orte und Personen gebunden; S. 391 f. Konkordienformel: Unterscheidung zwischen Gesetz und Evangelium; S. 406f. Bekenntnisschriften allgemein gegen Gewissenszwang; S. 453 f. Conf. A u g . X X V : Die Beichte ist iuris humani; S. 463 Schmalk. Artikel: Einschränkung des Bannes; S. 471 Tract.

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Spener hatte angesichts des Bedürfnisses der Kirche nach geeigneten Pfarrern die Forderung erhoben, daß man sie erziehen, d. h. als Studenten in der richtigen Weise leiten müsse 64 . Er hatte damit der ganzen pietistischen Bewegung die Richtung auf das pädagogische Handeln eingepflanzt, die Francke und in seiner Art Zinzendorf 155 auf die Höhe führten. Für Arnold lag das Problem von vornherein anders. Eine didaktisch-technische Anleitung wäre ihm nicht nur zu wenig gewesen, sondern hätte überhaupt auf einer falschen Ebene gelegen. Er nahm den Wiedergeburtsgedanken, den Grundgedanken des Pietismus, ganz ernst. Er gab ihm den ursprünglichen Charakter eines wunderbaren Geschehens und damit das ungläubige Staunen des Nikodemus voll zurück. Ja, er steigerte ihn durch das schärfste Datum, das dafür zur Verfügung stand, die Prädestination 66 . Die göttliche Weisheit suchte sich die rechten Werkzeuge selbst aus und rüstete sie durch einen vertrauten Umgang für ihre Aufgabe zu. Das war ein geheimer Vorgang, wie ja Heimlichkeit das Handeln der himmlischen Sophia über-

de pot. ac prim, papae: Schlüsselamt: Schlüssel gehören nicht einer Person, sondern der ganzen Gemeinde; S.487f. Schmalk. Art. hist. Anhang: Bann ist ungerecht gegen den Kaiser angewandt worden. Lutherische Theologen: Melanchthon S. 449, Martin Chemnitz S. 491, Johann Gerhard S. 180f., Weller von Molßdorf S. 104, 166, 443, Quenstedt S. 189, Johannes Matthesius S. 489, Luther, Seinecker, Gerhard S. 189. Seinecker S. 188, 531, Quenstedt S. 189, Erasmus Sarcerius S. 166f., 349-351, 363, 369, 394, 484f., 487f., 489f., 491 f., Dannhauer S. 42, Paul Tarnow S. 370, Johann Schmid S. 447, 449, Johann Saubert S. 488f., Dedeken S. 454, 485. Die Vorpietisten: Heinrich Müller S. 394, Großgebauer S. 187f., 194, 337, 449, 454, 492f., Heinrich Varenius S. 187, Johann Franz Buddeus S. 409, Die Juristen: Seckendorff S. 449, 491, Brunnemann S. 180f., Stryck S. 180f., Die Pietisten (Theologen): Spener S. 449, 494f., Francke S. 53, Balthasar Köpke S. 202, 213f., 440; Gottfried Vockerodt S. 191, Ferdinand Helffreich Lichtscheid S. 184f. 64 Spener, Pia Desideria 67,18; vgl. zum Thema Paul Grünberg, Philip Jakob Spener II: Spener als praktischer Theologe und kirchlicher Reformer 1905, S. 1-22; Albrecht Stumpff, Philipp Jakob Spener über Theologie und Seelsorge als Gebiete kirchlicher Neugestaltung, Tübinger ev.-theol. Diss. Teildruck 1934, S. 22-26. 65 Vgl. dazu besonders O t t o Uttendörfer, Zinzendorf und die Jugend. Die Erziehungsgrundsätze Zinzendorfs und der Brüdergemeine 1923. Darüber hinaus sollte das Eindringen des Erziehungsgedankens in die Theologie durch den Pietismus, der hier ein Vorläufer der Aufklärung war, grundsätzlich untersucht werden. 66 Arnold, Die geistliche Gestalt (s. A. 58), S. 4f.: „Vor allen Dingen deutet der H. Geist eine geheime Versehung und Wahl über solche Personen an / die er von Ewigkeit darzu erkannt und auserlesen / auch in der Zeit abgesondert hat / seinen Namen vor andere Menschen zu tragen. Ist das Werck so (S. 5) göttlich und wichtig / so muß auch das Werckzeug dazu sonderlich ausgelesen und gleichsam à part gestellet werden. Deßwegen beschreibet er solche wahre Bothen als ausgelesene Gefäße / oder Rüstzeuge der Wahl und Auslesung (σκεύη έκλογής) Apost. Gesch. IX, 15. Item: als zuvor verordnete Diener und Zeugen / die aus dem übrigen Volck heraus genommen seyn / Cap. XXVI, 16.17. ja von Mutterleibe an auserlesen und beruffen Gal. 1, 15. welche Er auch in der Zeit wircklich ausund von andern absondert / und gleichsam besonders stellet / Ap. Gesch. XIII, 2.Jer. I, 5. So daß sie sich selbst mit Recht nennen mögen ausgesonderte und aus andern herausgezogene und bestimmte (άφωρισμένους) zum Evangelio G O T T e s / Rom. I, 1".

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haupt kennzeichnete 6 7 . Bezeichnete so die unerforschliche Gnadenwahl das erste D a t u m , gleichsam die Entstehung des geistlichen oder wie Arnold noch stärker sagte, des göttlichen Lehrers 6 8 , so drang das zweite Stadium, seine B i l d u n g durch den beständigen Zuspruch, den er von der göttlichen Weisheit erfuhr, schon ins Z e n t r u m . Denn auf dieser E r f a h r u n g beruhte eigentlich seine Qualität; sie war es, die er seinen anvertrauten Seelen mitzuteilen hatte 6 9 . Immer wieder k a m Arnold darauf zurück. D i e E r f a h rung als E r f a h r u n g des heiligen Geistes erhielt einen geradezu sakralen Wert, sie war die A m t s g n a d e . In ihr drückte sich der prinzipielle, wurzelhafte Widerspruch zur akademisch-technischen Ausbildung aus, der den mystischen Spiritualismus erfüllte, bei Christian H o b u r g z u m T h e m a erhoben w o r d e n w a r 7 0 und Arnold selbst z u m Verzicht a u f sein U n i v e r s i tätslehramt in Gießen b e s t i m m t hatte 7 1 . D a s Ziel der geheimen U n t e r w e i 6 7 A a O , S. 5-8 vgl. Arnold, D a s Geheimniß der Göttlichen Sophia (s.A. 60), S. 67-75, 84-90. 6 8 Arnold, Die geistliche Gestalt (s. A. 58), S. 93, 344. Beide Male ist „göttlicher Lehrer" Kapitelüberschrift. Außerhalb der Kapitelüberschrift z . B . S. 555, 567 „göttlicher Diener" S. 559. 6 9 A a O , S. 102f. : „Was ist die Ursache dieses großen J a m m e r s / als daß es an göttlichgesinneten Lehrern und Hirten mangelt? oder w o j a einige anfangen sich zu G O t t zu wenden / solche gleich an dem Werck ihres eigenen Wachsthums durch Auflegung fremder Sorgen vor andere gestöret werden / und in der Geburt gleichsam ersticken? Womit dann weder ihnen selbst / noch andern geholffen / vielmehr aber unermeßlicher Schade zugefuget wird. Sie selbst haben (S. 103) keine Krafft / weil ihnen der inwendige stete Z u g a n g zum lebendigen Q u e l l und der neue Leib ermangelt / von welchem allein Ströme auf andere fliessen können / J o h . VII, 38. Sie haben den Proceß der wahren göttlichen Geburt nicht erfahren / und sollen doch andern davon Nachricht geben. D a fallen sie denn auf ein leeres Geschwätze ohne Geist und Erfahrung / und auf lauter opera operata, und bleiben aufgeblehete Schrifftgelehrten oder Pharisäer / w o nicht gar Spötter und Lästerer"; ähnlich S. 106, 109, 112, 123f., 359f. Vgl. a. in der Erörterung des Abendmahls S. 460: „Weil denn dieses Essen und nehmen der Gnade und E r b a r m u n g G O t t e s unaufhörlich in hungerigen Seelen geschehen müsse: So könten und Sölten auch alle / die sich freywillig zu der Handlung des Nachtmahls einstellen wolten / solche Ü b u n g durch den H. Geist dazu anwenden / und darinne einen Segen erlangen. Diese und dergleichen ernste Vorstellungen müßten sodann mit lebendiger Erfahrung und Glaubenskrafft begleitet und in den Zuhörern bekräfftiget werden." Vgl. a. Einleitung B1.):(5-):(7 V , w o die Darlegung einerseits auf den streng persönlichen, autobiographischen Charakter des Buches hinweist (B1.):(7 V : „ich habe es mir am allermeisten selbst zu eigener künfftiger Prüfung anfänglich aufgesetzt / und finde täglich daran so viel zu wiederholen / daß ich aller Vernunffts-Scrupel und Gegensätze des alten faulen A d a m s darüber vergessen muß", andrerseits (ebd.) mit der Seligpreisung abschließt: „Selig ist / der vor sich selbst der neuen Creatur / als der ersten Auferstehung / theilhafftig wird / und sodann auch seinen Brüdern einen lebendigen u. gegenwärtigen Heiland verkündigen kan." S.a. die folgende A . 70. 7 0 Christian H o b u r g besonders in dem Buche „Theologia mystica oder Geheime K r a f f t Theologia der Alten 1650 u . ö . Mir lag die Ausgabe von 1700 (Amsterdam) vor, vgl. Martin Schmidt, Christian H o b u r g s Begriff der „mystischen Theologie" Wiedergeburt und neuer Mensch. (AGP 2) 1969, S. 51-90, bes. 54-59. Vgl. a. ebd. S. 59 A. 15 Stellensammlung zu dem T h e m a „ E r f a h r u n g " . 71

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Vgl. Gottfried Arnold, Offenhertzige Bekäntniß / welche bey unlängst geschehener

sung, die der Lehrer von der himmlischen Weisheit e m p f i n g , war die Vereinigung mit Gott in der neuen G e b u r t 7 2 und als ihre Frucht die T e i l n a h m e an der göttlichen N a t u r 7 3 . Sie mußte der Lehrer persönlich erfahren, fast möchte man sagen: erleiden, an sich geschehen lassen, aus ihr seine K r a f t ziehen, u m dann Geburtshelfer bei anderen zu werden. D e n n das A m t des neuen B u n d e s „zielt auf H e r v o r b r i n g u n g und Fortpflanzung neuer heiliger Geburten und Geister", „ a u f V e r m e h r u n g des herrlichen Geschlechts und Königreichs G O t t e s " 7 4 . Hierfür berief sich Arnold auf P s e u d o - D i o n y s i u s A r e o p a g i t a 7 5 . D i e „ K r ä f t e der neuen S c h ö p f u n g " sind „in hungerige Seelen überzuleiten und fortzupflantzen / nach Art des inwendigen geistlichen Reiches G O T T e s / dessen geheimniße auch hierinne sehr tief s i n d " - so drückte er sich anschaulich und treffend aus 7 6 .

Verlassung eines Academischen Amtes abgeleget worden 1698. Vgl. dazu außer der B i o g r a phie von Franz Dibelius, Gottfried Arnold 1873, Erich Seeberg (s. A. 55), S. 2-5, Hermann Dörries ( s . A . 56), S. 56-58; Jürgen Büchsei (s. A. 56), S. 24-26, 108-110. Alle lassen die mystisch-spiritualistische Tradition, die zusammengefaßt H o b u r g repräsentiert, beiseite, o b w o h l gerade Q u e d l i n b u r g als ein Vorort dieser B e w e g u n g das nahelegte. E s könnte sein, daß Arnold von der neuen Universität Gießen, die unter mystisch-spiritualistisch-pietistische Führung kam, die echte „geistliche A k a d e m i e " der Zukunft erwartete, die Johann A m o s C o m e n i u s und Johann Valentin Andreä vorgeschwebt hatte und später auch Zinzendorfs Bildungspläne bestimmte (vgl. dazu am besten O t t o Uttendörfer, Zinzendorf und die Entwicklung des theologischen Seminars der Brüderunität Z B G X (1916), S. 32-88; X I (1917), S. 71-123; XII (1918), S. 1-78; XIII (1919), S. 1-63, dann aber feststellen mußte, daß die erhoffte R e f o r m gescheitert war. 72 Arnold, Die geistliche Gestalt (s. A. 58), S. 34: „ U n d das ist nun die S u m m a der gantzen Vorbereitung auf das Werck des Göttl. A m t s / nemlich die neue Creatur. Dieses müsse das einzige Ziel seyn derer / die da in sich mercken / daß sie von dem HErrn der Erndte möchten einmal ausgestossen werden in seine Erndte. O wie solte doch billich allen dieß einige nothwendige stets vor Augen seyn / daß sie C H r i s t u m lerneten gewinnen und in sich gestalten Hessen / biß zur wahrhafftigen göttlichen N a t u r ! " A a O , S. 9 9 f . : „ V o n diesem requisito, nemlich der neuen Geburt / ist im I. Cap. schon etwas gemeldet worden / wie diese bey einem wahren Lehrer nothwendig sich finden müsse / w o nicht in einem großen Maaß oder Grad / doch in einem ziemlichen Wachsthum und Fortgang. Der unlaugbare göttliche Grund ist auch daselbst schon berührt / wie nemlich keiner andere mit Schmertzen gebähren könne / der selbst noch nicht wircklich aus G O t t geboren ist / wofern er nicht lauter geistliche Mißgeburten und Bastarte hervor bringen sol / wie die Erfahrung g n u g s a m ausweiset vor denen / die geistliche Augen haben. Denn wie der Mensch zu allen göttlichen Dingen und Wercken untüchtig / gebrechlich und elend ist / eh er göttlichen Natur Theilhafftig wird: Also taugt er auch vor solcher Erneuerung zum Bilde GOttes noch weniger zum Dienste / dadurch andere zu eben diesem Bilde erneuert werden sollen. Er ist selbst noch nicht im Reiche G O t t e s / weil er noch nicht v o m neuen und von oben herab geboren ist (Joh. 111,3) / wie solte er andere können hinein laden und fördern / oder aus Erfahrung dessen Privilegia, (S. 100) Süßigkeiten und Vorzüge beschreiben / oder ien Krafft davon zeugen und versichern / daß es wircklich also sey / was davon geschrieben stehet?" Vgl. a. S. 27-32, 33, 247, 257. 7 3 A a O , S. l l l f . , 247, 381, 398, 541. 7 4 A a O , S. 112f. 7 5 Dionysius Areop. D e div. nominibus c. II § 8. 7 6 Arnold a a O (s. A. 58), S. 114f.

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Damit war alles auf die Gnade, auf die Alleinwirksamkeit Gottes gestellt. Solche charismatische Ausschließlichkeit konnte entmutigen. Bestand gar keine Möglichkeit, sich vorzubereiten? Doch. Der heilige Geist bediente sich keineswegs jedes Menschen als seines Werkzeugs. Er kam nur in solche Seelen, die gottesfurchtig waren. Ein unsträflicher Wandel, ein reines Gewissen bildete die unabdingbare Voraussetzung. Eine plötzliche Bekehrung aus einem Sündenleben zur gottwohlgefälligen Reinheit stellte die Ausnahme dar, und wenn Paulus seinen Fall übertreibend so darstellte, so muß man wohl beachten, daß er aus Unwissenheit vor Gott gegen die Christen eiferte, nicht aus bösem Willen 77 . Soviel ist an der Selbstbezichtigung allerdings richtig, daß mit der Erkenntnis seiner selbst und seines eigenen Elends vor Gott der Weg zum Heil anfängt. Dieses Empfinden ist unerläßlich. N u r wer persönlich unter der Last seines sündigen Daseins gelitten hat, vermag Mitleid mit den Mühseligen und Beladenen zu haben und könnte dann als barmherziger Priester für sie bei Gott Fürbitte tun 7 8 . Die Biographien Johann Arndts, Theodor von Brakels und John Bunyans sind hier überaus lehrreich 79 . Selbsterkenntnis, Selbstgericht, lange Ü b u n g , die zur gesammelten Erfahrung führt, schließlich Stille, Einkehr im eigenen Herzen und Warten darauf, daß der Morgenstern in ihm anbreche - das sind die Erfordernisse, die der Mensch selbst bereitstellen kann. Wenn er sich die schweigende und zuhörende Maria zum Vorbild nimmt, dann handelt er richtig 8 0 . Denn das leere Geschwätz von göttlichen Dingen muß vor allem gemieden werden, es hat soviel Schaden angerichtet und U n kraut in den Acker der Herzen gesät 8 1 . Das Genannte verlangt viel v o m werdenden geistlichen Lehrer, äußerlich Zeit, innerlich Geduld und Selbstzucht. Darum sind, so betont Arnold, die Christen der ersten Jahrhunderte gern zu den Alten und Geübten in die Lehre gegangen und haben die stille Vorbereitung in der Einsamkeit für dringlich erachtet, wie unter anderen Augustin beweist 8 2 . O b man freilich auch noch die v o m Lehrer zu fordernde Gottseligkeit zur Vorbereitung rechnen darf, bleibt fraglich. Denn sie kann ebensogut als äußere Kundgabe, als beständig andauernde Betätigung seines inneren Lebens verstanden werden. Die Wichtigkeit, die ihr zukam, verteidigte Arnold im wesentlichen mit einem anderen Gesichtspunkt, nämlich mit der Wirkung, die von einem persönlichen Beispiel ausging. Nichts vermochte so zu überzeugen wie das eigene Vorbild, und es galt, nach der Weise der frühen Christen nicht die stärkste Forderung zu scheuen, die Vollkommenheit 8 3 . Die alten Mönchsmystiker redeten hier eine deutliche Sprache; nicht umsonst wurden die Erfahrenen „Regeln und Formen der Gottseligkeit" und „Vorsteher eines gottseligen Lebens" genannt - nicht 77 79 80 83

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AaO, AaO, AaO, AaO,

S. S. S. S.

7 8 A a O , S. 10f., 252. 8. 13; vgl. a. den Hinweis auf Johannes Matthesius S. 11 f. 8 1 A a O , S. 15, 18. 8 2 A a O , S. 19-24. 15. 153-176; Vollkommenheit bes. S. 156, 161 f.

im Sinne mechanisch-gesetzlicher Nachahmung, sondern, wie es Johannes Chrysostomus so schön ausgedrückt hatte, „daß man demjenigen Licht, das aus solchem Wandel hervorleuchtete, nachspürte und sein Leben darnach einrichtete und bildete" 84 . Aber auch die alttestamentlichen Grundsätze von der Reinheit des Priesters, der mit dem Heiligen umgeht, kamen wieder zu ihrem Recht 85 . In die gleiche Richtung wies der harte Tadel des Kardinals Baronius an verkommenen römischen Päpsten, daß sie als Gottlose nur wieder Gottlose zu zeugen vermöchten 86 . Alles kam auf die Kongruenz von Leben und Lehre, von Person und Aufgabe an. Wenn sich Arnold auch gegen jeden Donatismus wehrte und wiederholt betonte, daß der heilige Geist und nicht das Werkzeug das Entscheidende sowohl im Heilsvorgang selbst als auch im Predigen davon vollbringe 87 , so geriet er doch in diese Richtung, wenn er lapidar feststellte, daß Christi Lehre dort nicht rein bleiben könne, wo er nicht sei, nämlich im Herzen und Alltagsleben seines Boten 88 . Auf die innere Berufung hatte Arnold das entscheidende Gewicht gelegt, und unter diesem Vorzeichen wünschte er alles zu sehen: die Selbstprüfung, den Verzicht auf Freuden und Bequemlichkeiten, die Einsamkeit, die der Vorbereitung diente, den Austausch mit den Erfahrenen, die fortschreitende Reinigung des eigenen Innern, die Vorbildlichkeit im Lebenswandel. Die Berufung durfte nicht nur im Anfang göttlich sein; sie mußte auch göttlich bleiben 89 . Die innere Zurüstung durch den beständigen Umgang mit Gott, noch schärfer gesagt: durch den sich immer wiederholenden, nie abgeschlossenen Vorgang der Wiedergeburt, der Geburt aus Gott, war so wichtig, und allem äußeren Tun so sehr überlegen, daß die Ordination dagegen völlig verblaßte. Arnold glaubte aus den lutherischen Bekenntnisschriften entnehmen zu können, daß sie überflüssig sei 90 . Wahre Gottseligkeit, bewährter echter Auftrag haben ihre Wurzel und ihr Wesen im Innern. Ein unwiedergeborener Prediger predigt nicht eigentlich Gottes Wort, selbst wenn er seine Verkündigung dem Buchstaben nach der Bibel entnimmt. „Denn Gottes Wort predigen ist . . . nicht allein dasjenige / was in der Heiligen Schrift stehet / und G O T T vor diesem durch seine Diener geredet hat / schlechterdings reden und vortragen / sondern solches aus GOtt reden und predigen." Dann fließen die Worte nicht mehr aus menschlicher Weisheit und Beredsamkeit, sondern aus der Eingebung Gottes, sie tragen den Stempel letzter unmittelbarer Beglaubigung. Das Ganze ist ein Vorgang, und in diesen Vorgang werden die echten Hörer hineingezogen. Wo aber ohne solch einen inneren Vorgang gepredigt wird, wo menschliche Redekunst und Erkenntnis das Wort fuhren, da wird das Wort Gottes geradezu gestohlen. Arnold scheute vor solch einem scharfen Vorwurf nicht zurück 91 . 84 86 89

AaO, S. 160; Chrysost. hom. 10 ad l . T i m . 3. 87 AaO, S. 176 . AaO, S. 180. 90 AaO, S. 46. AaO, S. 62-65.

85 88 91

AaO, S. 155, 167-169. AaO, S. 181, 185f., 191-198. AaO, S. 194, ähnlich S. 136.

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Das große Beispiel echter Verkündigung bot das urchristliche Pfingstereignis. Hier erhob sich die immer wieder im Pietismus gestellte Frage, ob Wundergaben wie das Zungenreden und Wirkungen wie Massenbekehrungen auch in der Gegenwart stattfinden könnten, ob man sie daher zum Kennzeichen und zur Forderung für einen wahren evangelischen Boten Gottes erheben dürfte 9 2 . Arnold antwortete darauf mit einer gewissen Vorsicht. Zunächst urteilte er - ohne nähere Begründung - , daß die gegenwärtige Christenheit solches nicht nötig habe. Sollte man das so verstehen, daß durch die seit den Tagen der Apostel weit fortgeschrittene Christianisierung der Menschheit außerordentliche Bekundungen Gottes überflüssig seien? Offenbar fesselte ihn das Problem nicht wirklich. Denn er eilte zu der Forderung weiter, daß das Herz des Predigers erleuchtet sein und sein Geist von göttlichem Feuer brennen müsse, wofür er sich auf das paulinische Wort (2. Kor. 4,4) v o m hellen Schein im Herzen der Christen berief 9 3 . Die Vorbereitung der Predigt als ein klares gedankliches Konzept verwarf er nicht gerade, hielt sie aber nicht für unerläßlich. Er warnte vielmehr davor, dem „Naturlicht" zuviel Einfluß auf die Rede zu gönnen. Denn nicht das Gehirn sollte zu Worte kommen, sondern das Herz. Das Herz und nicht der Verstand war das Organ für das göttliche Licht. Durch das Herz verschaffte sich der Geist und die Kraft Gottes ihren Ausdruck 9 4 . Die Identifizierung zwischen göttlichem und menschlichem Wesen, die Gottesgeburt in der Seele - das schlug immer wieder als Arnolds eigentliches Anliegen durch 9 5 , als der große entscheidende Vorgang, wie ihn besonders die griechischen Kirchenväter hervorgehoben hatten 96 . Von da aus ergab sich die Demut als Grundeigenschaft des geistlichen Lehrers 9 7 . Denn wenn Gott selbst in seinem geheimen wiedergebärenden A a O , S. 196 f. A a O , S. 198. 9 4 A a O , S. 198 f. 9 5 A a O , S. 34f., 38, 39, 97, 99-103, 105-108, 110-113, 114f., 256-263. 9 6 Vgl. H u g o Rahner, Die Vorstellung von der Gottesgeburt in der Seele bei den griechischen Kirchenvätern ( Z K T h 59 [1935], S. 333-418). Besonders zu beachten ist das Bild v o m „wahren lichten Leib der neuen Geburt" (diese volle Formulierung S. 120, ähnlich S. 28, 103), an dem Arnold offenbar viel lag. Es ist im Rahmen dieses Aufsatzes nicht möglich, die besondere Abwandlung des Wiedergeburtsgedankens durch ihn gegenüber dem Gesamtpietismus zu behandeln. Jedoch glaube ich, daß er in der Linie von Spener zu Oetinger, der sich bekanntlich auf niemanden so gern und so eindeutig berief wie auf den Anfänger des lutherischen Pietismus, also im Wertlegen auf die Leiblichkeit des neuen Menschen (vgl. Martin Schmidt, Speners Wiedergeburtslehre in: Wiedergeburt und neuer Mensch ( A G P 2) 1969, S. 180-183) eine wichtige Zwischenstation darstellt. 92 93

9 7 Arnold, a a O (s. A. 58), S. 212-231. Arnold wird hier besonders leidenschaftlich und wortreich, was aufschlußreich ist, und bringt hier mystisch-spiritualistische Lieblingsgedanken ein, in denen er sich teilweise mit der romantisch-quietistischen Mystik der Frau von G u y o n trifft, wie die Neuigkeit der Seele (S. 220), das Ablegen der Eigenheit (S. 221), die Situation des Kindes, das immer von vorn anfängt (S. 221), die freiwillige Erniedrigung unter alle Kreaturen (S. 219), die Ablehnung des aufblähenden Wissens, im Predigen, Disputieren und Bücherschreiben (S. 229f.) kundtut. Auch daß er die Selbstgefälligkeit ( α Μ ά δ ε ι α ) aus

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Handeln aus seinen Worten und seinem Verhalten heraustreten sollte, dann mußte das eigene Ich, die eigene Kunst, die eigene Leistung verschwinden. Ganz besondere Bekämpfung verdiente das Haschen nach Beifall 98 . Im Anschluß an Gregor den Großen wurden eitle Lehrer als geistliche Ehebrecher angeprangert" und mit Diadochus betont, daß die Einwirkung der göttlichen Gnade die Demut, oder wie Arnold, näher am griechischen Wortlaut von ταπεινοφροσύνη sagte, die „Niederträchtigkeit", das Trachten nach den niederen Dingen, zu einer völlig natürlichen Eigenschaft machte 100 . Anstatt andere zu verdammen, richtete man sich selbst und empfand die Zielrichtung der eigenen Predigten zuerst gegen das eigene Verhalten. Arnold wußte, daß das Kampf kostete. Denn gerade derjenige, der mit göttlichen Dingen umgeht und Bote davon sein soll, neigt zum Unfehlbarkeitsdünkel und zur Herrschsucht aus Rechthaberei 101 . Nicht umsonst enthält das Alte wie vor allem das Neue Testament mahnende Worte dagegen 102 . Unter den frühchristlichen Vätern setzte vor allem Ignatius von Antiochien diese Linie fort, aber auch der Barnabasbrief ließ sich so vernehmen 1 0 3 : kein herrschsüchtiges Gebieten, sondern ein brüderliches Beraten 104 . Mit Betonung nahm Gottfried Arnold die schönen Worte des Johannes Chrysostomus auf, die er seiner Gemeinde in einer Predigt zurief: „Ich bin ein Knecht eurer Liebe. Denn ihr habt mich gekauft, nicht mit Geld, sondern mit Liebe. Ich freue mich, daß ich zu solcher Knechtschaft gewidmet bin, und wünsche davon nie los zu werden. Denn sie ist mir schöner als die Freiheit. " 1 0 S Selbstverständlich fehlte auch Bernhard von Clairvaux mit seinen ermahnenden Briefen zur Demut an seinen Schüler, Papst Eugen III. in diesem Zusammenhang nicht 106 , und Melanchthons Tractatus De potestate ac primatu papae bezeugte mit seiner Betonung der Gleichheit aller kirchlichen Diener, daß die Lutheraner wenigstens im Anfang auf dem richtigen Wege waren 107 , während jetzt Speners Traktat „Die Freiheit der Gläubigen von dem Ansehen der Menschen" nötig geworden ist 108 . Zur Demut gesellte sich unmittelbar die Sanftmut, und Arnold verstärkte ihr Gewicht, wenn er daraufhinwies, daß Jesus selbst beide im Heilandsruf (Matth. 11,29) in einem Atem genannt hatte 109 . Hier sagte er auch deutlich, daß es sich bei den Eigenschaften des evangelischen Lehrers nicht um Daten der allgemeinen Ethik, um Erfordernisse einer gewissen Selbstzucht und Selbstbescheidung handelte, sondern um Früchte der neuen Titus 1,7 ausdrücklich mit dem griechischen aussagekräftigen Worte α Μ ά δ ε ι α aufgreift (S. 220) ist wesentlich: Der Gegensatz zu „Demut" lautet für Arnold nicht eigentlich: „Hochmut", sondern „Herrschsucht". Das ist für den ganzen Gedankengang zu beachten. 98 99 AaO, S. 213-216. AaO, S. 216. 100 AaO, S. 213. i»1 AaO, S. 214. 102 AaO, S. 216, 220f„ 235-237. ™ AaO, S. 217, 227, 237f. 104 105 106 AaO, S. 238f. AaO, S. 239. AaO, S. 240. 107 108 109 AaO, S. 243. AaO, S. 244. AaO, S. 247.

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Geburt, die der Gemeinschaft mit der Natur Gottes entstammten. Denn da der natürliche Mensch alles andere als leidsam war, sich vielmehr mit aller Kraft gegen Schmerzen, Unterdrückung und Zurücksetzung wehrte, reichten seine eigenen Tugenden in keiner Weise aus, um Leidenswilligkeit zu erzeugen. Sie war eindeutig Wirkung der göttlichen Gnade 110 . Das macht verständlich, warum sich die romanische Mystik, besonders in ihrer französischen Gestalt des Quietismus, aber auch schon bei Teresa von Avila, so auf die Leidensbereitschaft konzentrierte 111 und warum der deutsche Pietismus sie so willig aufnahm: Hier begegnete man unzweifelhaft Gott selbst, hier griff man ihn sozusagen mit Händen. Es scheint nicht die Versenkung in Jesu Leidensweg und der Wille, ihm selbst gleichförmig zu werden, das erste Motiv gewesen zu sein, sondern umgekehrt drückte dieser Weg die entscheidende Wahrheit und die übermächtige Kraft Gottes einzigartig aus. Als Krönung des Gedankengangs führte Arnold das Wort des Ignatius an die Trallenser an, daß die Sanftmut auch die Atheisten beschämte 112 . Gerade in ihr und in der Geduld, die den andern niemals aufgibt, zeigte sich für ihn der Unterschied zwischen dem Alten Bund, der durch den Eifer eines Mose und Elia gekennzeichnet war, und dem Neuen Bund, der solche Gestalten nicht kannte, und unter den altchristlichen Autoren, die zu solchem echt christlichen Verhalten aufriefen, führte er vor allem Johannes Chrysostomus und Pseudo-Dionysius Areopagita an 113 . Ein Nachfolger Jesu muß auch die Bösen mit Sanftmut tragen können, wie das Neue Testament in 2. Tim. 2,24 fordert, und der Eifer, der vor Gott und seinem ernsten Gericht gilt, ist der reine und liebevolle Eifer, mit dem ein Paulus die Gemeinde seinem und ihrem Herrn als reine Braut zubringen wollte (2.Kor. 11,1). Zorn und Gesetzlichkeit, die aus dem Bedürfnis zu strafen entspringen, machen wohl im Augenblick Eindruck und erleichtern denjenigen, der davon erfüllt ist. Sie wirken aber nur Verstockung; in ihnen brennt, wie Arnold sagt, „das wilde Naturfeuer" 1 1 4 . Es ist das Zeichen von Anfängern im Christentum, daß sie „mit ihrem Eiffer wider die gemeinen Sünden gar starck herauspoltern" und „sehr hefftig im Lehren sind" 115 . 110

111 AaO, S. 247 f. Der Wahlspruch der Teresa lautete: aut pati aut mori. 113 Arnold aaO (s. A. 58), S. 256. AaO, S. 265-278. 114 AaO, S. 272-274, daraus zugespitzt S. 273f.: „Wer sich selbst noch nicht hat vom Geist GOttes untersuchen und reinigen lassen von dem herrschenden Übel des Zorns und Widerwillens: der mag wol allen Eifer seines sündlichen Fleisches vor göttlich ausgeben / und dennoch durch die That immer selbst beschämet werden / indem er nichts damit erwecket / als U n m u t h und Ver-(S. 274)stockung bey den Leuten. Denn er hat nichts mehr in sich / als Entrüstung und Verwirrung / welche ihm selbst immer zeigen und das Urtheil sprechen / daß er noch ins Feuer gehöre / weil er noch aus dem wilden Naturfeuer redet und wircket. Solch eifern ist der hitzigen Natur gar leicht und angenehm / und bey unwissenden hat es einen Schein / als ob ein solcher Eiferer nothwendig besser seyn müsse / als die andern / sonst würde er diese nicht straffen. U n d er selbst bildet sich wol ein / damit sey alles schon wol ausgerichtet / wenn er nur andere straffe / obs schon manchmal nur aus Neid / Stoltz / 115 Betrug und Vorstellung geschieht." AaO, S. 275. 112

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D a r ü b e r hinaus schaden sie sich selbst, denn sie h e m m e n ihr inneres Wachstum zur christlichen Vollkommenheit, weil sie die Art Jesu völlig verkennen 1 1 6 . Ignatius hat in seinem Briefe an Polykarp die rechten Worte gefunden; seine Weisungen sind unvergänglich 1 1 7 . Christliche Sanftmut darf keinesfalls mit einer „läppischen Weichlichkeit" verwechselt werden 1 1 8 , die fremde Sünden wohlwollend duldet und sich dadurch mitschuldig macht. Jesu Verhalten gegen die Pharisäer weist hier den Weg. Er entschuldigte und billigte keine Sünden, er schmeichelte n i e m a n d e m und brachte das Böse auf göttliche Art aus d e m Herzen heraus. Es ist ein Zeichen der verdorbenen Natur, die den Menschen bestimmt, daß er von einem E x t r e m ins andere fällt: entweder ist er zu heftig oder zu milde, entweder läßt er seiner Wut freien Lauf oder seiner Feigheit. Die göttliche Weisheit hilft hier z u m rechten Mittelmaß nach d e m Vorbild des Paulus, der sowohl die Güte als den Ernst Gottes vor seine H ö r e r hinstellte, u m sie zur Buße zu leiten - Worte, die Arnold einer Predigt des Johannes C h r y s o s t o m u s entnahm 1 1 9 . In den Problembereich der Sanftmut gehörte die theologische Polemik. Es war zu erwarten, daß Arnold hier, wie schon Spener in den Pia Desideria 1 2 0 , den Gegensatz zur orthodoxen Theologie und Amtsauffassung scharf markierte, und zwar ohne jede Konzession, die der Führer des lutherischen Pietismus noch insofern gemacht hatte, als er die Wahrnehm u n g dieser Aufgabe als Sonderauftrag für Spezialisten gelten ließ. Das Entscheidende lag darin, daß die Qualität der Theologie verändert wurde, u n d dies k a m bei Arnold mit wünschenswerter Deutlichkeit über Spener hinaus heraus: Er sah in der theologischen Polemik, die die Disputationen mit Aufstellung von Thesen und den Austausch von Streitschriften als ihre Werkzeuge benutzte, nichts anderes als den Versuch, den einen Teufel mit d e m andern auszutreiben 1 2 1 . Deshalb verwarf er sie völlig; sie war d e m Geiste Jesu in jeder Hinsicht zuwider. Dabei warf er einen neuen Gesichtsp u n k t in die Debatte: Nicht nur das Ergebnis, daß man sich auseinanderredete u n d auseinanderschrieb, sprach gegen sie, sondern auch die vermeintliche Ü b e r e i n s t i m m u n g , die m a n erzielte: „Die gelehrten Disputationen gebähren entweder noch mehr Streitigkeiten / oder auch falsch Vereinigung / welche nicht länger besteht / als der gefassete falsche Wille N a h r u n g findet. Was nicht im vereinigten Geist JEsu / dem Felsen gegründet ist / sondern auf leeren Sand gebauet / das fället bald ein." 1 2 2 Auf theoretischem Wege ließ sich gar nichts erreichen - das hieß aber auch, daß die Wahrheitsfrage, 116 117 118 119 120 121 122

AaO, S. 275 f. Ign. ad Polyc. I, 2.3. AaO, S. 277. AaO, S. 277f., 264f. Joh. Chrysost., De verbis Esaiae hom. V. Spener, Pia Desideria 20,2; 64,1. Arnold, aaO (s. A. 58), S. 278f. AaO, S. 281 f.

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mindestens, wie sie bisher gestellt und aufgefaßt worden war, ihr Gewicht zugunsten der Wirkungsfrage eingebüßt hatte. Denn nach Arnolds Urteil war allein von der Praxis, der echten Frömmigkeit, etwas zu erwarten. Im vollen Einklang mit der mystisch-spiritualistischen Überlieferung, wie sie vielleicht am deutlichsten Paul Felgenhauer (1599-1677) zum Ausdruck gebracht hatte 123 , nannte er die brüderliche Liebe und die Preisgabe alles weltzugewandten und selbstsüchtigen Wesens als wirkliche Heilmittel: „Wir müssen uns in wahrer heiliger Liebe JEsu CHristi verbinden / und in dessen H. Namen vereinigen / die Welt zu verläugnen / samt dem eigenen Leben / auch keine Ehre oder gute Tage zu suchen / sondern nur dem Tode J E S U ähnlich zu werden / in der Wahrheit ohne Schein: So bestehet auch solche Einigkeit. Und alsdenn fallen", so fuhr er fort, „bald von selbsten alle Differenzien hinweg / und findet ein jedes Glied das andere in reinem Geist der Liebe und Wahrheit / daß es keiner vernünfftlichen Mittel bedarff. Ausser dem haben auch die besten Gemüther unter denen Religionsstreitigkeiten grossen Schaden am innern Fortgang gelitten." 124 Polemik, polemische Theologie war in jedem Sinne verwerflich, und mit innerer Befriedigung registrierte Arnold die Tatsache, daß die theologischen Streitschriften auch „allen nur natürlich-Klugen", also den vom modernen Säkularismus Erfaßten, immer mehr „eckel und verdrießlich werden", so daß es schwerfiel, sie zum Druck zu bringen, geschweige, daß sie gelesen oder geachtet - fast möchte man sagen, beachtet - wurden 1 2 5 . Ein unverkennbares Siegesbewußtsein sprach aus solchen Worten: Das Zeitalter der konfessionellen Polemik und dogmatischen Rechthabereien war zu Ende. Aber die Krone setzte Gottfried Arnold dem auf, wenn er niemand anderen als Luther selbst zum Beistand für seine Überzeugung anrief und sich dafür sogar von den geliebten Kirchenvätern trennte. Er zog, aus Paul Antons (1661-1730), des hallischen Professors und frühen Mitstreiters von August Hermann Francke, verfaßten Dissertation über Luthers Patmos geschöpft, die bedeutsam einschränkende Bemerkung des Reformators aus seinem Kommentar zum Deuteronomium (1524/25) heran, die nicht nur für Tertullian und Cyprian galt, sondern auch für Augustin und Bernhard, daß sie nämlich als positive Bibelerklärer auf dem rechten Wege waren und die göttliche Wahrheit zur Sprache brachten. Sobald sie aber Streitfragen behandelten, wichen sie ab und verdrehten das Wort Gottes 126 . 123 Vgl. besonders Paul Felgenhauer, Spiegel der Weisheit und warheit Allen Menschen in der gantzen Welt furgestellet / als Christen /Jüden Tiircken vnd Heyden 1632, bes. S. 4 1 - 5 5 ; ders., Harmonía Fidei et Religionis 1654, bes. S. 111; ders. Palma Fidei et Veritatis in Cruce Christi ad salutem 1656, bes. S. 50-54; Johann Theodor von Tschech, Kurtzer und einfaltiger Bericht / Von der einigen wahren RELIGION. 1646, bes. S. 6. 124 Arnold, aaO (s. A. 58), S. 282. 125 AaO, S. 281. 126 AaO, S. 282 f. Luther WA 14, 653, 7 Deuteronomium cum annot. 1523/24.

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Hier wurde greifbar, wieviel Arnold an diesem Punkte lag. Er stellte sich den wahren evangelischen Lehrer in seiner geistlichen Gestalt so vor, daß er - geleitet von der göttlichen Weisheit, die im Verborgenen zu ihm sprach - , äußerlich demütig, innerlich hoheitsvoll in einer unerschütterlichen Sicherheit unberührt durch die Kämpfe hindurchschritt, die unter Anrufung von Gottes Namen um ihn herum stattfanden 127 . Als biblische Begründung dienten ihm die Verbote des zänkischen Wesens und des Streitens überhaupt aus den Pastoralbriefen 128 . Gegenüber der Demut und der Sanftmut, die man ebensogut Liebe hätte nennen können, traten die nächsten Eigenschaften, die Genügsamkeit, die im wesentlichen Freiheit war zu haben, als hätte man nicht, was sich besonders zugespitzt an der Ehe der evangelischen Lehrer zeigte 129 , und der Fleiß im Lehramt 1 3 0 an selbständiger Bedeutung zurück. Der Fleiß folgte aus dem Gewicht des Amtes von selbst: wer begriffen hatte, wozu es bestimmt war und was es vermochte, würde schon seine ganze Kraft dafür einsetzen. Arnold kann hier nur das meiste wiederholen, was er anderwärts eingeschärft hatte. Die Geschlossenheit seiner Konzeption bewährte sich in der Zurückführung seiner Einzelforderungen auf die Wiedergeburt. Er sagte wörtlich unter dem Thema der Treue, die der Herr bei seinen Haushaltern suchte: „Die listigen Geister / so unter der Gottseligkeit nur sich selbst suchen / werden nie ablassen / das Gemüthe wanckend und Partheyisch oder auf eine Seite hängend zu machen. Dawider muß G O T Tes eigene Treue durch die neue Geburt in den Lehrer eingepflanzt werden/ sonst kömmt man nicht unbefleckt davon. Aus dem neuen Wesen des Geistes oder erneuertem Bilde GOttes aber wächst solche Treue und Redlichkeit hervor / davon Paulus redet / l.Cor. IV,l." 1 3 1 Der echte Eifer des wiedergeborenen Menschen war dann auch imstande, übernatürliche Opfer für die Gemeinde zu bringen, vor allem wie Mose und Paulus die Bereitschaft, für sie zu sterben 132 . Da der Eifer in der Amtsführung sich 127 Arnold, aaO, S. 283: Er zitierte hier (ohne Namensangabe) Angelus Silesius: Wem Zeit ist wie die Ewigkeit Und Ewigkeit wie diese Zeit / Der ist befreyt Von allem Streit. 128 AaO, S. 278 (άμαχος) l . T i m . 3,3; 2.Tim. 2,23.24. 129 AaO, S. 301. 130 AaO, S. 322-344, bes. S. 338-344. Es ist bezeichnend, daß Arnold die Liebe als die Quelle fur Ernst und Fleiß besonders hervorhebt, gar nicht den Fleiß an und für sich (S. 332-334), und dabei iiberschwenglich wird: „Und weil dieses Werck" (nämlich die Liebe) „göttlich ist / so bringet es auch göttliche Früchte / daß ein Mensch GOttes zu solchen Wercken geschickt wird / die über die Natur und Gewohnheit sind. Wie solches die Exempel der Heiligen geben / als da einer von Mose anmercket: Die Liebe legte Mosen im Gebet auch so tief danieder / daß er auch vors Volck zu sterben begehrte (2. B. Mos. XXXII, 32) und richtete ihn wiederum durch den Eifer so auf / daß auch viel Volck sterben muste (Gregorius Magnus Lib. X. Moral, c. 7.)" 131 132 AaO, S. 329. AaO, S. 334.

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eigentlich von allein einstellte, sofern man die Aufgabe und Verheißung nur ernst nahm, so war eher umgekehrt davor zu warnen, diesem eigenen Bemühen zu viel zuzutrauen. Hier bedurfte es wieder des Umgangs mit der göttlichen Weisheit 133 . Für die Genügsamkeit und innere Freiheit von Begierden wie weltlichen allgemeinmenschlichen Gewohnheiten bot, wie zu erwarten, Arnold die geistlichen Ehen der Frühchristenheit auf und verwies auf sein Buch vom ehelichen und unverehelichten Leben der ersten Christen 134 . Mit Nachdruck zeigte er, daß nicht die Enthaltsamkeit als solche, sondern die Unabhängigkeit, die Fähigkeit zum Verzicht das Wesentliche daran war, und verwarf jede Form von Zwang, in der einen oder in der andern Richtung. Ehelicher Stand und Ehelosigkeit konnten nebeneinander bestehen. Der Sinn lag auf einer ganz anderen Ebene: „Man hebet an / nicht ihm selbst (gemeint ist: sich selbst) zu leben / sondern wil allein ihn den HErrn auf ewig in sich leben lassen." 135 Das Reinbewahren des Herzens war das Wesentliche, und das konnte auch in der Ehe geschehen 136 . Entsprechendes galt für den Besitz: hier kam es darauf an, daß der äußere Lebensunterhalt gewährleistet wurde, damit nicht die Sorge um die Nahrung den Sinn von den höheren Aufgaben und wahren Inhalten abzog 137 . Daß ein Arbeiter seines Lohnes wert war, galt auch für die Christen und ihre Lehrer. N u r die Gewinnsucht wurde verboten 138 . Ebenso war die Bereitschaft selbstverständlich, dem Bedürftigen abzugeben 139 . Demut, Liebe, die sich in Sanftmut und Geduld im einzelnen auswirkte, Genügsamkeit und Eifer, der sich nicht in einzelnen Kraftakten demonstrierte, sondern in hingebender Treue bei der Aufgabe trotz Enttäuschungen ausharrte - das waren die Eigenschaften, die an einem überzeugenden 133 AaO, S. 343f.: „Eben dieser versprochene Geist der Weißheit wird denn auch seinen Werckzeugen den genauen Unterschied zeigen zwischen dem eigenen Wircken / rennen und lauffen / und zwischen dem wahren Ernst und Fleiß / den er selbst wircket. Denn obschon bey den ungeübten jenes groß Aufsehen und Ruhm machet / so verzehret man doch seine Krafft also umsonst / weil man nicht Gotte nachsehen u. folgen / sondern in eigener Feuerskrafft des Willens durchbrechen wil / und also seinen Lohn von Menschen dahin nimmt. Im Gegenteil über / wäget offt ein einiges in GOtt gesprochenes Wort alle lange Predigten und eifrige Bemühungen der Pharisäer. Und JESUS kan vielen armen Seelen auf einmal klar und bekannt werden / da andere indessen viel Jahre hinbringen mit Aufladung allerley Lehren und Satzungen / dabey sie nicht ein (S. 344) Fünckgen von CHristi Liebe kriegen / ob sie schon als die eifrigsten Lehrer erhoben werden. Das also wohl zuzusehen ist / damit man nicht aus heiml. Ehrgeitz oder anderen falschen Absichten fleißig sey / sondern ja alleine G O T T e s Geist sich zu allem erwecken und treiben lasse. Denn sonst wäre eine heilige und weise Stille viel seliger / als die grosseste Geschäfftigkeit der Natur und Eigenheit". 134

AaO, S. 292 f. AaO, S. 293-302. Wichtig ist dabei, daß Gottfried Arnold die Freiheit als positiven christlichen Wert erkannte (S. 301 f., vgl. auch S. 519, 610). 136 AaO, S. 301, 303. 137 AaO, S. 306-309. Dafür wird Prosper von Aquitanien, De vita contempi. II, 14 angeführt. S. 308 f. 138 AaO, S. 309-311. 139 AaO, S. 318-321. 135

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evangelischen Lehrer in Erscheinung traten. Aber sie bildeten nicht eigentlich Voraussetzungen für sein Wirken, sondern in ihnen wirkte sich der entscheidende Vorgang aus, der ihn auf die Bahn gebracht hatte. Dieser mußte nun in seinem eigentlichen Tun, in seiner Aufgabe und ihrer Erfüllung zum Ausdruck gelangen. Arnold bezeichnete im Einklang mit der reformatorischen und orthodox-lutherischen Überlieferung die Predigt und die Sakramentsspende als den Kern des Amtes. Was sollte gepredigt werden? Nach den Worten des Paulus nichts anderes als Jesus Christus 140 . Die ausschließliche Betonung des Gekreuzigten ließ Arnold weg. Mit guten Gründen. Denn ihm war es nicht um das objektive Kreuz als Zeichen des göttlichen Gerichts über die Sünden oder als Ausdruck der letzten Einsamkeit und Gottverlassenheit Jesu zu tun, sondern um den lebendigen Jesus Christus, um das neue Leben, das aus seiner Auferstehung entsprungen war 1 4 1 . Die ersten Lehrer der Christenheit „verkündigten" Jesus, „nicht als ein todtes und fremdes Wesen / das der Seelen nicht nahe wäre / sondern als GOttes Krafft und GOttes Weißheit" (l.Kor. 1,24) 142 . Noch deutlicher sagte er: „Von diesem JEsu nun zeugten sie nicht nur / wie Er ausser ihnen nach dem Fleisch gewesen war / sondern auch vornehmlich / wie er nach dem Geist in den Gläubigen wohnen und das Erlösungswerck in einem jeden absonderlich vollenden wolle. Diß nennten sie das grosse Geheimniß und den Reichthum der grösten Herrlichkeit / nemlich CHristum in uns Col. 1,26.27. " 1 4 3 „Daß also CHristus nach dem Geist wahrhafftig erkannt und bekannt werden muß / so ferne in ihm der Mensch eine neue Creatur wird 2. Cor. V, 16.17." 144 Jesus Christus war in solcher Verkündigung die neugebärende, umwandelnde Lebenskraft, das Licht, das, wie es der Presbyter Hesychius beschrieb, einer Sonne gleich die Wolken vertrieb, die der Satan aufgetürmt hatte 145 . Auch die Lichtmystik Symeons des neuen Theologen zog Arnold in ihrer eindrücklichen Bildsprache heran 146 . Auf den lebendigen Glauben kam alles an, auf den Nachvollzug von Jesu Sterben und Auferstehen - nicht auf den äußeren historischen Bericht davon, dem eine bloße äußere Annahme seines Verdienstes entsprach. So habe auch Luther in seinen Anfängen richtig gepredigt und geschrieben 147 . Das wahre Evangelium, so betonte Arnold abschließend, „ist nichts anders als JEsus CHristus selbst / welcher in den Gläubigen wohnen und bleiben 140

AaO, S. 345-349. Das läßt sich nicht in exakten Zitaten erweisen, sondern liegt als Gesamtanschauung der Gedankenfiihrung überall zugrunde. Es begründet die aufs ganze gesehen optimistische, auf die Z u k u n f t gerichtete Betrachtung des Menschen im Pietismus. Nur Zinzendorf weicht mit seiner Kreuzestheologie hiervon ab und lenkt zur Reformation zurück, insbesondere zu Luther. An Einzelstellen wären bei Arnold etwa S. 549f., 552, 555, 561, 133f., 263, 371 zu nennen. 142 143 AaO, S. 346. AaO, S. 346 f. 144 145 AaO, S. 347. AaO, S. 352 Hesych. Presb. De temperanza Cent. II c 94 seq. 146 147 AaO, S. 353 f. AaO, S. 354-370. 141

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wil / damit er das Werck der Erlösung in ihnen nach allen Staffen vollenden m ö g e " , w o f ü r er sich auf die Abschiedsreden im Johannesevangelium (Joh. 14,21.23, J o h . 15,4.5, Joh. 17,22.23) und auf Eph. 3,17.18 berief 1 4 8 . Solchen Glauben oder besser: solches Christusgeschehen i m eignen Herzen m u ß t e der rechte evangelische Lehrer persönlich erfahren, u m es weitergeben zu können; er m u ß nach O f f b . 3,20 unablässig mit seinem Herrn das Abendmahl halten 1 4 9 . Predigen war d e m g e m ä ß kein intellektueller, sondern ein dramatisch-sakramentaler Vorgang. Von da aus wird noch einmal verständlich, daß Arnold von aufgeschriebenen, gedanklich durchgepflügten, von sprachlich gefeilten, auswendig gelernten und dann hergesagten Predigten nichts hielt. Es war der Vorgang, der sich den Angesprochenen mitteilte, auf sie übertrug. Aber wie hätte er das können, w e n n nicht der Vortragende ihn selbst hätte und authentisch von ihm zu berichten imstande war? Wie stand es aber nun mit der Predigt des Gesetzes, die nach Luthers Auffassung und nach der evangelisch-lutherischen Tradition, aus der A r nold kam, n o t w e n d i g mit der des Evangeliums verknüpft war und ihr als erster Schritt vorausgehen mußte? Gottfried Arnold schränkte hier gegenüber der Uberlieferung wesentlich ein. Er ließ die Gesetzespredigt für die „rohen Sünder" 1 5 0 bestehen, aber auch nur als Ausgangspunkt für das Gesetz des Geistes oder das Gesetz Jesu Christi. Darauf eilte er zu. Das achte Kapitel des Römerbriefes bildete das eigentliche Glaubensbekenntnis des Christen, das siebente w u r d e rasch übersprungen. Das Gesetz Jesu Christi, die Liebe, die er ausstrahlte und demgemäß wieder erwarten konnte, war es, was den Christen wirklich band, und das führte wieder auf den vertrauten persönlichen U m g a n g mit ihm, auf die „inwendige Zucht der Weißheit", worin der evangelische Lehrer geübt sein mußte 1 5 1 . Er hatte ja festzustellen, ob seine Gemeindeglieder noch unter dem Gesetz waren, oder schon, wie es sich für Christen gehörte, unter der Gnade 1 5 2 . Seine Hauptaufgabe bestand, wie immer wieder eingeschärft wurde, in der Überleitung geistlicher Kräfte von Jesus Christus auf sie, die dann das Wachstum ihres inneren Menschen, der neuen Kreatur, vorwärtstrieben 1 5 3 . Vielleicht überrascht es, daß Arnold der Gesetzespredigt überhaupt noch einen Platz gewährte. Seine Erörterung der Sanftmut legte den Schluß nahe, daß das Evangelium, die Heilsbotschaft, allein genug wäre, und auch 148

AaO, S. 371. AaO, S. 372f.: „Und gewißlich muß ein wahrer Evangelischer Lehrer mit dem HErrn JEsu in seinem Hertzen recht bekannt und gemeinschafftlich / oder gleichsam familiär seyn. Er muß ihn auf sein Anklopffen ins Hertz gelassen haben / und das Abendmahl stets mit ihm essen und trincken / nach Offenb. Joh. III, 20". 150 AaO, S. 374. 151 AaO, S. 376-384; „inwendige Zucht der Weißheit" S. 376. 152 AaO, S. 388-393, insbes. S. 390. 153 AaO, S. 449 f. 149

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hier, wo er das Gesetz zum Thema machte, fiel der Ton darauf, daß die Liebe Gottes, nicht die Furcht vor seiner Strafe der Sünde wegen zur Buße treiben müßte 1 5 4 und „die theuren Verheißungen des Evangelii", womit er auf die Teilnahme an der göttlichen Natur (2.Petr. 1,4), seinen Lieblingsgedanken, anspielte, die Menschen „von den irdischen Begierden ab- und zum himmlischen Wandel mit Christo bringen" würden 1 5 5 . Die Kirchenväterzitate, die er einstreute, vor allem aus Johannes Chrysostomus 1 5 6 und Maximus Confessor bezeugten ebenfalls mit Nachdruck die Überlegenheit des Evangeliums. Ja, unversehens setzte Arnold das Gesetz Gottes mit den willkürlichen, bedrückenden Menschensatzungen gleich, die aus dem Herrschaftswillen der geistlichen Machthaber stammen, brachte also, biblisch gesprochen, das Alte Testament in der Rolle der rabbinischen Zusätze zu ihm 1 5 7 . Wenn er der Gesetzesverkündigung nicht völlig den Abschied gab, so offenbar deshalb, um an ihr einen doppelten Gegensatz aufzuweisen, einmal den zwischen Eigenleistung und frei geschenkter göttlicher Gnade, sodann den zwischen dem neuen und dem alten Menschen. Denn das Gesetz gehörte zur Situation des alten Menschen. „Der Geist GOttes 154 AaO, S. 385 f. : „Solte nun der so gute GOtt / der uns arme ohne Verdienst liebet / nicht mehr Beyfall vor seine Liebe zu gewarten haben / w o sie nur recht kund würde / als durch Androhung seiner harten Strafen? Da er doch die Menschen nicht von Hertzen strafft / sondern nur zu Nutz / ja die Straffen / die sich die allerboßhafftigsten selbst über den Halß ziehen / haben keinen andern Zweck / als daß sie nur sollen f r o m m werden / und ein gut Hertz zu G O t t fassen / und an ihm hangen lernen / so wil G O T T die Plagen lieber wegthun / als die Menschen damit belegen! Ach / solten wir den guten G O T T recht kennen lernen / wie lieblich solten wir von ihm zeugen! Wir solten ihn nicht so rauh abmahlen / da er doch lauter Liebe ist." Diese Sätze könnten bei einem Theologen der Aufklärung stehen. Erst die Fortsetzung bringt den pietistischen Ton stärker zum Klingen: „Denn die Leute wissen nicht einmal recht / was Sünde ist: Sie machen bald dieß bald jenes zur Sünde / da doch der Geist der Wahrheit bezeuget / daß dieses die allergrösseste (S. 385) Unglaubenssünde sey / daß G O T T nicht recht erkant / und so knechtisch von ihm gezeuget wird. Die Alten haben in vielen Stücken den Schaden solcher unreinen Lehre bekant / der denen Hertzen nur den Geist der knechtischen Furcht einprediget. 2.Tim. I, 7. Rom. VIII, 14." Es ist bemerkenswert, daß Luthers wiederholte Feststellung, daß der Unglaube die größte Sünde sei, hier abgewandelt und in einen andern Zusammenhang gebracht, wiedergekehrt bzw. noch lebendig ist. Zu Luther vgl. z.B. WA 18, 782, 13. 155 Arnold, aaO, S. 389: „Wenn mans demnach kurtz und deutlich zusammenfassen solte / so muß ein Lehrer an sich und seinen Zuhörern daran probiren / ob sie noch unter dem Gesetz oder unter der Gnaden sind. Nemlich wenn sie sich durch die theuren Verheissungen des Evangelii haben von den irdischen Dingen und ihren Lüsten und Begierden ab- und zum himmlischen Wandel mit CHristo bringen lassen / so stehen sie in der wahren Krafft des Evangelii. Hänget man aber seinem eigenen natürlichen Sinn in Fleisches-Augen- und Hoffahrts-Lust (obschon unter dem Schein des Guten bey frommen Reden und Wercken) nach / so ist man unter dem Anspruch / Verdammung und Fluch des Gesetzes / welches sein Recht im Gewissen fordert und exeqviret. Nach diesem unfehlbaren Kennzeichen prüfete Paulus die Seinigen Rom. VI, 14." Vgl. a. S. 378f. 156 AaO, S. 387 f. 157 AaO, S. 380f., 386f.

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dringet bey denen / die dem Evangelio noch nicht redlich und durchgehende folgen / mit seiner scharffen Zucht auf die Buße und wahre völlige Verläugnung." 1 5 8 Es erinnerte an Luther selbst, wenn er die rechte Zuordnung der beiden Größen, Gesetz und Evangelium, als unerläßlich für den Prediger ansah. Aber während es dem Reformator um die rechte Verhältnisbestimmung zu tun war, also eine grundsätzliche, mit theologischem Denken zu lösende Aufgabe gestellt war, ging es dem Pietisten um die rechte Anwendung, also um eine praktische Notwendigkeit. Wenn er feststellte, daß der falsche gesetzliche Eifer gewöhnlich mit einem falschen Trösten gepaart war, so daß das allzu harte Strafen der Sünde von einem allzu raschen Zuspruch der Vergebung begleitet wurde, noch ehe Buße gewirkt sei 159 , so setzte er einerseits den mystisch-spiritualistischen Tadel an der „billigen Gnade" fort, wie sie die institutionelle Kirche spendete 160 . Andrerseits empfahl er sich so als Nachfolger Luthers, als Wiedererwecker der verschütteten reformatorischen Tradition, wie sie ursprünglich gewesen war. Das entsprach genau der pietistischen Generallinie, und die gewisse Zwiespältigkeit, die darin lag, das eigentümliche Schillern zwischen zwei gegensätzlichen Verwurzelungen und Tendenzen, das das Gesamturteil so erschwert, galt auch für ihn als einen fuhrenden Theologen der Bewegung. Im Grunde könnte Gottfried Arnold damit schließen. Alles Wesentliche war gesagt, der Werdeprozeß eines evangelischen Lehrers geschildert, seine Eigenschaften aufgezählt, seine Aufgabe beschrieben. Aber es ist bezeichnend, daß er noch einen längeren Abschnitt den Wirkungen des Lehramts widmete. Darin spiegelte sich die neue Zeit, die mehr nach der Nützlichkeit fragte als nach der Wahrheit, mehr nach dem Ergebnis als nach dem Angebot. An die Spitze stellt er die bewegenden Klagen so mancher enttäuschter Pfarrer, die keine sichtbare Frucht ihrer Bemühungen sahen. Ihnen gab Arnold zu bedenken, daß sie offenbar noch nicht das Elementare 158 AaO, S. 382-384. Eingangssatz: „Es entstehet aber das gesetzliche Lehren und Zwang meist aus dem ungestorbenen Eigensinn und Hochmuth / wenn ein Prediger immer gerne etwas zu herrschen und zubefehlen haben will". 159 AaO, S. 390. 160 AaO, S. 392f.: „Nemlich man wird offt wahrnehmen können / daß die jenigen Prediger / welche ihren Eifer am meisten mit denen so genanten Gesetzpredigten abkühlen und sehen lassen / gemeiniglich dabey desto excessiver / unbesonnener und liberaler mit Falschem Trost zu seyn pflegen. Womit sie denn meynen / das Gesetz und Evangelium aufs beste geprediget zu haben. Allein sie müssen täg-(S. 393)lich erfahren / daß alle solch Straffen und Trösten nichts fruchtet / und die Leute unbewegt und unverändert dabey bleiben / ja noch viel ärger werden / weil sie solches steten Scheltens und falsschen Tröstens und absolvirens gewohnt sind. Die Ursache ist überhaupt der Mangel des Heiligen Geistes / von welchem solche confuse Lehrer sich selbst nicht regiren lassen / und doch von andern immer Gehorsam fordern. Insonderheit aber fehlets an der wahren Weißheit / indem sie geschwind mit dem Trost fertig seyn / ehe noch die Bestraffung etwas wircken können".

Dies war vielleicht der Ursprung der mystisch-spiritualistischen radikalen Kirchenkritik, auf alle Fälle eines ihrer Hauptthemen.

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im Pfarramt begriffen hatten: Alles, was gelang, war nicht eigner Leistung, Geschicklichkeit und Treue zuzuschreiben, sondern dem wirkenden Gott selbst. Es lag an niemandes eigenem Rennen und Laufen, und gerade Hochbegabte und Leistungsfähige wie Paulus mußten das ganz konkret lernen 161 . Aber es gab auch Gründe für den Mißerfolg: Die meisten gingen zu früh ins Lehramt, d. h. ins Pfarramt und erzeugten dort nur unzeitige Geburten 1 6 2 . Schuld war ihre Ungeduld, die keine Saat reifen lassen konnte, vielleicht aber auch ihre Bequemlichkeit oder ihr Erfülltsein von äußeren Sorgen um die Nahrung, ihre Beschäftigung mit der Familie und mit der Verwandtschaft und Freundschaft 163 . Hingegen würde das eigene Beispiel des Lehrers, sein innerer Kampf und sein Wachstum in der neuen Geburt seine Hörer ergreifen und auf seinem Wege nachziehen 164 . Man kann immer wieder nur zum Ernst mahnen, zum Ablegen von Menschenlehre und Menschensatzungen, zum Verzicht auf eigene Klugheit und Einfälle, weil bei einem rechten evangelischen Lehrer Gott durch das ganze Tun und Sein hindurchscheinen und hindurchklingen muß. Der majestätische Ernst, um nicht zu sagen, die majestätische Strenge des Heilsgeschehens drückte sich darin aus, und Arnold sagte eindrucksvoll: „Was aus GOtt zu G O T T sol gekehret werden / das muß auch aus GOtt geboren seyn / und nicht aus menschlichen Sinn und Willen / Menschen zu gefallen." 165 Vorstellungen, wie der Papst sie hegt, als müßten ganze Völker auf einmal zum Christentum bekehrt werden, waren falsch, sie hatten keinen Grund im Neuen Testament und führten unvermeidlich zur Anwendung von Gewalt in enger Verbindung mit dem weltlichen Arm, mindestens zum Mitläufertum mit dem Landesherrn im Glauben, und das war nichts anderes als Menschenfurcht, Götzendienst, Sklaverei 166 . Anfechtungen konnten gar nicht ausbleiben bei solchem eigenmächtigen Handeln, das Stückwerk bleiben mußte 1 6 7 . Denn die Eigenmächtigkeit war die Hauptversuchung, wie Arnold im Einklang mit der romanischen Mystik der Frau von Guyon urteilte 168 . Eigenmächtigkeit war Vermessenheit; gegen sie konnte man nie genug kämpfen. Man konnte sich hier auch sehr täuschen, wenn man etwa die von außen kommenden Anfeindungen und die im Innern quälenden Anfechtungen schon als Zeichen ansah, daß man ein bewährter Theologe geworden war. Sie stellten häufig nur das Anfangsstadium des Reifepro161

162 163 Arnold, aaO, S. 509f. AaO, S. 511. AaO, S. 514. 165 AaO, S. 520. AaO, S. 513. ">