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German Pages [384] Year 2005
V&R
Forschungen zur systematischen und ökumenischen Theologie Herausgegeben von Christine Axt-Piscalar und Gunther Wenz
Band 106
Vandenhoeck & Ruprecht
Magnus Schlette
Die Selbst(er)findung des Neuen Menschen Zur Entstehung narrativer Identitätsmuster im Pietismus
Vandenhoeck & Ruprecht
Bibliografische Information D e r Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über < h t t p : / / d n b . d d b . d e > abrufbar. ISBN 3-525-56333-7
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Inhalt
Einleitende Bemerkungen Teil I Frömmigkeitsgeschichtliche Voraussetzungen des Pietismus
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lutherischen
1. Nachreformatorische Frömmigkeit 1.1. Zum Begriff der Erbauungsliteratur 1.2. Kirchen- und Theologiekritik in Valentin Weigels Dialogus De Christianismo 1.3. Nachreformatorische Erbauungsliteratur am Beispiel von Stephan Praetorius' Traktaten Von der Gülden Zeit 1.4. . . . und Philipp Nicolais Freudenspiegel des ewigen Lebens . . . 1.5. Nachreformatorische Frömmigkeit 2. 2.1. 2.2. 2.3. 2.4. 2.5. 2.6. 2.7. 2.8.
Johann Arndts „Vier Bücher vom wahren Christentum" Zur Wirkungsgeschichte des Buches Kirchen- und Theologiekritik Arndts Bußverständnis Zum Verhältnis von Schöpfungstheologie, Anthropologie und Frömmigkeit Selbstreflexivität des Gläubigen Empfindsamkeit des Glaubens Die Kosmologie des vierten Buches Die Frömmigkeitslehre des Wahren Christentums im Spiegel der Forschung
Johann Arndts Kosmologie und das Naturschöne im Kirchenlied 3.1. Protestantische und pietistische Naturfrömmigkeit im Kirchenlied am Beispiel von Paul Gerhardts „Geh aus mein Herz und suche Freud" 3.2. . . . und Gerhard Tersteegens „Gott ist gegenwärtig"
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3.
4.
Philipp Jakob Speners „Pia desideria" und die collegia pietatis
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76 86
91
6
Inhalt
4.1. Spener und Arndt 4.2. Großgebauers Wächterstimme und Speners Cramer-Vorrede von 1667 4.3. Die Pia Desideria von 1675 4.4. Die Kontroverse um Rechtfertigung und Wiedergeburt bei Spener 4.5. Das Frankfurter collegium pietatis
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Teil II Religiöse Sinnbildung und Autobiographik im Pietismus
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1. 2. 3. 4. 5. 6.
Zur Familienähnlichkeit pietistischer Erbauungsliteratur . . . Strukturmerkmale religiöser Sinnbildung in der pietistischen Erbauungsliteratur . . . und als methodologisches Problem frömmigkeitsgeschichtlicher Forschung Pietismus als soziales Deutungsmuster Psychologische Aporie religiöser Sinnbildung im Pietismus . Religiöse Funktion der pietistischen Autobiographie
Teil III Textanalysen zur frühen pietistischen Autobiographik 1. 1.1. 1.2. 1.3.
August Hermann Franckes „Lebenslauff" Leben und Werk Franckes Der Begriff „Lebenslauf" „Gott hat mir eine Liebe zum wort Gottes . . . von Kindes Beinen an ins Hertz gesencket": der Anfang 1.4. „Indessen fand ich auch in meinem Gemüht wenig Ruhe ...": der Bekehrungsweg 1.5. „Denn wie man eine Hand umwendet...": die Konversion . . 1.6. Die Strukturlogik religiöser Sinnbildung bei Francke 2. Phänotypische Varianten pietistischer Sinnbildung 2.1. Johann Henrich Reitz' Historie Der Wiedergebohrnen 2.2. „... ein rechter Schmertzens = Mann": die Historie von Johann Philipp Burcken 2.3. „Gott hat michs auß Empfindung gelehret": die Historien von Samuel Schumacher und von P. St
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130 138 144 161 165 177
181 189 189 193 198 224 239 246 259 259 264 271
Inhalt
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2.4. „... und erquickte mich in der Liebe meines Gottes": die Autobiographie von Eleonora Pertersen, geb. Merlau 2.5. Abschließende Überlegungen zur Phänotypik religiöser Sinnbildung im Pietismus
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Teil IV Autobiographik und Selbst(er)findung
301
1. 2. 3. 4.
301 314 330 347
Reflexive Selbstsymbolisierung . . . als Semantisierung zuständlichen Bewusstseins . . . durch Narrativierung des Glaubenslebens Identitätsbildung in der Moderne: zwei Varianten
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Literaturverzeichnis
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Register
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Einleitende Bemerkungen Die vorliegende Arbeit zur Entstehung narrativer Identitätsmuster im Pietismus versteht sich ihrer Zielrichtung nach als philosophische Untersuchung. Das bedarf der Begründung. Denn gewöhnlich setzen Philosophen sich mit begrifflichen Problemen auseinander, und wenn sie historisch arbeiten, tun sie es entweder so, d a ß sie sich zur Formulierung, Klärung oder Lösung eines begrifflichen Problems auf Thesen und Argumente beziehen, die in der Philosophiegeschichte formuliert worden sind, oder eben so, daß sie die philosophische Ideengeschichte als Geschichte der Formulierung, Klärung und Lösung begrifflicher Probleme selbst zum Gegenstand ihrer Forschung machen. Diese etwas saloppe Skizzierung dessen, was Philosophen machen, beruht natürlich auf einem seinerseits problematisierbaren und keineswegs allgemein geteilten Vorbegriff von Philosophie. Sie ist aber nötig, damit klar wird, was ich meine, wenn ich diese Arbeit als philosophische Untersuchung bezeichne, und an welchen Maßstäben sie sich damit messen lassen soll. Denn in dem genannten Sinne scheint die Auseinandersetzung mit der Frömmigkeitsgeschichte des Pietismus kaum philosophisch sein zu können. Weder hat diese nämlich Thesen und Argumente hervorgebracht, die f ü r die begriffliche Arbeit in der Philosophie relevant wären, noch hat sie irgendwie - jedenfalls nicht unmittelbar - zur Ideengeschichte der Philosophie beigetragen. Deshalb ist sie bisher auch nirgendwo zum Gegenstand einer philosophischen Untersuchung gemacht worden. Die einschlägigen Veröffentlichungen auf diesem Gebiet können vielmehr vor allem der Theologie und der Kirchengeschichte, in geringerem Maße auch der Germanistik, in noch bescheidenerem Ausmaß der Kunst- und Musikgeschichte, der Psychologie und Soziologie zugeordnet werden. Zur Probe möge man im Literaturverzeichnis alle diejenigen Titel hevorsuchen, in denen der Name Pietismus oder verwandte Namen vorkommen, und diese dann wissenschaftlichen Fächern zuordnen. Dann gelangt man in etwa zu der genannten Liste an Einzeldisziplinen, in denen im übrigen nichts weniger als philosophische Forschungsinteressen verfolgt werden. Wie also kann eine Arbeit, deren Gegenstand laut Untertitel die Frömmigkeitsgeschichte des Pietismus ist, philosophisch sein, ohne der erklärten Verwendung des Philosophiebegriffs zu widersprechen? Sie kann es durch den Aufweis, daß begriffliche Probleme einen Sitz im Leben haben, daß sie auf Krisen der Handlungsorientierung beruhen, sol-
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Einleitende Bemerkungen
chen, die einmal vorlagen oder noch vorliegen; und diesen Aufweis kann sie wiederum so leisten, daß das begriffliche Problem sich aus der Auseinandersetzung mit der praktischen Krise und ihrer Lösung als ein philosophisch relevantes ergibt. Wenn sie das vermag, hat sie nicht nur behauptet und begründet, daß begriffliche Probleme in solchen der Praxis gründen, sondern sie hat dieses Fundierungsverhältnis in ihrer eigenen gedanklichen Entwicklung nachvollzogen, indem sie nämlich ihren Ausgang von einer Präsentation des Handlungsproblems nahm und auf ihrem Fortgang aus diesem Handlungsproblem und dem Umgang mit ihm das begriffliche Problem entfaltete. Ein solches Verfahren könnte man auch als einen Ubergang - ich sage nicht Aufstieg - der Untersuchung vom scheinbar unphilosophischen Konkreten zum philosophischen Allgemeinen bezeichnen, wobei hier von einem Ubergang statt eines Sprunges - nur dann die Rede sein kann, wenn das philosophische Allgemeine bereits im - deshalb eben bloß scheinbar - unphilosophischen Konkreten verborgen gelegen hat und nun aus seinem Versteck ins Licht gezogen wird. Sollte die Strahlkraft dieses Lichtes bemängelt werden, so kann das allenfalls dem Verfasser zur Last gelegt werden, nicht aber dem Verfahren, dessen er sich befleißigt. Das Handlungsproblem und seine Lösung, durch deren Rekonstruktion diese Arbeit der Erschließung ihres genuin philosophischen Gegenstandes den Weg bereiten will, beruht auf einer Destabilisierung lebenspraktischer Orientierungen im Spannungsfeld der nachreformatorischen Konfessionsbildung. Die pietistische Frömmigkeitspraxis ist eine Reaktion auf dieses Problem, die historisch etwas ermöglicht hat, was man rückblickend als die soziale Institutionalisierung narrativer Identitätsbildung und die charakterologische Ausprägung des homo narrans, also eines Typus narrativer Selbstverhältnisse, bezeichnen kann. Damit stecken wir nun aber schon inmitten der begrifflichen Probleme. Denn was genau das ist, wird erst dann ganz deutlich, wenn der Begriff der narrativen Identität philosophisch problematisiert worden ist. Gemäß dem Anspruch des Ubergangs vom Konkreten zum Allgemeinen steht diese Problematisierung ganz am Ende der Arbeit. Konkret ist ihr Anfang und verfahrenslogisch konsistent ihr Fortgang nämlich nur dann, wenn das Material nicht unter die philosophischen Begriffe subsumiert wird und nur zu deren historischer Veranschaulichung dient, sondern wenn die Verwendung der Begriffe sich allererst aus der Interpretation des historischen Materials heraus plausibilisieren oder gar fordern läßt. Es soll im Durchgang durch das Material überhaupt erst einmal eine Nachfrage nach den Begriffen erzeugt werden, bevor die Philosophie dann dem Leser ihr Angebot unterbreitet. So ist denn von narrativer Identität erst im abschließenden vierten Teil der Arbeit die Rede, wenn sie sich als der Begriff der Sache selbst von deren Exposition und Inter-
Einleitende Bemerkungen
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pretation her dem Leser der Arbeit geradezu intuitiv aufgedrängt hat. Dann aber, in seiner abschließenden philosophischen Problematisierung, wird er auch als ein solcher erkennbar, der einen untergründigen Zusammenhang aufdeckt zwischen dem Selbstverständnis der modernen Menschen und dem der Pietisten vor gut 300 Jahren. Zum Aufbau der Untersuchung: Der erste Teil entfaltet die Krise der nachreformatorischen Frömmigkeit und die Antwort, welche die Erbauungsliteratur des Pietismus darauf gegeben hat, durch eine Präsentation von für diese Thematik einschlägigen Quellen. Der zweite Teil formuliert auf der Grundlage des ersten Teils eine heuristisch intendierte Hypothese über die Strukturlogik religiöser Sinnbildung im Pietismus. Diese Hypothese wird im dritten Teil durch ein close reading einer Auswahl wiederum einschlägiger religiöser Autobiographien im Pietismus überprüft. Im vierten Teil schließlich wird der Zusammenhang zwischen der am Material aufgewiesenen Strukturlogik religiöser Sinnbildung im Pietismus und dem Begriff der narrativen Identität aufgezeigt. Während also der erste und der dritte Teil wesentlich aus Materialpräsentationen und -analysen bestehen, ziehen der zweite und der vierte Teil, als Zwischen- und Schlußbetrachtungen, aus den Ergebnissen des Materialstudiums jeweils begriffliche und theoretische Schlußfolgerungen. Zusammenfassend führen die begrifflich-theoretischen Partien der Arbeit drei Hauptthesen aus. Erstens hat der Pietismus des 17. und des frühen 18.Jahrhunderts als soziales Deutungsmuster mentalitätsgeschichtlich wesentlich zu der Wende von einem repräsentationalen zu einem expressiven Modell personaler Identität beigetragen. Die religiöse Autobiographik ist das soziale Medium, in dem diese Wende am besten dokumentiert ist. Die Sozialethik des Pietismus fordert von den Gläubigen aus religiösen Gründen, ihre Bewußtseinsinhalte zu analysieren und zu verbalisieren. Das geschieht neben institutionalisierten faceto-face-Interaktionen, etwa in pietistischen Konventikeln, vor allem in Briefen, Autobiographien und Lebensläufen. Zweitens ist die Form der sprachlichen Artikulation religiösen Erlebens, vor allem des sensitiven Evidenzerlebens der Gottesgegenwart, welche im Zentrum der pietistischen Religiosität steht, konstitutiv für den Gehalt dieses Erlebens. Neue Formen der Expressivität entwickeln sich in dem sozialethisch geforderten Prozess der Verbalisierung des Erlebens, das dadurch prägnanzbildend strukturiert wird. Den semantischen Reichtum dieser Verbalisierung entlehnt der Pietismus größtenteils den Traditionen der katholischen und protestantischen Mystik. Vor allem aber: Die symbolisch vermittelte Beziehung des Gläubigen auf seine Erlebnisgehalte wird von der pietistischen Erbauungsliteratur als eine narrative angesonnen, die Rekapitulation der eigenen Lebensgeschichte spielt in ihr
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Einleitende Bemerkungen
eine große, als Konversionserzählung eine religiös entscheidende Rolle. Insofern nun der Pietismus zu einem „expressivist turn" (Ch. Taylor) personaler Identität beiträgt, enthält er drittens in sich die Bedingungen seiner alltagspraktischen Säkularisierung. Die neue Expressivität befreit sich schließlich von ihrer religiösen Fundierung und führt eigendynamisch nicht nur in die Hochperiode des ästhetischen Expressivismus im Sturm und Drang, und auch die Praktiken narrativer Identitätsbildung versiegen nicht im 19.Jahrhundert, in einer Kultur des Selbstbekenntnisses und der Selbstoffenbarung gesinnungsethisch gepflegter und auratisierter Innerlichkeit, sondern beides wirkt in dem Stellenwert fort, der noch in der Gegenwart expressiven und narrativen Selbstverhältnissen als Bestandteil eines guten Lebens eingeräumt wird. Die Arbeit wurde im Sommersemster 2002 vom Fachbereich „Philosophie und Geschichtswissenschaften" der Johann Wolfgang GoetheUniversität in Frankdurt am Main als Dissertation angenommen. Sie verdankt Professor Ulrich Oevermann wesentliche konzeptuelle und methodische Anregungen. Dank gilt außerdem den Mitgliedern des Ständigen Forschungspraktikums von Professor Oevermann, in dem ich einige für meine Arbeit einschlägige Quellen vorgestellt habe, für das Interesse und Engagement, mit dem sie mir bei der Erschließung der Texte gemäß der Kunstlehre der objektiven Hermeneutik geholfen haben, sowie den Mitgliedern des Heidelberger Graduiertenkollegs „Religion und Normativität" für rege und anregende Diskussionen. Der Heidelberger Universität bin ich für ein Stipendium im Rahmen dieses Graduiertenkollegs zu Dank verpflichtet. Am meisten schulde ich den Lehrern, von denen ich menschlich wie fachlich viel profitiert habe: meinem Deutschlehrer aus alten Leistungskurszeiten OStR. Dr. D. Hubrig sowie meinen akademischen Lehrern apl. Prof. Dr. M. Jung, Prof. Dr. U. Oevermann, Prof. Dr. A. Schmidt und Prof. Dr. R.-R. Wuthenow. Prof. Dr. Chr. Axt-Piscalar und Prof. Dr. G. Wenz danke ich für die Aufnahme der Arbeit in die Reihe „Forschungen zur systematischen und ökumenischen Theologie". Eine Bemerkung zur Zitation aus den Quellen: Variationen der Buchstabengrößen werden in den Zitaten nicht wiedergegeben, Fettdruck, Sperrdruck, Kursivierungen und - zur Hervorhebung lateinischer Ausdrücke - andere Schrifttypen dagegen der Übersichtlichkeit halber einheitlich durch Kursivierung markiert.
I. Frömmigkeitsgeschichtliche Voraussetzungen des lutherischen Pietismus „Mensch werde wesentlich." Angelus Silesius
Für die Rekonstruktion des pietistischen Frömmigkeitstypus ist vor allem die Entstehung des Pietismus von Interesse, also jene Phase seiner historischen Entwicklung, in der sich die später als pietistisch klassifizierten religiösen Vorstellungen, Uberzeugungen und Handlungsformen in Auseinandersetzung mit der Tradition keimhaft auszubilden begannen. Denn es ist zu erwarten, daß sich die Entstehungsgründe für das gegenüber dem kirchlichen Herkommen Neuartige aus dieser liminalen Phase deutlicher herauslesen lassen als aus dem nachfolgenden Prozeß seiner Verkirchlichung und Veralltäglichung. Während sich aber der Beginn der Reformation wie in einem Brennspiegel zu jener symbolträchtigen Szene verdichtet, in der Luther seine 95 Thesen ans Tor der Wittenberger Schloßkirche nagelt, lassen sich die Anfänge des Pietismus weniger leicht personalisieren oder gar lokalisieren. Schon das Wort Pietismus steht als Zeichen für eine unübersehbare Vielfalt religiöser, regional gebundener und einander mitunter auch befehdender Strömungen des Protestantismus, von deren Anfängen ganz zu schweigen.1 Etwas übersichtlicher wird das Bild allerdings, wenn man das Untersuchungsfeld extensional auf die Hauptlinie der religiösen Erneuerungsbewegung innerhalb der lutherischen Kirche des 17. und 1 B.Jahrhunderts festlegt. 2 Diese Beschränkung werden sich die folgenden Ausführungen auferlegen. 1 „Die Geschichte des Pietismus schreiben heißt nicht weniger und nicht mehr als die Geschichte der Protestanten in der Neuzeit - und das sind fast drei Jahrhunderte schreiben" (Godfroid 1977, 110); zu den Wurzeln und der Entwicklung des Pietismus vgl. Brecht 1993a; zur Begriffsgeschichte von „Pietismus" vgl. Wallmann 1989, 972-974; ders. 1990, 7-11. Eine Ubersicht über den jeweiligen Stand der neueren Pietismusforschung gibt die sukzessiv fortgeführte Bibliographie in den Jahrbüchern von Pietismus und Neuzeit. 1 Eine solche Eingrenzung des Pietismus schließt vor allem den radikalen Pietismus aus der Betrachtung aus. In der Forschung wurde der Pietismus häufig sogar mit seiner lutherisch-kirchlichen Variante identifiziert: „Der Pietismus ist die Bewegung zur Erneuerung des frommen Lebens und zu einer solchen Erneuerung dienenden Reform der Kirche gewesen" (Hirsch 1961, 92; Hervorhebung v. mir - M.S.). Allerdings läßt sich die
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Teil I Frömmigkeitsgeschichtliche Voraussetzungen
Dessen Datierung ist allerdings eine Frage der Perspektive. So hatte die Pietismusforschung nach dem Zweiten Weltkrieg vornehmlich entweder ein systematisch-theologisches oder ein kirchengeschichtliches Interesse an ihrem Gegenstand und ließ den Pietismus demzufolge mit Philipp Jakob Speners Pia Desideria, einem umfassenden Reformprogramm für die lutherische Kirche, bzw. den von Spener 1670 in Frankfurt gegründeten Collegia pietatis anfangen. 3 In kirchengeschichtlicher Perspektive erscheint der Pietismus primär als religiöse Gemeinschaftsbildung, die als innerkirchliches Korrektiv von Institutionalisierung und Routinisierung der kirchlich organisierten Religionsausübung wirkte und ihre Innovationen aus der protestantischen Frömmigkeit schöpfte; theologisch interessiert vor allem die systematische Verarbeitung der Frömmigkeitsimpulse in der Lehre. Aber in letzter Zeit hat sich das Interesse stärker auf diese Impulse selbst gerichtet. Wer sich in frömmigkeitsgeschichtlicher Perspektive mit dem Pietismus beschäftigt, läßt ihn lange vor Spener beginnen, in der Zeit um 1600, die durch eine rege erbauliche Produktion - von Erbauungsbüchern im engeren Sinne über Predigtsammlungen, Gebets- und Trostschriften, Gesangbücher und geistliche Dichtung bis hin zu illustrierten Flugblättern - gekennzeichnet ist. 4 Hier liegen die Wurzeln der innerlichkeitsakzentuierten pietistischen Frömmigkeit, die Spener dann im letzten Drittel desselben
Rede vom lutherischen Pietismus auch vom Selbstverständnis seiner Protagonisten her begründen. So haben sich Spener, Francke und Zinzendorf der lutherischen Tradition verpflichtet g e f ü h l t Zinzendorf hat sich indessen ausdrücklich nicht als Pietist verstanden, sondern vielmehr als „vom Pietismus" - den er wesentlich mit Franckes Hallenser Richtung identifizierte - „das Oppositum" (zit.n. U t t e n d ö r f e r 1935, 230). D a ß und in welchem Sinne von den im folgenden behandelten Autoren bei aller Differenz ihrer theologischen Aussagen und gar im Widerspruch zu ihrem Selbstverständnis tatsächlich ausgesagt werden kann, d a ß sie Pietisten waren, ist im weiteren Verlauf der Arbeit allererst zu zeigen. 3 „Als Beginn des Pietismus muß die Veröffentlichung von Speners Pia Desideria gelten" (Schmidt 1957, 373); vgl. ders. 1972; Hirsch 1961; Aland 1975; Wallmann 1979; 1986a. 4 Johannes Wallmann unterscheidet zwischen „Pietismus im weiteren Sinn als Frömmigkeitsrichtung" und „Pietismus im engeren Sinn als einer sozial greifbaren religiösen Erneuerungsbewegung" (Wallmann 1990, 10; vgl. ders. 1979, 46ff.; 1986a, 14). In diesem Sinne spricht Martin Brecht von dem Frömmigkeitsverständnis zu Beginn des siebzehnten Jahrhunderts als „Frühpietismus" (Brecht 1979, 153f). Zu Alltagsfrömmigkeit und Frömmigkeitsalltag des frühen siebzehnten J a h r h u n d e r t s allgemein vgl. Zeeden 1965; Molitor 1976 und M o l i t o r / Smolinsky 1994; van Dülmen 1986; 1994, 55-106; Lehmann 1992. Zum Begriff der Erbauung und der Erbauungsliteratur vgl. Merkel 1971; Krause 1982; M o h r 1982. Zum Frömmigkeitstypus des frühen 17.Jahrhunderts anhand der zeitgenössischen Theologie und Erbauungsliteratur vgl. Zeller 1971; Brecht 1993a; Wallmann 1995; Lehmann 1980, 105-170; ders. 1996; Sommer 1999; die Beiträge in Breuer 1984 und 1995 sowie N i e d e n / Nieden 1999. Zur Frömmigkeit im protestantischen Kirchenlied vgl. Röbbelen 1957 und Bunners 1966. Zur literaturhistorischen Untersuchung der Erbauungslite-
Nachreformatorische Frömmigkeit
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Jahrhunderts theologisch verarbeitet und verkirchlicht hat. Im folgenden wird der lutherische Pietismus in dieser frömmigkeitsgeschichtlichen Perspektive vorgestellt werden. Dazu gilt es zunächst die Ausbildung des den Pietismus vorbereitenden, nachreformatorischen Frömmigkeitstypus und seiner sozialgeschichtlichen Bedingungen nachzuvollziehen, dann seine folgenreichste, weil den Pietismus des 18. und noch des 19.Jahrhunderts maßgeblich prägende Ausgestaltung in der Frömmigkeitslehre des Johann Arndt zu verfolgen und zuletzt die kirchliche Institutionalisierung dieser Frömmigkeit durch Philipp Jakob Spener, den eigentlichen Begründer des lutherischen Pietismus, zu berücksichtigen. Im zweiten Teil der Arbeit sollen die vorläufigen Ergebnisse dann im Sinne der übergreifenden Fragestellung begrifflich reflektiert und systematisch ausgewertet werden.
1. Nachreformatorische
Frömmigkeit
1.1. Zum Begriff der Erbauungsliteratur Der sprunghafte Anstieg erbaulicher Publikationen um 1600 ist ein guter Indikator für die Frömmigkeit dieser Zeit. Denn erbauliches Schrifttum und praxis pietatis stehen in einem internen Wechselverhältnis zueinander. Erbauung bedeutet im paulinischen Sprachgebrauch „die von Gott und Christus ausgehende, von den Aposteln und Propheten, von den Christen untereinander und von jedem einzelnen Gemeindemitglied beim Nächsten und bei sich selbst zu befördernde, als dauernder Prozeß gedachte und besonders im Kultus geschehende Mehrung und Stärkung der Gemeinde Christi und des Glaubens des Einzelnen als eines Gliedes der Gemeinde". 5 Die Erbauungs/iterator betont zumeist - gemäß dem sich an individuelle Leser wendenden Schriftmedium des Buches im Gegensatz zu den dialogischen bzw. gemeinschaftsbezogenen Erbauungsformen Gespräch, Brief, Predigt und Lied - die geistliche Unterweisung des Einzelnen. Dabei zielt sie nicht nur auf gedanklichen Nachvollzug, sondern will ein der christlichen Botschaft gemäßes, frommes Leben bewirken. Andererseits kann Erbauungsliteratur auch dem Ausdruck gelebter Frömmigkeit dienen. Sie hat dann zugleich die Bedeutung religiöser Selbstverständigung im Medium der Sprache. Das ist der Fall in den religiösen Selbstzeugnissen des Pietismus. Sie sollen ratur und der geistlichen Dichtung der Zeit vgl. Krummacher 1976; Kemper 1981; ders. 1987 und 1988. Zu den erbaulichen Flugblättern vgl. Bangerter-Schmid 1986. 5 Krummacher 1972, 602.
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Teil I Frömmigkeitsgeschichtliche Voraussetzungen
dem Leser die individuelle Hinwendung zu Gott erbaulich vorführen und dem Autor als Medium religiöser Besinnung, als „Seelenprotokolle"6 dienen. Grundsätzlich ist die Erbauungsliteratur eben deshalb erbaulich, weil sich in ihr Gläubige aus der Binnenperspektive religiöser Lebenspraxis mitteilen, von Ich zu Du Zwiesprache mit dem Leser zu halten, in seiner Sprache mit ihm zu sprechen vorgeben, der Sprache der religiösen Lebenspraxis. Das unterscheidet sie vom begriffs- und distinktionslastigen Diskurs der Theologie, ja dadurch bildet sie sogar „ein affektives und emotionales Gegengewicht zu ihr".7 Sie artikuliert also eine Frömmigkeit, die mehr oder weniger ausdrücklich kritische Distanz zur Theologie bewahrt. 8 Die Zunahme erbaulicher Publikationen kann mithin dreierlei anzeigen: erstens ein radikalisiertes Frömmigkeitsverständnis zumindest einiger religiöser Virtuosen; zweitens einen Frömmigkeitsmangel in der Bevölkerung (dem durch intensivierte Erbauung des Lesers entgegengewirkt werden soll); und schließlich drittens ein Ubergewicht der Theologie im religiösen Leben der Kirche (das die Erbauungsliteratur zu korrigieren versucht). Das alles trifft jedenfalls zu auf die religiöse Krisenzeit um 1600, die Winfried Zeller durch die Begründung und Ausbildung eines neuen protestantischen Frömmigkeitstypus' charakterisiert hat. 9
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Niggl 1977, 7. M o h r 1982, 43. Dem Spannungsverhältnis von dogmatischer und erbaulicher Literatur in der frühen Neuzeit entspricht im Mittelalter dasjenige von Scholastik und M o n a stik. Vgl. dazu Angenendt 1997, 46 ff. 8 Vgl. dagegen Berndt H a m m s Konzept einer Frömmigkeitstheologie, das die Erbauungsliteratur mitumfaßt, zuletzt ders. 1999: „Mit unterschiedlicher Reflexionsdichte und Informationsbreite, durch Weisung und T r o s t will sie - das ist ihre gesamte Zielsetzung zu einer bestimmten frommen Lebenspraxis anleiten und so der Begnadung des sündigen Lebens, der zunehmenden Heiligung des begnadeten Lebens und der Erlösung des geheiligten Lebens dienen." Gegenüber dem kontrastiv zur Theologie verwendeten Begriff der Erbauungsliteratur hat H a m m s Konzept der Frömmigkeitstheologie den Vorzug, seinen Gegenstand nicht nur als Ausdruck und Ansinnen gelebter Frömmigkeit, sondern zugleich als deren Reflexionsgestalt in den Blick zu bekommen (vgl. H a m m 1977) - aber eben im Unterschied zur diskursiven Theologie als stets und primär auf praktische Wirkung bedachte Reflexionsgestalt. 9 „Es ist eine . . . Tatsache, d a ß das Reformationsjahrhundert während seines letzten Drittels in eine umfassende Frömmigkeitskrise ausmündet . . . Im G r u n d ist es die Krise der dritten nachreformatorischen Generation. Ihr sind die tiefen religiösen Erlebnisse und theologischen Erkenntnisse der Reformatoren nicht mehr selbst errungene und selbst gedachte Wahrheit gewesen. Ihr ist die Reformation mit ihrer Verkündigung vielmehr eine im G r u n d e fertige und damit selbstverständlich gewordene Größe. Im allgemeinen zweifelt man keineswegs grundsätzlich an der protestantischen Position. Aber man ist unsicher, ob und wie einem die kirchlich verkündigte Wahrheit zu eigen werden könne. D a s ist der frömmigkeitsgeschichtliche Befund, von dem jedes Verstehen des 17.Jahrhunderts abhängt" (Zeller 1971, 87). 7
Nachreformatorische Frömmigkeit
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1.2. Kirchen- und Theologiekritik in Valentin Weigels ,Dialogus De Christianismo' Daß ein radikalisiertes Frömmigkeitsverständnis und die Kritik an der herrschenden Lehrmeinung der Kirche einander bedingen, führt Valentin Weigels Dialogus de Christianismo (1584) nachdrücklich vor. 10 Weigel, der in seinen theologischen Schriften das Gedankengut Johann Taulers, der Devotio moderna und der Theologia Deutsch mit demjenigen Luthers zu einer eigensinnigen Form des protestantischen Spiritualismus verbindet, fingiert in diesem Buch den Disput zwischen einem Theologen und einem Laien über die Beschaffenheit der rechten Frömmigkeit. Wem der Sieg in dem religiösen Schlagabtausch der beiden gehört, soll am Ende der Tod als ihr Schiedsrichter entscheiden. Ironischerweise nennt Weigel den Laien einen Auditor, stellvertretend für alle, „so sich durch den geistlichen Standt von der Cantzel, Schrifften, Büchern, Commenten leren, leiten und füren lassen .. . " . n Denn lehren, leiten und führen läßt sich Weigels Auditor in dem Gespräch mit seinem theologischen Kontrahenten, dem Concionator, keineswegs mehr. Hartnäckig vertritt er heterodoxe Vorstellungen vom Glauben und der Erlösung der Gläubigen, die den anderen in arge Bedrängnis bringen. Weigel wollte in dem Theologen den geistlichen Stand unbeschadet der konfessionellen Differenzen zwischen der katholischen und den protestantischen Kirchen typologisieren. 12 Aber aus seinem Zungenschlag, den theologischen Aussagen wie den von ihm angeführten Autoritäten wird schnell deutlich, daß ihm ein Vertreter der lutherischen Orthodoxie Pate stand und gegen sie die Kritik sich vor allem richtet. 13 10 Valentin Weigel wurde 1533 in Naundorf (Sachsen) geboren, studierte Theologie in Leipzig und Wittenberg und war von 1567 bis zu seinem Tod im Jahr 1588 lutherischer Pfarrer in Zschopau bei Chemnitz. Für Winfried Zeller gehört Weigel „zweifelsohne unmittelbar in die lutherische Frömmigkeitsgeschichte am Ausgang des Reformationsjahrhunderts hinein" (Zeller 1971, 90). Martin Brecht zufolge zeigt er, „[w]ie die mystischen, spiritualistischen und naturphilosophischen Strömungen in die lutherische Kirche hineinwirken und diese (nach der Konsolidierung der lutherischen Orthodoxie - M.S.) erneut destabilisieren konnten" (Brecht 1993a, 125). Allgemein zu Leben und Werk Weigels vgl. Israel 1888; zu Weigels mystischem Spiritualismus vgl. Maier 1926, außerdem zur Bedeutung Weigels innerhalb der spiritualistischen und mystischen Strömungen im Deutschland des 17.Jahrhunderts Koyre 1955; zum theologischen Vergleich von Luther und Weigel vgl. Bosch 2000. 11
Weigel 1967, 5. „Concionator oder Predicant begreift - / - Papst, Cardinal, Bischoffe, Prelaten, Doctores, Hohe und Nidrige, alle Ausleger der Schrifft in hohen Schuelen, Consistorien, Stifften, Klöstern e t c . . . . der gantze Stuel Mosi und Petri" (ebd.). 13 „Concionator: Augustana Confessio ist unser Glaube ..." (ebd., 29). 12
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Teil I Frömmigkeitsgeschichtliche Voraussetzungen
Die Kernfrage, um die das Gespräch kreist, ist die Rechtfertigung durch die leibhaftige Einwohnung Christi im Gläubigen. Der Auditor behauptet sie ebenso vehement wie der Concionator sie bestreitet. V o n zeitdiagnostischem Interesse ist aber mehr noch als die theologische Bedeutung der gegeneinanderstehenden Überzeugungen die Art ihrer Begründung und der Gesprächsverlauf. Denn Weigel übt durch die Anlage seiner Figuren hindurch eine beißend ironische Kritik an der Institution der Kirche und an ihren Vertretern. Es ist einzig der Auditor, der sich bemüht, auf der Grundlage biblischer Aussagen zu argumentieren. Der Concionator dagegen führt zur Stützung der eigenen Position lediglich die Autorität seiner theologischen Lehrer an, welcher auch der Laie folgen müsse. Suspekt ist ihm per se alles, was er „uf der Cantzel nie gehöret noch in seinen Schrifften [gemeint sind die theologischen Werke seiner Lehrer - M.S.] gelesen habe". 1 4 So klagt denn der Laie dem Vertreter der kirchlichen Orthodoxie gegenüber ein, was Luther einst gegen die katholische Kirche in Stellung brachte: daß der Gläubige keiner anderen Autorität verpflichtet sei als seinem in der Heiligen Schrift geoffenbarten Gott. 1 5 U n d führt damit in actu ein hermeneutisches Problem vor, das bereits in Luthers Schriftprinzip angelegt ist: wie sich nämlich aus der Bibellektüre des Christen ein richtiges Verständnis des Textes ergibt. 1 6 Die protestantischen Konfessionen mußten hier einen Mittel-
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Ebd., 9. Diese ausschließliche Verpflichtung des Gläubigen gegenüber seinem Gott ist folgerichtig eine des Gewissens. Als der Reichstag zu Worms 1521 Luther wegen seiner religiösen Auffassungen zur Rechenschaft zog, lehnte dieser einen Widerruf unter ausschließlicher Berufung auf den Schriftsinn der Bibel und sein Gewissen ab: „ . . . victus sum scripturis a me adductis et capta conscientia in verbis dei, revocare neque possum nec volo quicquam, cum contra conscientiam agere neque tutum neque integrum sit" (Luther 1883ff, Bd.7, 838). Das Gewissen ist bei Luther „der anthropologische Ort, auf den als den Adressaten hin alle theologischen Aussagen ausgerichtet und an dem sie als Geschehen erfahrbar sind, der deshalb die Bedingung ihres Verstehens ist" (Ebeling 1985a, 109). Ob der Gläubige seiner Verpflichtung denn auch Folge leiste, ist mithin intersubjektiv schwer überprüfbar. Zur Bedeutung der Reformation für die Entstehung des modernen Gewissens vgl. Kittsteiner 1991, 167-175. 16 Zu Luthers Schriftverständnis und Hermeneutik vgl. Ebeling 1991; Lohse 1995, v. a. 204-214. Zum Austrag kommt das Problem der richtigen Bibelauslegung bereits in der Kontroverse zwischen Luther und Erasmus über die Willensfreiheit. Erasmus kann die von Luther behauptete Klarheit der Schrift nicht mit derselben Vorbehaltlosigkeit erkennen (vgl. Ebeling 1991, 324ff.; Lohse 1995, 178ff u. 21 Iff). „Lutherund Erasmus sind geschieden durch das Verständnis von ,mysterium'. Für Erasmus ist mysterium etwas Verstecktes, nämlich die über unser Begreifen hinausgehenden Rätsel Gottes, die ihren Niederschlag darin finden, daß sie der Schrift den Charakter des Dunklen und Zweideutigen verleihen. Für Luther dagegen ist mysterium nicht etwas neben oder hinter der Offenbarung Gottes, nichts sie in ihrer Klarheit Einschränkendes, sondern eben die Offenbarung selbst als Glauben fordernde Offenbarung in der V e r b o r g e n h e i t . . ( E b e l i n g 1991, 325). Und wie die Schrift ihrer Klarheit gemäß nach ihrem Wortsinn ausgelegt werden muß, so 15
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weg finden zwischen seiner autoritären Vermittlung im Sinne der theologischen Kommentatoren in der katholischen Kirche einerseits und seiner völligen, zwangsläufig kirchenfeindlichen Subjektivierung spiritualistischer Provenienz andererseits. 17 Wie Rudolf Mohr zeigt, hat Luthers Reduktion des Kirchenamtes auf eine rein „technische [] N o t wendigkeit" 1 8 ohne Anspruch auf den von der katholischen Kirche behaupteten qualitativen Unterschied zwischen kirchlichen Amtsträgern und Laien der Krise des Amtsverständnisses im Spiritualismus und dann im Pietismus Vorschub geleistet. 1 9 Weigels Kontrahenten im Dialogus finden keinen common ground, auf dem sie zueinander kämen. Der Concionator wird charakterisiert wie vordem von den Protestanten die katholischen Prälaten. H a t ihn sein Widerpart schon fast so weit, daß ihm dessen heterodoxe Ansich-
ist das angemessene, die rechte Auslegung allererst bedingende Verständnis der Schrift eine Funktion allein des Glaubens als der gewissentlichen Beziehung des Menschen auf Gott, die sich indessen nicht schon vor dem, sondern allererst durch das W o r t und im Vernehmen des Wortes konstituiert - Oswald Bayer hat vorgeschlagen, diesen Zusammenhang durch die Bestimmung der Verkündigung als einer performativen Sprachhandlung aufzuhellen (vgl. Bayer 1989). „Sola scriptura" und „sola fide" stehen also in einem internen Zusammenhang. U n d in diesem Zusammenhang ist die Möglichkeit fortschreitender Subjektivierung des Schriftverständnisses im Sinne seiner Entinstitutionalisierung und individuellen Diversifizierung strukturell angelegt. Andererseits wird sie durch das Schriftprinzip aber auch in Schranken gehalten. Denn „sola scriptura" bedeutet zugleich auch „sola scriptura". So muß sich der P r o z e ß der Subjektivierung des Schriftverständnisses dann sogar noch potenzieren, wenn das Schriftprinzip selbst - durch die Ergebnisse historischer Bibelkritik - in die Krise gerät, aber der Weg zu vorreformatorischen Positionen f ü r Protestanten nicht seriös gangbar ist. Zur „Krise des Schriftprinzips" vgl. Pannenberg 1967, 11-21; zur Bedeutung der Krise des Schriftprinzips in der gegenwärtigen evangelisch-lutherischen Kirche vgl. Rothen 1990. 17 Luther selbst beanspruchte diesen Weg mit sola scriptura und sola fide gefunden zu haben. Er setzt sich gleichermaßen polemisch mit den „Papisten" wie mit den „Schwärmern" auseinander. „Die hermeneutische Konsequenz", so f a ß t Ebeling Luthers Position zusammen, „ist bei den Schwärmern im G r u n d e dieselbe wie bei den Papisten: Die heilige Schrift bedarf zu ihrem Verständnis des Geistes als einer zweiten Offenbarungsquelle, die nun die Papisten materialisieren im kirchlichen Lehramt des Papstes, während die Schwärmer sie spiritualisieren als O f f e n b a r u n g des Geistes in der Innerlichkeit des Einzelnen. Beide verfehlen die Einheit von W o r t und Geist in der Schrift" (Ebeling 1991, 314. Vgl. dazu ebd., Kap. IV, Abschn. 2 u. 3). 18 M o h r 1976, 143. 19 „Zu den Pfarrern, die mit ihrem Amtsverständnis in eine tiefe Krise geraten sind, zählt auch Valentin Weigel . . . D e r D r a n g nach Eigenständigkeit in der Frömmigkeit f ü h r t Weigel von einer einwandfreien, an der Augsburgischen Konfession orientierten Theologie über den Versuch ihrer Verlebendigung mit Hilfe von Gedanken aus der deutschen Mystik und der Naturphilosophie von Paracelsus schließlich zu einer völligen Entfremdung dem Luthertum gegenüber, ja zu einer Identifikation des lutherischen Predigerstandes mit dem Antichrist. In dem entsprechenden Gegensatz dazu sieht er erfülltes Menschsein bei den Laien verwirklicht" ( M o h r 1976, 160).
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ten einleuchten, 20 da zieht er die Notbremse: „Wenn ich solche Dinge reden solte uf der Cantzel, so hiessen sie mich einen Ketzer unnd Verfürer und jagten mich von meinem Ambte und Dienste mit Weib und Kindt, das ich mit andern nicht wolte ubereinkohmen in der Lehre." 21 Am Ende ist es schiere Existenzangst, die ihn auf dem kirchlichen Weg bewahrt. Die Konfessionsbildung zwingt ihn zur Eindeutigkeit seiner religiösen Uberzeugung. Abweichungen sind nicht verstattet. Dagegen lehnt der Auditor, aus dem Weigel selbst spricht, alle Konzessionen an die Institution der Kirche mit spiritualistischer Radikalität ab. 22 Folgerichtig ist er auch Gegner der Konfessionsbildung, in der er nur eitles menschliches Machwerk erkennen will. 23 Offenbar wurzelt seine kompromißlose Haltung aber in religiöser Verunsicherung, denn sein Bestreben um Verinnerlichung und Subjektivierung des Glaubensvollzugs begründet er auch unter Verweis auf die einander relativierenden Geltungsansprüche der vielen Konfessionen und Religionen. 24 Doch vor allem bemängelt er die fehlende religiöse Hingabe der Menschen. Dabei sieht er einen internen Zusammenhang zwischen der vermeintlich mangelhaften Frömmigkeit der Menschen und der Konfessionsbildung. Wenn die Zugehörigkeit und das Bekenntnis zu einer Konfession das dringendste Anliegen der Gläubigen sei, werde die Zweisamkeit ihrer Beziehung zu Christus um weltlicher Geltungssucht willen zerstört. 25 In der Konfrontation von Concionator und Auditor bringt Weigels Dialogus exemplarisch den religiösen Konflikt zur Darstellung, der laut Zeller das letzte Drittel des Reformationsjahrhunderts bestimmt. 26 Aus der Binnenperspektive der religiösen Lebenspraxis erscheint die Kirche als eine gefestigte Größe, die nicht der Verbreitung der göttlichen Botschaft und der fürsorglichen Kräftigung des Glaubens, sondern ihrer ei-
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„Ich dürfe schier von dir bewegt werden, das ich das innere Wortt - / - auch zuliese neben den eussern" (Weigel 1967, 43). 21 Ebd., 47. Vgl. auch 58: „Von dieser Lehre kan ich nicht weichen bis in den Tod. Ich hab ein Eyd gethan, bey diesen Büchern [der lutherischen Theologie, voran der CA M.S.] zu bleiben, habe mich auch unterschrieben. Solte ich daruon lassen, so würde ich vorketzert und zum Lande ausgetrieben". 22 Der Auditor überschreitet „alle Bindungen ,an Institution, Buchstaben, Sakrament, Amt', die den Anhänger der ecclesia spiritualis, als deren Vertreter sich Weigel trotz seines Verharrens im Pfarramt fühlt, auf seinem Heilsweg nur hindern. Der Auditor nimmt seinen Ausgang auf dem Pfad, der zur christlichen Selbsterkenntnis führen soll, bei dem Buchstaben der Schrift, aber am Ende erhebt er sich zu Gott selbst und erreicht die unvermittelte Vereinigung, die ihm durch Christus vorgewiesen ist und durch die er sich ihm angleicht" (Wimmel 1981, 33). 23 Vgl. Weigel 1967, 66f. 24 Ebd., 68 f. 25 Vgl. ebd., 29f, 40. 26 Vgl. Zeller 1971, 87; 97 f.
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genen Selbsterhaltung als Institution im theologischen Lehrstreit mit den anderen Konfessionen dient. Weigel schlägt sich auf die Seite des einzelnen Gläubigen und löst die individuelle Frömmigkeit aus der kirchlichen Institution heraus, die - so ließe sich seine Position paraphrasieren - das religiöse Leben zwar orthodox zu normieren beansprucht, aber zu seiner Entfaltung und Intensivierung nichts beiträgt. Seine Kritik am Theologenstand teilt er mit anderen lutherisch-protestantischen Erbauungsschriftstellern der Zeit. Sie bemühen sich ebenfalls um eine Vertiefung und Verlebendigung der Glaubenspraxis, allerdings zumeist ohne die heterodoxe Radikalität Weigels. Vielmehr versuchen sie, Erneuerung im Rahmen der Kirche herbeizuführen und grenzen sich ausdrücklich von sektiererischen Strömungen ab. Aufschlußreich für das Frömmigkeitsverständnis in der lutherischen Kirche zu Beginn des 17.Jahrhunderts sind allein schon die Titel einiger der prominentesten Erbauungsbücher dieser Zeit: Ob die zweibändige Sammlung von Predigten und Traktaten des Salzwedeler Pfarrers Stephan Prätorius, posthum herausgegeben unter dem Titel Von der Gülden Zeit (1622), oder Philipp Nicolais Freudenspiegel des ewigen Lebens (1599), Valerius Herbergers Herz-Postillen (1613) oder Johann Arndts Gebetsbuch Paradiesgärtlein (1612) - die Rezeption wird durch ein sinnlich und affektiv gefärbtes Vokabular auf den religiös-erbaulichen Inhalt der Texte eingestimmt. Der Leser soll ihnen nicht nur mit dem Verstand, sondern vor allem mit Gefühl und Einbildungskraft folgen.
1.3. Nachreformatorische Erbauungsliteratur am Beispiel von Stephan Praetorius' ,Von der Gülden Zeit' Praetorius' 58 Schöne / Außerlesene / Geist- vnd Trostreiche Tractätlein / Von der gülden Zeit27 wenden sich mit enthusiastischer Verheißung der Seligkeit an die Gläubigen, welche sie in allen ihren Lebenslagen gegen die Anfechtungen der Sünde stützen und zu einem freudig erlebten 27 Praetorius 1622. Stephan Praetorius, laut Johannes Wallmann „[bedeutendster Vorläufer der pietistischen Frömmigkeit" (Wallmann 1990, 14), wurde 1536 in Salzwedel geboren. 1551 begann er das Studium der Theologie an der Universität Rostock, wurde 1555 Kantor an der Marienkirche. Nach verschiedenen kirchlichen Anstellungen kehrte er in seine Geburtsstadt zurück und wurde dort 1565 zum Pfarrer in der Neustadt erwählt. In Salzwedel erlebte er auch die Pestseuche von 1580. Er starb 1603. Seine 58 Traktate erschienen einzeln in den letzten Jahrzehnten des 16.Jahrhunderts, bevor sie von Johann Arndt gesammelt und 1622 in einer zweibändigen Ausgabe erneut herausgegeben wurden. Bereits 1636 erschienen dann Auszüge daraus unter der Herausgeberschaft von Martin Statius und dem Titel Geistliche Schatzkammer. Teilausgaben seiner Traktate zu erbaulichen Zwecken waren bis ins 19.Jahrhundert hinein üblich.
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Christentum hinführen sollen, das sie auch in Zeiten größter Not vor der Verzweiflung bewahre. Dazu wertet Praetorius seine von „Pestilenz / Krieg vnd Kriegesgeschrey" 28 wie von „auffgeblasenen / stoltzen / hoffertigen Gelehrten" 2 9 gezeichnete Epoche in eine „gülden Zeit" um: „Ist das nicht eine Güldene Zeit / mitten in der höhesten Angst vnd Schwachheit / ein Herr vber alles Leyden / Ja / vber Sund / T o d t / Teuffei vnd Hell seyn / in Christo / denn wir haben ja nicht empfangen den Geist der Welt / daß wir vns abermahl fürchten dürffen / Sondern den Geist aus G O t t / auff daß wir wissen können / wie reichlich wir von G O t t begnadet und begäbet seyn . . . " Dieses Wissen gründet Praetorius in den religiösen Empfindungen des Gläubigen. Denn des Christen „gantzes Hertz ist ihm durch die Süssigkeit des himlischen Friedens vnnd Frewden durchzuckert / daß es mehr denn Englisch / ja gantz Göttlich ist". 30 Solche „Süssigkeit" verdanke er seiner Gewißheit um die Heilswirkung der Taufe, deren unablässige Vergegenwärtigung im Leben des Gläubigen Praetorius' Frömmigkeitsverständnis prägt. „Das Wasser macht vns nun selig", beginnt etwa eine längere Textpassage, die dem Leser seine durch die Taufe erwirkte Rechtfertigung suggestiv nahebringt: „Hie werden wir selig. Hie geschieht der herzliche Anfang. Hie durch dz rote Wasser / aus den wunden Jesu Christi in die Tauff geflossen . . . Hie auff Erden geschieht die iustißcation. Hie wird den gleubigen zugerechnet die gantze Heiligkeit Jesu Christi. Hie wird Christus / dz herzliche vnd köstliche Kleid der Frewden angezogen. Hie gehet die Braut in der pracht Gottes. Denn alsbald ein Mensch mit dem reinen Wasser besprenget wird / stehet G O t t für ihm / und rechnet ihm sein lebenlang keine Sünde mehr zu / sondern eitel und ewige Gerechtigkeit / das ist die allerschönsten Tugende seines lieben Sohns. Hie werden wir GOttes Kinder. Hie werden wir Tempel des H. Geistes." 31 Das Zeitadverb „hie" fixiert die Heilswirkung auf einen distinkt bestimmbaren Augenblick, den die Gläubigen durch seine retrospektive Vergegenwärtigung als Stütze in Lebenskrisen erlebnishaft evozieren, 32
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Praetorius 1622, 1. Bd., 12. Einen seiner 58 Traktate widmet Praetorius ausdrücklich der Pest (vgl. Praetorius 1622, 2. Bd., 446ff), die er als „eine Probierung unsers Glaubens" deutet (ebd., 448). 29 Praetorius 1622, 1. Bd., 14. Praetorius' Meinung von der theologischen Gelehrsamkeit seiner Zeit ist - wie bei anderen zeitgenössischen Erbauungsautoren auch - gering: „Denn alles wissen zu dieser zeit / ist leider fast nichts anders / denn nichts wissen / nicht gleuben / nicht froelich noch fewrig seyn / Gott nicht lieben noch loben. Vnd solcher vnser Vnverstand / mit vnnützen Fragen bementelt / sol eine grosse Klugheit seyn" (Praetorius 1622, 1. Bd., 17). 30 Praetorius 1976, 9. 31 Praetorius 1622, 1. Bd., 29f. 32 „Daß uns aber die Seligkeit in der Tauffe geschenckt wird / koemmet daher / Denn
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wenn auch nicht genügsam artikulieren können, ist doch die Freude des Frommen über seine Taufe so unaussprechlich wie die Schönheit der Getauften - „kein Poet noch Orator", wie gewaltig er auch ist, vermöchte der „newen Gestalt und Mayestet" gerecht zu werden, welche sie „mit newen himlischen Ornamenten gezieret", 3 3 diese heiligen reinen Engel, 3 4 angetan mit weißen und hellen Kleidern, „eitel Gnadenkinder / vnd Zuckerkinder", 3 5 die in der Urkirche, wie Dionysius Areopagita berichtet habe, mit köstlichen Balsamen und Ölen gesalbt worden seien, 36 wohlriechend wie Violen oder Rosen, und gar so schön, d a ß Gott selbst nach ihnen seufze und sich sehne. 37 Eben darin haben Praetorius' Traktate ihren Einsatz: dem einzelnen diesen himmlischen Liebreiz in dringlichen Worten herzinniglich zu vermitteln. „Aber gehorch lieber Bruder", verpflichtet der Autor in Krancken Trost seinen Leser auf frohen Lebensmut, „Alle deine Sünde / welche dich jetzt im Gewissen quelen / sind dir schon lengst von G o t t durch Christum vergeben. Vnnd wenn derselbigen tausendt mahl mehr wehren / so sind sie dir doch schon vergeben. Denn alsbald das erste Füncklein warhafftiges Glaubens an Christum in dir angegange ist / vn du getaufft bist / ist die gantze last aller deiner Sünde von dir genomen / vnd du bist eine newe selige Creatur worde . . . Denn wo Glaube vnnd Tauffe ist / da ist keine Sünde mehr / sondern eitel vnnd ewige Gerechtigkeit." 3 8 Das Diktum simul iustus et peccator der lutherischen Rechtfertigungslehre wird psychologisch hintertrieben, denn, gewiß, die Sünde „mag da wol seyn", aber der durch seinen Glauben gerechtfertigte Mensch erfährt seine Sündhaftigkeit „eben so / als sündigte er nicht mehr". 3 9 Die GOtt wil einen sonderlichen Ort / Zeit und Mittel haben / an welchem / zu welcher / vnd durch welches er die hochgebenedeyte Seligkeit seinen lieben Auserwehlten wil zueygenen / Auff daß sie wissen / vnd sich darauff berufen moegen / wider ihre grosse Schwachheit / wider des Teuffels fewrige Pfeile / vnd wider ihr so vielfeltiges leiden / wo wann / vnd wodurch sie ihr Heyl vberkommen haben / vnnd sich desto gewaltiger damit trösten" (ebd., 31). 33 Ebd. 34 Ebd., 198. 35 Ebd., 279. 36 Ebd., 208. 37 „... vnd Gott spricht zu im [dem Getauften - M.S.]: Du bist mein lieber Son / an welchem ich gefallen hab. Du bist meines hertzen lust / spricht er / liebes Kind / ich kan dich nit satt anschawen. Liebes Kind / wie bistu doch so seuberlich und schöne? Ach zeige mir doch deine gestalt. Ach wende von mir deine gestalt / denn du machst mich zu brünstig" (ebd., 279). 38 Praetorius 1622, 2. Bd., 502. 39 Ebd. Im Traktat „Vom wahren Glauben / und seiner Krafft" heißt es: „Denn so ists beschlossen im ewigen Rathe Gottes / daß da keine Sünde mehr seyn solle / wo der Glaube an Christum ist. Da sollen die Sünde dem Menschen nicht mehr zugerechnet werden / er habe ihrer auch so viel / als er wolle / Sondern er sol in dem ansehen bey Gott seyn
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Gnadenwirkung Jesu gründet Praetorius mithin nicht im Hören auf das verkündigte Wort allein, sondern in der Gewißheit einer affektiven Heilserfahrung, welche den unwidersprochen objektiven Tatbestand des simul iustus et peccator subjektiv in ein solus iustus aufhebt. Sie gipfelt in einer sinnlich anmutenden Vereinigungserfahrung des Gläubigen mit seinem Gott, denn „es sencket sich Gott der HERR von vbermessiger Liebe in seine Kinder / vnd schüttet sich vber sie rein aus / vnnd vereiniget sich mit denselben / Das sie in ihm vnd er in ihnen sey". Und dann die sich des Lesers versichernde Nachfrage, die an die Evidenz und Beglaubigung göttlicher Gegenwart in der Erfahrung appelliert: „Fühlen wir diß nicht? Denn was ist doch vnser Himmelreich / vnd was tröstet doch vnser arme hochbetrübte Hertzen in allen anstössen vnnd Anfechtungen am meisten / als das süsse Lüftlein der gnaden Gottes / welchs sich vns zuweilen zu kosten gibet? Vnd vnsere bitterkeit lindert?" 40 Praetorius' Erbauung ist ganz auf atmosphärisches, empfindungsbetontes Heilserleben des Individuums aus.
1.4. ... und Philipp Nicolais,Freudenspiegel des ewigen Lebens' Daß die erbaulich angesonnene Empfindungsintensität des Glaubens und das Ausdrucksbegehren des Gläubigen einander wechselseitig ergänzen, ja steigern, ist dabei offenkundig. Das gilt aber nicht allein für Praetorius' „Tractätlein". Philipp Nicolai hat es an einer Stelle im Freudenspiegel des ewigen Lebens ausdrücklich und aufschlußreich thematisiert. 41 „O der vnaußsprechlichen Glori / der grossen Frewde / deß seligen Guts / vnd der ewigen Herrlichkeit / die wir dort erleben werden", evoziert er ganz ähnlich wie Praetorius im Uberschwang seiner euphorisierten Einbildungskraft die Vorstellung des Himmelreichs, „vnd davon es im himlischen Frewdensaal allenthalben leuchtet / zum seligen Trost vnd zu seliger Erquickung aller Kinder deß Liechtes / und bleiben / als sündige er nicht mehr / welchsja ein herrlichs unaussprechlichs Privilegium ist / das uns nimmer aus dem Hertzen kommen sol" (Praetorius 1622, 1. Bd., 198). 40 Praetorius 1622, 2. Bd., 56. 41 Philipp Nicolai, geboren 1556 in Mengeringhausen/ Waldeck, wirkte als Pfarrer in Herdecke, von 1587 bis 1596 in W i l d u n g e n / Waldeck, danach in U n n a / Westfalen und zuletzt als Hauptpastor an St. Katharinen in Hamburg, w o er 1608 starb. Winfried Zeller hat ihn als „Bahnbrecher der neuen Frömmigkeit" zu Beginn des 17.Jahrhunderts gewürdigt (Zeller 1971, 90). Aus seinem Freudenspiegel des ewigen Lebens haben vor allem zwei Lieder Verbreitung in der lutherischen Kirche gefunden (vgl. EKG Nr. 48 u. Nr. 121). Zur Biographie Nicolais vgl. Rocholl 1860; zur Frömmigkeit vgl. Lindström 1939 und, komprimiert, Zeller 1970, 6 7 - 7 9 ; speziell zum Freudenspiegel des ewigen Lebens vgl. Steinmeier-Kleinhempel 1991; vgl. ebenfalls die Nicolai-Bibliographie von ders. 1993.
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welche den Teuffei / die Welt / vnd alle Anfechtung durch Christus Blut vberwunden haben. Ο des edlen wunderschönen Paradeyses / der herrlichen Statt Gottes / vnd deß himlischen Landes Canaan / da es gibt eytel Frewde Hügel vn Trostberge / die von eytel Trostmilch vnd Frewden Honig fliessen / vn da Gott ist alles in allen. Wie muß es doch seyn ein wunderschöne Welt / ein lustiger Ort / ein liebliche Wohnung / ein prächtiger Frewdegarte / vn ein Königreich voll alles Trostes / voll aller Gnaden / vnd voll aller vnaussprechlicher Frewde / " 4 2 In diesem expressiven Duktus fährt Nicolai fort, er zieht den Leser in die Strömung eines durch wiederholte Interjektionen, Anaphern und Reihungen rhythmisierten Sprachflusses, aus dem immer wieder die gleichen Begriffe: Leben, Licht, Freude, Trost und Seligkeit auftauchen und sich dem Gedächtnis einprägen. „O du seliges Leben", hebt der nächste Absatz an, „O du ewiges seliges Leben" der folgende. Aber dann springt Nicolai überraschend auf eine andere Sprachebene. Er reflektiert sein Ausdrucksgebaren und kommt zu der pointierten Einsicht, die Licht auf die Funktion von Erbauungsliteratur im Leben ihrer Produzenten und Leser wirft: „Vn je mehr ich dir [dem ewigen Leben - M.S.] nachdencke / vn deine Lieblichkeit vn Süssigkeit behertzige / je mehr die Liebe / Begierd vn Verlangen nach dir in mir wächßt vnd zunimpt." 43 Eine - und die im Text des Freudenspiegels durchgängig vorgeführte - Form des Nachdenkens und der Beherzigung des ewigen Lebens ist Nicolais expressive Artikulation seiner Freude auf das Himmelreich und seine dereinstige Gemeinschaft mit Gott. Das in dem zuletzt zitierten Satz ausgesagte Bedingungsverhältnis schließt die Frömmigkeit als eine religiöse Lebenseinstellung auf, die - wird der Kontext emphatischer religiöser Imagination, in dem Nicolai diese Aussage macht, gebührend berücksichtigt - nicht nur nach Ausdruck drängt, sondern durch diesen intensiviert, wenn nicht hervorgebracht wird; unverkennbar Nicolais Wissen darum, daß Sprache als Medium des Glaubens für seine Bewahrung und Intensivierung konstitutiv ist. Deswegen wird man in seinem Ausdrucksgebaren auch ebensoviel Ausdruck wie Gebaren suchen dürfen. Die rhetorisch kunstvollen Satzgebilde geben ihm wohl kaum seine Gefühle ein, sondern sie sind das Ergebnis eines sprachlichen Gestaltungsprozesses, der seinerseits nuancierend auf seine Frömmigkeit zurückwirkt. So gelingen ihm auch Sentenzen, denen selbst heutige und religiös „unmusikalische" Leser ihre schlichte Schönheit kaum werden abstreiten können: „Vnd Gott wirdt abwischen alle Thränen von vnsern Augen / vnd vnsere Klage verwan-
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Nicolai 1963, 3. Nicolai 1963, 4.
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dein in einen Reigen", 4 4 lautet seine Adaption einer Verszeile aus Psalm 30. 45 Ähnlich wie Praetorius evoziert auch Nicolai die christliche Heilswirkung in Bildern von großer Empfindungsintensität: „O daß es [das Wort Gottes - M.S.] möchte durch K r a f f t vnd Wirckung deines heyligen Geistes / wie ein Liecht in vnsern Hertze brennen / vnd fliessen wie ein fruchtbar Regen / der auff das G r a ß treufft / vnd fallen / wie ein T h a w / der das Kraut befeuchtet". 4 6 Wieder greift der Autor auf eine dazu prominente - alttestamentliche Vorlage, das Lied des Mose in D t r 32, zurück, 4 7 doch hier wie dort zitiert er nicht bloß, sondern verwandelt den Referenztext der Expressivität seiner Sprache an. Und ändert den Sinngehalt des verarbeiteten Materials. Während nämlich in der Bibel Regen und Tau die Unaufhaltsamkeit der Botschaft versinnbildlichen, die Moses Lied den Israeliten vermitteln soll, drängt Nicolais Adaption auf individuelle Verinnerlichung der Verkündigung: d a ß sie brenne „wie ein Liecht in vnsern Hertze"! Die innerliche Heilswirkung des Wortes im Gläubigen sollen nun solche elementaren Naturphänomene wie Regen und Tau sinnlich konkret vergegenwärtigen. Innerlich möge das „heylige[] Wort" „fliessen" wie Regen und „fallen" wie Tau. Der Sitz dieser Vorstellung im Leben ist die taktile Empfindung des Regens auf der H a u t und das atmosphärische Erleben der feuchtigkeitsschwangeren Luft in der Morgen- oder Abenddämmerung. Der Adressat der Erbauung wird in Bildern somatischen Empfindens und atmosphärischen Erlebens angesprochen, die an die affektiv-sinnliche Selbsterfahrung des Individuums appellieren. Doch ebenso wie Nicolais Ich nach Ausdruck drängt, weiß es sich im Ausdruck nicht erschöpft, denn: „Wie soll ich von der Frewde deß ewigen Lebens vollkömlich reden vnd schreiben / da ich sie nicht kan vollkömlich verstehen / noch mit Gedancken vollkömlich erreichen? Vnd was mir nicht allerding ins H e r t z kompt / wie soll ich das allerding auff die Zunge bringen / vnd gäntzlich in die Feder lauffen lassen?" 48 Solche und ähnliche Formulierungen sind zwar charakteristisch für die Erbauungsliteratur der Zeit, die immer wieder das Unvermögen der profanen, weil irdischen, menschlichen Sprache betonen, ihren sakralen Gegen-
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Ebd., 1. „Da hast du mein Klagen in Tanzen verwandelt, / hast mir das Trauergewand ausgezogen und mich mit Freude umgürtet" (Ps 30,12. Zit.n. Deissler/ Vögtle 1985). 46 Nicolai 1963, 6. 47 „Meine Lehre wird strömen wie Regen, / meine Botschaft wird fallen wie Tau, / wie Regentropfen auf das Gras / und wie Tauperlen auf die Pflanzen" (Dtr 32,2. Zit.n. Deissler/ Vögtle 1985). Der Vers steht im Zusammenhang einer enthusiastischen Lobpreisung Jahwes, die Mose dem Volk der Israeliten vorträgt, bevor ihn sein Gott aus dem Leben abberuft. 48 Nicolai 1963, 6. 45
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stand angemessen zu repräsentieren. Nicolai bestreitet jedoch keineswegs, von der Freude des ewigen Lebens reden und schreiben zu können, sondern nur, daß er es „vollkömlich" zu tun vermöchte. Er behauptet mithin auch keinen unüberwindbaren hiatus zwischen dem jenseitigen und dem diesseitigen Leben. Wie unvollkommen auch immer er sie ausdrückt, durch ihre expressive Antezipation: als Freude auf und über das ewige Leben scheint die Freude des ewigen Lebens, also die dem ewigen Leben eigene Freude, ja mit ihr das ewige Leben selbst für Nicolai in das Diesseits hineinzureichen. Solche Zweideutigkeit der Freude spricht auch aus dem Titel des Erbauungsbuches: Freudenspiegel des ewigen Lebens meint zweierlei: das Abbild der im ewigen Leben empfundenen Freude 49 und die freudige Vergegenwärtigung des ewigen Lebens. 50 Aber recht verstanden bedeutet beides dasselbe in nur verschiedener Hinsicht: die freudige Vergegenwärtigung des ewigen Lebens ist gebunden an das „abbildende" Medium der Sprache, wie andererseits die erbauliche „Abbildung" der Freude nicht anders gemeint sein kann als im Sinne ihres lebendigen wie verlebendigenden Nachvollzugs (und welchen Sinn sollte wiederum dieser Nachvollzug haben, wenn nicht den der Vorstellung des ewigen Lebens selbst, dessen Beschaffenheit sich in der ihm eigentümlichen Freude entbirgt?). Repräsentation und Expression der Freude des ewigen Lebens sind unlöslich miteinander verknüpft. Wenn Nicolai beteuert, er könne sie weder „vollkoemlich verstehen / noch mit Gedancken vollkoemlich erreichen" oder gar „gaentzlich in die Feder lauffen lassen", dann heißt das, die hier und jetzt empfundene Vorfreude des ewigen Lebens sei zu groß, als daß Kopf und Herz ihrer mächtig würden. Nicolai spricht von ihr nicht als einer Privation der zukünftigen, himmlischen Freude, sondern als einer dem ewigen Leben so sehr angemessenen, daß kein irdischer Ausdruck sie jemals „vollkoemlich" würde artikulieren können - „[O] wol dem Volck (sagt David) das jauchtzen kann". 51 In der sich gegen ihre Artikulation sträubenden Vorfreude auf und über das ewige Leben ist dieses selbst im Hier und Jetzt gegenwärtig. Zwar ist es allein die „unvollkömliche" Sprache, mittels derer Nicolai das ewige Leben zur inneren Vorstellung bringt. Aber innerhalb der Dialektik von Empfindung und sprachlicher Artikulation gesteht er der Empfindung den Primat über ihren Ausdruck zu. Wenn das ewige im diesseitigen Leben subjektiv als gegenwärtig erfahren 49
In diesem Sinne spricht Nicolai ζ. B. vom Gesetz als einem „Spiegel der Göttlichen Weißheit" (Nicolai 1963, 177). 50 Z u r Spiegelmetapher in mittelalterlichen Buchtiteln vgl. Grabes 1973; speziell zu Nicolais Buchtitel Steinmeier-Kleinhempel 1991, 85-91. 51 Nicolai 1963, 7.
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wird, dann in der Freude, die in Antezipation des Himmelreichs selber himmlisch und deshalb letztlich unausdrücklich in der irdischen Sprache ist. Unterscheidet sich die laut Nicolai im Himmelreich empfundene Freude überhaupt qualitativ von der Vorfreude auf Erden, dann darin, daß sich ihr ein vollkommener Verstand zugesellt. Ihm ist das ewige Leben vollkommen faßlich: „Wenn wir werden zu dir kommen / Ο du Brunn der Weißheit / . . . / daß wir dich nicht / als durch ein Spiegel im tunckeln Wort / sondern von Angesicht zu Angesicht sehen...". 52 Das ewige Leben charakterisiert Nicolai durch die Metapher des Sehens. „O Du frommer treuwer Gott...", lehrt er seine Leser beten, „...[I]ch wil dich in jenem Leben im Schawen kennen...". 5 3 Im Himmel, und erst dort, werde sich Gott dem Gläubigen „sichtbarlich" offenbaren. „Wir werden ihn sehen . . . wie er ist", 54 frohlockt Nicolai, und „aller menschlicher Schmuck und Schönheit [ist] eitel Kinderspiel / vnnd arm Stümpelwerck / gegen der wundertröstlichen vnd allerschönesten Gestalt der aller heyligsten Dreyfaltigkeit / so sich in jenem Leben ereugnet / vnnd sich mit grossen Freuwden herrlich sehen lässt". 55 Erkenntnislogisch bedeutet Gottes Sichtbarkeit „von Angesicht zu Angesicht" eine Steigerung gegenüber dem „tunckeln Wort", in das die irdische Sprache den Menschen verstrickt. Keine Trübung seines Verstandes soll dann mehr den Gläubigen von seinem Gott trennen, und so glaubt der Autor des Freudenspiegels auch die Freude im ewigen Leben von klarer, anschaulicher Erkenntnis beschwingt - Nicolais Imagination der dereinstigen Sichtbarkeit Gottes ist geprägt von der Sprache und den Verheißungen des Ersten Johannesbriefs. 56 Fraglich ist allerdings, ob das erbauliche Ansinnen der Freude auf das ewige Leben allein hinreicht, um sie dauerhaft zu erregen. Realistisch ist vielmehr, daß sie dem Gläubigen hier und da einmal aufblitzt, und das am wenigsten in Zeiten der Not, in denen die Menschen die jeder Freude eigene Unbeschwertheit einbüßen und das ihnen zugesagte Heil ferner denn je scheint. Tatsächlich gründet Nicolai sie in der Liebe Gottes, die, unerschütterlicher, innerlicher als die ihrem Wesen nach augenblickshafte und daher stets gefährdete Freude, diese verstetigen oder doch immer wieder aufs Neue soll erregen können. Wie Gott die Menschen herzlich liebe, so wolle auch er von ihnen „hertzlich wider 52
Ebd., 67. Ebd., 157. 54 Ebd., 38. 55 Ebd., 40. 56 In 1. Joh 3,2 heißt es: „Liebe Brüder, jetzt sind wir Kinder Gottes. Aber was wir sein werden, ist noch nicht offenbar geworden. Wir wissen, daß wir ihm ähnlich sein werden, wenn er offenbar wird; denn wir werden ihn sehen, wie er ist" (zit.n. Deissler/ Vögtle 1985). 53
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geliebet seyn". Deshalb mache er die Gegenliebe zum „Hauptmandat aller Gebotten". 57 Und wie vor dem Sündenfall, im Paradies, einem Ort inniger und unmittelbarer Liebe zwischen Gott und dem noch unschuldigen Menschen, 58 so „brennet / leuchtet vn wettert" es auch im ewigen Leben, das den Gläubigen dereinst erwarte, „von heyliger fewriger Liebe / vnd in heyliger reiner fewriger Liebe / sind sie alle / nemlich die Engel und Menschen mit Gott und in Gott.. .'\ 5 9 Auch diese Passagen lesen sich als sprachlich empfindsame Ausgestaltung des Ersten Johannesbriefes, dessen Autorität Nicolai in den Dienst seiner eigenen religiösen Sendung stellt: „Gott ist die Liebe / vnd sein Wesen ist eitel lauter Liebe." 60 Zur liebevollen Gemeinschaft mit Gott im ewigen Leben sieht Nicolai den vom Sündenfall her zwar in statu nascendi, aber nicht in toto verdorbenen Christen ein Wiedergeburtsgeschehen führen, das sein Leben lang andauert, sukzessiv die urzuständliche Gottesebenbildlichkeit des Menschen wiederherstellt und im Tod als „Durchbruch zur himmlischen Herrlichkeit" 61 kulminiert. 62 Es lehrt ihn hören auf seines Gottes Wort, seine Sünden bereuen, die Verkündigung glauben und erhöht den durch seinen Glauben gerechtfertigten Sünder in den „Brautstand" der liebevollen mystischen Vereinigung mit Jesus Christus, die ihn erneuert „durch Krafft vnd Wirckung deß heyligen Geistes" und „mit neuem Gehorsam anzündet", Gott und seinen Nächsten zu lieben, dagegen die Sünde zu hassen. 63 Dem Licht in einem Brennspiegel gleich bündelt sich bei Nicolai - wie bei Praetorius - die Erneuerung des Sünders in der positiven Heilserfahrung der unio mystica. Sie festigt das Glaubensleben des Christen in seinen täglichen Anfechtungen, und so „nimpt er darinn von Tagen zu Tagen zu / vnd wächset an Kräfften" solange er nur in lebenslanger Bußhaltung verharrt. 64 Weil aber der Glaube mit der Liebe des Gläubigen zu seinem Gott steht und fällt, so ist auch sie in das stete Wachstum „an Kräfften" einbezogen, und wiederum aus dieser Liebe heraus die Freude und immer neue Freude des ewigen Lebens. Es kann also die Freude nicht ohne Liebe sein, aber doch wohl andererseits auch die Liebe nicht ohne Freude. Das ist ja das Anliegen des 57
Nicolai 1963, 25. Vgl. ebd., 183 f. 59 Ebd., 17. 60 Ebd., 27. 61 Wallmann 1990, 13. 62 Vgl. Nicolai 1963, 262f Zu Nicolais Anthropologie und imago dei - Lehre vgl. Reiner 1969, 24 ff. 63 Vgl. ebd., 247ff; Zitate: 255. 64 Ebd., 258. 58
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Freudenspiegels·, durch die Freude auf das ewige Leben die Liebe zu Gott gegen die drängenden Widrigkeiten eines christlichen Lebens zu stärken. Nicolai widmet sein Erbauungsbuch der Beförderung des göttlichen Wortes, auf daß es „möchte / wie durchdringende Spiesse vnd Nägel vns zu Hertzen gehen / vnd eytel reichen Trost / vnd lebendige Frewde geberen / zu Linderung vnd Abwendung der grossen Trawrigkeit / Schwehrmut vnd Anfechtungen / damit deine elenden Christen / auff diesem Jammerthal vnablässiglich gekränckt / gemartert und wol geplaget werden". 65 Traurigkeit und Schwermut sind Stimmungen und gehören deshalb zu einer anderen Klasse von Gefühlen als die Freude. Ist diese gegenstandsbezogen, so haben jene - wie auch die der Freude nahe stehende Heiterkeit und Fröhlichkeit - keinen bestimmten Gegenstand, d.h. sie können die Menschen ohne ersichtlichen Grund überkommen und ihr Leben im ganzen affektiv einfärben. Auch Nicolai scheint vor ihnen nicht gefeit zu sein, denn „es ist doch diß Leben", schreibt er, „ein elendig Leben / ein bawfälliges Leben / ein vngewiß Leben / ein arbeitsam Leben / vnnd ein vnreines Leben. Es ist Frauw aller Boßheit / vnd ein Königin aller Hoffart / voll Elendts / vnd voll Irrthumbs / daß es billich kein Leben solt genennet werden / sondern ein Todt / in welchem wir alle Augenblick sterben.. ,". 66 Solche Sätze erinnern an das memento mori der Barockdichtung. Wenig später, unter den Eindrücken des Dreißigjährigen Krieges, verhilft Gryphius der gleichen Stimmung zu poetischem Ausdruck: „Steig aus, du mueder Geist / steig aus! wir sind am Lande! Was graut dir fuer dem Port / itzt wirst du aller Bande Vnd Angst / und herber Pein / und schwerer Schmertzen loß." 67
Nicolai steht nicht wie Gryphius unter der Wirkung des Krieges, sondern der Pest. In Unna, wo er den Freudenspiegel schreibt, wütet die Seuche zu seiner Zeit mit unbeschreiblicher Gewalt. Sie überfiel die Stadt „wie ein vnversehnlicher Platzregen vnd Ungewitter / ließ bald kein Hauß vnbeschädigt / brach endlich auch zu meiner Wohnung hieneyn / vnnd giengen die Leut / meistes theils mit verzagtem Gemüht / vnd erschrockenen Hertzen / als erstarret vnnd halb todt daher.. .". 68 Auch in der eigenen Familie fordert sie Opfer, eine seiner Schwestern erliegt der Seuche. Am 30. August 1597 berichtet Nicolai brieflich seinem Bruder Jeremias: „Beinahe 800 Menschen hat die Pest in dieser Stadt schon getödtet und in der vergangenen Woche sind 170 gestor-
65 66 67 68
Ebd., 6. Ebd., 147 f. Gryphius 1996, 10. Nicolai 1963, Vorrede, o.S.
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ben". 69 So möge denn die Freude auf das ewige Leben der Traurigkeit und Schwermut entgegenwirken. Aber das nun gerade nicht um der irdischen Glückseligkeit, sondern um des ewigen Lebens willen. Denn die Traurigkeit des Menschen über die vermeintliche Unentrinnbarkeit des irdischen Jammertals, seiner Mühsal und Krankheit, ist die vielleicht heimtückischste Anfechtung seines Glaubens. Die Schwermut sei „eytel", d. h. Ausdruck gottferner Selbstbezogenheit des Menschen in seinem Leiden, und so soll die Freude die Schmerzvollen von sich ab- und zu Gott zurücklenken, beides zugleich: Sedativ der Traurigkeit und Schwermut, Stimulans der Liebe zu Gott sein. Wie anderen Erbauungsschriftstellern seiner Zeit auch geht es Nicolai um Intensivierung der Frömmigkeit, und er sucht sein Ziel auf dem Wege der Verinnerlichung im Sinne eines emotionalisierten Glaubenslebens, darin der starken Gewichtung der Gottesliebe, der enthusiastisch empfundenen und somatisch erlebten Gnadenwirkung in der unio mystica. Bemerkenswert ist vor allem sein Verständnis des internen Bedingungsverhältnisses von Sprache und Seelenleben. Daß die Artikulation der Freude auf das ewige Leben dieser nicht äußerlich ist, sondern sie zu intensivieren und den Glauben dann, wenn er im Strudel der weltlichen Anfechtungen verloren zu gehen droht, zu reanimieren vermag, hat er im Freudenspiegel durch die dialektische Doppeldeutigkeit des Titels auf originelle Weise und zugleich verallgemeinerungsfähig für die Funktion von Erbauungsliteratur als literarischer Gattung thematisiert. Das gilt ebenso für seine Auffassung vom Wiedergeburtsgeschehen, deren Darstellung im Freudenspiegel breiten Raum einnimmt. Sie dokumentiert das in dieser Zeit „intensivierte Interesse daran, das Geschehen der Rechtfertigung des Sünders durch Gott und dessen Folgen extensiver zu thematisieren". 70 Der Begriff „Wiedergeburt" bedeutet bei Nicolai die Rechtfertigung sola fide hinsichtlich ihrer subjektiven Erfahrbarkeit. Ihre ausführliche Erörterung verrät das Bedürfnis nach individuell-lebenspraktischem Nachvollzug der Heilswirkung auf den Gläubigen. Dem dient die begriffliche Auffächerung der Wiedergeburt nach ihren verschiedenen Momenten im religiösen Leben des Sünders: seiner Reue (contritio), der Rechtfertigung durch den Glauben (iustificatio), der mystischen Erhöhung in den „Brautstand" Jesu (exaltatio) und der Erneuerung seines Geistes (renovatio) 71 - die altprotestantische Orthodoxie hat diese aspektuelle Differenzierung in der ordo salutis-Lehre ausgebaut und theologisch festgeschrieben. 7 69 70 71 72
Zit.n. Steinmeier-Kleinhempel 1991, 23. Steiger 1995, 372. Vgl. Nicolai 1963, 247 u. ff. Vgl. Steiger 1995, 371-373.
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Daß der ordo salutis - trotz gegenläufiger theologischer Intentionen 73 - den Hintersinn eines Stufenprozesses annehmen kann, der dem Selbstperfektionierungsbemühen des Gläubigen Vorschub leistet, dokumentiert der Freudenspiegel in der Darstellung der Wiedergeburt als eines Geschehens, das sich durch stetes Wachstum an geistigen Kräften vollzieht, deren Entfaltung wiederum als Erneuerung des sündigen Menschen in den Früchten des Glaubens subjektiv und konkret erfahrbar werde. 74 Unter diesen Früchten die edelsten sind die Liebe des Gläubigen zu seinem Gott und die Freude auf das ewige Leben. Aber es ist fraglich, ob sich Liebe, ein Gefühl, dem Spontaneität und Unwillkürlichkeit wesentlich sind, derart als positives Resultat eines innerlichen Läuterungsprozesses postulieren läßt, den der Ausdruck „Wachstum an Kräften" metaphorisch evoziert und der die Wiedergeburt in die Nähe einer religiösen Vervollkommnungsbewegung von der contritio über die exaltatio in der unio mystica zur renovatio des Neuen Menschen laviert: ihre aspektuell gleichzeitigen Momente also in teleologisch aufeinanderfolgende aufhebt. Die von Nicolai immer wieder beschworene Liebe würde als Frucht einer solchen religiösen Aufwärtsbewegung der ihr eigentümlichen Unwillkürlichkeit beraubt - ein Problem, das im christlichen Liebesgebot grundsätzlich angelegt ist und sich in der nachreformatorischen Erbauungsliteratur durch deren Grundzug der Positivierung des Glaubens in bestimmten Empfindungsdispositionen verschärft aufdrängt. 75 Immerhin wird die Vergegenständlichung der Liebe Gottes als subjektiv in ihrem steten Wachstum erfahrbare Frucht eines inneren Läuterungsprozesses dadurch gemildert, daß Nicolai das dem Gläubigen in Bußhaltung zuteil werdende Wiedergeburtsgeschehen als koextensiv mit dem irdischen Leben faßt und erst im jenseitigen in sein Ziel gelangen lässt. 76 Zwar soll die Wiedergeburt als geschehende in ihren Früchten erlebbar sein, nicht aber als geschehene: resultativ an ihr Ende gelangte, und folglich das Geschehen nicht als ein zeitlich positivierbarer, gleichsam qualitativer Sprung in das absolut neuanfängliche Sein des wiedergeborenen Menschen erfah-
73
Ebd., 373. Nicolai 1963, 256, 258. 75 Nicolai erschwert die Unwillkürlichkeit der Liebe dadurch, daß er den Gläubigen anhält, sie stets an der himmlischen im ewigen Leben zu messen. Vgl. Nicolai 1963, 25: „Derwegen so du wissen wilt / was Gott und alle Heyligen im Himmel machen? Da kan ich sicher antworten / vnd mit Warheit sagen / daß sie eine ewige frewdenreiche Hochzeit halten / vnd leben in eytel vollkommener Liebe ..." 76 Philipp Melanchton formuliert das in den Loci Communes so: „Neque aliud est vita Christiana nisi haec ipsa poenitentia, hoc est regeneratio nostri". Charakteristisch für Nicolai ist also nicht das prozessuale Verständnis der Wiedergeburt als solches, sondern die dieses Geschehen tragende empfindsame Jenseitssehnsucht. 74
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ren werden können, der seine sündige Existenz schon im Diesseits hinter sich gelassen hat. Das befreit die Gläubigen von dem Druck, allzu konkrete Resultate vorweisen zu müssen.
1.5. Nachreformatorische
Frömmigkeit
Nicolais wiederholte sprachliche Evozierung des ewigen Lebens in seiner himmlischen Herrlichkeit, seine beharrliche Aufmunterung zur Freude auf das Himmelreich und zur freudigen Ausrichtung des irdischen Lebens auf den Durchbruch zum ewigen in der Stunde des Todes sprechen die Sprache eines Christen, der den Glauben als konkret und existentiell bedroht empfindet. Die angesonnene Freude soll dem durch die Anfechtungen der N o t stets gefährdeten Leben geradezu abgetrotzt werden. In diesem Anliegen berühren sich Nicolai und Praetorius, der sein „Freudenchristentum": die freudige Erfahrung der dem Christen in der Taufe übereigneten Heilsschätze auch aus der Grunderfahrung von Krankheit und Elend heraus predigt - allerdings ohne den Zungenschlag der Jenseitssehnsucht, der Nicolais Freudenspiegel eigentümlich ist. Weil Erbauungsliteratur nur dann erbaulich wirken kann, wenn sie den Adressaten in seiner existentiellen Befindlichkeit ernst nimmt, verrät die dringliche Verteidigung des christlichen Glaubens durch seine gefühlsmäßige Intensivierung wie auch der Akzent auf seiner enthusiastischen Erlebbarkeit indirekt etwas über die Volksfrömmigkeit der Zeit. Sie wird aus Sicht der Erbauungsautoren der Stärkung des Fühlens und Erlebens bedurft haben. Allerdings wohl kaum nur wegen der Traurigkeit und Schwermut, mit welcher die Pest Nicolais Zeitgenossen erfüllt hatte (sofern sie von ihr nicht dahingerafft worden waren), sondern auch aus der Unanschaulichkeit der Glaubensinhalte in der Hochsprache der Theologie, die den Menschen in Zeiten der Not keine Hilfe war, 7 7 oder gar aus schlichter Laxheit des Glaubens. Schon Luther konnte sich als Kirchenvisitator von Kursachsen in den Jahren 1528 und 1529 einen genauen Eindruck davon verschaffen, wie weit die reformatorischen Uberzeugungen von der Wirklichkeit des religiösen Alltagslebens der Pfarrer und ihrer protestantischen Gemeinden entfernt waren - die Vorreden zum Großen und zum Kleinen Katechismus, beide 1529 erschienen, geben davon ein beredtes Zeugnis. 78 Er 77
Wäre der Mensch nicht durch den Sündenfall verdorben worden, spekuliert Nicolai, dann würden ihm auch die „vnnöhtigefn] Disputationes" und das „Schullgezäncke" der Theologen erspart worden sein (Nicolai 1963, 184). 78 Die Funktion der Kirchenvisitationen sei am Beispiel der Brandenburgischen Visitationsordnung von 1573 verdeutlicht: „Die weil die visitation ein althergebrachte christli-
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wußte auch um die Bequemlichkeit, zu der widersinnigerweise seine Rechtfertigungslehre verleiten mochte. In der am 21. März 1538 in der Schloßkirche zu Wittenberg vor dem sächsischen Kurfürsten gehaltenen Predigt über die Heiligung des Lebens aus der Kraft des Glaubens formuliert er eine typische Entgegnung auf sein Diktum von der Rechtfertigung sola fide, mit der sich manche Christen dem tätigen Glauben meinen entziehen zu können: „ . . . so sagen sie umgekehrt: ,Was brauchen wir also zu tun? Es ist nicht nötig, daß wir uns mit guten Werken plagen'! Darum fürchte ich", so nun Luthers nüchterne Einschätzung seiner Wirkung, „daß man nach unserer Zeit entweder zu viel gute Werke treibt, oder daß umgekehrt die Menschen in ihren Sitten ganz verrohen." 7 9 Letzteres waren auch noch zur Zeit Nicolais, Jahrzehnte nach der erfolgreichen theologischen Konsolidierung der Konfessionen, die Visitatoren der Kirchenzucht in ihren Protokollen zu notieren genötigt. 8 0 Es ist allerdings fraglich, ob Luthers Befürchtung nicht sogar noch zu euphemistisch war. Denn Verrohung setzt einen anfänglichen Zustand der Kultiviertheit voraus. Ein solcher stellte sich aber überhaupt erst durch Verkirchlichung und Disziplinierung der Volksfrömmigkeit im Zuge der Konfessionsbildung langsam und widerstrebend her. 81 U n d bis tief ins 17.Jahrhundert hinein waren die Konfessionen
che Ordnung, die aus beweglichen und vernünftigen Ursachen und darum eingeführt, das die hohe oberkeiten durch getreue fleissige menner und aufseher die kirchen besuchen und von der christlichen lere und sacramenten, ob die auch Christi, unsers lieben herrn, befelch nach, reine geleret und administrirt werden oder ob rotten, secten, unzucht und andere laster eingerissen, desgleichen von sitten und schütz der pfarrer, besserung und zunehmen der zuhörer, auch der kirchen- und pfarrengebeude und einkommen, davon man die diener göttlichs worts, schulen, hospitale, küster und arme leute underhalten solle, und anderer mengel in geistlichen Sachen erkundigung nehmen lassen" (zit.n. van Dülmen 1994, 67). 79
Luther 1996, Bd.6, 45. Vgl. seine diesbezüglichen Befürchtungen bereits in der frühen Schrift Von der Freiheit eines Christenmenschen (ebd., Bd.2, 175). 80 Vgl. Z e e d e n / Molitor 1967; Z e e d e n / Lang 1984; Lang 1994. 81 Vgl. Zeeden 1965; Molitor 1976; van Dülmen 1986. „Unter Konfessionsbildung sei . . . verstanden: die geistige und organisatorische Verfestigung der seit der Glaubensspaltung auseinanderstrebenden christlichen Bekenntnisse zu einem halbwegs stabilen Kirchentum nach Dogma, Verfassung und religiös- sittlicher Lebensform. Zugleich ihr Ausgreifen in die christliche Welt des frühneuzeitlichen Europa; ihre Abschirmung gegen Einbrüche und G e f ä h r d u n g e n ; und ihre Mitgestaltung durch außerkirchliche Kräfte, insonderheit durch die Staatsgewalt" (Zeeden 1965, 9f). H e i n z Schilling hat vorgeschlagen, die Konfessionsbildung von dem „Kardinalvorgang" der Konfessionalisierung (Schilling 1988, 4) als deren „theologiegeschichtlichen Teilaspekt" (Schilling 1986, 454) abzugrenzen und die entsprechenden Begriffe trennscharf zu benutzen. „Das Konzept der ,Konfessionalisierung' . . . beruht auf der Tatsache, d a ß in Alteuropa Religion und Politik, Staat und Kirche strukturell miteinander verzahnt waren, d a ß unter den spezifischen Bedingungen der frühneuzeitlichen Vergesellschaftung Religion und Kirche . . . das Gesamtsystem der Gesellschaft abdeckten und zentrale Achsen von Staat und Gesellschaft
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auf dem Lande noch nicht scharf voneinander geschieden, überhaupt die Kenntnisse der christlichen Religion in einer weitgehend auf mündlichen Traditionen beruhenden Volkskultur gering, magische Praktiken - von Opferritualen für heidnische Gottheiten bis zum Verkauf des Taufwassers nach erfolgter Taufe zur Schädlingsbekämpfung auf den Feldern - dagegen weit verbreitet. 82 „Was Religion und Magie, was kirchliches, religiöses oder weltliches Brauchtum voneinander unterschied, wußte das einfache Volk lange ebensowenig, wie was abergläubisch und was orthodox-kirchlich, also übereinstimmend mit der offiziellen Lehre der Kirche war." 83 Außerdem waren die Hirten häufig nur wenig besser mit der kirchlichen Lehre vertraut als ihre Herde. Sie mußte in den Dörfern, so Ernst Walter Zeedens lebendige Charakterisierung, oft von „streitsüchtigen, versoffenen und ungebildeten Landgeistlichen" verbreitet werden, „denen die Obrigkeit unter Strafe befahl, ihre Predigten aus der Postille vorzulesen, um sicher zu gehen, daß sie keinen Unsinn auf die Kanzel brächten". 84 Der soziale Raum des reformatorischen Zeitalters verdeutlicht auf sinnfällige Weise die enge Verschränkung von sakralem und profanem Bereich, die von den Menschen nicht als voneinander verschiedene Sphären wahrgenommen wurden. 85 Besucher des Gottesdienstes zum Beispiel - ein besonders markanter Beleg für das mangelnde Bewußtsein der Menschen von der Grenzüberschreitung zwischen Profanem und Sakralem - gingen nach eigenem Gusto ein und aus, während der Predigt wurde geschwatzt und getratscht, mitgebrachte Hunde kläften und unbeliebte Pfarrer mußten mit spöttischen Zwischenrufen und unzüchtigen Witzen rechnen; vom nächstgelegenen Wirtshaus schallte der Lärm der Zecher herüber. 86 Auf dem Gottesacker herrschte nicht weihevolle Stille, sondern das muntere Treiben des Rummelplatzes; er wurde von einem illustren Völkchen aus
bildeten" (Schilling 1988, 5). Demnach meint der Begriff „einen gesellschaftlichen Fundamentalvorgang, der das öffentliche und private Leben in Europa tiefgreifend umpflügte, und zwar in . . . Verzahnung mit der Herausbildung des frühmodernen Staates und mit der Formierung einer neuzeitlich disziplinierten Untertanengesellschaft..." (ebd., 6). 82 Vgl. Zeeden 1965, 105, 107. 83 Van Dülmen 1986, 18. 84 Zeeden 1965, 118 (Hervorhebung im Original). 85 Vgl. Lang 1994, 51 ff. 86 . . . , sofern die Zecher die Kirche nicht kurzerhand ins Wirtshaus verwandelten! „In etlichen orten", so das Albert. Sachsen 1557, „misbrauchen die bauern ire kirchen, welche ein betshaus sein sol, für einen kretzschmar oder bierkeller, schroten das pfingstbier darein, damit es frisch bleibe, und saufens daselbst aus mit gotteslesterunge und fluchen, und dörfen wol in der kirchen die priester und das ministerium verechtlich verhönen und verspotten, treten auf die canzeln, richten predigten an zum gelechter..." (zit.n. van Dülmen 1994, 280).
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„Händler[n] und Marktschreierfn], Dirnen und Diebefn], Inklusen und Liebespaare[n] . . b e v ö l k e r t . 8 7 So scheint die Zeitenwende zum 17.Jahrhundert einerseits von laxer Volksfrömmigkeit, religiösem Virtuosentum von Erbauungsautoren wie Nicolai oder Prätorius sowie von der die konfessionelle Konsolidierung und institutionelle Durchsetzung ihrer Lehrgehalte verfolgenden Theologie bestimmt gewesen zu sein, andererseits von Epidemien, Hungersnöten und nicht zuletzt von klimatologischen Veränderungen, die unter den Menschen Angst und Unsicherheit geschürt haben, zumal sie häufig als Boten der Endzeit gedeutet wurden. 88 Die allseits verbreitete Endzeiterwartung ist dabei ein starkes Indiz dafür, daß von der in den Visitationsberichten und der Erbauungsliteratur beklagten mangelhaften Kirchenzucht nicht auf die Areligiosität der Bevölkerung geschlossen werden darf. Um das Erlösungsbedürfnis zu schüren und zur frommen Weltabkehr zu motivieren, mußten die Erbauungsschriftsteller den Menschen die im Spiegel ihrer Zeitkritik babylonisch ausschweifende Weltlichkeit des Alltagslebens nur als ein weiteres Symptom dieser Endzeit deuten, gleichsam als einen Tanz auf dem Vulkan, dessen Ausbruch niemand entgehen werde. Trotz oder gerade wegen ihrer theologiekritischen Haltung konnte die Erbauungsliteratur dabei strukturell eine Vermittlungsfunktion zwischen Theologie und Volksfrömmigkeit einnehmen. Wegen ihrer Nähe zur Lebenswelt oblag es ihr, die Desorientierung der Gläubigen zu beheben, welche zwangsläufig aus dem theologischen Streit dreier mit gleichem Gehorsamsanspruch an die Christen appellierender Konfessionen über die Eckpfeiler der einzig wahren Dogmatik - ein weiterer Faktor kollektiver Ängste und Unsicherheiten - resultieren mußte. Damit verhalf sie den Konfessionen schließlich zur Verwurzelung im Alltagsleben.
2. Johann Arndts „ Vier Bücher vom wahren Christentum
"
2.1. Zur Wirkungsgeschichte des Buches Zu den lutherischen Erbauungsschriftstellern der nachreformatorischen Zeit, die einander im seelsorgerlichen und literarischen Ringen um Er87
Vgl. Lang 1994, 51. So fügt sich die Zeit um 1600 zwanglos als symptomatisch in die lange abendländische Kulturgeschichte kollektiver Ängste ein, wie sie von Jean Delumeau eindringlich beschrieben worden ist (vgl. Delumeau 1978). Zur Endzeiterwartung im protestantischen Deutschland um 1600 vgl. Lehmann 1992; speziell zu dem Einfluß klimatologischer Veränderungen auf die kollektive Befindlichkeit der Bevölkerung: ders. 1986. 88
J o h a n n Arndts „Vier Bücher vom wahren Christentum"
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weckung, Verlebendigung und Disziplinierung der Volksfrömmigkeit sowie deren Bewahrung vor dem vermeintlich schädigenden Einfluß der theologischen Gelehrsamkeit verbunden sind, zählt auch Johann Arndt. 9 Von allen hat er durch die Vier Bücher vom wahren Christentum (1605-1609) und das Gebetbuch Paradiesgärtlein voller Christlichen Tugenden (1612) - wobei es sich „einfach um einen Teil der Praxis des Wahren Christentums" 90 handelt - im Protestantismus am breitesten und nachhaltigsten gewirkt. 91 Während Nicolai und Praetorius von der frömmigkeitsgeschichtlichen Forschung als zwar charakteristische, aber weitgehend folgenlose Repräsentanten des religiösen Klimas in der lutherischen Kirche des späten 16. und frühen 17.Jahrhundert gewertet werden, 9 2 gilt Johann Arndt einhellig als direkter Vorläufer oder gar -
89 J o h a n n Arndt, am 27. Dezember 1555 in Edderitz bei Kothen (Anhalt) als Sohn eines lutherischen Pfarrers geboren, studierte Theologie, vor allem aber Medizin an den Universitäten Helmstedt, Wittenberg, Straßburg und Basel. Nach E m p f a n g seiner O r d i nation wirkte er zunächst als Diakonus in Ballenstädt, dann als P f a r r e r von 1584 bis 1590 in Badeborn. Aufgrund der Calvinisierung der Landeskirche verlor der Lutheraner Arndt sein Amt und wirkte fortan zunächst in Quedlinburg, dann in Braunschweig, von wo er aufgrund von Spannungen mit der evangelisch-lutherischen P f a r r s c h a f t wegen der Affinität seiner Religionsauffassung zu mystischen und spiritualistischen Autoren nach Eisleben wechselte. Die letzten zehn J a h r e seines Lebens bis zu seinem T o d am 11. Mai 1621 bekleidete er das Amt des Generalsuperintendenten des Fürstentums Braunschweig-Lüneburg in Celle. Zur Biographie Arndts vgl. ausführlich Koepp 1973, 16-101; außerdem in knapper Zusammenfassung Schmidt 1979, 121-123; Wallmann 1990, 15-17; Brecht 1993a, 131-134. 90
Brecht 1993, 141. „Beide Bücher, das W a h r e Christentum und das Paradies-Gärtlein fanden weite Verbreitung und dürfen als die einflußreichsten Andachtsbücher im deutschen Protestantismus angesehen werden" (Schmidt 1979, 127). Zur Wirkungsgeschichte vgl. ausführlich Koepp 1973, 144-176; außerdem Brecht 1993a, 149f; Wallmann 1990, 19ff; 1995, 3 ff. Zu seinen übrigen Werken sowie den von ihm herausgegebenen Schriften vgl. die Literaturliste bei Schmidt 1979, 124. Zur Publikationsgeschichte der Vier Bücher vom wahren Christentum: Das Werk enthielt in der ersten Ausgabe, die 1605 in Frankfurt erschien, nur das erste Buch; das einzige bekannte erhaltene Exemplar steht in der Herzog-August-Bibliothek in Wolfenbüttel (Sign. Th82). Die zweite Auflage erschien ein J a h r später in Braunschweig, nun mit der Ankündigung und einer knappen Inhaltsangabe der übrigen drei Bücher. Im selben J a h r folgte dann noch eine zweite Braunschweiger Ausgabe. Sie ist, als Reaktion auf die mannigfache Kritik von lutherisch-kirchlicher Seite, die Arndt sprachliche Anleihen bei der Mystik und religiösen Perfektionismus vorwarf, eine sprachlich revidierte Fassung der vorangegangenen. 1610 kam erstmals die vollständige Ausgabe der vier Bücher in M a g d e b u r g heraus. Seit der Stockholmer Ausgabe von 1723 erschien das Wahre Christentum aufgrund von Anhängen in sechs Büchern und in späteren Ausgaben gemeinsam mit dem Gebetsbuch Paradiesgärtlein. Zur Publikationsgeschichte des Wahren Christentums und dem theologischen Streit, der die Veröffentlichung der einzelnen Bücher begleitete, vgl. ausführlich Koepp 1973, 35 ff. 91
92
Vgl. Zeller 1971, 88f, 90f; Wallmann 1990, 13f; Brecht 1993a, 128 ff.
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wenn auch nicht unwidersprochen, und ausdrücklich nur in frömmigkeitsgeschichtlicher Perspektive - als „Vater" des Pietismus, 93 dessen Protagonisten seine Schriften nicht nur intensiv gelesen, sondern auch übersetzt, herausgegeben und aus ihnen gepredigt und gelehrt haben. 94 „Um 1700 steht Arndts Wahres Christentum nahezu in jeder lutherischen Hausbibliothek Norddeutschlands", 95 was nicht einmal verwundert, wenn man berücksichtigt, daß es zwischen 1605 und 1740 in 123 Auflagen erschienen ist. 96 Bereits im 17.Jahrhundert wurde es durch Ubersetzungen ins Böhmische, Niederländische, Englische und Schwedische auch in ausländischen Zentren des Protestantismus bekannt. Eine lateinische Ausgabe wurde angefertigt, weitere Übertragungen folgten, sogar in Amerika: Benjamin Franklin besorgte 1751 in Philadelphia eine Neuauflage des Werkes. Die 1736 von Johann Jakob Rambach aufgestellte Liste der Druckorte, von Amsterdam bis Riga, von Basel bis Hamburg, ist lang, 97 dabei erfaßt sie nur die deutschsprachigen Ausgaben. „Wer sich mit Arndt beschäftigt", so faßt Johannes Wallmann die kulturhistorische Bedeutsamkeit dieses Erbauungsschriftstellers in ein anschauliches Bild, der „besteigt also keinen einsamen Gipfel der Frömmigkeitsgeschichte, sondern steht an der Quelle eines Flusses, der jahrhundertelang den Boden protestantischer Frömmigkeit durchzogen, getränkt und befruchtet hat." 98 In diesem Sinne ist es zu verstehen, wenn Wilhelm Koepp, Schüler Albrecht Ritschis und gewiß kein Anhänger der Theologie Johann Arndts, über ihn schreibt, er sei „neben Schleiermacher der größte Zeitenwender in der Geschichte der luthe-
93 Vgl. Stoeffler 1971, 202; Wallmann 1986a, 14 m. Anm.51; ders. 1990, 15; Brecht 1979, 148ff, 153f; ders. 1993a, 131; vgl. zur Geschichte der Arndtforschung Sommer 1988, 135-142. 94 Philipp Jakob Spener und August Hermann Francke besorgten Ausgaben des Wahren Christentums. Nikolaus Ludwig Graf Zinzendorf ließ es in die französische Sprache übersetzen. Spener hat seine Programmschrift des Pietismus Pia Desideria zuerst (1675) als Vorrede einer Neuausgabe von Arndts Evangelienpostille vorangestellt, bevor sie dann auch als Einzelausgabe veröffentlicht wurde. Außerdem hat er Predigten über des seligen Johann Arndts Geistreiche Bücher vom wahren Christentum gehalten und unter diesem Titel 1711 in Frankfurt herausgegeben. Francke empfiehlt dem Theologiestudenten in seinen Idea Studiosi theologiae, das Wahre Christentum möge „sein sonderlich familiares Buch seyn / und es in seinem gantzen Leben bleiben" (Francke 1969, 174). Christian Scriver, einer der bedeutendsten Erbauungsschriftsteller des Pietismus, orientierte seinen Seelenschatz (1675) an Arndts Erbauungsbuch. Dessen Wirkungsgeschichte im Pietismus im Sinne der bewußten, affirmativen Rezeption, Verbreitung und Adaption ließe sich nahezu endlos weiterverfolgen. 95 96 97 98
Wallmann 1986b, 176. Vgl. Lehmann 1980, 114f. Vgl. Rambach 1736, 14, zit. bei Wallmann 1995, 3. Wallmann 1995, 5.
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risch-protestantischen Frömmigkeit gewesen, größer auch als Spe-
2.2. Kirchen- und Theologiekritik Arndt verarbeitet im Wahren Christentum seine Erfahrungen, die er als Seelsorger mit der Alltagsreligiosität der Menschen zur Zeit der Konfessionsbildung machen konnte. 100 Zwar hat er in dem theologischen Konkurrenzkampf der Glaubensparteien um die geistlichen Territorien in Deutschland ausdrücklich und existentiell folgenreich für eine der Seiten Stellung bezogen: als Pfarrer in Badeborn widersetzte sich der Lutheraner 1590 mit der Weigerung, den Exorzismus bei der Taufe abzuschaffen, der Calvinisierung seiner Landeskirche, was ihn um Amt und Würden brachte; und mit einer Streitschrift gegen die calvinistische Bilderfeindlichkeit trug er wenig später zu der großen Menge polemischer Publikationen bei, mit denen sich die Konfessionen gegenseitig beschossen. 101 Aber seine Erbauungsschrift zielt im Gegensatz dazu auf die Uberwindung konfessioneller Schranken im Namen einer alle Christen vereinigenden, lebendigen Glaubenspraxis. Das Wahre Christentum wird daher auch als wichtiger Beitrag zur protestantischen Irenik des 17.Jahrhunderts gewertet. 10 Im Sinne der Beförderung eines nicht bloß wortreichen, sondern vor allen Dingen praktisch gelebten Christentums ist desgleichen Arndts Wirken als Generalsuperintendent des Fürstentums Lüneburg zu verstehen. In dieser Stellung setzte er 1615 eine Kirchenvisitation 103 und vier Jahre später, auf deren Erfahrungen fußend, eine neue Kirchenordnung 104 durch. 105 Darin wird neben stren99
Koepp 1912, zit.n. Hamm 1982, 45, Anm.6. Vgl. zur seelsorgerlichen Motivation seiner literarischen Produktion Mager 1992; Wallmann 1995. „... hier gräbt", so Wallmann über Arndt, „nach langen Jahren ermüdender und zur Resignation treibender seelsorgerlicher Wirksamkeit ein lutherischer Pfarrer in der literarischen Tradition nach Quellwasser", um dem Kirchenchristentum „neue Lebenskräfte zuzuführen" (Wallmann 1995, 9). 101 Arndt 1596. 102 Vgl. Weber 1969. Eine andere Auffassung vertritt Hans Schneider. Er verweist auf Arndts „Abneigung gegenüber den Calvinisten" und seine Beteiligung an einer antikatholischen Veröffentlichung kurz vor seinem Tode. Als Ireniker könne er daher nicht gelten (vgl. Schneider 1992, 297). Allerdings konzediert auch Schneider, daß sich Arndt mit seinem Erbauungsbuch gegen die konfessionell verhärtete theologia polemica seiner Zeit gewendet habe, und zwar einhergehend mit der „inhaltliche[n] Anknüpfung an vor- und außerreformatorische Traditionen" (ebd.). 103 General-Visitationen 1615-1625, Bl. 1-10, zit.n. Sommer 1999a, 231. 104 Herzog Christian zu Braunschweig-Lüneburg, D e ß Hochwürdigen / Durchleuchtigen / Hochgebornen Fürsten und Herrn / Herrn Christians / Erwählten Bischoffen 100
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ger Kirchenzucht besonderer Wert auf die Integrität des Lebenswandels der Pfarrer gelegt, die der Gemeinde ein Beispiel für die Ubereinstimmung zwischen Lehre und Leben zu geben haben und dementsprechend unter wachsame Aufsicht der Konsistorialbehörde gestellt werden. Dem Leser des Wahren Christentums ist diese Forderung vertraut. „Die Reinigkeit der Lehre", so formuliert Arndt mit Blick auf die lutherischen Bekenntnisschriften, „ist mit wachenden Augen zu bewahren; aber die Heiligkeit des Lebens ist mit größerem Ernst fortzupflanzen" 1 0 6 denn, so ließe sich im Sinne Arndts fortfahren, die Lehre ist kein Zweck an sich, sondern lediglich ein Mittel zur Beförderung gelebter Frömmigkeit. Wahr ist das Christentum laut Arndts Erbauungsbuch nur durch die Harmonie von Wort und Tat. Daß zwischen beiden ein eklatantes Mißverhältnis bestehe, und zwar zuungunsten der Tat, sowohl in der Bevölkerung wie zumal unter deren geistlichen Führern, ist ihm Anstoß genug für eine fundamentale Kirchenkritik, die in der Vorrede des ersten Buches der eigentlichen Erbauung vorredet und deren Wirkungsabsicht bestimmt. Arndt unterscheidet die „Einfältigen" von dem „gottlosefn], unbußfertige[n] Leben deren, die sich Christi und seines Worts mit vollem Munde rühmen, und doch ein ganz unchristliches Leben führen...". 1 0 7 Einfältige, das sind für Arndt Menschen, deren schlichte Frömmigkeit noch nicht beschattet wird von den eitlen und trügerischen Reflexionen theologischer Vernunft, aber vor solchen Reflexionen „in dieser letzten Welt", in der die geistlichen Führer zu weltlichen Verführern sich verkehren, durch Anweisungen zum wahren Christentum in Schutz genommen werden müssen. Bekämpfen sich zu seiner Zeit die Theologien der verschiedenen Konfessionen gegenseitig, so zieht Arndt gegen die Theologie als solche in ihrer vermeintlich endzeitlich-gottlosen Verfassung ins Feld. Viele würden meinen - und mit diesen „vielen" zielt er auf die Theologen - „die Theologie sey nur eine bloße Wissenschaft und Wortkunst, da sie doch eine lebendige Erfahrung und Uebung ist. Jedermann studiert jetzo, wie er hoch und berühmt in der Welt werden
deß Stiffts Minden / Hertzogen zu Braunschweig und Lüneburgk . . . Kirchenordnung und B e f e h l . . . , Celle 1619; zit.n. Sommer 1999a, 232. 105 Vgl. dazu Mager 1992, 150; Sommer 1999a, 231 f. 106 Arndt 1845, 317. Das Wahre Christentum wird im folgenden nach dieser Ausgabe zitiert, die von den im 17. und 18.Jahrhundert gebräuchlichen Editionen nur orthographisch, morphologisch und in der Interpunktion, nicht aber semantisch abweicht. Ausnahmen werden im Vergleich mit der Magdeburger Ausgabe von 1630 kenntlich gemacht. Im Unterschied zu der eben zitierten Textstelle heißt es dort: „.. .aber die Heiligkeit des Lebens ist mit grossem Ernst fortzupflanzen" (Hervorhebung v. mir - M.S.). Vgl. Arndt 1630, „Beschluß deß Andern Buchs", o.S. 107 Ebd., 1.
J o h a n n Arndts „Vier Bücher vom wahren Christentum"
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möge; aber fromm seyn will Niemand lernen." 108 Theologie als „bloße", also von ihren praktischen Zwecken losgelöste, eigendynamische „Wissenschaft und Wortkunst", dies beides privilegierte Betätigungsfelder des Humanismus, mit anderen Worten: eine humanistisch geprägte, im Sinne wissenschaftlicher Professionalisierung verselbständigte Theologie wird als unchristlich verdammt und durch ihre Identifizierung mit subjektiven Motiven: „hoch und berühmt in der Welt" werden zu wollen, d.h. eine wertrationale Tätigkeit zweckrational zu mißbrauchen, ihrer gesinnungsethischen Integrität beraubt. Kein Wunder, daß Arndt mit solchen Invektiven den Zorn seiner Zunft auf sich zog. „Kunst, Sprachen und Weisheit" stellt Arndt „lebendige Erfahrung und Uebung" im Christentum mit dem Ziel gegenüber, „daß wir Christo und seinem heiligen Evangelio gleichförmig werden ...". Den rechten Weg zum Ziel weist die von Arndt in der katholischen Tradition aufgegriffene Glaubensvorstellung der Nachfolge Christi im Sinne der persönlichen Nachahmung von Jesu Leben vermöge asketischer Selbstbeherrschung zur Weltverneinung und einem Exerzitium christlicher Tugenden. 10 Allerdings baut er in seine Adaption genuin katholischen Gedankenguts eine lutherische Sicherung ein. Denn er mildert die Nachfolge zu einer gleichsam regulativen Idee praktischen Christentums ab, die von dem ob seiner Sündigkeit strauchelnden Menschen niemals resultativ verwirklichbar sei. Aber selbst wenn wir „die Nachfolge des heiligen und edeln Lebens Christi in dieser Schwachheit nicht vollkömmlich erreichen können, dahin auch mein Büchlein nicht ge108
Ebd. Die mittelalterliche Theologie der Nachfolge Christi wurzelt im neutestamentlichen Nachfolgeruf Jesu, M k 1,17; M t 4,19, der als M a ß n a h m e religiöser Gefolgschaftsbildung zu Beginn seines Wirkens an die künftigen Jünger ergeht und sie zur Aufgabe aller bisherigen sozialen Bindungen auffordert, M k 1,20; M t 4,22. Die Bedingungslosigkeit dieser A u f f o r d e r u n g wird mehrfach betont, M t 10,21.37; 19,21; Lk 9,57-62, ebenso ihre Konsequenz, die Bereitschaft zum Leiden um der Nachfolge Jesu willen, M k 8,34f; M t 10,38; Mt 16,24f; Lk 9,23f, J o h 12,25f. Unter Bezugnahme auf diese Bibelstellen sowie auf 1 Petr 2,21: „Christus hat f ü r euch gelitten und euch ein Beispiel gegeben, damit ihr seinen Spuren folgt" (zit.n. Deissler/ Vögtle 1985), konnte in der alten Kirche das Martyrium zum Exempel der vollkommenen Nachfolge Christi werden (vgl. Frank 1994, 687). Die mittelalterliche Kirche betont vor allem die Nachfolge f ü r das alltägliche Christsein als N a c h a h m u n g seines Lebens im Sinne der Einübung in Christi Tugenden durch „Selbstabtötung" des „Fleisches", Gehorsam, Armut, Demut und Feindesliebe. Neben Bernhard von Clairvaux und Franz von Assisi wurde dieses ethische Nachfolgeverständnis im Spätmittelalter maßgeblich durch T h o m a s von Kempens Erbauungsbuch De imitatione Christi befördert. Luthers Rechtfertigungslehre dagegen schließt das Verständnis der Nachfolge im Sinne einer aktivischen N a c h ahmung aus. Vgl. seine Theologie des „innerlichen Menschen": Von der Freiheit eines Christenmenschen, Luther 1996, Bd. 2, 162-187. Zur Nachfolge Christi bei J o h a n n A r n d t vgl. Koepp 1973, 48f, 186 ff. Zur Aufnahme T h o m a s von Kempens bei Arndt vgl. Weber 1969, 42ff; van Ingen 1995. 109
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meint ist: so sollen wirs doch lieb haben, und darnach seufzen". 1 1 0 Anstelle ihrer praktischen Realisierung - da wir über sie nicht verfügen postuliert Arndt die innerlich-empfindsame Neigung zur Nachfolge. Und da Arndt außerdem postuliert, es könne „Christum Niemand lieb haben, er folge denn auch nach dem Exempel seines heiligen Lebens", 1 1 1 so folgt daraus, d a ß die Liebe zu Jesus Christus sich in der innerlich-empfindsamen Neigung zu seiner praktischen Nachfolge verkörpert. Aber eine Neigung, gleich wozu, ist nur dann authentisch, wenn sie sich auch im Leben erweist. Wie das geschehen soll, ist das Thema des Wahren Christentums.
2.3. Arndts
Bußverständnis
Bereits der vollständige Titel der Frankfurter Originalausgabe von 1605 gibt da näheren Aufschluß: Von wahrem Christentumb / heilsamer Busse / wahrem Glauben / heyligem Leben vnd Wandel der rechten wahren Christen. Buße, Glaube, Leben und Wandel haben hier die Funktion von Appositionen, die das erste Nomen in seiner Bedeutung näher bestimmen: Arndts Erbauungsbuch will den Einfältigen den Weg zum wahren Christentum über die Stationen der heilsamen Buße und des wahren Glaubens zur Heiligung des Lebens zeigen. W a h r - im Sinne von wahrhaftig und lebendig - ist für Arndt das Christentum nur dann, wenn die Buße des Gläubigen heilsam, daraufhin sein Glaube wahr wiederum im Sinne von wahrhaftig und lebendig - und als Ausdruck solchen Glaubens sein Leben und Wandel heilig ist. Der Titel insinuiert eine aufsteigende Linie von der rechtverstandenen Buße zur Heiligung des Alltagslebens und wiederum diese Linie als Entwicklungslogik des rechtverstandenen Christentums. Die von ihm verwendeten Attribute sind natürlich als polemischer Seitenhieb auf den unterstellten Frömmigkeitsmangel seiner Zeit gedacht: auf das „falsche" - heuchlerische oder theologisch erstarrte - Christentum bloß prätendierten Glaubens, des profanen, nämlich weltlichen Interessen hingegebenen Lebens und Wandels; die Invektiven der Vorrede zum ersten Buch gegen die Theologie und Alltagsreligiosität bestätigen diese Lesart. Doch der Titel besagt noch mehr. Die stilistisch auffällige Adjektivhäufung deutet auf eine religiöse Uberbietungslogik hin, die den Leser erbaulich zu einem die religiösen „Laien" weit hinter sich lassenden Frömmigkeitsvirtuosen 110 Alle Zitate Arndt 1845, 1. In dieser empfindsamen Stellung zur Nachfolge Christi wurzelt der häufige Gebrauch von Vokabeln wie „sehnen", „seufzen" etc., der für den Pietismus charakteristisch wird. Vgl. Langen 1968. 111 Ebd., 2.
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heranziehen will. Arndts Formulierung erweckt den Eindruck, das „wahre" Christentum resultiere aus einer besonderen religiösen Qualifikation. Die religiös Qualifizierten unterscheiden sich von den anderen, den „falschen" Gläubigen eben dadurch, daß ihre Buße mehr als bloße Buße, nämlich „heilsame" Buße und deshalb ihr Glaube mehr als bloßer Glaube, nämlich „wahrer" Glaube ist. Erst dieses Mehr an Glauben führt dann zur Heiligung von Leben und Wandel: der permanenten religiösen Veraußeralltäglichung des Alltagslebens im Sinne einer methodisierten frommen Lebensführung. Als erbauliche Hilfe zum wahren Christentum kann das Erbauungsbuch allerdings nur unter der Voraussetzung dienen, daß die angesonnene fromme Uberbietung der laxen Alltagsreligiosität und theologischen Begriffshuberei, zumal der Aufstieg von der Buße über den Glauben zum heiligen Leben, den der Titel insinuiert, prinzipiell in der Macht des Gläubigen liegt; zumindest aber muß dieser zu dem erwünschten Ziel durch Eigenleistung wesentlich beitragen können. Andernfalls taugte das Wahre Christentum kaum als ein „höchst praktische!/] Wegweiser zur Wiedergeburt und zum ewigen Leben", als den es Johann Friedrich von Meyer, der Herausgeber der Buchausgabe von 1845, den geneigten Lesern in seinem Vorwort anempfiehlt. 112 Trügt der Titel des Wahren Christentums nicht, dann war Arndts Sendung sowohl theologisch-dogmatisch als auch kirchenpolitisch heikel. Theologisch-dogmatisch, denn sie konnte das Dogma der Rechtfertigung aus dem Glauben trotz gegenteiliger Beteuerungen Arndts und seines mehrfachen ausdrücklichen Bekenntnisses zu seiner Rechtgläubigkeit als bedroht empfinden lassen; kirchenpolitisch, denn sie mochte bei manchem Pfarrer die Befürchtung erwecken, daß die angedeutete Uberbietungslogik seiner Frömmigkeit die Gemeinde aufspalten und eine kleine Gruppe besonders ehrgeiziger Schafe von den amtlich bestallten Hirten sich lösen werde, um aus der Herde der durchschnittlich Gläubigen in die Koppel einer innerkirchlichen Sondergemeinschaft religiös besonders Qualifizierter überzulaufen. Letzteres ist dann, allerdings erst Jahrzehnte nach Arndts Tod auf Betreiben von Johann Jakob Schütz und Philipp Jakob Spener, durch die Konventikelbildung im Pietismus tatsächlich geschehen. 113
112
Arndt 1845, VI (Hervorhebung von mir - M.S.). Vgl. dazu Wallmann 1986a, 264-324; Bellardi 1994, 2-17; Sträter 1995, 156-167; zur sozialpsychologischen Analyse dieser Zusammenhänge vgl. Lehmann 1996a; in dieser Arbeit vgl. weiter unten 1.4.5. Die Konventikelbildung ist eine der Ausdrucksgestalten für den Wandel der gottesdienstlichen Formen in der evangelischen Kirche durch fortschreitende Individualisierung und Privatisierung des Frömmigkeitsverständnisses. Vgl. hierzu Graff 1921. 113
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Den Eindruck von der Möglichkeit einer selbstmächtigen religiösen Höherentwicklung des Gläubigen erweckt der Titel des Wahren Christentums, weil er Buße und Glaube syntaktisch durch eine Reihung zueinander in ein Verhältnis setzt. Das suggeriert den Lesern, es handele sich bei Buße und Glaube um diskrete, aufeinander folgende Verhaltensweisen. Die lutherischen Bekenntnisschriften sehen das anders. So dekretiert die Confessio Augustana diesbezüglich: „Es besteht aber die Buße im strengen Sinne aus diesen zwei Teilen: 1. aus der Reue (contritio), d.h. aus den Schrecken, welche die Erkenntnis der Sünde dem Gewissen einjagt, 2. aus dem Glauben, der aus dem Evangelium, d. h. aus der Lossprechung, empfangen wird ...". 1 1 4 Logisch-semantisch besteht hier ein Inklusionsverhältnis, das Arndts Buchtitel unterschlägt: der Glaube ist Teil einer lebenslangen Bußhaltung, und das heißt, daß er „eben in der bußfertigen Haltung besteht, in der der Mensch das ganze Leben auf die Gnade Gottes angewiesen ist". 115 Sie ist sowohl reuiger, d. h. der individuellen Verstrickung jedes Menschen in die Sünde eingedenk seiender Glaube, wie gläubige, d. h. auf Christi Erlösungstat und Verheißung vertrauende Reue. Glaube und Reue sind laut CA mithin dialektisch aufeinander bezogen, so wie in der Theologie des Römerbriefs Gesetz und Evangelium: beide empfangen ihren christlichen Sinn erst vom jeweils anderen her, so daß Paulus geradezu sagen kann, das Gesetz sei dem Menschen gegeben worden, damit es übertreten werde und der Mensch zum Bewußtsein seiner Sündhaftigkeit und Erlösungsbedürftigkeit durch Jesus Christus gelange. 116 Will man Arndt nicht unterstellen, er habe, als er „Buße" schrieb, eigentlich „Reue" gemeint, 117 dann kann seine Formulierung nur im Sinne der Buße als Reue, also der bewußten Partikularisierung der Buße gelesen werden. In diesem Fall würde der Bußbegriff seine Funktion preisgeben, Reue und Glaube dialektisch aufeinander zu beziehen, und stattdessen den Glauben aus der Bußhaltung ausgrenzen; das aber kann 114 Confessio Augustana 1996, 106. Entscheidend ist hier, d a ß die Reue aus der Konfrontation des Sünders mit dem W o r t Gottes als - plötzlicher, unwillkürlicher - Schrekken entspringt, also eine contritio passiva ist, nicht die contritio activa einer zweckorientiert praktizierten Zerknirschungstechnik. 115 Grane 1996, 110. Zum Bußbegriff des Augsburgischen Bekenntnisses vgl. Lohse 1979; allgemein zum Verständnis der Rechtfertigung in der Theologie Luthers vgl. Pesch 1985; Lohse 1995, 274ff. " 6 Vgl. Rom 5,20. 117 Tatsächlich wird in der theologischen Literatur der Zeit häufig d o r t der Begriff der Buße gebraucht, wo man den der Reue erwartet. Daraus aber zu schließen, es würden in jedem Fall die beiden Begriffe synonym verwendet, dispensiert die nötige Interpretation des jeweiligen Textes durch Inanspruchnahme eines vermeintlichen Kontextwissens, vermeintlich deshalb, weil die Begriffsverwendung in jedem einzelnen der Fälle hinsichtlich ihrer Bedeutung zu erschließen wäre, anstatt sie aus anderen abzuleiten.
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sinnvollerweise nur heißen, ihn zeitlich in ein posterior des christlichen Lebens zu verlegen: zuerst die Buße, dann der Glaube. Und soll nun wiederum diese Aufeinanderfolge keine kontingente zeitliche Relation sein, dann muß sie wohl bedeuten, die Buße sei Bedingung der Möglichkeit des Glaubens und wirke auf ihn hin. Zwar nicht notwendig, aber psychologisch naheliegend ist dann der Schritt, diese dem Glauben vorgeordnete Buße im Sinne einer aktivischen BuRleistung gemäß der contritio activa einer rationalen Zerknirschungstechnik auszulegen. Schließlich: Sind schon Buße und Glaube als „Stadien auf des Lebens Weg" (Kierkegaard) angelegt, dann wird ihnen darin die von Arndt für das „wahre" Christentum postulierte Heiligung von Leben und Wandel kaum nachstehen, sondern diese vielmehr den Endpunkt einer Entwicklung markieren, deren Logik dem Nacheinander von menschlicher Tätigkeit im Sinne der frömmigkeitsvirtuosen Bußanstrengung und göttlicher Gnadenwirkung im Glauben folgt. Der Titel des Wahren Christentums insinuiert mithin eben jene Tendenz zur entwicklungslogischen Dynamisierung des Glaubenslebens, die dem Leser keimhaft bereits Nicolais Erbauungsbuch angesonnen hatte, indem es seinen gemäß der ordo salutis-Lehre aspektuell differenten Momenten (evocatio, contritio, iustificatio, exaltatio, renovatio ...) die Konnotation einer zu durchlaufenden Stufenfolge - nur freilich anders als bei dem diesseitig praktisch orientierten Arndt mit dem Schwerpunkt auf der Jenseitsvergegenwärtigung in der kontemplativen Freude des ewigen Lebens - verlieh. 118 Auffällig ist der große Wert, den Arndt darauf legte, nicht nur einmal, sondern immer wieder seine Ubereinstimmung mit dem lutherischen Dogma zu beteuern. 119 Dabei finden sich im Wahren Christentum zahllose Stellen, welche die Differenz gegenüber dessen Buchstaben durch ihren Zungenschlag kenntlich machen. Und das gerade auch dort, wo er seine Linientreue erweisen will. Zum Beispiel im 19. Kapitel des ersten Buches. Es handelt von der Voraussetzung der Reue für das Seelenheil des Sünders. Eingeleitet wird es - wie jedes andere Kapitel auch - durch eine thematisch einschlägige Bibelstelle. In diesem Fall 118
Vgl. Reiner 1969, 8 ff. In der Vorrede zum ersten Buch warnt er davor, „daß du ja deine Werke und anfangenden Tugenden oder Gaben des neuen Lebens nicht mengest in deine Rechtfertigung vor Gott". Denn da gelte kein menschliches Verdienst, sondern allein der Glaube, gefolgt von dem Hinweis: „wie solches im 5., 19., 34. und 41. Capitel dieses Buchs, und in den drei ersten Capiteln des andern Buchs genugsam ausgeführt ist" (Arndt 1845, 8). Als wolle er sich der lästigen Pflicht rasch entledigen, seine Übereinstimmung mit dem lutherischen Bekenntnis zu versichern, nennt er diesbezüglich einschlägige Textstellen in seinem Buch, man möchte meinen: um nach dieser gleichsam offiziellen Positionierung Dispens zu erlangen für die Behandlung der für ihn eigentlich wichtigen, überkonfessionellen Fragen lebendiger Frömmigkeit. 119
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von Jes 66,2: „Ich sehe an den Elenden, der zerbrochenen Herzens ist, und der sich fürchtet vor meinem Wort", so die Stimme Gottes aus dem Munde seines Propheten. 120 Der Vers findet sich am Ende der Prophetie Deuterojesajas, im Zusammenhang der Ankündigung des kommenden Weltgerichts. Arndts Auswahl einer Textstelle aus gerade diesem, apokalyptischen Kontext ist sicher nicht zufällig. Der scharfe Kontrast zwischen der Anklage des Propheten gegen eine der göttlichen Strafe anheimfallende Liederlichkeit bei der Befolgung des Gesetzes einerseits und der messianischen Heilsverheißung für die Gerechten in einer neuen Welt andererseits mochte ihm als Hintergrund zur Verdeutlichung dessen dienen, worum es in seiner Zeit ging: nämlich um die durch Reue des bisherigen, vergeudeten Lebens begonnene radikale Umkehr des Sünders zu Gott, und zwar unter dem Druck eines der endzeitlichen Verwahrlosung des religiösen Lebens nahe bevorstehenden Weltgerichts. 121 Aufschlußreich ist auch, daß der von Arndt zitierte Vers zu einer Passage gehört, welche die Verdinglichung der Religion durch deren Reduktion auf die dem Herzen der Teilnehmer äußerliche, religiös unwahrhaftige - und mithin im Sinne Arndts unwahre - Begehung des (nachexilischen) Tempelkultes anprangert. Spiegelt sich darin die soziostrukturelle Spannung zwischen Propheten- und Priestertum in der jüdischen Gesellschaft des 6. und 5.Jahrhunderts, so in Arndts Adaption - nicht nur des tatsächlich zitierten Verses, sondern indirekt damit auch des ganzen Textzusammenhanges, in dem dieser steht - der Konflikt zwischen dem um die alltagspraktische Frömmigkeitsintensivierung bemühten Erbauungsschriftsteller und einem theologischen Uberbau, der die reformatorische Religiosität am Volk vorbeikonfessionalisierte und sie dogmatisch kodifizierte, die doch nach Auffassung Arndts erst einmal hätte im Alltagsleben verwurzelt werden müssen. Um dieser feinsinnigen, zeitkritisch motivierten Anspielung auf historische Analogien willen scheint Arndt auch in Kauf genommen zu haben, daß der zitierte Vers gar nicht unmißverständlich von der Reue des Sünders handelt. In der Ubersetzung der Neuen Jerusalemer Bibel sagt Gott - durch seinen Propheten - den Besitzlosen seine Gegenwart zu, die sich zwar nicht die Finanzierung des nachexilischen Tempel(wieder)aufbaus in Jerusalem leisten können, Jahwe aber demutsvoll ergeben sind: sie spricht von dem „Armen und Zerknirschten" im Sinne von
120 In der Übersetzung der Neuen Jerusalemer Bibel·. „Ich blicke auf den Armen und Zerknirschten / und auf den, der zittert vor meinem Wort" (Deissler/ Vögtle 1985). 121 Wie stark Endzeiterwartungen die Religiosität im Luthertum zu Beginn des 17.Jahrhunderts prägten, die Arndt in erbaulicher Absicht für seine Zwecke der Frömmigkeitsintensivierungnutzen konnte, zeigt Lehmann 1992, 545-554.
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sozialen Merkmalen gesellschaftlich deklassierter Juden. 1 2 2 Arndt dagegen meint - wie er formuliert - „den Elenden, der zerbrochenen Herzens ist" im Sinne eines reuigen Selbstverhältnisses. „Soll dich nun Gott gnädig ansehen", heißt es dann nämlich gewissermaßen als Schlußfolgerung aus dem Vers Deuterojesajas, dann „mußt du in deinem Herzen bei dir selbst elend seyn, und dich nicht werth achten eines göttlichen oder menschlichen Trostes; sondern dich gar für Nichts achten, und allein im Glauben Christum anschauen". 123 Arndts Lesart des Verses profiliert also folgende Aussage: An der rechtverstandenen Reue, vor allem an ihr, scheiden sich die wahren Christen von der endzeitlich verwahrlosten Welt. Das ist sozusagen das Motto des Kapitels. Es färbt den Sinn der dann folgenden Ausführungen ein. Zwar widerspricht der propositionale Gehalt des zuletzt zitierten Satzes nicht dem lutherischen Bußverständnis als Einheit von Reue und Glauben. Aber man meint doch herauszuhören, daß Arndts Interesse vor allem der Reue gilt. Und wie anders ist die erbauliche Aufforderung zu verstehen, man müsse bei sich selbst elend sein, als im Sinne der contritio activa, die dem Glauben ermöglichend vorauseilt? Vollends offenbar wird die Färbung der Arndtschen Frömmigkeit, wenn nun die wiederholte Aufforderung, in seinem Herzen bei sich selbst elend zu werden, mit der Uberschrift des Kapitels verglichen wird. Da heißt es nämlich sogar: „Der in seinem Herzen der Elendeste ist, der ist bei Gott der Liebste·, und durch christliche Erkenntniß seines Elends sucht man Gottes Gnade". 124 Der Superlativ verrät die Uberbietungslogik eines Exerzitiums reuiger Selbstverneinung, die den solcherart Qualifizierten für den wahren Glauben und durch diesen für die Gnadenspende seines Gottes prädisponiert. Neben Arndts Vorliebe für Superlative zählen Proportionalsätze zu den sprachlichen Indikatoren seiner Interpretation des „wahren" Christentums. „Je elender nun ein Christenmensch in seinem Herzen ist, je mehr ihn Gott ansieht", 125 verspricht das Erbauungsbuch dem Reumütigen. Die Selbstzerknirschung dient gleichsam als Arznei gegen die Sündhaftigkeit der Menschennatur, und zwar als verläßliche, sei doch mit ihrer Hilfe der Verlust der Gottesebenbildlichkeit reversibel. „Denn je mehr du die Erbsünde dämpfest", so umgarnt Arndt den Leser mit geradezu kaufmännischem Geschick, „je mehr wirst du von Tag zu Tag erneuert zum Bilde Gottes". 126 Immer wieder und in immer wiederkehrenden Formulierungen schärft Arndt dem Leser, der dadurch vermut122 123 124 125 126
Vgl. Deissler/ Vögtle 1985. Arndt 1845, 54. Ebd (Hervorhebung von mir - M.S.). E b d , 56. E b d , 128.
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lieh weniger religiös erbaut als konditioniert wird, die Proportionalität von Eigenleistung und Gnadenspende ein: „Denn so viel ein Mensch ihm selber abstirbt, so viel lebet Christus in ihm. So viel die böse Natur durch den Geist Gottes abnimmt, so viel nimmt die Gnade im Menschen zu. So viel das Fleisch gekreuzigt wird, so viel wird der Geist lebendig gemacht. So viel die Werke der Finsternis im Menschen gedämpft werden, so viel wird der Mensch je mehr und mehr erleuchtet. So viel der äußerliche Mensch verweset und getödtet wird, so viel wird der innere erneuert". 127 Der letzte Satz formuliert die Bilanz aus den vorangegangenen. Absterben des Menschen, Abnahme der bösen Natur, Kreuzigung des Fleisches und Dämpfung der Werke der Finsternis sind Einzelbestimmungen der Tötung des äußeren Menschen so wie das Leben Christi im Gläubigen, die Zunahme der Gnade, Lebendigmachung des Geistes und Erleuchtung des Menschen Einzelbestimmungen seiner innerlichen Erneuerung sind. Den bilanzierenden Schlußsatz weist Arndt als Adaption eines Verses aus dem Zweiten Korintherbrief aus. Eine wahrlich freie Adaption, denn dort heißt es: „... ob auch unser äußerlicher Mensch verfällt, so wird doch der innerliche von Tag zu Tag erneuert." 128 Es wird von Paulus an dieser Stelle also gar kein proportionales Verhältnis ausgedrückt, sondern ein konzessives und mithin die von Arndt insinuierte Aufrechnung von Tötung des äußeren und Geburt des inneren Menschen keineswegs behauptet. Auch spricht der Korintherbrief vom Verfall des äußeren Menschen, d.h. von einem passiven Vorgang, Arndt dagegen von der aktiven Handlung des Tötens. Aus der Differenz zwischen der Quelle und ihrer Adaption wird klar ersichtlich, welcher Verstehenshorizont Arndts Bibellektüre perspektiviert. Daß Reue und Erneuerung nicht nur logisch, sondern auch zeitlich in einem Bedingungsverhältnis zueinander stehen, spiegelt sich sprachlich in Konditionalkonstruktionen, die eben dieses Verhältnis zum Gegenstand haben. In der Buße müsse dem Glauben „die wahre göttliche Reue [vorhergehen], dadurch das Herz zerbrochen und das Fleisch gekreuzigt wird". 129 Diese Formulierung spricht das Verständnis der Buße als eines stadialen Prozesses von der Reue zum Glauben klar aus; sie entspricht sachlich ganz der in anderen Passagen wie schon dem Titel des Buches insinuierten Partikularisierung der Buße zur dem Glauben als Ermöglichungsgrund vorgeschalteten Reue. Zwar sagt Arndt auch, es hänge beides beieinander: „auf die Tödtung des Fleisches folgt die Lebendigmachung und Erneuerung des Geistes, und auf die Erneuerung 127
Ebd., 32. „...ει και ο εξω ημών άνθρωπος διαφθείρεται, αλλ ' ο εσω ημών ανακαινουται .. (2. Kor. 4,16. Hervorhebungen ν. mir - M.S. Zit.n. Nestle/Aland 1979). 129 Arndt 1845, 24. 128
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des Geistes die Tödtung des Fleisches". 130 Und seine explizite Definition der Buße, die dem zuletzt zitierten Satz vorangeht, liegt ganz und gar auf der Linie des lutherischen Bekenntnisses. Die Tendenz seiner Ausführungen besteht gleichwohl darin, das kirchliche Bußverständnis, ohne dogmatisch mit ihm zu brechen, praktisch in Richtung einer größeren Selbsttätigkeit des Gläubigen für die Erlangung seines Seelenheils zu erweitern, und zwar so, daß die Reue bzw. die zur Reue partikularisierte Buße den Charakter einer Vorleistung annimmt. Und gelegentlich klingt es gar so, als ob solche Vorleistung nicht nur die Voraussetzung des Seelenheils sei, sondern es garantiere: „Kreuzigt er [der Sünder M.S.] aber den Leib sammt den Lüsten und Begierden, Gal.5, 24, so lebt der Geist." 131 An der entsprechenden Stelle des Galaterbriefes, auf die Arndt sich hier ausdrücklich bezieht, formuliert Paulus so: „Alle, die zu Christus Jesus gehören, haben das Fleisch und damit ihre Leidenschaften und Begierden gekreuzigt." Abgesehen davon, daß hier von der Kreuzigung des Fleisches nicht als einer Vorleistung des rechtfertigenden Glaubens die Rede ist, impliziert der Vers keineswegs den Sinn seiner Adaption durch Arndt: daß alle, die ihre Leidenschaften und Begierden kreuzigen, zu Jesus Christus gehörten. Der für Paulus wie Luther konträre Gegensatz von geistigem und fleischlichem Leben wird von Arndt kontradiktorisch aufgefaßt. Das ist wohl nicht wörtlich zu nehmen, unterstreicht aber die deutliche Akzentuierung der dem Menschen laut Arndt für die Erreichung seines Seelenheils möglichen religiösen Vorleistung. Aus diesem Geiste erklärt sich auch seine verschiedentlich wiederkehrende Formulierung, Christus sei dem Menschen ohne die rechtverstandene Buße „nichts nütze", 132 die geradezu utilitaristisch für die Bußhaltung des Sünders argumentiert. Daß Arndt sich zwar mehrfach zum lutherischen Bußverständnis bekennt, es dann aber außerordentlich frei auslegt, heißt indessen nicht, er schiebe Luther lediglich vor, um unter dem Deckmantel des konfessionellen Bekenntnisses desto ungestörter sein heterodoxes Unwesen treiben zu können. Vermutlich glaubte er sich bei der Niederschrift des Wahren Christentums im Einklang mit dem Geist der Lehre, wenn schon nicht immer mit ihrem Buchstaben, von dem gelegentlich abgewichen zu sein der bereits zitierte Beschluß des zweiten Buches mit den alltagspraktischen Belangen eines Mannes motiviert, welcher in erster Linie als Seelsorger tätig war: „Denn es hilft die reine Lehre denen nichts, welche nicht zieret ein heiliges Leben", schreibt Arndt dort und fährt dann mit apologetischem Unterton fort: „Die Reinigkeit der Lehre 130 131 132
Ebd., 14. Ebd., 59. Ebd., 15.
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ist mit wachenden Augen zu bewahren; aber die Heiligkeit des Lebens ist mit groeßerm Ernst fortzupflanzen." 1 3 3
2.4. Zum Verhältnis von Schöpfungstheologie, Anthropologie und Frömmigkeit Von der heilsamen Buße über den wahren Glauben zum heiligen Leben und Wandel kann Arndts Wahres Christentum - wie der vollständige Titel es dem willigen und aufmerksamen Leser ja verheißt - nur deshalb führen, weil das Telos des Weges virtuell in ihm angelegt ist und daher von ihm im Verlauf des Lebens, aristotelisch gesprochen: gegen die steresis seines sündhaften Fleisches im wörtlichen Sinne ent- wickelt werden kann. So hebt das Erbauungsbuch denn auch mit einer ausführlichen Beschreibung der urzuständlichen Gottesebenbildlichkeit des Menschen an, um darauf den Sündenfall als Erkrankung zu interpretieren und folgerichtig die ersten Menschen vom Täter wider Gott zum Opfer umzuschreiben. Zum Opfer Satans nämlich, der „durch seine listigen, giftigen, verfuehrerischen Worte und Betrug seinen Schlangensamen in den Menschen gesaeet, welcher heißt eigene Ehre, eigene Liebe, eigener Wille, und Gott selbst seyn". 134 Satan, in Gestalt einer Schlange, vergiftete den ersten Menschen, wenngleich dies Gift nicht durch einen Biß in ihn kam, sondern durch Besamung, was den Vorstellungsraum lustvoller sexueller Vereinigung evoziert. Ganz untätig sieht Arndt den Menschen also nicht in dieser Szene. Trotzdem: Das Gift ist nicht des Menschen, sondern Satans und, so ist zu folgern, die Eitelkeit, die durch den satanischen Schlangensamen in unsere unglücklichen Vorfahren gelangte, ein Fremdkörper in ihrem ursprünglich gottesebenbildlichen Sein. Wie denn folgerichtig auch in unserem. Denn Arndt begründet die individuelle Sünde jedes einzelnen in dieser einmaligen, in der Vorvergangenheit paradiesischer Urzuständlichkeit erfolgten „Infektion", mithin als gattungsgeschichtliches Erkrankungsschicksal, das jede neue Generation ebenso unerbittlich ergreift wie seit Adam und Eva die vorhergehenden. Daher denn Christus von Arndt als Befreier von Krankheit und Siechtum begrüßt wird. Das wahre Christentum bestehe „in der Wiederaufrichtung des Bildes Gottes im Menschen, und in Austilgung des Bildes des Satans". 135 Die möglichen Konsequenzen dieser Anthropologie hat Albrecht Ritsehl deutlich gesehen. Für Arndt, so Ritsehl, kommt es nicht darauf 133 134 135
Ebd., 317. Ebd., 8. Ebd., 124.
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an, „daß Jeder die Schuld seiner Sünde in dem besondern Umfange, in welchem er an der gemeinsamen Sünde Theil nimmt, für sich feststellt; sondern gemäß dem Typus der allgemeinen angeerbten Sünde soll man sich für den unwürdigsten, elendesten Menschen halten ...". Dabei springe, so Ritsehl aus der Perspektive des lutherischen Sündenverständnisses, eine eigenartig schuldlose Sünde heraus, denn es sei „die Uebertragung des Prädicats der Schuld auf eine als angeerbt vorzustellende Sünde nach den Verhältnissen dieses Begriffs undenkbar. Die präcise Auffassung der Sünde als Schuld kann immer nur an die besondere active oder habituelle Sünde geknüpft werden, die Einer für sich feststellt, und woran er seinen Antheil an der gemeinschaftlichen Sünde mißt. Sobald aber die bußfertige Selbstbeurtheilung auf die angestammte also allgemeine Sünde gerichtet wird, verschwindet das Attribut der Schuld." 136 Ritschis Urteil ist psychologisch plausibel: Arndts unausgesetzte Rede von der Krankheit und dem Elend der Menschen evoziert die Vorstellung schuldloser Verstrickung. In ihr gründet die Zuversicht, mit der er die Leser seines Erbauungsbuches dazu anleitet, sich sub specie ihrer individuellen Bestimmtheit als eifrige Gläubige aus dem Ver-
136 Ritsehl 1966, 45. Zur Bedeutung der Erbsünde in Luthers Menschenbild vgl. Ebeling 1985b; Lohse 1995, 264-273, v.a. 266ff, 268 f. Luther übernimmt aus der katholischen Tradition den Ausdruck peccatum originale f ü r die Erbsünde, verleiht ihm aber, wie Ebeling anhand seiner Schriften ausführlich belegt, unter den verschiedenen Hinsichten des peccatum radicale, peccatum personale und peccatum naturale eine grundsätzlich neue Bedeutung. Ist f ü r die scholastische Sündentheorie die eigentliche Sünde das peccatum actuale, dagegen das peccatum originale nur die allgemeine Sündenanfälligkeit des Menschen bezeichnet, so identifiziert Luther die Erbsünde unter dem Titel peccatum radicale mit der eigentlichen Sünde des Menschen. „Von dem einen peccatum radicale leiten sich die einzelnen sogenannten Tatsünden als bloße Folgewirkungen her. Sie sind nicht im strengen Sinne die Sünde selbst, vielmehr Früchte der Sünde" (Ebeling 1985b, 79). Denn die Sünde hat ihren primären O r t „nicht in den Äußerungen des Menschen, sondern in seinem Sein" (ebd., 81f). Das macht die Erbsünde zu einem peccatum personale und naturale. Darin kommt bei Luther der Rückgriff zum Ausdruck „von dem, was der Mensch tut, auf das, was er ist, von dem, wie er sich äußert, auf das, was sein Inneres bestimmt, von seinem H a b e n , von dem, was er vorzuweisen hat, auf sein Sein, das seinem eigenen Blick und Griff entzogen ist" (ebd., 82f). Während die Scholastik N a t u r und Person unterscheidet, und zwar so, d a ß die menschliche N a t u r durch die Erbsünde beeinträchtigt ist, aber erst das Individuum durch sein willentliches und selbstverantwortliches H a n d e l n - eben durch das peccatum actuale - sündig im eigentlichen Sinne der Täterschaft wird, will Luther durch die synonyme Verwendung von peccatum personale und peccatum naturale „den Menschen in seinem Selbstsein von seinen Werken unterscheiden, also nicht von der Natur, die ihm zugrunde liegt, sondern gewissermaßen von der Kultur, die er erschafft. Die Sünde, will er damit sagen, ist aktiv schon in dem, was im Menschen vorgeht, nicht erst in dem, was aus ihm hervorgeht" (ebd., 85). Die argumentationsstrategisch zentrale Rolle der Gottesebenbildlichkeit des Menschen f ü r die Frömmigkeitslehre J o h a n n Arndts ist daher eher mit den Positionen der Scholastik als derjenigen Luthers vereinbar. Genau darauf will auch Ritsehl hinaus.
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hau der ihnen gattungsgeschichtlich überkommenen Sünde durch glaubensvirtuose Bußleistungen herauszuwinden, allerdings im Vertrauen auf die maßgebliche Hilfe Christi als einem „Arzt und Heilbrunnen". 1 3 7 Die Bußleistungen stehen zur Hilfe Christi etwa so, wie die strikte Schonung, die der Kranke seiner angegriffenen Konstitution angedeihen läßt, zur heilsamen Arznei; gleich dem Fiebernden, der ins Bett gewiesen wird, müssen die Sünder sich in konsequenter Enthaltsamkeit üben. 1 3 8 137 Arndt 1845, 136. „Darum siehe, lieber Christ", macht Arndt dem Genesungsbeflissenen H o f f n u n g , „du kannst ihn gebrauchen zu einer Arznei deiner Seele", „[d]enn wenn er deine Arznei ist, so wirst du gesund" (ebd., 137). 138 Ritschis religionspsychologischer Befund, der sich auf die Analyse der Medizinalmetaphorik im Wahren Christentum stützt, muß keineswegs dem theologischen widersprechen, zu dem Elke Axmacher durch Arndts Verwendung der Spiegelmetapher im Kontext seiner imago die - Lehre angeregt worden ist. „Denn ein Bild ist", erläutert A r n d t die Gottesebenbildlichkeit des Menschen, „darin man eine gleiche Form und Gestalt sieht, und es kann kein Bildniß seyn, es muß eine Gleichheit haben dessen, nach dem es gebildet ist. Als, in einem Spiegel kann kein Bild erscheinen, es empfange dann das Gleichniß oder die gleiche Gestalt von einem andern. U n d je heller der Spiegel, je reiner das Bild erscheint; also auch, je reiner und lauterer die menschliche Seele, je klaerer Gottes Bild d a r in leuchtet" (ebd., 4f). Axmacher konnte anhand der Spiegelmetapher zeigen, d a ß Arndts Wahres Christentum nicht, wie es Ritschis Ausführungen nahelegen, dem katholischen imago dei - Verständnis substanzontologischer Gottesebenbildlichkeit, sondern dem reformatorischen verhaftet ist, das diese Ebenbildlichkeit relational interpretiert. „Die entscheidende Differenz zwischen dem katholischen und dem reformatorischen Ebenbild- Verständnis", so Axmacher, „liegt . . . darin, d a ß im einen Fall Bild als analoges Gott-Ahnlichsein hinsichtlich der dem Menschen eigenen (zugeeigneten) geistigen Wesensstruktur verstanden wird, im anderen Fall als Gott-Entsprechen im unbedingten Bezogensein auf ihn, das die Negation des Selbstbezugs voraussetzt. Fragt man im einen Fall nach den Eigenschaften, die dem Menschen als Bild eingeprägt sind und von ihm in der Richtung seiner schöpfungsmäßigen Anlage immer weiter zu vervollkommnen sind, so im anderen nach dem Verhältnis, das von ihm in der Brechung und U m k e h r u n g seines natürlichen Strebens nach Selbstverwirklichung immer tiefer wahrzunehmen (und eher zu erleiden als zu gestalten) ist. Reinigt und vollendet die G n a d e im einen Fall das durch die Sünde befleckte Ebenbild, so zerstört sie im anderen das vom Menschen aufgerichtete selbsthafte Götzenbild, um es allererst durch das Gottesbild zu ersetzen" (Axmacher 1994, 19). Das Spiegelbild, so Axmacher unter Bezugnahme auf die einschlägige Textstelle bei Arndt, „hat kein eigenständiges Sein, es hat seine Gestalt nicht nur (wie ein gemaltes Bild) einmal ,νοη einem andern' gewonnen, um sie dann d a u e r h a f t zu behalten...; vielmehr ist es ständig darauf angewiesen, seine Gestalt von einem anderen zu empfangen". U n d wenn das Sein des Spiegelbildes allein in seinem Bezogensein auf das Urbild besteht, „so kommt alles darauf an, d a ß der Spiegel dem sich Abspiegelnden zugewandt und d a ß er ein heller, reiner Spiegel ist. Die Metapher wird ethisch- religiös verwendet. Grundlegend ist in beiden Aspekten das Verständnis des menschlichen als eines relationalen Seins im Verhältnis zum göttlichen" (ebd., 24). Die Sünde jedes einzelnen würde demnach darin bestehen, d a ß er seine Gottesebenbildlichkeit als Göttlichkeit mißverstünde und nun „selbst sein will", was er „von G o t t her ist und nur von ihm her sein kann . . . So geringfügig der Unterschied zwischen der Betrachtung Gottes im Spiegel des eigenen Selbst und der Betrachtung des eigenen Selbst in seiner Gottgleichheit auch erscheinen
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Sie ist die Leitorientierung für die vom Gläubigen geforderte Umkehr. Arndt widmet sich ihr vor allem sub specie der ^4^kehr des Gläubigen von der Welt. „Ablassen", „Abwenden", „Absterben": es ist auffällig, wie häufig Arndt Verben mit der Vorsilbe „ab" gebraucht, um dem Sinneswandel des Gläubigen Ausdruck zu verleihen. Mit Nachdruck soll sich dem Gedächtnis des Lesers einprägen, wie „... das Absterben der Welt ist die Tödtung des Fleisches, und alles daß, dazu das Fleisch Lust hat; stetige, inwendige, verborgene Reue und Leid, dadurch man sich innerlich zu Gott von der Welt abwendet, und täglich im Herzen der Welt abstirbt, und in Christo leben im Glauben, in herzlicher Demuth und Sanftmuth, und sich der Gnade in Christo tröstet". 139 Immer wieder ragt die Vorsilbe aus dem Sprachfluß hervor und stößt die Leser mit unablässiger Penetranz auf die geforderte Umkehr ihres sündigen Lebenswandels. „Denn Buße ist nicht allein, wenn man den groben äußerlichen Sünden Urlaub gibt und davon abläßt, sondern wenn man in sich geht, den innersten Grund seines Herzens ändert und bessert, und sich abwendet von seiner eigenen Liebe zu Gottes Liebe, von der Welt und allen weltlichen Luesten zum geistlichen himmlischen Leben, und durch den Glauben des Verdienstes Christi theilhaftig wird." 140 Die Hinkehr des Sünders zu Gott vollzieht sich, auf dem Wege der Abkehr von der Welt, als Einkehr in sich, denn Arndt lokalisiert „Gottes Liebe" zunächst weder in einer praktischen Tätigkeit - etwa in der Gemeindearbeit oder anderweitigem sozialen Engagement - noch im Merken auf das Wort der Schrift - sei es im Gottesdienst, in Bibelkreisen oder bei eigener Lektüre - , sondern in dem Gefühlsraum liebevoller Zweisamkeit des Gläubigen mit seinem Gott: „Gleichwie der liebenden Seele nichts Liebreicheres ist, denn Christus, und kein höheres und köstlicheres Gut, denn Gott selbst", 141 also ist der Lebenslauf des Menschen dann „der alleredelste und vollkommenste, wenn er wiederkehrt in seinen Ursprung, welcher ist in Gott. Das kann aber nicht geschehen, als wenn ein Mensch in sich selbst geht mit allen seinen Kräf-
mag, für Arndt kennzeichnet er den Abgrund, der durch den Sündenfall aufgerissen wird" (ebd., 30). Der einzelne Sünder ist demnach durchaus, was Ritsehl bestreitet: aktiv in seiner individuellen Versündigung, nämlich durch „selbst-wollen oder das Eigene wollen" (ebd., 32). Gleichwohl ist auch diese aktive Sünde im Sinne Ritschis gattungsgeschichtlich erzwungenes Schicksal jedes einzelnen, ein Leiden an seiner ihm vom Sündenfall her überkommenen selbstbezüglichen Aktivität, und die Heilung aus dieser mithin individuell unverschuldeten, weil gleichsam satanisch introjezierten Disposition nur möglich als „ein bloß lauter Leiden des Göttlichen Willens" (Arndt, zit.n. Axmacher 1994, 32), zu dem den Sünder virtuose Bußleistungen der Weltabkehr vorbereiten. 139 140 141
Arndt 1845, 15. Ebd., 14 f. Ebd., 219.
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ten, und seinen Verstand, Willen und Gedächtnis erledigt von der Welt und von allen fleischlichen Dingen, und seine Seele mit allen ihren Begierden zu Gott wendet durch den heiligen Geist, ruhet und feiert von der Welt, durch einen stillen Sabbath; als dann fängt Gott an, in ihm zu wirken". 1 4 2 Damit ist zweierlei vorausgesetzt: erstens, daß das Ich virtuell von der sündhaften Welt verschieden sei, und zweitens, daß der Gott, zu dem es sich in sich einkehrend hinkehren soll, seinem Innersten einwohne und darin gefunden werden könne. Beide Prämissen, die
142 Ebd., 325. Arndts Vorstellung einer Einkehr des Gläubigen ist zentral f ü r sein Schriftverständnis. Bernd H a m m hat die Dominanz des inneren Wortes gegenüber dem äußeren im Wahren Christentum herausgearbeitet. So zeigt „die scharfe Trennung, die A r n d t zwischen der kreatürlichen Außenwelt und dem eigentlichen Sein eines geistlichen Innenraums vornimmt, d a ß er einer spiritualistischen Denkweise verpflichtet ist. Zu den Kreaturen, die der Mensch hinter sich lassen soll, gehört auch das äußere W o r t der kirchlichen Verkündigung. Dem Zu-Worte-Kommen Gottes entspricht ein Verstummen aller Stimmen, die von außen in die Seele eindringen. Den Schatz der G n a d e und des Heils, die Fülle des Trostes und die K r a f t zu einem Leben in der Nachfolge Christi findet der Glaubende nur in solchen Worten, die G o t t in ihm selbst spricht" ( H a m m 1982, 58). Das W o r t der Schrift und der mündlichen Verkündigung sei kein Gnadenmittel, aber ihm komme die wichtige Aufgabe zu, „dem H e r z e n den geschichtlichen Inhalt der christlichen Botschaft nahezubringen, es zu unterrichten, aufmerken zu lassen, anzuregen und dem beginnenden Glauben Orientierung zu geben. All dies bezieht sich auf das Aufnahmevermögen des homo exterior, der damit auf das innere Wandlungsgeschehen hin in Bewegung gesetzt wird. Die Wiedergeburt selbst jedoch, die aus dem toten, unfruchtbaren Glauben des äußeren Menschen den lebendigen Glauben des inneren macht, liegt nicht mehr im Wirkungsbereich des sinnlich wahrnehmbaren Wortes, sondern bedeutet unvermitteltes Berührtwerden der Seele durch G o t t " (ebd., 6 l f ) . Inge Magers Einsprache gegen H a m m s Interpretation ist dagegen nicht überzeugend. Sie bringt vor, Arndt erkläre „Wort, Sakrament, Bekenntnis und Gebet f ü r durchaus notwendige ,Mittel' des Hl. Geistes", aber er spreche ihnen „keine automatische, adressatenunabhängige Wirkung" zu (Mager 1992, 155, Anm.30). H a m m bestreitet meines Erachtens jedoch keineswegs die Notwendigkeit des äußeren Wortes, er bezweifelt allein seinen Stellenwert als G n a d e n mittel. Mager interpretiert Arndt so, d a ß erst die verlebendigende Aufnahme des äußeren Wortes durch den einzelnen Gläubigen Gnadenwirkung entfalte. H a m m würde dem wohl nicht widersprechen, er geht aber einen Schritt weiter und zeigt, d a ß diese Verlebendigung sich zu dem Streben nach immediater Gotteserfahrung verselbständigt, die des äußeren Wortes nurmehr als eines Anstoßes bedarf. Inwieweit von einer solchen E r f a h r u n g dann aber überhaupt noch sinnvollerweise als dem Vernehmen eines inneren Wortes, d. h. einer begrifflichen und mithin eo ipso nicht immediat zugänglichen Entität gesprochen werden kann, und schließlich sogar, in der Terminologie Gadamers, von der Auslegung des äußeren im „Verstehenshorizont" des inneren Wortes (Hamm 1982, 67), bleibt bei beiden unerörtert. Heribert Wimmel hat versucht, Arndts Paradoxon des inneren Wortes so zu deuten: es sei das verinnerlichte biblische W o r t , „das die Gläubigen nur begreifen können, wenn sie sich so in das Evangelium vertiefen, d a ß sie die Grenzen zwischen sich und der Schrift nicht mehr wahrnehmen" (Wimmel 1981, 31) und sie nun „aus sich selbst heraus" vernehmen (ebd., 152). Auch diese Interpretation ist nicht mehr als eine begrifflich dunkle Paraphrase. Zu Arndts wiederholter Rede vom „inneren" oder „stillen Sabbath" vgl. Schneider 1983, 212ff.
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virtuelle Verschiedenheit des Menschen von der Welt wie die Einwohnung Christi im Menschen, sind fundiert in Arndts schöpfungstheologisch begründeter Anthropologie der gottesebenbildlichen, doch an der Sünde erkrankten Menschheit. Sie stützt die Gewißheit, daß die Menschen ihre „Krankheit" zu überwinden und, was sie durch sie verloren, wieder zu restituieren vermöchten. Allerdings: Erst in der Selbsttätigkeit reuiger Abkehr des Menschen von der Welt erweist sich seine Verschiedenheit von ihr, wird die Einkehr in sich möglich und die Einwohnung Christi in ihm subjektiv erfahrbar. 1 4 3 Diese Selbsttätigkeit trägt die Züge selbstreflexiver Verinnerlichung des Glaubenslebens.
2.5. Selbstreflexivität
des
Gläubigen
Selbstreflexiv soll das Glaubensleben werden, um sich seiner Wahrhaftigkeit zu versichern. Der Gläubige ist beständig aufgefordert, sich darüber Rechenschaft zu geben, ob seine reuige Weltabkehr aus Liebe zu Gott geschieht. „Ist das Herz gut, so ist Alles gut, was du thust", 1 4 4 aber ist denn das Herz gut? Der Maßstab der Weltabkehr ist das Gesetz und wer sein Herz prüfen will, möge die zehn Gebote vor sich nehmen und beurteilen, welcher Art sein Gehorsam sei. „Du treibst keine äußerliche Abgoetterei. Ist recht; siehe nur zu, ob auch der Grund des Herzens dabei ist; ob du auch keinen Götzen im Herzen sitzen hast; ob du auch inwendig so bist, wie auswendig . . . Du betest, lobest, dankest Gott äußerlich mit dem Munde; siehe aber, daß du nicht mit dem Munde betest, und im Herzen fluchest. Forsche des Herzens Grund, wie es da steht." 145 Stete Gewissensforschung soll noch den hintersten Winkel der Seele ausleuchten, um ihren verborgenen Regungen auf die Spur zu kommen. Entscheidend ist dabei allein dies: „Hast du ein gehorsames
143
Immer wieder formuliert Arndt die Umkehr des Gläubigen im Sinne der Abkehr von der Welt als einer Bedingung der Möglichkeit zur Einkehr. Martin Schmidts These, daß „[s]olche Einkehr . . . von allein die Abkehr von der Welt nach sich [zieht]" (Schmidt 1979, 126), ist daher nicht haltbar. Von einer Nachordnung oder einer sich beiläufig einstellenden Abkehr kann keine Rede sein. Vgl. auch Hamm 1982, 57: „Die vorbereitende Stufe der reinigenden Buße wird von ihm [Arndt - M.S.] als Einkehr in den Innenbereich des eigenen Herzens beschrieben, als Einkehr, die zugleich Abkehr ist von allem, was nicht Gott ist." Noch deutlicher Schneider 1992, 295: „Erst auf dem Weg der Selbstverleugnung wird der Mensch ,in Gott gezogen' und Brecht 1993a, 136: „Diese Notwendigkeit der Verleugnung der Welt wird breit ausgeführt, sie macht das akute Problem aus. Dabei kann . . . die aktive Umkehr als menschliche Voraussetzung und Vorleistung zur Erneuerung erscheinen." 144 145
Arndt 1845, 148. Ebd.
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Herz, aus Liebe, nicht aus Zwang? Wo nicht, so ist's Heuchelei." 146 Weil die Weltabkehr des Reumütigen die gleichsam öffentliche Seite eines Vorgangs ist, der sich privat als Einkehr in sich, in den Gefühlsraum liebender Zweisamkeit mit Christus vollzieht, kann die Abkehr nur als Einkehr gelingen, aber umgekehrt auch die Einkehr nur durch Abkehr, indem diese den Reumütigen für die Einkehr psychologisch prädisponiert. 147 Überführt sich der Sünder dann einer bloß geheuchelten Abkehr von den weltlichen Belangen, so wird umso strengere „Buße, Reue und Leid" verlangt, auf daß die Liebe aus ihr dereinst gleichsam hervorspringe und den Zerknirschten innerlich erfülle. Arndt ist offensichtlich - ebenso wie Luther - von dem Listenreichtum der Sünde überzeugt, zu deren Repertoire es eben auch gehöre, Reue bloß vorzutäuschen. Und doch mißt er der aktiven Reue Heilswirkung zu, denn unablässig schwört er die Leser des Wahren Christentums darauf ein, an sich selbst zu arbeiten, um durch Weltabkehr den alten Adam in sich zu töten. 148 Psychologisch prädisponiert diese Spannung zwischen der erhofften Heilswirkung der Reue bzw. der wesentlich im Sinne der Reue verstandenen Buße einerseits und ihrer Unzuverlässigkeit andererseits für eine Kreisbewegung nicht stillstellbarer Gewissensprüfung, jener Reflexion in sich, die Hegel mit Seitenblick auf den Pietismus dem unglücklichen Bewußtsein attestierte; die andererseits Luther fremd bleiben mußte, gerade weil er die aktive Reue, die Arndt dem Leser seines Buches auf jeder Seite ansinnt, ausdrücklich zurückweist. Nicht nur bewertet er sie als Symtom menschlicher Selbstüberschätzung, sondern er erahnt hellsichtig ihre psychologischen Konsequenzen. Wenn „du dich vermissest, durch deine Reue und Genugtuung dich zu beruhigen", appelliert er 1519 in dem Sermon von der Betrachtung des heiligen Leidens Christi an die Einsicht des vom katholischen Bußverständnis geprägten Gläubigen, „so wirst du nimmermehr zur Ruhe kommen, und mußt zuletzt 146 Ebd., 149. In der Magdeburger Ausgabe von 1630 heißt es: „Hastu auch ein gehorsames Hertz..." (Arndt 1630, 37 [Hervorhebung v. mir - M.S.]). 147 Daher bezeichnet Arndt die Bußhaltung als die „auswendige" Seite der Einkehr in sich, das ganze als einen zugleich „auswendigen" wie „inwendigen" Vorgang. Vgl. ebd., 330. 148 Für Luther kein vielversprechendes Ziel, eben weil sich niemand sicher sein kann, daß sich in seiner Reue über die eigene Sündhaftigkeit diese nicht vielmehr reproduziert. Vgl. seine Profilierung des protestantischen Bußverständnisses gegenüber dem „Papismus" in den Schmalkaldischen Artikeln: Luther 1996, Bd. 1, 197 ff. So währt Luther zufolge die Buße des Christen „bis in den Tod; denn sie streitet das ganze Leben hindurch mit der im Fleisch zurückgebliebenen Sünde" (ebd., 206). Folgerichtig muß die Rechtfertigung täglich neu erfahren werden. „So ist dieses Leben auf dieser Erde ein Spital:", faßt dann der alte Luther 1546 sein Verständnis der menschlichen Natur in ein anschauliches Bild, „die Sünde ist zwar vergeben, aber wir sind noch nicht heil" (ebd., Bd. 6, 36).
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doch verzweifeln. Denn wenn wir in unserem Gewissen uns mit unseren Sünden abgeben und sie bei uns bleiben lassen und sie in unserem Herzen ansehen, so sind sie uns viel zu stark und leben ewig." 149 Der Begriff „Verzweiflung" ist in diesem Kontext glücklich gewählt, weil die Reflexion der Sünde in der Reue nicht aus ihr herausführt, sondern dem Reumütigen bloß ihre Ubermacht zu Bewußtsein bringt. Und das Bewußtsein seiner unentwirrbaren Verstrickung in die Sünde kann den, der auf die reinigende Wirkung der Reue baut, zunächst in die Bezweiflung aller Seelenregungen treiben, die dann in den potenzierten Zweifel der Ver- zweiflung, der Ausweglosigkeit des Zweifels an sich selbst zu münden droht. 1 5 0 So wäre Luther auch nicht für die von Arndt angemahnte Weltabkehr zu gewinnen gewesen, denn das gottgefällige Leben hebt, wie er einmal salopp formuliert, „nicht damit an, daß du die Kutte und den Strick eines Mönches anlegst" 151 und also Bewährung des Glaubens auf dem Wege der Weltflucht suchst, sondern indem „du frisch deine Arbeit tust und kindlich betest. Kommt euch etwas Widriges dazwischen, so leidet's nur fröhlich! Du bist darum nicht von Gott verlassen, sondern du darfst sagen: ,Ich habe gebetet und es Gott befohlen. Gott wird es wohl schicken'". 152 Die beiden Zitate sind Predigten Luthers entnommen und zielen mithin ebenso auf Erbauung ihrer Hörer wie Arndts Wahres Christentum. Welch ungleicher Tonfall trotz gleicher Intention! Luthers Predigtsprache vermittelt eine im Glauben fundierte Zuversicht gegenüber den alltäglichen Lebensanforderungen, Arndts Erbauungsstil die Beklemmung inquisitorischer Selbstbefragung im Dienste steter Disziplinierung für das „wahre" Christentum. Den Tonfall Luthers in den zitierten Beispielen wird man bei Arndt vergebens suchen. Noch einmal seine Gewissensfrage: „Hast du ein gehorsames Herz, aus Liebe, nicht aus Zwang? Wo nicht, so ist's Heuchelei." 153 Weil sich die Abkehr des Reumütigen von der sündigen Welt daran bemißt, ob sie sich als Einkehr in den Gefühlsraum herzinniglicher Zweisamkeit mit Christus vollzieht, untersteht dieser Gefühlsraum steter Beobachtung. Aber woran ist die wahre Liebe Gottes zu erkennen? Der Gläubige soll nicht allein darauf reflektieren, ob die Weltabkehr von der Liebe Gottes durchdrungen werde (und er also nicht bloß äußerlich den Geboten gottgefälligen Lebens folgt), sondern auch, welcherart jene Gefühle sei-
149
Luther 1996, Bd. 2, 109. Scharfsinnig erkannt und analysiert hat die Strukturlogik des Verzweifeins Sören Kierkegaard in seinem späten Hauptwerk Die Krankheit zum Tode von 1849. 151 Luther 1996, Bd. 6, 48. 152 Ebd., 157. 153 Arndt 1845, 149. 150
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en, die er, vielleicht fälschlicherweise, als Liebe Gottes identifiziert. Folglich observiert der „wahre" Christ im Sinne Arndts nicht nur seine Abkehr von der Welt, sondern ebenso seine Einkehr in sich, in den besagten Gefühlsraum liebevoller Zweisamkeit mit Christus, der dem Gläubigen wegen seiner beständigen reflexiven Vergegenständlichung freilich verschlossen zu bleiben droht. Dieser Fall ließe ihm nichts übrig, als sich umso emsiger an die öffentliche Seite seiner reumütigen Umkehr zu halten und die Abkehr von der Welt desto wütender zu betreiben. Und entsteht ihm daraus „ein inwendig Herzeleid, Traurigkeit, Angst und Pein der Seele, ja oft eine höllische Pein; davon die Weltmenschen, so nach der Natur leben, wenig wissen", so möge er nicht verzagen, denn dies sei „der wahrsten Zeichen eines von der Gegenwart des heiligen Geistes". 154
2.6. Empfindsamkeit des Glaubens Was aber genau unter dieser Einkehr des Menschen in sich, in den Gefühlsraum liebevoller Zweisamkeit mit Christus sich vorzustellen sei, bedarf noch der näheren Ausführung. Die Leser des Wahren Christentums sind diesbezüglich auf dessen drittes Buch verwiesen. 155 Es sei „dahin gerichtet []", kündigt Arndt es dem Erbauungsbedürftigen an, „wie du das Reich Gottes in dir suchen und finden mögest, Luc. 17, 21 .,.". 1 5 6 Die Formulierung bezieht sich zweifellos aus Gründen der Selbstautorisierung dieses für das „wahre Christentum" maßgeblichen Gedankens auf das Lukasevangelium. Wieder einmal ist es aufschlußreich, wie Arndt den Referenztext seinem Frömmigkeitsverständnis anverwandelt. Die angegebene Verszeile steht im Zusammenhang des lukanischen Reiseberichts, der von dem Weg Jesu nach Jerusalem kündet. Von Pharisäern, die ihm unterwegs begegnen, nach dem Kommen des Gottesreiches befragt, antwortet Jesus, man könne sein Kommen nicht an äußeren Zeichen erkennen, und begründet das wie folgt: „... ιδου γάρ ή βασιλεία τοϋ θεοϋ εντός υμών έστιν." 157 Der Sinngehalt dieses Satzes hängt wesentlich von dem Wörtchen εντός ab. Als orts- und zeitbestimmende Präposition hat es die Bedeutung von „innerhalb", „im Bereiche von", „diesseits" oder „binnen". Die Neue Jerusalemer Bibel in154 155
Ebd., 350. Zur ausführlichen Interpretation des dritten Buches vgl. neuerdings Gruebner
1998. 156
Arndt 1845, 319. Die Referenztextangabe „Luc. 17,21" ist vom Herausgeber nachträglich eingefügt worden. 157 Zit. n. Nestle-Aland 1979.
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terpretiert εντός in enger Anlehnung an diesen Bedeutungshof, indem sie Jesu Worte mit „Das Reich Gottes ist (schon) mitten unter euch" übersetzt. Sie entspricht damit der raum-zeitlichen Doppeldeutigkeit der Präposition. Lukas läßt Jesus die Botschaft verschlüsseln, daß das Gottesreich einerseits in Gestalt seiner „unter" den Menschen sei und andererseits für sie durch ihn zur Gegenwart gelange. Das freilich sagt er nicht ausdrücklich, denn das Verstehen soll gebunden sein an die existentielle Bereitschaft des Vernehmens, die sich allererst in der Entschlüsselung der Botschaft erweisen muß. Die Deutungsbedürftigkeit seiner Rede ist mithin der sprachpraktischen Situation von Jesu Verkündigung konstitutiv. Deshalb auch wäre das Gottesreich als eine gegenständliche Einrichtung auf Erden mißverstanden. Es gelangt vielmehr zur Gegenwärtigkeit des Hier und Jetzt im Vollzug des entschlossenen Vernehmens des verschlüsselt Verkündeten: als dessen das Leben des Hörenden ihm neu und umfassend erschließende Verstehen. 158 Arndts Vergewisserung des gläubigen Lesers, er vermöchte das Gottesreich in sich zu suchen und zu finden, kann sich demnach nur dann auf die Textstelle bei Lukas beziehen, wenn die Präposition εντός im Kontext des Satzes als synonym mit εν verstanden und folglich mit „in", daher der ganze Satz mit „Das Reich Gottes ist in euch" (also wörtlich: εν υμιν) übersetzt wird. Nur wenn das Gottesreich in uns ist, können wir es dort auch suchen und finden. Tatsächlich übersetzt Arndt so. Dem sechsten Kapitel des ersten Buches seines Wahren Christentums stellt er den Satz Jesu aus Lk 17, 21 in eben diesem Wortlaut als Motto voran. Auf diese Weise tilgt er im Text die durch εντός mitbedeutete spezifische Zeitlichkeit des an-wesenden, d.h. des wesenhaft werdenden, wesenhaft in seinem Werden bestehenden Gottesreiches und verkürzt mithin dessen Sinngehalt um den Aspekt des nicht-gegenständlichen Seins im Geschehen des die Worte Jesu vernehmenden Verstehens seiner Verkündigung. Es ist nunmehr gegenständlich lokalisierbar, und zwar geradezu so, daß ich es in mir als Objekt einer Suche finden, d.h. als solches identifizieren kann: „Wie herrlich, köstlich und lieblich ist's nun, daß unser höchster und bester Schatz, das Reich Gottes, nicht ein auswendiges, sondern ein inwendiges Gut ist, welches wir stets bei uns tragen ..., dazu wir auch keiner großen Kunst, vieler Sprachen oder
158
Dem Bedingungsverhältnis zwischen der Gegenwart des Gottesreichs und dem performativen Sprachsinn seiner Verkündigung, daß nämlich in dem ihr angemessenen Vernehmen des gesprochenen Wortes das durch das Wort Verkündete allererst zur Gegenwart und Wirklichkeit gelangt, entspricht auch der Umstand, daß „Luther den Vorrang der mündlichen Verkündigung vor der schriftlichen Fixierung im Bibeltext betont". Gott begegnet dem Gläubigen im Wort. „Dieses Wort aber ist mündliches Wort, nämlich lebendige Verkündigung" (Lohse 1995, 207).
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Bücher bedürfen, sondern ein gelassenes, Gott ergebenes Herz. Lasset uns demnach Fleiß anwenden, einzukehren zu diesem unserm inwendigen, verborgenen, himmlischen und ewigen Gut und Reichthum." 159 Der theologischen Gelehrsamkeit in Gestalt der „großen Kunst, vieler Sprachen oder Bücher" als einem entbehrlichen, bloß auswendigem Gut wird das für das „wahre Christentum" maßgebliche inwendige des Gottesreiches gegenübergestellt. Wie die Spiritualisten Weigelscher Provenienz zählt auch Arndt des gläubigen Christen heilige Schrift der Bibel zu den auswendigen Gütern. 160 Der Gläubige bedarf ihrer zwar als eines Anstoßes und wohl auch einer Rückversicherung, findet im übrigen aber alles in sich selbst, dessen er zu seinem Seelenheil bedarf. 161 Vor diesem Hintergrund überrascht es dann auch nicht, daß das sechste Kapitel des ersten Buches, dem Arndt die Worte aus Lk 17, 21 als Motto voranstellt, zu den Passagen im Wahren Christentum zählt, die besonders deutlich für die empfindsame, weitabgewandte Verinnerlichung des Glaubenslebens eintreten. Nun ist freilich Arndts Übersetzung der prominenten Bibelstelle so ungewöhnlich nicht. Luther formuliert in seiner Bibelübersetzung bekanntlich ähnlich („Das Reich Gottes ist inwendig in euch") und selbst Lucas Oslander, Arndts schärfster Kritiker vom Standpunkt der lutherischen Orthodoxie, wählt denselben Wortlaut, obwohl er doch gegen den Geist des sechsten Kapitels zu Felde zieht. 1 6 2 Aber im jeweiligen Kontext wird deutlich, daß sowohl Luther
159 Arndt 1845, 320. In der Vorrede zur Braunschweiger Ausgabe der Vier Bücher vom wahren Christentum aus dem J a h r 1606 faßt A r n d t den Inhalt seines dritten Buches so zusammen: „3. Im dritten will ich handeln, wie Gott den höchsten Schatz, sein Reich, in des Menschen H e r z gelegt hat, als einen verborgenen Schatz im Acker, als ein göttliches innerliches Licht desselben. D a wirst du erkennen, was du f ü r einen hohen edlen Schatz täglich bei dir im H e r z e n trägst und mit aus der Welt bringest. Das ist der beste Teil, der kann nicht von dir genommen werden" (zit.n. Koepp 1973, 41). - Der gegenüber der lukanischen Stelle veränderte, auf Verinnerlichung und Empfindsamkeit verengte Sinngehalt der Reich- Gottes-Vorstellung dürfte nirgends im Wahren Christentum deutlicher hervortreten. 160 (j; e heilige Schrift und rechtmäßige Erklärung derselben auswendig behandelt, das soll im Herzensgrunde, in der T h a t und Wahrheit also befunden werden. Dazu ist vonnöthen das Einkehren zu seinem eigenen G r u n d e . . . Denn vor G o t t gilt nichts Aeußerliches, sondern das Innerliche; nicht was im Buchstaben besteht, sondern was aus dem Geist geht und im Geist besteht. Darum i s t . . . ein großer Unterschied unter . . . einem Gelehrten und Heiligen. D e r Gelehrte lernt von außen aus dem Buchstaben, der Heilige lernt aus G o t t , inwendig aus dem heiligen G e i s t . . . D e r Gelehrte hat seine Kunst in W o r ten, der Heilige in der K r a f t . . . " (Arndt 1845, 322). Sogar noch um eine Nuance deutlicher formuliert die Magdeburger Ausgabe: „ . . . nicht was im Buchstaben stehet / sondern was aus dem Geist gehet / und im Geist bestehet..." (Arndt 1630, 5 [Hervorhebung v. mir-M.S.]). 161 Zur Reich Gottes-Theologie in der Kirchengeschichte vgl. die Quellensammlung von Staehelin: ders. 1957.
J o h a n n Arndts „Vier Bücher vom wahren Christentum"
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wie Oslander damit die intrinsische Relation zwischen Verkündigung und Gläubigem betonen wollen, ohne daraus spitualistische Konsequenzen zu ziehen, und das unterscheidet sie eben von Arndt. 163 Arndts Entwurf des „wahren" Glaubenslebens hebt das Gottesreich in einer spezifischen Empfindungsdisposition des Gläubigen auf, und das heißt: er positiviert das Reich Gottes als eine private Zuständlichkeit des in das Gehäuse seiner Innerlichkeit einkehrenden Gläubigen mit einer bestimmten Palette einzelner Empfindungsqualitäten und dem entsprechenden Beschreibungsvokabular, dessen er bedarf, um sich immer wieder seiner religiös-empfindsamen Zuständlichkeit reflexiv zu vergewissern. Dieses Vokabular begegnete uns schon bei Praetorius und Nicolai. 1 6 4 Es beschwört mit einer Metaphorik der Sinne die Eindring162
„Vnnd weil zum Schein / von J o h a n n Arndten sehr vil diser Spruch Christi: Das Reich Gottes ist in euch / sc. Luc. 17. Getriben und zum vermeindten G r u n d dises Fürgebens o f f t widerholet wuerde: so laßt uns sehen / was doch in demselben / die eigentliche Meinung unsers H E R R N Christi seye" (Oslander 1623, 175). 163 m a n a [ , e r j e n g a n t z e n Context jetztgedachten Spruchs eigentlich und alles Fleisses ansehn und erwegen wirdt / wirdt sich befinden / d a ß Christus nichts weniger reden wollen / als was unsere Schwaermer in disem Spruch zusuchen sich bemühen. Dann / wol darauff zusehen / mit wem Christus geredt / vnnd wem er disen Spruch zu Antwort gegeben / naemblich den Phariseern / welche Christum gefraget haben: Wann kommet das Reich Gottes? Vnd waren sie in dem W o h n : das erstlich das Reich Gottes . . . noch nicht kommen: vnd zum andern / so es kommen würde / das es mit eusserlichen geberden / mit eusserlichem ansehentlichem T h u n vnd Pracht / daher gehen werde. In welchen beyden Stucken / die Phariseer sich sehr groeblich geirret haben. Denen Leuten nuhn antwortet zugleich auch der H E R R Christus auff ihre gethane Frag vnnd spricht: Es werde das Reich Gottes nicht auff ein solche irdische Weise / mit Weltlicher Pracht / Ansehen / Auffrichtungen eines Newen / vor der Menschen Augen / stattlichen Gottesdiensts / besonderer Wercken und Satzungen hergehen / dann solches seye nicht von der Art vnd Eigenschafft deß Reichs Gottes / als welches im Predigampt vnnd Geist stehe / vnnd nicht ein Reich von diser Welt seye. Zeiget ihnen auch an / sie doerffen auffdises Reich nicht länger warten / dann es allbereit vorhanden vnd vor der Thuer / weil ( w i e Johannes der T ä u f fer sagt: Joan. 1.) allbereit der HERR dises Reichs mitten under sie getretten / vnd das Reich Gottes (Luc.ll.) zu ihnen komme" (Oslander 1623, 179f [Hervorhebungen v. m i r - M.S.]). M a n beachte Oslanders Metaphorik: das Reich Gottes stehe „vor der Thuer", der Gläubige muß (sich) ihm also öffnen und es zu sich hineinlassen. Diese Ö f f n u n g meint die Bereitschaft, das verkündigte W o r t zu vernehmen, und so ist das Reich Gottes f ü r Oslander zwar ,im' Gläubigen, aber nicht im Sinne eines charakterlich oder dispositional verortbaren Gutes, sondern in der Eigenschaft von „Glauben vnnd Liebe" (ebd., 175). U n d der Glaube ist Wortglaube: „Warfuer hette Christus selber öffentlich vnd muendtlich / jetzo im Tempel / jetzo auff öffentlichem Feld / auß dem Schiff / auff dem Berg / in den Schulen / in Mahlzeiten / in der Wüsten / an dem Meer / sc. geprediget?", fragt Oslander seinen Leser mit rhetorischer Spitze gegen Arndts Rede vom „inwendigen W o r t " (ebd., 176). 164
Vor allem Philipp Nicolai „vertritt eine ähnlich gefärbte Innerlichkeit; doch während diese bei ihm hinter der eschatologischen Ausrichtung zurücksteht, befindet sie sich bei A r n d t im Mittelpunkt seines Rufens und M a h n e n s " (Staehelin 1957, 110). „ H a t Arndt in seinem ,Wahren Christentum' aus der Nachfolge des Lebens Jesu eine fast diesseitige Frömmigkeit abgeleitet, bei der der T o d fast überhaupt nicht von Bedeutung ist, so sind
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lichkeit seelisch-leiblicher Heilserfahrung, die dem Gläubigen mit dem Anschein der Unwillkürlichkeit zuteil wird. „Denn gleichwie die Sonne von ihr selbst scheint, der Tag von ihm selbst leuchtet, der Brunn von ihm selbst quillt, der Regen von ihm selbst fließt und feuchtet: also gießt sich der heilige Geist in eine solche Seele, die sich von der Welt zu Gott erhebt" 165 - indem sie, wie zu ergänzen ist, in sich einkehrt. Das Bild betont die völlige Passivität des Gläubigen bei diesem Geschehen. Sie ist sogar die unerläßliche Voraussetzung für sein Eintreten, wozu „eine feine, stille, ruhige Seele" gehört, 166 in der „alle Sinne hineingekehrt, zur Ruhe gebracht, und in Gott gesammelt sind. Wenn im Verstand kein irdisch Ding scheinet, sondern die thierische Weisheit untergegangen, und in eine Nacht oder göttliche Finsternis verwandelt ist: so geht das göttliche Licht auf, und gibt einen Blick und Strahl von sich, und scheinet in der Finsternis. Das ist das Dunkel, darin der Herr wohnt, und die Nacht, in welcher der Wille schlaeft und mit Gott vereinigt ist, darin das Gedächtniß vergessen hat der Welt und der Zeit. So bewegt alsdann in einem Augenblick das göttliche Licht den Verstand, die himmlische Begierde den Willen, und die ewige Freude das Gedächtniß, und es kann's doch weder Verstand, noch Wille oder Gedächtniß begreifen noch behalten; denn es bleibt nicht in den Kräften der Seele, sondern ist verborgen im innersten Grund und Wesen der Seele". 167 Die zitierte Passage schildert präzise den Verlauf und Gehalt einer mystischen Erfahrung. 168 Sie entfaltet sich in der Stille „auswendiger" Ereig-
Nicolais Gedanken ,Todesgedanken', ,meditationes', die das Sterben zum Anlaß und das ewige Leben zum Sinn haben (Zeller 1970, 76)." Nicht die Jenseitsfrömmigkeit Nicolais, sondern „individuell-verinnerlichte Diesseitsfrömmigkeit" charakterisiert das Wahre Christentum (Sommer 1999b, 276). 165 Arndt 1845, 320. 166 Ebd. 167 Ebd., 332 f. 168 Vgl. hierzu James 1987, 342-386; neuerdings zur Strukturlogik mystischer Erfahrung aus symboltheoretischer Perspektive Margreiter 1997, 61-110. - Die umfassendste Untersuchung der Mystik im Wahren Christentum stammt von Wilhelm Koepp und liegt mittlerweile 90 Jahre zurück (vgl. Koepp 1973). Der Autor vertritt die These, Arndt habe durch Wiederbelebung katholischer Quellen im Kampf gegen die konfessionelle Veräußerlichung des Luthertums eine „mystische Sonderreligion" entwickelt, welche die Christuserfahrung des Gläubigen auf die Erfahrung seines „bloße[n], naturhaftefn] Seelengrund[es]" reduziere und so das lutherisch-biblizistische Glaubensverständnis sprenge bzw. wirkungsgeschichtlich beschädigt habe. Vgl. ebd., 217-296. Den Ergebnissen seiner religionspsychologischen Studie wird allerdings von kirchengeschichtlicher Seite in der neueren Forschung dahingehend widersprochen, Arndt sei kein genuiner Mystiker, sondern habe sich die mystische Gedankenwelt lediglich aus protestantisch-seelsorgerlichem Interesse an der Verlebendigung des Glaubenslebens adaptiert und ihm die das Luthertum subvertierende Spitze abgebrochen (vgl. zuletzt Braw 1986; Schneider 1992; Brecht 1993a; Wallmann 1995; Sommer 1999a). Verfechter dieses Argumentes können sich auf
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nislosigkeit, in die den Gläubigen seine konsequente Weltabkehr geführt hat. Ihr entspricht inwendig die „Finsternis" des jeder Vorstellung baren „Verstandes". Das Bewußtsein des Gläubigen läßt sich in diesem Zustand durch keine Sinnesempfindungen mehr affizieren und in Gedanken forttragen, die es an der erstrebten Zweisamkeit mit Gott hindern würden. Die meditative Zusammenziehung des gesamten Bewußtseinslebens in einem Punkt der äußersten, gegenstandslosen Konzentration kulminiert schließlich in einem „Augenblick", der von Arndt als plötzliches Aufgehen des göttlichen Lichtes prädiziert wird. Seine neuplatonisch geprägte Lichtmetaphorik konnotiert die Zweisamkeit mit Gott als Durchdringung, Erleuchtung, Beseelung, also als einen Zustand zugleich der Erkenntnis wie der Vereinigung mit der göttlichen Entität. Sie ist allerdings nur annähernd in Worte zu fassen, denn was in diesem Augenblick geschieht, kann „doch weder der Verstand, noch der Wille oder Gedächtniß begreifen noch behalten". Es ist wegen der Unwillkürlichkeit und Unmittelbarkeit seiner Erfahrung reflexiv nicht hinreichend zugänglich und mithin auch nicht sprachlich fixierbar, sondern eben „verborgen im innersten Grund und Wesen der Seele". Das aber tut der Erfahrung selbst keinen Abbruch, sondern vermag vielmehr ihre Bedeutsamkeit im Leben des Gläubigen zu steigern und langfristig zu bewahren. Denn was sich der resultativen Versprachlichung sträubt, bleibt eine unerschöpfliche Quelle sinnlogischer Rekonstruktionsleistungen und kann als das diese zugleich unverfügbar Transzendierende, als ein mystischer Besitz in mir, immer wieder erinnert, belebt und als belebend wiedererfahren werden, so daß die Seele desjenigen, dem diese Erfahrung zugänglich ist, „das Reich Gottes und ihre Seligkeit in ihr selbst" hat - mag sie auch in der Hölle sein. 169 „Wer nun eine solche Seele sehen könnte, der sähe die allerschönste Creatur, und das göttliche Licht in ihr leuchten; denn sie ist mit Gott vereinigt, und ist göttlich, nicht von der Natur, sondern aus Gnaden." 170 Das „wahre" Christentum gründet in dem Heilsbesitz des empfindsam verinnerlichten Glaubens, der sich von allen existentiellen Bindungen an die Güter des sozialen Lebens gelöst hat, und dessen selbstgenügsame Beseeltheit von den hehren Gefühlen der zärtlichen Vereinigung mit die Ergebnisse der quellenkritischen Forschung stützen, die genau belegt, wie Arndt das verwendete Material seinen Interessen gemäß abgewandelt hat (vgl. Weber 1969). Konsens besteht aber unzweifelhaft hinsichtlich des Sachverhalts, daß Arndt die Mystik ins Luthertum eingeführt hat. Der Unterschied ist einer der Bewertung, ob also die Einführung solchen Gedankenguts als eine Gefährdung der lutherischen Frömmigkeit zu werten sei, oder ihr, positiv gewendet, den „weithin verschütteten Strom mystischer Sprache und mystischer Bilder . . . wieder zugänglich gemacht hat" (Wallmann 1995, 19). 169 Ebd., 331. 170 Ebd., 330.
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Gott durch die Makellosigkeit und Reinheit der Schönheit versinnbildlicht wird - das 18.Jahrhundert prägt für diese Frömmigkeit dann den Begriff der schönen Seele. Neben der neuplatonischen Lichtmetaphorik ist es die Bilderwelt des Hohenliedes, die Arndt herbeizieht, um dem mystischen „Augenblick" und der ihm folgenden charakterlichen Umwandlung des ganzen Menschen, seiner geistlichen Wiedergeburt zu einem zärtlichen und sanftmütigen Lämmlein Gottes sprachlich zum Ausdruck zu verhelfen. 171 Ist die Wiedergeburt des „wahren" Christen: seine Umwandlung zu einem neuen Menschen erfahrungsmäßig in dem besagten „Augenblick" verwurzelt, so vollzieht sie sich als Synthese alltagspraktischer Selbstgewißheit und existentieller Entschlossenheit des Gläubigen, im Sinne des „wahren" Christentums zu leben, sich also permanent selbstvervollkommnend zu erneuern. 172 „Dieß innerliche Licht leuchtet dann auswendig in den Werken" und diese wiederum „sollen leuchten in der Finsterniß unsers Nächsten", „sonderlich in geduldmüthiger Strafe und Urtheil", zu dem sich der „wahre Christ" in seiner unverbrüchlichen Gewißheit, auf dem Pfade Gottes zu wandeln, gegenüber den Durchschnittschristen aufgerufen und berechtigt fühlt. 173 Die zugestandene Selbstgewißheit des Wiedergeborenen zügelt Arndt jedoch gleich wieder mit der Mahnung, er möge sich nur auch vom Urteil über andere zu sich selbst kehren, ob er „die Gebrechen" nicht auch an sich selbst beobachten könne, die er an seinen Mitmenschen finde, sei es, daß er sie „in vergangener Zeit" gehabt habe oder „jetzo" noch unter ihnen leide. 174 Die in der mystischen Erfahrung gegründete Erneuerung des Menschen ändert also nichts an der Einstellung reflexiver Selbstvergewisserung, noch an der Möglichkeit, sich je und je in irdische Belange zu verstricken. Was sich ändert, ist das Empfindungskorrelat dieser Einstellung bzw. der Erkenntnis profaner Bedürfnisse, Interessen oder auch nur Gedanken. Der sich erneuernde Mensch übt seine Selbstbeobachtung und begegnet der aus ihr resultierenden Einsicht in die Motive seines Tuns und Lassens mit der Zuversicht desjenigen, der, schöpfend aus der unerschöpflichen Quelle der Vereinigungserfahrung mit seinem Gott, um sein Heil nicht mehr bangt. Denn „so ihn auch Gott mit Christo in die Hölle führen wollte, so wäre ihm daselbst wohl, und er ruhete
171 Vgl. besonders Arndts „Lied über die Worte des Hohen Lieds Cap.7, 11.12", Arndt 1845, 333 f. 172 „Die Einkehr in die Innerlichkeit, wo im Glauben das höchste Gut besessen wird, macht selbstbewusst" (Brecht 1993a, 137). 173 Arndt 1845, 341. 174 Ebd., 342.
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in dem Willen Gottes, welcher Niemand verderbet oder verderben lässt." 175
2.7. Die Kosmologie
des vierten
Buches
Uber den Sinn der Anordnung des Wahren Christentums in vier Büchern gibt die Vorrede des dritten Buches in einer Analogie zur Ontogenese des Menschen Auskunft. „Gleichwie unser natuerliches Leben seine Stufen hat, seine Kindheit, Mannheit und Alter", heißt es dort, „also ist's auch beschaffen mit unserm geistlichen und christlichen Leben. Denn dasselbe hat seinen Anfang in der Buße, dadurch der Mensch sich täglich bessert; darauf folgt eine größere Erleuchtung . . . durch's Kreuz . . . Letztlich kommt das vollkommene Alter, so da steht in der gänzlichen Vereinigung durch die Liebe." Solche Ordnung, fährt Arndt fort, habe er „in diesen drei [den ersten drei - M.S.] Büchern . . . in Acht genommen" und er „halte dafür, es sey das ganze Christenthum . . . hierin nach Nothwendigkeit beschrieben ..,". 1 7 6 Buße, Nachfolge und Wiedergeburt sind die jeweiligen Zentralgedanken, welche die drei Bücher ausführen. Warum also noch ein viertes, zumal es merkwürdig quer zu den übrigen steht? Enthalten diese eine erbauliche Anleitung zur Frömmigkeit, so das vierte eine Kosmologie der gottgeschaffenen Natur, davon der erste Teil „[v]on den sechs Tagwerken der Schöpfung Gottes insgemein", der zweite „[v]on dem Menschen insonderheit" handelt. Die vier Bücher entsprechen genau denen, worin Gott sich offenbart habe, wie Arndt in der Vorrede zur Braunschweiger Ausgabe des Wahren Christentums erläutert: „Mein Fürnehmen ist," - schreibt er dort - „vier kurze Büchlein an Tag zu geben: De Deo et homine, von Gott und dem Menschen. Denn es hat Gott sein wahres lebendiges Erkenntnis den Menschen in vier Büchern offenbaret: 1. in dem Buch der heiligen Schrift, 2. in dem lebendigen Buch oder lebendigen Exempel unseres Herrn Jesu Christi, 3. in dem Menschen selbst, in seinem eigenen Herzen und Gewissen, 4. in dem großen Weltbuch der Natur." 1 7 7 „Zwischen den göttlichen ,Büchern' in ihren verschiedenen Offenbarungsweisen und den schriftlich komponierten Büchern Arndts besteht also ein tiefsinniges Entsprechungsverhältnis. Als äußere, sichtbare Dokumente weisen sie auf die eigentlichen göttlichen , Bücher' hin, auf das innere, unsichtbare Geschehen zwischen Gott und den Menschen." 178 Sie 175 176 177 178
Ebd., 346. Ebd., 319. Zit. n. Koepp 1973, 40f. Sommer 1999c, 207.
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sind also gleichsam Übersetzungen einer - wie Arndt formulieren würde - inwendigen Beziehung in die auswendige Sprache der Erbauung. Vor allem im vierten Buch verschränken sich dabei die erbaulichen Intentionen mit metaphysischen Erwägungen. 179 Arndts religiöse Naturspekulation nimmt ihren Ausgang von dem für erklärungsbedürftig befundenen Umstand, daß der Mensch von Geburt ein Mängelwesen sei, welches von sich aus kaum lebensfähig wäre, würde es sich zum Ausgleich seiner beklagenswerten Fragilität, „so dürftig, so elend ..., nackt und bloß, hungrig und durstig", nicht der Natur bedienen. Aber Gott habe den Menschen durchaus mit Bedacht nicht anders in die Welt gestellt als eben so, schlußfolgert Arndt, „auf daß der Mensch Gottes Liebe in allen Dingen schmecken möchte ...". 1 8 ° Die Natur ist der Arndtschen Frömmigkeit ein Text, in dem der Mensch aus so mannigfaltigen Formulierungen, als da Formen sind, das Bekenntnis ihres Schöpfers zu seinem Ebenbild herausliest, daß er es liebe. 181 Was seine Lektüre von derjenigen der späteren rationalistischen Naturphilosophie unterscheidet, ist die Betonung auf dem Gusto, der das Verstehen des „Textes" begleitet und seine sinnliche Aneignung charakterisiert. Sie soll sich nicht darin erschöpfen, daß der Mensch sich von einem Datum bloß affizieren läßt, um dessen objektive Beschaffenheit dann der klaren und deutlichen Erkenntnis durch die Vernunft zu überlassen. Gottes Liebe in den Dingen zu „schmecken" zielt auf die Einfühlung in diese Liebe vermittels der empfindsamen Ergriffenheit durch die in sinnlicher Fülle gegebene, mannigfaltige Natur. Um Gottes Liebe willen „ist der Mensch seinem Schöpfer auf s höchste verpflichtet", 182 seiner Bestimmung gemäß, sich an den Wohltaten der Natur zu erfreuen. Denn allein der Mensch unter allen Kreaturen sei „von Gott geschaffen, daß er sich dessen freue, was er hat". 183 Die Freude an der Natur und ihrer Dienlichkeit für den Menschen hat daher im wörtlichen Sinne den Stellenwert eines Gottesdienstes (dem im übrigen gegenüber dem kirchlichen, wie aller institutionalisierten Frömmigkeit, der Vorrang gebührt). Gott, Schöpfer von Himmel und Erden,
179 Zum Verhältnis des vierten zum dritten Buch des Wahren Christentums und mithin zum „Nebeneinander von Vereinigungsmystik und Naturtheologie" (Brecht 1993, 138) vgl. Gruebner 1998. 180 Arndt 1845, 364. 181 Daß Arndts Kosmologie auf dem Grundsatz der in der Natur objektivierten und aus ihr zum Menschen sprechenden Liebe Gottes beruht, könnte auch durch das Bemühen motiviert gewesen sein, den endzeitlichen Kosmologien des Barock, die aus der Natur und ihren Katastrophen Zeichen für den Weltuntergang herauslasen, mit einem trostspendenden Gegenentwurf zu antworten. Vgl. dazu Kemper 1987, 34-65. 182 Ebd., 416. 183 Ebd., 417.
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der Natur und des Menschen, feiert sich in des Menschen Freude an den ihm zugeigneten Wohltaten seiner „irdischen Heimstatt" selbst: so kommt die Wiederaneignung der durch den Sündenfall verlorenen Gottesebenbildlichkeit zum Abschluß in der nur dem Menschen freudig zu Bewußtsein gelangenden Geschöpflichkeit der Natur, deren Gipfel er ob dieser Bewußtwerdung selbst bildet. „Das Staunen über die Großartigkeit der Schöpfung in allen ihren Teilen und der göttlichen Fürsorge in ihr kommt bei der Schöpfung des Menschen zum Höhepunkt . . . Der Lobpreis Gottes in seinen Geschöpfen und die Schönheit der menschlichen Seele, wenn sich Gott selbst darin spiegelt - mit diesem thematischen Grundzug hat Arndt wieder zum Beginn des ganzen Werkes zurückgelenkt." 184 Zwar ist die physikotheologische Komplexitätsreduktion, derzufolge Arndt die Natur vor dem Menschen, ihrem herrschaftlichen Nutzer, gleichsam einen Bückling aufführen läßt, an gedanklicher Schlichtheit streckenweise schwer zu überbieten. Bedeutsamer ist aber, daß die Natur ein Reservoir an Allegorien religiöser Erfahrungen bildet, aus dem Arndt schöpft, um diese dem Leser möglichst konkret zu veranschaulichen - etwa wenn er von der geistigen Geburt der Kinder „durch's Wasser der heiligen Taufe und den heiligen Geist" schreibt, dies gehe unbegreiflicherweise zu, „wie der Thau aus der Morgenröthe geboren wird...". 1 8 5 Um in dieser Weise aus einem Fundus von Naturerscheinungen schöpfen zu können, muß die Natur als Gegenstand besinnlicher Betrachtung begegnen. Diese wiederum wurzelt in der emotionalen Disposition des Gläubigen. Indem seine innerlichkeitsakzentuierte Frömmigkeit die Naturbetrachtung empfindsam auflädt, öffnet sich deren Gegenstand den Anstrengungen religiöser Sinnbildung als ein Reich von ihrerseits empfindsamen Allegorien. Bilder wie das eben zitierte, die Arndt durchgängig, nicht nur im vierten Buch des Wahren Christentums evoziert, scheinen Wolfgang Sommers These zu widersprechen, „[n]icht ein unmittelbares Erfahren der gegenwärtigen göttlichen Kraft in allen Geschöpfen" stünde hinter seiner Kosmologie, „sondern eine reflektierende Symbolik, die aus einem nicht mehr selbstverständlichen Wahrnehmen Gottes in seiner Schöpfung erwächst...". 186 Aber die empfindsame Disposition des Gläubigen ist keineswegs das Resultat unmittelbarer Naturerfahrung, sondern ihre Voraussetzung. Empfindsam wird das fromme Subjekt in der mystischen Vereinigungserfahrung, die ihm seine Naturerfahrung nachgeordnet vermittelt.
184 185 186
Sommer 1999c, 216. Arndt 1845, 378. Sommer 1999c, 212.
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2.8. Die Frömmigkeitslehre des „ Wahren Christentums" im Spiegel der Forschung Was sind nun die charakteristischen Merkmale der Frömmigkeitslehre Johann Arndts? Daß er, anstatt sich auf die erbauliche Glaubensermunterung frommer Seelen zu beschränken, tatsächlich eine Lehre entwikkelt hatte, die der orthodoxen Theologie auf ihrem eigenen Felde, der Reflexion und Definition des Glaubens, Konkurrenz machte, ist von seinen Gegnern offenbar sofort verstanden worden; 1 8 7 sie versuchten seit Erscheinen des Erstdrucks vom Wahren Christentum, das Werk zu verbieten. Unter Arndts Zeitgenossen sei hier lediglich auf den Tübinger Kirchenprobst und Universitätskanzler Lucas Oslander verwiesen, der, wie Koepp formuliert, den „schärfsten und sicherlich wuchtigsten Angriff gegen Arndt in dem interessantesten Buche der Arndt-Literatur" führte. 188 Sein Theologisches Bedencken, 1623 in Tübingen erschienen, entfaltet bereits den noch in der gegenwärtigen Forschung zum Wahren Christentum kontrovers diskutierten Sachverhalt, daß Arndt den lutherischen Grundgedanken der Heilszusage allein durch den Glauben an die Verkündigung mit seiner Unterscheidung zwischen innerem und äußerem Wort spiritualistisch unterlaufen habe. 189 Laut Arndt müsse der an sich tote Buchstabe der Schrift erst durch den Glauben verlebendigt werden; „weil dann" - so paraphrasiert Koepp die Schlußfolgerung Oslanders - „die Kraft des Glaubens schon von vornherein in mir sein und leuchten muß, so muß der Glaube aus innerlicher und ungemittelter Erleuchtung stammen, so muß Verachtung der
187 In welchem Sinne von Arndts erbaulicher Produktion als einer Lehre gesprochen werden kann, hat Berndt Hamm untersucht. Er charakterisiert das Wahre Christentum als eine „Frömmigkeitstheologie", um den seines Erachtens falschen Gegensatz von Frömmigkeit und Theologie zu überwinden. Das Wahre Christentum müsse als Theologie ernstgenommen werden, weil es die Reflexionsgestalt - und das heißt doch wohl: keine bloße Ausdrucksgestalt - einer nachreformatorischen Frömmigkeitspraxis innerhalb des Luthertums sei, und als solche sich implizit „mit der schulmäßigen Lehrwissenschaft der lutherischen Orthodoxie" auseinandersetze (Hamm 1982, 53, Anm.46). In diesem Sinne ist Arndts Erbauungsschrift, wenngleich alles andere als in begrifflich-systematischer Durchführung, eine theologische Lehre. Vgl. auch Hamm 1977, 466f, 471-489; ders. 1999. 188 Koepp 1973, 110. Koepp stellt die Streitereien um das Wahre Christentum ausführlich dar; zu den Braunschweiger Kontroversen vgl. ebd., 43-48, 52f; 59ff; zu dem Danziger Streit während Arndts letzter Lebensjahre in Celle vgl. ebd., 84-98; zur Ausweitung des Streites nach Arndts Tod ebd., 101-110; und schließlich zu Lucas Oslander ebd., 110-114. Vgl. auch Brechts komprimierte Darstellung der zeitgenössischen Auseinandersetzung mit dem Wahren Christentum und seiner Durchsetzung: Brecht 1993a, 142-151. 189 Vgl.Anm.142.
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Schrift als eines kreatürlichen Dinges und Versäumnis der öffentlichen Versammlungen folgen und der Trost der Schrift dahin sein". 190 Oslanders Hauptanklage lautet demzufolge, Arndt habe „auff die Enthusiasterey / dadurch die Leut vom geschribenen vnnd gepredigten Wort Gottes / zu heimlichen vnnd innerlichen vermeindten Erleuchtungen gewisen vnd abgeführet werden / starck getrungen". 191 Solche „Erleuchtungen / vnd eingebildeten Offenbahrungen" 192 hätten ihn in gefährliche Nähe zu den Weigelianern und anderen Schwärmern gebracht, deren Phantastereien die reine Lehre verdunkelten. Arndts Verarbeitung des Weigelschen Gebetsbüchleins ist Oslander nicht verborgen geblieben. 193 Und daß im Volk „der Wiegelianische [sie!] Schwärm außgebrochen" 194 , sei der Anlaß für seine Streitschrift gegen den Verfasser des Wahren Christentums gewesen. 195 Daß Arndt eine Vielzahl
190
Koepp 1973, 112. Laut Oslander muß im Wahren Christentum „das Kind der Mutter das Leben geben: Dann der Glaub solle sonsten" - so Oslander mit exemplarischem Bezug auf Arndts Argumentation im sechsten Kapitel des ersten Buches - „das Gezeugnus vnnd seinen G r u n d nemmen auß der H . Schrifft / d a r a u ß / als auß dem unverwelcklichen Samen / der Glaub . . . herkommet: J e t z o aber / ists gantz umbgewendet / vnnd gibt in der Taulerischen Arndts Theologi, der Glaub der Heiligen Schrifft erst das Zeugnus . . . " (Oslander 1623, 93f). Bei Arndt heißt es: „Sihe / das thut der Glaub alles / der machet das Heilige W o r t Gottes in dir lebendig / vnd ist in dir ein lebendiges Zeugnus / alles dessen / davon die Schrifft zeuget" (zit.n. Oslander). 191
Oslander 1623, Vorrede, o.S. Ebd. 193 Ebd., 118. 194 Ebd., 4. 195 In welcher Gemeinschaft Arndts Gegner den Autor des Wahren Christentums vermuteten, wird indirekt ersichtlich aus dem Titel einer Verteidigungsschrift des Arndt-Anhängers Melchior Breller, erschienen in Lüneburg 1625: Wahrhafftiger glaubwirdiger und gruendlicher Bericht von den vier Buechem vom Wahren Christenthumb Herrn Johannis Arndten, aus den gefundenen brieflichen Urkunden zusammen getragen. Darauss Sonnenklar zu beweisen ist, dass gedachte Buecher vom Wahren Christenthumb mit der Papisten, Calvinisten, Schwenckfeldts, Weigelij, Enthusiasten, und dergleichen Schwaermern Irrthumen, zur ungebuer bezuechtiget und aussgerufen werden. Nebenst Herrn Johann Arndten kurtzen Bedencken über V. Weigelij Dialogum de Christianismo. Etgegen gesatzt. Den hin und wieder aussgesprengeten, gedachter Buecher, unwarhafften Verdacht, Insonderheit aber dem untheologischen Bedencken D. Lucae Osiandri... und Gott zu Ehren, zu Offenbarung der Warheit, zur Nachrichtung vieler tausend Christen an den tag gegeben. Zu denen, die als „sonnenklar" zu erweisen wünschten, d a ß Arndt nicht zu den Schwärmern zählt, gehört auch Paul Egard, dessen Ehrenrettung Johannis Arndten aus dem J a h r 1624 den Versuch unternahm, Oslanders Vorwürfe akribisch in allen Punkten zu widerlegen. Interessanterweise waren sowohl Breller wie Egard keine Theologen, sondern Seelsorger. Und während Oslander fürchtete, d a ß mit der Preisgabe des Schriftprinzips die Heilsgewißheit psychologisch beliebig werde - J a sagst du / G o t t hat in mir geredt. So sage ich widerumb: ¥ a her weissest du das?" (Oslander 1623, 159) - , so betont Egard zugunsten Arndts bezeichnenderweise dessen alltagspraktische Wirkungsabsicht: „Summa er greiffet des Menschen H e r t z an / solchs zu verbessern . . . E r wil d a ß Gottes W o r t sol in unserm Hertzen leben192
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von aus lutherischer Sicht heterodoxen Quellen verarbeitet hat, ist von der quellenkritischen Forschung hinlänglich bestätigt worden. 196 Von orthodoxer Seite kam aber nicht nur Widerspruch. Wolfgang Sommer hat am Beispiel von Johann Sauberts Eintreten für Johann Arndt gezeigt, was im Wahren Christentum von der lutherischen Orthodoxie für anschlußfähig gehalten wurde. 197 In der Widmungsvorrede seiner 1620 in Nürnberg gedruckten Vesperpredigt Geistliche Flämmlein, mit welchen die kalte Lieb dieser letzten Welt etlicher massen kan erwärmet werden an den Altdorfer Rechtsgelehrten Johann Gerhard Frauenburg erklärt Saubert, es „bestehe . . . das wahre Christentumb nicht in Worten oder eußerlichem Schein/ sondern in einem lebendigen glauben/ auß welchem die Lieb gegen den Nächsten sampt andern Christlichen Tugendten nohtwendig entsprießen". 198 Sauberts Kritik des in seinen Augen bequem gewordenen Alltagsglaubens bedient sich der Sprache des Wahren Christentums. So bedürfe „diese letzte zeit/ do die wahre Gottseligkeit gute disciplin sehr gefallen", wie er andernorts schreibt, eines Mannes wie Arndt, „welcher die grassirende Sünde und Laster mit freyer Zungen und Feder straffe und den Maulchristen die larven abziehe". 199 Saubert erkennt auch, daß die Verlebendigung des Glaubenslebens im Sinne Arndts nicht zu haben ist ohne die Vereinigungsmystik des Wahren Christentums. Statt deren heterodoxe Quellen eigens herauszustreichen, bemüht er sich deshalb darum, sie dem Geiste nach als der Verkündigung entsprechend und den rechten Glauben befördernd auszuzeichnen: „Die Vereinigung der glaubigen mit Christo (welche Herr Johann Arnd in seinen Büchern offt unnd offt rühret) ist
dig werden / und seine Frucht bringen / wie das Wort Gottes e r f o r d e r t . . ( E g a r d 1624, 15). 196 Die wichtigsten Einflüsse können unter anderem nachgelesen werden bei Koepp 1973; Weber 1969; Wallmann 1995. „Soweit sich aufgrund der bisherigen, noch keineswegs abgeschlossenen Quellenanalyse feststellen läßt, sind es überwiegend mittelalterliche Mystiker, die Arndt exzerpiert und kompiliert hat: Tauler, die Theologia Deutsch, die Nachfolge Christi [des Thomas von Kempen - M.S.], Angela de Foligno, wahrscheinlich Bernhard, vielleicht auch Gerson und Staupitz. Daneben finden sich umfangreiche Exzerpte aus Paracelsus und Valentin Weigel. Gegenprobe: die Entlehnungen aus LutherSchriften sind ganz gering" (Schneider 1992, 288). 197 Johann Saubert, geboren 1592 in Altdorf, wurde 1618 Diakon und Professor am Gymnasium in Altdorf, 1622 Diakon in Nürnberg und dort 1637 Pfarrer an St. Sebaldus. Sein Zuchtbüchlein der evangelischen Kirche von 1633 zählt zu den wichtigen Werken der s.g. Reformorthodoxie. Zu den folgenden Ausführungen vgl. Sommer 1999d. Zu Bildungsgang und theologischem Profil Johann Sauberts vgl. ebd., 242-244. Ausführlich zu Lebensgeschichte, Werk und Wirkung Sauberts vgl. van Dülmen 1970. Vgl. auch Brecht 1993a, 177-180 u.ö. 198 Zit.n. Sommer 1999d, 245. 199 So Saubert in seiner Schrift Die newe Creatur / wie sie von dem Apostel Paulo angedeutet wirdt / Galat.6, Nürnberg 1625; zit.n. Sommer 1999d, 251.
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ein sehr hohe vortreffliche lehr/ dahin fast die gantze schrifft gehet. Dan zu welchem end wird sonsten Gottes Wort gepredigt/ die heiligen Sacramenta gebraucht/ also daß wir dadurch mit Gott un Christo in krafft deß H. Geistes vereiniget werden/ daß wir in Christo und Christus in uns lebe/ herrsche/ regiere/ wohne/ wirke " 2 0 0 Daß Arndts Wahres Christentum im weiteren Verlauf des 17.Jahrhunderts allgemeine Anerkennung erfahren habe, sei „wesentlich auch auf das Wirken Johann Sauberts zurückzuführen", so Sommers abschließendes Urteil über dessen kirchengeschichtliche Schlüsselrolle für die beispiellose Karriere des Erbauungsbuches. „Zwischen Arndt und Spener kommt somit dem Wirken dieses Nürnberger Theologen und seiner Stellung zu Arndt eine beachtenswerte Bedeutung zu." 201 Der gegensätzlichen Einschätzung Arndts durch Oslander und Saubert entspricht die neuere theologische Rezeption des Erbauungsschriftstellers darin, daß das Verhältnis von Weltabkehr und Einkehr in sich innerhalb der Umkehr des Gläubigen zu Gott als für das Verständnis der Arndtschen Frömmigkeitslehre zentral erachtet und hinsichtlich ihrer Stellung zum Luthertum eingehend untersucht wird. Die Positionen reichen von derjenigen, Arndt wahre mit seiner Betonung der Glaubenslebendigkeit „ein Grundanliegen lutherischer Theologie" 202 und er wahre es als „lutherischer Theologe", 2 0 3 bis zu der nahezu entgegengesetzten, der „bedeutendste Erbauungsschriftsteller des Luthertums, ja sein meistgelesener Theologe überhaupt" vertrete „keine lutherische Theologie", 2 4 und zwar entweder mit der Einschränkung, er befände sich gleichwohl „nicht im Widerspruch" zu ihr, 205 oder der Zuspitzung, trotz biblisch-reformatorischen Gedankenguts dränge seine erbauliche Schriftstellerei den Leser in eine „mystische Sonderreligion". 206 Besondere Aufmerksamkeit verdient dabei Arndts Schriftverständnis, das sowohl als vom lutherischen abweichend, 207 wie ihm im Geiste entsprechend 208 interpretiert worden ist. Und neben dem Interesse am systematisch-theologischen Bedeutungsgehalt des Wahren Christentums und seiner frömmigkeits- wie kirchengeschichtlichen Relevanz beschäftigt sich die Forschung mit den Motiven des Autors, es so und nicht anders geschrieben zu haben. Sie waren sicherlich nicht wissenschaftlicher Art, 200 201 202 203 204 205 206 207 208
Zit. ebd. Ebd., 262. Schwager 1961, 71 f. Ebd., 72. Hamm 1982, 72 f. Schneider 1992, 297. Koepp 1973, 292. Vgl. Hamm 1982. Vgl. Mager 1992.
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sondern beruhten auf seinem seelsorgerlichen Sendungsbewußtsein. D a f ü r spricht der mahnende Schreibgestus Arndts, der sich signifikant von dem Enthusiasmus Prätorius' oder der expressiven Jenseitssehnsucht Nicolais unterscheidet. Johannes Wallmann geht sogar so weit zu behaupten, der Verfasser des Wahren Christentums artikuliere keine positive religiöse Erfahrung, sondern allenfalls die negative „der Absenz frommen Lebens inmitten der sich in Streitereien befehdenden Theologen und in Weltliebe verlierenden Laienchristen". 2 0 9 Zumindest diese negative Erfahrung kann Arndt ohne Zweifel unterstellt werden. Deshalb ist auch seine Frömmigkeitslehre in der seelsorgerlichen Arbeit zu fundieren und aus ihr heraus zu erschließen, die ihrerseits eine Reaktion auf Frömmigkeitsdesiderate in der Bevölkerung war; 2 1 0 das Wahre Christentum ist vor allem anderen - in Berndt Hamms Terminologie deren „Reflexionsgestalt". 2 1 1 Es ist aber nicht plausibel, der negativen Erfahrung von Unglauben und Weltliebe eine ihr korrespondierende positive rundweg abzusprechen. Denn die Absenz des „wahren" Glaubens kann seine dramatische Bedeutung erst kontrastiv zu einem Frömmigkeitsideal gewonnen haben, das in einer mit subjektiver Gewißheit gemachten positiven Erfahrung zentriert ist und aus dieser Mitte heraus seinen Geltungsanspruch als maßstäbliche Frömmigkeit entfaltet. Im erbaulichen Ansinnen des lebendigen Glaubens, insofern es sich dabei nämlich um eine affektive Gottesbeziehung handelt, ist der normative Geltungsanspruch der Forderung vom expressiven nicht zu trennen: zu ihm kann nur aufrufen, wer ihn selbst lebendig erfährt; andernfalls würde sich der Sprecher in einen performativen Selbstwiderspruch verwickeln. Und zweifellos will Arndt seine Leser um des rechten, d.h. lebendigen und alltagspraktisch wirksamen Glaubens willen zu positiven religiösen Erfahrungen hinführen. Wallmanns Diktum, Arndts Mystik sei „keine Heilsmystik, son-
209
Wallmann 1995, 9. . . . und nicht diese in jener, wie W o l f g a n g Sommer behauptet: „Aber das Charakteristische an diesem kirchenamtlichen Wirken Arndts erschließt sich meines Erachtens nur aus der besonderen theologischen Denkfigur, die dahinter steht. Bei Arndt konzentriert sich der Kampf zwischen dem Reich Gottes und des Teufels wesentlich auf das Gegeneinander der wahren und der falschen Kirche. D e r fromme Arndt übt immer wieder scharfe Kirchen-, vor allem Pfarrerkritik, bei der nicht konfessionalistisch die eigene als die w a h re den anderen gegenübergestellt, sondern wobei grundsätzlich die ecclesia vera von der weltförmigen abgehoben wird. Zu dieser Entgegensetzung kommt die besondere Verhältnisbestimmung zwischen dem Äußeren und dem Inneren im theologischen Denken Arndts" (Sommer 1999a, 237 [Hervorhebungen v. mir - M.S.]. Es muß umgekehrt heißen, zu der theologischen Verhältnisbestimmung von Innerem und Äußerem gelange Arndt im Bemühen, die Frömmigkeitsdesiderate erbaulich, d . h . um deren praktische Erfüllung bemüht, zu artikulieren. 210
211
Vgl.Anm.187.
Johann Arndts „Vier Bücher vom wahren Christentum"
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d e m Heiligungsmystik",212 gewinnt seine Prägnanz deshalb aus einer falschen Entgegensetzung. Denn gerade als Heiligungsmystik hat sie die Funktion, erfahrungsermöglichend zu wirken. Allein die im dritten Buch des Wahren Christentums geschilderten mystischen Bewußtseinszustände verhelfen dem „wahren" Glauben zu jener Erfahrungsbasis, die sich als verläßliche Quelle subjektiver Glaubensgewißheiten angesichts schleichender Lockerung und Konventionalisierung der praxis pietatis im Alltagsleben erweist. Das Drängen auf den „Herzenssabbath", auf die „Stille des Herzens", die das Gnadenlicht Gottes in ihm aufgehen und es von innen her erstrahlen lassen möge, schließlich die Wiedergeburt des neuen Menschen offenbart seinen lebenspraktischen Sinn in der Ermöglichung quasisinnlicher Erfahrungen des Glaubensgegenstandes und mithin in der Konkretisierung des Glaubens durch die Erfahrung mit dem Ziel der Befähigung zur Erneuerung des ganzen Lebens. Was aber sind diese Bewußtseinszustände, wenn nicht solche der - fraglos heiligungsbezogenen - //ez/ierfahrung? In seinen umfassenden religionspsychologischen Quellenstudien zur Vielfalt religiöser Erfahrung kommt William James immer wieder zu dem gleichen Befund, der Arndts „theologische Denkfigur" (Sommer) von der Weltabkehr zur Einkehr in sich um des immediaten Gotteserlebens und der darin gründenden Wiedergeburt und Heiligung des Alltagslebens willen bestätigt: religiöse Erfahrung beruht auf mystischen Bewußtseinszuständen. 2 1 Besondere Betonung legt James auf deren quasi-sinnliche Eigenschaften, denen sie überhaupt erst ihre lebenspraktisch wirkungsvolle Suggestivität verdankten. „The sentiment of reality can indeed attach itself so strongly to our object of belief that our whole life is polarized through and through, so to speak, by its sense of the existence of the thing believed in, and yet that thing, for purpose of definite description, can hardly be said to be present to our mind at all." Und dann bringt James ein anschauliches Beipiel für die Qualität solcher Bewußtseinszustände: „It is as if a bar of iron, without touch or sight, with no representative faculty whatever, might nevertheless be strongly endowed with an inner capacity for magnetic feeling; and as if, through the various arousels of its magnetism my magnets coming and going in its neighborhood, it might be consciously determined to different attitudes and tendencies. Such a bar of iron could never give you an outward description of the agencies that had the power of stirring so strongly; yet of their presence, and of their significance for its li-
2,2
Wallmann 1990, 18. „I think, that personal religious experience has its root and centre in mystical states of consciousness..." James 1987, 342). 213
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fe, it would be intensely aware through every fibre of its being." 214 Für James gilt als sicher, „that in the distinctively religious sphere of experience, many persons . . . possess the objects of their belief, not in the form of mere conceptions which their intellect accepts as true, but rather in the form of quasi-sensible realities directly apprehended". 215 In den Kreis dieser Leute möchte Arndt auch seine Leser ziehen, die dazu erforderliche Disposition sollen sie in mystischen Bewußtseinszuständen erlangen, 216 und es gibt keinen guten Grund anzunehmen, Arndt habe das, was er anderen ansinnt, nicht selbst erfahren. Daß der Autor des Wahren Christentums mit derartiger Betonung um die Befähigung seiner Leser zur religiösen Erfahrung ringt, ist eine Reaktion auf den Frömmigkeitsbefund seiner Kirchenvisitationen in der Eigenschaft als Generalsuperintendent in Braunschweig-Lüneburg, 217 der seinerseits von der historischen Forschung zum religiösen Alltag im 17.Jahrhundert kurz vor und während des Dreißigjährigen Krieges bestätigt wird. 218 Arndt treibt Theologie „unter ganz anderen geschichtlichen und persönlichen Voraussetzungen . . . als Luther". Befindet dieser sich in der „Situation der Anfechtungsnot des gewissenhaften Mönchs", 2 1 9 der aus dem Erfahrungsraum weltflüchtigen religiösen Virtuosentums heraus schreibt, so Arndt in der eines Seelsorgers, der sich täglich mit Menschen auseinandersetzt, deren Ich-Leistung von der Freiheit eines Christenmenschen - die Luther als gegenüber der Mönchsregel erlösend empfinden mußte - strukturell überfordert ist. 220
214
Ebd., 57. Ebd., 64. 216 Wegen der seelsorgerlich- praktischen Intention des Wahren Christentums ist Sträter zwar zuzustimmen, wenn er im Sinne Wallmanns feststellt, die Vermittlung von Mystik sei nicht Arndts Hauptanliegen, aber andererseits unterschätzt er ihre Bedeutung mit den Worten, mystische Texte würden „bei Arndt instrumentalisiert zur individualisierten und affektbezogenen Ansprache" (Sträter 1995, 35). Nicht bloß mystische Texte werden bei ihm zu rhetorischen Zwecken instrumentalisiert, sondern auch die sich in solchen Texten aussprechende und von Arndt dem Leser angesonnene mystische Erfahrung zur Begründung und Stabilisierung eines praktischen Christentums. Sozialpsychologisch interessant ist an Arndt gerade die Spannung, die sich aus der Instrumentalisierung mystischer, d. h. ihrem Anspruch nach immediater Bewußtseinszustände für die praktische Religiosität ergibt. 217 Vgl. Sommer 1999a. 218 Vgl. Zeeden 1965; Lehmann 1992; van Dülmen 1986 und 1994; Molitor/ Smolinsky 1994. Vgl. oben, 24-27. 219 Hamm 1982, 71. 220 In gewisser Weise spiegelt sich die Spannung zwischen einerseits einem theologischen Ansatz, der radikal von der Subjektivität religiösen Gewissens und Empfindens ausgeht und andererseits einer Religiosität, die von solchem Subjektivismus überfordert ist, in der Gesprächsdynamik von Valentin Weigels Dialogus de Christianismo wider. Vgl. oben, 10-14. 215
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„Entfaltet Luther sein Leben lang, ,was Gott an uns gewendet hat', so versetzt Arndt den Akzent so, daß das Heilshandeln Gottes auch angenommen, eingeübt und gelebt werden müsse" - das Wahre Christentum wird daher auch als Zeugnis einer „seine Zeit überdauernden Pastoraltheologie" gewürdigt. 221 Arndts seelsorgerliches Problem ist mithin der Gegensatz zwischen reformatorischem Glaubensanspruch und nachreformatorischem Frömmigkeitsalltag 222 - was ihn mit Nicolai verbindet, dessen Freudenspiegel des ewigen Lebens sich unter der Oberfläche einer enthusiastischen Jenseitsvergegenwärtigung ebenfalls als Gegengift drohenden Frömmigkeitsverlustes offenbarte. 2 2 3 So haben beide auch die Mahnung des Lesers zur radikalen Weltabkehr gemeinsam, und zwar gleichermaßen im Streben nach der positiven, quasi-sinnlichen Gotteserfahrung in der unio mystica, nach Wiedergeburt des neuen Menschen und Wiedergewinn der durch den Sündenfall verdorbenen Gottesebenbildlichkeit des Menschen. 224 Und dem Verlust substantieller Gotteserfahrung ist es zuzuschreiben, daß beide - sich selbst und ihre Leser - in die reflexive Selbstvergewisserung der Glaubenshaltung drängen, allerdings jeweils mit umgekehrtem Vorzeichen: positiv bei Nicolai, wenn er erklärt, je mehr er des ewigen Lebens „Lieblichkeit vn Süssigkeit behertzige", desto mehr „Begiert vn Verlangen" nach dem Himmelreich wachse in ihm und nehme stetig zu; 2 2 5 negativ bei Arndt, der Weltabkehr und Einkehr in sich zum Gegenstand dauerhafter skeptischer Selbstüberwachung macht. 226
221
Ruhbach 1995, 226. Hamms ideengeschichtliche Akzentuierung der Epochendifferenz zwischen der Reformation und der Zeit Johann Arndts verengt meines Erachtens den Blick. Arndt steht für Hamm nicht oder zumindest nicht in erster Linie unter dem Eindruck seelsorgerlicher Alltagspraxis, sondern „einer lutherischen Theologie, die das forensisch verstandene Rechtfertigungsgeschehen gegenüber der Heiligung isoliert, die Wort und Glaube in lehrhaftem Sinne einengt und die als Rechtsgläubigkeit verstandene Reinheit des Glaubens von der Reinheit des Lebens säuberlich zu unterscheiden weiß" (Hamm 1982, 71). So argumentiert schon Zeller 1971 im Bemühen um eine frömmigkeitsgeschichtliche Gesamtdeutung des Jahrhunderts: Der dritten nachreformatorischen Generation seien „die tiefen religiösen Erlebnisse und theologischen Erkenntnisse der Reformatoren nicht mehr selbst errungene und selbst gedachte Wahrheit gewesen" (Zeller 1971, 87). 222
223 224 225 226
Vgl. oben, 22-24. Vgl. hierzu Reiner 1969, 24-31. Nicolai 1963, 4. Vgl. oben, 17. Vgl. oben, 43-46.
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Teil I Frömmigkeitsgeschichtliche Voraussetzungen
3. Johann Arndts Kosmologie
und das Naturschöne
im
Kirchenlied
3.1. Protestantische und pietistische Naturfrömmigkeit im Kirchenlied am Beispiel von Paul Gerhardt „ Geh aus mein Herz und suche Freud" Obwohl Arndts Kosmologie im vierten Buch des Wahren Christentums im Schatten der anderen drei Bücher steht, ist sie wegen ihres Grundgedankens der in der Natur gleichsam materialisierten, aus ihren Formen allegorisch entschlüsselbaren Liebe Gottes, in die sich der vom „Gnadenlicht" mystischer Heilserfahrung beseelte Gläubige freudig und demutsvoll zugleich einzufühlen habe, 227 von großem Interesse, artikuliert sie doch eine religiöse Haltung, die der Kontemplation des Naturschönen förderlich ist und in ihr eine ästhetisch anmutende Welthaltigkeit gewinnt. 228 Nicht zufällig ist in spätere Ausgaben des Wahren Christentums das wohl bekannteste Beispiel protestantischer Naturfrömmigkeit im Kirchenlied, Paul Gerhardts Sommergesang „Geh aus mein Herz und suche Freud'" (1653) eingerückt worden, um den Grundgedanken der Arndtschen Kosmologie konkret zu veranschaulichen. 229 Es soll den Leser gefühlsmäßig auf den religiösen Hintersinn 227 Zum Gegensatz zwischen dem göttlichen Gnadenlicht, das den erneuerten Menschen erleuchtet, und dem menschlich-trügerischen lumen naturale vgl. im dritten Buch, Kapitel 10 („Wie das natuerliche Licht in uns muß untergehen, und das Gnadenlicht aufgehen"). 228 Zum Verhältnis des Kirchenliedes zur Frömmigkeitsbewegung des 1 / . J a h r h u n derts vgl. Brecht 1993a, 188-203; z u r religiösen Naturdichtung vgl. Krummacher 1976; Kemper 1981. 229 Paul G e r h a r d t wurde 1607 im kursächsischen Gräfenhainichen geboren, besuchte von 1622 bis 1627 die Fürstenschule zu Grimma und begann 1628 in Wittenberg das Studium der Theologie. Zwischen 1643 und 1651 hielt er sich, wahrscheinlich als Hauslehrer, in Berlin auf, wurde dann in das Amt des Probstes in Mittenwalde bei Berlin berufen und kam 1657 als D i a k o n nach Berlin zurück an St. Nikolai. D a er sich aus seiner orthodox-lutherischen Uberzeugung heraus nicht zu der Unterzeichnung einer kurfürstlichen Verordnung fügen mochte, die aus Gründen des Kirchenfriedens jede Polemik von der Kanzel herab untersagte, erfolgte 1666 seine Amtsentsetzung. Auf das Bemühen der Bürgerschaft und des Magistrats wieder eingesetzt, schied Gerhard 1667 freiwillig aus Berlin und übernahm 1669 das Amt des Archidiakonus in Lübben in der Niederlausitz. E r starb dort am 27. Mai 1676. Die produktivste Phase seiner Lieddichtung erstreckt sich über seine Berliner Zeit von 1643 bis Anfang der fünfziger Jahre. Seine Lieder wurden in den von J o h a n n Crüger herausgegebenen Gesangbüchern veröffentlicht und fanden durch diese Quelle unter dem Titel Praxis pietatis melica in über vierzig Auflagen zwischen 1647 und 1736 Verbreitung und Anerkennung. Die Ausgabe von 1647 enthält 18 von Gerhardts Liedern, in der Ausgabe von 1653 sind es 81. Die erste Gesamtausgabe seiner Lieder besorgte J o h a n n Georg Ebeling 1667 unter dem Titel Pauli Gerhardt Geistliche Andachten. Allgemein zu Paul G e r h a r d t vgl. folgende Monographien: Petrich 1914 und Bunners
Johann Arndts Kosmologie und das Naturschöne im Kirchenlied
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der Naturerscheinungen einstimmen, von dem das Erbauungsbuch handelt. Denn seine Sprache ist von eben jener Empfindsamkeit bestimmt, die der von Arndt erbaulich ausgeschriebenen Frömmigkeit psychologisch entspricht. 230 Bereits die erste Strophe des Sommerliedes bringt gestaltsicher zum Ausdruck, wie diese Empfindsamkeit sich nach außen kehrt und die Naturerfahrung des Gläubigen gleichsam imprägniert. Sie sei daher an dieser Stelle exemplarisch analysiert. „Geh' aus, mein H e r z , und suche Freud' in dieser lieben S o m m e r z e i t an deines G o t t e s Gaben. Schau' an der s c h ö n e n Gärten Zier und siehe, wie sie mir und dir / sich a u s g e s c h m u e c k e t haben." 2 3 1
1993; zur poetologischen und literaturgeschichtlichen Bewertung Gerhardts vgl. Hillenbrand 1992. Zu Gerhardts Sommerlied vgl. ebd., 101-106; Schmidt 1982, 285-302. 230 Vgl. zur mystischen Frömmigkeit Paul Gerhardts in seinem Liedwerk Petrich 1914, 197ff; van Andel 1976, 173-179. Die Frömmigkeit in Gerhardts Naturliedern „kommt von Arndts ,LIBER NATURAE' her und hat damit teil an der uralten, bis auf Augustin und Origines zurückreichenden Lehre von der Natur als dem zweiten Offenbarungsbuch Gottes (neben dem LiberDei, der Bibel)" (Haufe 1978, 73). 231 Zit.n. Arndt 1845, 382. Zu geringfügigen Abweichungen vgl. Gerhardt 1991, 71-74. Diese Ausgabe folgt den Textfassungen der ersten Gesamtausgabe von Gerhardts Liedern aus dem J a h r 1667. Die folgenden Strophen lauten in der Fassung des Wahren Christentums: Die Bäume stehen voller Laub, das Erdreich decket seinen Staub mit einem gruenen Kleide. Narcissenblum' und Tulipan' hat schoenern Zierrath angethan, als Salomons Geschmeide. Die Lerche schwingt sich in die Luft, das Taeublein fleugt aus seiner Kluft, und flattert in die Waelder. Die hochbegabte Nachtigall ergoetzt und fuellt mit ihrem Schall Berg, Huegel, Thal und Felder. Die Glucke fuehrt ihr Kuechlein aus, der Storch baut und bewohnt sein Haus, das Schwaelblein speist die Jungen. Der schnelle Hirsch, das leichte Reh ist froh, und koemmt von seiner Hoeh' in's tiefe Gras gesprungen. Die Baechlein rauschen in den Sand, und kraenzen sich an ihrem Rand mit schattenreichen Myrthen. Die Wiesen traenken sich dabei, und klingen ganz vom Lustgeschrei der Schaf und ihrer Hirten. Die unverdroß'ne Bienenschaar fleugt hin und her, sucht immerdar die edle Honigspeise. Des sueßen Weinstocks frischer Saft wirkt taeglich neue Staerk' und Kraft in seinem schwachen Reise. Der Weizen waechset mit Gewalt; darueber jauchzet Jung und Alt, und ruehmt die große Guete, die uns so ueberfluessig labt, und mit so manchem Glueck begabt das menschliche Gemuethe. Ich selber kann und mag nicht ruh'n, des großen Schoepfers großes Thun erweckt mir alle Sinne. Ich singe mit, wenn Alles singt, daß, was des Hoechsten wuerdig klingt, aus meinem Herzen rinne. Ach, denk' ich, ist es hier so schoen, und laeßt du uns so lieblich geh'n hienieden schon auf Erden: was will's doch wohl nach dieser Welt, dort in dem goldnen Himmelszelt und seinen Auen werden? Welch hohe Lust, welch heller Schein wird einst in Christi Garten seyn! wie muß es da wohl klingen, wo so viel tausend Seraphim mit unvergleichlich hehrer Stimm' ihr Halleluja! Singen.
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Die zitierte Sequenz hebt an mit einer Aufforderung. Der performative Sinn von Aufforderungen kann darin bestehen, eine Empfehlung oder einen Ratschlag zu geben, eine Ermahnung auszusprechen oder einen Befehl zu erteilen. Grundsätzlich setzt die Äußerung einer Aufforderung einen Empfänger voraus, der ihr nachkommen könnte, und einen Sprecher, der dem Empfänger die prinzipielle Bereitschaft unterstellt, das auch zu tun. Die Aufforderung „Geh aus!" hat nun näherhin die sprachpraktische Bedeutung der Ermutigung zum mußevollen Heraustreten aus einem geschlossenen in einen offenen Raum. Alltäglich geläufig ist uns dieser Wortsinn noch heute, wenn wir vom abendlichen Ausgehen sprechen. Wer ausgeht, tritt aus seiner Privatsphäre in den öffentlichen Raum einer gemeinsam mit anderen geteilten Praxis mußevoller Aktivität (der Jahrmarkt-, Zirkus-, Restaurant-, Kino-, Theater-, Konzert- oder Sportveranstaltungsbesuche). Der Adressat dieser Ermutigung wird folgend metonymisch als das alter ego des Lied-Ichs („mein Herz") benannt, 232 die dem Begriff des Ausgehens inhärierende Innen-Außen- Dichotomie somit lesbar als der Gegensatz zwischen der Innerlichkeit des Gefühlslebens und seiner Offenheit für sinnliche Eindrücke. Denn Ausgehen kann das Herz doch wohl nur so, daß es der Außenwelt zugänglich wird, anstatt sich ihren Eindrücken zu verschließen. 2 3 3 Nun ist mit der Selbstaufforderung des Lied-Ichs ein reflexives
Ο waer' ich da, ο stuend' ich schon, ach sueßer Gott, vor deinem T h r o n , und truege meine Palmen! so wollt' ich nach der Engel Weis' erhoehen deines Namens Preis mit bessern Freudenpsalmen. Doch gleichwohl will ich, weil ich noch hier trage dieses Leibes Joch, auch nicht undankbar schweigen. Mein H e r z e soll sich fort und f o r t an diesem und an allem O r t zu deinem Lobe neigen. Hilf mir, und segne meinen Geist mit Segen, der vom Himmel fleußt, d a ß ich dir stetig bluehe. Gib, d a ß der Sommer deiner G n a d ' in meiner Seele frueh und spat viel Glaubensfruecht' erziehe. Mach' in mir deinem Geiste Raum, d a ß ich dir werd' ein guter Baum, und laß mich Zweige treiben. Verleihe, d a ß zu deinem Ruhm ich deines Gartens schoene Blum' und Pflanze moege bleiben. Erwaehle mich zum Paradies, und laß mich, gleich der Fruehlingswies', an Leib und Seele gruenen: so will ich dir und deiner Ehr' allein, und keinem Andern mehr, hier und dort ewig dienen. 232 Eine weitere mögliche Lesart, die Adressierung einer Geliebten oder eines Geliebten, wird durch den weiteren Gedichtverlauf ausgeschlossen. Nichts deutet im folgenden darauf hin, das Lied-Ich führe eine Zwiesprache mit einer anderen Person. 233 D a ß sich, wie Bunners behauptet, mit dem Aufruf ans H e r z , in die N a t u r auszugehen, „die Kehre auf G o t t z u " vollziehe (Bunners 1993, 198), ist semantisch nicht gedeckt. Bunners okkuliert aus theologischem Deutungsinteresse den weiteren Gedichtverlauf in seinen Anfang hinein, anstatt dessen Bedeutungsgehalt immanent zu erschließen. Auch Lothar Schmidt hat zur Anrede, obwohl er sie in seiner Liedanalyse thematisiert, nicht viel zu sagen. Sie sei „ein geläufiger T o p o s , der sich in der deutschen Lyrik von Friedrich von Hausen bis Christine Busta nachweisen lässt" (Schmidt 1982, 285). Schmidts form-
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Selbstverhältnis gesetzt. Darin kommt das Ich intensional verschieden vor: direkt als Aufgefordertes und indirekt als Aufforderndes. Adressiert das Ich sich selbst qua Gefühls-Ich, dann ist klärungsbedürftig, in welcher Eigenschaft es diese Adressierung vollzieht. Der im alltäglichen metonymischen Sprachgebrauch eingespielte Gegenbegriff zu „ H e r z " ist „ K o p f " : wie das Herz für die affektive Welt- und Selbstbeziehung des Menschen steht, so der Kopf für die kognitive, rationale. Man sagt, jemand sei ein Kopfmensch, und meint damit implizit, er lasse sich nicht von seinen Gefühlen leiten; umgekehrt sprechen wir von demjenigen, der seinem Herzen folgt, als einem Menschen, der in praktischen Entscheidungssituationen den affektiven Handlungsabwägungen einen Vorrang gegenüber solchen einräumt, die (zweck- )rational dominiert sind. In Gerhardts Gedicht ist es also der Verstand, welcher die innerliche Gefühlswelt zur Öffnung für die Reize der Natur aufruft. Sein Ansinnen, das Herz möge „Freude" suchen, unterstreicht, daß diese Öffnung den Charakter der Muße trägt. 2 3 4 Freude kann nämlich gar nicht im wörtlichen Sinne gefunden werden, sondern nur sich einstellen und verlangt also eine Disposition unwillkürlicher Erwartung, die kaum dem aktivischen Sinn von Tätigkeit und deren gebräuchlicher Bedeutung von intentionalem, zweckgerichteten Verhalten entspricht. Die vom lyrischen Ich seinem Herzen angesonnene Tätigkeit ist die NichtTätigkeit der Muße, der sich die Freude wohl einstellen mag. Wie nun erstens die Außenwelt, in der das Herz Freude suche, durch den Begriff des Ausgehens als Ort der Muße determiniert ist und zweitens die Muße durch das Subjekt des Ausgehens, das „Herz", näherhin als gefühlsbetont bestimmt wird, so kann drittens das Sujet, in dem das „ H e r z " sich ausgehend ergehen soll, überhaupt nur ein solches sein, das sich seiner Beschaffenheit nach zur gefühlsbetonten Muße eignet. Die Zeitbestimmung „in dieser lieben Sommerzeit" konnotiert es als gefällige Natur. Der angesonnenen empfindsamen Hingabe des Herzens an die Natur wird durch die Attribuierung des Sommers als einer „lieben" Jahreszeit entsprochen: sie ist sozusagen empfindsamkeitskompatibel. 2 3 5 - Bis hierhin fehlt jeder explizite religiöse Bezug, ohne daß der geschichtliche Kontextuierung, es handele sich hier um eine „Einleitungsformel", ersetzt die Interpretation der Anfangssequenz und verfehlt so die inhaltliche Entwicklungslogik des Gedichtes. 2 3 4 Allerdings unter dem Vorbehalt, daß „Muße" nicht als Sammelbegriff religiös perhorreszierter sinnlicher Vergnügungen, sondern als Strukturbegriff ästhetischer Erfahrung im Sinne von Kants zweckfreiem Spiel der Erkenntniskräfte verstanden wird. Vgl. auch die strukturtheoretische Bestimmung der Muße aus einer soziologisch-pragmatistischen Perspektive: Oevermann 1996. 2 3 5 Folgende einfache Substitutionsprobe verdeutlicht das: eine kalte Sommerzeit würde die Aufforderung des Herzens ad absurdum führen, dagegen eine stürmische oder heiße
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Leser ihn missen würde. Das Gedicht ruft auf zu empfindsamer Naturverehrung, die sich auch dem nicht dezidiert gläubigen Menschen als nachvollziehbar erschließt und dem Lied bis heute seine Bekanntheit erhalten hat. Erst jetzt folgt ein zarter - und bis zur siebenten Strophe der einzige - Hinweis darauf, daß Gerhardt ein Kirchenlied zum Preise Gottes geschrieben hat: Die Freude möge sich entzünden „an deines Gottes Gaben". Die mit „Sommerzeit" evozierte blühende Natur wird als Geschenk Gottes prädiziert, dieser Gott implizit als Gott des Herzens benannt („... deines - also des Herzens - Gottes Gaben") und damit die Freude an der Natur zu einer empfindsamen Andacht Gottes erkoren - ganz ähnlich mahnt das vierte Buch des Wahren Christentums zur Freude des Menschen an den „Wohlthaten" des Schöpfers, an denen allein er, der Mensch, sich zu erfreuen vermag. So endet der erste Halbsatz der Strophe, und der zweite fährt nun parataktisch mit der Ermunterung des Herzens fort, „der schönen Gärten Zier" anzuschauen. Die Parataxe legt es nahe, die zweite Aufforderung („schau") als Spezifizierung der ersten („Geh aus") zu lesen und folglich die angesonnene mußevolle Öffnung des Gefühlslebens für die Reize der gottgeschaffenen Natur in deren kontemplativer Betrachtung sich erfüllen zu lassen. Keineswegs hält Gerhardts Lied die Gemeinde an, zu Ehren Gottes zu schuften und die Gärten in eine erwerbsorientierte Baumschule oder Blumenzucht zu verwandeln, deren Gewinn wiederum in die Vergrößerung des Betriebs reinvestiert werden könnte (wie das eine religiöse Gesinnung nahelegen würde, deren Akzent auf der Arbeit des Menschen liegt); sondern „schau . . . und siehe", wie sie „sich ausgeschmükket haben". Erklärungsbedürftig ist die Verwendung des Plurals („die Gärten"). Die alltagspraktische Erfahrungsbasis dieser Formulierung scheinen wohl die dörflichen Ziergärten zu sein, die von der Landbevölkerung seit dem 17.Jahrhundert neben den Äckern und Nutzgärten angelegt wurden. Das Szenario der ersten Liedstrophe weitet diese Erfahrungsbasis symbolisch zur friedvollen Idylle des Gartens Eden; 2 3 6 der Mensch, anstatt als ein aus der paradiesischen Fülle harmonischen Lebens ausgestoßener Sünder „Staub fressen" zu sollen alle Tage seines Lebens und seinen Lebensunterhalt nur „[u]nter Mühsal" dem Ackerboden entringen zu müssen, schreitet zwischen „der schönen Sommerzeit die affektive Öffnung des Herzens ganz anders konnotieren: nicht als empfindsame sondern als erotisch-triebhafte. 236 Der Originaltext des Gedichtes differiert an dieser Stelle von der im Wahren Christentum abgedruckten Version. Laut Gerhardt 1991, 71 heißt es: „Schau an der schönen Garten Zier ...". Gerhardt verwendet also den Singular, wodurch der Bezug zum Garten Eden umso nachdrücklicher wird. Daß Arndts Buch eine davon abweichende Textvariante präsentiert, ist vielleicht in seiner Erbauungsfunktion begründet. Der Gedichtinhalt wäre demnach konkreter auf die Alltagserfahrung der Leser zu beziehen gewesen.
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Gärten Zier", wie der ältere der beiden Schöpfungsberichte Gott mit dem Stolz des Handwerkers über das Gelingen seiner Arbeit „im Garten gegen den Tagwind einherschreiten" und - wie Arndt formulieren würde - an den „Wohlthaten" seiner Natur sich freuen lässt. 237 Der kontemplativen Empfindsamkeit des angesonnenen Naturverhältnisses entspricht die Seite der Natur, welcher die Aufmerksamkeit des verständigen Betrachters gilt. Sein Herz möge Freude zunächst nicht - im Sinne Kants - am teleologisch Zweckmäßigen in ihr aufsuchen. Ihr primäres Bestimmungsmerkmal ist vielmehr die der Kontemplation durch einen praxisabstinenten Betrachter entsprechende ästhetische Zweckmäßigkeit. Denn „ausgeschmükket" haben sich die Gärten „mir und dir", d.h. dem Kopf des Lied-Ichs und seinem Herzen und der Gemeinschaft Christi, die im Gottesdienst das Lied Gerhardts zum Lobe des Schöpfers singt; sie appellieren an das ästhetische Vermögen der Menschen, sie als sinnlich ansprechendes Arrangement wahrzunehmen. Die ästhetische Zweckmäßigkeit der Natur vermag also Verstand und Gefühl zu vereinen. Ist in der Innerlichkeit des Gefühlslebens der Verstand ausgeschlossen und, so ließe sich e contrario folgern, in der Äußerlichkeit des Verstandeslebens, in den alltäglichen Verrichtungen des Menschen, das Gefühl, so finden beide in der mußevollen Betrachtung der harmonisch arrangierten Natur ihrerseits harmonisch zueinander - zumindest aus der Sicht des verständigen Betrachters, denn nur dieser spricht hier ja. Dieses Arrangement ist nun aber nicht eine Ordnung, der die Gärten unterzogen würden, denn sie selbst haben sich ja ausgeschmückt. Gottes Gaben bestehen zwar in der dinglichen Mannigfaltigkeit „der schönen Gärten Zier", aber diese lebt aus ihrer Fähigkeit zur eigenlogischen ästhetischen Ausdifferenzierung. Gott ist mithin auch und vielleicht vor allen Dingen in dem Pulsschlag eines sich ästhetisch zweckmäßig entfaltenden Organismus präsent. Die zweite Strophe bestätigt diese Lesart: „Narzissus und die Tulipan / " , heißt es dort, „Die ziehen sich viel schöner an / Als Salomonis Seide." Die zitierten Verse enthalten eine metonymische Anspielung auf den sprichwörtlichen Reichtum des Nachfolgers Davids auf dem Königsthron des jungen israelitischen Staates. Seide ist aber nicht nur ein Zeichen großen Reichtums, sondern auch - wegen seiner kunsthandwerklichen Fertigungsqualität, die nur der wahre Kenner zu schätzen weiß, und nicht zuletzt wegen der changierenden Wirkung ihrer Farben sowie der Feinheit und Leichtigkeit, mit der sie auf der Haut aufträgt und sinnlich empfunden wird - ein Symbol der ästhetischen Kultiviertheit des Orients. Alle diese Eigenschaften werden von Gerhardt indi-
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Gen 3,14. 17. 8. Zit.n. Deissler/ Vögtle 1985.
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rekt affirmiert, denn der Komparativ besagt, die feinen Stoffe, mit denen der Name des weisen Salomo verbunden ist, würden - in ihrer verschwenderischen sinnlichen Fülle und kostbaren Fragilität - von den Blumen übertroffen, deren Pracht die Gärten ziert. Der Dichter mochte, als er seine Verse ersann, auch an die Bergpredigt gedacht haben. „Und was sorgt ihr euch um eure Kleidung?", fragt Jesus seine Gefolgschaft. „Lernt von den Lilien, die auf dem Feld wachsen: Sie arbeiten nicht und spinnen nicht. Doch ich sage euch: Selbst Salomo war in all seiner Pracht nicht gekleidet wie eine von ihnen." 238 Jesus dient der Hinweis auf die Blumenpracht allerdings als Allegorie der Fürsorge Gottes. Wie der die nutzlosen Blumen zu kleiden wisse, so werde er auch den Menschen nicht frieren lassen, sondern ihm das Nötige zu ihrem Lebensunterhalt zuteilen. Dieser Hintersinn entfällt bei Gerhardt, die Schönheit der Natur verdankt sich nicht den generösen Zuwendungen göttlicher Fürsorge. Sie kleidet sich selbst, einem ihr innewohnenden Trieb zur Schönheit folgend; göttlicher Herkunft ist also recht eigentlich nicht ihre Pracht, sondern der Trieb, der sie hervorbringt. Die Strophen zwei bis fünf schildern die Schönheit der Natur nicht nur in der Farbenpracht der Blumen, sondern auch in den Bewegungen und Klängen der Vögel („Die Lerche schwingt sich..."; „die ... Nachtigall ergoetzt und füllt mit ihrem Schall"), in den artspezifischen Eigenschaften des Wildes („der schnelle Hirsch, das leichte Reh"), dem Wohlklang der Bäche und der quasi-künstlerischen Wohlgebildetheit ihrer Verläufe („Die Bächlein rauschen ... und kränzen sich ..."), der gelungenen Gefügtheit der Landschaftsszenerie („die Wiesen tränken sich dabei"). Im Ineinander akustischer und visueller Reize und im Bewußtsein des harmonischen Zusammenspiels dieser Reize möge das Herz des Betrachters seine Freude finden. Freilich läßt sich Gerhardts Abschilderung der Landschaftsszenerie keineswegs im Sinne eines Ubergangs „vom ,objektiven Bekenntnislied' zum ,subjektiven Erlebnislied'" 239 Goethescher Provenienz deuten, weil sie sich - aus noch zu erläuternden Gründen - nicht um ein Entsprechungsverhältnis zwischen subjektivem Erleben und dessen formalem Ausdruck bemüht. Gerhardt artikuliert die Kontemplation der Natur nämlich in einer typisierenden Bildsprache, und diese Sprache evoziert keine Situation des - individuellen - Naturempfindens sondern ein Panorama der empfundenen Natur; Lothar Schmidt hat auf die Verwandtschaft des Sommerliedes mit der literarischen Tradition des locus amoenus hingewiesen. 240 Daß hier, anders als in der Erlebnislyrik, keine Situation des Erlebens oder Emp238 239 240
Mt. 6,29; zit.n. Deissler / Vögtle 1985. Schmidt 1982, 286. Ebd., 288.
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findens soll evoziert werden, verrät nichts nachdrücklicher als Gerhards Beschwörung von schwingender Lerche und ergötzender Nachtigall; die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen verdankt sich der panoramatischen und insofern objektivierenden Evokation des Naturschönen. Gerhardts Metapher des Suchens („... suche Freud . . . an deines Gottes Gaben"), die ja ein objektiv Findbares voraussetzt, bestätigt das. Erfahrungslogisch zeigt sich die als schön begegnende Natur dagegen gerade nicht von einer ihr an sich zugehörigen Seite, sondern steht als atmosphärische Synthese sinnlicher Reize in einem Wechselverhältnis mit einer bestimmten Stimmungsdisposition des Betrachters. Gewiß ist es die Natur, die seine Empfindungen erregt, denn er wird ja von etwas dort draußen affiziert. 241 Doch ebenso wählt die Stimmung des Betrachters vorderhand aus, wovon sie sich angesprochen fühlen lassen will. Die Aufforderung des Liedanfangs „Geh aus, mein Herz, und suche Freud" führt den ausschlaggebenden Impuls für die Ausbildung und Entfaltung dieses Wechselverhältnisses geradezu auf dessen subjektive Seite zurück. Der Naturfreund in Gerhardts Sommerlied ist bereits wie wir aus seiner metonymisch formulierten Selbstermunterung entnehmen können - in einer innerlichkeitszentrierten Stimmung, bevor er „ausgehen" will, um dieser Stimmung zur Welthaltigkeit zu verhelfen. Auch das entspricht der Frömmigkeit des Wahren Christentums. Denn das „Buch der Natur" steht an dessen Ende und die „Wohlthaten" der Schöpfung werden dem Leser erst angesonnen, nachdem er im zweiten Buch zur Kreuzesnachfolge Christi und im dritten zur innerlichen Heilserfahrung angeleitet worden ist. Wessen Seele im „Gnadenlicht" erstrahlt, der möge in die Natur ziehen und im Erlebnis ehrfürchtiger Freude an ihrer geschöpflichen Harmonie Gott preisen. 242 So wie Arndt läßt auch Gerhardt schließlich, nämlich in der sechsten und siebenten Strophe, die Natur als ein den menschlichen Zwecken gemäßes Ensemble von nützlichen Einrichtungen hervortreten: in der Honigproduktion der Bienen, dem Gedeih der Weinrebe, dem Wachstum des Weizens. Die sinnlogische Erschließung der Natur führt den Betrachter also von der ursprünglich ästhetischen Erfahrung des Natur241 Eben deshalb konnte Adorno mit Recht die unmittelbar evidente Behauptung aufstellen, so wahr es sei, „daß ein jegliches in der Natur als schön kann aufgefaßt werden, so wahr das Urteil, die Landschaft der Toscana sei schöner als die Umgebung von Gelsenkirchen" (Adorno 1973, 112). 242 Wallmann liest das Gedicht daher oberflächlich, wenn er es - im übrigen im Anschluß an Haufe - als „ganz und gar unmystisch[]" charakterisiert (Wallmann 1995, 18). Gewiß, kein mystisches Vokabular dringt in es ein, aber die mystische bzw. eine zumindest innerliche religiöse Erfahrung ist die Bedingung der Möglichkeit der in Gerhardts Frühlingslied gestalteten Naturerfahrung.
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schönen zur anschaulichen Einsicht in die nicht nur teleologische, sondern alltagspraktische Zweckmäßigkeit der Natur für den Menschen, um dann, erstmals in der siebenten Strophe, Gott als den Urheber dieser Zweckmäßigkeit ausdrücklich zu bedenken. Wie es dort aber heißt, es rühme „jung und alt" die große Güte, „die uns so überflüssig labt, und mit so manchem Glück begabt das menschliche Gemüthe", liegt der Wert dieser Zweckmäßigkeit offenbar weniger in der objektiven Nutzbarkeit als ihrer subjektiven Empfindung. Der kontemplative Grundzug des Liedes bestätigt sich also auch dort noch, wo der materiale Gebrauchswert der Natur für den Menschen hervortritt. Bestärkt wird dieser Zug darüber hinaus, indem Gottes Güte ja nicht nur um der Natur willen gepriesen wird, mit der er das menschliche Gemüt beglücke, sondern auch wegen der Beglückung selbst, die der Mensch vermöge der Kontemplation ihrer Schönheit und ästhetischen wie alltagspraktischen Zweckmäßigkeit empfindet. Denn zweifellos ist mit „so manchem Glück", das Gott dem menschlichen Gemüt zuteil werden lasse, dessen Befähigung zur Freude an der Natur gemeint. So gipfelt die Naturfrömmigkeit des Liedes schließlich in der Reflexion auf ihre eigene Gottgewirktheit. Diese Entwicklung ist rekonstruierbar als der Weg vom intuitiven Empfinden im innerlichkeitszentrierten Gefühlsleben des Herzens über die Zwischenschritte erstens der sinnlich vermittelten Gotteserfahrung im religiös gestimmten Naturerleben, zweitens der impliziten Gotteserkenntnis im religiös gestimmten Naturverstehen und drittens der expliziten Gotteserkenntnis durch die Allegorese der Natur bis zur Reflexion dieses Erfahrungsganges als eines selber göttlichen. An seinem Anfang steht die dem Liedinhalt vorausliegende, seinem Gehalt aber zugehörige Innerlichkeit des Herzens - „Was ist's, ο Schönster, das ich nicht / In deiner Liebe habe", formuliert Gerhardt anderswo im Geiste der Jesusmystik - , in der Mitte, zugespitzt formuliert, ein teleologischer Gottesbeweis und am Ende die Selbstfeier des frommen Enthusiasmus. Denn das Resultat dieser stufenweisen Entwicklung der Gotteserfahrung ist der expressive Ausdruck des enthusiasmierten Gotteslobs, das nach der Artikulation der Gewißheit, seine Begeisterung sei selber gottgewirkt, nicht mehr abreißt. Deshalb ist es auch nur folgerichtig, daß die blühende Natur dem Schluß des Liedes zur Allegorie der gleichsam blühenden Frömmigkeit wird, um die das Ich seinen Schöpfer herzlich bittet und die in dem Enthusiasmus Früchte treibt, mit dem die Landschaftsszenerie gepriesen wird. Die in der Anrede der ersten Strophe angesonnene Entäußerung des Herzens in der Natur erweist sich mithin als eine über die Naturbetrachtung vermittelte Selbstbeziehung, die das Andere als Bestätigung einer affektiv bereits erfüllten Innerlichkeit wahrnehmen und sich
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an ihm nun immer wieder neu erfahren soll. 2 4 3 Es begegnet in Gerhardts Sujet als Projektionsfläche der - wie bei Arndt - in sich gottesebenbildlich konstituierten schönen Seele. 2 4 4 D a z u paßt die anfängliche Ermunterung der Gefühle durch den Verstand, sich empfindsam nach außen zu wenden. Nicht wird das Lied-Ich unwillkürlich in den Bann der N a tur gezogen, denn unwillkürlich bliebe es ganz bei sich; sondern erst der Verstand treibt es aus sich heraus und verstößt so gegen die Grundbedingung ästhetischer Vertrautheit mit der Welt: daß sie sich nicht erzwingen läßt. So haben wir in Gerhardts Sommerlied recht eigentlich keine Ausdrucksgestalt empfindsamer Naturfrömmigkeit vorliegen, sondern die seines Plädoyers für eine solche Frömmigkeit. Dafür spricht im übrigen auch, daß Gerhardts Naturbilder ihre symbolische Deutung provoziert haben. 2 4 5 D a ß sie zugleich als Chiffrierungen biblischer Aussagen gelesen werden können, unterstreicht die verstandesmäßige Präfiguration der angesonnenen Naturerfahrung. 2 4 6 D a ß es sich in den ersten sieben Strophen, wie Hillenbrand und Schmidt betonen, „nicht um Stimmungsbilder einer erfreulichen Welt, sondern um mit symbolischer, allegorischer oder emblematischer Bedeutung beladene Abbilder" handele, ist trotzdem ein falscher Gegensatz. 2 4 7 Folgender, ganz ähnlich gelagerter Fall soll das verdeutlichen: D i e neuenglischen Siedler, die gegen Ende des 17.Jahrhunderts die Gegend des heutigen 243
Insofern ist der Weg vom Schöpfer zur Naturbetrachtung und zurück gerade kein hermeneutischer Zirkel, wie Schmidt behauptet (ders. 1982, 290). Konstitutiv f ü r den hermeneutischen Zirkel ist die Revision und Transformation der Vorurteile des Verstehens - aus Gerhardts Perspektive eine Blasphemie! 244 H a u f e mißachtet daher die der Sequentialität des Gedichtes eigene Sinnstruktur, wenn er das „poetische Eigenleben der N a t u r " ( H a u f e 1978, 71) in den ersten Strophen als Beispiel f ü r die lyrische Gestaltungsmacht Gerhardts aus dem Gesamtverlauf des Gedichtes herauslöst und von den übrigen mit Bedauern feststellt, in ihnen schreibe der Verfasser nur noch eine typologische Naturinterpretation aus. 245 Vgl. Hillenbrand 1992, 101 ff. 246 Hillenbrand versteht die Bienen mit Bezug auf Richter 14,8 als Ausdruck „für die selig Auferstehenden. Auch der H o n i g als Himmelsgabe, Gotteswort und als Symbol der ewigen Seligkeit ist biblisch (2. Mos. 3,8; Psalm 119,103; Sprüche Sal. 24,13ff.; Matth. 3,4). Die .unverdroßne Bienenschar'", so Hillenbrands Deutung der poetischen Bibeladaption, „sind also die Gläubigen, die den H o n i g der ewigen Seligkeit suchen. ,Täglich neue Stärk und K r a f t ' bezieht der Gläubige durch Christus, der bekanntlich der ,Weinstock' ist (Joh. 15,1.15); die s c h w a c h e n Reise', also Reben, sind folglich die Jünger, d . h . die ihm nachfolgenden Gläubigen." Die Aufreihung symbolisch beladener Bilder werde „eucharistisch mit dem ,Weizen', dem Brot des Lebens" beschlossen (ebd., 103). So sei bei G e r h a r d t „die eschatologische Heilsdimension immer gegenwärtig" (ebd., 101). Über die Plausibilität dieser Art von Subtext-Recherche läßt sich allerdings streiten. W o die Interpretation sich auf sie beschränkt, reduziert sie das Lied auf die Transkription und Montage biblischer Bilder. 247 Ebd. Vgl. Schmidt 1982, 288: „Der Dichter schildert nicht, was er sieht, sondern was er weiß; sein Naturbild ist weniger erlebt als vielmehr g e k o n n t . . . "
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Connecticut besiedelten, belehnten ihre Gründungen häufig - wie auch anderswo - mit alttestamentlichen Namen. Als sie einer Siedlung nördlich vom heutigen New York den Namen New Canaan gaben, taten sie das wohl nicht um der symbolischen Einkleidung einer spröden theologischen Aussage willen, sondern weil sie nach den religiösen Verfolgungen in ihrer Heimat und den Entbehrungen der Atlantiküberquerung die neue Welt in ihrer erhabenen Schönheit und Fruchtbarkeit sinnlich gegenwärtig als das gelobte Land und ihre „Landnahme" als heilige Berufung erfuhren, in der sie jeder Zoll des betretenen Bodens anschaulich bestätigte. Ebenso ist Gerhardts Symbolik ein Ausdruck der sinnlich erfahrenen Symbolhaftigkeit der Natur - eine weitere Verwandtschaft mit Arndt, der Bibel und Natur als zwei sich ergänzende und aufeinander bezogene Medien göttlicher Verkündigung versteht. Nur ist diese Naturerfahrung noch nicht in demselben Maße affektiv gefärbt, wie es der Verstand des frommen Lied-Ichs seinem Herzen ansinnt.
3.2. ... und Gerhard Tersteegen „Gott ist gegenwärtig" Wie die empfindsame Naturfrömmigkeit nicht nur angesonnen, sondern verwirklicht wird, drückt ein anderes Gedicht gestaltprägnant aus. Gerhard Kaiser hat eine Strophe aus Gerhard Tersteegens Kirchenlied „Gott ist gegenwärtig" aus dessen Geistlichem Blumengärtlein inniger Seelen (1729) als Ausdrucksgestalt für die Verselbständigung des religiös-empfindsamen Naturerlebens im Spätpietismus angeführt. 248 Sie lautet wie folgt: 248
Kaiser 1996, 33. Tersteegen, geboren 1697 in Moers, wuchs in einem reformierten Elternhaus auf und besuchte für neun Jahre die curricular vom Humanismus geprägte Lateinschule von Moers. Von seiner Familie aus finanziellen Gründen gedrängt, begab er sich von 1713 bis 1717 in Mühlheim an der Ruhr in die Kaufmannslehre, zog sich dann aber nach seiner Aufnahme in quietistisch-mystische Kreise und einem Bekehrungserlebnis aus diesem Beruf zurück und arbeitete bis 1728 als Seidenbandweber, um schließlich auch diese Arbeit zugunsten von religiös-erbaulichen Tätigkeiten im Umfeld des Quietismus aufzugeben. Er fertigte Ubersetzungen u. a. Jean de Labadies und Thomas von Kempens an, verfaßte die Lieder- und Spruchsammlungen Geistliches Blumengärtlein inniger Seelen und Der Frommen Lotterie sowie von 1733 bis 1753 eine Sammlung von Biographien katholischer Mystiker in drei Bänden unter dem Titel Auserlesene Lebensbeschreibung heiliger Seelen. Seine Predigten wurden 1769 bis 1773 als Geistliche Brosamen gesammelt. Tersteegen starb 1769 in Mühlheim an der Ruhr. Zu Tersteegen vgl. die Bibliographie von Wolfram Janzen: ders. 1996; zur literaturgeschichtlichen Bedeutung Tersteegens vgl. Kemper 1993 und 1997, 58-95; zur Bedeutung der Mystik bei Tersteegen vgl. van Andel 1973 und - gegenläufig - Wolff 1989. Während van Andel Tersteegen als quietistischen Mystiker charakterisiert, dessen Frömmigkeit im Widerspruch zum Grundver-
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„Du durchdringest alles: laß dein schönstes Lichte, Herr, berühren mein Gesichte: Wie die zarten Blumen willig sich entfalten, Und der Sonne stille halten, Laß mich so, Still und froh, Deine Strahlen fassen, Und dich wirken lassen." 249
„Während bei Gerhardt in aller herzlichen Freude an den Naturdingen", so nun Kaiser, „diese doch streng dem Menschen gegenüber bleiben als Bildzeichen einer geistlichen Didaxe, ist der allegorische Bezug auf Licht und Blume bei Tersteegen durchflutet von Einfühlung in einen genau gesehenen Naturvorgang. Die willig dem Licht stille haltende Blume ist nicht nur Metapher der Seele, sie ist selbst beseelt." 250 Diese Interpretation legt es allerdings nahe, Tersteegens Strophe als Aus-
ständnis der Reformation stehe, betont Wolff gerade - allerdings bei völlig anderer Einschätzung der Mystik Tersteegens - deren Vereinbarkeit mit dem lutherischen Glauben. Eine religionspsychologische Analyse der biographischen Entwicklung von Tersteegens mystischer Frömmigkeit liefert H o f f m a n n : ders. 1982. Vgl. neuerdings zu Tersteegen die Beiträge in K o c k / Thiesbonenkamp (Hg.) 1997. Zur Bedeutung des Liedes Gott ist gegenwärtig im Kontext der Frömmigkeit Tersteegens vgl. aus theologischer Perspektive Ludewig 1986 und aus literaturwissenschaftlicher Sicht Kemper 1993 (bzw. - fast textidentisch - Kemper 1997, 88-95). Tersteegens Lieder im Zusammenhang der pietistischen Lieddichtung untersucht T h o m a s Althaus: ders. 1997. 249 Tersteegen 1927, 235. So die sechste von acht Strophen. Die übrigen lauten folgendermaßen: 1. „Gott ist gegenwärtig! Lasset uns anbeten, / Und in E h r f u r c h t vor ihn treten. / G o t t ist in der Mitte! Alles in uns schweige, / Und sich innigst vor ihm beuge. / Wer ihn kennt, W e r ihn nennt, / Schlag die Augen nieder, / Kommt, ergebt euch wieder. 2. G o t t ist gegenwärtig, dem die Cherubinen / T a g und Nacht gebücket dienen; / Heilig! heilig! singen alle Engel-Chören, / Wenn sie dieses Wesen ehren; / H e r r , vernimm Unsre Stimm, / Da auch wir Geringen / Unsre O p f e r bringen. 3. Wir entsagen willig allein Eitelkeiten, / Aller Erdenlust und Freuden; / Da liegt unser Wille, Seele, Leib und Leben, / D i r zum Eigenthum ergeben: / D u allein Sollst es sein, / Unser G o t t und Herre, / Dir gebührt die Ehre. 4. Majestätisch Wesen, möcht ich recht dich preisen, / Und im Geist dir Dienst erweisen ! / Möcht ich, wie die Engel, immer vor dir stehen, / U n d dich gegenwärtig sehen! / Laß mich dir Für und f ü r / Trachten zu gefallen, / Liebster Gott, in allen. 5. Luft, die alles füllet, drin wir immer schweben, / Aller Dinge Grund und Leben, / Meer, ohn G r u n d und Ende, W u n d e r aller Wunder, / Ich senk mich in dich hinunter: / Ich in dir, Du in mir, / Laß mich ganz verschwinden, / Dich nur sehn und finden. 7. Mache mich einfältig, innig, abgeschieden, / Sanfte, und im stillen Frieden, / Mach mich reines Herzens, d a ß ich deine Klarheit / Schauen mag im Geist und Wahrheit. / Laß mein H e r z Ueberwärts, / Wie ein Adler schweben, / Und in dir nur leben. 8. H e r r , komm in mir wohnen, laß mein'n Geist auf Erden / Dir ein Heiligthum noch werden: / Komm, du nahes Wesen, dich in mir verkläre, / D a ß ich dich stets lieb und ehre; / W o ich geh, Siz und steh, / Laß mich dich erblicken, / U n d vor dir mich bücken. 250 Kaiser 1996, 33 f.
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drucksgestalt einer empfindsamen Naturbetrachtung zu lesen, der sich ein Ausschnitt der Welt in seiner individuellen Beschaffenheit erschließt, anstatt als Zeichen für anderes zu stehen. Sie ist aber insofern mißverständlich, als die in Frage stehende Individualität bloß scheinbar die des betrachteten Gegenstandes in seinem ästhetisch-suggestiven phänomenalen Gegebensein, in Wirklichkeit aber die des Betrachters ist, der sich seine religiöse Stimmung in der Idylle sonnenbeschienener Blumen vielsagend reflektieren läßt; nichts liegt dieser Dichtung ferner, als das romantische factum brutum des Erhabenen, das den Betrachter auf dem Weg der ästhetischen Irritation fasziniert und beglückt. 251 Nur wird diese Widerspiegelung des Subjektiven im Objekt nicht bloß wie bei Gerhardt angesonnen, sondern auch gestalterisch vollzogen. Daß keineswegs die ästhetische Suggestivität der Natur ihre Betrachtung und Erfahrung initiiert, ist evident, wenn man die besagte Strophe in den Zusammenhang des Liedes zurückversetzt, aus dem Kaiser sie zur beispielhaften Veranschaulichung pietistischer Empfindsamkeit herausgelöst hat. Denn es artikuliert die Bewegung einer wie bei Ger251 Die ästhetische E r f a h r u n g der Romantiker ist hier im Sinne eine bewußt und methodisch induzierten Krisenerfahrung gemeint, in der alltagspraktisch eingespielte Deutungsmuster der Lebenswirklichkeit versagen und um der Unmittelbarkeit des ästhetischen Erlebens willen versagen sollen (vgl. hierzu Oevermann 1996). In diesem Sinne ist bereits Goethe Romantiker, wenn er sich als erklärter Kriegsgegner während des Koalitionskrieges seines Landesherrn gegen die Französische Republik freiwillig mit der Absicht in die Artilleriestellungen begibt, das „Kanonenfieber" zu erleben, von dem er zu wissen wünscht, „wie es eigentlich damit beschaffen sei" (Goethe 1949, Bd. X I , 484ff). Goethe stellt nicht bloß moralische Bedenken, sondern geradezu seine moralisch begründete Aversion gegen jede Art von Kriegshandlungen zugunsten der f ü r ihn vielleicht einmaligen Chance zurück, eine ihm bislang verschlossene Seite sozialer Wirklichkeit unmittelbar in ihrem phänomenalen Gegebensein zu erfahren und so der nachträglichen künstlerischen Verarbeitung zugänglich zu machen. Dieser Haltung diametral entgegengesetzt ist diejenige Tersteegens. Die N a t u r e r f a h r u n g in dem zitierten Gedicht ist keine E r f a h r u n g des radikal Neuen, sondern allenfalls des als gewiß und vertraut Empfundenen in neuer Gestalt. Verwandt scheint sie darin der zeitgenössischen rationalistischen Naturdichtung Barthold Heinrich Brockes zu sein - als deren empfindsames Pendant. Vorbehaltlich der zwangsläufig starken Schematisierung eines typologischen Vergleichs läßt sich vielleicht folgendes sagen: Naturbeobachtung charakterisiert beide, aber während sie bei Tersteegen aus der religiösen Einfühlung in das beobachtete Sujet resultiert, so bei Brockes aus der analytischen Unterscheidungstätigkeit der Vernunft. Beide Wege führen zum Ziel der Preisung Gottes im Anblick seiner Schöpfung. Beiden ist der Sinn dieser Schöpfung nicht verrätselt, sondern auf eine ihre W a h r n e h m u n g präfigurierende Weise gewiß. Aber diese Gewißheit ist im Falle Brockes die eines deistischen Vernunftglaubens, der sich in den Gedichten zuweilen geradezu in der „Abfolge von Lehrsatz, Behauptung, Beweisführung und Folgerung rational geordnet" erweist (so Martens am Beispiel von Die Heide·, ders. 1989a, 266), im Falle Tersteegens im Gottesempfinden fundiert. H a b e n wir es bei Brockes mit einem „sachlich-rationalen Sprechen" zu tun (ebd., 269), so bei Tersteegen mit einem subjektiv- emotionalen. Entsprechend wirkt Brockes Dichtung diskursiv-lehrhaft, Tersteegens intuitiv-erbaulich.
J o h a n n Arndts Kosmologie und das Naturschöne im Kirchenlied
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hardt affektiv sich selbst genügenden Innerlichkeit von der - dem Bekenntnis des Liedichs zufolge - präsentischen Gottesempfindung über die Öffnung für die Reize der äußeren Natur zur Verschließung des draußen gewonnenen Schatzes in sich zum Behufe religiösen Selbsterlebens. Wenn das Lied in der ersten (und erneut in der zweiten) Strophe mit dem Ausruf „Gott ist gegenwärtig!" anhebt, dann nicht als Auftakt der sprachlichen Verarbeitung dessen, worin dieser Gott dem Dichter gegenwärtig ist, sondern der hymnischen, gänzlich weltlosen Evokation des Gefiihls der Gegenwärtigkeit. Zunächst erscheint das Fühlen göttlicher Gegenwart noch eingebunden in den liturgischen Zusammenhang des Gottesdienstes („lasset uns anbeten", „Gott ist in der Mitte"), zu dessen Eröffnung das Lied im evangelisch-lutherischen Gesangbuch tatsächlich vorgesehen ist. 252 Dann aber artikuliert Tersteegen einen Weg fortschreitender Privatisierung der sich anfangs gemeinschaftlich vollziehenden Erfahrung, die in den Worten der fünften Strophe kulminiert. Der liturgische Rahmen ist hinter einem Bild atmosphärischen Fühlens mit deutlich pantheistischen Zügen vollends verblichen. HansGeorg Kemper trifft diesen Sachverhalt nicht genau, wenn er formuliert, daß „[d]er zuvor biblisch-personale Gott . . . sich beim Blick auf die Natur buchstäblich in ,Luft' und ,Meer' - also in die Elemente - auflöst]." 2 5 3 Denn evoziert wird hier kein Blick auf die Natur, sondern das eigenleibliche Spüren Gottes in ihr, das diesseits der Subjekt-Objekt-Spaltung des immer intentional auf etwas gerichteten Gesichtssinns liegt. Im Grunde kann daher noch nicht von einer Naturerfahrung gesprochen werden - vielmehr assoziiert man mit der Strophe die pantheisierende Empfindungsreligiosität des Unendlichen in Schleiermachers siebzig Jahre nach Tersteegens Blumengärtlein veröffentlichten Reden Über die Religion.254 Meer und Luft sollen lediglich der Veranschaulichung des atmosphärischen Charakters mystischer Religiosität dienen. So endet die Strophe denn auch mit den Versen: „Ich senk mich in dich hinunter: / Ich in dir, Du in mir, / Laß mich ganz verschwinden, / Dich nur sehn und finden", die der von Kaiser zitierten Passage direkt vorausgeht. Erst nach dieser mystischen Versenkung geschieht die Öffnung des frommen Lied-Ichs für die Natur. Analog zu der von Arndt angesonne-
252 Vgl. das E K G , wo Tersteegens Lied im Kapitel „Der Gottesdienst" unter der Rubrik „Zum Eingang" abgedruckt ist: ebd. Nr. 128. 253 Kemper 1993, 138. 254 Vgl. die ganz in diesem Sinne gehaltenen Einträge unter dem Stichwort „Meer" in August Langens sprachgeschichtlicher Untersuchung Der Wortschatz des deutschen Pietismus, unter denen sich auch etliche Textstellen aus Tersteegens Liedern finden. Langen 1968, 341 f.
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nen Entwicklungslogik des „wahren" Christentums von der Einkehr in sich über die Erfahrung der Vereinigung mit Gott zum vom Gnadenlicht beseelten Naturempfinden und -verstehen tritt es aus der inwendigen Zweisamkeit mit Gott - „Ich in dir, Du in mir" - heraus ins göttliche Sonnenlicht, das es nun zu der von Kaiser interpretierten Blumenallegorie anregt. Nachdem Gott sich dem Gläubigen in dem Augenblick mystischer Versenkung in quasi-sinnlicher Evidenz offenbart hat, fließt das Gefühl innerer Erleuchtung gleichsam in die Objektwelt ein und lädt sie libidinös auf. Für Ludewig korreliert der Entwicklung des Liedes die biographische der Frömmigkeit Tersteegens. Er habe „in späteren Jahren einen auffallend positiven Zugang zur Natur gefunden". 255 Das belegten seine Naturlieder, die mit der vierten Auflage des Blumengärtleins von 1745 beginnen. Tersteegens Lied-Ich öffnet sich aber nur, um sich dann, in der siebenten Strophe, rasch von den Blümlein ab- und mit der Bitte an seinen Schöpfer: „Mache mich einfältig, innig, abgeschieden. .." in sich zurückzuwenden. Nachdem unsere Seelenkräfte und deren Wirksamkeiten gereinigt seien, erläutert er anderswo den Sinn der Naturbetrachtung, „so vergönnet uns Gott wohl einmal eine solche heilige Ergötzung (Divertissement) und Spaziergang; ja, er führet uns wohl einmal hinaus, seine Schildereien und Abbildungen zu besehen und dann wiederum hinein, ihn selbst, das Urbild und Wesen der Wahrheit zu beschauen; und da wir dergestalt mit unserm Hirten ausund eingehen, finden wir überall Weide und Nahrung." 2 5 6 Bei aller historisch bedingten Verschiedenheit des Tonfalls: wie Gerhardt so ist auch Tersteegen dem Geiste des Wahren Christentums durch das Verhältnis von religiöser Innerlichkeit und Naturerfahrung verwandt. Alle drei funktionalisieren das ästhetische Erleben für das affektiv selbstgenügsame religiöse Empfinden. Aber während die empfindsame Naturfrömmigkeit in Gerhardts Sommerlied nur gefordert wird, darf sie sich, freilich gezügelt vom Telos der Gotteserkenntnis und gleichsam als Zwischenspiel des innerlichen Gotteserlebnisses, in Tersteegens Gott ist gegenwärtig sprachlich entfalten.
255 256
Ludewig 1986, 205. Zit. ebd.
Philipp Jakob Speners „Pia Desideria " und die collegia pietatis
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4. Philipp Jakob Speners „Pia Desideria " und die collegia pietatis 4.1. Spener
und
Arndt
D i e innerlichkeitsakzentuierte Religiosität der Frömmigkeitsbewegung im 17.Jahrhundert, und z w a r speziell die H a l t u n g reflexiver Selbstvergewisserung des Glaubenslebens, die Erwartung sensitiv-empfindsamer Heilserfahrung im H i e r und Jetzt und den Anspruch subjektiver Verv o l l k o m m n u n g d u r c h d i e H e i l i g u n g d e s A l l t a g s l e b e n s als B e s t i m m u n g s m e r k m a l e d e r praxis pietatis g e f o l g s c h a f t s b i l d e n d k i r c h l i c h i n s t i t u t i o n a lisiert z u h a b e n , z ä h l t aus s o z i a l p s y c h o l o g i s c h e r P e r s p e k t i v e z u d e n kulturgeschichtlich relevanten Leistungen Philipp Jakob Speners.257 257 Philipp Jakob Spener, geboren 1635 im oberelsässischen Rappertsweiler, Sohn eines Verwaltungsbeamten am Hofe der Herren von Rappoltstein, erhielt Privatunterricht von Joachim Stoll, dem Hofprediger in Rappoltstein, bevor er 1651 in Straßburg die Universität bezog und dort Theologie, Philosophie und Geschichtswissenschaft studierte. Das Philosophiestudium Schloß er 1653 mit einer Magisterdissertation zur natürlichen Theologie des Thomas Hobbes ab, in der Theologie promovierte er 11 Jahre später. Seine theologischen Lehrer waren Johann Schmidt, Sebastian Schmidt und Johann Konrad Dannhauer. „Es w a r . . . d a s . . . System der lutherischen Orthodoxie Dannhauers, das sich Spener zu eigen machte und das für seine eigenen theologischen Abgrenzungen weithin Gültigkeit behielt" (Brecht 1993b, 283; zu Dannhauer und Speners Verhältnis zu seinem Lehrer vgl. auch Wallmann 1986, 100-125). 1666 wurde er als Senior der zwölfköpfigen Pfarrerschaft vom Rat der Stadt Frankfurt a. M. berufen, wo er seit 1670 durch die Einrichtung der collegia pietatis und schließlich mit der Abfassung der Pia Desideria, einem Reformvorschlag für die lutherische Kirche, die Entwicklung des Pietismus als einer innerkirchlich greifbaren Bewegung begründete. Von „innergemeindlichen Verwerfungen" enttäuscht (Wesseling 1995, 913), folgte Spener dem Ruf an den kursächsischen Hof Johann Georgs III., wo er 1686 seine Tätigkeit als Oberhofprediger antrat. 1691 wechselt er als Probst und Konsistorialrat an die Nikolaikirche in Berlin. Während der Berliner Zeit bildet sich sein Verhältnis zu August Hermann Francke aus, dem er 1692 zu einer Professur an der neuen Universität in Halle und damit zu dem institutionellen Rahmen für die Ausbildung des s.g. Hallischen Pietismus verhalf. In den Reformbestrebungen für die lutherische Kirche stimmen Spener und Francke im wesentlichen überein. Neben der Forderung und Realisierung kirchlicher Reformideen engagiert Spener sich - wie Francke in Halle - auch im sozialen Bereich. So geht die Gründung des Friedrich-Hospitals im Jahr 1702 auf Spener zurück. „Als er 1705, knapp 70jährig starb, besaß er ein Ansehen in der lutherischen Kirche, wie es kein Theologe nach Luther besessen hatte und nach ihm kein anderer Theologe in der evangelischen Kirche jemals haben sollte" (Wallmann 1990, 59). Sein Werk ist umfangreich, es zählt „weit über zweihundert Einzeltitel" (Wallmann 1990, 58). „Eine Spenergesamtausgabe würde die Dimension der Weimarer Lutherausgabe beträchtlich übersteigen" (Wallmann 1985, 345). An theologischer und wirkungsgeschichtlicher Bedeutung kommt allerdings wohl keines seiner Werke der Reformschrift Pia Desideria gleich, derbezüglich gesagt wurde, Spener habe „die Quintessenz seines Denkens und Wollens in einem einzigen Text verdichtet" (Wallmann 1986c, 14). Das Gros seines Schaffens bilden Predigtsammlungen, Erbauungsschriften und seine umfangreiche seelsorgerliche Korrespondenz, die, zum Teil noch unter eigener Regie, als Theologische Be-
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Diese Leistung besteht maßgeblich in der theologischen Verarbeitung und kirchlichen wie sozialen Realisierung der von Arndt vermittelten Impulse. 258 Denn wenn dieser auch als „Begründer des Pietismus" gilt, sofern damit der „pietistische[] Frömmigkeitstyp" gemeint ist, „der durch seine Schriften verbreitet wird", 259 und zwar insbesondere durch sein Wahres Christentum, „das Grundbuch pietistischer Frömmigkeit", 260 so kann doch erst seit der Verkirchlichung dieses Frömmigkeitstyps „eine von ihrer Umwelt durch Gruppenbildung unterschiedene Erscheinung des sozialen Lebens" identifiziert werden. 261 Spener hat sich selbst als pietistischer Theologe in der Nachfolge Arndts gesehen und auch ausdrücklich dazu bekannt. In seiner Wahrhafftigen Erzehlung dessen, was wegen des sogenannten Pietismi in Deutschland vor einiger Zeit vorgegangen aus dem Jahr 1697 befindet er, man müsse „gar biß auff den anfang / des nun zu ende lauffenden jahrhundert zurück gehen / zu zeigen / daß was sich bißher begeben / gleich als nur eine folge des vorigen gewesen seye" - womit er Arndts Erbauungsliteratur und deren Wirkung meint, denn er fährt fort: „Vor andern hat zu anfang dieses jahrhundert der theure Johann Arnd das werck GOttes mit ernst geführet / und auff die Übung der Gottseligkeit getrieben". 262 Auch an-
dencken und Letzte theologische Bedencken veröffentlicht wurden. Vgl. ausführlich zur Biographie und Werkgeschichte Speners Grimberg 1988; außerdem im Rahmen ihrer Gesamtdarstellungen des Pietismus die Kapitel über Spener bei Johannes Wallmann und unter ausführlicher Berücksichtigung seiner Wirkung - Martin Brecht: Wallmann 1990, 36-59; Brecht 1993, 281-389. Vgl. neuerdings auch Schicketanz 2001, 46-67. 258 Hinsichtlich des Verhältnisses zwischen A r n d t und Spener folgt der Verfasser dem Ansatz, den Johannes Wallmann in seinen einschlägigen Arbeiten über Spener und die Anfänge des Pietismus entwickelt hat (siehe die Titel im Literaturverz.). Zu der Kontroverse um Wallmanns Spener-Interpretation und der nicht nur in Einzelheiten, sondern konzeptuell davon abweichenden Deutung Speners in dieser Arbeit vgl. weiter unten, 1.4.4. 259 Wallmann 1986a, 47. 260 ders. 1986b, 176. 261 ders. 1986a, 47. Vgl. ders. 1979. Die Unterscheidung zwischen einer frömmigkeitsgeschichtlichen und einer im engeren Sinne kirchengeschichtlichen Begründung der Anfänge des Pietismus und die Anerkennung des relativen - nämlich von der jeweiligen Forschungsperspektive abhängigen - Rechtes beider teilt Wallmann mit Martin Brecht, der in frömmigkeitsgeschichtlichen Zusammenhängen von „Frühpietismus" spricht. Vgl. oben Anm. 4. Eingeführt wurde dieser Begriff allerdings schon 1936 von Paul Schattenmann (ders. 1936; vgl. dazu auch Wallmann 1986, 15). Ausgehend von Brechts und Wallmanns Forschungsarbeiten scheint die Anerkennung Arndts und Speners - in jeweils anderer Perspektive - als Begründer des Pietismus sich mittlerweile durchgesetzt zu haben. W o das nicht der Fall ist, läßt die - zumeist ältere - Forschung den Pietismus eindeutig mit Spener beginnen (mit Ausnahme Ritschis, der Spener noch nicht zum Pietismus zählt; vgl. ders. 1966). Vgl. hier die Arbeiten von Kurt Aland und Martin Schmidt. Exemplarisch f ü r Aland: ders. 1975, und f ü r Schmidt: ders. 1957. 262
Zit.n. Wallmann 1986, 14, Anm. 51.
Philipp Jakob Speners „Pia Desideria*
und die collegia
pietatis
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dernorts verbeugt Spener sich vor Arndt. In den Theologischen Bedencken, die er in den Jahren 1700 bis 1702 aus seiner umfangreichen seelsorgerlichen Korrespondenz veröffentlicht hat, stellt er ihn in seiner Bedeutung neben Luther 263 und bekennt sich dazu, „sein [d. h. Arndts M.S.] discipul zu heissen". 264 Und daß er (1711 posthum erschienene) Predigten über Johann Arndts Wahres Christentum gehalten hat, verrät den Charakter seiner Wertschätzung. Sie war nicht in erster Linie wissenschaftlicher, sondern seelsorgerlicher Art und beruhte als solche auf einer Geistesverwandtschaft der beiden Theologen. Speners Predigten über das Wahre Christentum waren intendiert als Predigten des „wahren" Christentums. Die Vertrautheit des Jüngeren mit den Schriften und der Frömmigkeit des Alteren ergab sich nicht erst als das Ergebnis seines Theologiestudiums. Für Spener war Arndt, dessen Wahres Christentum er in der Bibliothek des Vaters fand, seit der Kindheit ein Begriff 265 - in seinem Lebenslauf berichtet er über seine Jugendlektüre allerdings vorrangig von Lewis Bayly und Emanuel Sonthom und erst „in weiter Ansehung" von Johann Arndt. 266 Die Beschäftigung mit der englischen Erbauungsliteratur paßt in das Bild ihrer weiten Verbreitung und Geläufigkeit im protestantischen Deutschland des 17. Jahrhunderts. 2 6 7 Auch Arndt wird zu dieser Zeit schon fleißig gelesen, 268 aber seine alle übrigen Erbauungsschriftsteller überragende Wertschätzung ist Spener wohl erst durch seinen Privatlehrer, den Rappoltsteiner Hofprediger Joachim Stoll, vermittelt worden. Stoll war nach Speners Aussage im Lebenslauf darum bemüht, „das wahre Christenthum uns [den Katechismusschülern - M.S.] vorzustellen und einzupflantzen". 269 „Als Spener 1651 die Universität Straßburg bezog", bilanziert Wallmann die religiöse Sozialisation des Jugendlichen, „war die Grundrichtung seines Denkens bereits festgelegt, seiner Frömmigkeit nach war er bereits Pietist." 270
263
„Daher setze ich . . . Lutherum billig fornen an . . . aber dieser (Arndt) streicht ihm nahe / und w e i ß ich nicht / ob er nicht noch in seinen schrifften zu einem nicht geringem werck als Lutherus mag von G O t t bestimmet seyn. Ich läugne auch nicht / d a ß ich unserer lehrer nicht leicht jemal einigen / als diese beyde / auf der Cantzel ausdrücke / und sie zusammen setze . . . " (Ph.J. Spener, T h e o l o g i s c h e Bedencken, Bd. III, N r . 7 1 4 ; zit.n. Wallmann 1986a, 115). 264
Ph.J.Spener, T h e o l o g i s c h e Bedencken Bd. III, N r . 6 1 9 ; zit.n. Wallmann 1986a,
121. 265 266 267 268 269 270
Zum folgenden vgl. die entsprechenden Passagen in Wallmann 1986a. Spener 1996, 32. Vgl. dazu Sträter 1987. Siehe oben, 1.2.1. Spener 1996, 35; hier zit.n. Wallmann 1986a, 52. Wallmann 1990, 38.
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Auch an der theologischen Fakultät der Straßburger Universität mußte Arndt dem Studenten geradezu zwangsläufig begegnen. Das Wahre Christentum soll in der Stadt „einen Siegeslauf sondergleichen" 271 erlebt haben. Gelegentlich zitiert findet man Johann Conrad Dannhauers Apell an die Straßburger, über Arndts Erbauungsbuch nicht die Lektüre der Bibel zu vergessen. 272 Und Spener, der gemeinsam mit Freunden „den Sonntag dem Studium pietatis mit Lesen erbaulicher Bücher, Singen geistlicher Lieder und Abfassen von Meditationen [widmete]", 273 suchte die Nähe von Johann Schmidt, dem Arndt nahestehenden Straßburger Kirchenpräsidenten; ihn nennt er - laut Wallmann „als einzigen von allen Straßburger Theologen" 274 - seinen „in Christo geliebte[n] Vatter". 275 Von Johann Schmidt scheinen auch die Straßburger Ansätze zu einer Kirchenreform zu stammen, die ihrem Anliegen nach als zarter Vorläufer der Pia Desideria gelten können. Es handelt sich dabei um ein von dem sächsischen Herzog Ernst dem Frommen bei der Straßburger Theologischen Fakultät eingeholtes Gutachten über die Frage, „wie das heutigen Tages tief gefallene Christentum aufzurichten und ein gottseliges Leben und Wesen zu pflanzen sei". 276 In diesem Dokument aus dem Jahr 1636, das im Straßburger Stadtarchiv lagert, wird der Christenheit bescheinigt, sich „im hertzen auff die liebe des Zeitlichen, im eusserlichen Wesen aber auff die heucheley und scheinheiligkeit" zu stützen. 277 Dem Theologenstand attestiert es Eitelkeit („fürwitziges Grübeln") und frömmigkeitspraktische Wirkungslosigkeit („ohne krafft und nacherfolg des lebens"). 278 Sowohl die Diagnose als auch die nachfolgenden Reformvorschläge atmen den Geist des Wahren Christentums. Und mit dem Vorschlag einer Neustrukturierung des Theologiestudiums, das die Ausbildung zur Kontroverstheologie zugunsten seiner Orientierung an der seelsorgerlichen Praxis zurückstellen möge, weist es voraus auf gleichlautende Forderungen Speners in den Pia Desideria. „Das Drängen auf ,wahres Christentum', auf die Übung der Gottseligkeit oder die Praxis pietatis, die Prüfung, ob man im Stande des lebendigen Glaubens sei, der Vorschlag erbaulicher Gespräche wie überhaupt die Abzielung alles kirchlichen Handelns auf
271
Wallmann 1986, 15. So belegt in Dannhauers Katechismusmilch, nach der von Wallmann benutzten Ausgabe im ersten Teil der 2.Aufl., Straßburg 1657, 379. 273 Ebd. Seine Meditationen wurden 1715 unter dem Titel Soliloquia et Meditationes Sacrae veröffentlicht. 274 Ebd., 39. 275 Spener 1996, 226. 276 Zit.n. Wallmann 1986a, 26. Vgl. dazu ebd., 26 ff. 277 Zit.n. Wallmann 1986a, 27. 278 Ebd. 272
Philipp Jakob Speners „Pia Desideria" und die collegia pietatis
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die Erbauung, die Beobachtung der Fortschritte und des Zunehmens im Christentum - alle diese pietistischen Topoi sind hier - ein Jahr nach Speners Geburt - bereits anzutreffen und" - an dieser Stelle wäre zu ergänzen: schon 15 Jahre nach dem Tode des zu Lebzeiten noch heftig bekämpften Arndt - „als die Grundgedanken eines kirchlichen Reformplanes zu erkennen." 2 7 9 Im folgenden soll nun aber nicht der sowohl von der theologischen wie der kirchengeschichtlichen Forschung gestellten Frage nachgegangen werden, in welcher Weise Speners Werk von Arndt und dem ArndtFlügel der Straßburger Orthodoxie beeinflußt oder gar geprägt worden ist. 280 Im Anschluß an die Rekonstruktion des von Arndt und anderen zeitgenössischen Erbauungsautoren repräsentierten Frömmigkeitstypus ist mit Blick auf die materiale Genese und Etablierung des Pietismus als einer religiösen Bestimmungsgröße der protestantischen Kernländer im 17. und frühen 18.Jahrhundert ungleich relevanter, inwieweit Spener durch seine kirchliche Reformtätigkeit der sich - ganz wesentlich durch das Wirken Arndts - seit dem frühen 17.Jahrhundert ausbildenden Frömmigkeitsrichtung die notwendigen Bedingungen ihrer breiten innerkirchlichen Entfaltung und Verstetigung als sozialer Bewegung mit eigener Gruppenidentität und damit einhergehender eigener Traditionsbildung objektiv - d. h. ganz abgesehen von seinen subjektiven Uberzeugungen und Absichten - eingeräumt und diese begünstigt hat. Aufzuzeigen gilt es demnach also erstens die Kompatibilität und den Kompatibilitätsgrai/ der an der Kirche als Institution ansetzenden Reformpläne Speners mit der Frömmigkeit Arndtscher Provenienz 2 8 1 sowie zweitens die spezifischen Innovationen Speners, die dieser Frömmigkeit den Mehrwert ihrer Transformation von einer sozial diffusen Richtung in eine greifbare und breitenwirksame kirchliche Bewegung verschafften.
279
Wallmann 1986a, 32. Es ist vor allem diese Frage, welche die Einflußforschung anleitet, wenn sie die Anfänge des Pietismus sucht und dann unter anderem und vor allem Arndt ein mehr oder weniger hohes Maß an Wirkmächtigkeit auf das Denken Speners einräumt. Paradigmatisch für diesen Ansatz ist die Konzeption der Habilitationsschrift von Johannes Wallmann über Philipp Jakob Spener und die Anfänge des Pietismus (vgl. Wallmann 1986a). Die theologische Ortsbestimmung Speners und die Rekonstruktion seiner Lebensgeschichte bis zur Veröffentlichung der Pia Desideria sind hier ineinander verflochten. 281 In diese Richtung geht am ehesten Martin Brecht, wenn er in einem Aufsatz über „Philipp Jakob Spener und das Wahre Christentum" anhand der von Spener in seiner Neuausgabe des Arndtschen Erbauungsbuches vorgenommenen Korrekturen und inhaltlichen Eingriffe zu zeigen versucht, was von Spener unternommen wurde, um Arndt unter Beibehaltung seiner Grundaussagen als kirchlich tragfähig zu erweisen. Vgl. Brecht 1979. 280
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4.2. Großgebauers „ Wächterstimme" und Speners „ Cramer- Vorrede" von 1667 „Wer Spener und den Pietismus verstehen will, muß bei den Pia Desideria einsetzen", 282 so Wallmanns in der kirchengeschichtlichen Forschung allgemein geteiltes Urteil über die Spenersche Reformschrift von 1675. Dabei war deren unmittelbarer Erfolg - vergleicht man ihn mit der sagenhaften Wirkungsgeschichte von Arndts Wahrem Christentum eher bescheiden. 283 Freilich ist in Rechnung zu stellen, daß sich die Pia Desideria an einen anderen Leserkreis wenden als das Wahre Christentum. Adressiert Arndts Erbauungsbuch den frommen „Laien", so Speners Reformschrift die neuerungswilligen Amtsträger in der lutherischen Kirche. Deshalb ist ihre im Vergleich zum Wahren Christentum numerisch geringere Verbreitung kein Indiz einer geringeren Wirkung. An Bedeutung für die Entstehungsgeschichte des lutherischen Pietismus als innerkirchlicher Bewegung ist ihr gleichwohl die 1670 durch Speners Initiative und Unterstützung erfolgte Gründung des Frankfurter collegium pietatis an die Seite zu stellen. 2 4 Es führt schon vieles praktisch aus, was die Pia Desideria dann wenige Jahre später konzeptuell einfordern. 285 Doch Speners Reformideen verdanken sich keineswegs erst den mit dem Experiment des Collegiums erworbenen Erfahrungen, zumal sie weiter gehen als diese. Schon 1667, ein Jahr nach Speners Amts282
Wallmann 1985, 345. Zunächst als Vorrede einer Ausgabe der Predigtpostillen Johann Arndts zur Frankfurter Buchmesse im Frühjahr 1675 erschienen, brachte Spener zur Herbstmesse eine preiswertere Seperatausgabe seiner Reformschrift heraus und davon noch im selben J a h r einen Nachdruck. Im Folgejahr dann einen Neudruck, danach eine Neuausgabe im J a h r 1680; damit war der Bedarf - sieht man von einem Neudruck der Arndtschen Postillen samt Spenerscher Vorrede 1693 und einem Abdruck der Schrift im Rahmen seiner Ersten Geistlichen Schriften 1699 ab - für 26 Jahre gedeckt. Vgl. dazu Aland 1996, 68-71; Wallmann 1979, 32f. 284 Siehe unten, 1.4.5. 285 Ob nun den Pia Desideria oder den collegia pietatis die Lorbeeren gebühren, die Anfänge des Pietismus eingeleutet zu haben, ist in der kirchengeschichtlichen Forschung umstritten. Mit dem Verweis auf die zunächst behäbige Wirkung der Reformschrift optiert Johannes Wallmann für die collegia (Wallmann 1979). Wallmanns Forschungsansatz prädestiniert ihn allerdings auch für diese Akzentsetzung. Denn er unterscheidet zwischen Pietismus als Frömmigkeitsbewegung - ausgehend von Johann Arndt - und Pietismus als kirchlicher Gruppenbildung und sieht diese aus jener hervorgehen (vgl. ebd., 46ff). Sein Erkenntnisinteresse gilt primär dem Pietismus als frömmigkeitsgeschichtlich entstandener sozialer Bewegung. Dagegen argumentieren Martin Schmidt und Kurt Aland ideengeschichtlich und lassen den Pietismus deshalb mit den Pia Desideria beginnen (vgl. Schmidt 1957; 1972; Aland 1975) - allerdings jeweils mit theologisch diametral verschiedenen Interpretationsansätzen (vgl. Schmidt 1977a; 1977b; Aland 1992). 283
Philipp Jakob Speners „Pia Desideria"
und die collegia
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antritt als Senior des lutherischen Predigerministeriums in Frankfurt am Main, tauchen sie in seiner Vorrede zu fünf Traktaten des Mühlhausener Superintendenten Andreas Cramer unter dem Titel Der gläubigen Kinder Gottes Ehrenstand und Pflicht auf. 286 Udo Sträter versteht diese Vorrede als „kritische[n] Alternativentwurf zu der bis dahin profiliertesten Anklage- und Reformschrift des 17.Jahrhunderts: zu Theophil Großgebauers Wächterstimme aus dem verwüsteten Zion mitsamt dem zugehörigen Treuen Unterricht von der Wiedergeburt" .2i? Großgebauers Reformvorschläge bauen auf die autoritative Wirksamkeit der Pfarrer und deren Unterstützung durch die Obrigkeit. Da das Predigen der Botschaft Christi die Gemeindemitglieder offenbar nicht zu besseren Christen mache, müsse eine schärfere und von den kirchlichen Amtsinhabern vor allem genauer beobachtete Kirchenzucht die verwahrloste Christenheit wieder zurück ins Lot bringen. Großgebauer strebt mithin eine gesetzliche Richtung der Kirchenreform an, wie es der paränetische Titel seiner Schrift ja auch erwarten läßt. Spener dagegen drängt auf die existentielle Aneignung des Evangeliums durch den einzelnen Gläubigen. Großgebauer denkt die kirchliche Umgestaltung von den Institutionen, Spener dagegen von den Individuen her: „Wo . . . Menschen lebendiges, tätiges Christentum entwickeln sollen, müssen sie zuerst zu wahrem, lebendigem Glauben gebracht werden. Dieser Glaube aber ist die Frucht des Evangeliums, nicht des Gesetzes." 288 Daraus ergibt sich eine von Großgebauers Position diametral verschiedene Funktionsbestimmung nicht nur der Predigt, sondern grundsätzlich des seelsorgerlichen Handelns. Statt der Ermahnung zur gesetzlichen Lebensführung soll es der frommen Erbauung mit dem Ziel dienen, den Glauben im einzelnen zu erwecken, zu stützen, zu stärken und gegen die Anfechtungen des weltlichen Lebens zu stabilisieren. 289 Der Akzent liegt hier in erster Linie nicht auf der Befolgung von Forderungen, die der christlichen Lehre inhärieren, sondern auf der Erfahrung von Heilstatsachen, die den einzelnen Gläubigen überhaupt erst instandsetze, den Ansprüchen an ein wahrhaft christliches Leben zu genügen. Diese Akzentverschiebung bleibt nicht ohne Folgen. Spener ist jetzt nämlich genötigt, die jedem einzelnen Gläubigen von Gott verliehenen Voraussetzungen religiöser Erfahrung hervorzuheben. Er tut das durch seine nachdrückliche Insistenz auf der Taufwiedergeburt des Menschen. Während Großgebauer von seiner Diagnose der gegenwärti286 287 288 289
1997.
Zum folgenden vgl. Sträter 1995, 1 4 9 - 1 5 6 ; Wallmann 1986a, 241 ff. Sträter 1995, 150. So Sträters Paraphrase der Spenerschen Argumentation. Sträter 1995, 151 f. Zur Schlüsselbedeutung der Erbauung für die Seelsorge bei Spener vgl. H a i z m a n n
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gen Christenheit auf die Wirkungslosigkeit der Taufe schließt, hält Spener trotz gleichlautenden Befundes unter Berufung auf die Lehre von der Wiederholbarkeit der Wiedergeburt 290 an ihrer Heilswirksamkeit fest. 291 Dadurch bewahrt er sich ein Fundament, das die inhaltliche Konkretisierung der Glaubensverlebendigung im Sinne individueller Heilserfahrung theologisch begründet. Nun kann er wie Praetorius von der „Taufseligkeit" des wahren Christen sprechen, nämlich als Quelle der „Süßigkeit jener himmlischen Schätze / die der Glaube ihme zueig« 292
net... . Ein in dieser Weise um die erfahrungsmäßige Konkretisierung der Glaubenspraxis zentrierter Reformplan entwirft den institutionellen Rahmen für eine Frömmigkeitspraxis, in den dann - wird er realisiert nähere inhaltliche Bestimmungen sowohl der Erfahrungs qualitäten wie der methodischen Disponierung des Gläubigen für deren Wahrnehmung - sofern diese nicht ausdrücklich untersagt werden - prinzipiell einfließen können (aber nicht notwendigerweise absichtlich sollen oder objektiv müssen). Wie auch immer Spener theologisch zu dem mystischspiritualistischen Gedankengut Arndts gestanden haben mag, es findet jedenfalls in der Grundkonzeption des Spenerschen Reformplanes günstige Bedingungen für seine innerkirchliche Freisetzung und Einspeisung in die gemeindlichen Formen religiöser Selbstverständigung. Es sind dies Bedingungen der Subjektivierung und insofern der Dereglementierung und Verselbständigung institutionell gerahmter Frömmigkeitspraxis. Strukturell könnte Speners Reformentwurf mithin in letzter Instanz paradoxerweise geradezu auf deren fortschreitende Entinstitutionalisierung innerhalb der kirchlichen Institution zusteuern. 293 Klärungsbedürftig ist im folgenden erstens, ob die wirkungsgeschichtlich maßgebliche Ausformulierung, die Speners Reformideen in seinen Pia Desideria gefunden haben, die genannten Bedingungen der Subjektivierung qua Dereglementierung und Verselbständigung der Frömmigkeitspraxis bestätigt bzw., wenn ja, in welcher Weise sie das tut; sowie zweitens, ob das auf Speners Initiative zurückgehende und von ihm geleitete Frankfurter collegium pietatis in seinem Verlauf diesen Bedingungen inhaltlich und gruppendynamisch entspricht.
290
Vgl. Wallmann 1986a, 171-175. Sträter bewertet den Nachdruck, mit dem Spener die Bedeutung der Taufe herausstellt, als Ausdruck seiner Auseinandersetzung mit Großgebauer. Vgl. Sträter 1995, 153. 292 Zit.n. Sträter 1995, 154, Anm.29. Zu Praetorius vgl. oben, 14ff. 293 Zum Thema der Entinstitutionalisierung der Frömmigkeit vgl. Graff 1921. 291
Philipp J a k o b Speners „Pia Desideria" und die collegia pietatis
4.3. Die „Pia Desideria" von
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1675
Zunächst die Pia Desideria.294 D e m Vorwort, das Anlaß und Gründe für den Neudruck der Reformschrift darlegt, folgen drei thematisch klar unterscheidbare Blöcke, die argumentationsstrategisch stringent miteinander verknüpft sind: erstens die Diagnose des gegenwärtigen Zustandes der evangelischen Christenheit, welche die Reformbedürftigkeit der Kirche erweisen soll; zweitens eine Prognose der rosigen Zukunft, die der christlichen Gemeinschaft unter der Voraussetzung ihrer inneren Erneuerung fürderhin beschieden sei; schließlich drittens inhaltliche Vorschläge zur konkreten Gestaltung der anvisierten Reform. 2 9 5 Das Ganze ist verfaßt in einem sachlichen Stil, der sich polemischer und rhetorisch-persuasiver Sprachelemente weitgehend ebenso enthält wie inhaltlicher Wiederholungen. Erkennbar ist das pragmatische Interesse Speners, mit seiner Reformschrift unter den kirchlichen Amtsträgern eine Verständigung über das dringlich Gebotene zu initiieren. 2 9 6
294 Den folgenden Ausführungen liegt die zur Herbstmesse 1675 erschienene Separatausgabe der Pia Desideria zugrunde. Ihr vollständiger Titel lautet PIA DESIDERIA: Oder Hertzliches Verlangen / Nach Gottgefälliger Besserung der wahren Evangelischen Kirchen / sampt einigen dahin einfältig abzweckenden Christlichen Vorschlägen Philipp Jacob Speners D. Predigers und Senioris zu Franckfurt am Mayn; Sampt angehengten Zweyer Christlichen Theologorum darüber gestehen und zu mehrer Aufferbauung höchst-dienlichen Bedencken. Sie wurde bei J o h a n n David Zunner in Frankfurt a. M. verlegt und trägt die mißverständliche, weil fälschliche, schon auf das Folgejahr datierende Jahresangabe 1676. Zugrundegelegt wird die kritische Edition dieses Textes in der von Kurt Aland besorgten Studienausgabe der Werke Speners: Aland 1996, 86-256.
Die Forschungsliteratur zu den Pia Desideria ist entsprechend ihrer Bedeutung f ü r das Selbstverständnis und die Selbstverständigung der lutherischen Kirche umfassend sowie, so weit ich sehe, fast ausschließlich - Ausnahme: Maier-Petersen 1984, 178-196 - theologischer oder kirchengeschichtlicher H e r k u n f t . Zum folgenden vgl. Schmidt 1977b; 1984a; Kruse 1971, 15-47; Greschat 1971, 189-219; Maier-Petersen 1984, 178-196; Wallmann 1986a, 324ff; 1986c; 1990, 45-50; Brecht 1993, 302-316; H a i z m a n n 1997, v.a. 151 ff; Chi 1997, v.a. 48ff, 71 ff. 295 Zur Feingliederung vgl. Aland 1996, 58-64. Die folgende Interpretation der Pia Desideria orientiert sich weitesgehend an Alands formaler Gliederung. Behandelt werden im folgenden allein Speners Diagnose der gegenwärtigen Christenheit und seine Vorschläge zur Reform der Kirche. Zu Speners „ H o f f n u n g bessrer Zeiten" vgl. Schmidt 1977b, 135-144; Wallmann 1986a, 324-354. 296 Eine solche Verständigung, so Spener in seiner Vorrede zu den Pia Desideria, sei vormals Aufgabe der Konzilien gewesen. „' Stehet also dahin / ob nicht ein zu dieser Zeit zulänglichs Mittel seye / d a ß in ermangelung jener zusammenkunfft [gemeint sind die Konzilien - M.S.] / Christliche Prediger untereinander selbs in der Furcht des H e r r n durch so wol Schreiben unter sich / als auch samit den jenigen / welche sich das Werck des H e r r e n lassen angelegen seyn / zur nachricht und nachdencken anderer Mitbrüder Gedancken kund werden möchten / öffentlichen Truck diese wichtige ' Sachen mit ein-
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Was an Mißständen der gegenwärtigen Christenheit angeführt wird, sind geläufige Topoi der Zeitkritik in der protestantischen Erbauungsliteratur. Nach allgemeinen Auslassungen über das leibliche und geistliche Elend der evangelischen Kirche, das ohne eigenes Verschulden über sie gekommen sei (Pest, Hunger, Kriege; Verfolgungen „von dem Antichristischen Babel", gemeint ist Rom), widmet Spener sich dem Übel, das sich der Kirche von innen heraus bemächtigt habe. Keiner der drei Stände folge den „Christliche[n] regeln". 297 Der Adel verschwende sich an die „wollüste[] / welche das hof-leben meistens mit sich ' führet" und sinne in seinem Handeln allein auf den eigenen Nutzen; zeigten seine Repräsentanten einmal „eiffer vor unsere Religion", so häufig nur „auß absieht eines politischen interesse". 298 Nicht besser sei es um den geistlichen Stand bestellt. Denn „wo du sihest / daß das volck ohne zucht ist / so schliesse ohne zweiffei / daß es mangele an einer heiligen priesterschafft".299 Die Geistlichen hätten „das erste practische prineipium deß Christenthums / die verläugnung sein selbs / niemals mit ernst vorgenommen"; 300 „bey vielen", obschon äußerlich untadelig, herrsche „der weltgeist in fleischeslust / augenlust / und hoffärtigem leben", 301 „der mangel der glaubensfrüchten" zeige, daß es den Predigern „selbs an glauben mangele". Da sie die christliche Lehre zwar aus der Bibel erfaßt hätten, sich aber allein an deren Buchstaben hielten, „ohne Würckung deß Heiligen Geistes auß menschlichem fleiß", seien sie auch „von dem wahren himmlischen liecht und leben deß glaubens gantz entfernet" und ihre Gewißheit, auf den Pfaden Christi zu wandeln, beruhe auf bloßer Einbildung. 302 Fehlt aber der rechte Glaube, dann darf es nicht wundern, daß „in die Theologi viel frembdes / unnützes und mehr nach der weit weißheit schmeckendes eingeführet werde", 3 0 3 wobei Spener an die Kontroverstheologie denkt, die er zwar nicht in toto verurteilt, aber angesichts der Liederlichkeit des christlichen Lebens dringlicheren Aufgaben opfern möchte - zumal sie sich häufig nicht dem leidenschaftlichen Zeugnis für den rechten Glauben, sondern der Zanksucht und dem Disputiergehabe eitler Streithähne verdanke. Wie die Hirten, so die Herde: Der Bürger glänze - ganz abgesehen von den Lastern, die sogar der verkommenen Welt als anstößig gelten - mit Saufe-
ander überlegten / und was etwa der Gemeinde Gottes dienlich / reifflich erwegeten" (Spener 1996, 90). 297 Spener 1996, 110. 298 Ebd. 299 Ebd., 112. 300 Ebd., 114. 301 Ebd. 302 Alle Zitate ebd., 116. 303 Ebd., 124.
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rei, juristischem Hickhack aus „rachgier" und „unziemliche[n] begierden", suche im Erwerbsleben nach Vorteilen, die den „nebenmenschen . . . unterdrucken und außsaugen", 3 0 4 klammere sich an seinen jämmerlichen irdischen Besitz, gleichgültig gegen die Bettler, die „auß . . . ihrer briider handreichung lebeten" 3 5 - schon schlimm genug, daß sie es überhaupt müssen. Mit einer Gegenüberstellung des geistlichen Lebens, wie es sein sollte und wie es tatsächlich sei, resümiert Spener den desolaten Zustand der Christenheit. Statt der Rechtfertigung allein aus dem Glauben, welcher den Menschen nach Maßgabe der „Tauff und dero krafft" - daß „sie das eigentliche bad der Wiedergeburt und erneuerung deß H. Geistes seye. Tit.3." 3 0 6 - innerlich verwandelt, regiere der eingebildete Glaube von Gewohnheitschristen, die aus dem Lippenbekenntnis des Vertrauens auf Christus ihre künftige Seligkeit ableiten;307 statt des Vertrauens auf die Kraft des gepredigten Wortes die „einbildung deß operis operati".308 Es sei dahingestellt, ob der von Spener beklagte Zustand der evangelischen Kirche im letzten Viertel des 17. Jahrhunderts strukturell noch der gleiche ist, der die religiöse Krisensituation der Jahrhundertwende geprägt hatte und damals von Erbauungsautoren wie Weigel, Nicolai oder Arndt und von den protestantischen Kirchenvisitatoren angeprangert wurde. 3 0 9 Auffällig aber ist, daß Spener nicht die Unkenntnis der
304
Ebd., 142. Ebd., 144. 306 Ebd., 148. „Dein G o t t hat dir freylich die Tauff gegeben / d a ß du nur einmahl get a u f f t werden darffst. Aber er hat mit dir den bund gemacht / welcher auff seiner Seiten ein gnaden-bund / von der deinigen aber ein bund des glaubens und guten gewissens ist: Solches muß nun dein lebenlang wären. Und getröstest du dich vergeblich deiner Tauff / und der darinn zugesagten gnade der Seligkeit / wo du auff deiner Seiten nicht auch in dem bund deß glaubens und guten gewissens bleibest. O d e r da du abgetretten / wiederumb durch hertzlich busse zurück kehrest. Also muß deine Tauff / soll sie dir nutz seyn / in stätiger Übung deß gantzen lebens bleiben" (ebd., 154). 305
307
Ebd., 150: „Fraget man / worauff sich dasselbe [die Zuversicht künftiger Seligkeit trotz eines unchristlichen Lebens - M.S.] gründe / so wird es sich finden / sie auch selbs bekennen / d a ß sie sich darauff verlassen / weil wir ja nicht d ö r f f t e n auß unserem leben selig werden / so glaubten sie ja an Christum / und setzten all ihr vertrauen auff denselbiben / daher könne es nicht fehlen / sie würden gewiß auß solchem glauben selig . . . " (Hervorhebungen v. mir - M.S.). 308 Ebd., 152. 309 Die Positionen gehen weit auseinander. Beispielshalber vertrat Karl Holl die Ansicht, d a ß sich die Krisensituation der nachreformatorischen Zeit durch den Dreißigjährigen Krieg zwar noch verschärft hatte, strukturell aber die gleiche war (vgl. Holl 1928a); Lehmann dagegen vermutet als Hintergrund des Spenerschen Schaffens eine Krise, die in der Zeit nach dem Dreißigjährigen Krieg neu war: den Konflikt zwischen religiöser Gesinnung und höfischer Ethik unter den Bedingungen absolutistischer Vereinnahmung der Kirche (vgl. Lehmann 1996, 116).
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christlichen und - im engeren Sinne - der lutherischen Lehre, sei es von Seiten der Prediger oder der Gemeinde, verurteilt, sondern das Mißverhältnis zwischen den konzedierten Kenntnissen der Christen und dem Fehlen irgendwelcher praktischer Konsequenzen, die nach Auffassung Speners aus diesen Kenntnissen zu ziehen wären. Daraus ist ersichtlich, daß für Spener das eigentlich drängende Problem die Frage war, wie von der lehrmäßigen Konsolidierung der lutherischen Konfession zu ihrer existentiellen Aneignung fortzuschreiten, mit anderen Worten: wie der für rechtmäßig befundenen Lehre zum Leben zu verhelfen sei. Denn daß die orthodoxe lutherische Lehre die rechte sei, wird von Spener nicht bestritten, sondern - ganz ähnlich wie Arndts Beteuerung im Wahren Christentum, seine Frömmigkeitsvorstellungen entsprächen den lutherischen Bekenntnisschriften - mehrfach betont. 310 Eben darin setzt er sich bewußt von der Kirchenkritik Christian Hoburgs ab, dessen Spiegel der Mißbräuche beim Predigtamt (1644) aus den aufgewiesenen Mängeln der - in seinen Augen „babylonischen" - evangelischen Kirche die Konsequenz zieht, die angestrebte Frömmigkeit zu entkirchlichen. 311
310 Denn „gleichwol hin und wieder allgemach in die Theologi viel frembdes / unnützes und mehr nach der weit Weisheit schmeckendes ' eingeführet werde", können wir, so Spener, „nicht in abrede seyn / ob wir wol durch GOttes gnade / die reine lehr auß G O t tes wort noch übrig haben . . . " (Spener 1996, 124). Und d a ß der „schädliche[] irrthum deß operis operatis, so wir an den Papisten straffen" wieder eingeführt werde, kreidet er der kirchlichen Praxis an, die der Lehre eben nicht genüge: „Nun ist hieran unserer Kirchen Lehr nicht schuldig / welche solchen einbildungen eifferig w i d e r s p r i c h t . . . " (ebd., 156). Von an ihrer eigenen Konfession zweifelnden Katholiken sagt er, sie vermöchten ebensowenig von der Rechtgläubigkeit des Luthertums überzeugt zu werden. „Dann / weil sie unsere kirche nicht anders ansehen / als wie sie in die äugen fället / indeme ihrer vielen unsere lehr nicht bekandt" (Hervorhebungen v. mir - M.S.), würden sie sich zu einer Konversion nicht entschließen (ebd., 164). 311
Folgender Satz ist wohl auf H o b u r g gemünzt: „Dann es ist gleichwol an dem / d a ß uns damit zu viel geschiehet / wo man auß angezogenen ärgemussen unsere kirche mit zu Babel ziehen will" (ebd., 166). An anderer Stelle bezieht er sich ausdrücklich auf H o b u r g . „ . . . so weiß ich auch", verteidigt er da den geistlichen Stand trotz des Eingeständnisses seiner groben Verfehlungen, „ / d a ß G O T T in unserm orden die seinige übrig behalten / ' die das werck deß H E r r n mit eiffer meynen. Ich bin auch nicht deß gemüths / mit einem Elia Praetorio [das Pseudonym Christian H o b u r g s - M.S.] auff die extrema zu gehen / und kind und bad zusammen außzuschütten" (ebd., 112), also von der Verderbtheit einiger ihrer Glieder auf die Verderbtheit der Kirche im ganzen zu schließen. Die Pia Desideria lassen sich ebenso als Replik auf H o b u r g s Kirchenkritik im Spiegel der Mißbräuche beim Predigtamt lesen, wie Speners „Cramer-Vorrede" sich implizit mit Großgebauers Wächterstimme aus dem verwüsteten Zion auseinandersetzte - in beiden Fällen durch bestimmte Negation der Konsequenzen, welche die Autoren aus ihren Befunden des Glaubensverfalls ziehen wollten. Zu H o b u r g s Obrigkeitskritik vgl. Kruse 1971, 141-173; zu Speners N ä h e und Distanz gegenüber H o b u r g vgl. ebd., 148-153.
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Die Reinheit der Lehre sei mit wachenden Augen zu bewahren, aber die Heiligkeit des Lebens mit größerem Ernst fortzupflanzen, formulierte Arndt im Wahren Christentum.312 Im Grunde entspricht diese Auffassung auch derjenigen Speners. Und doch würde Spener Lehre und Leben nicht wie Arndt in ein adversatives Verhältnis setzen. Arndts Berufung auf die Lehre wirkt wie eine Konzession an die von der Kirche im Streit der Konfessionen erwartete Linientreue; er bemüht sich allenfalls um Vereinbarkeit seiner Frömmigkeitsvorstellungen mit der lutherischen Theologie. Spener will mehr, nämlich die Verwirklichung der Lehre im und durch das Glaubensleben. Daß der Glaube in seiner heilswirksamen Macht lebendig erfahren werden müsse, ist eine Forderung, die Spener nicht von außen an die lutherische Lehre heranträgt, sondern unter Berufung auf Luthers Römerbriefvorrede als ihr eigenes Anliegen ausweist: „... Aber der glaube ist ein göttlich werck in uns / das uns wandlet und neu gebiertet auß GOtt / Joh.1/13. Und tödtet den alten Adam: Machet uns ' gantz andere menschen von hertzen / muth / sinn und allen kräfften / und bringet den Heiligen Geist mit sich. Ο es ist ein lebendig / schäfftig / thätig ding umb den glauben / daß unmüglich ist / daß er nicht ohne unterlaß solte gutes würcken. Er fraget auch nicht / ob gute Werck zu thun sind / sondern ehe man fraget / hat er sie gethan / und ist immer im thun."3li Luthers Diktum steht im Zusammenhang seiner Profilierung eines Tatglaubens gegenüber dem bloßen Verbalglauben der Scheinchristen, deren Glaubensbekenntnis der „herztzensgrund nimmer erfähret", weil es kein religiöses Selbstverständnis artikuliert, das aus der Erfahrung vermeinter einsamer Zwiesprache des einzelnen mit seinem Gott heraus Bedeutsamkeit für den eigenen Lebensentwurf und dessen praktische Verwirklichung erlangt, sondern bloß der Ausdruck seiner Konformität mit institutionell normierten Verhaltensregeln ist, die bestimmte Gratifikationen in Form von Heilsgütern in Aussicht stellt. Das wahrhaftige Glaubensbekenntnis, wiewohl semantisch nicht von dem der Scheinchristen zu unterscheiden, ist demnach sprachpraktisch etwas ganz anderes: keine Feststellung eines Sachverhaltes, sondern Ausdruck einer Erfahrung, jener Glaubenserfahrung nämlich, welche die Gläubigen „wandlet und neu gebiertet auß Gott" und „gantz andere Menschen von hertzen / muth / sinn und allen kräfften" aus ihnen macht. Der Glaube hat für Luther mithin den positiv erfahrbaren Vollzugssinn der Wandlung, Wiedergeburt und Erneuerung („gantz andere Menschen"). Auffällig ist die Unterscheidung zwischen "Wandlung und Wiedergeburt an der zitierten Stelle. Offenbar analog zu den Entwick-
312 313
Arndt 1845, 317. Zit.n. Spener 1996, 152.
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lungsstadien, die der Embryo vor seiner Geburt durchläuft, soll sich auch im wahrhaft Gläubigen ein Veränderungsprozess vollziehen, der mit der "Wiedergeburt als der Schaffung des neuen Menschen abgeschlossen wird und sich nun in der Erneuerung nach „hertzen / muth / sinn und allen kräfften", also kraft seines in der Wiedergeburt für das Leben in dieser Welt neu geschaffenen affektiven (Herz), volitiven (Mut) und kognitiven (Sinn) Vermögens praktisch bewähren muß. Berücksichtigt man den Kontext, in dem Spener Luthers Worte aus seiner Römerbriefvorrede zitiert, dann wird auch deutlich, in welchem Sinne er sich ihnen anschließt. Er bezieht sich nämlich auf sie als Kontrastfolie seiner Klage über den gegenwärtigen Zustand des geistlichen Lebens in der evangelischen Kirche; vor dem Hintergrund von Luthers Glaubenslehre wirft die Glaubenspraxis der christlichen Gemeinde umso dunklere Schatten. Deren Darstellung resümiert ihrerseits die Liderlichkeit der Stände: von dem permanenten Verstoß gegen die „Christliche[n] regeln" ist auf den mangelnden Glauben zu schließen - ganz so, wie umgekehrt der wahre Glaube unwillkürlich gute Werke zeitigt und von dem derart offensichtlichen Mangel an Erneuerung auf das Ausbleiben der Wiedergeburt. „'Wie viel sind der jenigen / welche ein so gar offenbahr unchristliches leben führen / daß sie selbs nicht in abrede seyn können / es gehe in allen stücken von der regel ab / ohne Vorsatz auch hinkünfftig anders zu leben / die gleichwol bey allem deme ihnen eine veste Zuversicht einbilden / daß sie ohneracht dessen selig werden wollen?". 314 Mit dieser Frage hebt Spener zu Beginn des Absatzes an, in dessen weiterem Verlauf er dann ausführlich die besagte Luther-Stelle zitiert. Er fragt nicht etwa nach der Anzahl derer, die eines authentischen Wiedergeburtserlebnisses ermangeln, sondern nach denjenigen, die unchristlich leben und gleichwohl aus ihrem christlichen Lippenbekenntnis die Gewißheit dereinstiger Seligkeit schöpfen. Weniger die Wiedergeburt selbst als die aus der Wiedergeburt schöpfende lebenspraktisch wirksame Erneuerung des Gläubigen in seinem an den brüderlichkeitsethischen Maßstäben Jesu und der Urkirche orientiertem Tun ist dasjenige, was Spener unter der lebendigen Aneignung der lutherischen Lehre versteht. Um die Wiedergeburt geht es ihm nur sub specie der Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit individueller und kollektiver ( = kirchlicher) Erneuerung. Die auf lebenspraktische Erneuerung bezogene Bedeutsamkeit der Wiedergeburt für den wahren Gläubigen ist auch gemeint, wenn Spener die Prediger kritisiert, deren raison d'etre in theologischem Expertentum bestehe: „Da sie auß der schrifft / aber allein dero buchstaben /
314
Ebd., 150.
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ohne würckung deß Heiligen Geistes auß menschlichem fleiß / wie andere in andern studiis dardurch etwas erlernen / die rechte lehr zwar gefast / solcher auch beypflichten / und sie andern vorzutragen wissen / aber von dem wahren himmlischen liecht und leben deß glaubens gantz entfernet sind." 315 Licht und Leben des Glaubens sind Metaphern für die innere Heilserfahrung in der Wiedergeburt und die alltagspraktisch wirksame Erneuerung des neugeschaffenen Christen; zwar werden sie hier durch die Konjunktion grammatisch gleichgeordnet, die ganze Reformschrift läßt aber keinen Zweifel daran, daß der Zusammenhang beider gemeint ist im Sinne der Erleuchtung des Weges auf der Wanderschaft in die Erneuerung, denn diese bringt letztlich die Waagschale für oder gegen den Menschen zum Ausschlag, wenn er sich dereinst vor Gott für sein Tun und Lassen verantworten muß. „... [D]aß es mit dem wissen in dem Christentum durchauß nicht gnug seye / sondern es vielmehr in der praxi bestehe", 316 formuliert Spener deshalb apodiktisch als Prinzip des rechten Glaubens: Die Disjunktion lautet nicht Wissen vs. Wiedergeburt, sondern Wissen vs. Erneuerung. Andererseits weist er nachdrücklich und immer wieder jede Form von Werkgerechtigkeit zurück. Man soll die guten Werke nicht um der Rechtfertigung willen tun, die der Glaube allein wirke, ja nicht einmal um ihrer selbst willen, 317 denn beides würde eine Absicht voraussetzen, ein Absehen auf gute Werke, das in vorgängigen Handlungsabwägungen wurzelt und in berechnetem Handeln resultiert, sondern sie mögen im Sinne der Worte Luthers über die guten Werke des wahren Glaubens in der Römerbriefvorrede - „ehe man fraget / hat er sie gethan / und ist immer im thun" unwillkürlich geschehen. Unter christlicher Praxis versteht Spener mithin kein Handeln im Sinne des Entschlusses des Wiedergeborenen, seiner Wiedergeburt gemäß zu leben, sondern ein spontanes Tun, in dem sich die Erfahrung des innerlichen Wiedergeburtsgeschehens zugleich objektiviert und bewährt. Das Innere erweist und erfüllt sich als wahres
315
Ebd., 116. Ebd., 208. 317 Die der Erbauung der Gläubigen dienenden Predigten sollten klarstellen, empfiehlt Spener an einer späteren Stelle der Pia Desideria, „... die werck also zu treiben / daß wir bey leibe nicht zu frieden seyen / die leute allein zu Unterlassung der äusserlichen laster und Übung der äusserlichen tugenden zu treiben / und also gleichsam nur mit dem äusserlichen menschen es zu thun zu haben / das die Heydnische Ethic auch thun kan..." (ebd., 246). Unter der Übung äußerlicher Tugenden versteht er ein wertrationales Handeln, das primär an der Gebotenheit von bestimmten Werken orientiert ist, anstatt zunächst „die Liebe GOttes und deß Nechsten bey sich durch gehörige mittel zu erwecken / und nachmahl auß solchem erst zu würcken" (ebd.; Hervorhebungen v. mir - M.S.). Das Gebot wertrationalen Handelns kann laut Spener jede beliebige nichtchristliche Ethik erheben, es geht demnach am spezifischen Sinn christlichen Handelns vorbei. 316
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Inneres erst im existentiellen Vollzug seiner Entäußerung im alltagspraktischen Tun: in der Erneuerung. Auf die Erneuerung richten sich, im Sinne ihrer institutionell notwendigen Voraussetzungen im Leben des einzelnen und der Gemeinde, auch die Reformvorschläge. D i e Wiedergeburt setzen sie bei ihren Adressaten und aktiven Nutznießern bereits voraus. So appelliert Spener in der Vorrede der Pia Desideria an die Pfarrer: „Lasset uns erstlich die jenige / welche noch selbs willig sind / was man zu ihrer Aufferbauung thut / gern anzunehmen / an meisten befohlen seyn / jeglicher in seiner Gemeinde dieselbe vor allen zu versorgen / daß sie mehr und mehr mögen wachsen zu dem maaß der Gottseligkeit / damit nachmahl ihr Exempel auch andern vorleuchte: biß wir folgends auch die jenige / bey denen es noch zur Zeit verlohren scheint / durch Göttliche Gnade allgemach näher herbeybringen / ob auch noch die endlich möchten gewonnen werden." 3 1 8 Was er den Seelsorgern ansinnt, ist das Prinzip der ecclesiola in ecclesiam, der Sammlung der Frommen. 3 1 9 V o n ihnen soll, auf dem Wege ihrer individuellen Erneuerung („... daß sie mehr und
318
Spener 1996, 100. Zur H e r k u n f t des ecclesiola- Konzeptes aus der puritanischen und reformiert-pietistischen Tradition vgl. Matthias 1993, 54f. Allerdings fällt das W o r t ecclesiola in den Pia Desideria noch nicht. Es läßt sich laut Wallmann bei Spener erst seit 1676 nachweisen (vgl. Wallmann 1986a, 260). Aber Wallmann konzediert, „daß so etwas wie eine ecclesiola in ecclesiam im Frankfurter Collegium pietatis schon längst existierte, ehe Spener den Begriff d a f ü r prägte" (ebd., 261) - und, so wäre zu ergänzen, er prägte den Begriff d a f ü r , nämlich in den Pia Desideria, bevor er diesem Begriff zu einem passenden Wort bzw. Ausdruck verhalf. Zum Begriff der ecclesiola in ecclesiam bei Spener vgl. Wallmann 1986c, 24-29; Bellardi 1994, v.a. 14ff. „Eine Freiwilligkeitsgemeinde im Sinne der communio sanctorum, das ist das letzte Ziel dessen, was Spener unter Ecclesiola versteht" (Bellardi 1994, 14). Markus Matthias meint die ecclesiola vom collegium grundsätzlich unterscheiden zu müssen: Sei dieses eine öffentliche oder wenigstens halb-öffentliche Organisationsform gewesen, die allen Mitgliedern der Kirchengemeinde gemäß 1. Kor 14 den Zutritt gewährte, so trage jene den C h a r a k t e r privater Zusammenkünfte. Die ecclesiola verlange im Unterschied zum collegium besondere religiöse Qualifikation und diene der Förderung der religiösen Freundschaft unter den einzelnen Christen. Das H e r z der f r e u n d schaftlichen Vergemeinschaftung sei die Beziehung des Pfarrers zum einzelnen, den er seiner Zuwendung eigens f ü r würdig befinde und mit anderen geeigneten Gesinnungsgenossen vertraut mache (vgl. Matthias 1993, 55). Allerdings treffen die von Matthias f ü r die ecclesiola reklamierten Eigenschaften auch f ü r Speners Konzept der collegia in den Pia Desideria zu: eigens nennt er dort besondere religiöse Zugangsqualifikationen - in diesem Sinne ist der Verweis auf 1. Kor 14 gemeint als Legitimationsgrundlage einer frömmigkeitsvirtuosen Kerngemeinde - und den brüderlichen Verkehr der Mitglieder als Ziel der Unternehmung. Seine später kritische Haltung gegenüber den collegia, auf die Matthias sich zur grundsätzlichen Unterscheidung von collegium und ecclesiola stützt, resultiert wohl nicht aus der Ablehnung ihres theologischen Konzeptes, sondern dem Scheitern seiner praktischen Realisierung. Vgl. dazu unten, 1.4.5. Collegium und ecclesiola verhalten sich wie Art- und Gattungsbegriff zueinander: das collegium ist eine - Form der ecclesiola. 319
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mehr mögen wachsen ...") zugleich die Erneuerung ihrer jeweiligen Gemeinden und schließlich der lutherischen Kirche im ganzen ausgehen. 320 Im Gegensatz zu dem Typus der top down - Reformstrategien, welche die Erneuerung im direkten Zugriff institutioneller Maßnahmen - etwa der Kirchenzucht - auf die Gläubigen suchen, setzt Spener die Erneuerung der Kirche primär an deren Basis an, bei den glaubensvirtuos hervortretenden Gemeindemitgliedern, deren Engagement bottom up Gemeinde und übergemeindliche Organisationsformen der christlichen Gemeinschaft erfassen und in diesen das wahre Christentum zur letztendlich uneingeschränkten Geltung bringen soll. Reformiert wird die Kirche nur von den Frommen selbst, die Pia Desideria stecken nicht mehr und nicht weniger als die strukturellen Rahmenbedingungen der ecclesiola in ecclesiam ab: erstens „das Wort GOttes reichlicher unter uns zu bringen",321 zweitens „die Auffrichtung und fleissige Übung deß Geistlichen Priesterthums", 322 drittens die Übung des Christentums „in der praxi"7'17', viertens eine irenische Haltung in Religionsstreitigkeiten, „ohne fleischliche und unziemliche affecten" 324 gegenüber dem Andersgläubigen und durch „Übung hertzlicher liebe" 32 seiner Person, fünftens die Besserung des Predigtamtes durch Reform des Theologiestudiums, die „das übliche unchristliche Academische leben" 326 abschafft, den Professoren „ein lebendiges muster" 327 seelsorgerlichen Handelns („allein Gottes Ehre und der anvertrauten heil" zu suchen) abverlangt und den Studenten die Aneignung der Theologie als eines „habitus practicus",iZS schließlich sechstens - nächst der Betonung des Wort Gottes als Predigtm/w/f - die Durchsetzung einer Predigtform, die auf den „innern oder neuen menschen"329 zielt und diesen weniger zu belehren als zu erbauen sich bemüht. Schaut man genauer auf die einzelnen Reformvorschläge, dann bestätigt sich der Eindruck, Spener gehe es damit nicht um Wiedergeburt, sondern um Erneuerung der Gläubigen. Wäre ihm zuvörderst an der
320 Die Sammlung der Frommen in innerkirchlichen Konventikeln müsse bewirken, so Speners anschauliches Bild, daß sie „nachmahl mit ihrem exempel ein treffliches fermentum seyn werden / den übrigen teig auch in einen jast zu bringen" (Ph.J. Spener, Theologische Bedencken, Bd. III, Nr. 130; zit.n. Bellardi 1994, 15). 321 Spener 1996, 192. 322 Ebd., 202. 323 Ebd., 208. 324 Ebd., 212. 325 Ebd., 214. 326 Ebd., 224. 327 Ebd. 328 Ebd., 226. 329 Ebd., 246.
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Wiedergeburtsthematik gelegen gewesen, so hätte der Leser erwarten dürfen, zumindest an den Stellen, wo er fordert, das Wort Gottes reichlicher unter die Gemeinde zu streuen, oder wo er den Predigten das Ziel vorgibt, den inneren Menschen zu stärken, ihn auch den Wiedergeburtsbegriff entwickeln zu sehen. Allein dies ist nicht der Fall. Das Wort „Wiedergeburt" fällt überhaupt nur dreimal in den Pia Desideria, und gerade dort nicht, wo sich entsprechende Ausführungen hätten zwanglos einfügen lassen. 330 Thematisch einschlägig ist allein die Formulierung vom neu gebärenden Glauben in dem bereits ausführlich behandelten Luther-Zitat - und eben dies steht ja in einem Zusammenhang, der das Deutungspotential der zitierten Passage für die Wiedergeburtsthematik nicht ausschöpft. Charakteristisch für Speners theologische Akzentsetzungen in den Pia Desideria ist der Schluß seiner Reformschrift, der in der Erstausgabe zu den Arndtschen Postillen überleitete. Es sei nicht genug, schreibt Spener da, „daß wir das Wort mit dem äusserlichen ohr hören", sondern wir müssen es „auch in das hertz dringen . . . lassen / daß wir daselbs den Heiligen Geist reden hören"; es sei nicht genug, „äusserlich das H. Abendmahl empfangen zu haben", sondern es müsse „auch unser innerlicher mensch durch solche selige Speise . . . wahrhafftig gemehret werden"; es sei nicht genug, „äusserlich mit dem munde zu beten", sondern „das rechte und vornehmste gebet [geschehe] in unserm innerlichen menschen", bleibe oft „wol gar in der Seele", woselbst es Gott finde und antreffe; und es sei auch nicht genug, „GOtt seinen Dienst in dem äusserlichen Tempel zu leisten", sondern es müsse „unser innerliche mensch den vornehmsten dienst GOtt in seinem eigenen Tempel... leisten". 331
330 Die besagten Stellen sind ebd., 114 (im Zusammenhang der Kritik des geistlichen Standes): „Was gilts / ob man nicht von vielen [Geistlichen - M.S.] / von denen man gern auß Christlicher liebe besser urtheilen wolte / endlich doch der gleichen finden werde / was solche selbs nicht sehen / wie tieff sie noch in der alten geburt stecken / und die rechte kennzeichen der widergeburt in nichts thätlich ' haben?"; 148 (im Zusammenhang einer gerafften Darstellung des geistlichen Lebens, wie es im Unterschied zur Glaubenspraxis der Christenheit sein sollte): „So weiß ich auch die Tauff und dero krafft nicht hoch gnug zu preisen / und glaube / daß sie das eigentliche bad der Wiedergeburt und erneuerung deß H. Geistes seye. Tit.3." - ein Zitat also, dazu eines, das ebenso von der Erneuerung spricht; 214 (im Zusammenhang des rechten christlichen Verhaltens in Religionsstreitigkeiten): Gegenüber Andersgläubigen sei „die Übung hertzlicher liebe" gefordert, „... daß wir sie vor unsere nechsten . . . ja auch auß recht der allgemeinen schöpffung und gegen alle sich ' erstreckenden Göttlichen Liebe (obschon nicht der Wiedergeburt) brüder erkennen ...". Außerdem begegnet das Adjektiv „wiedergeboren" einmal dort, wo Spener sich gegen Predigten aus niederen Motiven wendet: „Obwol Christus von etlichen umb haß und haders willen geprediget werde / von welchen wir also nicht vermuthen können / daß sie liebreiche wiedergebohrne kinder Gottes gewesen . . ( e b d . , 116). 331
Alle Zitate ebd., 248.
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Dies alles sind auch Topoi des mystischen Spiritualismus und nicht zuletzt Arndts. Die Raummetaphorik von „innen" und „außen" dient dem Verfasser des Wahren Christentums wiederholt dazu, die Wiedergeburt als den inneren Empfindungsreichtum der kontemplativen oder mystischen Einkehr in sich, des in stiller Innerlichkeit dem Gläubigen aufgehenden Gnadenlichtes eindringlich zu schildern. Nicht Spener. Man solle die Leute daran gewöhnen, so ließe sich die obige Zitatmontage in seinen eigenen Worten auf einen Punkt bringen, „erstlich an solchem innerlichen zu arbeiten / die Liebe GOttes und deß Nechsten bey sich durch gehörige mittel zu erwecken / und nachmahl auß solchem erst zu würcken". 332 . Nur wie „an solchem innerlichen" zu arbeiten sei, wie die Liebe Gottes zu erwecken sei, darüber schweigt Spener sich aus. Das zu vermitteln, muß die Predigt leisten, deren seelsorgerliche Funktion eben in diesem Sinne zu reformieren ist, aber - so wäre zu ergänzen - nicht Speners Reformentwurf. Der gibt nur vor, was das Ziel und wie die Form der Predigt sein soll, deren Inhalt dagegen steht im Belieben der jeweiligen Seelsorger, die Spener als erste Gesinnungsgenossen seiner ecclesiola mit der Reformschrift adressiert. Indessen nicht ganz in ihrem Belieben, denn wie so eine rechte Predigt aussehen mag, das enthält er ihnen ja nicht vor: „Ein herrliches Exempel dessen haben wir an gegenwärtiger deß Sei. Theuren und geistreichen Lehrers weiland Herrn Johann Arndten Postill."3ii Spener will die Arndtsche Postille „als Predigtmuster im strengen Sinne" benutzt wissen. 334 Darum auch deren Neuausgabe. So wenig Spener über die qualia des Wiedergeburtsgeschehens verrät, so innovativ denkt er die Voraussetzungen, welcher die individuelle und gemeindliche Erneuerung im einzelnen bedürfe. Denn deren Meßlatte liegt hoch. Seine Diagnose des bürgerlichen Standes kann die Schäbigkeit des Besitzdenkens und der geifernden Rechtshändel nur deshalb so drastisch ausmalen, weil das Brüderlichkeitsethos des Urchristentums ihren Hintergrund bildet. Eine andere Gemeinschaft der Güter sei ganz notwendig, „weil ich erkennen muß / ich habe nichts eigens / sondern es seye alles meines GOttes eigen / ich aber allein ein darüber bestellter haußhalter", 335 der folgerichtig nach dem Grundsatz christlicher Ökonomie: der - im aristotelischen Sprachgebrauch - austeilenden Gerechtigkeit zu haushalten und seinen belanglosen Besitz zur Vermeidung der „nothdurfft deß nechsten" dranzugeben habe. 336 Das urchristliche 332 333 334 335 336
Ebd., 246. Ebd., 248. Schmidt 1977b, 120. Spener 1996, 144. Ebd., 146.
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Sittlichkeitsideal des Güterkommunismus gründen die Reformvorschläge wiederum auf das brüderlichkeitsethische Liebesgebot 337 - eine keineswegs bescheidenere Forderung. Spener weiß auch, daß die Kirche dem einzelnen beistehen muß, um seinen inneren Schweinehund zu überwinden; mit Luthers Zitat aus der Römerbriefvorrede, der Gläubige sei „immer im Tun" der guten Werke, will er schließlich auf das Ziel seiner Erneuerung, seiner „Reise zur Vollkommenheit" 338 verweisen, nicht auf deren Wegzehrung. Daher mögen die strebsamen Christen daran gewöhnt werden, „nicht leicht eine gelegenheit auß der acht zu lassen / worinnen sie dem nechsten eine liebesthat erweisen könten / und doch in Verrichtung derselben allemahl das hertz fleissig zu forschen / ob auch dasselbe auß wahrer liebe gewürcket / oder andere absuchten dabey gehabt.. Λ 3 3 9 Die Gefahr der Uberforderung des einzelnen durch das Liebesgebot ist so charakteristisch für den Pietismus wie Speners daraus resultierende Forderung, die wahren, geheimen Antriebe der Nächstenliebe zu erforschen - ähnliche Formulierungen begegneten schon bei Nicolai und Arndt. Aber anders als Arndt, der die Selbsterforschung als eine Aufgabe sah, der sich der einzelne in einsamer Zwiesprache mit seinem Gewissen hinzugeben habe, empfiehlt Spener den Gläubigen die „vertraulichef] freundschafft" mit ihrem Beichtvater „oder auch einem andern verständigen erleuchteten Christen", um demselben immer Rechenschaft darüber zu geben, „wie sie leben / wo sie gelegenheit gehabt / die Christliche Liebe zu üben / wie sie sich derselben gebrauchet / oder sie verabsäumet. Umb allemahl von denselben rath und Unterricht zu haben / nachdem sie / woran es noch manglet / erforschet / wie sie die sache anzugehen haben: Mit der resolution, solchem rath allemahl zu folgen ...". 40 Die reflexive Selbstvergewisserung des Gläubigen hat bei Spener also einen dezidiert dialogischen Charakter. Die Predigt dient nicht in erster Linie der Vermittlung von Glaubenslehren, sondern - in der Sprache Kierkegaards - der indirekten Mitteilung des credendum; sie fingiert eine Situation der persönlichen Anrede, die den Adressaten in seinem individuellen Sosein betreffen soll. Und die Gemeinde lebt aus der Reziprozität lebensbezoge-
337 „Freylich bestehet eines glaubigen und durch den glauben seligen menschen gantzes leben und erfüllung der Göttlichen Gebotte in der Liebe. Deßwegen wann wir eine inbrünstige Liebe unter unsern Christen erstlich gegen einander / nachmal ' gegen alle menschen . . . erwecken / und in die Übung bringen können / so ist fast alles was wir verlangen außgerichtet" (ebd., 208). 338 Philipp Jakob Spener, Die Evangelische Lebens = Pflichten, Bd. II, Frankfurt a. M. 1962, 496; zit.n. Wallmann 1977, 26. 339 Spener 1996, 210. 340 Spener 1996, 210.
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ner Bibelauslegung; das Verständnis des Wort Gottes ist durch das des Anderen dialogisch vermittelt. Deshalb läuft der erste Reformvorschlag, „das Wort GOttes reichlicher unter uns zu bringen", auf „die alte Apostolische art der Kirchen Versammlungen" hinaus, „wo nicht einer allein aufftrette zu lehren . . . sondern auch andere . . . mit darzu reden / und ihre gottselige gedancken über die vorgelegte Materien vortragen / die übrige aber darüber richten möchten", 341 wobei den Pfarrern - als primes inter pares die Leitung der Gesprächs- und Andachtskreise anbefohlen sei. Von nichts anderem ist hier die Rede als den collegia pietatis, deren erstes unter Mitwirkung von Spener fünf Jahre vor Abfassung der Pia Desideria in Frankfurt gegründet worden war. Der paritätische Verkehr zwischen dem Pfarrer und seinen Frommen in den collegia pietatis räumt dem einzelnen eine bisher ungekannte religiöse Autonomie ein. Denn er zählt nicht mehr nur als Adressat von Botschaften, sondern als Mitwirkender in der gemeinsamen Anstrengung um Aneignung des Wortes Gottes. Und noch seine Mißverständnisse und Anfechtungen sind von Gewicht, weil sie nicht als Verfehlung, sondern als Zeugnisse lebendigen und insofern auch für die anderen Gläubigen erbaulichen Glaubenslebens anerkannt werden. Diese Aufwertung der Laienperspektive auf das credendum führt fast zwangsläufig zu der „auffrichtung undfleissige[n] Übung deß Geistlichen Priesterthums", dem zweiten Reformvorschlag der Pia Desideria. Denn wie „die Prediger selbs ihre Zuhörer / und deroselben Schwachheit oder zunahm in der Lehr der Gottseligkeit kennen[lerneten]" und „sodann . . . die zuhörer eine stattliche gelegenheit [hätten] / ihren fleiß über das Göttliche Wort zu üben / und sich darzu auffzumuntern / ihre habende scrupel... demselben bescheidenlich vorzutragen / und dero entscheid anzuhören", 3 4 2 so sei auch jeder Laie gehalten, „in dem Wort deß Herrn emsig zu studiren / andere / absonderlich seine haußgenossen / nach der gnade die ihm gegeben ist zu lehren / zu straffen / zu ermahnen / zu bekehren / zu erbauen / ihr leben zu beobachten / vor alle zu beten / und vor ihre Seligkeit nach müglichkeit zu sorgen". 343 Das Wort Gottes reichlicher unter die Leute zu bringen, ist nicht nur der erste der sechs Reformvorschläge Speners, sondern zugleich - in 341 Ebd., 196. Spener bezieht sich hier auf den „Verfassungsentwurf" der Urgemeinde in 1 Kor 14, welcher das paritätische Miteinander der Gemeindemitglieder und ihre Partizipation an der gemeinsamen Frömmigkeitsübung gemäß ihren jeweiligen individuellen Vermögen vorsieht: „Was soll also geschehen, Brüder? Wenn ihr zusammenkommt, trägt jeder etwas b e i . . . Alles geschehe so, daß es aufbaut" (1 Kor 14,26; zit.n. Deissler/ Vögtle 1985). 342 Spener 1996, 198. 343 Ebd., 206.
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rechtgläubiger T r e u e z u der lutherischen Rechtfertigungslehre - sein w i c h t i g s t e r , alle a n d e r e n l e i t e n s i c h v o n i h m a b . 3 4 4 D i e E r n e u e r u n g d e s e i n z e l n e n u n d d e r K i r c h e ist g e r a d e z u i d e n t i s c h m i t d e r e x i s t e n t i e l l e n Aneignung des Wortes Gottes. Weil unter den angeführten Mitteln zur E r r e i c h u n g d i e s e s Z w e c k e s alles auf d i e G r ü n d u n g d e r collegia pietatis h i n a u s l ä u f t , ist es n i c h t a l l z u g e w a g t , in S p e n e r s A n s i n n e n , „ d i e alte A p o s t o l i s c h e art d e r K i r c h e n v e r s a m l u n g e n " in G e s t a l t d e r collegia w i e dereinzuführen, den Kern seines Reformentwurfes zu sehen.345 Es ents p r i c h t ja a u c h a m u n m i t t e l b a r s t e n d e m i m V o r w o r t d e r Pia Desideria anvisierten Ziel der S a m m l u n g d e r F r o m m e n und einer R e f o r m d e r Kirc h e aus d e m t ä t i g e n G e m e i n s c h a f t s l e b e n h e r a u s . 3 4 6 B e m ü h t s i c h d i e R e formschrift um deren Organisation, so sind die wiederholt e m p f o h l e n e n Werke Arndts - und die anderer reformatorischer Erbauungsschriftsteller - g l e i c h s a m d i e g e i s t l i c h e N a h r u n g , w e l c h e d i e M i t g l i e d e r d e r G e m e i n s c h a f t i n n e r l i c h n ä h r t u n d i m B e d ü r f n i s n a c h M i t t e i l u n g i h r e r relig i ö s e n Erfahrung zueinanderführt. Allerdings besteht Spener auf d e m biblischen Charakter der vorgeschlagenen Gesprächs- und Andachtsk r e i s e . D i e g e m e i n s a m e L e k t ü r e u n d B e s p r e c h u n g d e r Bibel - u n d n i c h t
344 So beruft Spener sich im Zusammenhang seiner Kritik des geistlichen Standes mit folgenden Worten auf Luther: „Man vergleiche unsers theuren Lutheri schrifften / wo derselbe mit erklärung göttlichen worts umbgehet / oder die Christliche glaubens-articul handelt . . . / hingegen einen grossen theil der heut heraußkommenden" (Spener 1996, 126). Der Leser werde dann finden, daß Luthers Theologie von „geistreichefr] krafft" und „höchster einfalt" bestimmt werde, dagegen die der Gegenwart von „fürwitzigen subtilitäten in dingen wo wir nicht über die schrifft weise seiyn sollten" (ebd.). Spener bemängelt eine Mißachtung von sola scriptum und sola fide in den Diskursen der Theologenzunft, und zwar aus der Perspektive der Schriften Luthers über das Wort Gottes. Seine eigene Forderung, das Wort Gottes reichlicher unter die Menschen zu bringen, wird vor diesem Hintergrund lesbar als Rückwendung zu Luther. „Ohne das Bewußtsein, durch Luther legitimiert zu sein, . . . wären die Pia Desideria kaum geschrieben worden" (Wallmann 1986a, 263). Zur Bedeutung Luthers für Spener vgl. Wallmann 1986, 254-264. Wallmann interpretiert Speners Theologie als lutherisch, insofern sie sich nicht nur dem Bekenntnis nach, sondern auch in der Sache in die Nachfolge Luthers stelle. Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt auch Aland (ders. 1992). Eine diametral entgegengesetzte Deutung des Verhältnisses zwischen Spener und Luther entwickelt - in der Konsequenz seiner Interpretation Speners als eines Wiedergeburtstheologen - Martin Schmidt (ders. 1984a). Zu dieser Kontroverse vgl. unten, 1.4.4. 345 Diese Auffassung vertritt bereits Werner Bellardi in seiner Dissertation aus dem Jahr 1930: „Man kann mit Recht sagen, daß die collegia pietatis, die weithin als das Schibboleth des Pietismus überhaupt angesehen wurden, das Herzstück des Spenerschen Pietismus darstellen: in ihnen schließt sich der ganze Gehalt seines Reformprogramms zusammen" (Bellardi 1994, 1). 346 Vgl. Spener 1996, 100. „So müssen diese Collegia pietatis ein konkretes Programm dessen sein, was Spener in PD 8, 25-36 grundsätzlich sagt" (Chi 1997, 78; die Literaturangabe PD 8, 25-36 bezieht sich auf die genannte Textstelle in der Ausgabe von Kurt Aland aus dem Jahr 1967.
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etwa anderer Bücher - sei Sinn und Zweck solcher Gruppenbildungen. 347 Die Frömmigkeit muß sich also im Medium der biblischen Sprache und Aussagen artikulieren können - diese Vorgabe scheint auf den ersten Blick spiritualistische Ausschweifungen der Teilnehmer in ihr Seelenleben und ihre Befindlichkeiten zu zügeln. Aber andererseits sollen die Konventikel ja keine theologische Hermeneutik treiben; die Frommen sind aufgefordert, das Verständnis des Textes im Lichte ihrer jeweils individuellen Aneignung und Aneigbarkeit zu erschließen. Das von den Texten evozierte bzw. zu ihnen hinführende religiöse Empfinden, unter der erbaulichen Führung welcher Literatur auch immer es daheim stehen mag, kann also, soll das Ziel der collegia nicht verfehlt werden, gar nicht aus den gemeinsamen Besprechungen ausgeschlossen werden, sondern muß es umgekehrt sogar befördern. 348 Wohl auch in diesem Sinne ist Speners Verweis auf die urchristlichen Versammlungen nach 1. Kor 14 zu verstehen, „wo nicht einer allein aufftrette zu lehren . . . sondern auch andere", und zwar eben solche, „welche mit gaben und erkantnuß begnadet sind .. .". 349 Spener bezieht sich nicht allein auf die paritätische Form der urchristlichen Versammlungen, sondern ausdrücklich auch auf die Charismen der Gemeindemitglieder, deren Rangfolge Paulus in seinem Brief an die Korinther festlegt; mit anderen Worten: er nimmt religiöse Erfahrungsmodi zur Vorlage für den Geist der Gemeinschaft im collegium, die das Wortstudium transzendieren: Paulus spricht von Offenbarungen und Zungenrede. Der konzeptuelle Entwurf der Reformschrift, so viel ist demnach klar, verschließt Frömmigkeitsströmungen mystisch-spiritualistischer Provenienz keineswegs ihren Einzug in das kirchliche Leben, und zwar gerade deshalb nicht, weil Spener sich der breiten Ausführung der Wiedergeburtsthematik enthält und stattdessen das Reformwerk ganz auf die Erneuerung des Gläubigen und der glaubensvirtuosen Kerngemeinde abstellt. Dadurch schafft er Spielraum für wiedergeburtszentrierte Erbauungsliteratur auch heterodoxer Herkunft und Couleur, sich im Rahmen der Kirche zu entfalten, und gibt zugleich die Richtung vor, in der sie das kann. Indem die Pia Desideria die strukturellen Bedingungen der ecclesiola formulieren, umreißen sie den Rahmen einer kirchlichen Öffentlichkeit, welche die private Herzensbildung des einzelnen sowohl befördert wie begrenzt: durch ein Forum der intersubjektiven Artikulation und Kontrolle privater Erfahrungen des Frommen mit seinem Gott. Die reformierte kirchliche Institution soll die Herzensbildung des ein347
Spener 1996, 198. U n d in der T a t wurde es das - jedenfalls in dem von Spener geleiteten pietatis in Frankfurt - auch nicht. Vgl. d a z u den folgenden Abschnitt. 349 Spener 1996, 196 (Hervorhebung v. mir - M.S.). 348
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zelnen sowohl ermutigen - nicht anders ist die Forderung zu verstehen, die rechtverstandene Predigt müsse an den inneren Menschen appellieren - und sie fördern, ohne sie durch die theologische Lehre unnötig zu reglementieren, als auch sicherstellen, d a ß die Herzensbildung sich innergemeindlich und erneuerungsbezogen entfalte. Spener begreift sein Verhältnis zu Arndt offenbar als arbeitsteilig: während dieser für die wiedergeburtsorientierte Herzensbildung der schönen Seele zuständig ist, so er selbst, jedenfalls in seiner Funktion als Reformator der lutherischen Kirche, f ü r die Erneuerung der bereits Wiedergeborenen. G a n z am Schluß der Pia Oesideria, in seinen Bemerkungen zu der Neuausgabe der Arndtschen Postille, hätte er immerhin Gelegenheit gehabt, deren Frömmigkeit kritisch zu kommentieren und zwischen - im lutherisch-kirchlichen Sinne - Bewahrens- wie Verurteilenswertem zu unterscheiden. Aber dort stellt er sich eindeutig in die Nachfolge Arndts, wenn er den Leser ermahnt, „wo er je zuweilen in diesem und andern deß theuren Mannes Wercken einiges von Redarten oder Lehren finden solte / welche dem ersten ansehen nach ihm frembd vorkommen möchten / er wolle sich in dem urtheil nicht übereilen / sondern dem rechten verstand derselben mit hertzlichem Gebeth reifflich nachsinnen: Da Ich nicht zweiffeie / er werde selbs finden / daß alles der H . Schrifft und der darinnen uns vorgeschriebenen Lehr-art allerdings gemäß / von aller falschen lehr entfernet: hingegen zu rechtschaffener erbauung deß wahren / nicht in eitelem rühm der nur in den Lehrsätzen bestehenden orthodoxiae, sondern mit lebendiger erkantnüß erfülleten Christenthums / und wohin dasselbe abzwecket / deß innern Menschen / gerichtet seye?" 350 Weder verschließen sich Speners Reformvorschläge dem Arndtschen Frömmigkeitstypus, noch stellen sie sich in ihren Dienst: sie ermöglichen ihm seine innerkirchliche Entfaltung. Diese wird allerdings begünstigt durch das psychologische Passungsverhältnis zwischen den Geboten der individuellen widergeburtsbezogenen Herzensbildung (Arndt) und der kollektiven erneuerungsbezogenen Frömmigkeitsübung (Arndt und
350 Ebd., 254. Ein Jahr vor Erscheinen der Pia Desideria hatte Spener bereits eine Neuausgabe des Wahren Christentums herausgebracht, die sich von den bisherigen Ausgaben dadurch unterschied, daß er sie mit einer Vielzahl von Anmerkungen versah, welche die Rechtgläubigkeit Arndts verteidigen sollte. „Teils handelt es sich um Exzerpte aus Heinrich Varenius Rettung der vier Bücher vom wahren Christentum, vorwiegend Zitate aus Schriften Luthers, mit denen Oslanders Vorwurf, Arndts Wahres Christentum sei einer nichtlutherischen Mystik verdächtig und eher wahres Taulertum zu nennen, entkräftet wird durch die lobenden Äußerungen Luthers über Tauler sowie durch der Arndtschen Redeweise ähnlich klingende, vom inneren Menschen und vom Wirken des Geistes in der Seele redende Lutherworte" (Wallmann 1986a, 247). Eine ausführliche Analyse der Spenerschen Anmerkungen gibt Martin Brecht (Brecht 1979).
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Spener). Sowohl Arndt wie Spener drängen den Gläubigen zur Selbstprüfung, Selbstermutigung und Selbstverwirklichung seines besseren Ich. Die ihm von Arndt angesonnene Haltung, seine innersten Seelenregungen bußwillig zu erforschen, eine dem wahren Glauben gemäße Gewißheit, den rechten Weg zu gehen - und das beispielhaft für andere zu tun - sowie schließlich immer und immer mehr an der Verbesserung seines Gnadenstandes zu arbeiten: diese Haltung des einzelnen vermag in einer im Sinne Speners reformierten Kirche Bestätigung und Anerkennung durch die Konventikelgemeinschaft der Frommen zu finden, der Glaubens- und Seligkeitsvirtuosen, die einander unablässig Rechenschaft über ihre innersten Regungen ablegen, sich in Erwartung einer ihren persönlichen und allerpersönlichsten Mitteilungen stets geneigten Zuhörerschaft endlos ergießen über die Wirkung der erbaulichen Lektüre im stillen Kämmerlein daheim und der empfindsam genossenen Predigt in der Kirche; die ihre vom Heiligen Geist umflorte Gewißheit, zu der einzigen wahren Gefolgschaft Christi zu gehören, fleissig und gewissenhaft aneinander erproben, indem sie den jeweils anderen auf der Grundlage der eigenen Erfahrung mit Herzenswärme ermahnen, zurechtweisen und ihn ob seiner wenn auch noch so kleinen Fortschritte barmherzig loben; und die in dieser samtigen Atmosphäre tief empfundener Gemeinschaft sicher sein dürfen, ihr Innerstes stets zu bewähren im sozialen Raum gemeinsamer Praxis - mag diese auf Außenstehende auch als ein psychosoziales Moratorium wirken, so hermetisch wie freimaurerische Geheimbünde, zu denen Zutritt nur demjenigen gewährt wird, der ihres erlauchten Humanismus für würdig befunden wurde.
4.4. Die Kontroverse um Rechtfertigung und Wiedergeburt bei Spener Das psychologische Passungsverhältnis zwischen wiedergeburtsbezogener Herzensbildung und erneuerungsbezogener praxis pietatis ist vielleicht auch der Schlüssel zur Vermittlung zwischen den beiden ebenso prominenten wie einander schroff entgegengesetzten Interpretationen, welche die neuere Spener-Forschung in den letzten Jahrzehnten bestimmt haben: denjenigen Martin Schmidts und Johannes Wallmanns. Schmidt war 1951 mit zwei ausführlichen und materialreichen Aufsätzen hervorgetreten, in denen er den Anspruch erhob, eine theologische Antwort auf die unbestrittene kirchengeschichtliche Bedeutung Speners zu finden. 351 Dessen Wirkmächtigkeit als Begründer des lutherisch351
Vgl. Schmidt 1977a, 1977b. Schmidts Forschungsfrage ging dahin, „ob Spener eine theologische Konzeption besaß, die ihn zu seiner kirchengeschichtlichen Rolle befähigte, selbst wenn ihre Gestalt nicht zu abgeschlossener Reife oder begrifflicher Klarheit ge-
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kirchlichen Pietismus und schließlich die des Pietismus selbst beruhe, so Schmidt, auf einer grundsätzlichen Umakzentuierung der reformatorischen Theologie: Luthers Rechtfertigungslehre trete hinter einer Wiedergeburtslehre spiritualistischer Provenienz zurück. 352 Damit nahm Schmidt gegen die These Emmanuel Hirschs in dessen Geschichte der neuern evangelischen Theologie Stellung, Speners Bemühungen gingen „nicht auf theologische Neugestaltung von Grund auf, sondern auf Läuterung, Vertiefung und Vereinfachung der überkommenen Theologie unter Wahrung der empfangenen bekenntnis- und lehrmäßigen Grundlagen" 353 - bis dahin die weit verbreitete Einschätzung des Pietismus als einer zwar praktisch folgenreichen, theologisch aber nicht sonderlich innovativen Bewegung. Spener suche, so Hirsch weiter, „die Aussagen über den Glauben, der die Rechtfertigung empfängt, so zu gestalten, daß jeglicher Mißbrauch der Rechtfertigungslehre durch im toten Scheinglauben verharrende lutherische Kirchenchristen unmöglich wird". 354 Tatsächlich führt Spener in seinen Pia Desideria diesen Mißbrauch ausdrücklich als dringliches Problem der anvisierten Kirchenreform an 355 - und folgt damit im übrigen nur der realistischen Einschätzung, die schon Luther von der Verwurzelung der Reformation im Laienchristentum gegeben hatte. 356 Schmidt konnte seine Deutung gleichwohl zunächst durchsetzen. In den siebziger Jahren entfachte dann Johannes Wallmann den alten Streit aufs Neue - mittlerweile waren die Aufsätze Schmidts in einer Neuauflage erschienen. Dieser sei zu weit
langt und ihre Absorptionskraft gegenüber den traditionellen Elementen seines Denkens unvollkommen geblieben ist" ( Schmidt 1977a, 10). 352 Unter Bezugnahme auf das Gesamtwerk Speners - soweit zugänglich - , vor allem aber auf dessen Predigtsammlung Der hochwichtige Articul von der Wiedergeburt, von der in dieser Frage naheliegenderweise Aufschluß zu erwarten war, erarbeitete Schmidt die These, bei Spener werde „die Rechtfertigung als Moment in die alles umfassende Wiedergeburt aufgenommen. Nur aus Rücksicht auf die dogmatische Uberlieferung wird sie noch besonders bewertet" (ebd., 14, Anm. 13). 353 Hirsch 1977, 40. 354 Ebd. 355 j Wiederumb du hörest göttliches Wort.' Ist recht gethan: Aber es ist nicht gnug / daß dein ohr es höret; lassest du solches auch innerlich in dein hertz dringen / und solche himmlische speise daselbst verdauet werden / damit du safft und krafft davon empfangest / oder gehet es zu einem ohr ein zum andern auß: Ist jenes / so gilt dirs freylich / was der HErr sagt: Luc. 11/28. Selig sind die GOttes Wort hören und bewahren·. Ist aber dieses letztere / so mag das werck / daß du es gehöret hast / dich nicht selig machen / wol aber deine verdamnuß vergrössern / daß du die empfangene gnade nicht besser angewendet. Nun aber / ach wie viel sind der jenigen / welche selbs nicht einmahl sagen dörffen / daß sie GOttes Wort bey sich lassen frucht bringen / und dannoch meynen / daß sie ihrer meynung nach GOTT solchen gehorsam und dienst geleistet / solle sie selig machen" (Spener 1996, 156). 356 Vgl. oben, 1.1.5.
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gegangen, so nun Wallmann, als er Speners Bemühung um Verlebendigung der Rechtfertigungslehre im Sinne ihrer stillschweigenden Substituierung durch eine spiritualistisch angehauchte Wiedergeburtslehre interpretiert habe; und eben nur um eine Interpretation, um keinen Nachweis handele es sich hier, 357 denn quellenmäßig sei die vermeintlich zentrale Stellung der Wiedergeburt gar nicht zu belegen. 358 Schmidts These setzt Wallmann die Beschränkung auf den ausdrücklichen Aussagegehalt der verfügbaren Texte gegenüber. In seinen eigenen Quellenstudien kommt er zu dem Ergebnis, daß es sich bei Speners Wiedergeburtslehre „um eine die melanchtonisch geprägte Rechtfertigungslehre des orthodoxen Luthertums festhaltende, aber sie nach der Seite des Effektiven ergänzende Neuformulierung der reformatorischen Soteriologie handelt.. Λ 3 5 9 Wallmanns Kritik an Schmidt, die These von der Wiedergeburt als Hauptanliegen Speners sei von den Quellen her nicht gedeckt, ist hinsichtlich der Pia Desisderia - wie auch immer es damit im Gesamtwerk steht - allerdings nur relativ berechtigt. Nämlich relativ auf das Erkenntnisinteresse des Lesers. Theologisch läßt sich tatsächlich an keiner Stelle der Schrift die Behauptung plausibilisieren, Speners Konzeption beruhe auf der zentralen Stellung der Wiedergeburtsthematik. Denn thematisch ist die Wiedergeburt hier in der Tat nirgends oder nur beiläufig, dagegen - ganz im Sinne Wallmanns - wiederholt und ausführlich die Erneuerung des Wiedergeborenen. Hätten die Pia Desideria eine Wiedergeburtstheologie im Rücken, dann müßte aber doch wohl vor allem von der soteriologischen Bedeutung der Wiedergeburt und erst nachgeordnet von der Erneuerung gehandelt werden, da Spener beides, wie Wallmann überzeugend gezeigt hat, durchaus auseinanderhält. 360 „Die Übung der Gottseligkeit {praxis pietatis), das wahre Christentum, der Prozeß des Wachstums im Glauben und im Guten, das Streben nach christlicher Vollkommenheit - dies alles, verwurzelt in der Wiedergeburt, aber zur Lehre von der Erneuerung gehörend, ist das Hauptanliegen Speners, wenn man ihn theologisch interpretiert...", 3 6 1 wenn man ihn theologisch interpretiert.
357
Wallmann 1977, 10, Anm.13. Vgl. ebd., 31. 359 Ebd. Ähnlich Martin Greschat: „Spener ist es nicht um die Auseinanderreißung der streng forensischen Rechtfertigungslehre und der das Leben prägenden Heiligung zu tun, sondern um den mit allem Nachdruck vertretenen Satz, daß man das eine nicht ohne das andere haben kann, keinen rechtfertigenden Glauben also ohne ein entsprechendes Leben mit den entsprechenden Werken" (Greschat 1971, 194). 360 Vgl. ebd., 21-27. 361 Ebd., 29. 358
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Psychologisch leuchtet Schmidts Interpretation dagegen sehr wohl ein. Die Relevanz der Erneuerung leugnet sie ja keineswegs: „Es geht um die Erneuerung des ganzen Menschen", heißt es in dem einschlägigem Aufsatz über die Pia Desideria ausdrücklich - soweit ist Schmidt also mit Wallmann d'accord. Wenn er fortfährt: „Auf die Wiedergeburt des Einzelnen läuft alles hinaus", 362 dann ist das zwar theologisch - und mithin an Schmidts eigenen Ansprüchen gemessen - im Sinne Wallmanns anfechtbar, psychologisch plausibel ist es allemal. Wie sonst, wenn nicht unter Rückbesinnung auf das eigene Wiedergeburtserleben, soll der zur unablässigen Selbstprüfung aufgerufene Gläubige sein Tun als rechtschaffene Erneuerung identifizieren können? Was unterscheidet sie von der allenthalben drohenden teuflischen Selbsttäuschung? 363 „Der Christ ist der exzentrischen Begründung und Ortung seiner selbst im extra nos überdrüssig geworden. Es soll endlich wirklich etwas geschehen, wirklich, d.h. im eigenen Welthorizont. Die Rechtfertigung ist lange genug verkündigt worden, man will endlich ihre Wirkungen sehen!", so paraphrasiert Jörg Baur den impetus dessen, was man im Sinne Wallmanns als pietistische Erneuerungstheologie bezeichnen kann. „Der Glaube", fährt er fort, „verlagert sich vom In-Sein in Christus auf die ihm gewiß zugehörigen Elemente der Selbsterfahrung, die als Sein Christi in uns hypostasiert werden." 364 Das ist die strukturell naheliegende psychologische Konsequenz aus der geforderten Erneuerung, soll diese sich nicht in der Heuchelei des inkriminierten Gewohnheitschristentums erschöpfen. Mögen Speners Reformvorschläge auch im Einklang mit der Rechtfertigungs/eAre sein, ihre Umsetzung prädisponierte vermutlich zu keinem Rechtfertigungsg/d«£e», denn der tatsächlich gelebte Glaube ist in erster Linie kein theologischer sondern ein religiöser und als solcher ein psychischer Sachverhalt. Rückt nun die Erneuerung als der positive Ausdruck des Wiedergeburtsgeschehens ins Zentrum der theologischen Aufmerksamkeit, „dann verliert die strenge forensische Rechtfertigungslehre mehr und mehr an Gewicht, bis sie sich schließlich in das Erlebnis oder den Synergismus hinein aufzulösen droht". 3 6 5 Das ist eine psychologische, aber keine theologische und als solche keine begrifflich notwendige, sondern empirisch wahrscheinliche Konsequenz! Aufschluß in dieser Sache kann daher auch nur die an Speners Theologie orientierte Frömmigkeitspraxis selbst geben.
362
Schmidt 1977b, 120. Vgl. zur Sündhaftigkeit und Unvollkommenheit der Wiedergeborenen Rüttgardt 1978, 51-55. 364 Baur 1968, 109; vgl. ebd., 95-110. 365 Greschat 1971, 198. Vgl. kontrastiv dazu den Stellenwert des Erlebens im Rechtfertigungsverständnis Luthers: Holl 1928b, besonders 129-154. 363
Philipp J a k o b Speners „Pia Desideria" und die collegia pietatis
4.5. Das Frankfurter collegium
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pietatis
Wie also entsprachen den Reformvorschlägen der Pia Desideria die regen Umtriebe der Frankfurter Frömmigkeitsbeflissenen, die sich rasch nach Gründung des collegium pietatis unter der Leitung Speners in seinem Kreis und Umkreis entfalteten? 366 Nahmen diese Umtriebe das innerlichkeitsakzentuierte Frömmigkeitsgut des Frühpietismus auf bzw. brachten sie es innerkirchlich zur Geltung? Spener selbst hat über die ersten sieben Jahre des Frankfurter collegium pietatis ausführlich Mitteilung gegeben, nämlich in seinem Sendschreiben an einen christeifrigen ausländischen Theologum aus dem Jahr 1677. Bezeichnenderweise ist dieser öffentliche Brief an einen ungenannt bleibenden Adressaten 3 6 7 der Verteidigung seiner Lehre gegen den Vorwurf der Heterodoxie und des Collegiums gegen seinen schlechten Ruf gewidmet. Denn über die Grenzen Frankfurts hinaus wurde kolportiert, Speners Seelsorge und der fromme Kreis unter seinen Fittichen seien die Brutstätte des Separatismus, 3 6 8 antilutherischer Werkheiligkeit 3 6 9 und sogar des Sittenverfalls. 3 7 0 Alles Verleumdungen und Lästereien, so Spener, die „durch ei366 Vgl. zum folgenden Wallmann 1986a, 264-324; ders. 1990, 41-45, 52-57; Brecht 1993b, 295-299, 316ä-352; Bellardi 1994; Sträter 1995, 156-166. 367 Es handelt sich um den Rigaer J o h a n n Fischer. Zu den Gründen f ü r diese Diskretion und dem Namen des Empfängers vgl. Beyreuther 1979, 79 ff. 368 Die E n t k r ä f t u n g des Separatismusverdachtes ist m.E. das Hauptanliegen des Sendschreibens wie schon Speners Anerbieten, dem entstehenden collegium vorzusitzen und ihm seine „Studier-stube und h a u ß " zur Verfügung zu stellen (Spener 1979ff, Bd. I, 778); die institutionelle Anbindung der bezweckten Frömmigkeitsübungen ist mithin nicht theologisch sondern kirchenpolitisch begründet: als Präventivmaßnahme zur Vermeidung des Separatismusverdachtes. Wiederholt kommt Spener auf diesbezügliche Befürchtungen sowohl anläßlich des collegium pietatis wie anderer daraus entstandener Konventikel zu sprechen: vgl. ebd., 799, 806, 810, 814, 819. 369 „Dieses aber bin ich nicht in abrede / d a ß ich unterschiedlich mahl vernehmen müssen / daß wegen des Haupt-articuls von unser Rechtfertigung meine Lehr-art gewissen Personden nicht gefallen / noch vor richtig geachtet werden wollen; D a h e r auch selbst in dieser Stadt von leuten die reden gefalle sind / daß ich und / sonderlich einige / meine geliebte H e r r n Collegen eine neue lehre auffbrächten / den leuten den trost aus Christi verdienst und dem glauben behehmen wolten / hingegen auff die wercke zustarck trieben / damit aber allgemach den Papisten wieder näher t r e t t e n . . . " (Spener 1979ff, Bd. I, 744). Die Verdächtigung „papistischer" Werkheiligkeit mußte Spener parieren, nachdem er 1669 in einer „Predigt von der falschen pharisäischen Gerechtigkeit" die Gewohnheitschristen seiner Gemeinde „ihrer fleischlichen Sicherheit" und der „vermeynte[n] ruhe ihres gewissens" (ebd., 745) überführt und sie des eingebildeten Glaubens und unbußfertigen Lebens geziehen hatte (ebd., 746). Das muß die stolzen Frankfurter Patrizier düpiert haben. 370 Es war gemunkelt worden - Spener schreibt es der verderblichen Wirkung des Teufels zu - , „daß Weiber und M ä n n e r . . . untereinander redeten / und die grosseste con-
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ne geringe Veranlassung entweder aus Bosheit deß ersten uhrhebers / oder zuweilen auß Unbedachtsamkeit und Unwissenheit" entstanden 371 und „sonderlich durch gelegenheit der Messen / mündlich und schrifftlich allerhand fremden hinderbracht / und an andere orte außgebreitet" worden seien. 372 Spener nutzt „eine gezielte Anfrage" 373 des im Titel des Sendschreibens genannten „ausländischen Theologum", um sich grundsätzlich über Herkunft und Zweck des collegium an die Öffentlichkeit zu wenden. Demnach hatte es mit ihm folgendes Bewenden: „Etliche Gottseelige freunde" sprachen im August 1670 mit der Klage bei Spener vor, „wie alle conversation und gespräch in dem gemeinen leben so gar verderbet seye / daß man fast selten mit ohnverletztem gewissen / wo man dasselbe undersuchet / auß einer Gesellschafft komen könnte". 374 Von nichts anderem sei allerorten die Rede als den belanglosen Dingen dieser Welt, es werde zur allgemeinen Erheiterung über den Nebenmenschen gelästert und in unziemlichen Scherzen Kurzweil und Zeitvertreib gesucht, nicht einmal die Sorge, sich zu versündigen, trübe das weltliche Treiben; von allem, das der Erbauung dienlich sein könnte, werde dagegen geschwiegen, ja schlimmer noch: man heiße diejenigen, die einmal von solchen Dingen zu sprechen anhöben, davon abzulassen und versuche sogleich, das Gespräch in „beliebigere materi zu ziehen / und also gleichsam als mit einem speichel das gute füncklein / damit es nichts fassen möchte / außzuleschen". 375 Darum, so die Klage der Frommen gegenüber dem Senior des Predigerministeriums, würde sie der gesellige Umgang in der Stadt verdrießen und sie wünschten sich stattdessen die Gelegenheit, „daß zuweilen Gottseelige gemüther möchten zusammen kommen / und von dem einigen ihnen allen n o t wendigen / so sie auch deswegen allem übrigen vorzögen / in einfalt
fusion bey uns vorgehe", ja daß einige der Getreuen Speners eigene Konventikel gegründet hätten, in denen es noch dreister zugehe: „Es wären weiber und mägde / welche in ihren absonderlichen versamlungen wol einige stunden nacheinander predigten . . . Dahero eine gefährliche Zerrüttung zu sorgen / ja schon angerichtet seye / in dem gemein wesen / in der kirchen / in dem hauswesen / in dem weiber von dem gehorsam ihrer manner und sorge der haushaltng / gesinde vo dem dienst ihrer herrschafften abgezogen würden ..." (ebd., 809f). 371 Ebd., 735 f. Zu den geringen Veranlassungen vgl. Speners Schilderung eines Vorfalls 820 f.: Das zufällige gemeinsame Heraustreten einer Gruppe von Menschen aus einem Hauseingang schien bei Nachbarn offenbar schon den Verdacht zu erregen, es würde ein collegium abgehalten - ein bezeichnendes Beispiel dafür, in welchem Maße die von Spener ermutigten Frömmigkeitsbestrebungen die öffentliche Meinung in der Großstadt beschäftigte. 372 Ebd., 737. 373 Beyreuther 1979, 80. 374 Spener 1979ff, Bd. I, 776. 375 Ebd., 777.
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und liebe sich besprächen: auff daß sie in solchen conversationen, was sie anderstwo bey andern vergeblich suchten / unter sich finden möchten". 376 Den „gottseeligen Freunden", die da bei Spener vorstellig werden, schwebt offenbar formal eine Sozietät vor, wie sie in anderen Zusammenhängen und mit anderen Zielsetzungen zu der Zeit überall entstehen, inhaltlich ein Ort der inneren Emigration aus dem babylonischen Sündenpfuhl in die Seelengemeinschaft gemeinsamer Frömmigkeitsübungen. Spener, der bereits im Vorjahr von der Kanzel herab zur Feiertagsheiligung die Bildung frommer Gesprächskreise angeregt hatte, 377 hört sich das alles an, lobt und stärkt das Engagement; damit aber der Verdacht separatistischer Umtriebe vermieden werde, erbietet er sich, dem geplanten Gesprächskreise vorzusitzen und ihm seine „Studier= stube und hauß" für die regelmäßigen Treffen zur Verfügung zu stellen. Von Beginn an drängt er auf Verkirchlichung der privaten Frömmigkeitsbestrebungen. Was sich dann im Pfarrhaus etabliert, ist kein loser Kreis, der sich immer einmal wieder trifft, sondern eine Gruppe, die wöchentlich zweimal zusammenkommt, um die Sonntagspredigt intensiv durchzuarbeiten und auf das eigene Leben anzuwenden, sich gemeinsam Erbauungsliteratur vorzunehmen und über deren Lektüre auszutauschen. Von den Initiatoren ursprünglich vielleicht als religiöse Sozietät geplant, gewinnt das collegium endgültig ab 1674 die Züge der ecclesiola, als die existentiell anzueignende Bibellektüre ins Zentrum der gemeinschaftlichen Übungen tritt und diese dann von den 1675 erscheinenden Pia Desideria in die Nachfolge der urchristlichen Versammlungen nach 1. Kor 14 gestellt werden. Das collegium wird nun „als ein kirchliches Verfassungsinstitut verstanden", 378 es repräsentiert die Kerngemeinde, keinen privaten Gesprächskreis mehr. Die Zusammenkünfte im collegium beschränken sich - wie schon der Reformvorschlag in den Pia Desideria erwarten ließ - kaum auf das Textstudium der Bibel, sondern regen die Mitglieder zur Aussprache über ihr geistliches Befinden und Empfinden an, in offensichtlichem Rückbezug auf den Appell des Paulus im Korintherbrief an die urchristlichen Gemeindemitglieder, ihre charismatischen „gaben und erkantnuß" 3 7 9 als Bestandteil gemeinschaftlicher Erbauung in das Miteinander hineinzutragen. Das belegt eine Veröffentlichung Speners unter dem Titel Natur und Gnade aus dem Jahr 1687, die aus Aufzeichnungen des Frankfurter Theologiestudenten Nikolaus Beckmann im collegium
376 377 378 379
Ebd., 778. Vgl. Wallmann 1986a, 280 f. Ebd., 296. Spener 1996, 196.
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hervorgegangen ist. 380 Demnach hatte einer der Teilnehmer an den gemeinsamen Erbauungsstunden einmal die Frage aufgeworfen, „wie man zu der prüfung des gewissens die wercke der natur und der gnade unterscheiden / und also auch einige kennzeichen seiner Wiedergeburt in dero früchten finden könne". Man habe diese Materie „wegen ihrer Wichtigkeit mit fleiß untersucht zu werden / würdig erkant" und von ihr über mehrere Zusammenkünfte hin „stückweise gehandlet", wobei jeder, „was der Herr demselben zu erkennen gegeben / öffentlich beygetragen" habe. 381 Der fromme Austausch über die aufgeworfene Frage wird der Ausführlichkeit nicht ermangelt haben, jedenfalls umfaßt die Bearbeitung der von Beckmann gemachten Aufzeichnungen runde 300 Druckseiten. Speners Elaborat geht den feinsten Verästelungen unnachgiebiger Selbstprüfung nach, die allesamt der Vergewisserung dienen, welchen Gnadenstand die Wiedergeborenen jeweils schon oder noch nicht innehaben und aus ihren Werken ablesen können. Hat „der heilige Geist uns selbs . . . angetrieben", so daß ein gutes Werk, das wir getan haben, ohne zu wagen, es auch für wahrhaft gut zu halten, „durch die neuen kräfften / die er uns in der Wiedergeburt gegeben / verrichtet worden seye?" 382 Fraglich ist nicht bloß, ob das vermeintlich guten Gewissens Vollbrachte ein Werk der Gnade oder der Natur sei, sondern „1. ob die natur allein ein solches werck verrichtet / oder die gnade zugleich / und in derselben gewircket habe? 2. Ob die natur gleichsam das principium und die erste ursach des wercks gewesen / daß es also ihr zuzuschreiben / oder / ob die gnade solche erste Ursache seye / und den trieb darzu gegeben / hingegen sich nachmahl der natur kräfften gebrauchet habe". 3 3 Denn schließlich „finden sich auch bey denen wiedergebohrnen handlungen / die nicht eben als eigentliche wercke der gnaden angesehen werden können", „sondern auch gar sündliche wercke". 384
380
Vgl. Spener 1979ff, Bd. IV, 456. Ebd. 382 Ebd., 471. 383 Ebd., 477. 384 Ebd., 479. Schwer fällt die Bewertung von Gut und Böse bekanntlich in den Grauzonen. Einerseits kann es geschehen, „daß eine sache an sich selbs recht / gut / und von GOtt geboten ist / der mensch thut auch dieselbige aus gehorsam gegen Göttliches gebot / er hat aber einen irrthum bey einigen umständen der sache / welcher also Göttlichem willen und gebot engegen seyn kan; oder er thut etwas darinnen unbedachtsam / darinnen er auch von jener regel abschreitet: da ist aber alsdann dieses noch nicht ein gnugsames zeugniß / daß das gantze werck allein ein werck der natur seye / sondern es kan gar wohl ein werck aus der gnade seyn / dem aber ein aus der verderbniß herrührender fehler anklebet / welche beyderley gleichwohl zu unterscheiden sind" (ebd., 485f). Andererseits geschieht es auch wohl zuweilen, „daß jemand eine gewisse sache aus GOttes Wort vor unrecht gehalten / und aus redlicher begierde / GOtt mit willen nicht zu beleidigen / sich derselben eine weile enthalten hat. Er wird aber nachmahl überredet / es seye solches 381
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Es ist ganz deutlich: Die von Beckmann mitgeschriebenen und dann von Spener überarbeiteten Erörterungen im collegium dienen der Erneuerung des Wiedergeborenen, aber die Erneuerung muß objektiv nachvollziehbar sein. Daraus ergibt sich das Problem, vermeintliche Werke der Erneuerung auch als solche identifizieren zu können: Der Wiedergeborene ist auf die Erforschung bestimmter wiedergeburtsgemäßer Erlebnis- und Erfahrungsqualitäten verwiesen, die, wenn sie ihn beim Tun der guten Werke begleiten, ihnen vorausgehen und sie rahmen, diese als solche der Erneuerung ausweisen. Wenn er „eine sonderliche krafft zu beten bey sich wahrnimmet / eine grosse freude des gewissens / eine wachsende heiligkeit / starcke Verachtung des irrdischen..." und dergleichen mehr, 3 8 5 dann ist die ambitiöse Werktätigkeit des Frommen sehr wahrscheinlich beflügelt von göttlicher Gnade. Und wenn wiederum die von der Gnade Gottes erquickte Seele „einen trieb bey sich fühlet / GOttes Wort gern zu hören / zu lesen / zu betrachten / davon zu reden / und seine Süßigkeit zu schmecken", 386 aber auch „hunger und durst nach mehrmaliger würdiger und seliger niessung des heiligen Abendmahls" 387 bei sich feststellt, dann geschieht das aus dem Quellgrund einer „inniglichefn] begierde . . . / mit GOtt immer mehr und mehr vereiniget zu werden" 388 und „in solcher Vereinigung seiner selbst zu gemessen". 389 Sie gipfelt in dem Begehren „unsrer seligen aufflösung / und dadurch erst erfolgender vollkommensten Vereinigung mit Gott". 3 9 0 Von solchen Textpassagen her fällt es nicht schwer, Martin Schmidts These, Speners Werk sei um den Wiedergeburtsgedanken zentriert, als zumindest psychologisch evident nachzuvollziehen. Nicht nur werden äußere Werke ursächlich auf einen empfindungsmäßig positivierten Gnadenstand zurückverfolgt, sondern wiederum die den Gnadenstand gleichsam anzeigenden Empfindungsqualitäten als solche erster Stufe auf affektive Zuständlichkeiten zweiter Stufe, die jene hervorbringen. Die in Natur und Gnade aufgezeichneten Erbauungsstunden im Frank-
eben nicht unrecht / sondern ein freyes mittelding / und könne mans deswegen wohl thun. D a ist zwar die sache müglich / daß man zuerst geirret / und sich unnötige scrupel gemachet habe / und daß / w o man es nachmahl recht haltet / dieses der Wahrheit gemäßer ist. Man hat aber in solchem fall sich sehr genau und vorsichtig in der furcht des HErrn zu prüfen / ob nciht etwa solche änderung der meynung von unserm fleisch herkomme . . . " (ebd., 490). 385 386 387 388 389 390
Ebd., Ebd., Ebd, Ebd., Ebd., Ebd.,
513. 577. 579. 577. 581. 583.
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furter collegium pietatis üben die Teilnehmer in eine spannungsvolle Synthese aus akribischer psychologischer Selbstprüfung und Steigerung religiöser Empfindungsfähigkeit ein, 391 die sich für den Arndtschen Frömmigkeitstypus als geradezu ideal anschlußfähig erweist, aber auch die ebenso bei Arndt wie bei Nicolai begegnende psychologische Aporie lebenspraktisch gelingender Vermittlung zwischen der Spontaneität religiösen Empfindens und der Reflexivität skeptischer Selbstprüfung mit sich bringt; letzte Selbstvergewisserung vermag die Erneuerung des Wiedergeborenen nur in den qualia der Wiedergeburtserfahrung selbst zu finden, in der mystischen Erfahrung der Vereinigung mit Gott, der seligen Selbstauflösung in reinster religiöser Sensibilität, wie sie Arndt wiederholt und ausführlich im Wahren Christentum sprachlich evoziert hat, und wie sie noch in den Werken der Erneuerung gleichsam nachschwingen muß. 392 Gewiß spricht Spener in den aus Natur und Gnade zitierten Passagen nur von der Begierde des Gläubigen nach Vereinigung mit seinem Gott, nicht von dieser selbst. Aber welchen Unterschied setzt diese Unterscheidung de facto in der Frömmigkeitspraxis? Wie weit ist der Weg vom Wollen zum Sein, zumal dann, wenn sich Konventikel bilden, die nicht unter der mäßigenden Führung eines kirchlichen Amtsträgers stehen? Spener wußte, warum er seinen inbrünstigen Glaubensbrüdern und -schwestern, denen von Dritten nachgesagt wurde, sie sähen alle ein wenig „bleich" aus, 393 bei ihren gemeinsamen Treffen im collegium vorsaß. Keineswegs aber kann sein Bestreben um Verkirchlichung der Frömmigkeitsbestrebungen ausschließlich als Präventivmaßnahme gegen drohenden Separatismus gedeutet werden. Im Sendschreiben betont er die ursprüngliche konstruktive Absicht des collegium pietatis, „daß also unter Christlichen gemüthern eine heilige und genauere freundschaft gestifftet würde / daß je einer deß andern Christenthumb / und wie weit er darinnen gekomen / erkenen lernete / wodurch das feur der liebe unter uns mehr und mehr entflamete / auß diesem aber ein so viel brünstigere begierde entstünde / sich unter sich selbst bey jeglicher gelegenheit zuerbauen / und mit ihrem exempel ander neben sich zu einem herzlichen ernst zu reitzen". 394 Solche Freundschaft entspricht ganz den Inhalten der Frömmigkeitspraxis im collegium, wie sie in Na391
Dietrich Blaufuß spricht in seiner Einleitung zu Natur und Gnade von der „in diesem Werk angebotene[n] Hilfe zur Selbstprüfung" (Blaufuß 1984, 53) - das ist m.E. nur die eine Seite der Medaille. Die Schrift eignet sich ebensowohl als Hilfe zum religiösen Selbstempfinden. 392 Vgl. dazu oben, 49 ff. 393 Spener muß dieser Vorwurf besonders gewurmt haben, immerhin widmet er ihm eine volle Seite seines Sendschreibens. Vgl. Spener 1979ff, Bd. I., 834. 394 Spener 1979ff, Bd. I., 783.
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tur und Gnade überliefert sind. Mag ihm auch das Freundschaftsideal vorgeschwebt haben, das die Sozietäten des 17.Jahrhunderts bestimmte, so verleiht er ihm jedenfalls einen anderen Sinn als diese, konnotiert die Freundschaft der Teilnehmer im Sinne des brüderlichkeitsethischen Liebesakosmismus, der das Freundschaftsverständnis der Sozietäten im 17.Jahrhundert sprengt. Nicht nur will er die so verstandene religiöse Freundschaft in einen institutionellen Rahmen fügen, auch soll dieser die Freundschaft fördern. Und dabei soll es ganz offenbar nicht nur um die rechte Bibellektüre gehen, sondern die gegenseitige Beförderung des christlichen Lebensweges. Die aber beschränkt sich nicht auf ein paar gemeinsame Stunden montags und mittwochs - die Wirkungsabsicht des collegium greift über es selbst auf eine den ganzen Lebensvollzug des Gläubigen umfassende religiöse Gemeinschaft der Frömmigkeitsvirtuosen hinaus. Der freundschaftliche Kontakt der Mitglieder wird sich darum auch nicht auf das collegium beschränkt haben, sondern man wird annehmen dürfen, daß zwar die wöchentlichen Treffen bei Spener eine gemeinschaftlich in strikter Abgrenzung gegen die „Scheinchristen" praktizierte religiöse Lebensform der Teilnehmer institutionell binden und gewissermaßen öffentlich machen, aber nicht ihr einziges Vollzugsmedium sind. Es ist daher nicht verwunderlich, daß eine andere Maßnahme Speners, die den Ruch des Separatismus vermeiden helfen sollte, die Separation geradezu heraufbeschwor: Der Kreis stand jedem offen, der darin eintreten wollte. So konnte niemand Spener vorwerfen, er wirke Verdächtiges im Verborgenen. 395 Das Interesse war beträchtlich und „weil es allgemach dahin gerathen / daß ohne unterscheid wem es beliebt darzu komt", 3 9 6 so konnte die Intimität nicht gewahrt werden, die den Zirkel anfangs auszeichnete und die Voraussetzung der freundschaftlichen Verbindung seiner Teilnehmer war. Spener verstieß mit dieser Politik der Öffnung gegen ein Grundgesetz religiöser Gemeinschaftsbildung, daß nämlich die Kohäsion der Gruppe nur durch größtmögliche Kontrastivität gegenüber ihrem religiösen Umfeld herzustellen ist und demzufolge besondere Zugangsbedingungen gesetzt werden müssen, die diese Kontrastivität sicherstellen. Das aber war im Frankfurter collegium pietatis nicht der Fall, denn es hätte den direkten Weg in die Kirchenspaltung bedeuten können. Stattdessen wuchs der Kreis der Teilnehmer schließlich derart an, daß die regelmäßigen Treffen 1682 in die Barfüßerkirche (an den Ort der heutigen Paulskirche) verlegt werden mußten. Mittlerweile melden sich bei der gemeinsamen Besprechung
395 396
Vgl. ebd., 796. Vgl. Wallmann 1986a, 291 f. Ebd.
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von Bibeltexten zumeist nur noch studierte Theologen zu Wort, die „Laien" sind in die (relativ zum Pfarrer) passive Rolle zurückgedrängt, die ihnen auch im Gemeindegottesdienst vorbehalten ist. „Mit dem Einzug der collegia pietatis in die Kirchenräume wird die ecclesiola auf eine fast unmerkliche Weise wieder der ecclesia einverleibt und in ihr aufgelöst. Alles das, was Spener von der weiteren Entwicklung erhofft und im Sendschreiben ausgesprochen hatte, daß die collegia eine heiligere und genauere Freundschaft stiften, ihre Mitglieder untereinander fest zusammenschließen und so eine ecclesiola in ecclesia wachsen lassen sollten, das wird jetzt praktisch aufgegeben." 397 Das Sendschreiben spricht von der heiligen Freundschaft allerdings schon - mit Bedauern als einem gescheiterten Projekt. Bereits in den Pia Desideria ist an den entscheidenden Stellen, welche die collegia pietatis als eine Maßnahme einführen, durch die das Wort Gottes zu verbreiten sei, von Freundschaft nicht mehr die Rede; „brüderlich" mögen sich die Teilnehmer der collegia demnach über die Bibel austauschen. 398 Offenbar war schon 1675 abzusehen, daß der beständige Zustrom des Frankfurter Zirkels die anfänglich gesteckten Ziele vereitelte, die geforderte Brüderlichkeit wirkt wie eine Zurücknahme dessen, was Speners Sendschreiben im Rückblick auf den Beginn der Unternehmung schildert. In dem Maße nun, in dem das Anwachsen des collegium pietatis die Stiftung heiliger Freundschaften unter seinen Mitgliedern verunmöglicht, schießen überall in Frankfurt neue Konventikel aus dem Boden, in denen sich viele seiner Gründungsmitglieder aufs Neue versammeln eine erwartbare Konsequenz sowohl des Konventikelgedankens selber denn warum sollte ausgerechnet das erste auch das einzige bleiben - wie der Forderung des geistlichen Priestertums. Spener hatte sie schon in den Pia Desideria erhoben und ergänzt sie in einer diesem Reformvorschlag eigens gewidmeten Schrift des Jahres 1677 um die ausdrückliche Legitimation von erbaulichen Privatversammlungen auch ohne Leitung durch einen kirchlichen Amtsträger 399 - so deutlich waren die Pia Desideria noch nicht. Aber genau diese - sit venia verbo - führerlosen Konventikel erregen Mißtrauen in- und außerhalb Frankfurts. Im Sendschreiben erwähnt Spener eine kritische Stimme zu seinen Pia Desideria, die am Konventikelgedanken Anstoß nimmt: „... dergleichen exercitia möchten mißlich und nicht rathsam gehalten werden", referiert Spener seinen Kritiker, „wo sie promiscue von jeglichen jedes orts angestellet würden: mit austrücklichem zusatz / daß was mich anlangte / ich wolt397
Bellardi 1994, 9 f. Spener 1996, 198 (Hervorhebung v. mir - M.S.). 399 Philipp Jakob Spener, Das Geistliche Priesterthum, v.a. N r . 4 4 - 4 6 , 52-54, 59, 62 und Nr.63. Vgl. Spener 1979ff, Bd. I, 621f, 625ff, 630, 634f. 398
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hun würde / das angefangene also fortzusetzen / und es in schrancken / wie es gehalten würde / zu lassen". 400 Befürchtet wird, daß die Konventikel eine von der Kirche nicht mehr steuerbare Dezentralisierungsund Individualisierungsbewegung der kirchlichen Frömmigkeit in Gang setzen, die schließlich vielleicht sogar aus der Kirche herausführen werde, eine Erosion, durch die der Nährboden der Gemeinden in die Strömung separatistischer und heterodoxer Frömmigkeitsbewegungen herabrutsche. Offensichtlich teilt Spener diese Befürchtung zunächst nicht. So konstatiert er im Sendschreiben auch ganz unbefangen, „der liebe Gott" habe „nach seiner verheissung sein wort nicht lassen gantz ungesegnet bleiben", sondern es bei einigen Frommen aus dem Kreise des Konventikels so zur Wirkung gebracht, daß sie „den hertzlichen entschluß gefasst / sich und ihr gantzes leben ihrem Gott / wie wir alle schuldig sind / auffzuopfern". Im Zuge ihrer Abkehr vom weltlichen Leben habe ein jeder „gesucht / so wol sich selbst mehr und mehr zu reinigen / als auch / wo es gelegenheit hätte / seinen mitbruder oder mitschwester neben sich auffzumuntern" und, wo man zusammenkam, allein von Erbaulichem zu reden. So hätten sie allmählich angefangen, einander immer öfter zu besuchen, „sonderlich diejenige / welche sie funden in der Übung ihres Christenthums bereits durch göttliche gnade weiter gekommen zu seyn", um „von ihrem exempel einige antrieb der nachfolge" zu erhalten. 401 Schließlich kristallisiert sich ein neues Zentrum um die 1675 zugereiste Johanna Eleonora von Merlau im Hause der verwitweten Maria Juliana Baur von Eyseneck, der Kreis der Saalhofpietisten, dem auch der Frankfurter Rechtsanwalt Johann Jakob Schütz, Freund Speners und Mitbegründer des Konventikels, angehört. 4 0 2 „Von H.D. Speners piis Desideriis ist mehr redens, als daß man den gebotten Christi würcklich nachlebete", klagt Schütz im Dezember 1676 brieflich gegenüber Christian Philipp Leutwein, „wozu sollen aber die Worte, welche gar keine Früchte bringen?" 403 Speners Kritik des Gewohnheitschristentums wendet Schütz nun auf die Praxis des Spenerschen collegium pietatis selbst an. Zu dieser Zeit hat er den Schritt in den Separatismus bereits getan: seit 1676 nimmt er nicht mehr am Abendmahl teil und unterhält ein eigenes Konventikel, das von Frank400
Ebd., 799. Ebd., 810 ff. 402 Zu diesen und den folgenden Vorgängen vgl. Sachsse 1884, 52ff; Wallmann 1986a, 290-298; ders. 1990, 55ff; Brecht 1993b, 316ff. Zur Bedeutung Johanna Eleonora von Merlaus, spätere Petersen für den Pietismus vgl. Matthias 1993; zur Bedeutung von Johann Jakob Schütz vgl. Wallmann 1986a, 299-324. 403 Schütz an Leutwein, Brief v. Dezember 1676, Senckenbergisches Archiv Μ 330, zit.n. Wallmann 1990, 83. 401
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Teil I Frömmigkeitsgeschichtliche Voraussetzungen
furter Theologiestudenten besucht wird. Jetzt reagiert auch Spener besorgt; das ist seiner Darstellung der Geschehnisse im Sendschreiben anzumerken, obwohl er deutlich bemüht ist, sie vor der Öffentlichkeit herunterzuspielen. Ihn „deuchte" Schützens Unternehmung „ein weiter außsehen zu gewinnen", das er offensichtlich nicht billigen mochte, denn er bittet den Kreis, sein Treiben zu unterlassen, „um damit keinen lästerungen anlaß zugeben". 404 Namen werden nicht genannt, aber die Schilderung deckt sich mit Schütz' quellenmäßig verbürgter Gründung eines collegium pietatis im Jahr 1676 und seiner Beendigung auf eine Intervention Speners hin. War ihm allein an der öffentlichen Meinung gelegen, oder hegte Spener auch theologisch Sorge über Schütz' Eigeninitiative, dessen Kreis ja nicht wie seine eigene Gruppe öffentlich zugänglich war? Schütz jedenfalls begründet seine Separation nicht in Opposition zu Speners Reformschrift, sondern geradezu unter nachdrücklicher Berufung auf sie: ihre Vorschläge würden in der Praxis des Spenerschen Kreises nicht umgesetzt. Er weist die Pia Desideria nicht zurück, sondern interpretiert sie separatistisch. Seit 1682 zieht er sich aus dem öffentlichen Gottesdienst zurück und begründet diese Entscheidung 1684 mit einem anonym erschienenen Diskurs, ob die Auserwählten verpflichtet seien, sich notwendig zu einer heutigen großen Gemeinde und Religion zu halten. Die im Neuen Testament geforderte Bruderliebe könne nur in kleinen Gemeinschaften, nicht aber in der Volkskirche verwirklicht werden. 405 Nicht nur praktisch, sondern auch lehrmäßig nimmt er schließlich von der lutherischen Kirche Abschied. „Wie bei den meisten radikalen Pietisten ist auch bei Schütz die lutherische Rechtfertigungslehre durch eine mystisch-spiritualistische Wiedergeburtslehre oder Lehre von der ,Gerechtmachung' ersetzt worden." 406 Seine Biographie ist ein Beleg dafür, daß sich der Separatismus im Sinne der innerlichkeitsakzentuierten Dezentralisierung und Individualisierung der kirchlichen Frömmigkeitspraxis sowie seine Adaption spiritualistischen Gedankenguts auf dem Nährboden der Spenerschen Innovatio-
404 Es seien, so die ganze diesbezügliche Textpassage, „etliche sontag nacheinander abends nach der betstunde etlich Studiosi Theologiae und gelehrte . . . zusammen gekommen / sich auß gelegenheit der angehörten morgen = predigt / und auffschlagung der gehandelten Texte miteinander in dem HErrn besprächet / und ihren guten Vorsatz ferner zu entzünden sich bemühet. Weil aber solches mich so bald deuchte ein weiter außsehen Zugewinnen / wegen anderer übeler außdeutung / in dem man bey dem guten dasselbige zu thun / fast mehr / als das böse zubegehen bedencken haben muß / so habe mit denselbigen darauß geredet / und wie sie in allem folgsam sind / gleich erhalten / daß solches unterlassen worden / um damit zu keinen lästerungen anlaß zu geben" (Spener 1979ff, Bd. I, 813f). 405 406
Wallmann 1990, 84. Ebd.
Philipp Jakob Speners „Pia Oesideria" und die collegia pietatis
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nen gegen deren Zielsetzung entwickeln konnte. Ob inner- oder außerkirchlich, mit den Pia Desideria war der Anstoß gegeben worden zu einer gruppenmäßigen Konsolidierung innerlichkeitsakzentuierter Frömmigkeitsstrebungen, die sich mit mehr oder minder starkem mystischspiritualistischem Einschlag seit der Jahrhundertwende entfaltet hatten. Die Pietisten sind von nun an als „Pietisten" Legion.
II. Religiöse Sinnbildung und Autobiographik im Pietismus „Interessen (materielle und ideelle) nicht: Ideen beherrschen unmittelbar das Handeln der Menschen. Aber: die ,Weltbilder', welche durch , Ideen' geschaffen wurden, haben sehr oft als Weichensteller die Bahnen bestimmt, in denen die Dynamik der Interessen das Handeln fortbewegte." Max Weber
1. Zur Familienähnlichkeit pietistischer Erbauungsliteratur Der sozialpsychologischen Rekonstruktion des pietistischen Frömmigkeitstypus dienten die vorstehenden Ausführungen durch die kursorische Präsentation einschlägiger pietistischer bzw. vorpietistischer Erbauungsliteratur. Einer expliziten begrifflichen Erschließung des aufgewiesenen Materials im Sinne einer übergreifenden systematischen Fragestellung enthielten sie sich dagegen in bewußter Bescheidung weitgehend. Es sollten die frömmigkeitsgeschichtlichen Anfänge des Pietismus und seine innerkirchliche Etablierung zunächst stofflich vergegenwärtigt werden. Freilich ist diese - wie überhaupt jede auf Quellen basierende - Vergegenwärtigung einer historischen Formation kultureller Sinngebilde, dessen, was Wilhelm Dilthey den „objektiven Geist" nannte, nicht vorbegrifflich oder gar begriffslos; sie verdankt sich zumindest den Prinzipien der Selektion und Komprehension, mithin der begrifflichen Regentschaft über die Totalität des virtuell verfügbaren Quellenmaterials einer gegebenen Zeit; zumeist wird nur ein geringer Teil daraus zur Zeugenschaft über eine geschichtliche Wirklichkeit aufgerufen. Selektion und Komprehension stützen sich auf das einander Verbindende in den Quellen und ihrer pragmatischen Rahmung (die sozialen Entstehungsbedingungen der Texte, ihr Adressatenkreis). Indessen scheint es sich dabei um ein erst durch den Interpreten des verwendeten Materials in bestimmter Hinsicht - und mithin auch in anderer Hinsicht anders oder möglicherweise gar nicht - Verbundenes zu handeln. So unterstellt die Absicht der kursorischen Präsentation einschlägiger pietistischer Erbauungsliteratur eine Nominaldefinition des Pietismusbegriffs. Und diese Definition wiederum gibt vor, welche Merkmalskonfigura-
Familienähnlichkeit pietistischer Erbauungsliteratur
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tionen der nachreformatorischen Frömmigkeit als pietismustypisch und also als Kriterium der Quellenrequisition dienen sollen. Hält man sich bei der Auswahl der Quellen an den Konsens der Forschung darüber, welche Werke einschlägig für den Pietismus sind, dann hält man sich eben auch an die von der Forschung als pietismustypisch entweder explizit behaupteten oder implizit unterstellten Merkmalskonfigurationen in den Frömmigkeitsdokumenten der untersuchten Zeit. So fügen sich die historischen Zeugnisse forschungslogisch erst in der von einem bestimmten Vorwissen und Erkenntnisinteresse geprägten Hinsicht des Interpreten zu einer Einheit, von der erhofft wird, daß sie die Summe ihrer Elemente auf einen durch sie bedeuteten Ausschnitt historischer Wirklichkeit hin transzendiert. Andererseits jedoch muß sich die unterstellte Einheit am semantischen Gehalt des Quellenmaterials bewähren lassen, denn sonst würde dessen Selektion und Komprehension lediglich der theoriegeleiteten Konstruktion von Erzählungen über das in den präsentierten Texten vermeintlich Bedeutete dienen, die keine Bodenhaftung mehr hätten. Daher sollte das im ersten Teil der Arbeit vorgestellte Material gleichsam für sich sprechen: Zwar hielt sich die Quellenauswahl an die von der kirchenhistorischen Forschung unbestritten als einschlägig anerkannten pietistischen bzw. vor- oder frühpietistischen Autoren, die Präsentation der ausgewählten Texte ließ sich dagegen von keiner vorgegebenen, sie theoretisch übergreifenden Begrifflichkeit führen, sondern von der Absicht, ihren ideellen Gehalt im Sinne des erklärten Geltungsanspruchs ihrer jeweiligen Verfasser kritisch zu pointieren. Erst die nun folgenden Schlußfolgerungen rücken die Ergebnisse des ersten Teils in den Zusammenhang einer systematischen Fragestellung. Sie wird die vorgestellten Texte von Praetorius, Nicolai und Arndt, Gerhardt, Tersteegen und Spener als Dokumente eines - bei aller Differenz im einzelnen - gemeinsamen sozialen Deutungsmusters lesen, von dem die nachfolgenden Partien der Arbeit zu zeigen haben, daß und wie es sich als Motor narrativer Identitätsbildung erwiesen hat. Die bisherigen Ausführungen unterstellten die Zugehörigkeit der behandelten Quellen zum Pietismus im weiteren Sinne; dabei wußten sie sich von einem Minimalkonsens in der kirchenhistorischen Forschung getragen, die - nicht immer nur, aber - vor allem Prätorius und Nicolai als Vertreter des Vorpietismus, Arndt als sowohl theologisch wie wirkungsgeschichtlich bedeutendsten Repräsentanten des Frühpietismus und schließlich Spener als Begründer des kirchlichen (lutherischen) Pietismus würdigt. Diese Unterstellung erwies sich im einzelnen immer wieder als plausibel, insofern sich im direkten Vergleich Verwandtes in der „Denkungsart" der Autoren ausmachen ließ. Aber wie ist diese Verwandtschaft näherhin zu bestimmen? Vieles in ihrem Denken ist doch grundverschieden: der deutliche Akzent auf der zentralen Bedeutung
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der Taufe für die Gnade des wiedergeborenen Christen verbindet zwar Prätorius mit Spener, diese aber nicht unbedingt mit Nicolai und Arndt; und hat das Schlagwort von der Jenseitsfrömmigkeit bei Nicolai eine gewisse Berechtigung, so das Gegenteil davon bei den anderen dreien. „Diesseitsfrömmig" sind Prätorius, Arndt und Spener wiederum in völlig verschiedener Weise, keiner gleichzeitig so weltflüchtig wie Arndt, während nur Spener - zumindest in den Pia Oesideria - von der Hoffnung zukünftiger kirchlicher Vervollkommnung beflügelt wird. Denken Prätorius, Nicolai und Arndt die Verlebendigung des Christentums auf die Erneuerung des einzelnen hin, so Spener auf die der Gemeinde, letztlich der Kirche insgesamt. Deshalb trägt seine Kirchenkritik pragmatisch-konstruktive, Arndts dagegen - trotz Absage an den Separatismus - fundamentalistische Züge. Aber nicht nur theologisch unterscheiden sich die vorgestellten Erbauungsbücher erheblich, auch ihr Entstehungskontext (und die Zeit ihrer Entstehung) ist völlig verschieden. Keiner der Autoren läßt seine Prägung durch die Erfahrungen der Pest so deutlich durchblicken wie Nicolai in seinem Freudenspiegel des ewigen Lebens. Während er sein Erbauungsbuch geradezu gegen die Seuchenangst anzuschreiben scheint, dominiert bei Arndt und Spener die seelsorgerliche Erfahrung mit dem Frömmigkeitsmangel der lutherischen Christenheit. Demnach wären die Autoren also allenfalls - im Sinne Wittgensteins - durch die Familienähnlichkeit ihres Frömmigkeitsverständnisses miteinander verwandt, „denn so übergreifen und kreuzen sich die verschiedenen Ähnlichkeiten, die zwischen den Gliedern einer Familie bestehen: Wuchs, Gesichtszüge, Augenfarbe, Gang, Temperament, etc. etc." 1 Jedes der vorgestellten Erbauungsbücher realisiert eine bestimmte Konfiguration von nachreformatorischen Frömmigkeitsmerkmalen, die mit den jeweils anderen durch jeweils verschiedene Schnittmengen verbunden ist. In dieser Weise läßt sich allerdings nur eine Großfamilie bestimmen und diese Familie hieße nicht Pietismus, sondern in beklagenswerter Allgemeinheit (nachreformatorische) Erbauungsliteratur. Im Sinne der Familienähnlichkeit sind die besprochenen Autoren einander aber nicht nur inhaltlich, sondern auch formal verbunden. Was Prätorius und Nicolai, Arndt und Spener, Gerhardt und Tersteegen vor allem - untereinander und mit gleich- wie nachzeitigen Pietisten - zusammenführt, ist ihre Sprache. Sie verwenden die gleichen Gegensatzpaare - Diesseits vs. Jenseits : Tod vs. Leben : Traurigkeit vs. Freude : Selbstliebe vs. Gottesliebe : Pein und Leid vs. Seligkeit - und evozieren das jeweils Gemeinte mit ähnlichen oder gleichen Bildern. Zur zusammenfassenden Ver-
1
Wittgenstein 1984, Nr. 66 f.
Familienähnlichkeit pietistischer Erbauungsliteratur
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anschaulichung sei eine Auswahl der bereits zitierten Passagen und Formulierungen hier noch einmal aufgerufen: Die Erde ist ein „Jammerthal", in dem wir „vnablässiglich gekränckt / gemartert vnd wol geplaget werden" (Nicolai); der Mensch, „so dürftig, so elend..., nackt und bloß, hungrig und durstig" er von Natur ist (Arndt), führt „ein elendig Leben" (Nicolai) „in der höchsten Angst vnd Schwachheit" (Prätorius); „aller menschlicher Schmuck und Schönheit" ist „eitel Kinderspiel / vnd arm Stümpelwerck" (Nicolai); und „dieses Leibes Joch" (Gerhardt) wird regiert von „Sund / Todt / Teuffei und Hell" (Prätorius). Daher herrscht „der weltgeist in fleischeslust / augenlust / und hoffärtigem leben" (Spener). Die Menschen tun sich hervor mit „fürwitzigen subtilitäten" (Spener), doch sie haben nur „thierische Weisheit" (Arndt), zeigen „Unverstand / mit vnnützen Fragen" (Prätorius) und betrügen einander durch „Heuchelei" (Arndt). Deshalb empfinden die wahrhaft Frommen eine „starcke Verachtung des irdischen" (Spener), „entsagen willig allen Eitelkeiten, / Aller Erdenlust und Freuden" (Tersteegen), wollen „ablassen", „sich abwenden" (Arndt) von den „weltlichen lüsten" (Arndt), ja „absterben" (Arndt) durch „die Tödtung des Fleisches" (Arndt) und „in verborgenefr] Reue und Leid" (Arndt) das „Herz zerbrechen" und das „Fleisch kreuzigen" (Arndt). Dabei habe der wahrhaft Reuige sein Herz zu „prüfen" und nach den inneren Beweggründen seiner Reue zu „forschen" (Arndt). Von genauer Selbstbeobachtung zeugt auch Nicolais Erkenntnis, je mehr er Gottes „Lieblichkeit und Süssigkeit behertzige", desto mehr wachse „Begierd vn Verlangen" nach ihm (Nicolai). Solche Beobachtung mißt das Maß der erreichten religiösen Vervollkommnung, denn der wahrhaft Gläubige „wächsset an Kräfften" (Nicolai), „so wol sich selbst mehr und mehr zu reinigen" (Spener) als auch zu beten (Spener). Seine „innigliche begierde... / mit Gott mehr und mehr vereinigt zu werden" (Spener), verbindet ihn mit Gleichgesinnten zu gemeinsamem Austausch, wobei „das feur der liebe" „mehr und mehr" „entflammt" werden soll (Spener), „daß sie mehr und mehr mögen wachsen" in ihrer Frömmigkeit (Spener). Charakteristisch für alle Autoren ist das Stilmittel des Superlativs: „Der in seinem Herzen der Elendste ist, der ist bei Gott der Liebste" (Arndt) und wie der dereinst Wiedergeborene der „allerschönesten Gestalt der aller heyligsten Dreyfaltigkeit" (Nicolai) angesichtig wird, so ist auch seine Seele dann die „allerschönste Creatur" (Arndt). Der Weg zur Wiedergeburt geht aus von dem Willen des Gläubigen, die Liebe Gottes bei sich zu „erwecken" und zugleich von der Bewirkung dieser Erweckung durch göttliche Gnade. So fängt Gott an „in ihm zu wirken" (Arndt), das „göttliche Licht" „bewegt" den Verstand (Arndt) und „die himmlische Begierde" bewegt den Willen (Arndt), daß sie ihn „mit Gehorsam anzündet" (Nicolai); wie der heilige Geist sich in
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die Seele „gießt", so „erhebt" sich die Seele „von der Welt zu Gott" (Arndt). Das Entscheidende dabei geschieht freilich durch Gott: er „sencket sich . . . in seine Kinder" (Tersteegen), „schüttet sich vber sie rein aus" (Prätorius), er gibt den „Segen, der vom Himmel fleußt" (Gerhardt), so daß das Herz des Gläubigen „durch die Süssigkeit des himlischen Friedens vnnd Frewden durchzuckert" ist (Prätorius). Allerdings kann das göttliche Wort auch „wie durchdringende Spiesse vnd Nägel vns zu Hertzen gehen" (Nicolai). Die Wirkung Gottes wird gerne durch die Lichtmetapher veranschaulicht. Spener sieht die Seele des rechtschaffenen Christen „von dem wahren himmlischen Hecht und leben des glaubens" beseelt (Spener), Arndt „das göttliche Licht in ihr leuchten" (Arndt). Der Lichtmetaphorik - prägnant bei Tersteegen: „Du durchdringest alles: laß dein schönstes Lichte, Herr, berühren mein Gesichte . . . Laß mich so, Still und froh, Deine Strahlen fassen, Und dich wirken lassen" (Tersteegen) - entspricht die Sprache der Empfindsamkeit. „[A]ch sueßer Gott" (Gerhardt), „[l]iebtser Gott" (Tersteegen), kann der Fromme seinen Erlöser anrufen. Er ist gegenwärtig in der „Luft, die alles füllet, drin wir immer schweben" (Tersteegen), seine Gnade „das süsse Lüftlein" (Prätorius), das wir atmen. Die Getauften sind „Zuckerkinder" (Prätorius), denn „[d]as Wasser macht vns nun selig" (Prätorius) und die sich zur frommen Erbauung treffen, daher „[gjottseelige freunde" (Spener) mit dem Begehren nach „unsrer seligen aufflösung" in Gott (Spener). Dem empfindsamen Vokabular entspricht die Metaphorik der Sinnlichkeit: der Fromme hat „hunger und durst" (Spener) nach „selige[r] Speise" (Spener), er sucht „Erquikkung" (Nicolai) und will „Gottes Liebe in allen Dingen schmecken" (Arndt), ja hat ein regelrechtes „Begehren" nach Gottes Wort, „seine Süßigkeit zu schmecken" (Spener). Gerhardts Lied-Ich wünscht sich in der Zwiesprache mit seinem Gott, „daß ich dir stetig bluehe" (Gerhardt) und Prätorius sieht den Wiedergeborenen „mit newen himlischen Ornamenten gezieret" (Prätorius). Religiöse Leidenschaft spricht aus der „so viel brünstigere(n) begierde" nach gegenseitiger Erbauung, aus dem Feuer der Liebe, das „brennet / leuchtet vn wettert" (Nicolai). Wer schließlich „reichlich . . . von Gott begnadet vnd begäbet" ist (Prätorius), wen Gott „mit gaben und erkantnuß begnadet" hat (Spener), dessen „innerlichefs] Licht leuchtet dann auswendig in den Werken" (Arndt), welche ihrerseits „leuchten in der Finsterniß unsers Nächsten", „sonderlich in geduldmüthiger Strafe und Urteil" (Arndt). Die Sprache der zitierten Autoren ist empfindungszentriert, sie entfaltet ein reiches Vokabular positiver und negativer innerer Zustände auf einer Palette, die von der Verzweiflung bis zur euphorischen Seligkeit reicht, mit Metaphern atmosphärischen und sinnlichen Erlebens; sie artikuliert religiöse Perfektibilisierungsbemühungen und die Refle-
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xivität der Gläubigen, die ihre affektive Befindlichkeit beobachten und protokollieren, durch Komparative, Superlative und Proportionalsätze; sie vergegenständlicht die frommen Gefühle durch Substantivierung von Verben, welche der Charakterisierung dieser Gefühle dienen, zum frommen Fühlen; sie qualifiziert die Herausgehobenheit des Gläubigen aus der Masse der Scheinchristen durch bestimmte immer wiederkehrende Attribute, die dem sakralen Bereich zugeordnet sind - dies alles natürlich mit von Autor zu Autor unterschiedlichen Gewichtungen. Dieser Befund bestätigt in kleinem Rahmen die umfassenden Ergebnisse, zu denen die historische Semantik durch die sprachgeschichtliche Untersuchung des Pietismus gelangt ist. Als nach wie vor einschlägig gilt August Langens vor mittlerweile einem halben Jahrhundert erstmals erschienenes Buch Der Wortschatz des deutschen Pietismus.2 Langens Auswertung seines reichen Quellenmaterials verzeichnet sprachliche Neuschöpfungen ebenso wie - gemessen an der Häufigkeit der Wortverwendungen - den Kernbestand des pietistischen Vokabulars von der Erstveröffentlichung des Wahren Christentums bis zur 13. Auflage von Tersteegens Blumengärtlein inniger Seelen im ersten Drittel des ^ . J a h r hunderts, also über einen Zeitraum von gut zweihundert Jahren. Wegen seiner auffälligen Homogenität konnte der Wortschatz größtenteils zwei Bedeutungskomplexen zugeordnet werden, die Langen mit „Gottes Einwirkung auf die Seele" und „Der Weg der Seele zu Gott" umschrieben hat. Dem sowohl betont affektiv wie dynamisch verstandenen Wechselverhältnis zwischen Gott und Mensch gilt fast alles, was er aus den Quellen gesammelt und zusammengestellt hat. Seine Gliederung des Wortmaterials folgt dem seelischen Entwicklungsgang der Erweckten. „Fast immer führt der Weg des Wiedergeborenen von dem unerweckten Zustand der Gottesferne über das Leiden und den Bußkampf, über das Streben der Seele zu Gott, über das „Ziehen" und „Wirken" der Gnade zum endlichen „Durchbruch" und zum gipfelnden Erlebnis der Vereinigung mit dem Göttlichen. Späterhin kehren häufig Rückfälle und Zweifel, Anfechtungen des Teufels und geistliche „Dürre" wieder, aber diese Trübungen bilden keine grundsätzlich neuen Erlebnisstufen, sondern stellen die natürlichen, kreatürlichen Schwankungen im Auf und Ab des seelischen Lebens dar." 3 Gemäß dem einheitlichen religiösen Grunderlebnis überwiege, so Langen, auch im Sprachlichen das Gemeinsame. 4 Dabei müßte er vielmehr - seiner eigenen Forschungslogik folgend, wonach die Gliederung des Wortmaterials „aus dem gegebenen 2 Langen 1968. D i e erste Auflage erschien bereits 1954, vierzehn Jahre später dann eine überarbeitete und ergänzte Fassung. 3 Ebd., 15. 4 Ebd., 17.
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Teil II Religiöse Sinnbildung und Autobiographik
Stoff selbst" gewonnen werden sollte 5 - umgekehrt formulieren: das Gemeinsame des Sprachlichen lasse auf die Homogenität des pietistischen Gottesverhältnisses schließen. Dazu zählen vor allem die verbalen Präfixbildungen, laut Langen das „auffallendste Stilmerkmal des Pietismus". 6 Präfixe wie „hin" und „her", „herab" und „nieder", „entgegen", „zu" u.a.m. dienen in den Quellen immer wieder dazu, den Inhalt der jeweils verwendeten Verben - nicht immer nur von Bewegungs- oder Tätigkeitsverben - im Sinne der Wirkung Gottes auf den Menschen zu spezifizieren: „herneigen", „herabströmen", „-träufeln" und „-triefen", „niederblitzen", „entgegenglänzen", „-wallen", „- strömen" und „-quellen", „zuschlagen" und „zuschießen" - den möglichen Kombinationen scheint kein Ende gesetzt. 7 Gott dringt in die Seele ein, indem er in sie „einscheint", „einleuchtet", seinen Geist ihr „einhaucht", „einbläst", sogar „einblitzt", sich in sie „hineinsenkt", „hineingießt", nachdem er in sie „hineingerufen" und „-gepredigt" hat. 8 Für das Durchdrungenwerden der Seele von Gott finden die pietistischen Autoren Worte wie „durchsüßen" und „-säuern", „durchbeizen", „durchblitzen", „-strahlen" und „-leuchten", „durchfließen", „-gießen", „-strömen" und „-quellen", selbst „durchschwitzen". 9 Die Negativität der Welt wird sprachlich durch eine Vielzahl von Negationen ausgedrückt, 10 die Sehnsucht nach Gott „zerlechzt", „zerkriegt" oder „zerglaubt" sich, 11 der Gläubige „wendet", „zieht", „neigt" oder „reißt", „scheidet" oder „spehnt" sich „ab" von der „Welt", 12 um „himmelanzuschwingen", sich „himmelwärts zu ringen", „aufzufliegen", „aufwärtszulodern", schließlich „überwärts zu schweben". 13 Zu den typisch pietistischen Stilmitteln zählen ferner Substantivierungen von Verben mit den Morphemen -ung, -heit und -keit, 14 zu denen solche Blüten zählen wie „Loslassung", „Zerschmelzung", „Schmeckung" und „Gnadenspürung", „Todigkeit" und „Brünstigkeit", „Meinheit", „Deinheit", „Lieblosheit"; aber auch Komposita, 1 5 denn immer wieder werden pietistische Grundwörter wie „Liebe", „Herz", „Seele" und „Gemüt" mit einer Vielzahl von Bestimmungswör-
5
Ebd., 15. Ebd., 385. 7 Vgl. ebd., 84-88. 8 Ebd., 89ff. 9 Ebd., 97-106. 10 Ebd., 118 ff. 11 Ebd., 135 ff. 12 Ebd., 139-148. 13 Ebd., 197-210. 14 Ebd., 382 ff. 15 Ebd., 385. 6
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tern kombiniert und dem Leser so unablässig zur „Einersenkung" vorgehalten. Langen weist im übrigen nachdrücklich darauf hin, wie viele fortan als genuin pietistisch geltende Ausdrücke das innerlichkeitsakzentuierte Frömmigkeitsvokabular der mittelalterlichen Mystik beerben. Dazu zählen die Abstaktabildungen ebenso wie einige der Präfixbildungen, vor allem solche mit „durch". Die Verwandtschaft zwischen den zahllosen sprachlichen und den entsprechenden religiösen Merkmalen der vorgestellten Texte rechtfertigt es, sie als Ausdrucksgestalten eines Frömmigkeitstypus zu lesen. Dessen erkenntnistheoretischer Stellenwert entspricht dem, was Max Weber im Rahmen der sozialwissenschaftlichen Begriffsbildung als Idealtypus definiert hat: „Wir haben in der abstrakten Wissenschaftstheorie ein Beispiel jener Synthesen vor uns", so Weber in seinem Aufsatz Die Objektivität sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis aus dem Jahr 1904, „welche man als ,Ideen historischer Erscheinungen zu bezeichnen pflegt . . . Dieses Gedankenbild vereinigt bestimmte Beziehungen und Vorgänge des historischen Lebens zu einem in sich widerspruchslosen Kosmos gedachter Zusammenhänge. Inhaltlich trägt diese Konstruktion den Charakter einer Utopie an sich, die durch gedankliche Steigerung bestimmter Elemente der Wirklichkeit gewonnen ist. Ihr Verhältnis zu den empirisch gegebenen Tatsachen des Lebens besteht lediglich darin, daß da, wo Zusammenhänge der in jener Konstruktion abstrakt dargestellten A r t . . . in der Wirklichkeit als in irgend einem Grade wirksam festgestellt sind oder vermutet werden, wir uns die Eigenart dieses Zusammenhanges an einem Idealtypus pragmatisch veranschaulichen und verständlich machen können. Diese Möglichkeit kann sowohl heuristisch, wie für die Darstellung von Wert, ja unentbehrlich sein." 16 Keiner der vorgestellten Texte kongruiert mit dem Idealtypus pietistischer Frömmigkeit, sondern die Familienähnlichkeit ihres jeweiligen religiösen und sprachlichen Profils legt es nahe, sie als Varianten eines idealtypischen Frömmigkeitsmodells zu lesen. Dessen heuristischer Wert besteht darin, daß es viele singulare Texte als Zeugnisse einer ideellen Formation zu denken erlaubt. Dadurch läßt sich überhaupt erst das im zweiten Teil der Arbeit leitende Forschungs- und Erkenntnisinteresse explizieren, ob nämlich der gedachten ideellen Einheit vieler sprachlicher Texte eine empirische, nämlich die historisch im Sinne ihrer Handlungsförmigkeit bzw. -Wirksamkeit reale, d.h. von vielen Menschen lutherischer Konfession gleichermaßen geteilte Ideenformation des Pietismus entspricht. Dazu müßte die Familienähnlichkeit
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Weber 1951, 190 (Hervorhebung im Original).
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der Quellen als Manifestation einer gemeinsamen Tiefenstruktur religiöser Sinnbildung aufgewiesen werden können.
2. Strukturmerkmale religiöser Sinnbildung in der pietistischen Erbauungsliteratur Nun erlaubt die ideelle und sprachliche Familienähnlichkeit der Quellen immerhin schon einen heuristischen Vorgriff auf die Strukturmerkmale religiöser Sinnbildung pietistischer Provenienz. Sie sollen im folgenden mit den Begriffen der Reflexivierung, Sensitivierung und Ethisierung des Glaubens sowie der Selbstcharismatisierung des Gläubigen bezeichnet werden. Reflexivierung sei als der Prozess definiert, in dem Fragen der richtigen und religiös aufrichtigen Gestaltung der Glaubenspraxis durch die sich von der Welt abkehrenden reumütigen Sünder zum beherrschenden Gegenstand eben dieser Glaubenspraxis selbst werden, Sensitivierung als die positive Identifizierung, Fixierung und Aneignung der erhofften Gnade in dem psychischen und somatischen Heilserleben meditativer Zwiesprache oder mystischer Vereinigung der in sich einkehrenden Gläubigen mit ihrem Gott, Ethisierung als die Ausrichtung der sozialen Lebensvollzüge auf das Ziel der praktischen Verwirklichung und Vervollkommnung religiöser Identität gemäß den vorgegebenen religiösen Verhaltensnormen, als praktische Umsetzung dieser Normen im Sinne einer - wie Max Weber das formuliert - „methodischen Lebensführung", und schließlich Selbstcharismatisierung als die Vergewisserung der Gläubigen, den christlichen Mitmenschen das „wahre", d.h. normativ und expressiv verbindliche Christentum glaubensvirtuos und mit (charismatisch) legitimem Anspruch auf Nachfolge so unvertretbar durch andere wie individuiert, d.h. durch leistungsethische Bewährung in den je eigenen alltagspraktischen Bezügen vorzuleben. Einen vorerst bloß heuristischen Status haben diese Kategorien, weil sie aus einem idealtypischen Frömmigkeitsmodell extrapoliert worden sind, das seinerseits nur heuristische Funktion besitzt. Um Struktormerkmale religiöser Sinnbildung handelt es sich dabei insofern, als sowohl die Reflexivierung, Sensitivierung und Ethisierung des Glaubens als auch die Selbstcharismatisierung des Gläubigen weniger über die religiösen Inhalte des Glaubens aussagen als über die Formen oder Modi der intentionalen Bezugnahme des Gläubigen auf die Glaubensinhalte bzw. auf sich selbst als Subjekt des Glaubens. Von Strukturen sagt man, sie seien dasjenige, was das andere tragen bzw. bedingen würde. Die Struktur eines Hauses besteht aus den tragenden Mauern, die man nicht entfernen kann, ohne daß alles in sich zusammenfiele; die Struktur eines Satzes besteht aus einer sprachlichen
Strukturmerkmale religiöser Sinnbildung
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Sequenzierungslogik, deren Verletzung aus dem Satz Wortsalat machen würde. Demnach wären also Strukturmerkmale religiöser Sinnbildung im Pietismus solche, ohne die bestimmte Glaubensinhalte nicht als charakteristisch pietistische artikuliert würden. Daß gerade in den verschiedenen performativen Modi intentionaler Akte des religiösen Subjekts - und nicht etwa im Dogma - das die Pietisten Charakterisierende liegen könnte, spricht auf seine Weise für die in der Forschungsliteratur prominente Behauptung, die Pietisten hätten - als Pietisten - theologisch-systematisch, d. h. auf der Ebene der diskursiven Lehrinhalte, wenig eigenes zur Geschichte der lutherischen Kirche beigetragen. 17 Die Neologismen Sensitivierung und Reflexivierung sind ebenso wie die Begriffe Ethisierung und Selbstcharismatisierung eine zugegebenermaßen sprachlich etwas unglückliche Konzession an die - durch die Materialanalysen des dritten Teils zu erhärtende - Vermutung, daß die in dieser Weise kategorisierten Strukturmerkmale religiöser Sinnbildung im Pietismus eine Eigendynamik besitzen, vermittels derer sie sich nicht stillstellbar entfalten und ausbilden; sie zwingen die Gläubigen, sich ein immer höheres Maß an Sensitivität, Reflexivität, Perfektibilität und Selbstgewißheit zu setzen. Allein der Begriff Selbstcharismatisierung ist einer theoretisch bereits bewährten und klar definierten Begriffsbildung entlehnt. Es handelt sich dabei um das Charisma-Konzept in der Herrschaftssoziologie Max Webers. 18 „Herrschaft" definiert Weber als „die Chance, für einen Befehl bestimmten Inhalts bei angebbaren Personen Gehorsam zu finden", 19 wobei „Gehorsam" bedeuten soll, „daß das Handeln des Gehorchenden im wesentlichen so abläuft, als ob er den Inhalt des Befehls um dessen selbst willen zur Maxime seines Verhaltens gemacht habe, und zwar lediglich um des formalen Gehorsamsverhältnisses halber, ohne Rücksicht auf die eigene Ansicht über den Wert oder Unwert des Befehls als solchen". 20 Denn jede Herrschaft beansprucht - im Unterschied zur Macht - die Legitimität ihrer Ausübung und reziprok vom Beherrschten die Anerkennung ihres Geltungsanspruchs - ganz gleich, welche Fügsamkeitsmotive sein Handeln real sonst noch oder vor allem bestimmen mögen - durch ein „Minimum an Gehorchen wollen, also: Interesse (äußerem oder innerem) am Gehorchen". 21 Die Legitimitätsgeltung der Herrschaft kann nun laut Weber rationale, traditionale und charismatische Züge tragen; charismatische dann, wenn sie „auf der außeralltäglichen Hingabe an die Heiligkeit 17 18 19 20 21
So etwa Hirsch 1961. Vgl. Weber 1972, 140-148,654-687. Ebd., 28. Ebd., 123 (Hervorhebung im Original). Ebd., 122 (Hervorhebung im Original).
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Teil II Religiöse Sinnbildung und A u t o b i o g r a p h i k
oder die Heldenkraft oder die Vorbildlichkeit einer Person und der durch sie offenbarten oder geschaffenen Ordnungen" beruht. 2 2 Solche H i n g a b e gründet nicht in rationalen Handlungsabwägungen, sondern in dem affektiv fundierten, rational unhintergehbaren Glauben an das Charisma: die G n a d e n g a b e des Beherrschenden. „ D e r charismatische H e l d leitet seine Autorität nicht wie eine amtliche , Kompetenz' aus Ordnungen und Satzungen [so in der rationalen Herrschaft - M . S . ] und nicht wie die patrimoniale Gewalt aus hergebrachtem Brauch oder feudalem Treueversprechen ab [so in der traditionalen Herrschaft M . S . ] , sondern er gewinnt und behält sie nur durch Bewährung seiner K r ä f t e im Leben. E r muß Wunder tun, wenn er ein Prophet, Heldentaten, wenn er ein Kriegsführer sein will. V o r allem aber muß sich seine göttliche Sendung darin ,bewähren', daß es denen, die sich ihm gläubig hingeben, wohlergeht." 2 3 Ebensowenig lassen sich die K r ä f t e , auf denen die Geltung des Charismatikers bei seiner G e f o l g s c h a f t beruht, durch Befolgung alltäglicher Techniken erlernen oder durch Erbringung einer standardisierten Gegenleistung erwerben. Sie gründen vielmehr in seinem subjektiven Erleben der Begnadung durch eine transzendente M a c h t , 2 4 mithin auf dem „ G l a u b e f n ] des Trägers selbst . . . an sein Charisma .. .". 2 5 Eben deshalb kann sich der Charismatiker „,von seinem G o t t verlassen' fühlen, wie Jesus am Kreuz, sich seinen Anhängern als ,seiner K r a f t beraubt' erweisen"; 2 6 darum aber auch, so wäre zu ergänzen, kann ,Kleinglaube' - wie die Berufung des M o s e veranschaulicht - eine charismatische Begnadung von vornherein unterbinden. 2 7
E b d . , 124. E b d . , 656. 2 4 „ D i e genuin charismatische H e r r s c h a f t kennt d a h e r keine abstrakten R e c h t s s ä t z e und Reglements und keine ,formale' Rechtsfindung. Ihr ,objektives' Recht ist konkreter A u s f l u ß höcht persönlichen Erlebnisses von himmlischer G n a d e und göttergleicher H e l d e n k r a f t und bedeutet Ablehnung der Bindung an alle äußerliche O r d n u n g zugunsten der alleinigen V e r k l ä r u n g der echten Propheten- und Heldengesinnung. Sie verhält sich d a h e r revolutionär alles umwertend und souverän brechend mit aller traditionellen oder rationalen N o r m : ,es steht geschrieben, - ich aber sage euch'" (ebd., 657). 22 23
E b d . , 661. E b d . , 656. 2 7 Vgl. E x 4 , 1 0 - 1 7 . J a h w e erwählt M o s e s zu seinem Propheten, aber dieser vertraut nicht seiner K r a f t , die Weisungen J a h w e s dem V o l k Israel wirkmächtig zu vermitteln: „ A b e r bitte, H e r r , ich bin keiner, der gut reden kann, weder gestern noch vorgestern, noch seitdem du mit deinem Knecht sprichst. Mein M u n d und meine Zunge sind nämlich schwerfällig" (zit.n. D e i s s l e r / Vögtle 1985). Nicht einmal J a h w e s Ermutigung: „Ich bin mit deinem M u n d und weise dich an, was du reden sollst", bewirkt einen Sinneswandel. M o s e s beharrt auf seinem S t a n d p u n k t : „ A b e r bitte, H e r r , schick doch einen a n d e r n ! " D a J a h w e nun einmal an M o s e s als dem prophetischen Mittler seiner Weisungen festzuhalten gewillt ist, wäre es d o c h nun naheliegend, d a ß er, der alles vermag, die Zunge des Ver25 26
Strukturmerkmale religiöser Sinnbildung
141
Gleichwohl berücksichtigt Weber die Möglichkeit, „daß das Charisma eine durch hierurgische Mittel seitens eines Trägers auf andere übertragbare oder erzeugbare (ursprünglich: magische) Qualität sei". 28 Diese Möglichkeit tritt dann ein, wenn die Herrschaftsbeziehung zwischen dem charismatischen Führer und seiner Gefolgschaft bzw. Gemeinde verstetigt werden soll. Denn in diesem Fall muß sie ja entpersonalisiert, d. h. von der Lebens- und Wirkungszeit des einen Trägers entkoppelt werden. Und ist die charismatische Befähigung erst zu einer sachlichen Qualität geworden, die durch bestimmte Mittel übertragen werden kann, „so ist damit der Weg zu ihrer Verwandlung aus einer Gnadengabe, deren Besitz erprobt und bewährt, nicht aber mitgeteilt oder angeeignet werden kann, in etwas dem Prinzip nach Erwerbbares beschritten. Damit wird die charismatische Befähigung möglicher Gegenstand der Erziehung."29 Ihr Ziel besteht in der Wiedergeburt charismatisch Begabter zu tatsächlichen Trägern von Charisma, sowie in dessen Entfaltung, Erprobung und Bewährung, schließlich der Auslese der charismatisch Qualifizierten. Das alles geschieht durch „Eintritt in eine besondere Erziehungsgemeinschaft, Umgestaltung der gesamten Lebensführung, Askese, körperliche und seelische Exercitia in den verschiedensten Formen zur Weckung der Fähigkeit zur Ekstasis und zur Wiedergeburt, fortwährende Erprobung der jeweils erreichten Stufe charismatischer Vervollkommnung durch psychische Erschütterungen und physische Torturen und Verstümmelungen ..., endlich stufenweise feierliche Rezeption der Erprobten in den Kreis der bewährten Träger des Charisma". 3 Es bedarf nicht eigens der Erwähnung, daß die Ausbildung der Uberzeugung bzw. des Glaubens an die je eigene charismatische Befähigung, wird schon das Charisma für übertragbar gehalten, ebenfalls zu den Zielen solcher Erziehung zählen muß. Und im Sinne der Erziehung des einzelnen zur individuellen Verkörperung charismatischer Fähigkeiten
stockten löse. Bezeichnenderweise geschieht das gerade nicht. Stattdessen soll Aaron für ihn zum Volk reden. Der allmächtige Gott ist machtlos gegenüber der Verstockung seines Propheten. Denn es gehört zur Struktur der alttestamentlichen Prophetie, daß der Prophet die Worte und Weisungen seines Gottes nicht nur wiedergibt, sondern zugleich innerlich erfüllt ist vom Glauben an seine Begnadung zur wirkmächtigen Sprache. Dieser Glaube an das eigene Charisma - und zwar im Sinne eines hingebungsvollen Vertrauens auf die eigene Begnadung - ist geradezu die Bedingung desselben. Zu ihm muß der Charismatiker evidentermaßen selbständig finden. Jahwe kann es nicht willkürlich erzwingen, und diese Unvereinbarkeit des gläubigen Selbstvertrauens mit jedweder willkürlichen Veranlassung nötigt ihn zur Hinzuziehung Aarons. 28 29 30
Weber 1972, 144 (Hervorhebung im Original). Ebd., 677 (Hervorhebung im Original). Ebd.
142
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ist auch die Vergewisserung des Gläubigen gemeint, seinen Mitmenschen das „wahre" Christentum glaubensvirtuos und vorbildhaft, gleichsam exemplarisch vorzuleben, die der oben eingeführte Begriff „Selbstcharismatisierung" im Zusammenhang des Pietismus benennen soll. Was Weber von der „besondere[n] Erziehungsgemeinschaft" sagt, in der die Zöglinge Erweckung und Entfaltung ihrer Fähigkeiten exerzieren sollen, so deckt sich das strukturell mit Verfaßtheit und Zielsetzung pietistischer Konventikel. Sie sind ebenso auf soziale Distinktion, auf Unterscheidung von der Sphäre des alltäglichen Lebens bedacht, und ihren Teilnehmern geht es auch um die Herbeiführung der Wiedergeburtserfahrung, der Weg dorthin führt gleichermaßen über die Hürden von methodisch als Bewährungsproben betriebener psychischer Zerrüttungen (wenn auch nicht physischer Torturen), die der Pietist vornehmlich dadurch erzielt, das er mit unerschütterlicher Verbissenheit an seinem Gnadenstand zweifelt; so daß die unter den Begriffen Sensitivierung, Reflexivierung und Ethisierung befaßten Prozesse möglicherweise als Strukturmerkmale jenes individual- und kollektivgeschichtlichen „Erziehungsprozesses" - im Sinne von Webers Erziehungsgemeinschaft der angehenden Charismatiker - verstanden werden können, in dem die religiös Talentierten bzw. die aus bereits religiös bewährten Individuen gebildeten Gemeinschaften ihre Bewährung als Träger eines versachlichten Charismas einüben: der besonderen Kraft und Fähigkeit zu einem an religiösen Normen gemessen mustergültigen Leben, das ihren Mitmenschen die Nachfolge ansinnt bzw. auferlegt. In einem, vielleicht dem entscheidenden Punkt weicht die Rede von der Selbstcharismatisierung des pietistischen Gläubigen allerdings von Webers Charisma-Konzept ab: Die durch den Erwerb charismatischer Fähigkeiten begründete Herrschaftsbeziehung ist im Falle des Pietisten allein als innere zwingend, als Herrschaft über sich selbst, des Geistes über das sündige Fleisch, der religiösen Gesinnung über die natürlichen Begierden. Nachfolge sinnt der Pietist zwar an, legt er den Mitchristen auch auf, aber das alles tritt doch zurück hinter der alles überragenden Se//>i/aufforderung zu einem der göttlichen Ordnung gemäßen Leben. Der Pietist erwirbt sein Charisma nicht primär für andere sondern für sich. Er charismatisiert sich zur entschlossenen alltagspraktischen Verwirklichung seiner religiösen Gesinnung (und diese Gesinnung schließt die Obacht auf seinen Nächsten mit ein), nicht aber zur Begründung einer seine Mitmenschen bindenden Herrschaftsordnung wie die Religionsgründer. Von den vorgeschlagenen vier Strukurmerkmalen religiöser Sinnbildung im Pietismus gilt nun gleichermaßen, daß sie keineswegs erst interpretativ aus dem Bedeutungsgehalt der Erbauungsliteratur extrapoliert werden müssen, denn diese verpflichtet die Gläubigen durch ihre
Strukturmerkmale religiöser Sinnbildung
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wiederholten Aufrufe zur kritischen Selbstbeobachtung, zur alltagspraktischen Bewährung und zur seelischen Disponierung für positive Heilserlebnisse geradezu ausdrücklich auf die Selbstcharismatisierung zu vorbildhaften Frömmigkeitsvirtuosen sowie auf die Reflexivierung, Sensitivierung und Ethisierung der Glaubensvollzüge - freilich mit unterschiedlichen Gewichtungen: die Rede von dem Bedeutungsgehalt der Erbauungsliteratur erhebt wiederum nur idealtypischen Geltungsanspruch; ja, es scheint, als ob es der Erbauungsliteratur vorrangig um eben diese Verpflichtung geht. Damit erfüllt sie die Funktion einer religiösen Ethik - in dem Sinne, in dem wiederum Max Weber diesen Begriff gebrauchte: „Zu den wichtigsten formenden Elementen der Lebensführung nun", schreibt er in der Vorbemerkung zum ersten Band seiner religionssoziologischen Aufsätze, „gehörten in der Vergangenheit überall die magischen und religiösen Mächte und die am Glauben an sie verankerten religiösen Pflichtvorstellungen." 31 Weber unterscheidet hier (und durchgängig in seinen Untersuchungen zur Wirtschaftsethik der Weltreligionen) analytisch Glaubensgehalte, Pflichtvorstellungen und faktische Lebensführung. Gehören die Glaubensgehalte der Ebene des religiösen Dogmas an (im Christentum zählen dazu beispielsweise die grundlegenden Aussagen der Christologie), so die Pflichtvorstellungen der religiösen Ethik, die ihre Legitimation aus den Glaubensgehalten empfängt, ihre inhaltlichen Bestimmungen aus ihnen ableitet sowie das Selbst- und Weltverhältnis der Gläubigen normativ regelt. Die faktische Lebensführung schließlich meint das Alltagshandeln, das seine Orientierung aus den religiösen Normen gewinnt, ohne daß den Handelnden deren Legitimationsgrundlage immer und im einzelnen begrifflich klar sein müßte (kein Christ ist genötigt Theologie zu studieren, um christlich leben zu können, die Glaubensgehalte müssen dem religiösen Subjekt nicht klar und deutlich gegeben sein, damit es glauben kann 32 ). Die Strukturmerkmale religiöser Sinnbildung im Pietismus sind demnach normative Bestimmungen im Sinne ethischer Pflichtvorstellungen. Ihre Besonderheit besteht darin, daß sie den Vollzug eben dieser Sinnbildung regeln, d. h. sie bestimmen die Art und Weise, in der sich die Gläubigen glaubend zu dem Gehalt ihres Glaubens in Beziehung zu setzen haben. Während die Glaubensgehalte den Gläubigen primär ihr Welt- und Selbstverhältnis erschließen, so die (genuin) pietistischen Pflichtvorstellungen die Art und Weise, in der sich diese Erschließung vollziehen soll. Dienen mithin jene ihrer gleichsam äußeren Orientie-
31 32
Weber 1988, 12. Vgl. Mt 5,3.
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rung durch die Deutung der Lebensgeschichte sowie subjektiv unverfügbarer Ereignisse und Zustände, die den einzelnen als Schicksalsmacht überkommen, so diese vor allem der inneren, indem sie den Gläubigen Vorstellungen sinnhafter Innerlichkeit und wahrhafter religiöser Identität vermitteln, kurzum: Vorstellungen davon, was es heißt, als frommer Christ „ich" zu sagen. Die pietismustypischen Strukturmerkmale religiöser Sinnbildung sind mithin - im Sinne Webers ethisch verpflichtende Modi der identitätsbildenden Aneignung christlicher Glaubensgehalte. Das gilt auch für den Aufruf zur Ethisierung des Glaubens. Denn daß dieser, wie Spener formuliert, „in der praxi" bestehe, also im Alltagshandeln Früchte zeigen müsse, zielt auf die alltagspraktische Bewährung und Vergewisserung des „wahren" Glaubens, nicht auf den Gehorsam gegenüber religiös gebotenen Handlungsnormen als solchen und um seiner selbst willen. Das Motiv der Ethisierung des Glaubens ist mithin das gleiche wie das der drei übrigen pietistischen Pflichtvorstellungen - und nicht minder egozentrisch: es geht ihnen - sit venia verbo - um die Selbstverwirklichung des „wahren" Christen.
3. ... als methodologisches Problem frömmigkeitsgeschichtlicher Forschung In der Forschung wurde kontrovers diskutiert, ob die Suche nach den frömmigkeitsgeschichtlichen Wurzeln des Pietismus überhaupt zu Erbauungsautoren wie Praetorius, Nicolai oder Arndt, zu kirchlichen Reformatoren wie Spener führen darf. Handelt es sich dabei nicht um einzelne Fromme, von denen kein Rückschluß möglich ist auf die allgemeine Frömmigkeit der Zeit? Hansgeorg Molitor hat diese Position vertreten. Frömmigkeitsgeschichtliche Forschung habe sich der Interpretation „des religiösen Verhaltens Vieler", nicht der herausgehobenen Glaubensvirtuosität Einzelner zu widmen. 33 Dagegen konnte Johannes Wallmann geltend machen, daß „die literarischen Zeugnisse, die wir als Ausdruck der Frömmigkeit bedeutender einzelner Gestalten des Christentums besitzen und die uns als Quellen zur Rekonstruktion der Frömmigkeitsgeschichte dienen, allermeist in das Genus des bloß Individuellen gar nicht eingegrenzt werden können". 34 Die Alternative zwischen der Frömmigkeit einzelner und dem religiösen Verhalten der Bevölkerung greife nicht: „Indem wir uns mit diesem einzelnen beschäftigen, haben wir zugleich die einzigartige Breitenwirkung dieses einzelnen, also auch das von ihm geprägte religiöse Verhalten vieler, im Blick." 35 33 34 35
Molitor 1976, 19. Wallmann 1995, 2. Ebd., 5.
. als methodologisches Problem
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Wallmann ist insofern zuzustimmen, als Molitors Unterscheidung zwischen der Frömmigkeit einzelner religiöser Virtuosen und derjenigen der großen Masse den hiatus zwischen Geistes- und Sozialgeschichte reproduziert, der auf einer falschen Arbeitsteilung zwischen Kulturund Geschichtswissenschaften beruht. Es ist aber keineswegs selbstverständlich, daß wir mit den herausragenden religiösen Persönlichkeiten „zugleich" das religiöse Profil der Bevölkerung im Blick haben, als ob das eine unmittelbar durch das andere verursacht würde. Vielmehr bedarf es eigens ihrer Vermittlung. In den Worten Peter Burkes: „Wir benötigen etwas, das uns aus der unglücklichen Alternative zwischen einer Geistesgeschichte, aus der die Gesellschaft ausgespart bleibt, und einer Sozialgeschichte, die das Denken ausklammert, heraushilft." 36 Innerhalb der Geschichtswissenschaft ist es vor allem die mentalitätsgeschichtliche Forschung, die das Desiderat einer Vermittlung zwischen Ideen- und Sozialgeschichte beheben will. 37 „Die Ebene der Mentalitätsgeschichte ist", wie Jacques LeGoff griffig formuliert, „die des Alltäglichen und des Automatischen, dessen, was den individuellen Subjekten der Geschichte entgeht, weil es den unpersönlichen Inhalt ihres Denkens ausmacht, dessen, was Cäsar mit dem letzten Soldaten seiner Legionen, Ludwig der Heilige mit dem Bauern seiner Ländereien, Christoph Columbus mit den Matrosen seiner Caravellen gemein hat." 38 Unter dem „Alltäglichen" und dem „Automatischen" versteht LeGoff eingeschliffene Orientierungen, die nicht hinterfragt und zum Gegenstand lebenspraktischer Aufmerksamkeit gemacht werden. Erklärungsbedürftig ist freilich, was Denkinhalte sein sollen, die, obwohl sie doch gedacht werden, dem denkenden Subjekt „entgehen", vor allem aber, inwiefern der Inhalt des Denkens „unpersönlich" sein kann. In der für solche Fragen zuständigen erkenntnistheoretischen Forschung wird Denken gemeinhin und im allerweitesten Sinne als mentales Repräsentieren von Sachverhalten verstanden. „For wether we are trying to solve a logical puzzle or are in the process of making up our minds about what to say to a noisy, officious neighbor, we are thinking about something or other . . . In thinking about these various objects, wether abstract or concrete, we are also necessarily thinking something about them . . . For convenience, we may express the last fact about thinking by saying that our specific thoughts have contents as well as objects" 3 - so Bruce Aune in dem Artikel „Thinking" der Encyclopedia ofPhiloso36 37
Burke 1987, 128. Vgl. zu den Problemen mentalitätsgeschichtlicher Forschung Sellin 1985 und Raulff
1987. 38 39
LeGoff 1987, 21. Aune 1972, 100.
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phy. Und da es jeweils ein „Ich" ist, das „contents as well as objects" denkt, andererseits aber meine Gedanken, sofern sie sprachförmig sind, 4 0 grundsätzlich auch von anderen gedacht werden könnten, scheint der Inhalt des Denkens - je nachdem, ob wir den Denkinhalt sub specie seines Gedachtwerdens oder seiner Bedeutung meinen - entweder das eine oder das andere, also: entweder „persönlich" oder „unpersönlich", aber nicht ein Inhalt so, der andere so sein zu können - jedenfalls dann, wenn wir „persönlich" im Sinne von „subjektiv gegeben" und „objektiv unhintergehbar" auffassen. L e G o f f hat allerdings ein weitaus anspruchsvolleres Verständnis von „persönlichen" Denkinhalten, das der in Frankreich begriffsgeschichtlich nach wie vor wirkmächtigen Tradition des Cartesianismus verpflichtet ist. E r meint damit Inhalte unseres Denkens, die uns als solche bewußt sind und - vice versa - mit den „unpersönlichen" diejenigen, die uns normalerweise nicht als solche bewußt sind und deshalb auch entgehen. „[CJonscium esse est quidem cogitare et reflectere supra suam cogitationem", definiert Descartes. 4 1 Und unter Denken versteht er ein cogitare, in dessen Vollzug das Subjekt, die res cogitans, sich zugleich seiner selbst als eines cogitandum reflexiv bewußt ist: „Cogito, ergo sum." Die reflexive Brechung der cogitationes will Descartes durch die Denkbewegung des universalen Zweifels methodisch kontrollieren. E r „führt das zunächst an die Dinge der Welt verlorene Bewußtsein zum Selbstbewußtsein, das seines Seins absolut gewiß ist". 4 2 Allerdings versteht Descartes die reflexive Brechung unserer cogitationes allein in erkenntnistheoretischer Bedeutung und begründet sie auch in ausschließlich erkenntnistheoretischer Absicht; sie wäre im Sinne L e G o f f s als Vergewisserung der sozio- historischen Bestimmtheit unserer Denkinhalte zu spezifizieren. Unpersönlich sind - in den Worten Aunes - „contents as well as objects" unseres Denkens demnach dann, wenn sie keiner reflexiven Brechung unterzogen, d. h. nicht ihrerseits zu Objekten unseres
40 „First, of all the logically equivalent linguistic forms that may be used to describe either the object or the content of a man's thought, only one such form is in most cases strictly applicable. This suggests that thinking something about a particular subject generally involves conceiving of the subject under a certain name or description and attributing something to the subject according to a fairly specific form of attribution. T o the extent that the name or description and the attribution are expressible in certain specific words, it will not, in general, be true that an expression or description of the thought in some other words will be equally accurate. The force of this point may be put by saying that at least some thoughts are essentially conceptual, tied to a particular mode of conceiving of a thing or attribute, and felicitously expressed only in specific verbal forms" (Aune 1972, 100). 41 42
Zit.n. v. B o r m a n n u . a . 1972, 78. v. B o r m a n n u . a . 1972, 78.
. als methodologisches P r o b l e m
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Denkens werden, wenn sie uns deshalb nicht als Inhalte unseres Denkens bewußt werden und uns also auch nicht zum Bewußtsein unserer selbst als Denkende dieser so und so bestimmten Inhalte führen. Im Denken der unpersönlichen Inhalte sind wir an die Dinge der Welt verloren (das sei ohne jeden negativen Beiklang festgehalten), wissen wir uns nicht als - aus objektiven: sozialen, historischen Gründen - so und so Denkende. Genau das ist aber der Fall auf der Ebene „des Alltäglichen und des Automatischen", also alles dessen, was wir eingespielterund bewährterweise tun und deshalb auch nicht lebenspraktisch hinterfragen müssen; allenfalls der Soziologe oder Kulturwissenschaftler problematisiert diesen Bereich. Im Grunde hebt LeGoff auf Phänomene ab, die bereits der philosophische Historismus und die klassische Wissenssoziologie unter dem Begriff der Weltanschauung kannten. „Die Weltanschauungen", so Diltheys gegen den objektiven Idealismus gewendete Begründung kollektiver, den Lebenszusammenhang im ganzen betreffender Wissensbestände, „sind nicht Erzeugnisse des Denkens. Sie entstehen nicht aus dem bloßen Willen des Erkennens. Die Auffassung der Wirklichkeit ist ein wichtiges Moment in ihrer Gestaltung, aber doch nur eines. Aus dem Lebensverhalten, der Lebenserfahrung, der Struktur unserer psychischen Totalität gehen sie hervor. Die Erhebung des Lebens zum Bewußtsein in Wirklichkeitserkenntnis, Lebenswürdigung und Willensleistung ist die langsame und schwere Arbeit, welche die Menschheit in der Entwicklung der Lebensanschauungen geleistet hat." 4 3 Die Funktion von Weltanschauungen besteht laut Dilthey nicht darin, vermeintlich wahre Aussagen über eine subjektunabhängige Wirklichkeit zu treffen, sondern in ihrer dreifachen Leistung für die individuelle Lebensführung: „Erzeugung eines kohärenten, logisch widerspruchsfreien Weltbildes, Bereitstellung einer affektiv befriedigenden Wertung der Welt und Orientierung des Handelns". 4 4 Was nicht Dilthey, aber die Diltheys Lebenswerk der Weltanschauungsanalyse sachlich beerbende Wissenssoziologie 4 5 berücksichtigt: diese Funktion ist eine primär gesellschaftliche, insofern sie die Kohäsion des Sozialen leistet. Weltanschauungen vergemeinschaften diejenigen, die sie teilen, auf einer Ebene letztverbindlicher Weltbilder und Werte. Vermöge der Weltanschauungen ist es deshalb möglich, wie Peter Berger und Thomas Luckmann dargelegt haben, daß Menschen trotz individuell und grupDilthey 1960, 86. J u n g 1996, 185. 4 5 „ D e r H i s t o r i s m u s , vor allem wie er im W e r k von Wilhelm Dilthey zum A u s d r u c k k o m m t , war ein unmittelbarer V o r l ä u f e r der W i s s e n s s o z i o l o g i e " ( B e r g e r / L u c k m a n n 1977, 7). 43
44
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penspezifisch unterschiedlicher Sinnhorizonte (und Eigeninteressen!) gemeinwohlorientiert kooperieren. „Widersprüche etwa zwischen dem Rollensinn des Vetters und des Grundbesitzers können zwar ohne Beziehung auf einen verbindlichen Mythos beseitigt werden. Ist aber eine allgemeine mythische Weltanschauung gegeben, so kann sie direkt auf die Gegensätze im Alltagsleben wirken. Den Vetter von einem Stück Land zu vertreiben, ist dann nicht mehr nur unökonomisch oder unmoralisch. Das sind negative Bewertungen, die nicht bis in kosmische Dimensionen reichen müssen. Aber die Vetternvertreibung wird zur Verletzung der göttlichen Weltordnung, das ist entscheidend. Auf diese und ähnliche Weise ordnet und regelt die symbolische Sinnwelt [resp. die Weltanschauung - M.S.] Alltagsrollen, Prioritäten und Prozeduren und rechtfertigt sie zugleich. Sie weist ihnen ihren Ort zu sub specie mundi, das heißt, sie stellt sie in das umfassendste Bezugssystem, das vorstellbar ist." 46 Diltheys Fundierung der Weltanschauungen in den individuellen Lebensvollzügen der Menschen erlaubt nun den - wiederum über Dilthey wissenssoziologisch hinausgreifenden - Umkehrschluß, daß auch die Lebensvollzüge gleichsam weltanschauungsgesättigt sein müssen, daß also - in den Worten LeGoffs - die Ebene „des Alltäglichen und des Automatischen" die Geltung bestimmter lebensführungsrelevanter Weltanschauungen dokumentiert. „Fassen wir . . . die Weltanschauungstotalität als eine atheoretische, von der die Philosophie nur eine und nicht die einzige Bekundung ist", so schon Karl Mannheim in einem längeren Zitat aus seinen programmatischen Beiträgen zur Theorie der Weltanschauung·;- Interpretation von 1922, „dann gewinnen wir ein Doppeltes an Möglichkeiten und Arbeitsfeldern. Wir erlangen erstens die Möglichkeit, sämtliche Gebiete der Kultur der synthetischen Forschung zugänglich zu machen. Nicht nur wo theoretischer Inhalt sich ausspricht, sondern auch bildende Kunst, Musik, Trachten, Sitten, Gebräuche, Kulte, Lebenstempo und Gebärden gewinnen Sprache und verraten die Einheit, auf die es uns dabei ankommt. Es ergibt sich aber nicht nur eine Gebietserweiterung der synthetischen Forschung, sondern zweitens auch ein Eindringen in den Gegenstand nach einer neuen Richtung hin. Nicht nur auf das Inhaltliche hin, sondern vorzüglich der Form nach werden wir jene Kulturgebiete von nun an vergleichen können und dadurch das Gefühl haben, daß wir in die wesentliche ungewollte spontane Einheit auf diesem Wege viel tiefer eingehen, als wenn wir sie nur in jener Gebrochenheit erfassen können, die der rein theoretischen Bewußtheit des Inhaltlichen zumeist zu eigen ist." 47 Mannheim charakte46 47
Berger/Luckmann 1977, 106. Mannheim 1964, 98.
. als methodologisches Problem
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risiert die Weltanschauungstotalität durch Ganzheit und Einheit der kulturellen Gebiete: „sämtliche" kulturellen Phänomene sollen als D o kumente einer „ungewollte[n] spontane[n]" Synthese begriffen werden. 48 Vieles von dem, was er veranschaulichend nennt, zählt zum Alltäglichen im Sinne LeGoffs: Trachten, Sitten, Gebräuche, Lebenstempo, Gebärden. Daß dies alles eine Weltanschauung „ungewollt" und „spontan" dokumentieren soll, entspricht LeGoffs Begriff des Automatischen: nicht etwa bedienen wir uns handelnd bestimmter weltanschauungsgesättigter Symbole, sondern wir handeln symbolisch, d.h. wir erschließen unsere Lebenswirklichkeit vermittels dieser Symbole, und zwar zunächst und zumeist ohne uns intentione obliqua die Sättigung unseres Handelns durch eine bestimmte sich darin symbolisch dokumentierende Weltanschauung zu Bewußtsein zu bringen. „Es gibt eine unterirdische Kultur, die noch immer sinnhaft ist, eine Struktur hat, vom Strome abgehoben, im Daraufgerichtetsein intendierbar, sich gegenüberstellbar und . . . keineswegs als irrational zu bezeichnen ist. Erlebnisformen (um einige zu nennen, für die wir bereits Begriffe haben: Ressentiment, Melancholie, Acedia, fin-de-siecle-Stimmung, das Numinose von Otto usw.) gehören hierher; daß sie sinnhaft sind und nicht bloße unobjektivierte ,Erlebnisse', sondern vom Erlebnisstrom sich abhebende Sinneinheiten, beweist jener Umstand, daß sie ihre Kulturgeschichte haben" 49 - oder, mit LeGoff gesprochen: ihre Mentalitätsgeschichte.
48 „Dokument" wird hier verstanden im Sinne von Mannheims Konzeptualisierung kultureller Phänomene als Sinngebilde, die einen objektiven Sinn, einen intendierten Ausdruckssinn und einen Dokumentsinn haben. Kulturgebilde werden Mannheim zufolge nicht verstanden, „wenn wir nur auf jene ,Sinnschicht' eingehen, die uns rein als ,sie selbst', als objektiver Sinn vorschwebt, wir müssen das Gebilde außerdem als Ausdruck und D o k u m e n t nehmen können . . ( e b d . , 104). Beim Ausdruckssinn ist dem Interpreten die Aufgabe gestellt, „ihn als solchen und in derselben Weise zu erfassen, wie er von dem ihn ausdrückenden Subjekt gemeint, im bewußtseinsmäßigen Daraufgerichtetsein intendiert war" (ebd., 107). Davon unterschieden ist der Dokumentsinn, über den der Schöpfer eines Sinngebildes nicht (wie über den Ausdruckssinn) subjektiv verfügt. „In dieser dritten Art des ,es dokumentiert sich' ist uns aber jene Einheit, die wir , Geist' nennen, gegeben; und die Elemente, aus denen die Weltanschauungstotalität eines individuellen Schöpfers oder eines Zeitalters aufgebaut werden muß, treten uns in genau derselben Gegebenheitsweise gegenüber" (ebd., 109). Dokumentarische Interpretationen „bauen also aus den in den zusammengehörigen Kulturobjektivationen zerstreuten dokumentarischen Momenten neuartige Totalitäten auf, die wir dann als ,Kunstwollen' (Riegl), ,Wirtschaftsgesinnung' (Sombart), ,Weltanschauung' (u. a. Dilthey), ,Geist' (u. a. Max Weber) je nach den in ihnen enthaltenen Verschiedenheiten benennen können" (ebd., 123). Auch Mannheim verwendet den Begriff ,Dokumentsinn' gelegentlich synonym mit ,Weltanschauungssinn' (ebd., 132). 49
Ebd., 132 f.
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Die Geschichte der unterirdischen Kultur ist aber keineswegs bloß die der Prägung des Alltagslebens durch die ideellen Gehalte der Hochkultur, sondern für Mannheim sind beide Dokumente einer Weltanschauung als prote hyle des gesamten kulturellen Lebens 50 - sein Rückgriff auf den aristotelischen Begriff soll wohl insinuieren, die Weltanschauung sei gleichsam der Nährboden des sich historisch-gesellschaftlich besondernden Kulturschaffens. So ließe sich eben auch ein philosophisches System als Dokument einer Weltanschauung decouvrieren, die in der Spezifik des System denkens wirksam wurde, ohne daß der Autor ihren Ausdruck intendiert hätte. 51 Und in eben diesem Sinne soll die wissenssoziologische Forschung Mannheim zufolge die soziale Genese von Weltanschauungen erfassen, die sich ihrerseits in verschiedenen ideellen Gebilden einer bestimmten historisch-gesellschaftlichen Epoche manifestieren. Was etwa, so fragt er, ist die gemeinsame Weltanschauung, die dem „romantischen Denken" und dem „konservativen Weltwollen" zugrundeliegt, und in welchen sozialen Interessenlagen ist sie verankert? 52 Mannheim untersucht also primär die soziale Genese ideeller Gebilde, nicht aber deren „Materialisierung" im Alltagshandeln. Das ist denn auch von der neueren, phänomenologisch orientierten Wissenssoziologie beanstandet worden, die sich der Erforschung impliziter Wissensbestände widmet, also all derer, die nicht die Weihen philosophisch oder wissenschaftlich ausartikulierter Systematik
50
Ebd., 99. Darin besteht eine Pointe materialistischer Ideologiekritik - avant la lettre - seit den Sophisten: das Denken der Mitglieder einer sozialen G r u p p e oder Klasse seiner gesellschaftlichen Konstitutionsbedingungen zu überführen, die in diesem Denken nicht mitgedacht oder sogar rationalisierend verdrängt werden. Mannheim erweist gerade dieser Pointe seine Reverenz - seiner Meinung nach der „wahre[] Kern der marxistischen Geschichtsphilosophie" (Mannheim 1964, 378). D a ß dieses Denken wiederum handlungsbestimmend werden und die gesellschaftlichen Konstitutionsbedingungen ideeller Formationen ihrerseits verändern kann, gehört zur Metakritik einer Ideologiekritik, f ü r die - in vulgärmarxistischer Denkweise - Uberbauphänomene in monokausaler Verkürzung den ökonomischen Strukturen der Basis abkünftig sind. Wenigstens zwei prominente Autoren seien genannt, die dieses Vorurteil an jeweils unterschiedlichen historischen Formationen überprüfen und empirisch widerlegen konnten: Max Webers religionssoziologische Aufsätze z u r protestantischen Ethik und zur Wirtschaftsethik der Weltreligionen haben gezeigt, d a ß sich „jene [die protestantischen - M.S.] religiösen Gedankeninhalte nun einmal schlechterdings nicht ,ökonomisch' deduzieren [lassen], sie sind . . . ihrerseits die mächtigsten plastischen Elemente der , Volkscharaktere' und tragen ihre Eigengesetzlichkeit und zwingende M a c h t auch rein in sich" (Weber 1988, 192, Anm. 1; Hervorhebung im Original). „Geisteshaltungen", so auch das Resultat von Dubys Wirtschaftsgeschichte des Hochmittelalters Krieger und Bauern, „ . . . sind ebenso determinierend wie die P r o d u k t i o n s f a k t o r e n " einer gegebenen historischen Epoche (Duby 1986, 64). 51
52
Mannheim 1964, 380.
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erworben haben und trotzdem oder gerade deswegen handlungsleitend sind. 53 Einen Klärungsfortschritt leistet in diesem Zusammenhang der Begriff sozialer Deutungsmuster, den Ulrich Oevermann vor fast 30 Jahren untergründig - nämlich in Form eines zwar unveröffentlichten, aber weithin kursierenden Manuskriptes - in die soziologische Forschung eingeführt hat; 54 ausgehend von Oevermanns Überlegungen ist die Deutungsmusterforschung in der empirischen Soziologie mittlerweile fest etabliert. 55 Dem Deutungsmusterbegriff gelingt es, den Ansatz der klassischen Wissenssoziologie bei den großen geschichtsmächtigen Ideologien und Ideologemen mit dem der Sozialphänomenologie beim impliziten Wissen, das - wie Berger und Luckmann etwas nebulös formulieren - den „Mann auf der Straße" durch den Alltag führt, zu synthetisieren. Aber während die Sozialphänomenologie die Entstehung komplexer Symbolsysteme von den alltagspraktischen Lebensvollzügen her entwickelt - eben denjenigen des „Manns auf der Straße" - , so analysiert Oevermann umgekehrt diese - sofern sie dokumentiert und somit zum Gegenstand methodisch kontrollierter Erschließungsleistungen geworden sind - als Manifestationen sowohl handlungsbezogen wie handlungsförmig internalisierter Symbolsysteme. Deren Bezeichnung als soziale Deutungsmuster verweist darauf, daß sie erstens Deutungen implizieren, durch die Menschen die Wirklichkeit lebensführungsrelevant interpretieren; daß sie zweitens Muster sind, welche diese Deutungen als token eines type enthalten; und daß sie schließlich drittens sowohl den individuellen Deutungsvollzügen sozial vorgegeben sind als auch in dem durch diese Deutungsvollzüge so und so disponierten individuellen Handeln sozial wirksam werden. 56 Klärungsbedürftig ist demnach ei-
53 So war das Leistungsvermögen der klassischen Wissenssoziologie Berger und Luckmann zufolge durch ihren ideengeschichtlichen Ansatz beschränkt. „Die Wissenssoziologie muß sich mit allem beschäftigen, was in der Gesellschaft als, Wissen'gilt. Sobald man an dieser Ausgangsthese festhält, wird man gewahr, wie unglücklich der geistesgeschichtliche Zugang gewählt ist - mindestens dann, wenn er ins Zentrum zu führen glaubt. Theoretische Gedanken, ,Ideen', Weltanschauungen, sind so wichtig nicht in der Gesellschaft. Obwohl auch diese Phänomene in sie hineingehören, sind sie doch nur ein Teil dessen, was ,Wissen' ist." Deshalb: „Allerweltswissen, nicht ,Ideen' gebührt das Hauptinteresse der Wissensoziologie, denn dieses ,Wissen' eben bildet die Bedeutungs- und Sinnstruktur, ohne die es keine menschliche Gesellschaft gibt" (Berger/ Luckmann 1977, 16). 54
Oevermann 1973. Vgl. Neuendorff/ Säbel 1978; Thomssen 1980; Arnold 1983; Meuser/ Sackmann 1992. Zur Bedeutung des Deutungsmusterkonzeptes in Oevermanns Theoriearchitektonik: Matthiesen 1994; Sutter 1997. 56 Oevermanns Theorie sozialer Deutungsmuster ist nicht konkurrenzlos in den Erfahrungswissenschaften. Den gleichen Forschungsgegenstand haben etwa so verschiedene Theorieansätze wie Luhmanns historische Semantik (vgl. Luhmann 1980, 19), Goffmans 55
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nerseits der genaue Sinn des Enthaltenseins von Deutungen in D e u tungsmustern und andererseits, wie diese vorgegeben sind und wirksam werden können. Entscheidend für das Deutungsmusterkonzept Oevermannscher Provenienz ist die Unterscheidung zwischen vier Strukturebenen: erstens den Deutungsmustern als solchen, zweitens den diesen Deutungsmustern zuzuordnenden vielfältigen Deutungen entweder von Ausschnitten oder der Gesamtheit der historisch-gesellschaftlichen Wirklichkeit, drittens den in solchen Deutungen fundierten Einstellungsmustern der handelnden Individuen und Gruppen sowie viertens den spezifischen individuellen Einstellungen in konkreten Handlungssituationen der jeweiligen Aktoren. Deutungsmuster schlagen nicht unmittelbar auf die Handlungsebene durch, sondern sind mit dieser zwiefach, über das sozial vorgegebene Deutungsrepertoire und die Einstellungsmuster der Aktoren, vermittelt. 57 Die Unterscheidung der vier Strukturebenen ist zunächst einmal forschungslogisch motiviert. Denn „die soziologische Analyse kann Deutungsmuster weitgehend nur empirisch auf der Ebene individueller Einstellungen erfassen. Sie behandelt sie jedoch als Derivate von Deutungsmustern, die als ,faits sociaux' den Handlungssubjekten objektiv gegenübertreten. Diese ,faits sociaux' werden empirisch zwar aus der Gleichförmigkeit individuell-konkreter Meinungen und Einstellungen [den Einstellungsmustern - M.S.] er-
Rahmenanalyse oder Bourdieus Habituskonzept. Auf die Gemeinsamkeiten zwischen Oevermann, G o f f m a n , Bourdieu und der mentalitätsgeschichtlichen Forschung verweist Willems 1997, 270 ff. Entscheidend sind letztlich wohl doch die Differenzen. Zwangsläufig vereinfachend kann man vielleicht sagen, d a ß Luhmanns Begriff der historischen Semantik über der Bedeutung semantischer Regelsysteme sowohl den Handlungscharakter der Sprache wie die Sinnstrukturiertheit des nichtsprachlichen Handelns vernachlässigt, Bourdieus Habitusbegriff umgekehrt über der Sinnstrukturiertheit der Handelns die Logik der semantischen Sinnverarbeitungsregeln. Vgl. zu Oevermann und Bourdieu unten, Teil IV, Anm.91. 57 Die Unterscheidung zwischen den vier Strukturebenen, die der Deutungsmusterbegriff impliziert, wird von Oevermann zwar nicht definitorisch festgehalten, ist seinen Ausführungen aber sinngemäß zu entnehmen. So heißt es einmal: „[F]ür die soziologische Analyse ist entscheidend, . . . die ,innere Logik', d . h . die konkrete Einstellungen und Erwartungen erzeugenden, die historische Identität von gleichsam epochalen Deutungsmustern ausmachenden Interpretationen zu rekonstruieren" (Oevermann 1973, 9). Oevermann unterscheidet hier also zwischen Deutungsmustern, Interpretationen, d . h . diesen Deutungsmustern entsprechenden Deutungen, und konkreten Einstellungen. An anderer Stelle wiederum liest man, daß [individuelle Einstellungen, Erwartungen und Glaubensvorstellungen . . . Konkretionen der sozialen Deutungsmuster dar[stellen] (ebd., 10). Und die „systematische Gleichförmigkeit von individuellen Einstellungen" bezeichnet er dann auch als ,Einstellungsmuster' (ebd.). Das Verhältnis zwischen Einstellungsmustern und Einstellungen wird von ihm offensichtlich als analog zu demjenigen zwischen Deutungsmustern und Deutungen gedacht.
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schlossen, aber als erschlossene Tatsachen erklären sie dann diese Einstellungen." 58 Der methodisch kontrolliert zugängliche Gegenstand einer empirisch verfahrenden Wissenssoziologie sind mithin nicht soziale Deutungsmuster als solche, sondern zunächst nur Ausdrucksgestalten von Handlungen, die im sinnverstehenden Zugang als Manifestationen grundlegender Handlungseinstellungen bzw. - dispositionen interpretiert werden können. Von der Gleichförmigkeit der empirisch aufgewiesenen Handlungseinstellungen kann dann logisch - nämlich induktiv auf ihnen zugrundeliegende Einstellungsmuster geschlossen werden. Diese wiederum sind interpretierbar als Internalisierungen von Wirklichkeitsdeutungen, die dem Handlungssubjekt vorgegeben und durch soziale Institutionen vermittelt sind. Deshalb auch erklären die aus den Einstellungsmustern erschlossenen Deutungen ihrerseits die Einstellungsmuster bzw. die konkreten Einstellungen der Aktoren, welche bestimmten Einstellungsmustern zugeordnet werden können: Ich handele in einer gegebenen Situation so und so, weil in meinem Handeln eine bestimmte Deutung von Situationen dieses Typs leitend geworden ist. Die Begriffe Deutungsmuster und Einstellungsmuster bzw. Deutung und Einstellung haben mithin die gleiche Extension, unterscheiden sich aber intensional: Einstellungsmuster bedeuten Deutungsmuster sub specie ihrer handlungsbezogenen und handlungsförmigen Internalisierung durch einzelne lebensweltlich situierte Aktoren. Dabei ist es begrifflich (wenn auch nicht praktisch) völlig unerheblich, ob ich mir der Leitung meines Handelns durch eine bestimmte Situationsdeutung subjektiv bewußt bin, oder ob ich dieser Deutung durch mein Handeln (nur) unwillkürlich und unbewußt entspreche - letzteres wäre wieder ein Fall für das Alltägliche und Automatische im Sinne LeGoffs. Folgendes bei Max Weber aufgegriffenes Beispiel mag verdeutlichen, worum es hier geht: 59 Wenn ich ein Fabrikant puritanischer Herkunft wäre, dem der Hausarzt empfiehlt, zur Behebung seiner Verdauungsbeschwerden jeden Morgen frische Austern zu essen, und ich mich dieser Behandlung nun strikt aus dem Grund widersetzte, der morgendliche Erwerb von Meeresfrüchten sei an Arbeitstagen zu aufwendig, dann würde ich möglicherweise so denken, ohne ein Bewußtsein davon zu haben, daß ich damit in den Stiefeln meiner frommen Eltern stecke, die jede Art der kreaturvergötternden Sinnlichkeit - wie es der allmorgendliche Verzehr frischer Austern nun einmal ist - perhorreszierten. Und es wäre möglich, daß ich - immer noch als Fabrikant - bei dem Geringsten 58
Oevermann 1973, 11. Weber 1988, 189, Anm.3. Den Hinweis auf die plastische Anschaulichkeit dieses in einer unscheinbaren Fußnote versteckten Beispiels für die Grundprobleme der Wissenssoziologie verdanke ich Ulrich Oevermann. 59
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meiner - selbstverständlich auch unter konfessionellen Gesichtspunkten angestellten - Arbeiter auf den gleichen Widerstand träfe, wenn ich ihm als fürsorglicher Patriarch empfehlen würde, mit dem ihm eigens für diesen Zweck auszuzahlenden „Austerngroschen" seine den meinigen ähnlichen Verdauungsbeschwerden in der gleichen Weise zu kurieren. Auch der Arbeiter würde sich sträuben, ohne sich darüber Gedanken zu machen, daß er es tut und warum er es tut. Er würde eben so handeln. Aber möglicherweise gäbe er auch den gleichen Grund vor, den ich gegen meinen Hausarzt angeführt habe. Und sehr wahrscheinlich würde ich ihm aus dem nämlichen Grund, der mich vom Verzehr der Austern abhielte, den Ratschlag von vornherein vorenthalten. Was liegt dem Soziologen hier vor? Zunächst ein bestimmtes Verhalten, eine Unterlassung, nämlich die, trotz des eindringlichen ärztlichen Rates keine Austern zu essen. Der Soziologe würde diese Unterlassung als Ausdrucksgestalt einer Einstellung interpretieren, die ihrerseits auf ein Einstellungsmuster verweist, nämlich den grundsätzlichen Verzicht auf, gemessen an der Logik unternehmerischen Handelns, arbeitseffizienzvermindernde Alltagshandlungen, sei es nun das Verzehren von Austern, die Lektüre des Feuilletons oder vielleicht auch die Naßrasur. Und dann würde der Soziologe in diesem Einstellungsmuster das Ergebnis der Internalisierung einer sozial vorgegebenen, nämlich über die Sozialisationsinstanz der Familie vermittelten Wirklichkeitsdeutung erkennen, die besagt, daß Naßrasuren, der Genuß von Austern und die Lektüre des Feuilletons letztlich nur der Hege und Pflege kreatürlicher Zufriedenheit dienen, daß der einzelne Mensch sich damit narzisstisch selbst feiere und mithin in frivoler Selbstbezogenheit anstatt für die Bewährung an einer Aufgabe lebe. Weiterhin würde der Soziologe in dieser Deutung ein Muster am Werk sehen, das sich auch in anderen Wirklichkeitsdeutungen puritanischer Fabrikanten manifestiert und demzufolge solche Handlungen verwerflich sind, die den Menschen von der unbedingten, leistungsethisch meßbaren Hingabe an seine Bestimmung abhalten, über die er nicht selbst verfügen kann wie es ihm beliebt; ferner, daß diese ihn erst zu dem macht, was er im vollgültigen Sinne seines Selbstverständnisses als eigenständiger Mensch ist und zu sein hat. Und schließlich würde dem Soziologen sicher auch die Inkompatibilität einzelner Deutungen innerhalb des - im Falle des geschilderten Fabrikantenfalles - (säkularisierten) puritanischen Deutungsmusters auffallen. Denn die Bewährung des Fabrikanten an seiner Bestimmung, ein guter Unternehmer zu sein, erzwingt im Rahmen der puritanischen Wirklichkeitsdeutungen die Kreaturverdammung ebenso wie das Gebot der Arbeitseffizienz. Diese aber wird ja gerade dann abnehmen, wenn der Fabrikant asketischerweise den ärztlichen Rat ausschlägt, auf die Austernkur verzichtet und die Vergrößerung seiner Beschwerden bis
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zur vorübergehenden oder vollständigen Arbeitsunfähigkeit in Kauf nimmt. Das puritanische Deutungsmuster zwingt mithin zu einer widersprüchlichen Handlungsstrukturierung, nämlich zugleich zur Erschöpfung persönlicher Ressourcen und zu einer Arbeitsleistung, die den Erhalt dieser Ressourcen voraussetzt. Allgemein gesagt: Die von einem Deutungsmuster umfaßten und implizierten einzelnen Interpretationen sind - auch nach den Deutungsmustern immanenten Kriterien der Geltung - nie voll kompatibel. 60 Das Beispiel verdeutlicht erstens: Deutungsmuster sind „in sich nach allgemeinen Konsistenzregeln strukturierte Argumentationszusammenhänge" mit „je eigene[r] Logik", „je eigenen Kriterien der ,Vernünftigkeit' und , Gültigkeit', denen ein systematisches Urteil über ,Abweichung' korreliert" 61 - im Falle unseres Beispiels wäre ein solcher Argumentationszusammenhang die puritanische Leistungsethik; zweitens: sie umfassen einen Korpus systematisch, nämlich innerhalb des besagten Argumentationszusammenhangs aufeinander bezogener Handlungsregeln, 62 und zwar im Sinne von Maximen des Handelns, denen das Handlungssubjekt de facto folgt; 63 drittens: das Kriterium für die Existenz dieser Handlungsregeln ist nicht, daß der Aktor sie explizit angeben kann. Entscheidend ist vielmehr, daß er „aufgrund der das Handeln steuernden Regel ein systematisches Urteil über die Angemessenheit eines konkreten Handelns abgeben kann" 64 - ein solches Angemessenheitsurteil läge zum Beispiel der Entscheidung des puritanischen Fabrikanten zugrunde, auf den morgendlichen Austernverzehr zu verzichten, wobei ihm die wahren Gründe dieses Verzichtes - seine Prägung durch ein puritanisch-asketisches Elternhaus - subjektiv verborgen bleiben und er aufrichtigerweise ganz andere Gründe gegenüber Dritten vorgibt; 65 schließlich viertens: diese Regeln „haben einen generativen Charakter", d. h. sie „erzeugen . . . Verhalten, das dem Handlungssubjekt zuvor nicht bekannt war". 66 Aber im Unterschied zu den
60
Oevermann 1973, 12. E b d , 3. 62 Vgl. ebd., 4 ff. Neuendorff, dessen Deutungsmusterkonzept auf Oevermann fußt, spricht hier von „Interpretationsregeln", meint aber - wenn ich Recht sehe - dasselbe, nämlich Regeln der handlungsleitenden Deutung und insofern (hermeneutische) Handlungsregeln (Neuendorff/ Säbel 1978, 842). 63 Oevermann 1973, 6. 64 Ebd. 65 Daraus folgt aber nicht, wie Arnold insinuiert (Arnold 1983, 904), daß Deutungsmuster identisch sind mit den latenten Sinnstrukturen einer Ausdrucksgestalt. Latente Sinnstrukturen umfassen mehr als die von Deutungsmustern generierten Regeln der Handlungsführung. Vgl. Oevermann 1993, 112-130. 66 Oevermann 1973, 8. 61
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Regelsystemen der Linguistik und den logischen Strukturen auf den Stufen der Ontogenese und der kognitiven Entwicklung, so Oevermann, „handelt es sich hier jedoch nicht um erkenntnis-anthropologisch universelle Strukturen, sondern um historisch wandelbare, je a n fertige' Systeme". 67 Der Wandel dieser Systeme ist wesentlich durch zwei Faktoren bedingt: zum einen durch die nicht vollständige Kompatibilität der von einem Deutungsmuster umfaßten Interpretationen, und das auch nur dann, wenn es „aus irgendwelchen Gründen zu einer gleichzeitigen Thematisierung unvereinbarer Elemente einer Deutungsstruktur kommt", 68 die zu deren Revision zwingt; zum anderen dadurch, daß „[s]oziale Deutungsmuster funktional immer auf eine Systematik von objektiven Handlungsproblemen bezogen [sind]", die der Deutung bedürfen, 6 9 wobei „neue Handlungsprobleme gerade durch die Veränderung der sozialen Deutung der [physikalischen und sozialen - M.S.] Umweltbedingungen erzeugt werden". 70 Wilke Thomssen hat den Deutungsmusterbegriff als „eine Kategorie der Analyse von gesellschaftlichem Bewusstsein" bezeichnet, 71 wobei er unter gesellschaftlichem Bewußtsein das „herrschendef]" Bewußtsein der Gesellschaft versteht. 72 Das ist ein konventionalisierter und gerade deswegen gefährlicher Ausdruck, denn er hypostasiert eine Eigenschaft (Bewußtsein), von der gilt, daß nur Menschen sie haben können, indem er sie einem abstrakten sozialen Gebilde (eben der Gesellschaft) zuschreibt. Darüber hinaus verleitet er dazu, Bewußtsein auf dessen Inhalte zu reduzieren: unter einem „herrschenden" Bewußtsein stellen wir uns eben zumeist die das Bewußtsein beherrschenden Inhalte vor. Diese doppelte sprachliche Ungenauigkeit verschleift die Formulierung des Erklärungsproblems. Denn gäbe es tatsächlich ein herrschendes Bewußtsein der Gesellschaft („Gesellschaft" wiederum im Sinne des genetivus subjectivus), dann wäre nicht ersichtlich, welche Fraglichkeit das Deutungsmusterkonzept überhaupt aufzuklären hätte; man müßte gesellschaftliche Bewußtseinsinhalte ebenso identifizieren können wie nur jeden individuellen. Es gibt aber eine Fraglichkeit, und die besteht genau darin, wie es zur relativen Gleichförmigkeit individueller Bewußt-
67
Ebd., 9. Ebd., 13. 69 Ebd., 3. 70 Ebd., 4. 71 So der Titel eines Aufsatzes: T h o m s s e n 1980, 358. 72 Deutungsmuster, so lesen wir, seien „gleichsam Bestandtteile des herrschenden Bewusstseins" (ebd., 360). Ferner behauptet er in Anlehnung an N e u e n d o r f f eine relative Autonomie des Bewußtseins (ebd., 359). Gemeint ist w o h l wieder das gesellschaftliche Bewußtsein. Bei N e u e n d o r f f ist freilich von der „relativen Autonomie der Deutungsmuster [Hervorhebung v. mir - M.S.]" die Rede ( N e u e n d o r f f / Säbel 1978, 842). 68
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seinsinhalte von Angehörigen einer bestimmten historischen Gesellschaftsformation kommen kann. Natürlich denkt nicht jeder dasselbe, sondern - so wie Prätorius, Nicolai, Arndt, Spener, Gerhardt und Tersteegen - möglicherweise über manches das gleiche, über anderes Ähnliches, vor allem: Verschiedenes in ähnlicher Weise. Wittgensteins Begriff der Familienähnlichkeit kann das sehr gut beschreiben. Die diesbezüglich erschließende Kraft des Deutungsmusterbegriffs Oevermannscher Provenienz liegt in der Konzeptualisierung von Wirklichkeitsdeutungen als einem Fall regelgeleiteten Handelns. Nun vollziehen sich Deutungen Oevermann zufolge entweder sprachlich oder in sprachanalogen, weil in ihrer Bedeutung grundsätzlich propositional explizierbaren Ausdrucksmedien, denn das ist ja die logische Konsequenz daraus, Deutungsmuster als „nach allgemeinen Konsistenzregeln strukturierte Argumentationszusammenhänge" zu konzeptualisieren. 7 3 Andererseits sind sie uns empirisch nur zugänglich, insofern sie zu textförmigen, also gegenständlich vorliegenden und insofern methodisch kontrolliert erschließbaren Ausdrucksgestalten geronnen sind. 7 4 D i e These, daß unsere Wirklichkeitsdeutungen Regeln folgen, setzt mithin die grundlagentheoretischen Erkenntnisse der Linguisik und der analytischen Philosophie über den Handlungscharakter der Sprache voraus. 7 5
73 Oevermann orientiert sich hier offensichtlich an dem in der Sprachanalytik formulierten Prinzip der Ausdrückbarkeit: „The principle that whatever can be meant can be said . . . " (Searle 1969, 19ff). D e r implizite Begriffsrealismus dieser These, derzufolge auch nichtsprachliche Sinngebilde wie in der Musik oder der Malerei intern begrifflich strukturiert sind und infolgedessen ihr Bedeutungsgehalt auch grundsätzlich propositionalisierbar ist, kann kaum als unbestritten gelten. Gewichtige Schützenhilfe leistet hier allerdings seit einigen J a h r e n Robert Brandoms umfassende Fundierung unseres gattungsspezifischen Weltbezugs in den intern komplementären Theorien einer normativen Pragmatik und einer inferentiellen Semantik. Vgl. Brandom 1998, darin die ersten beiden Kapitel. Dagegen vertritt Matthias Vogel in dieser Debatte ein medial auf sprachliches Verstehen irreduzibles Konzept intentionaler Zustände (vgl. Vogel 2001, v. a. Teil 4). Von Vogel aus ließe sich der umfassende Anspruch, den Oevermann mit seiner Theorieskizze sozialer Deutungsmuster verbindet, nicht halten. Eine systematisch begründete Stellungnahme in dieser Kontroverse kann hier leider nicht geleistet werden. Das ist hoffentlich insofern verschmerzbar, als Oevermanns Deutungsmusterbegriff erstens lediglich heuristisch und zweitens ohnehin nur zur Erschließung des sozialen Sinns von sprachlichen Gebilden verwendet wird. Ich widerstehe also der ebenso verlockenden wie überfordernden Versuchung, auch noch systematische Probleme einer Theorie des Geistes erörtern zu wollen. 74
Oevermann 1991, 303. Denn alles nur Gesprochene oder gestisch Bedeutete ist im Augenblick seines Ausdrucks schon vergangen und f ü r eine intersubjektiv überprüfbare Erschließung unrettbar verloren. Zur methodologischen Relevanz der Textförmigkeit des hermeneutischen Untersuchungsgegenstandes vgl. Oevermann 1991, 302ff; 1993, 119 ff. 75 Vgl. vor allem Austin 1962; Searle 1969.
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Wir tun etwas in der Welt, wenn wir sprechen. Wir bilden nicht nur (wenn überhaupt) in handlungsindifferenter Weise die Wirklichkeit ab, sondern sprachlich verhalten wir uns nach geltenden semantischen Regeln zu dieser Wirklichkeit, und zwar wissentlich und willentlich so, daß wir andere veranlassen, unsere Absichten in für uns wiederum handlungsrelevanter Weise zur Kenntnis zu nehmen. „The form this hypothesis will take is" - so John Searle - „that the semantic structure of a language may be regarded as a conventional realization of a series of sets of underlying constitutive rules, and that speech acts are acts characteristically performed by uttering expressions in accordance with these sets of constitutive rules." 76 Searle unterscheidet konstitutive von regulativen Regeln. Konstitutiv sind solche, die eine Tätigkeit begründen und ermöglichen, anstatt sie wie die regulativen erst nachträglich zu bestimmen. So beruht beispielsweise Fußball auf konstitutiven, die Teilnahme am Straßenverkehr dagegen auf regulativen Regeln. Und Sprachhandlungen wie das Versprechen, Behaupten, Bekennen, Rechtfertigen u.s.w. gründen wie die Handlungen in einem Spiel - ob Fußball, Monopoly oder Schach - auf Regeln, welche das entsprechende Verhalten des Aktors überhaupt erst als Handlung bestimmbar machen. „Etwas versprechen" heißt soviel wie „eine Verpflichtung eingehen", und die Regel lautet hier, daß ich durch die Sprachhandlung des Versprechens mich auf den Aussagegehalt meines Versprechens verbindlich festlege. Diese Regel ist der Sprachhandlung konstitutiv, denn im Gegensatz zu Tätigkeiten, die lediglich reguliert werden, aber grundsätzlich auch ohne jede Regel getan werden könnten, gäbe es das Versprechen als Sprachhandlung ohne die ihr zugrundeliegende Regel nicht. Die Leistungsfähigkeit des Deutungsmusterbegriffs muß nun daran bemessen werden, ob er sich empirisch anwenden läßt auf die Analyse von sprachlichen Handlungen, und zwar so, daß diese bestimmbar werden - in den Worten Hartmut Neuendorffs - als Objektivationen „performanzbestimmende[r] Regelsysteme, nach denen Subjekte Äußerungen generieren". 77 Diese Regelsysteme wären indessen nicht identisch mit den „sets o f . . . constitutive rules", die Searle untersucht, würden sie aber zwingend voraussetzen. Die von Neuendorff im Sinne Oevermanns unterstellten Regelsysteme umfassen solche Regeln, welche die Sprachhandlungen, von denen Searle handelt, intensional spezifizieren. Das Bekennen beruht wie das Versprechen auf konstitutiven Regeln. Aber in der Sprachpraxis kommt diese Sprachhandlung niemals allgemein vor, sondern immer nur in ihrer jeweiligen kulturgeschichtlichen Besonde-
76 77
Searle 1969, 37. Neuendorff 1979, 8.
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rung. Was heißt es, puritanisch, pietistisch oder katholisch zu bekennen? Diese Fragen zielen auf die von Oevermann und Neuendorff anvisierten Regelsysteme. Sie würden es den Aktoren ermöglichen, Ausdrücke des Typus Ρ als Artikulationen von Sprachhandlungen des Typus χ zu erzeugen. Den jeweiligen Regeln dieser Regelsysteme zu folgen hieße, auf der Basis von intuitiven Angemessenheitsurteilen χ durch Ρ zu artikulieren. Diese Urteile beruhten auf dem historisch veränderlichen Verstehenshorizont der Lebenswelten, in denen jeweils gesprochen wird. Demnach würde es als wenigstens unüblich, möglicherweise inakzeptabel oder schließlich schlicht unverständlich auffallen, wenn der Angehörige einer bestimmten Lebenswelt χ nicht durch Ρ artikulierte, sondern durch P'. Und Ρ würde ihm wahrscheinlich als geeignetes Artikulationsmedium angesonnen, etwa in Äußerungen des folgenden Typs: „x ε Ρ, ist es nicht so ?" In vielen Fällen würde die hartnäckige Verwendung von P' auf mehr oder minder ausdrückliche Weise sozial sanktioniert werden, um den Sprecher zur Integration in die Sprachgemeinschaft zu ermahnen oder seine Aussichtslosigkeit, ihr jemals anzugehören, zu betonen. Nun erschließt sich auch der genaue Sinn sowohl des Enthaltenseins von Deutungen in Deutungsmustern wie deren sozialer Vorgegebenheit und Wirksamkeit, die sich uns ja als erklärungsbedürftige Implikationen des Deutungsmusterbegriffes erwiesen hatten. Das Verhältnis zwischen sozialen Deutungsmustern und den diesen Deutungsmustern zugehörigen Deutungen der physikalischen und sozialen Umwelt des Menschen entspricht dem Verhältnis zwischen Begriffen und Prädikaten. 78 Wie Deutungsmuster nur aus Deutungen erschlossen werden können, so gewinnen wir Begriffe durch die logische Operation der Abstraktion aus Prädikaten. Sie treten dann als intensionale Bedeutungen der Prädikate auf, wenn sie deren Gebrauch durch Regeln bestimmen. „Endlich viele Regeln über endlich vielen exemplarisch eingeführten Prädikaten bilden ein Regelsystem, das es z.B. auch erlaubt, für zwei Prädikate eine Äquivalenz zu definieren. Zwei Prädikate Ρ und Q sind in bezug auf ein Regelsystem R äquivalent (intensional äquivalent oder synonym), wenn die Regeln einen Ubergang von Aussagen der Form ,χ ε Ρ' zu Aussagen der Form ,χ ε Q' zulassen und umgekehrt, oder anders ausgedrückt: wenn sowohl Ρ aus Q als auch Q aus Ρ in R ableitbar ist (ΡΉ" r Q). Anstelle von ,P und Q sind äquivalent (genauer R- äquivalent)' aber läßt sich sagen ,P und Q stellen denselben Begriff dar', womit auch die gebrauchssprachliche Wendung ,P und Q bedeuten densel78
Mit dieser Unterscheidung zwischen „Begriff" und „Prädikat" und der Konzeptualisierung von Begriffen als logisch-semantischen Regelsystemen folge ich Jürgen Mittelstraß und der logischen Schule von Wilhelm Kamiah und Paul Lorenzen.
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ben Begriff gerechtfertigt ist." 79 Begriffe sind demnach logische Systeme, die den Gebrauch von Prädikaten regeln. Und so wie wir durch den regelgeleiteten Gebrauch von Prädikaten die Welt interpretieren, so interpretieren wir sie - auf einem komplexen Aggregationsniveau von Begriffen - durch Deutungen, deren angemessene Applikation auf die Wirklichkeit ihrerseits regelgeleitet ist. Deutungsmuster sind Systeme, die den internen Zusammenhang von Deutungen und ihre Applikation auf Ausschnitte oder die Gesamtheit der Wirklichkeit regeln. Das „Enthaltensein" von Deutungen in Deutungsmustern ist daher eine unpräzise Metapher. Das Verhältnis zwischen beiden ist nämlich gar nicht umfangslogisch bestimmbar, denn Deutungsmuster sind nichts anderes als die durch begriffliche Abstraktion explizierbare Logik des in individuellen Einstellungen und einstellungsbedingten Handlungen fundierten Deutungszusammenhanges selbst. Es gibt - wie Wittgenstein anhand der Logik des Schachspiels einsichtig dargelegt hat - keine Geltungsweise von Handlungsregeln jenseits ihrer allgemeinen praktischen Befolgung. 80 Und so gibt es auch keine Geltungsweise von Deutungsmustern jenseits des Zusammenhanges, der in den alltagspraktischen Deutungsvollzügen der lebensweltlich situierten Individuen besteht. Daraus ergibt sich ganz zwanglos der Sinn der sozialen Vorgegebenheit und Wirksamkeit von Deutungsmustern. Gerade an Wittgensteins Beispiel des Schachspiels läßt er sich verdeutlichen: Wollen wir mit jemandem eine Partie spielen, dann tun wir das nach bestimmten Regeln dieses Spiels, die ganz einfach allgemein in Gebrauch sind. Dieser Gebrauch mag sich historisch ändern (so wie das Schachspiel ja auch keine einmalige Erfindung war), aber darüber vermögen wir einzelne Spieler nichts (es sei denn, wir vermöchten Inkonsistenzen des Spielsystems aufzuzeigen). Ich kann mich nicht einfach entschließen, fortan mit dem Springer diagonal zu ziehen und mit dem Läufer zu springen. Der zwanglose Zwang des allgemeinen Regelgebrauchs hindert mich daran, und würde ich mich mit meinem Partner darauf verständigen, es doch einmal zu versuchen, dann spielten wir eben nicht mehr Schach, sondern ein dem Schach zwar möglicherweise ganz ähnliches, aber eben doch anderes Spiel (es sei denn, alle Menschen einigten sich darauf, dies fortan „Schach" zu nennen und in dieser Weise „Schach" zu spielen). Und ebenso wie uns die Regeln des Schachspiels durch die Art und Weise vorgegeben sind, in der es gespielt wird, so bestimmen die alltagspraktischen Deutungsvollzüge der Menschen, wie wir einer bestimmten Handlung oder Situation Sinn verleihen. Auch hier „zwingt"
79 80
Mittelstraß 1971, 786. Vgl. Wittgenstein 1984, u.a. §§ 31, 198f, 208.
Pietismus als soziales Deutungsmuster
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uns die lebensweltlich eingelebte Deutungspraxis, wenn auch vielleicht in geringerem Ausmaß als im Falle von Spielregeln. 81 In dieser Weise sind uns Deutungen und Deutungszusammenhänge sozial vorgegeben. Und korrelativ dazu sind sie sozial wirksam, weil ich faktisch im Horizont ihrer alltagspraktischen Orientierungen handele, sie also nicht nur kognitiv als unverbindliche Deutungsmöglichkeiten erwäge. Auch ein Spiel wird ja nicht schon deshalb zu einem Spiel, weil ich mir gedankenexperimentell die Möglichkeit vorstelle, so und so spielen zu können, sondern weil ich eben so und so spiele.
4. Pietismus als soziales Deutungsmuster Oevermanns Konzept sozialer Deutungsmuster erweist sich für die Analyse der Struktur religiöser Sinnbildung im Pietismus als hilfreich. Die von der Kontroverse zwischen Molitor und Wallmann um den methodischen Ansatz der Frömmigkeitsgeschichte insinuierte, aber falsche, weil im traditionellen Selbstverständnis der ideengeschichtlichen Forschung befangene Alternative zwischen der Erforschung des religiösen Verhaltens vieler und der Glaubensvirtuosität großer Einzelner kann nämlich dadurch umgangen werden, daß die Texte von Praetorius, Nicolai und Arndt, von Gerhardt, Tersteegen und schließlich von Spener als Dokumente eines sozialen Deutungsmusters interpretiert werden, für das sich in der Rezeptionsgeschichte der Name „Pietismus" eingebürgert hat. Die Strukturmerkmale religiöser Sinnbildung konstituieren demnach - mit Oevermanns Worten - die „eigene ,Logik'" des pietistischen Deutungsmusters, d. h. sie sind Modi der religiösen Bedeutungsgenese, Vollzugsweisen pietismusspezifischer Wirklichkeitsdeutung, sie sind die obersten Bezugspunkte eines Systems regelgeleiteter Interpretationen, welche die Aktoren als Einstellungsmuster internalisieren und durch ihr Handeln gleichsam ver-wirklichen. Pietismus ist dann alles, was bestimmte religiöse Uberzeugungen mit dem Vollzug der Sensitivierung, Reflexivierung und Ethisierung des Glaubenslebens sowie der Selbstcharismatisierung des Gläubigen verbindet bzw. aus diesen Vollzügen neue Deutungsinhalte - sofern sie vom dogmatisch erlaubten mainstream nicht allzusehr abweichen - erzeugt. Pietistisch sind religiöse Deutungsvollzüge demnach auch dann noch, wenn sie sich von den zugelassenen Denkinhalten lösen und allein durch die besagten Strukturmerkmale der Sinnbildung kenntlich werden, ja in einem wei81 „ .Deuten' aber sollte man nur nennen: einen Ausdruck der Regel durch einen anderen ersetzen" (ebd., §201).
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teren Sinne selbst nicht- religiöse Deutungsvollzüge, die diesen Merkmalen entsprechen - so wie Weber den Fabrikanten in seiner kleinen Anekdote ja auch ohne weiteres als puritanisch charakterisiert, obwohl es sich bei ihm um keinen religiösen Menschen handelt. Pietistische Deutungsvollzüge können sich also gleichsam hinter dem Rücken des Aktors vollziehen, d.h. ohne daß er sich ihrer als pietistische bewußt wäre (ob er sich nun grundsätzlich als Pietist versteht oder nicht), solange er nur den Regeln der Deutung folgt, und bewußtlos tut er das ein letztes Mal - auf der Ebene des Alltäglichen und des Automatischen, die LeGoff der mentalitätsgeschichtlichen Forschung zur Aufgabe stellt. D a Oevermann in seinen Überlegungen zur Struktur sozialer Deutungsmuster wiederholt betont, daß diese in Reaktion entweder auf objektive Handlungsprobleme oder die interne Inkompatibilität einzelner einem Deutungszusammenhang zugehöriger Interpretationen entstehen und sich verändern: Was könnte das für den Pietismus heißen? Wo wären in seinem Fall diese Handlungsprobleme zu lokalisieren, wo die inneren Spannungen? Es gibt in der historischen Forschung zur Frühen Neuzeit eine Reihe von Krisenszenarios, die jeweils plausible Antworten auf die beiden Fragen anbieten. Vielleicht können sie nicht einmal unabhängig voneinander gestellt werden. Denn die (früh-)pietistische Erbauungsliteratur legt es nahe, einen Zusammenhang zwischen dem jeweils Erfragten zu vermuten: Innere Spannungen der lutherischen Theologie resultieren in objektiven sozialen Handlungsproblemen, auf die der Pietismus in einer das Luthertum zugleich transformierenden Weise reagiert. Die in schöner Regelmäßigkeit von der nachreformatorischen Erbauungsliteratur an der Volksfrömmigkeit geübte Kritik ist ja ein Zeichen der Angst kirchlicher Würdenträger, die theologisch profilierte Konfessionalität werde sich an der Basis: im alltagspraktischen Selbstverständnis der Menschen als Christen nicht durchsetzen, die Kirche sich stattdessen von innen heraus auflösen und schließlich untergehen. Besonders deutlich ist diese Befürchtung aus Speners Reformprogramm herauszuhören. Zumindest ein objektives Handlungsproblem hatte die lutherische Kirche, hört man auf die zeitkritischen Stimmen, also zweifellos: das ihrer Selbsterhaltung. Aber darin spiegelt sich letztlich nur ein Orientierungsproblem der Menschen wider, welche die Kirche - zumindest laut Arndt, Saubert, Spener und anderer - mit ihrer Botschaft nicht erreicht. Und dieses Orientierungsproblem ist seinerseits ein Symptom, daß grundlegende theologische Aussagen im Luthertum - zumindest in der nachreformatorischen Zeit - als lebenspraktisch inkompatibel erfahren wurden. Schon Luther hatte ja wiederholt die Befürchtung geäußert, seine Ermächtigung des individuellen Gewissens in der Entscheidung existentiell bedeutsamer Glaubensfragen könne die
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Menschen überfordern. 82 Diese Befürchtung hat ihren objektiven Grund in der Spannung zwischen der gewissensbezogenen Subjektivierung des Glaubenslebens einerseits und einem objektiven Kanon an religiösen Verhaltenserwartungen andererseits. Die für den Pietismus so bedeutsame Formulierung aus Luthers Römerbriefvorrede, der Glaube sei ein göttliches Werk in uns, er sei lebendig und wirke ohne Unterlaß Gutes, wobei er nicht danach frage, ob gute Werke zu tun seien, sondern sie, ehe man fragen könne, immer schon getan habe, verdeutlicht diese Spannung recht gut, jedenfalls so gut, daß es unmittelbar ersichtlich ist, warum sich der Pietismus spätestens seit Speners Pia Desideria gerade diesen Satz auf die Fahnen geschrieben hat: 83 er mußte sich daran abarbeiten, stellvertretend für alle gläubigen Lutheraner, die, würden sie mit ihm allein gelassen, möglicherweise scheitern und sich von der Kirche abwenden müßten. Denn einerseits überstellt Luther den Glauben der theologisch unhintergehbaren Erfahrungsgewißheit „in uns" - eben jener Gewißheit, aus der heraus er es auf dem Wormser Reichstag 1521 imponierenderweise vermochte, zu seinen Uberzeugungen zu stehen statt sie zu widerrufen, und diese Erfahrungsgewißheit soll sich in einem spontanen Tun objektivieren; gleichwohl steht es nicht im Belieben des einzelnen, was als Resultat dieses spontanen Tuns herauskommt - Luther hatte recht genaue Vorstellungen davon, welche Werke gut sind und welche das Gegenteil. Sprachlich unterstellt der Satz den Ist-Zustand einer prästabilierten Harmonie zwischen der Subjektivität der Gotteserfahrung, der Spontaneität des Glaubensvollzugs und der objektiven Geltung theologisch-konfessionell normierter guter Werke. Was aber, wenn diese Harmonie lediglich ein frommer Wunsch ist? Dann bedarf es eines sozialen Deutungsmusters, das den Wunsch Wirklichkeit werden läßt. Spener zitiert den Luther der Römerbriefvorrede nicht bloß aus dem strategischen Grund der Autorisierung seines eigenen Programms, sondern als dessen Grund und Ziel. Die Konzeptualisierung der Strukturmerkmale religiöser Sinnbildung im Pietismus als Strukturlogik eines sozialen Deutungsmusters hilft im übrigen über eine Verlegenheit historischer Semantik hinweg, die sich an Langens Buch über den Wortschatz des deutschen Pietismus gut veranschaulichen läßt. Langen konnte zwar ein enormes Vokabular zusammentragen, dessen Lexeme es wegen ihrer semantischen Affinität rechtfertigen, von dem Pietismus zu sprechen. Aber die breit angelegte Studie gelangt dennoch zu nicht mehr als statistischer Evidenz. Denn sie reduziert ihr Material, aus dem sie den pietistischen Wortschatz extra-
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Vgl. oben, 1.1.5. Vgl. oben, 1.4.3.
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hiert, subsumptionslogisch auf einen strukturlosen Fundus von Reizwörtern, deren Reizwert sich allein aus der Häufigkeit ihrer Verwendung in - geltender Ansicht zufolge - pietistischen Texten ergibt. In der Einleitung seines Buches, die über den methodischen Forschungsansatz Auskunft erteilt, heißt es über den Pietismus denn auch bezeichnenderweise: „Die Gemeinsamkeiten aller Richtungen und Einzelvertreter erscheinen uns ungleich stärker als die Verschiedenheiten, und eben auf dieses Typische und Durchschnittliche einer Massensprache kommt es uns an. Darum betrachten wir den ganzen pietistischen Wortschatz bewußt als einen Block und berücksichtigen in der Gruppierung und Behandlung des Stoffes zunächst weder die Individualsprache einzelner Persönlichkeiten, noch die etwa auch im Wortschatz sich abzeichnenden Unterschiede der theologischen Richtungen, der Landschaften oder der zeitlichen Abfolge. Die Begründung hierfür liegt wieder im Wortmaterial selbst: die vorhandenen Schattierungen sind nicht bedeutend genug, um den leitenden Gesichtspunkt abzugeben .. ," 8 4 Wenn Texte in eine Ansammlung von Lexemen aufgelöst werden, ist es kaum mehr möglich, sie als Ausdrucksgestalten religiöser Sinnbildung zu interpretieren. Vom Pietismus bleibt nicht viel mehr als das Kunstprodukt einer eigentümlich entsubjektivierten Sprache, denn die Dialektik von Individuellem und Allgemeinem - um die es auch Wallmann und Molitor letztlich geht - wird zugunsten des Allgemeinen unterlaufen. Stattdessen gilt es sie in der Konkretion der religiösen Ausdrucksgestalten zu rekonstruieren. Das Konzept sozialer Deutungsmuster hat hierbei die heuristische Funktion, einen Vorgriff auf die Vermittlungslogik von Individuellem und Allgemeinem zu ermöglichen. Das Resultat dieses Vorgriffs muß freilich durch materiale Analysen eingelöst werden. Dazu ist allerdings auch anders zu verfahren als in den Ausführungen des ersten Teils über Wurzeln und Entfaltung des lutherischen Pietismus. Die Kompilation des religiösen Vorstellungsreichtums in der wirkmächtigen Erbauungsliteratur des Frühpietismus konnte zwar die ideellen Gehalte der vorgestellten Literatur - soweit sie für den weiteren Gang der Untersuchung von Interesse sind - präsentieren und aus ihnen die Hypothese entwickeln, beim Pietismus handele es sich vor allem um einen spezifischen Modus religiöser Sinnbildung. Deren heuristische Konzeptualisierung als soziales Deutungsmuster hat allerdings Konsequenzen für das weitere Vorgehen. Sie verlangt zunächst eine andere Art der Quellenrequisition. Nicht die Repräsentativität der Quellen ist dann nämlich maßgeblich für die hermeneutische Gegenstandserschließung, sondern deren Authentizität. Ulrich Oevermann hat diese begriff-
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Langen 1968, 16.
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liehe wie forschungslogische Unterscheidung aus der Perspektive der empirischen Sozialforschung angemahnt. 8 5 Eine Quelle aus dem Umfeld des frühen Pietismus ist demnach repräsentativ, wenn sie dessen ideelle Gehalte in mustergültiger Weise repräsentiert, ein Quellenkorpus dann, wenn alle oder die meisten ihm angehörigen Texte dieses Kriterium erfüllen. In diesem Sinne ist der erste Teil der vorliegenden Untersuchungen um Repräsentativität bemüht. Demgegenüber sind die Quellen - im Sinne der Fragestellung - authentisch, wenn die besagten Gehalte, also die Strukturmerkmale religiöser Sinnbildung, noch einmal: die Sensitivierung, Reflexivierung und Ethisierung des Glaubens sowie die Selbstcharismatisierung des Gläubigen in ihnen als Matrix der Textgenerierung wirksam waren. Das kann aber (gerade) auch in solchen Texten der Fall sein, die inhaltlich nicht repräsentativ für den Pietismus sind. Und wird nach spezifisch pietistischen Modi der Textgenerierung gesucht, dann liegt es nahe, daß die Quellenerschließung der sequentiellen Struktur sprachlicher Texte gemäß sequenzanalytisch verfährt. Ziel der Deutung ist dann die sequenzanalytische Rekonstruktion der Generierungslogik eines pietistischen Textes. 86
5. Psychologische Aporie religiöser Sinnbildung im Pietismus Nun ist die rege Produktion von Erbauungsliteratur zweifellos charakteristisch für den Pietismus. Dazu zählen auch umfangreiche biographische wie autobiographische Schriften: von Tagebüchern über vergleichsweise straff formulierte Lebensläufe bis zu weit ausholenden Lebensbeschreibungen. 87 Von nahezu allen historisch bedeutsamen Pietisten sind Selbstzeugnisse überliefert; 88 im späten 17. und frühen 18.Jahrhundert entstehen vielgelesene (auto)biographische Sammlungen, 8 9 deren Herausgabe schließlich auch außerhalb frommer Kreise in 85
Oevermann 2000, 79-83. Vgl. dazu die methodischen Überlegungen zu Beginn des dritten Teils, S. 155-162. 87 Zur autobiographischen Literatur im Umkreis des Pietismus vgl. im Überblick Mahrholz 1919; Klaiber 1921; Beyer-Fröhlich 1970; Bertolini 1968; Misch 1969, 809-817; Wuthenow 1974, 28-35; von Graevenitz 1975; Niggl 1977, 6-14, 62-75; Schräder 1982, 127*-177*; ders. 1989, 23-41. 88 Vgl. die klassischen Anthologien von Werner Mahrholz und Marianne BeyerFröhlich: Mahrholz 1921; Beyer-Fröhlich 1933. 89 In Gottfried Arnolds Unpartheyischer Kirchen- und Ketzerhistorie von 1699 überwiegt vermutlich die Intention der theologischen Rehabilitierung religiöser Autoren, die der beim Spiritualisten Arnold verhaßten Kirche ein Dorn im Auge waren. Die erbaulichanschauliche Vergegenwärtigung individueller Heilserfahrungen gläubiger Christen steht im Vordergrund von Arnolds zwei Jahre später erschienener Sammlung Das Lehen der Gläubigen, Christian Scrivers Herrlichkeit und Seligkeit der Kinder Gottes (1701), Johann 86
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Mode kommt. 90 Pietisten erbauen sich an den Lebensgeschichten ihresgleichen, und sie fühlen sich offenbar bemüßigt, die eigenen zur Erbauung ihrer Nächsten aufzuschreiben. Günter Niggl hat allerdings gezeigt, daß nicht alles, was Pietisten ihrer Mit- und Nachwelt über sich mitzuteilen für würdig befinden, erbaulichen Zwecken dient. So zählt er beispielsweise die Selbstzeugnisse Nikolaus Ludwig Graf Zinzendorfs 91 und Johann Christian Edelmanns 92 zur Gattung der Gelehrtenautobiographie, deren Typus er von demjenigen der genuin religiösen Λ 1 T 1 1 ' 1 ' ™ Spener, 93 August Hermann unterschieden wissen will. Während diese ein Bekehrungsgeschehen festhält (Francke, Hamann) und die Lebensbewandtnisse im Lichte religiöser Berufung und göttlicher Providenz darstellt (Spener), betrachtet jene „den beruflichen Werdegang von den Studienjahren in die öffentliche Wirksamkeit mit ihren wechselnden Erfolgen und Konflikten als das eigentliche autobiographische Thema". 96 Beide Gattungen - Gelehrtenautobiographie und religiöse Autobiographie - können sich allerdings, so Niggl, überkreuzen, etwa bei Francke, dessen Lebenslauff zwar vor allem den Bekehrungsprozeß des Verfassers nachzeichnet, aber - zum Beispiel - breite
Heinrich Reitz' Historie der Wiedergebohmen (1698-1745; siehe unten, III.2.1.), Friedrich Christian Oetingers Die Unerforschlichen Wege der Herunterlassung GOTTES und Erdmann Graf Henchels ausführlicher Dokumentation mustergültiger Frömmigkeit im Angesicht des Todes unter dem geradezu reißerischen Titel Die letzten Stunden einiger Der evangelischen Lehre zugethanen ... selig in dem HERRN verstorbenen Personen (1720-1733) - alles zu ihrer Zeit häufig gelesene Sammlungen, darunter die bekannteste wohl Gerhard Tersteegens Außerlesene Lebens-Beschreibungen Heiliger Seelen (1733); sie alle bespielen die erbauliche human interest-Klaviatur. Die Pietisten sorgten sich auch um biographische Traditionspflege, indem sie sich den Lebensgeschichten ihrer Führer zuwandten, so Carl Hildebrand Freiherr von Canstein der Biographie Speners, Karl von Bogatzky derjenigen Franckes. So durch die autobiographischen Sammlungen, die unter J o h a n n Gottfried Herders Ägide von J o h a n n Georg Müller (Bekenntnisse merkwürdiger Männer von sich selbst (1791-1810)) und David Christoph Seybold (Selbstbiographien berühmter Männer (1796/1799)) besorgt wurden. Vgl. dazu Niggl 1977, 102 ff. 91 ΠΕΡΙ ΕΑΓΤΟΥ. Das ist: Naturelle Reflexiones über allerhand Materien, Nach der Art wie Er bey sich selbst zu denken gewohnt ist; Denenjenigen Verständigen Lesern, welche sich nicht entbrechen können, über Ihn zu denken, in einigen Send-Schreiben, bescheidentlich dargelegt (1746). 92 Johann Christian Edelmanns von ihm selbst aufgesetzter Lebenslauf (1749-53). 93 D. Phil. Jacob Speners eigenhändig aufgesetzter Lebens-Lauff (1683). 94 H.M. August Hermann Franckens vormahls Diaconi zu Erffurt, und nach dem er daselbst höchst unrechtmäßigst dimittiret, zu Hall in Sachsen Churf. Brandenburg. Prof. Hebraeae Lingvae, und in der Vorstadt Glaucha Pastoris Lebenslauff (1690/91). 95 Gedanken über meinen Lebenslauf (1758). 96 Niggl 1977, 8 f.
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Ausführungen zu den Lehrinhalten der Studienzeit einschaltet, deren Bedeutsamkeit für die religiöse vita nicht unmittelbar einleuchte. Wo im folgenden von pietistischen Selbstzeugnissen die Rede ist, da immer im Sinne der religiösen Autobiographie, noch einmal: der Darstellung des eigenen Lebens im Lichte einer subjektiv, durch Konversion oder anderswie erfahrenen religiösen Berufung und ihrer praktischen Konsequenzen für die Lebensführung des einzelnen. Klärungsbedürftig sind zwei Fragen, nämlich erstens, ob und in welcher Weise ein interner Zusammenhang besteht zwischen der religiösen Berufungserfahrung des Gläubigen und der Darstellung des eigenen Lebens im Lichte dieser Erfahrung, also ob und in welcher Weise die religiöse Erfahrung auf Darstellung und wiederum diese auf eine religiöse Berufungserfahrung drängt; diese Frage soll, zweitens, dahingehend spezifiziert werden, ob sich das heuristisch formulierte soziale Deutungsmuster des Pietismus in den Selbstzeugnissen als Matrix der Textgenerierung bzw. als Generator spezifisch pietistischer Sprachgestalten tatsächlich nachweisen läßt, mit anderen Worten: ob eine bestimmte - nämlich realtypisch pietistische - religiöse Erfahrung in einer bestimmten - nämlich abermals realtypisch pietistischen - Darstellungsform, dem Selbstzeugnis im weiteren Sinne, zur Sprache findet. Realtypisch wären Erfahrung und Darstellung im Sinne des Deutungsmusterkonzeptes durch die Regelgeleitetheit der (pietistischen) Erfahrungen und Sprachhandlungen. So dürfen wir nach dem Bisherigen wenigstens vermuten (und damit den nachfolgenden Untersuchungen zugleich den Weg des leitenden Erkenntnisinteresses weisen): Wie die Spezifik religiöser Erfahrung - der Grund subjektiver religiöser Uberzeugungen und Gewißheiten - selbst eine Funktion des pietistischen Deutungsmusters ist und sich in ihr folglich auch dessen Strukturmerkmale, die Strukturmerkmale religiöser Sinnbildung im Pietismus reflektieren müssen, so wird man dessen spezifisches Gepräge auch der sprachlichen (autobiographischen) Ausdrucksgestalt pietistischer Erfahrungen unterstellen dürfen. 97
97
Pietistische Autobiographien werden also als spezifisch pietistische Sprachhandlungen gelesen. Das setzt voraus, Autobiographien grundsätzlich als Sprachhandlungen zu konzeptualisieren, was zwar im Horizont der Sprechakttheorie liegt, von ihren Begründern aber nicht eigens verfolgt worden ist. Jürgen Lehmann hat den sprechakttheoretischen Ansatz von Austin und Searle weitergedacht, um aus ihm eine illokutionäre Typologisierung von Autobiographien als entweder bekennenden, erzählenden oder berichtenden Texten zu entwickeln (vgl. Lehmann 1988). Dem gattungstheoretischen Teil seiner Arbeit folgen exemplarische Analysen von Autobiographien, die diesen Idealtypen entsprechen, darunter mit denjenigen Adam Bernds und Johann Christian Edelmanns auch pietistische. Lehmann untersucht die Texte allerdings nicht unter dem Gesichtspunkt der Deutungsmusteranalyse, sondern der literaturpragmatischen Gattungsdifferenzierung. Zwar ordnet er die von ihm berücksichtigen pietistischen Lebensbeschreibungen dem Ty-
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Ob und in welcher Weise die religiöse Sinnbildung im Pietismus auf ihre autobiographische Darstellung drängt, ist allerdings durchaus noch präzisierbar. Es liegt natürlich ohne weiteres nahe, den auffälligen Hang der Pietisten zur Kenntnisnahme von den Lebensbewandtnissen ihnen zwar religiös geistesverwandter, aber im übrigen doch fremder Menschen sowie der ausführlichen Inkenntnissetzung eben dieser Fremden von den eigenen Lebensbewandtnissen auf die in der pietistischen Erbauungsliteratur unaufhörlich eingeschärften Verpflichtungen zurückzuführen, sich in den Früchten des Glaubens an virtuosen Vorbildern zu bilden wie auch ihrerseits - bei glücklich erfolgter Bildung zum Frömmigkeitsvirtuosen - wiederum anderen als selbstgewisse Vorbilder zu dienen. Mit anderen Worten: Uber die Strukturmerkmale der Ethisierung der Glaubensvollzüge sowie der Selbstcharismatisierung der Gläubigen scheint der Pietismus das Einstellungsmuster der interessierten Rezeption und der engagierten Produktion von Selbstzeugnissen zu generieren. Wie anders soll man sich zum Beispiel erklären, daß der österreichische Graf Karl von Zinzendorf bereits im zarten Knabenalter von acht Jahren gewissenhaft, ausführlich und regelmäßig Tagebuch führte? 9 8 Indessen liefert die Disponierung der Gläubigen zur ethischen Vervollkommnung und charismatischen Selbstvergewisserung nur zureichende Gründe für die autobiographische Produktion im Pietismus. Sie macht zwar wahrscheinlich, daß Pietisten sich auf diese Weise religiös mitteilen und bilden. Es ist aber keineswegs strukturlogisch zwingend, daß die Ethisierung der Glaubensvollzüge und die Selbstcharismatisierung der Gläubigen gerade diesen Weg nehmen muß. Es sind vielmehr die beiden anderen aufgewiesenen Strukturmerkmale religiöser Sinnbildung, die eine hinreichende Begründung der autobiographischen Neigungen versprechen. Sensitivierung und Reflexivierung der Glaubensvollzüge disponieren psychologisch vor allem und in besonderer Weise zur Versprachlichung der (religiösen) Lebensbewandtnisse, weil sie ein Problem erzeugen, das sich aus der Diskrepanz zwischen den uns wesenhaft unwillkürlich betreffenden sensitiven und affektiven Zuständen wie Befindlichkeiten einerseits und dem Anspruch ihrer reflexiven Antezipation und Rekonstruktion ergibt. Reflexivierung und Sensitivierung der Glaubensvollzüge besagen ja, daß die Pietisten Fragen der richtigen und religiös aufrichtigen Gestaltung ihrer Glaubenspraxis zum beherrschenden Gegenstand dieser Glaubenspraxis selbst machen (Reflexivierung) und sich dazu anhalten, vermittels Einkehr in sich und in meditapus der bekennenden A u t o b i o g r a p h i e zu, aber er interessiert sich nicht f ü r die Strukturlogik spezifisch pietistischen Bekennens. 9 8 Vgl. Misch 1969, 4. Bd., 809.
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tiver Zwiesprache bzw. mystischer Vereinigung mit ihrem Gott zu einem quasi-sinnlichen, unmittelbaren und präsentischen Heilserleben zu gelangen (Sensitivierung). Offenkundig lassen sich Reflexivität und Sensitivität der Gläubigen also nicht zugleich realisieren oder steigern, denn wie soll man in eins über seine religiöse Identität reflektieren und religiös unmittelbar erleben können? Dieses Problem beschäftigte uns bereits wiederholt und in verschiedener Gestalt: Philipp Nicolai thematisiert es als die unaufhebbare Diskrepanz zwischen der Intensität des religiösen Erlebens (nämlich der Freude auf das ewige Leben) und dem begrenzten Vermögen der Sprache, dieses Erleben angemessen zum Ausdruck zu bringen: sie bleibt grundsätzlich hinter dem unmittelbar Gewärtigten zurück und soll es doch fixieren; Johann Arndt ruft die Gläubigen immer wieder zur Skepsis gegenüber dem eigenen Erleben auf, in dem die Frömmigkeit andererseits fundiert werden soll; Philipp Jakob Spener - halten wir uns einmal nur an seine seelsorgerliche Praxis - übt in seinem Frankfurter Konventikel die widersprüchliche Disponierung zu Sensitivität und Reflexivität der Glaubensvollzüge ein, indem er die Mitglieder anhält, ihre religiösen Befindlichkeiten zu erforschen und einander mitzuteilen und damit stillschweigend erwartet, daß auch ein jeder etwas zu berichten h a b e . " Wie steht es nun um den Anspruch, zu quasi-sinnlichem, subjektiv unmittelbarem und präsentischem Heilserleben zu gelangen? „Quasisinnlich", ein Ausdruck, den William James im Zusammenhang seiner Deutung der religiösen Erfahrung verwendete, 100 ist ja so eine Je ne sais pas quoi-Partikel: man vermeint etwas bestimmt zu haben, aber es bleibt doch sehr vage, worum es sich dabei eigentlich handelt. Wird man nun - so könnte jemand James sturerweise entgegnen - sinnlich-affektiv und, in einem weiteren Sinne, leiblich- atmosphärisch affiziert oder wird man es nicht; und wenn ja, was ist die physische Ursache dieser Affizierung? Das Präfix, das Unbehagen hervorruft, ist bei James der Vermittlung geschuldet zwischen dem Anspruch wissenschaftlicher Nachvollziehbarkeit solcher Behauptungen wie etwa derjenigen eines Gläubigen, er habe die Anwesenheit eines höheren Wesens in seinem Zimmer gespürt, 101 wie dessen subjektiver Überzeugung, daß es sich genau so verhielt - eine Gratwanderung zwischen positivistischer Borniertheit und esoterischer Phantasterei. „Quasi- sinnlich" besagt nicht mehr als die erlebnishafte Evidenz, welche Gläubige für ihre Gotteserfahrung in Anspruch nehmen und mit ästhetischen Prädikaten zur Sprache bringen; offenbar ist das religiöse Erleben dem ästhetischen 99
Vgl. im ersten Teil zu Nicolai 18, zu Arndt 44 und zu Spener 104. Vgl. oben, 59. 101 Vgl. die zahlreichen Beispiele in James 1997, Vorlesung III. 100
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und zwar in dem weiteren Sinne von aisthesis - so verwandt, daß Erbauungsautoren wie Prätorius, Nicolai und Arndt solche Prädikate für den angemessenen Ausdruck dieses Erlebens halten. D a ß es zum Gegenstand einer reflexiven Evokationsbemühung wird, unterscheidet es allerdings diametral von der Unwillkürlichkeit des genuin ästhetischen Ereignisses, für das T h e o d o r W. Adorno den Begriff der apparition verwandte. 1 0 2 Besonders anschaulich wurde uns das anhand der Naturdarstellung in Gerhard Tersteegens Lied Gott ist gegenwärtig: die Sensitivität des Lied-Ichs war keine, die sich unwillkürlich am Naturschönen bildete, sondern sie verdankte sich der quietistischen Einkehr des Gläubigen in sich und dem in der unio gipfelnden Prozeß der Selbstsensibilisierung, deren Gestimmtheit auf die feinen Nuancen seelischer und somatischer Befindlichkeiten sich in der Natur widerspiegeln ließ; ganz ähnlich, wenn auch weniger individualisiert, verhielt es sich bei Paul G e r h a r d t wie Johann Arndt. Und diese für alle pietistischen Erbauungsautoren zentrale Einkehr des reumütigen Selbst in sein eigenes Inneres ist eben der Weg reflexiver Evokation des „quasi-sinnlichen" religiösen Evidenzerlebens - sei es der Nähe Gottes, der Vereinigung mit ihm oder seiner Heilszusage. Worauf beruht nun die - nimmt man die Sprache der pietistischen Erbauungsschriftsteller ernst - offensichtliche Affinität zwischen dem durch Einkehr in sich evozierten religiösen und dem ästhetischen Erleben? Vielleicht hilft hier der Begriff des zuständlichen Bewußtseins weiter, den Ferdinand Fellmann in die bewußtseinstheoretische Debatte eingeführt hat. „Bewusstsein", so Fellmann, „ . . . ist primär Zuständlichkeit . . . Die Erlebnisweise der Zuständlichkeit ist die Gegenwart, die Präsenz, die jeder Repräsentation zugrunde liegt." 1 0 3 Intentionales, d.h. repräsentierendes Bewußtsein ist vom zuständlichen abkünftig. „Auf anthropologischer Ebene kann man das Verhältnis der Intentionalität zur Zuständlichkeit als Komplexitätsreduktion beschreiben. Die Möglichkeit, Sinneseindrücke und Vorstellungen auf einen Gegenstand zu beziehen und diesen mit einem Begriff zu bezeichnen, stellt eine Entlastung von der Fülle der Reize dar. Das geschieht offenbar nicht auf dem Wege der Synthesis, sondern der Analysis. D a f ü r ist die Wahrnehmung ein sprechendes Beispiel: Unbestimmte Totaleindrücke werden im Sinne der Konstantenbildung zerlegt und symbolisch transformiert." 1 0 4 Alle intentionalen, gegenstandsorientierten und gegenstandsrepräsentierenden Akte, so kann Fellmann auch sagen, sind Akte „symbolischer Verdichtung" des Zuständlichen und vollziehen sich vor dem „per102 103 104
Vgl. Adorno 1973, 125 ff. Fellmann 1996, 217. Ebd., 223.
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manente[n] Hintergrund der Zuständlichkeit". 105 Zuständlichkeit liegt mithin erkenntnislogisch vor der Subjekt-Objekt-Spaltung, 106 in ihr sind Subjekt und Objekt in der ungeschiedenen Einheit atmosphärischer Präsenz des Hier und Jetzt. Dieses Hier und Jetzt hat die Struktur der Ubergänglichkeit. „Ubergänglichkeit besagt, daß man keinen Punkt angeben kann, an dem ein Zustand aufhört und ein anderer anfängt. Das macht es möglich, daß heterogene Zustände wie Auffassen, Fühlen und Wollen ineinander übergehen." 107 Deshalb, so Fellmann, bilden sie trotz ständigen Wechsels ein Kontinuum. „Bewußtseinszustände haben die Eigenart, immer als Fortsetzung vorangegangener Zustände erfahren zu werden. Eben das macht die Dauer der Zuständlichkeit aus . . . Der für die Zuständlichkeit maßgebliche Modus der Existenz ist das Immer-schon und das Und-so-weiter." 108 Zuständliches Bewußtsein tritt spontan in Erscheinung, kann unwillkürlich aufblitzen, aber schon in diesem Aufblitzen verdichtet es sich zu intentionalem Bewußtsein, zu Bewußtsein von etwas, es kann mithin nicht fest-gestellt werden. Gleichwohl ist es nichts weniger als vorsymbolisch, denn was wir intuitiv als zuständliche Befindlichkeiten erleben, hat laut Fellmann „eine semantische Funktion, die sich pragmatisch explizieren läßt. Zustände beinhalten praktische Handlungsdispositionen und stellen elementare Fähigkeiten der Orientierung innerhalb eines vertrauten Milieus dar". 1 0 9 Sie sind mithin gleichsam imprägniert mit implizitem Handlungswissen und insofern objektiv sinnhaft. So gehört das Gefühl unmittelbarer Vertrautheit mit den Hebeln und Schaltern des Cockpits zum zuständlichen Bewußtsein eines Piloten, und es disponiert ihn zu bestimmten Verrichtungen, ohne daß er sich diese als solche zu (intentionalem) Bewußtsein brächte. Gleichermaßen muß man umgekehrt ebenso annehmen dürfen, daß sich im Gefühl der Unvertrautheit mit einer Situation, in der ich mich befinde, zuständliches Bewußtsein manifestiert: affektive Ausdrücke wie Angst, Beklemmung oder Grauen verweisen darauf, auch der Klassifikationsbegriff des Atmosphärischen, der nicht auf Eigenschaften von Subjekten oder diesen Subjekten gegenständlich gegebenen Objekten abhebt, sondern auf Situationen, die beides, Subjekt und Objekt, umschließen. 110 Die basalen Formen zuEbd. Fellmann spricht hier unter Bezugnahme auf gleichlautende Überlegungen Heinrich Rickerts von der „Mitte zwischen Subjekt und Objekt" (Fellmann 1996, 222; vgl. Rickert 1939, 65ff). Sie entspricht der „Positionalität" im Sinne Hellmuth Plessners, dem „I" im Sinne George Herbert Meads, also der spontanen, motorischen Handlungsmitte. 1 0 7 Fellmann 1996, 218. 1 0 8 Ebd., 217. 1 0 9 Ebd., 221. 1 1 0 Die von Hermann Schmitz entwickelte Neue Phänomenologie hat mit akribischer 105 106
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ständlichen Bewußtseins sind aber gewiß solche des primordialen, glückshaften ästhetischen Erlebens, der nicht-intentionalen, daher diffusen, affektiv gefärbten Wahrnehmung unserer Umwelt. Zuständlich in diesem Sinne ist etwa das Bewußtsein des Kleinkindes, das zu symbolischen Verdichtungsleistungen kognitiv noch nicht in der Lage ist. Das Wohlgefühl der erfüllten Mutter-Kind-Beziehung ist zuständlich (und zwar - hoffentlich - für beide, Kind und Mutter), ebenso das Verweilen des Kindes in der situativ, nicht gegenständlich erlebten Natur, das für Theodor W. Adorno eine erfahrungslogische Voraussetzung der Fähigkeit zur entwickelten ästhetischen Muße und Erfahrung künstlerischer Symbolwelten ist. 111 Und gerade im Modus des ästhetischen Verhaltens lassen sich Atmosphären, läßt zuständliches Bewußtsein sich evozieren. Nicht nur ist das intentionale von ihm abkünftig, sondern intentionales Bewußtsein kann auch in zuständliches überführt werden. Dafür spricht die Bedeutung, die es als Gegenstand literarischer und künstlerischer Gestaltung (vor allem im Film) besitzt. 112 Fellmann konzeptualisiert die Veränderung von zuständlichem in intentionales Bewußtsein als symbolische Verdichtung, daher ließe sich umgekehrt - ein von Fellmann zwar nicht thematisierter, aber im Sinne seiner Überlegungen möglicher und plausibler Sachverhalt - die Uberführung von intentionalem in zuständliches Bewußtsein als Entsymbolisierung denken, nämlich eine spezifische Aktivität des menschlichen Geistes: das Symbolisieren „als sol-
Genauigkeit Atmosphären analysiert, die das Subjekt unmittelbar und verhaltensrelevant im M o d u s des primordialen Erlebens ergreifen können. Was Schmitz und seine Leute untersuchen, sind Fälle zuständlichen Bewußtseins im Sinne Fellmanns. Vgl. Schmitz 1969. Sowohl Schmitz als auch Fellmann stehen wiederum in der Tradition der phänomenologischen Gestimmtseinsanalysen von Martin Heidegger. 111 „Genetisch d ü r f t e ästhetisches Verhalten der Vertrautheit mit dem Naturschönen in der Kindheit bedürfen . . . " (Adorno 1973, 109). 112 Konrad H e u m a n n hat mich über die Bedeutung belehrt, welche Atmosphären und die Sensibilisierung f ü r deren W a h r n e h m u n g im literarischen Schaffen H u g o v. H o f mannsthals hatte (vgl. H e u m a n n 1999). H e u m a n n rekonstruiert aus dem Briefwechsel des Dichters, d a ß und wie er Situationen atmosphärischen Erlebens geradezu methodisch aufsuchte, um sie dann in objektivierender Einstellung wiederum zum Gegenstand literarischer Gestaltung zu machen. Atmosphären sind aber nur eine spezielle Gegebenheitsweise zuständlichen Bewußtseins. Dessen methodische Evozierung im Vollzug eines literarischen Ausdrucksprozesses ist nirgends prägnanter reflektiert worden als in Marcel Prousts Romanwerk A la recherche du temps perdu. D e r M o d u s der Evozierung ist das unwillkürliche Erinnern, f ü r die sich der Ich-Erzähler und sein Autor gleichermaßen disponieren; der letzte Band der Romans f ü h r t die beiden schließlich zusammen in dem Entschluß des Erzählers, die wiedergefundene Zeit aufzuschreiben, um sie nicht wieder preisgeben zu müssen. Prousts „unwillkürliches Erinnern" ist vor allem die Evokation vergangener und vergessener Bewußtseinszustände. Aus ihnen entfaltet sich dann die repräsentationale Erinnerung der Umgegung, in der sie gehabt worden waren.
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ches und im ganzen zurückzunehmen'", wie Reinhard Margreiter es in Bezug auf die mystische Erfahrung formuliert. 113 Diese Rücknahme, darauf besteht Margreiter, ist indessen selbst symbolisch, mit ihr intendiert das Subjekt, paradox formuliert, einen Zustand nicht-intentionalen Bewußtseins. Entsymbolisierung bedeutet die methodische Selbstdisponierung des Subjekts für primordiales Erleben, und sie muß in jedem Fall, dem des mystischen wie dem des ästhetischen Erlebens, den Weg der Abkehr von der Welt gehen, und zwar im Sinne einer Abkehr von den intentionalen Alltagsvollzügen, in denen wir Welt immer nur als je schon im Sinne unseres jeweiligen Handlungssinns symbolisch Verdichtete erleben. Diese Abkehr vollzieht sich im Modus des mystischen und des ästhetischen Erlebens allerdings auf ganz verschiedene Weise. Ästhetisch wenden wir uns der Welt nämlich zugleich wieder zu, aber in der Offenheit für das Spiel ihrer Reize, anstatt diese gemäß unserem Handlungssinn zu konzeptualisieren, sie in der Hin-Sicht unseres Handelns unter Begriffe zu bringen. Diese Offenheit unterläuft die erkenntnislogische Subjekt-Objekt-Spaltung zugunsten der Situativität und Präsentativität zuständlichen Erlebens, die den ob der Frühlingswonne schrankenlos enthusiasmierten Ganymed mit den Worten „In eurem Schöße / Aufwärts, / Umfangend umfangen!" an die Wolken sich wenden ließ. 114 Das mystische Erleben bricht dagegen in Gänze mit der Welt, es realisiert sich auf dem Wege der nun schon wiederholt zitierten „Einkehr in sich". Gleichwohl ist es dem ästhetischen so verwandt, daß seine Nicht-Intentionalität, Situativität und Präsentativität - vielleicht in Ermangelung eines besser passenden Vokabulars - durch ästhetische Prädikate repräsentiert wird. Und was für die genuin mystische Erfahrung gilt, das gilt auch für die präsentierten pietistischen Glaubensvollzüge des Wiedergeburts- und Heilserlebens. Pietistische Sensitivierung des Gläubigen bedeutet die methodische Evozierung zuständlichen Bewußtseins.
113
Margreiter 1997, 487. Im Gegensatz zu Fellmann begreift Margreiter, dessen Symboltheorie vor allem Alfred North Whitehead und Oswald Schwemmer verpflichtet ist (vgl. ebd., 205-211, 229-246), das Symbolisieren als Gnmi/tätigkeit des Geistes, nicht als ein seiner Zuständlichkeit abkünftiges Phänomen. Zuständlichkeit, so könnte man Margreiter in der Fellmannschen Begrifflichkeit auslegen, ist zwar das Resultat von Entsymbolisierung, nicht aber der Hintergrund des Symbolisierens, ein Grenz-, kein Basisphänomen. 114 Goethe 1949ff, Bd. 1, 47. Bezeichnenderweise nimmt das Gedicht in den folgenden, letzten drei Verszeilen eine Wendung von der Gestaltung ästhetischen Entschränkungserlebens zur Prädizierung eben dieses Erlebens als einer religiösen, nämlich panentheistischen Geborgenheitserfahrung: „Aufwärts / An deinem Busen, / Alliebender Vater!"
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Teil II Religiöse Sinnbildung und Autobiographik
Bei der retrospektiven Repräsentation des zuständlich Erlebten kommt nun das zweite Strukturmerkmal pietistischer Sinnbildung ins Spiel: die Reflexivierung der Glaubensvollzüge. Sie ergibt sich geradezu zwangsläufig aus dem transitorischen, augenblickshaften Charakter der durch Weltabkehr und Einkehr in sich intendierten Unmittelbarkeit zuständlichen Erlebens. Der Gläubige kann ja nicht im Augenblick des Erlebens zugleich wissen (repräsentieren), was er erlebt. 115 Möglicherweise war das Ganze, so könnte er - etwa unter Anleitung von Johann Arndts Erbauungsbuch 1 1 6 - nachträglich mutmaßen, nur eine Halluzination. Und wenn nicht, handelte es sich dabei auch wirklich um das Erleben der Gegenwart Gottes ? Konsequenterweise muß der Pietist zu rekonstruieren versuchen, wie es überhaupt zu seinem Erlebnis gekommen ist. H a t er auf dem Weg dahin, auf dem Weg der Evokation dieses Erlebnisses, vielleicht etwas falsch gemacht? Der Gläubige fühlt sich zur reflexiven Einholung seiner Glaubenspraxis genötigt. Weil aber das unmittelbare Evidenzerlebnis in deren Zentrum steht, ist der Gegenstand der Reflexivierung pietistischer Glaubensvollzüge vor allem der Anspruch und die Durchführung ihrer Sensitivierung. Demnach gibt es eine das unmittelbare religiöse Evidenzerleben vor- und gleichsam nachbereitende Reflexivität. Die vorbereitende ist integraler Bestandteil der Sensitivierung: der methodischen Evozierung zuständlichen Bewußtseins, die nachbereitende nimmt deren Verlauf zum Gegenstand skeptischer Selbstvergewisserung. Ihr privilegiertes Medium ist die Sprache. Als retrospektive Versprachlichung des Erlebten zielt die Reflexivierung der Glaubensvollzüge auf zweierlei: Sie will erstens den Erlebnischarakter festhalten, an den der Pietist ja die Authentizität seiner Gotteserfahrung knüpft - dazu dient ihr der Fundus an ästhetischen und affektiven Metaphern. Zweitens will sie die religiöse Dignität des Erlebens sicherstellen, indem sie, was in dem Augenblick gleichsam blitzhafter Evidenz geschah, nicht nur als unmittelbar, sondern zugleich als göttlich prädiziert. Dabei wird sie ihr eigenes Tun aber auch immer wieder in Frage stellen, solange es nicht durch neues Evidenzerleben bestätigt wird, denn allein das Evidenzerleben verbürgt dem Pietisten religiöse Authentizität. Sehr wahrscheinlich werden die Ubergänge von der nachbereitenden zur ein weiteres Evidenzerleben vorbereitenden Reflexivität daher fließend sein und sich Sensitivierung und Re-
115 Aber als guter Pietist - das dürfte durch die Präsentation der Quellen deutlich geworden sein - muß er es wissen wollen. Das verlangt der Anspruch der Ethisierung des Glaubensvollzugs: das unmittelbare Gotteserlebnis soll ja gleichsam der Quellgrund der renovatio sein, auf die es der pietistischen Erbauungsliteratur vor allem ankommt. D a s unterscheidet sie von der Kontemplationsseligkeit mystischer Autoren. 116 Vgl. oben, 1.2.5.
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flexivierung der Glaubensvollzüge gegenseitig zu einer gleichsam spiralförmigen Entwicklung fortschreitender Innerlichkeitsakzentuierung antreiben. Denn die reflexive Glaubenshaltung trägt das Ungenügen an sich selbst in sich. 1 1 7 Aber ist es überhaupt möglich, die Logik des Ubergangs von der Reflexivierung in die erneute Sensitivierung der Glaubensvollzüge zu konzeptualisieren, des Ubergangs von der das religiöse Evidenzerleben nachbereitenden Reflexivität des Gläubigen zu derjenigen, die ein folgendes vorbereiten, evozieren soll? Zweifellos handelt es sich dabei um eine rein analytische Unterscheidung. In den faktischen Glaubensvollzug gehen beide Reflexivitätsmodi als dessen für den Gläubigen ununterschiedene Momente ein. N o c h einmal sei die diesbezüglich prägnante Formulierung Philipp Nicolais aus seinem Freudenspiegel des ewigen Lebens zitiert: „Vn je mehr ich dir [dem ewigen Leben - M.S.] nachdencke
117 Nach wie vor instruktiv ist dieses Ungenügen von H a n s R.G. G ü n t h e r (Günther 1926) und Fritz Stemme (Stemme 1951) gedeutet worden. G ü n t h e r hebt meines Erachtens zu Recht den religiösen Vitalismus im Pietismus hervor: „ D a s Leben' selber in seiner U n erschöpflichkeit und Wunderbarkeit, in seiner göttlichen Reinheit und Echtheit soll religiös ,erlebt', ursprünglich und unmittelbar ,erfahren' und durchgeistigt werden" (Günther 1926, 147). Weil im Pietismus aber nicht nur die Aneignungsweise religiöser W a h r heitsgehalte subjektiviert werde, sondern auch diese selbst, sei den Pietisten der Gegenstand des Glaubens „problematisch geworden". „Das pietistische Selbstgefühl", so paraphrasiert G ü n t h e r die Binnenperspektive pietistischer Frömmigkeit, „eignet sich die göttliche Wahrheit nicht nur auf individuell- erlebnismäßige Weise an, sondern es hat und besitzt auch in sich selber einen ganz bestimmten, eigentümlichen und individuell verschiedenen religiösen Gehalt, den es zu erleben und auszuschöpfen gilt." Konsequenterweise werde der subjektive Erlebnisgehalt „zum ausschließlichen Wahrheitskriterium und zur absoluten N o r m aller Dinge erhoben" (ebd., 150). Vielleicht ließe sich noch genauer formulieren: Der Erlebnischarakter des Glaubensvollzugs (Sensitivierung) wird zum W a h r haftigkeitskriterium und die Wahrhaftigkeit wiederum zur N o r m dieses Glaubensvollzugs gemacht. G ü n t h e r sieht das pietistische „Selbstgefühl" „in beständiger Unstetigkeit zwischen höchster Gotterfülltheit und tiefster Gottverlassenheit" schwanken (ebd., 154), und er f ü h r t dieses Schwanken auf die Spannung zwischen der Sensitivität und Reflexivität des pietistischen Glaubensvollzugs zurück (vgl. ebd., 153). Aber er begreift diese Spannung nicht als komplementäre Bestandteile einer Struktur, sondern entschärft die Reflexivität des Gläubigen vielmehr ideengeschichtlich zum Symptom der noch nicht vollends entfalteten, seiner selbst noch ungewissen modernen Subjektivität. Deren Signum erkennt Fritz Stemme dagegen gerade in der bezeichneten Spannung: aus ihr sei die Säkularisierung der Psychologie zur Erfahrungseelenkunde motivierbar. „Denn es bedarf jetzt nur eines geringen Anstoßes, um den Menschen nicht nur auf die glaubens-psychologische Erkenntnis seiner selbst zu führen, sondern ihn auf alle Regungen der Seele achten zu lassen" (Stemme 1951, 149). Für Stemme resultiert die innere Spannung der pietistischen Frömmigkeit „durch die Neigung, die einmal durchlaufenen Wegstrecken der Erlebnisse zu reproduzieren, sie aufzurechnen, sie zu liquidieren" schließlich in einem „genauen Seelenkalkül" (ebd.). Vgl. dazu in dieser Arbeit vor allem die Arndt-Darstellung und die Analysen in Teil III.
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/ vn deine Lieblichkeit vn Süssigkeit behertzige / je mehr die Liebe / Begierd vn Verlangen nach dir in mir wächßt vnd zunimpt." 1 1 8 Nicolais Nachdenken über das ewige Leben sowie seine Beherzigung der Lieblichkeit und Süßigkeit, die ihm eignen, sind Prädikate, welche die Sensitivierung des Glaubensvollzugs vermittels der reflexiven Evokation quasi-sinnlichen Evidenzerlebens benennen. Das anvisierte Evidenzerleben ist die atmosphärische Gegenwärtigkeit des ewigen Lebens in der Vorfreude des Gläubigen auf seine Auferstehung nach dem Tode. Daß dieses reflexive Vergegenwärtigungsgeschehen, das schon der Titel des Erbauungsbuches gestaltprägnant benennt, das Verlangen des Gläubigen nach dem ewigen Leben steigere, ist eine Umschreibung für dessen Einkehr in sich: die Konzentration auf den durch den Begriff des ewigen Lebens bedeuteten Sachverhalt, die den Gläubigen schließlich volitiv und affektiv so sehr absorbiert, daß keine Reize ihn mehr erreichen, die dem evozierten Vorstellungskreis äußerlich sind. Alles das gehört fraglos auf die Seite der das Evidenzerleben vorbereitenden Reflexivität. Die Formulierung Nicolais ist aber nicht nur deshalb interessant, weil sie zur Sprache bringt, was geschieht, sondern, vielmehr noch, weil sie das Sprechen über das Geschehene als integralen Bestandteil des Geschehens selbst setzt. Denn die Sprachhandlung, die Nicolai mit der Niederschrift vollzieht, ist ihrerseits ein Modus des Nachdenkens über das ewige Leben. So prädisponiert die den evidenzhaften Vorschein des ewigen Lebens nachbereitende Reflexivität des Erbauungsdiskurses zugleich für erneutes und weiterführendes religiöses Evidenzerleben. Kein Zweifel: An dem expressiven Duktus der Sprache ist spürbar, wie der Freudenspiegel des ewigen Lebens dem Verfasser aus der Erfahrung der Pestepidemien heraus tatsächlich zum Freudenspiegel des ewigen Lebens wurde, allgemein formuliert: daß das Verfassen seiner Erbauungsliteratur für Nicolai einen Vollzugsmodus religiöser Sinnbildung bedeutete. Die nachträgliche sprachliche Bearbeitung seines Erlebens erzeugt die Erwartung eines qualitativ so und so bestimmten zukünftigen Erlebens, sie prädisponiert für einen bestimmten Sensitivierungsvollzug und schließlich wiederum für eine bestimmte sprachliche Bearbeitung dieses (zukünftigen) Erlebens. Insofern kommt der Reflexivierung die Aufgabe der Integration des singulär und partikular Erlebten in den religiösen Lebensvollzug zu. Dieser besteht mithin in der Sukzession von Sensitivierung, zuständlichem Evidenzerleben und Reflexivierung als den integralen Phasen eines nicht stillstellbaren Sinnbildungsgeschehens.
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Nicolai 1963, 4.
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6. Religiöse Funktion der pietistischen Autobiographie Aus dessen Struktur ergibt sich nun auch ganz zwanglos die Funktion der Lebensbeschreibung. Für den pietistischen Gläubigen sind seine Selbstzeugnisse das Medium reflexiver Objektivierung des Erlebten; autobiographisches Schreiben ist der privilegierte Modus der Reflexivierung seines Glaubensvollzugs. Erst durch die sprachliche Prädizierung und Integration in den eigenen Lebensvollzug wird nämlich aus dem unmittelbaren Erleben ein distinktes, klar identifizier- und erinnerbares Erleb»», und zwar in zweierlei Weise: als Quelle subjektiver religiöser Gewißheiten und als Gegenstand skeptischer Überprüfung. Die Reflexivierung religiöser Sinnbildung im Modus des Selbstzeugnisses qualifiziert mithin das Erleben allererst als ein biographisch relevantes Ereignis der Gotteszuwendung. Nur als integralem Bestandteil eines sprachlich dominierten Sinnbildungsgeschehens kommt dem religiösen Erleben qualitative Bedeutung für die Glaubenspraxis zu. 119 Deshalb beruht die ältere Mystikforschung auf einem hermeneutischen Mißverständnis, wenn sie behauptet, der Mystiker versuche die unio als eine prinzipiell nicht versprachlichbare Erfahrung zur Sprache zu bringen. 12 Diese Behauptung unterstellt, die Sprache stehe in einem akzidentellen Verhältnis zur Erfahrung. Weil sich demzufolge die mystische Erfahrung vor und gleichsam oberhalb der „profanen" Sprache vollzieht und erst nachträglich in diese „übersetzt" wird, bleibt es aber unerklärlich, warum sich die Mystiker überhaupt genötigt fühlen, das Unaussprechliche zur Aussage zu bringen. Für Josef Quint zählt das denn auch „zu den rätselvollen Paradoxien, die der geistigen Existenz des Menschen ihre lebensvollen Spannungen verleihen". 12 Nein, die pietistischen Selbstzeugnisse bleiben dem religiösen Erleben nicht äußerlich, sondern machen aus diesem überhaupt erst ein biographisch bedeutsames Erlebnis, und sie disponieren den Gläubigen für weitere, qualitativ verwandte Erlebnisse. Sie ermöglichen eben das, was Fellmann die „semantische Dimension" des zuständlichen Bewußtseins nennt. 122 Fragen wir danach, welche Strukturmerkmale religiöser Sinnbildung die autobiographische Auskunftsfreudigkeit der Pietisten generieren, dann sind wir also zunächst auf die Spannung zwischen der Sensitivierung und der Reflexivierung seiner Glaubensvollzüge verwiesen. Insofern hingegen diese Glaubensvollzüge als ganze zugleich unter dem An119 120 121 122
Zur philosophischen Relevanz dieser Überlegungen vgl. Teil IV. Vgl. Quint 1964. Ebd., 151. Fellmann 1996, 221.
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Teil II Religiöse Sinnbildung und A u t o b i o g r a p h i k
sprach der Ethisierung stehen, muß sich diese auch in dem bezeichneten Spannungsverhältnis und seiner Bedeutung für die autobiographischen Neigungen der Gläubigen niederschlagen. Vergegenwärtigt man sich, in welchem Ausmaß und Umfang gläubige Pietisten sich und ihren Nächsten autobiographisch über sich selbst Rechenschaft abgelegt haben, dann liegt es nahe, ihnen ein virtuoses Maß an Selbstdisziplinierung zu unterstellen, die der biographischen Selbsteinholung des Gläubigen Stetigkeit verleiht und sie zu einem selbstverständlichen Bestandteil der sozialethisch geforderten Alltagshandlungen werden läßt. Ethisierung bedeutet also im Hinblick auf den inneren Zwang des Pietisten zum Selbstzeugnis die Routinisierung des autobiographischen Selbstverhältnisses: der Gläubige soll sich nicht nur aus religiöser Pein und Not beobachten und beschreiben, sondern er soll es im selbstverständlichen Vollzug seines Alltagshandelns tun. Einen diesbezüglich besonders charakteristischen Vorfall schildert Johann Kaspar Lavater in seinem Geheimen Tagebuch:l2i D a erreicht den Verfasser ein Expressbrief, der ihn von der tödlichen Erkrankung seines Freundes in Kenntnis setzt. Der entsprechende Eintrag im Tagebuch bezeugt die akribische Selbstreflexion des Schreibers über die unscheinbarsten seiner Gemütsbewegungen. Zunächst ertappt er sich dabei, daß die unerwartete Botschaft ihn in einen nicht unangenehmen Zustand der Erregung versetzt. „Ob vielleicht das Neue, das Unerwartete davon die Ursache seyn mag?" 1 2 4 Die Nachricht von dem sterbenden Freund, Auslöser der unchristlichen Empfindungen, verliert Lavater gegenüber deren interessierter Beobachtung und Analyse völlig aus dem Blick; es scheint so, als ob es nur ihres Anlasses bedurft hätte, um sich der beflissenen Bespiegelung seiner eigenen, behutsam gehegten Seelenregungen hingeben zu dürfen. So bestätigt er sich denn auch die Rechtmäßigkeit seiner Reflexionsversessenheit: „Inzwischen däucht mir, bey solchen Vorfällen sollte man sich selbst vornehmlich beobachten; und damit man sich hernach seiner geheimsten Gemüthsbewegungen zu seinem eignen Vortheile wieder erinnern könnte, so sollte man sie im ersten gelaßnen Augenblicke nach der reinen Wahrheit niederschreiben." 1 2 5 Es ist eine Eintragung, welche die Reflexion auf Empfindungen, die durch eine bestimmte, aber sachlich beliebige Ursache hervorgerufen wurden, ihrerseits - nämlich als Gegenstand autobiographischer Niederschrift - reflektiert. Das Tagebuch wird hier zum Medium der Reflexion auf seine eigene Funktion. Nun entfalten selbstreferentielle Reflexionsgestalten eine Eigendynamik. Deren Konsequenz, so 123
124 125
Lavater 1978, 6 4 - 8 1 .
Ebd., 64. Ebd., 65.
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darf man vermuten, könnte sich im Falle der pietistischen Autobiographieentwicklung zur Reflexion der sprachlichen Form steigern, in der die Reflexion der Empfindungen autobiographisch angemessen gestaltet wird. Solches Formbewußtsein wird man auch Lavater bereits unterstellen dürfen, insofern er sein Tagebuch nämlich mit einigem stilistischem Aufwand - vor allem zur Herstellung narrativer Konsistenz des festgehaltenen Ereignisses - und offensichtlich für eine an Erbauung interessierte Öffentlichkeit führt. 1 2 6 Lavaters verallgemeinernd formuliertes Fazit aus der Analyse seiner Gemütsbewegung, „man" möge die Beobachtung seiner Seelenregungen stets niederschreiben, dient der ethischen Verpflichtung nicht nur seiner selbst, sondern vor allem des Lesers seiner „geheimen" Aufzeichnungen zum Tagebuchschreiben, denn noch aus den geheimsten Gemütsbewegungen sei vielleicht ein Vorteil zu ziehen. Gemeint ist natürlich der Nutzen, den das stete Seelenprotokoll auf dem Wege religiöser Selbstvervollkommnung bietet. Das Tagebuch hält allerdings nicht nur Lavaters Gedanken über den Sinn des Tagebuchschreibens fest, sondern auch Angaben über den Zeitpunkt, zu dem er sich zu einer Eintragung entschließt: Wir folgen dem von der Unglücksnachricht Betroffenen in eine Postkutsche, die ihn rasch zu dem seines Beistandes harrenden Freunde bringen möge, aber wegen eines kleinen Malheurs an einer Schmiedewerkstatt zu halten gezwungen wird: „Endlich, da mir versichert ward, daß es kaum eine Viertelstunde dauern würde, entschloß ich mich, in dem Wagen zu bleiben, zog meine Schreibtafel hervor, und schrieb mein Tagebuch bis hieher." 127 Weder die Straßenverhältnisse im 18. Jahrhundert noch die damalige Konstruktionsweise der Kutschen und schließlich auch nicht die seinerzeit gebräuchlichen Schreibutensilien ließen es zu, während der Fahrt Tagebuch zu führen. Wo sich aber ein unerwarteter Augenblick der Muße ergibt, ein Zeitwinkel vorübergehender Tätigkeitslosigkeit, da greift Lavater zum Schreibblock, um die freien Minuten nicht ungenutzt verstreichen zu lassen. Die notationsbedeutsamen Seelenregungen müssen noch frisch sein, damit die Bemühung ihrer sprachlichen Fixierung nicht zu später unbrauchbaren Verfälschungen führt. Der Tagebuchschreiber hält sich mithin unablässig dazu an, wo und wann immer es geht, aus der Positionalität seiner Handlungsvollzüge in die praxisabstinente Perspektive nüchterner und objektivierender Selbstbeobachtung zu wechseln. Diese Haltung nimmt kuriose Züge an, als der Tagebuchschreiber am Krankenbett einen Schlummer des Freundes nutzt, um die Situation in dem Sterbezimmer 126
Vgl. hierzu auch die Interpretation von Lavaters Vorwort zum zweiten Band seines Tagebuchs im vierten Teil der Arbeit 300-306. 127 Lavater 1978, 70.
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rasch festzuhalten - dieses Mal nicht nur schriftlich, sondern auch graphisch: die Zeichnung der Szene hat sich in der Buchausgabe des Tagebuchs zu einem veritablen Kupfer ausgewachsen. 128 Der Kranke ruht da entkräftet auf weichen Kissen, sein Freund mit einem großen Taschentuch vor den vertränten Augen an seinem Bett, am linken Bildrand ein einfacher Tisch, darauf der Reisehut des soeben Eingetroffenen sowie Feder und Tintenfaß, die für das Protokoll der Szene unerläßlichen Utensilien als selbstverständlicher Teil eben dieser Szene. Das Tagebuch, wird damit bedeutet, reflektiert nicht nur das Alltagsgeschehen, es ist integraler und selbstverständlicher Bestandteil dieses Alltagsgeschehens selbst. Lavaters Episode aus seinem Geheimen Tagebuch macht daher deutlich, welche Konsequenzen die Ethisierung der Glaubensvollzüge für die Disposition des Gläubigen zur autobiographischen Selbstbezeugung hat: Das Auge Gottes, seit Proklos die Metapher der Allgegenwärtigkeit des Höchsten, wird zur Schreibfeder des religiösen Gewissens, zu einer Schreibfeder, die vom Gewissen geführt wird, wie zu einer, die es ihrerseits führt.
128
Ebd., 80.
III. Textanalysen zur frühen pietistischen Autobiographik „Ein menschlich Hertz ist wie ein Schiff auff dem wilden Meer / welches die Sturmwinde von den vier Oertern der Welt treiben. Hier stösset her Furcht und Sorge für zukünfftigen Unfall / dort fähret Grämen her und Traurigkeit von gegenwärtigem Übel. Hier webt Hoffnung und Vermessenheit von zukünfftigem Glück / dort blaset her Sicherheit und Freude in gegenwärtigen Gütern. Solche Sturmwinde aber lehren mit Ernst reden / und das Hertz öffnen / und den Grund herauß schütte." Johann Henrich Reitz
Alles spricht dafür, daß Pietisten als Pietisten besonders dort zur Sprache kommen, wo sie sich selbst zur Sprache bringen: in ihren Selbstzeugnissen. Jedenfalls legen die Ergebnisse der bisherigen Untersuchungen und Überlegungen diesen Schluß nahe. Die präsentierte pietistische Erbauungsliteratur deutete auf einen bestimmten, eben charakteristisch pietistischen Typus religiöser Sinnbildung hin, auf einen Typus, dessen Eigengesetzlichkeit seinerseits zur Autobiographik zu drängen scheint. Pietisten sind demnach geborene Autobiographen, und folglich besteht Anlaß zu der Erwartung, daß in ihren Autobiographien das pietistische Deutungsmuster empirisch faßbar wird, daß die in heuristischer Absicht aufgewiesenen idealtypischen Strukturmerkmale religiöser Sinnbildung möglicherweise dort als realtypische identifiziert werden können, wo Pietisten sich selbstbezüglich artikulieren. Ferner besteht Anlaß zu der Hoffnung, daß sich das alles nicht nur in dem zeigen läßt, was sie sagen, sondern auch und vor allem darin, wie sie es tun, also sowohl inhaltlich in den Deutungen ihrer Lebensbewandtnisse nach Maßgabe der pietistischen Ethik, wie formal in den sprachlichen Ausdrucksgestalten dieser Ethik, die wir uns als ein von den Gläubigen internalisiertes Regelsystem religiösen (und eben auch sprachlichen) Alltagshandelns vorzustellen hätten - ganz so, wie es Lavaters Kupfer versinnbildlicht: die Schreibfeder immer und überall zur Hand. Die von den bisherigen Ergebnissen genährten Erwartungen sollen sich deshalb im folgenden zunächst an einem so frühen wie klassischen
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Teil III Analysen früher pietistischer Autobiographien
Selbstzeugnis bewähren, das mustergültig für die autobiographische Kultur des Pietismus wurde. August Hermann Franckes Lebenslauff aus dem Jahr 1691 ist die Ausdrucksgestalt einer religiösen Selbstdeutung, deren Form - so die These - den in der pietistischen Erbauungsliteratur geforderten Maßstäben des wahren christlichen Lebens entspricht. Die im zweiten Teil dieser Arbeit aufgeworfenen Fragen sollen in der Auseinandersetzung mit Franckes Selbstzeugnis eine Antwort finden, nämlich - noch einmal - erstens, ob und in welcher Weise ein interner Zusammenhang besteht zwischen der religiösen Berufungserfahrung des Gläubigen und der Selbstdarstellung seines Lebens im Lichte dieser Erfahrung, sowie zweitens, ob und in welcher Weise sich das bisher nur heuristisch formulierte soziale Deutungsmuster des Pietismus als Matrix der Textgenerierung bzw. als Generator spezifisch pietistischer Sprachgestalten nachweisen läßt, also inwiefern man sagen kann, daß pietistische Selbstdarstellungen nicht nur Darstellungen eines pietistischen Selbst sind, sondern vor allem pietistische Darstellungen dieses Selbst im Sinne der unterstellten Strukturlogik religiöser Sinnbildung, Darstellungen, die möglicherweise sogar allererst zur Bildung pietistischer Selbstidentität beigetragen haben. Die Ergebnisse der Analyse von Franckes Text sollen dann durch ihre Konfrontation mit ausgewählten Selbstzeugnissen vertieft werden, die ebenfalls der Formierungsphase pietistischer Autobiographik angehören, sich aber von der Autobiographie des Hallensers signifikant unterscheiden. Nun liegt es nahe, die Hoffnung auf Klärung der aufgeworfenen Fragen durch die Auseinandersetzung mit wenigen, exemplarischen autobiographischen Texten für unangemessen zu halten. Werden hier nicht aus einer Fülle von Literatur geradezu willkürlich einige Fälle herausgegriffen, die keine Repräsentativität beanspruchen dürfen und deren Interpretation also auch kaum zu verallgemeinerungsfähigen Aussagen gelangen kann? 1 Die Skepsis hinsichtlich des Erkenntniswertes derTex1 Diesem Argumentationsmuster folgend kritisiert etwa Hans-Jürgen Schräder die Dissertation von Ingo Bertolini zur pietistischen Autobiographik: „Die isolierte Betrachtung einzelner pietistischer Selbstzeugnisse ohne hinreichende Kenntnis der sie zeitgenössisch umgebenden und bedingenden ... Textmenge und der zwischen den Autoren bestehenden persönlichen, theologischen und literarischen Zusammenhänge führt notwendig zu verfälschten Befunden, indem als originell erscheint, was einem Typus entspricht, als ähnlich, wo doch herkunftsspezifische Unterschiede aufzuweisen wären" (Schräder 1989, 30). Es bleibe hier dahingestellt, ob diese Kritik Bertolini zu Recht trifft oder nicht, denn sie erhebt einen generellen Anspruch und richtet sich daher sachlich auch gegen die hier vorliegende Untersuchung. Es wird nicht verwundern, daß sie im folgenden zurückgewiesen und vielmehr dazulegen versucht wird, daß die Deutungsmusterforschung nicht nur derart feinmaschig vorzugehen gezwungen ist, daß sie zwangsläufig auf die „isolierte Betrachtung einzelner pietistischer Selbstzeugnisse" verwiesen ist, sondern daß ihre Konzentration auf den Einzelfall sich auch methodisch begründen läßt.
Teil III Analysen früher pietistischer Autobiographien
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te berührt die in Teil II getroffene begriffliche Unterscheidung zwischen der Repräsentativität und der Authentizität von Quellen. Repräsentativ, so hieß es dort, ist ein pietistisches Quellenkorpus dann, wenn die ihm zugehörigen Texte den Pietismus bzw. hier: die Form der autobiographischen Selbstbeziehung im Pietismus in mustergültiger Weise vorstellig machen. Die Bemühung der Quellenarbeit um Repräsentativität setzt eine bestimmte vorerschlossene Merkmalskonfiguration voraus, die entweder vollständig oder in jeweils verschiedenen Abschattungen in den einzelnen Quellen realisiert sein muß. Je vollständiger das Gesamt der untersuchten Quellen die Summe der - dem vorerschlossenen Pietismusbegriff zufolge - in einer bestimmten Weise konfigurierten Merkmale vorstellig macht, desto repräsentativer ist das Quellenkorpus. Die ihm zugehörigen Quellen sind dann eben repräsentativ für die einzelnen Facetten pietistischer Autobiographik und folglich das Quellenkorpus - mehr oder weniger - für die pietistische Autobiographik als solche und im ganzen. Eine einzelne Quelle ist dagegen nur dann repräsentativ, wenn sie die besagte Merkmalskonfiguration (weitgehend) vollständig zur Darstellung bringt. Ob sie das kann, hängt von dem Begriff der jeweiligen Sache ab, für welche die Quelle stehen, die sie repräsentieren soll. Denn dieser Begriff regelt, welche Prädikate die Sache notwendig bestimmen. Nun hat Teil II ja tatsächlich einen - zunächst heuristischen - Begriff pietistischer Autobiographik gebildet, indem aus der ihrerseits heuristisch formulierten Strukturlogik religiöser Sinnbildung Hypothesen über die Spezifik autobiographischer Selbstbeziehung im Pietismus entwickeln werden konnten. Bloß lassen sich aus diesem Begriff keine Merkmalskonfigurationen ableiten, die in den Quellen ohne weiteres inhaltsanalytisch identifizierbar wären und folglich über deren Repräsentativität entscheiden könnten. Denn die Spezifik pietistischer Autobiographien ergibt sich, so jedenfalls die These von Teil II, aus der Wirkungsweise des Pietismus als eines sozialen Deutungsmusters. Weil sie eine Funktion der Strukturlogik religiöser Sinnbildung ist, die sich sprachlich in der Form der Texterzeugung sukzessiv objektiviert, kann nicht allein die statistische Häufigkeit des Auftretens bestimmter isolierbarer Merkmale oder Merkmalskonfigurationen über den Erkenntniswert der Quellen entscheiden, sondern es muß auch und vor allem die Gesetzmäßigkeit aufgezeigt werden, mit der sich das unterstellte Deutungsmuster im Vollzug der Texterzeugung im jeweiligen Einzelfall realisiert. Diese Gesetzmäßigkeit, so wurde argumentiert, muß rekonstruktionslogisch aus der sequentiellen Verlaufsform der Sprache erschlossen werden. Wo das gelingt, ist die Quelle eine authentische Ausdrucksgestalt des pietistischen Deutungsmusters und der pietistischen Autobiographik. Die Analyse von Franckes Lebenslauf erhebt nun den
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Teil III Analysen früher pietistischer Autobiographien
Anspruch, ihn als authentische Quelle auszuweisen, vermittels der rekonstruktionslogischen Erschließung ihrer Fallstruktur das heuristisch unterstellte soziale Deutungsmuster des Pietismus empirisch und gleichsam in actu zu belegen und schließlich auf dem Weg theoretischer Generalisierung der gewonnenen Ergebnisse eine These über die kulturgeschichtliche Bedeutung des Pietismus für die Entwicklung moderner autobiographischer Selbstverhältnisse zu gewinnen. Methodisch läßt dieser Anspruch sich allerdings nur einlösen, wenn der Texterschließung ein Verfahren zugrundegelegt wird, das die sprachlichen Sinngebilde in der Sequentialität ihrer Verlaufsform erfaßt - auch das wurde bereits angedeutet. 2 Und tatsächlich prozedierte die Analyse der Gerhardtschen Liedstrophe bereits in der entsprechenden Weise, allerdings ohne daß die methodischen Implikationen dieses Vorgehens thematisiert worden wären. Dazu bestand auch insofern kein Anlaß, als die Vorteile einer sprachlichen Sequenzanalyse - die der sequentiellen Verlaufsgestalt der Sprache zwingend folgende Textanalyse - im Falle von Gedicht- und Liedinterpretationen unmittelbar einleuchtet. Anders verhält es sich freilich bei der Beschäftigung mit Lebensläufen pietistischer Provenienz. Hier mag es befremden, die Entwicklung des Textes sequentiell nachzuvollziehen. Ist das, so mag sich der Leser fragen, nicht redundant? Zumal sich dieser Vorsatz ohnehin nicht bis zum Ende des Textes durchhalten läßt, soll die Interpretation nicht ins Uferlose münden. Dem - vorderhand plausiblen - Redundanzvorwurf liegt aber ein Mißverständnis zu Grunde. Denn er setzt ein inhaltsanalytisches Vorgehen voraus, dessen Absicht es ist, allein den Aussagegehalt eines Textes zu erfassen. „Was teilt uns der Autor eines pietistischen Lebenslaufes mit, und welche Bedeutung hat das Ausgesagte im geistesgeschichtlichen Zusammenhang?" Wer auf diese Fragen eine Antwort sucht, wird die sequenzanalytische Rekonstruktion von Selbst2
Die folgenden Ausführungen und die Textanalysen wurden durch die Kunstlehre der Seqenzanalyse inspiriert, die von Ulrich Oevermann seit Ende der siebziger Jahre im Rahmen seines Forschungsprogramms einer objektiven Hermeneutik entwickelt wurde, und zwar ursprünglich als ein Verfahren qualitativer Sozialforschung zur Deutungsmusteranalyse im Kontext der Sozialisationsforschung. Inzwischen hat es sich in vielen Anwendungsbereichen erfahrungs- und geisteswissenschaftlicher Forschung bewährt. Eine Auseinandersetzung mit den methodologischen Grundlagen der Sequenzanalyse in der objektiven Hermeneutik kann im Rahmen dieser Arbeit nicht angemessen geführt werden. Das ist auch nicht nötig, weil die Sequenzanalyse hier lediglich in heuristischer Absicht praktiziert wird. Die Plausibilität der Ergebnisse entscheidet mithin über ihren Erfolg. Statt deshalb zu der bereits vorliegenden Literatur über die Grundlagen der objektiven Hermeneutik ein zwangsläufig redundantes Referat hinzuzufügen, sei auf folgende einschlägige Titel verwiesen: Oevermann 1979, 1991 und 1993; die konzeptionellen Beiträge in Aufenanger/ Lenssen 1986 sowie in Garz/ Kraimer 1994; Reichertz 1986 und Sutter 1997.
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Zeugnissen sehr wahrscheinlich als zu kleinmaschig bewerten. Deren Anliegen ist aber erklärtermaßen ein anderes. Als Deutungsmusteranalyse sieht sie in den fraglichen Texten vor allem Ausdrucksgestalten spezifisch pietistischer Sprachhandlungen. Ihr ist kein Detail zu unbedeutend, denn gerade in ihm, einer für den Aussagegehalt möglicherweise irrelevanten Wendung, mag sich die Strukturlogik religiöser Sinnbildung besonders markant ausdrücken. Die Methode der Sequenzanalyse erfordert im übrigen auch keine lückenlose Erschließung jeweils des ganzen Textes, sondern sie prozediert so lange, bis sich eine bestimmte Strukturlogik der Texterzeugung herauskristallisiert hat, eine in sich schlüssige Verlaufsgesetzlichkeit, die sich im weiteren Fortgang des Textes immer wieder reproduziert. Ist diese erst einmal identifiziert worden, dann genügen einige wenige Stichproben an späteren Sequenzstellen, um die gewonnenen Ergebnisse zu bestätigen oder nötigenfalls zu falsifizieren. Die Sequenzanalyse schließt damit, daß sie die identifizierte Verlaufsgesetzlichkeit in der Strukturlogik religiöser Sinnbildung motiviert, die sich in dem untersuchten Text gültig objektiviert hat und als solche zum Bestandteil der empirisch erschließbaren sozialen Realität geworden ist. Von einer herkömmlichen Textanalyse unterscheidet sich die Sequenzanalyse also dadurch, daß letztere die Bedeutung des Textes nicht (primär) seinem Aussagegehalt sowie den vielfältigen kontextuellen und intertextuellen Bezügen des Ausgesagten entnimmt, sondern sie als Resultante aus den Wortbedeutungen und spezifischen syntagmatischen Wort- und Satz Verbindungen zu der sequentiellen Verlaufsgestalt eines Absatzes, Abschnittes, schließlich des ganzen Sinngebildes begreift, das der jeweilige Text darstellt. In dieser Verlaufsgestalt objektivieren sich die Sprachhandlungen eines Aktors und mit ihnen die diesem Aktor eigentümliche Typik seines Sprechhandelns. Darüber hinaus hat Jürgen Lehmann in seiner sprechakttheoretischen Untersuchung der Textgattung Autobiographie plausibel machen können, „daß der Vollzug von sprachlichen Handlungen nicht" - wie durchgängig von den Begründern der Sprechakttheorie angenommen - „an die Artikulation von Einzelsätzen gebunden sein muß, sondern auch durch die Äußerung von Texten gewährleistet sein kann. Ein Text, sofern er nicht aus einem Satz besteht, kann z.B. als Abfolge von behauptenden Sprechakten, aber auch als eine sprachliche Handlung verstanden werden, deren Einheit u. a. durch die von der Textlinguistik analysierten Mittel der Kohärenz, der pronominalen Verkettung und durch bestimmte Regelapparate auf syntaktischer und semantischer Ebene garantiert sein kann". 3 Leh-
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Lehmann 1988, 20f.
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manns Erweiterung des sprachpragmatischen Handlungsbegriffs im Kontext der Autobiographieforschung erlaubt es nicht nur, sagen wir, das Apostolische Glaubensbekenntnis als eine Sprachhandlung zu begreifen, sondern eben auch ausführliche Selbstzeugnisse, die als ganze, wie in pietistischen Autobiographien durchgängig der Fall, sprachpraktisch ein Bekenntnis vollziehen. Zu den Regelapparaten, welche die Einheit des Textes als Sprachhandlung sicherstellen, müßten dann auch solche zählen, welche das Bekennen als pietistisches Bekennen im Unterschied zum Bekenntnis in anderen Konfessionen, Religionen, Kulturen und historischen Epochen determinieren. Diese Regelapparate würden bestimmen, welcher Typus einer sprachlichen Verlaufsgestalt aus einer Vielzahl syntaktischer Anschlußmöglichkeiten vom Sprecher de facto realisiert wird. Sowohl die Erzeugung von Sätzen als auch deren Synthetisierung zu einer Sprachhandlung verdankt sich nämlich einer Vielzahl von Selektionsprozessen, in denen ein bestimmtes Wort statt eines anderen, semantisch im Sinne des intendierten Aussagegehalts ebenso gut möglichen, eine bestimmte Formulierung, nicht aber eine der anderen kontextuell passenden, bestimmte Sätze statt anderer geäußert werden. Und wie das Handeln in der „Positionalität" (Plessner) des Aktors fundiert ist, die diesem niemals vollständig - jedenfalls nicht in actu - reflexiv zugänglich wird, so ist die konkrete Verlaufsgestalt eines Satzes oder einer größeren sprachlichen Sequenz das Ergebnis von Selektionen, deren objektive Sinnstruktur sich den Intentionen des Sprechers oder Autors wenigstens teilweise entzieht - die von Sigmund Freud untersuchten sprachlichen Fehlleistungen sind besonders markante Belege für die reflexiv unhintergehbare Spontaneität der Sprachhandlungen. 4 Uber unser Sprechhandeln nicht in toto reflexiv verfügen zu können heißt also nicht, daß es objektiv unstrukturiert wäre bzw. unstrukturierte Anteile enthielte, die gleichsam als dunkle Punkte zwischen den intendierbaren Bedeutungen nisteten. Gerade Freuds Untersuchungen der Fehlleistungen haben gezeigt, daß es sich dabei um hochstrukturierte, bedeutungshaltige Gebilde handelt und nicht um das ganz Andere des Bedeutungsuniversums, um das schlechthin Irrationale. 5 4 Einschlägig für seine Theorie der Fehlleistung ist vor allem Freuds kleine Schrift Zur Psychopathologie des Alltagslehens aus dem Jahr 1901. 5 Ähnliches gilt für die Ergebnisse der psychoanalytischen Traumdeutung. Auch der Träumer verfügt nicht rational über seine Traumproduktion, es träumt sozusagen in ihm. Trotzdem sind seine Träume bedeutungshaltig - darauf verweist allein schon Freuds Unterscheidung zwischen dem manifesten Trauminhalt und dem latenten Traumgedanken, denn sie insinuiert eine bedeutungslogische Tiefenstruktur der phänomenal häufig irritierenden, vermeintlich wirren Träumereien, die der Erwachende ratlos erinnert und dann als unerklärlich wieder vergißt.
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Die Sprachhandlungen eines Aktors, insofern sich in ihnen die Typik seines Sprechhandelns gültig objektiviert, sind authentische Ausdrucksgestalten seiner Persönlichkeit und manifestieren als solche eine unverwechselbar individuelle Fallstruktur. Das gilt für vielfach vom Autor überarbeitete und formal vollends durchdachte, ästhetisch gestaltete, sogenannte „heilige" Texte der Hochkultur ebenso - denn die individualspezifische Logik oder Typik des Denkens bzw. der ästhetischen Sprachgestaltung verrät hier den Autor - wie für die protokollierten Sprachhandlungen in einem Interview, also für Hölderlin ebenso wie für die Verlautbarungen von celebrities in den abendlichen Talkshows der Fernsehgemeinde. Eben dieser Umstand begründet die Aufgabe der Sequenzanalyse. Als Deutungsmusteranalyse besteht ihre Aufgabe genau darin, den sprachlichen Selektionsprozess, der individuierte Verlaufsgestalten generiert, als Funktion eines performanzbestimmenden Regelsystems zu dechiffrieren, das seinerseits in der Strukturlogik hier: pietistischer Sinnbildung verankert ist. Das Deutungsmuster des Pietismus - darauf zielten die methodischen Erwägungen im zweiten Teil dieser Arbeit - ist demnach wirksam nicht nur auf der Ebene der Semantik, des Wortschatzes, über den die Verfasser pietistischer oder pietistisch geprägter Literatur verfügen, sondern eben auch in der für Pietisten realtypischen Genese individuierter sprachlicher Verlaufsgestalten durch die selektionsbedingte Verknüpfung einzelner bedeutungstragender Elemente zu Sequenzen. Die Strukturlogik religiöser Sinnbildung im Pietismus manifestiert sich, so die Erwartung, in der Strukturlogik des sprachlichen Selektionsprozesses, in dem sich Wörter, Formulierungen, Sätze, Absätze und Abschnitte zu autobiographischen Sinngebilden zusammenschließen und unterhalb der Ebene des Meinens etwas über den Autobiographen verraten, was dieser vielleicht nicht einmal mitteilen könnte, weil er sich dessen gar nicht bewußt ist. Die Sequenzanalyse ist mithin eine bestimmte Methode, ein bestimmter modus procedendi der semantischen Textanalyse, denn der Interpret muß zur religiösen Motivierung der spezifischen Verlaufsgestalt einer sprachlichen Sequenz trivialerweise von den Bedeutungen der Elemente ausgehen, aus denen sie sich zusammensetzt. Er darf sich freilich nicht von seinem Kontextwissen, seiner Informiertheit über das Vokabular jener historischen Epoche irreführen lassen, welcher der Text angehört. Das wäre dann der Fall, wenn er die Analyse seiner wörtlichen Bedeutung von vornherein mit dem Argument unterließe, der fragliche Text habe einen geistes- und sprachgeschichtlich spezifischen, allein aus dem historischen Kontext erschließbaren Gehalt. Lexikalische und stilistische - etwa metaphorische - Eigenheiten einer historischen Epoche sind Eigenheiten der für diese Epoche charakteristischen Sprachverwendung und insofern Zeugnisse einer historischen Lebensform. Als solche kön-
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nen sie nur auf der Folie von semantischen Grundbedeutungen verstanden werden, zu denen sie sich wie zusätzliche Bedeutungen verhalten, die in bestimmten, historisch veränderlichen sprachpraktischen Kontexten realisiert werden und den Gehalt der Grundbedeutungen intensional differenzieren. Dabei handelt es sich um eine Spielart des Verhältnisses zwischen semantischen Wort- bzw., in einem weiteren Sinne, Satz- und performativen /iw/fenmgibedeutungen, über das uns die Sprechakttheorie aufgeklärt hat. 6 Die Kenntnis einer logisch-semantischen Wort- und, derivativ, einer Satzbedeutung ist die Voraussetzung dafür, die Außerungsbedeutung des betreffenden Wortes oder Satzes zu erschließen. Hierbei können wir uns auf die Angemessenheitsurteile verlassen, die uns als Sprecher einer Sprache über deren Wort- und Satzbedeutungen intuitiv möglich sind. Die Unangemessenheit der wörtlichen Bedeutung eines Elementes im Kontext der sprachlichen Sequenz ist in der Regel der Diskrepanz zwischen den beiden Bedeutungsarten geschuldet. Der nicht selten von Philologen geführte Einwand, die vermeintlichen Grundbedeutungen von Wörtern seien lediglich die Projektion eines gegenwartsspezifischen Wortverständnisses in eine frühere Sprachstufe, der das Interpretandum angehört, ist - so sehr er im Einzelfall angebracht sein mag - logisch nicht verallgemeinerungsfähig und daher als allgemeiner Einwand hinfällig. Die Konsequenz dieses Einwandes wäre nämlich, daß wir uns nicht über die Partikularität unserer lokalen Soziolekte und Dialekte, ja nicht einmal über unser situatives Verstehen im Hier und Jetzt erheben könnten, denn wir hätten keinen rationalen Grund, zukünftige Möglichkeiten gegenseitigen und gemeinsamen Verstehens zu antizipieren. Wir hätten dann auch keinen Zugang mehr zu Sprachen oder historischen Sprachstufen, die uns nicht durch die hier und jetzt funktionierende parole unserer Alltagssprache intuitiv geläufig sind. Uns fehlte die Handhabe, soziohistorisch bedingte Bedeutungsverschiebungen überhaupt noch als solche identifizieren zu können, die Sprachgeschichte zerfiele stattdessen in eine Kette disparater Symbolwelten. Wir würden - um eine bekannte Sentenz Ludwig Wittgensteins zu paraphrasieren - Autoren wie Francke zu Löwen machen, deren Sprache wir nicht verstehen.
6
Vgl. hierzu Searle 1979 (vor allem das vierte und fünfte Kapitel).
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1. August Hermann
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„Lebenslauffu
1.1. Leben und Werk Franckes Dem Pietismus wurde mehrfach „in dem literarischen Unternehmen der autobiographischen Darstellung", wie Ralph-Rainer Wuthenow formuliert, eine wesentliche geistesgeschichtliche Funktion eingeräumt, nämlich die Literarisierung der Selbstanalyse und die Psychologisierung der Selbstdarstellung miteinander verbunden zu haben. Das Resultat dieser Verbindung führe in die moderne Autobiographik. Ihr Gegenstand ist „erzähltes und in der Erzählung gedeutetes Leben, erfahrenes und erinnertes Ich". Freilich sei der Pietismus nicht bis zu dieser Reife gelangt. Was er dazu liefert, so Wuthenow, „ist nicht der Inhalt, sondern nur eine Reihe von Voraussetzungen und Elementen des Verfahrens..."/ Die Voraussetzungen - das soll die folgende Sequenzanalyse von August Hermann Franckes Lebenslauf zeigen - sind solche des strukturlogischen Säkularisierungspotentials, das die religiöse Sinnbildung im Pietismus erzeugt und der Nachwelt vermacht hat; die Elemente des Verfahrens gründen in den pietistischen Selbstverhältnissen, die von der Psychodynamik der Gläubigen nahezu erzwungen wurden. Beides, Voraussetzungen und Verfahrenselemente der autobiographischen Darstellung, bringt Franckes Text gleichermaßen zum Ausdruck. Autobiographisches aus der Feder August Hermann Franckes ist in vielerlei Hinsicht von Interesse, denn es handelt sich bei dem Verfasser um eine der wirkmächtigsten Persönlichkeiten des Protestantismus im Ubergang vom 17. zum 18.Jahrhundert. Da wir uns im folgenden mit seinem Lebenslauf befassen werden, sollen wenigstens die wichtigsten biographischen Daten nicht in den Fußnotenapparat verbannt werden: 8 Geboren 1663 in Lübeck, Sohn eines Juristen und einer Mutter aus dem Lübecker Patriziat, aufgewachsen in Gotha, von Privatlehrern unterrichtet und in Johann Arndts Wahrem Christentum sowie der puritanischen Erbauungsliteratur unterwiesen, studierte Francke seit 1679 zunächst in Erfurt, wenig später dann vor allem in Kiel und Leipzig Theologie sowie Philosophie und Sprachen (neben den theologisch relevanten auch Französisch, Englisch und Italienisch). Zu seinen akademischen Lehrern zählte der Kieler Kirchenhistoriker und praktische
7
Wuthenow 1974, 37. Zu Leben und Werk Franckes vgl. vor allem Kramer 1880/82; Beyreuther 1961; de Boor 1983; Wallmann 1990, 59-79; Brecht 1993c; Schicketanz 2001, 88-113. 8
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Theologe Christian Kortholt (1632-1694). 9 1685 habilitiert Francke sich mit der Dissertatio philologica de grammatica hebraica an der Philosophischen Fakultät. In Leipzig gründet er 1686 gemeinsam mit seinem Freund Paul Anton das collegium philobiblicum, eine fromme, zugleich aber streng wissenschaftlich ausgerichtete Arbeitsgemeinschaft von Bibelstudenten, die das Interesse Speners findet, aber auch seine Kritik, denn dieser vermißt den Geist seiner collegia pietatis unter den Studenten. Damals lernte Francke, der nach eigener Auskunft die Pia Desideria „vor seinem 20ten Jahr" las, 10 den damaligen Oberhofprediger am kursächsischen Hof Johann Georgs III. auch persönlich kennen, Spener besuchte das collegium im Jahr 1687. In seinem Lebenslauf schildert Francke die Studienzeit in Kiel und Leipzig, unterbrochen und gefolgt von philologischen und exegetischen Privatstudien in Hamburg, Gotha und, nach Ende der Leipziger Zeit, in Lüneburg als eine Zeit des Widerstreits zwischen philologisch-wissenschaftlichen (Francke spricht typischerweise von „weltlichen") Interessen und theologischer Berufung. Seine weitere Entwicklung wurde 1687 durch die Aufforderung ausgelöst, in Lüneburg eine Predigt über Joh 20, 31 zu halten. Francke wollte, ausgehend von der ihm vorgegebenen Textstelle im Neuen Testament, über den nottuenden wahren im Unterschied zum bloß eingebildeten Glauben predigen. Der Lebenslauf schildert seine Bestürzung, als er feststellt, selber nicht zu haben, wozu er von der Kanzel herab die Gläubigen ermahnen will. Er tritt kurzerhand von der Predigt zurück, fällt in eine Zeit religiöser Selbstzweifel, die ihn bis in den Atheismus führen, erfährt in seinem religiösen Ringen endlich die Gnade Gottes als Sieg über die Anfechtungen der Welt und als umfassende Bekehrung zum Glauben. Fortan entwickelt er ein von seinem Bekehrungserlebnis beflügeltes theologisches und pädagogisches Sendungsbewußtsein: er gibt seinen früheren Vorsatz auf, den theologischen Doktorgrad zu erwerben und kehrt, nach einigen Zwischenstationen, darunter in Dresden, wo er sich bei Spener aufhält, nach Leipzig zurück. Auf den Spuren Speners betätigt er sich hier nun im Dienste einer Reform des Theologiestudiums, er doziert an der Universität ganz im Sinne der Vorstellungen, welche die Pia Desideria entwickeln. Zum Ärgernis von theologischer Fakultät und Kirche öffnet er seine „von akademischen Veranstaltungen zu Erbauungsstunden sich wandelnden Kollegs" 11 für die Stadtbevölkerung, engagiert sich gleichzeitig außerhalb der Universität in pietistischen Konventikeln. 1690
9 Vgl. Peschke 1977, 41-64; speziell zur Beziehung zwischen Francke und Kortholt: ebd., 61 ff. 10 Zit.n. Schicketanz 2001, 89. 11 Brecht 1993c, 448.
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schließlich übernimmt Francke ein Diakonat an der Erfurter Augustinerkirche, es kommt aber wegen seiner pietistischen Bestrebungen wieder zum Konflikt mit der lutherischen Obrigkeit. Wesentlich auf Betreiben Speners - zu der Zeit bereits Konsistorialrat und Probst an der Berliner Nicolaikirche - bei der dem Pietismus wohlgesonnenen preußischen Regierung öffnet sich ein Ausweg: eineinhalb Jahre nach seinem Amtsantritt scheidet Francke wieder aus Erfurt, um eine Pfarrei im preußischen Glaucha nebst einer Professur für griechische und orientalische Sprachen an der nahegelegenen und im Aufbau befindlichen Universität Halle zu übernehmen. Hier hat Francke seine historische Bedeutung für den Protestantismus in Deutschland erlangt. Am bekanntesten wurde er als Initiator der Hallischen Stiftungen, eines ausgedehnten Komplexes von Erziehungsanstalten, die er als ihr pädagogischer und wirtschaftlicher Leiter mit unermüdlicher, geradezu unternehmerischer Energie zu einer der anerkanntesten und größten religiösen Bildungsinstitutionen seiner Zeit formte. „Von Anfang an dominiert der Erziehungsgedanke. Francke will Menschen bilden. Frömmigkeit und Tüchtigkeit sind die beiden Ausbildungsziele, . . . an denen sich die Pädagogik seiner Schulanstalten orientierte." 12 1695 beginnt er mit dem Aufbau eines Waisenhauses, später folgt das Pädagogium, ein Internat für die Kinder aus Bürgertum und Adel, unter dessen Absolventen das preußische Königshaus seine Funktionselite rekrutiert. Daß Francke der Mitverfasser der Erziehungsinstruktion für den preußischen Kronprinzen, den späteren Friedrich Wilhelm I. ist, bezeugt die Anerkennung und den Einfluß, die er als Pädagoge genoß. 13 Die erfolgreiche Führung der Franckeschen Anstalten zeigt darüber hinaus auch wirtschaftlichen Sachverstand. „Das Waisenhaus lieferte durch seine fortschreitende Entwicklung wirtschaftspolitische Modelle einer zielbewußten Gemeinschaftsleistung." 14 Sie resultierte schließlich in einem „umfangreiche[n] Schul- und Wirtschaftsorganismus, der die ganze Kraft Franckes und seiner Mitarbeiter forderte. 1727 unterrichteten an den deutschen Schulen 106 Lehrer 1725 Kinder, an den lateinischen Schulen 32 Lehrer und 3 Inspektoren 400 Schüler und am Pädagogium regium 27 Lehrer und 1 Inspektor 82 Zöglinge. Im Waisenhaus waren 100 Jungen und 34 Mädchen mit 10 Erziehern untergebracht. An den Freitischen wurden täglich 255 Studenten und 150 arme Schüler verpflegt. Zusammen mit den Mitarbeitern in den Wirtschaftseinrichtungen boten die Stiftungen Raum für über 3000 12 Wallmann 1990, 70. Vgl. hierzu Franckes Aufsatz „Unterricht, wie die Kinder zur wahren Gottseligkeit und Christlichen Klugheit anzuführen sind" (Francke 1969, 124ff). 13 Zur kulturellen Bedeutung des Hallischen Pietismus in Preußen vgl. Hinrichs 1971. 14 Schmidt 1972, 144.
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Personen, für die teilweise die volle Versorgung zu tragen war". 15 Zu den Schulanstalten kam bereits 1699 eine eigene Lehrerbildungsanstalt hinzu. Francke wirkte ferner als Bibelwissenschaftler 1 6 und Organisator wie spiritus rector der Evangelischen Mission und ökumenischen Bewegung. 1 7 Kirchengeschichtlicher Rang gebührt ihm aber vor allem als Begründer des Hallischen Pietismus. 1 8 Er konnte den Pietismus an der örtlichen Universität durchsetzen und diese zu seinem wichtigsten Zentrum im 18.Jahrhundert ausbauen. Eine Vielzahl von Reformen, die Spener in den Pia Desideria gefordert hatte, wurden hier umgesetzt, die Reformwilligen fanden in Halle eine geistige Heimat. Auch das pietistische Frömmigkeitsverständnis wurde von Francke wesentlich geprägt. Er überführte Speners Theologie der Wiedergeburt und Erneuerung in ein Bekehrungsmodell, das die reuigen Sünder zum „wahren" Glauben führen soll. Darin radikalisierte er entsprechende Ansätze in Johann Arndts Wahrem Christentum und verstärkte die dem Pietismus ohnehin innewohnende Tendenz zur Psychologisierung des Glaubenslebens. Sein eigener, in der Bekehrung zum Glauben zentrierter Lebenslauf wurde den Erneuerungswilligen denn auch zu einer willkommenen und mustergültigen Vorlage ihres eigenen Bekehrungsweges. 1 9 „Von Halle her", so bilanziert Erich Beyreuther die kirchengeschichtliche Bedeutung Franckes, „hat der spätere Pietismus seine Grundaussagen und Grundanliegen gewonnen: Bekehrung, Wiedergeburt, Erneuerung,
15
de Boor 1983, 318. Francke ist Mitbegründer der Observationes biblicae, der ersten theologischen Zeitschrift im evangelischen Christentum, die allein der Bibelwissenschaft diente. Zu Franckes hermeneutischen Grundsätzen vgl. Peschke 1964/66, Bd. 2, 54-126. 17 So ist Halle der geistige wie wirtschaftlich-organisatorische Bezugspunkt der Dänisch-Hallischen Mission in Indien unter Leitung von Bartholomäus Ziegenbalg (1682-1719), einem ehemaligen Schüler der Stiftungen. John Wesley, der Begründer der methodistischen Bewegung in der Neuen Welt, empfing wesentliche Anregungen von Francke, den er persönlich kennenlernte. Verbindungen bestanden zu Herrnhuter Siedlungsgründungen in Pennsylvania. Auch die Entwicklung der Inneren Mission steht in der Tradition Franckes, so die Begründung der Berliner Armenfürsorge durch Baron Hans Ernst v. Kottwitz (1757-1843) und das Missionsprogramm Johann Hinrich Wicherns (1808-1881). In der Nachfolge Franckes und Wiecherns begründet Friedrich von Bodelschwingh (1831-1910) die Krankenanstalten von Bethel bei Bielefeld. Zur Bedeutung Franckes für die ökumenische Bewegung vgl. Beyreuther 1957. 18 Zur Theologie und theologiegeschichtlichen Bedeutung Franckes und des Hallischen Pietismus vgl. neben der zur Biographie Franckes genannten Literatur vor allem Peschke 1964/66 und 1977; Kurten 1985. 19 „Franckes Bekehrungsschema [in seinem Lebenslauf - M.S.] wird in der Folgezeit vor allem als Grundlage für die Praxis der pietistischen Tagebücher wichtig, die als Seelenprotokolle alle bei Francke vorgezeichneten Phasen durch tägliche Selbstbeobachtung herbeiführen und nachvollziehen sollen" (Niggl 1977, 7). 16
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Heiligung und das Verlangen nach Vollkommenheit. Francke ist hier typenbildend geworden" 20 - nicht zuletzt durch seinen Lebenslauf.
1.2. Der Begriff „Lebenslauf' Wer sich systematisch mit Franckes Theologie beschäftigt, ist also auch auf seinen Lebenslauf verwiesen. Er wird in ihm nicht nur biographisch Wissenswertes, sondern auch Aufschluß über die Grundsätze seines bekehrungstheologischen Glaubensverständnisses finden. 21 Die folgende Sequenzanalyse interessiert sich für den kleinen autobiographischen Text dagegen ausdrücklich nicht als Einkleidung einer anderswo theoretisch ausgeführten Theologie, sondern allein - im Sinne der in der Zwischenbetrachtung erarbeiteten Fragestellung - als Ausdrucksgestalt religiöser Sinnbildung, in der - umgekehrt - die Theologie verwurzelt ist. 22 Der vollständige Titel der Schrift lautet: Η. M. August Hermann Franckens vormahls Diaconi zu Erffurt, und nach dem er daselbst höchst unrechtmäßigst dimittiret, zu Hall in Sachsen Churf. Brandenburg. Prof. Hebraeae Linguae, und in der Vorstadt Glaucha Pastoris Lebenslauff.~23 Er stammt allerdings nicht von Francke, sondern von seinem Freund, dem Jenenser Geschichtsprofessor Sagittarius. 24 Weil der von fremder Seite hinzugefügte Titel des Franckeschen Manuskriptes nicht zu seinem Bedeutungsgehalt zählt, sondern zu demjenigen seiner Uberlieferungsgeschichte, wird die Interpretation ihn ausklammern. Allein der Begriff „Lebenslauf" ist zu berücksichtigen, denn Francke hat sich brieflich wiederholt über sein Manuskript als einen Lebenslauf geäußert. 25 20
Beyreuther 1978, 175f. Ein instruktives Beispiel für dieses Motiv der Textlektüre bietet Petra Kurten: Kurten 1985, 26-68. Lesenswerte Interpretationen des Lebenslaufs geben auch Wendland 1920; Aland 1960; de Boor 1975; Henningsen 1977. 22 Wendland und de Boor stehen diesem Ansatz nahe, aber auch sie lesen den Text nicht als genuine Ausdrucksgestalt der Religiosität Franckes, sondern vielmehr als deren religionspsychologische Auskunftsquelle. Die Sprachgestalt als solche berücksichtigt Henningsens strukturalistische Untersuchung. Aber bei keinem der Autoren spielt die Ausdruckskategorie eine Rolle. Sequenzanalytisch verfährt ebenfalls keiner der bisherigen Interpreten. 23 Der folgenden Analyse wird die von Erhard Peschke besorgte historisch-kritsche Ausgabe des Lebenslaufs zugrundegelegt (Peschke 1969, 5-29). 24 Zur Herkunftsgeschichte des Textes vgl. die Zusammenfassung von Peschke in Francke 1969, 4 f. 25 Im Frühjahr 1692 hatte sich Philipp Jakob Spener wegen eines „mit dem atheismo luctirenden" Menschen ratsuchend an Francke gewandt und dieser kündigte ihm seinen Lebenslauf zur Stütze des Glaubenszweiflers an (vgl. Kramer 1861, 221). In seinem Brief an Spener vom 22. März löst er seine Ankündigung ein: „So sende denn auch die copiam von einem Theil meines Lebenslauffs . . ( z i t . n . Kramer 1861, 223). 21
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Der Lebenslauf gehört neben Tagebuch, Brief und Lebensbeschreibung zur Gattung der Selbstzeugnisse im weiteren Sinne. Charakteristisch für diese und zugleich ein maßgebliches Kriterium der Binnendifferenzierung zwischen den vielen Spielarten des Autobiographischen ist das Verhältnis von Privatheit und Öffentlichkeit sowie das Problem der Vermittlung zwischen dem Privatheitsgrad der Selbstmitteilung und dem Öffentlichkeitsgrad der Adressierung. 26 Je privater das Mitgeteilte, desto schwieriger ist dessen Veröffentlichung legitimierbar, insofern sie implizit auf geltende kulturelle Kodifikationen des Austausches zwischen Individuum und Gesellschaft bezogen ist; grundsätzlich gilt ja nicht nur der Schutz der Privatsphäre vor voyeuristischen Obsessionen der Öffentlichkeit, sondern ebenso umgekehrt die Bewahrung der Offentlichkeitssphäre vor exhibitionistischen Obsessionen der Privatheit. Sprachpraktisch spannen sich die Spielarten des Autobiographischen hinsichtlich ihrer Vermittlung von Privatheit und Öffentlichkeit zwischen den Polen der mündlichen Lebenserzählung und den Memoiren auf. Die Lebenserzählung hat ihren Sinn in der Ausbildung und Stabilisierung diffuser Sozialbeziehungen, paradigmatisch im Falle der Liebesbeziehung: Liebende eröffnen einander zu Beginn der Beziehung ihre Vorgeschichte. Kierkegaard nennt das einmal „Offenherzigkeit, Aufrichtigkeit, Offenbarsein im größten denkbaren Maßstabe; denn dies ist der Liebe Lebensprinzip, und Heimlichkeit hier ist ihr Tod". 2 7 Insofern die Lebenserzählung dem Aufbau, der Vertiefung und Verstetigung zwischenmenschlicher Beziehungen dient, ist sie wesentlich dialogisch - sie wird begleitet von Kommentaren und Nachfragen des Adressaten - und daher in der Regel - es sei denn im Falle räumlicher Trennung, die der Brief überwinden muß - nicht schriftlich fixiert. Die Memoiren dagegen appellieren an ein anonymes Publikum, das in keiner lebenspraktischen Beziehung zum Autor steht. Sie enthalten Privates nur nach Maßgabe der handelnden Beteiligung des Verfassers an der Zeitgeschichte, um die es eigentlich geht und von deren subjektiver Erfahrung und Beeinflussung er berichtet. Am größten ist die Aufgabe der Vermittlung von Privatheit und Öffentlichkeit in jener Textgattung, die - dem geläufigen Wortgebrauch folgend - als Autobiographie im engeren Sinne bezeichnet wird: der Lebensbeschreibung. 28 Denn sie hat mit 26
Dieses Kriterium wird von der gattungstheoretischen Literatur zur Autobiographie merkwürdigerweise kaum beachtet. Vgl. zur Gattung der Autobiographie Pascal 1965, v. a. 11-32; die Beiträge im theoretischen Teil von Niggl 1998, einer exemplarischen Auswahl von Forschungsansätzen der gegenwärtigen Autobiographieforschung; vor allem Jürgen Lehmanns sprechakttheoretische Konzeptualisierung der Autobiographie: ders. 1988. 27 Kierkegaard 1957, 2./3. Abt., 111. 28 Misch entspricht diesem Verständnis von Autobiographie, indem er sie als „Be-
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der Lebenserzählung den Anspruch der Selbstoffenbarung im Sinne Kierkegaards gemeinsam, während sie mit den Memoiren - im Unterschied zu Brief und Tagebuch - die Rezeption durch ein anonymes Publikum teilt. Die Spannung, die sich daraus ergibt, kann die Autobiographie in verschiedener Weise schlichten. Formal durch die Literarizität, also den ästhetischen Wert, der die Adressierung einer öffentlichen Leserschaft material legitimiert, inhaltlich entweder durch den Vorbildcharakter des Autobiographen, dessen persönliche Lebensführung das Format eines öffentlichen Maßstabs hat, oder auch durch die individuelle Umsetzung eines verallgemeinerungsfähigen Programms der Lebensführung. 29 Historisch hat sich die Autobiographie als Textgattung bis ins 18.Jahrhundert in aller Regel an ihrer Funktion orientiert, der Darstellung einer individuell vorbildhaften und - gemäß einem geltenden Kanon von Werten - transindividuell verallgemeinerungsfähigen Lebensführung zu dienen. 30 Sie war mithin außerästhetisch, gleichsam durch ihren Nutzwert legitimiert und deshalb lange Zeit das ungeliebte Kind von Literaturwissenschaftlern, die ihre Aufgabe vor allem in der Traditionsbewahrung der literarischen Hochkultur sahen. 31 Die genuin ästhetische Legitimierung der Autobiographie ist denn auch eine späte Errungenschaft ihrer Gattungsgeschichte. Ihr Begriff taucht in Deutschland überhaupt erst um 1790 auf, und das ist genau die Zeit, in der sich das autobiographische Schreiben seiner literarischen Form als eines ausgezeichneten Mediums ästhetischer Expressivität zu besinnen beginnt. Für die Autobiographie wird charakteristisch, „was in der Memoirenliteratur nicht gestattet sein kann, daß fiktionale Elemente sich mit den sozusagen realen durchdringen, wie es der Titel der Goetheschen Autobiographie ,Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit' deutlich zu erkennen gibt. Denn Imaginationen und Träume sind Teil der erinnerten Lebenswirklichkeit, und das Erinnern selbst ist der Ein-
schreibung des Lebens eines Einzelnen durch diesen selbst" definiert (Misch 1969, Bd. I, 7). Die folgenden Textanalysen werden allerdings zeigen, daß diese Definition der pragmatischen Bedeutung autobiographischen Schreibens nicht gerecht wird. 29 Wie es denn Benvenuto Cellini im ersten Buch seiner Vita so treffend forderte: „Alle Menschen, von welchem Stande sie auch seien, die etwas Tugendsames oder Tugendähnliches vollbracht haben, sollten, wenn sie sich wahrhaft guter Absichten bewußt sind, eigenhändig ihr Leben aufsetzen, jedoch nicht eher zu einer so schönen Unternehmung schreiten, als bis sie das Alter von vierzig Jahren erreicht haben" (Cellini 1996, 8). 30 Zur Geschichte der Autobiographie vgl. allgemein Misch 1962ff; zur Geschichte der Autobiographie im 18.Jahrhundert Wuthenow 1974 und Niggl 1977; zur Geschichte der deutschen Autobiographie Mahrholz 1919; Klaiber 1921. 31 Vgl. Shapiro 1968.
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bildungskraft verschwistert". 32 So nähert sich die moderne Autobiographie dem Roman an. 33 Wie verhält sich der Lebenslauf zur Autobiographie? Als Kompositum, Lehnsübersetzung des lateinischen curriculum vitae aus dem 17. Jahrhundert, bedeutet es durch sein Grundwort bei aller Vieldeutigkeit des metaphorischen Sprachgebrauchs wörtlich eine einheitliche, nämlich identifizierbar gestalthafte, zwar gerichtete, aber nicht notwendig zz'e/gerichtete, kontinuierliche Bewegung mit Anfang und Ende. Der Flußlauf entspringt einer Quelle, erstreckt sich durch wechselnde Landschaften, durchwindet Täler und Gebirgszüge, Städte und Felder, mündet ins Meer; der Lebenslauf findet seine Landschaften nicht vor, seine Gebirge und Täler sind nicht schon vor dem Leben da, sondern sie sind die Situationen, Ereignisse und Handlungen dieses Lebens selbst. Der Lebenslauf ist die Strecke, die das Leben durch Begegnungen und Verfehlungen, durch genutzte und ungenutzte Chancen, Erfolge und Niederlagen, jedenfalls wohl kaum durch Zufall - denn das mir Zufallende muß von mir aufgefangen werden - , vielmehr durch mein Tun und Lassen zurückgelegt hat. Er ist daher auch objektiv nachvollziehbar: weder verläuft er spurlos, noch ist er so unwägbar perspektivisch gebunden wie der Lebens sinn. Aus diesem Grund hat sich das Wort „Lebenslauf" sprachpraktisch für Selbstzeugnisse eingespielt, die den Lauf des Lebens kursorisch nachzeichnen und sich dabei im wesentlichen auf dessen objektive Ereignisse und Zäsuren - Geburt, Herkunft, Ausbildung, Familienstand etc. - beschränken, anstatt wie die Lebensbeschreibung zur breiten Schilderung von inneren Empfindungen und Selbstreflexionen anzusetzen, welche diese Ereignisse und lebensgeschichtlichen Zäsuren begleitet oder verarbeitet haben mögen. Ein Lebenslauf kann also zweierlei sein: die Geschichte dieses Lebens oder deren sprachliche, kursorische Darstellung. Daß beides begrifflich nicht unterschieden wird, spricht dafür, daß die Sichtweise des Schreibenden auf das beschriebene Leben für den Lebenslauf von minderer Bedeutung ist. Deshalb spricht man von Lebensläufen auch dann, wenn sie von Dritten verfaßt werden. Bei ihrer Niederschrift, heißt das, scheinen die Perspektiven der Ersten und der Dritten Person austauschbar zu sein. Sie markieren die Schwelle zwischen autobiographischen und biographischen Texten. 34
32
Wuthenow 1992, 1267. Vgl. zum Verhältnis von (literarischer) Autobiographie und Roman vor allem Müller 1976. 34 Seit dem 18.Jahrhundert werden immer wieder Sammlungen von Lebensläufen veröffentlicht, die dem Leser die religiös oder ethisch virtuose Lebensführung vorbildlicher Menschen durch die kursorische Präsentation der wichtigsten Ereignisse ihrer Lebens33
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Wegen ihrer Reduktion des Individuellen auf objektiv nachvollziehbare lebensgeschichtliche Zäsuren möchte man meinen, Lebensläufe seien für eine möglichst breite Öffentlichkeit prädestiniert. Indessen ziehen sie dem Interesse der Leser enge Grenzen, sofern diese primär die Darstellung der Binnenperspektive einer persönlichen Lebensführung erwarten. Der ideale Adressat eines Lebenslaufes ist mithin eine Leserschaft, welche die individuelle Umsetzung des Programms einer sozial anerkannten Lebensführung mehr oder weniger anschaulich dokumentiert wissen will. 35 Ist diese Dokumentation autobiographisch, so spricht das für ihre Authentizität; sie ist aber nicht prinzipiell gefordert wie im Falle der psychologischen Selbstdarstellung in der Autobiographie. Uber die bloße Information der Leser hinaus kann der Lebenslauf dann auch der Selbstvergewisserung einer sozialen Gemeinschaft durch Veranschaulichung der vorbildhaften Umsetzung ihrer Regeln und Normen im Leben eines Individuums und also derselben Funktion dienen, durch die auch die Autobiographie ihre Adressierung einer anonymen Öffentlichkeit inhaltlich legitimieren kann und es bis zum Beginn der literarischen Moderne im 18.Jahrhundert zumeist getan hat. Dieser Befund wird durch den häufigsten quellenmäßig erfaßten Verwendungskontext des Lebenslaufs in der Frühen Neuzeit bestätigt. Er fand nämlich eine weite alltägliche Verbreitung innerhalb des protestantischen Funeralzeremoniells, wozu er als Bestandteil der Leichenrede ge-
geschichte vorführen sollen. D a ß der Lebenslauf als Gattung sowohl der Autobiographie wie der Biographie zuzuordnen ist, verdeutlicht sehr schön die mehrbändige pietistische Sammelbiographie Historie der Wiedergebohrnen, die sowohl selbstverfaßte wie aus fremder Feder stammende Lebensläufe enthält (vgl. dazu unten 226ff). J o h a n n Henrich Reitz' Historie der Wiedergebohmen, die erstmals 1698 erschien, begründete zusammen mit Gottfried Arnolds zwei J a h r e jüngeren Sammlung Das Leben Der Gläubigen eine neue Gattungstradition: „Sie wurden zum vielkopierten Muster f ü r die gesamte Geschichte der pietistischen Sammelbiographien, Sammlungen von aus verschiedensten Quellen und Berichten zusammenkompilierten, durch Exempla aus dem seelsorgerlichen Umkreis der Verfasser vermehrten Beispielserzählungen vorbildlicher christlicher Lebensläufe, Seelenprozesse, Bekehrungsmuster, Glaubensbewährungen und Sterbensbeseligungen" (Schräder 1982, 131*). Auf die Autorschaft kommt es bei diesen Texten nicht vorrangig an. Die Inhalte sollen sich von der Perspektive des jeweiligen Verfassers ablösen lassen. 35 Das heißt nicht, d a ß Lebensläufe auf traditionale Gesellschaften beschränkt sind, noch d a ß in solchen keine psychologischen Lebensbeschreibungen möglich sind. Im Gegenteil, dem genannten Funktionsprofil des Lebenslaufes in traditionalen Gesellschaften entspricht auch noch der moderne Lebenslauf als konventionalisierter Bestandteil einer Bewerbung, insofern er dem Zweck der Personalabteilungen dient, unter potentiellen Arbeitnehmern nach standardisierten Gesichtspunkten eine Auswahl zu treffen. Diese Gesichtspunkte sind nämlich begründet in einem gesellschaftlich verbindlichen Muster von Erfolg und Soziabilität, dem die Bewerber möglichst zu entsprechen streben, um ihre Einstellungsaussichten zu erhöhen.
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hörte. 36 Dieser oblag gewöhnlich das Lob des Verstorbenen, die Klage über sein Ableben und schließlich der Trost der Angehörigen. Zunächst Schloß sich der Lebenslauf daran als curriculum vitae des Verstorbenen an. Aber schon im 16.Jahrhundert erweitern sich die biographischen Auskünfte und erhalten neben der Predigt ihren selbständigen Ort, „sodaß aus dem ,personal' bezogenen Redematerial im Sinne rhetorischer inventio eine eigene Schwestergattung der protestantischen Leichenpredigt entstanden ist, die in der Folge als Personalia, , Ehrengedächtnis', ,memoria' etc. bezeichnet wird". 37 Die Personalien werden in aller Regel von Angehörigen und Freunden, oder sogar von Studenten und anderen bezahlten Schreibkundigen verfaßt, daher auch zuweilen „Eigener Lebenslauf" für die Autobiographie steht, oder, wie bei Jean Paul, „Selberlebensbeschreibung".
1.3. „Gott hat mir eine Liebe zum wort Gottes... ins Hertz gesencket": der Anfang
von Kindes Beinen an
Auch von Francke sind Leichenpredigten überliefert. 38 Doch unterscheidet sich sein eigener Lebenslauf evidentermaßen von den memoria im Umkreis des protestantischen Funeralzeremoniells: erstens ist er selbstverfaßt und zweitens zu einem Zeitpunkt niedergeschrieben, als die Lebensmitte des Verfassers noch vor ihm liegt, wird also wohl weder die Funktion eines Ehrengedächtnisses erfüllen sollen, noch auch nur die Bilanz aus einem an Erfahrungen reichen, langen Leben ziehen können. Gleichwohl gilt von ihm grundsätzlich ebenso wie von der Autobiographie, was beide gleichermaßen vom Tagebuch unterscheidet, das niemals „auf so systematische Weise retrospektiv" 39 sein kann: sie fügen das Geschehene in einen sinnlogisch stringenten Zusammenhang, das Disparate zur - mehr oder minder ausführlichen - Einheit und Ganzheit. Wie also ist der Umstand motivierbar, daß ein nicht einmal Dreißigjähriger seinen eigenen Lebenslauf verfaßt, anstatt über das ihn lebensgeschichtlich Bedrängende Tagebuch zu führen, und zwar ohne daß eine soziale Konvention - wie heutzutage im Falle der beruflichen Bewerbung - ihn dazu angehalten hätte? Offensichtlich muß derart Bedeutsames sich ereignet haben, daß der Verfasser sich genötigt fühlte, seinen bisherigen Lebensweg im Lichte der dadurch eingetretenen Ve36 Vgl. zur Leichenpredigt in der Frühen Neuzeit Winkler 1967; die Beiträge in Lenz (Hg.) 1975 und 1981. 37 Eybl 2001, 149. 38 Francke 1723. 39 Pascal 1965, 14.
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ränderungen darzustellen. Der Lebenslauf wäre dann in erster Linie rückwirkende Interpetation, möglicherweise auch Reinterpretation des gelebten Lebens. Die kann natürlich der privaten Neuorientierung dienen und ohne die Absicht geschehen, diese auch der Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Im Falle Franckes steht es damit allerdings anders: 40 er hat ihn zunächst (nämlich 1692) an Spener gesandt, damit dieser ihn einem in seinem Glauben angefochtenen Menschen zukommen lasse, und ihn später dann auch Sagittarius zur Verfügung gestellt. Schließlich wird im Lebenslauf wiederholt der Leser adressiert. 41 Francke hat also vielleicht nicht an eine sofortige Veröffentlichung gedacht, eine spätere aber nicht nur nicht ausgeschlossen, sondern sie in der Form der Niederschrift ausdrücklich berücksichtigt und sich von Anfang an zur Einsicht des Textes durch Dritte bereiterklärt. Interessant ist weiterhin sein seelsorgerliches Motiv bei der Weitergabe des Lebenslaufes. Offensichtlich soll er erbaulich wirken. Als vorzeigewürdig erachtet Francke ihn also nicht wegen seiner Form, sondern aufgrund des - jedenfalls der Intention nach - beispielgebenden Inhalts, das heißt entweder des Ereignisses, das seine Niederschrift veranlaßt hatte, oder des Verhältnisses, das der Verfasser zu diesem Ereignis eingenommen hat. In diesem Sinne könnte etwa sowohl ein unvorhergesehener Gnadenerweis Gottes an den Verfasser auf die gläubigen Leser erbaulich wirken - sofern sie ermutigt würden, sich Gleiches für sich zu erhoffen und sich nun wiederum an dieser Hoffnung im Glauben zu stärken - als auch die Art und Weise, wie der solcherart Begnadete damit umginge. Im letzteren Fall wäre die Veröffentlichung des Lebenslaufes durch einen Dreißigjährigen indessen riskant: wie soll er sich sicher sein, daß seine nach eigenem Erachten beispielgebende - und insofern erbauliche - lebenspraktische Antwort auf die erwiesene Gnade dauerhaft ist, wie kann er - als Dreißigjähriger
40
Vgl. hierzu die kurze editorische Notiz von Pescke: Francke 1969, 4. Dafür spricht jedenfalls der ausdrückliche Bekenntnischarakter einiger Passagen (vgl. z.B. Francke 1969, 7: „Dieses muß ich Gott zum preiß von meinem gantzen Leben bekennen ..."), die sentenzenhaften Bilanzen aus seinen Lebenserfahrungen, die auf Belehrung zielen, deutlicher noch Warnungen und Ermahnungen (vgl. ebd.: „Also ist mirs recht in die Hände kommen: ... daß es nicht gnug sey, die Jugend zur wahren Gottseligkeit anzuweisen, sondern man müsse sie auch bey Zeiten für die listige Verführung der weit warnen") und schließlich die vehemente Selbstverteidigung seiner Übersetzung eines katholischen Mystikers (es handelte sich dabei um den Guida spirituale von Miguel de Molinos (1628-1696); vgl. ebd., 20f). Das alles ergibt keinen Sinn, wenn der Verfasser seinen Lebenslauf nicht wenigstens implizit für ein Lesepublikum aufgeschrieben hat. Er muß daher mehr sein als ein bloßer Rechenschaftsbericht vor sich selbst, wie Kurt Aland gemeint hat (Aland 1960, 548). 41
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- sich seines Glaubens derart gewiß sein? Doch lassen wir den Text selbst sprechen: „Gott hat mich an diese weit lassen gebohren werden in der Stadt Lübeck Anno 1663 den 12 Martii. Mein Vater ist gewesen Johannes Francke, Beyder Rechten Doctor, und weyland J. Fürstl. Durchl. Zu Sachsen Gotha, Ernesti Pii, H o f f und Justitien Raht, eines Beckers von Lübeck, Johann Franckens, eheleiblicher Sohn. Meine Mutter, welche mir Gott bißanhero erhalten, ist Anna Franckin, gebohrne Gloxinin, David Gloxins Kays. Rahts und ält. Bürgermeisters zu Lübeck, eheleibliche Tochter." 42
Gattungsgemäß beginnt der Lebenslauf mit der Angabe von Geburtsdatum und -ort. Francke hebt Gott als planvollen Initiator der Geburt hervor, an der Kind und Eltern nur nachgeordnet beteiligt sind: das Kind als Objekt des göttlichen Willens und die Eltern - das betont vor allem das Hilfsverb „lassen" - als Gottes Erfüllungsgehilfen. Sowohl die Autonomie der Eltern, die sich zur Zeugung und Erziehung eines Kindes konkret entschließen müssen, wie die Einzigartigkeit des Kindes, dessen Geburt strukturell die Möglichkeit zukunftsoffener, sozial zwar prädisponierter, aber nicht prädeterminierter Individuierung begründet, erscheinen aufgehoben in einer theokratischen Weltordnung, die der Verwirklichung des göttlichen Weltplans dient. In diesem Weltplan ist der Verfasser bereits vor seinem Lebenseintritt vorgesehen, denn „lassen gebohren werden" heißt verwirklichen, was vorgesehen ist. Die Fügung von Kind und Eltern in die göttliche Weltordnung wird von der Ortsangabe „an diese Welt" unterstrichen. Das Demonstrativpronomen setzt nämlich durch seine deiktische Kennzeichnung des Hier und Jetzt irdischen Daseins indirekt zugleich eine andere, jenseits dieser, gleichsam im Dort und Einst gelegene Welt. Das Diesseits hat seine Bestimmung nicht in sich und gewinnt sie auch nicht aus sich selbst, sondern durch sein Verhältnis zum Jenseitigen. So wird das irdische Dasein des Menschen auf die Transzendenzinstanz des Gottesreichs bezogen und in seiner Geltung religiös relativiert. Nun ist die Dialektik von Immanenz und Transzendenz in der zitierten Passage gar nicht thematisch. Denn es geht hier ja nur um die formelle Angabe der familiären Deszendenzlinie des Verfassers. Das spricht dafür, daß die besagte Formulierung eine frömmigkeitspraktische Sprachkonvention ist, welche eine unthematische, gleichsam sprachlich beiläufige Vergegenwärtigung der Erlösungsbedürftigkeit des Menschen aus dem Jammertal" seiner irdischen Existenz habitualisiert. Ohne von seiner Frömmigkeit zu sprechen, färbt diese die Sprache des Verfassers ein.
42
Ebd., 5 f.
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Franckes Herkunftsangaben sind bei aller zeittypischen Konventionalität ebenfalls aufschlußreich. Daß die Angabe der Deszendenzlinie auch die Großeltern umfaßt, ist ja grundsätzlich erklärungsbedürftig, denn die weitverbreitete Vorstellung von der traditionellen Lebensgemeinschaft, in der die Großeltern mit einem Ehepaar der Kindergeneration und den Enkelkindern zusammenlebten, läßt sich historisch nicht als generelles Phänomen verifizieren. Sie ist wohl eher das Produkt einer nachträglichen Romantisierung durch das 19.Jahrhundert. 4 3 Gleichwohl wird die personale Identität in der ständischen Gesellschaft von dem sozialen Status der Großfamilie geprägt. Sie stellt den traditionalen Vergemeinschaftungsrahmen, an dem sich die Mitglieder lebenspraktisch orientieren. Durch die Angabe der Berufe und Titel seiner Vorfahren - Bäcker, Bürgermeister, Jurist - stellt Francke sich nämlich in die ihm vorgegebene berufliche Traditionslinie, deren sinnvolle Bewahrung und Fortsetzung er auf diese Weise als Maßstab für sein eigenes Leben implizit anerkennt - möglicherweise in bewußter bürgerlicher Aneignung der aristokratischen Genealogie als historischer Vorlage. Luthers Aufwertung der Erwerbsarbeit zum Berufsethos klingt darin durch. Franckes Vater und seine Großväter sind Vertreter des absolutistischen Rechtswesens, der städtisch-bürgerlichen Selbstverwaltung und des hoch angesehenen Handwerks, erfüllen also gesellschaftliche Funktionen, die vom wirtschaftlich und politisch aufstrebenden Bürgertum wahrgenommen werden. 44 Die für Lebensläufe typische Herkunftsbestimmung ist im Falle Franckes wesentlich eine von ihm ausdrücklich hervorgehobene Bestimmung bürgerlicher Herkunft - wie er denn auch betont, in einer „Stadt" geboren worden zu sein. Für nennenswert hält er außerdem die „eheleibliche" Geburt seiner Eltern, die sie - und damit auch ihn selbst - als legitime Nachfahren der Familiengeschichte ausweist. „ D i e s e meine liebe Eltern haben mich b a l d nach meiner leiblichen G e b ü h r t z u r h. T a u f f e a l s z u m B a d d e r W i e d e r g e b u r t b e f o r d e r t , a u c h d a ich im d r i t t e n J a h r meines alters mit Ihnen u n d d e n übrigen G e s c h w i s t e r n von L ü b e c k nach G o t h a k o m m e n , mich g a r zeitig zur Schulen gehalten, und d a anfänglich wegen zarter K i n d h e i t , u n d d a r n a c h w e g e n a n d e r e r U m s t ä n d e es s i c h m i t d e r ö f f e n t l i c h e n
Vgl. Segalen 1986, 2 0 - 2 4 ; van Dülmen 1990, 2 4 - 2 9 . D a s Streben nach sozialem R a n g innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft gilt wohl vor allem für das väterliche Erbe: der Aufstieg vom kleinen Handwerker zum Juristen im höfischen Rechtswesen innerhalb nur einer Generation dokumentiert einen starken bürgerlichen Leistungswillen. D a ß der Preis für den „äußeren Aufstieg" ein „inneres Minderwertigkeitsgefühl" gewesen sein soll, wie M a g d a l e n e Maier-Petersen mit ideologiekritischer Wachsamkeit festgestellt haben will, ist indessen pure Spekulation; die Verfasserin bringt auch keinerlei Belege für ihre These (vgl. Maier-Petersen 1984, 197). 43 44
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Schule nicht schicken w o l l e n , mir mehrentheils z u H a u s e , theils aber auch ausserhalb H a u s e s privat Praeceptores gehalten." 4 5
Die Apostrophierung der Eltern steht in einem spannungsreichen Kontrast zu der Anfangsformulierung „Gott hat mich . . . lassen gebohren werden". Denn statt prinzipiell kontingenter Platzhalter innerhalb der göttlichen Weltordnung begegnen uns in der attributiven Anrede von Vater und Mutter als „liebe Eltern [Hervorhebung von mir - M.S.]" konkrete Individuen. Wir gebrauchen das Attribut zumeist in einem ganz bestimmten und eingeschränkten Verwendungssinn des Nomens, den Martin Luther folgendermaßen definiert hat: „Liebe aber heiszet auf deutsch (wie jedermann weis) nichts anders, denn von herzen einem günstig und hold sein, und alle gute und freundschaft erbieten, und erzeigen." 46 Genau das ist auch heute noch die wörtliche Bedeutung, wenn wir von unseren Verwandten, Freunden oder Arbeitskollegen sprechen. Sie besagt die gefühlvolle Zuneigung zu Menschen, die uns wegen einander praktisch oder ideell verbindender Interessen, Eigenschaften oder Tätigkeiten nahestehen. Was Luther als allgemeine Begriffsdefinition des Nomens formuliert, charakterisiert also vor allem dessen attributiven Gebrauch. Die „lieben Eltern" scheinen in Luthers Wortverständnis indessen ebenso wenig aufzugehen wie die „lieben Kinder". Diese sprachpraktisch nicht minder eingeführten Ausdrücke betreffen im Unterschied zur Freundschaft oder verwandtschaftlichen Bekanntschaft eine asymetrische Beziehung, welche Luthers Definition im Sinne der Fürsorglichkeit (von Eltern gegenüber Kindern) und Dankbarkeit (von Kindern gegenüber Eltern) spezifiziert. In diesem Sinne formuliert Francke, seine Anrede dokumentiert mithin die gefühlvolle personale Zuneigung einer individualisierten Eltern-Kind-Beziehung, die auf der asymetrischen Reziprozität von Fürsorge und Dankbarkeit beruht. Nun ist diese hier gar nicht thematisch, es handelt sich also - ganz ähnlich wie bei der Formulierung „an diese Welt" - um eine sprachpraktisch eingelebte Anrede. Und die Gebräuchlichkeit des Ausdrucks ist wiederum ein Anzeichen dafür, daß die gefühlsbetonte Individualisierung des Verhältnisses zwischen Eltern und Kindern zur Zeit Franckes nicht mehr unter Begründungsdruck stand und deshalb auch nicht mehr eigens thematisiert werden mußte. Sie signalisiert eine Gefühlskultur, welche das traditionelle Deutungsmuster der göttlichen
45
Francke 1969, 6. Zit.n. Grimm 1854ff, Bd.6, 917. Das Wort übt seiner Auffassung nach sogar eine derartige Strahlkraft auf das Gefühl aus, daß er sich vergleichbare Wirkungen in anderen Sprachen schwer vorstellen kann: „... und ich weis nicht, ob man das wort liebe, auch so herzlich und gnugsam in lateinischer oder andern sprachen reden möge, das also dringe und klinge ins herz, wie es thut in unser spräche." (Ebd., 899) 46
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Seinsordnung und ihres starren gesellschaftlichen Rollenmodells individualisierend aufbricht. Daß wir heute häufig nur noch ironisch von den „lieben Verwandten, Eltern, Kindern, Freunden" sprechen, ist denn auch kein Indiz für den Schwund von Gefühlen, sondern der Gefühlskultur, in der diese Rede- und Schreibweise ein selbstverständliches Ausdrucksmedium war. Nun erweckt die demonstrative Bezugnahme auf die Eltern („Diese meine liebe Eltern" [Hervorhebung von mir - M.S.]) die Erwartung, es werde im Sinne der gefühlsakzentuiert individualisierten Eltern-KindBeziehung eine für den Sohn besonders bedeutsame Eigenschaft oder Leistung der beiden benannt. Der Satz würdigt denn auch ihre Achtsamkeit, das Kind frühzeitig, nämlich „bald" nach seiner „leiblichen Gebührt" haben taufen zu lassen. Die Unterscheidung zwischen der leiblichen Geburt und der Wiedergeburt - in der prominenten Formulierung des Titusbriefes spricht Francke vom „Bad der wiedergebuhrt" entspricht der soteriologischen Bedeutung des Taufgeschehens im Sinne Luthers, wonach der in statu nascendi sündige Mensch als vom Heiligen Geist beseelt und der Gnade Christi teilhaftig „wiedergeboren" oder „neu geboren" werde. Franckes Betonung der baldigen Taufe läßt zwei Lesarten zu, einerseits - angesichts der damals hohen Kindersterblichkeit - die Betonung der elterlichen Sorge, das Kind könne vielleicht vor der Zuwendung des sakramentalen Segens sterben, andererseits das Interesse der Eltern an einer zeitökonomischen, nutzenintensiven Ausgestaltung der Kindheit. Der zweiten Lesart entspricht der weitere Fortgang des Lebenslaufs. So sei er, nachdem die Familie aus Lübeck nach Gotha gezogen war, 4 7 denn auch „gar zeitig" in die Schule geschickt worden und habe schließlich, da „es sich mit der öffentlichen Schule nicht schicken wollen", Privatunterricht genossen, habe also trotz widriger Umstände keine Zeit für eine standesgemäße Erziehung eingebüßt. Franckes Achtungsbezeugung gegenüber der elterlichen Fürsorge hält mithin die individualisierte Beziehung gefühlsbetonter und von Seiten der Eltern spezifisch leistungsethischer Zuwendung fest. - Im folgenden wendet sich Francke nun seiner religiösen Sozialisation zu, deren Darstellung seit der frühen Kindheit den Lebenslauf bereits nach wenigen Zeilen thematisch auf das dem Verfasser Wesentliche zuspitzt: „Gott hat mir eine Liebe zum wort Gottes, und insonderheit zum h. Predigtamt von Kindes Beinen an ins Hertz gesencket, daß sich solches in äusserlichen Bezeigungen vielfältig herfürgethan, und also auch meine Eltern beyderseits, so
47
Der Vater A.H. Franckes wurde im Jahre 1666 von Herzog Ernst dem Frommen als Hofrat zur Mitarbeit an dessen umfassenden juristischen Reformplänen nach Gotha im Herzogtum Sachsen berufen.
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viel mir wissend, nie einen andern Sinn gefasset, als mich dem studio Theologico zu widmen. Von meinem vater wurde ich auch in solchem Sinn fleissig erhalten, dazu die genaue auffsicht bey seinen Lebzeiten nicht wenig thäte." 48 Der Beginn der zitierten Sequenz entspricht der in der Anfangsformulierung des Lebenslaufes zum Ausdruck gebrachten menschlichen Passivität innerhalb des ordo. Francke erfährt sich als Objekt göttlichen Handelns, das die Wirklichkeit sinnhaft gestaltet und ordnet; wie Gott ihn „hat . . . lassen gebohren werden", so hat er ihm auch „eine Liebe zum wort Gottes . . . ins Hertz gesencket". Auffällig ist zunächst der Gebrauch des unbestimmten Artikels („eine Liebe" [Hervorhebung von mir - M.S.). Er umgrenzt die Liebe, etwa so, wie man auch von einer Vorliebe spricht, derer man viele haben kann. Im Zusammenhang der Gottesliebe - die nichts weniger als eine Vorliebe ist, wenn anders man Francke nicht der Blasphemie bezichtigen will - bedeutet der Gebrauch des unbestimmten Artikels, d a ß diese Liebe erst noch zu entfalten und intensivieren gewesen sei, um zur schlechthinnigen Liebe zu werden. 4 9 Die Religiosität des Kindes hätte allerdings auch anders qualifiziert werden können, beispielsweise durch Prädikate wie Gehorsam, Folgsamkeit, Frömmigkeit, Ehrfurcht oder Demut. Außerdem stellt er sie als das Proprium der kindlichen Religiosität heraus, denn es finden keine anderen Eigenschaften Erwähnung. Noch einmal Luthers Verständnis von Liebe: sie sei „nichts anders, denn von herzen einem günstig und hold sein, und alle güte und freundschaft erbieten, und erzeigen". Nicht nur die Elternliebe der im 17.Jahrhundert entstehenden Gefühlskultur kommt darin zu kurz, die Luthers Zeit und ihrer Sprache noch fremd war. Von Liebe sprechen wir auch in ganz anderen Zusammenhängen, die hier unberücksichtigt bleiben. Die Liebe zum Lebenspartner erscheint in seiner Definition ebenso unterbestimmt; und die sogenannte Liebe zum Meer, zur Musik oder f ü r das Wandern und dergleichen, also die Liebe von Gegenständen, Tätigkeiten, Verhaltensweisen u.s.w. kommt darin nicht einmal vor. Dabei ist der Gebrauch der jeweiligen Präposition zu beachten. „Liebe f ü r " etwas bedeutet soviel wie Vorliebe, mithin eine starke Präferenz, die mit Liebe im engeren Sinn nicht viel zu tun hat. Im engeren Sinne können wir allerdings auch wohl kaum von einer Liebe zur Musik sprechen, denn wörtlich ist Liebe ein Gefühl personaler Zuneigung, das einen Menschen in seiner konkreten Besonderung zum Gegenstand hat. Gleichwohl redet die Alltagssprache so, und zwar ohne Verständnis48
Francke 1969, 6. Rein grammatisch läßt sich der Gebrauch des unbestimmten Artikels an dieser Stelle nicht wegerklären. Vgl. zur Verwendung des unbestimmten Artikels im Frühneuhochdeutschen Reichmann/Wegera 1993, 316 f. 49
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Schwierigkeiten oder Befremden über diese Art Formulierungen. Sie kennt die Liebe in einem viel weiteren als dem wörtlichen Verwendungssinn. Was also verbindet die Liebe zu einem Menschen mit der Liebe, sagen wir, zum Meer? „Alle Liebe", so Goethe in den Maximen und Reflexionen, „bezieht sich auf Gegenwart; was mir in der Gegenwart angenehm ist, sich abwesend mir immer darstellt, den Wunsch des erneuerten Gegenwärtigseins immerfort erregt, bei Erfüllung dieses Wunsches von einem lebhaften Entzücken, bei Fortsetzung dieses Glücks von einer immer gleichen Anmut begleitet wird, das eigentlich lieben wir, und hieraus folgt, daß wir alles lieben können, was zu unserer Gegenwart gelangen kann; ja um das Letzte auszusprechen: die Liebe des Göttlichen strebt immer danach, sich das Höchste zu vergegenwärtigen." 50 Goethe begrenzt den Gegenstand der Liebe keineswegs auf Menschen. Nicht das jeweilige intentionale Objekt charakterisiert sie, sondern die Art und Weise, in der es uns betrifft. Liebesobjekte sind demnach solche, deren Gegenwart wir erstreben. Erreichen wir dieses Ziel, so werden wir davon affektiv betroffen. Goethes Pointe: Das Liebesobjekt erregt unser Entzücken nicht als solches, sondern nur qua Gegenwärtigkeit im Hier und Jetzt. Das scheint trivial, denn schließlich empfinden wir ja auch Traurigkeit nur dann, wenn das Liebesobjekt abwesend ist. Das heißt aber auch, daß es von einer bestimmten Beschaffenheit sein muß, um überhaupt zur Gegenwart zu gelangen. Physikalische Objekte haben dafür gute Voraussetzungen, sofern sie zu einer räum-zeitlichen Präsenz gebracht werden können. Werther - um bei Goethe zu bleiben - kann Lotte bitten, zu ihm zu kommen oder ihn zu empfangen. Und wo das nicht möglich ist, kann er sie bewegen, ihm ein Unterpfand ihrer Neigung zu überlassen, ζ. B. ein Halstuch, dessen Gegenwart Werther dann in - wenn auch gegenüber dem Beisein seiner Besitzerin gedämpftes - Entzücken versetzen würde. Wie die Aura geliebter Menschen, deren Gegenwart wir verloren haben, auf Dinge übergehen kann, bezeugt auf tragische Weise Werthers Ende: er legt, bevor er sich erschießt, die Kleider an, die er in jener Ballnacht seiner ersten Begegnung mit Lotte tru
s·51 Es bedarf indessen dieser Aura nicht, um Nichtmenschliches zu lieben. Zum Meer, seinen unterschiedlichen Gerüchen und Farben je nach Wetterlage, dem unsteten Seewind oder der Dramaturgie der Wolken mag sich derjenige zurücksehnen, der es einmal befuhr. Ist er nun genötigt, im Inland zu leben, so vergeht doch keine Stunde, in der er sich die 50
Goethe 1949ff, Bd. 12, 535. „In diesen Kleidern, Lotte, will ich begraben sein, du hast sie berührt, geheiligt..." (Goethe 1949ff, Bd.6, 123). 51
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verlorene Landschaft nicht wieder zu vergegenwärtigen bemüht. „Vergegenwärtigen" heißt etwas, das uns fern ist, so vorstellig zu machen, als sei es tatsächlich „da". Was an der Gegenwart des Liebesobjekts so „lebhaft entzückt", ist freilich nicht dessen physische Präsenz als solche, nämlich das „Da"-Sein im Sinne des gleichzeitigen gegenständlichen Nebeneinanderseins von Liebendem und Geliebtem, sondern die Situation seines Fürmichseins bzw. im Falle der Liebe zu einem Menschen des Füreinander- oder des Zusammenseins. Die ist wiederum ein psychischer Sachverhalt, der sich physikalisch nicht messen läßt. Besonders klar machen das Fälle unglücklicher Liebe: der geliebte Mensch ist zwar räumlich anwesend, erwidert aber in keiner Weise die Neigung des Liebenden, der deshalb in gedrückte Stimmung verfällt: die physische Gegenwart reicht ihm nicht zu seinem Glück (seine Liebe zu Gegenständen birgt erfreulicherweise keine Hindernisse dieser Art). Die Vergegenwärtigung des Liebesobjekts vollzieht der Liebende also als Evokation glücksgesättigter Situationen - sicherlich nicht des Abendessens, in dessen Verlauf er eine Ohrfeige kassierte, oder, sprechen wir von der Liebe zum Meer, eines stürmischen Wachgangs in der Biskaya, den er grüngesichtig auf der Toilette verbrachte - , und deren Vorstellung vertritt das Geliebte. In der Vorstellung des Geliebten gelangt es für mich stellvertretend zur Gegenwart. In eben diesem Sinne hat die Literatur eine Stellvertreterfunktion. Sie kann uns das Glück verschaffen, das in der Vorstellung dessen besteht, was wir lieben; vielleicht ist das sogar ihr kostbarster „Sitz im Leben". Auch Francke war ein Liebender, im Lebenslauf erinnert er sich seiner „Liebe zum wort Gottes". Das scheint dem Liebesgebot Jesu und der paulinischen Charakterisierung christlicher Existenz zu entsprechen. 52 Die entscheidende Differenz sowohl gegenüber Paulus wie den Evangelien besteht aber darin, daß Francke nicht von der Liebe zu Gott, sondern zum Wort Gottes spricht. 53 Und die ist - sei das Wort 52 „Wenn ich in den Sprachen der Menschen und Engel redete, hätte aber die Liebe nicht, wäre ich dröhnendes Erz oder eine lärmende Pauke . . . Sie [die Liebe - M.S.] erträgt alles, glaubt alles, hofft alles, hält allem stand . . . Für jetzt bleiben Glaube, Hoffnung, Liebe, diese drei; doch am größten unter ihnen ist die Liebe" (1 Kor 13,1.7.13; zit.n. Deissler/ Vögtle 1985). „Wir aber erwarten die erhoffte Gerechtigkeit kraft des Geistes und aufgrund des Glaubens. Denn in Christus Jesus kommt es nicht darauf an, beschnitten oder unbeschnitten zu sein, sondern darauf, den Glauben zu haben, der in der Liebe wirksam ist" (Gal 5,5f; zit.n. Deissler/ Vögtle 1985). Vgl. auch Rom 5,5. 53 In Bezug auf diese Textstelle heißt es bei Petra Kurten: „Am Anfang steht die durch die Gnade im Kind geweckte Liebe zu Gott" (Kurten 1985, 45). Das Zitat steht stellvertretend für die - meines Wissens - gesamte Sekundärliteratur, die - sofern sie sich überhaupt ausdrücklich auf die besagte Textstelle bei Francke bezieht - die Bedeutungsdifferenz seiner tatsächlichen Formulierung gegenüber der „Liebe Gottes" großzügig übersieht.
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nun göttlicher, philosophischer, literarischer oder wissenschaftlicher Herkunft - erklärungsbedürftig. Denn unter einem Wort verstehen wir im weiteren Sinne die kleinsten selbständigen sprachlichen Bedeutungsträger, sowie in metonymischer Verwendung die illokutionäre Bedeutung einer Proposition, ζ. B. einen Ratschlag oder eine Warnung („Hör auf sein Wort!"), eine Aufforderung („Das ist ein Wort!"), ein Versprechen bzw. eine Versicherung („Er hat mir sein [Ehren-]Wort gegeben.") oder eine autoritativ begründete sprachliche Intervention („Nun sprich' doch endlich einmal ein [Macht-]Wort."). In allen genannten Fällen bezeichnen wir als Wort, was verbindlich ausgesagt wurde. Das gilt auch für Franckes Formulierung. Das Wort Gottes ist - bei aller Differenz der Begriffsverwendung im Neuen Testament und in der christlichen Dogmengeschichte - die den Menschen zum Glauben verbindlich aufrufende Anrede Gottes in der Verkündigung. Das gilt auch für seine inkarnationstheoretische Lesart im Anschluß an Joh 1 ff. Von Jesus Christus wird hier sozusagen sub specie seiner Wörtlichkeit gesprochen: als der menschgewordenen Verkündigung Gottes in seiner - deshalb zur Nachfolge Christi verpflichtenden - absoluten Verbindlichkeit. Die Passion, d. h. die Bedeutung der aus nichtchristlicher Perspektive kontingenten Lebensgeschichte eines (unter vielen) Propheten - wie sie etwa zum Gegenstand der Geschichtsforschung gemacht werden kann - als Leidensgeschichte Christi ist dieser Lesart zufolge die Verkündigung. Sie entbirgt sich den Menschen - wiederum: als Vollzug dieser Leidensgeschichte in eine nicht nur für die Zeitzeugen, sondern auch für Jesus, wie seine letzten Worte belegen, radikal offene Zukunft hinein. Folgt man den Evangelien, so kämpfte Jesus um das Verständnis seiner Person als eines durch sie sich vollziehenden Verkündigungsgeschehens. Den zurückbleibenden und nachgeborenen Christen bleibt nur, mit den Worten des römischen Hauptmanns die Leidensgeschichte von ihrem unwiderruflichen Ende her als Entbergung des Wortes Gottes zu verstehen: „Wahrlich, dieser ist Gottes Sohn gewesen!" Analog zu Christi Himmelfahrt wird schließlich auch das Wort Gottes gleichsam reverbalisiert zur Verkündigung des Evangeliums. Solche Reverbalisierung ist aber nur möglich, weil das Wesen des Verbalisierten eben immer schon das Wort war. Diesem eignet Verbindlichkeit deshalb, weil Worte die Unmittelbarkeit des Hier und Jetzt durch ihre Bedeutung transzendieren, welche nicht wie die gegenständliche Welt den Beschränkungen von Raum und Zeit unterworfen ist. Das gilt auch für die christliche Verkündigung. Sie besteht aus einer Vielzahl sei es von Sätzen, sei es von Handlungen Jesu, deren Bedeutungen in einem intensionalen, gänzlich ungegenständlichen Zusammenhang stehen. Dieser Zusammenhang ist die Botschaft, sie existiert mithin logisch unabhängig sowohl von ihrem kontingenten Gedacht-
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werden durch eine res cogitans - ob nun die Menschen, welche die Botschaft vernehmen oder ihre Götter, die sie ersinnen und verkünden - , als auch den Medien und Bedeutungsträgern, in denen sie sich jeweils materialisiert. 54 Gottlieb Frege konnte daher erinnern, Gedanken würden „gefasst". 55 Dem trägt Francke durch einen scheinbar geringfügigen Umstand objektiv Rechnung. Er formuliert: „Gott hat mir eine Liebe zum wort Gottes" - anstatt: „zu seinem Wort" - „... ins Hertz gesencket". Der Sinn der zwei Ausdrucksvarianten ist um Nuancen verschieden. Während das Possessivpronomen den Zusammenhang zwischen „Gott" und „Wort Gottes", zwischen Sender und Botschaft betont, unterstreicht Franckes tatsächliche Formulierung die Eigenständigkeit des Wortes. Weder bedarf es der raum-zeitlichen Präsenz des Senders, noch seines Kommentars oder einer äußeren Bedeutungszuschreibung wie ein sinnliches Zeichen. Gott tritt gleichsam hinter dem Wort Gottes zurück, in dem er sich offenbart. Denn das Wort ist an ihm selbst bedeutend. Diese Eigenschaft ist konstitutiv für Sprache und benennt zugleich das Faszinosum, dem Franckes Liebe „von Kindes Beinen an" soll gegolten haben; andernfalls würde er nicht die Liebe zu dem Wort seines Gottes betont haben, sondern zu Gott selbst. Gleiches gilt für eine Lesart, die in Franckes Liebe vor allem oder sogar nichts anderes als eine Liebe zu Jesus Christus erkennen will: sie müßte (aber könnte nicht) begründen, warum Francke genau diese dann nicht bekennt. Zwar ließe sich der Sinn seiner Formulierung gemäß der Verbalinkarnationstheologie als Liebe sowohl zur Schrift als auch zu Jesus Christus lesen, aber dieses „sowohl - als auch" wäre im Sinne der alsStruktur des Verstehens zu präzisieren. Es ist unmöglich, in ein und demselben Akt ein sinnliches Gebilde sowohl als Hasen- wie als Entenkopf wahrzunehmen; ebenso ist es unmöglich, das Wort Gottes zugleich und in eins als Schrift und als göttliche Person zu lieben. Wenn wir nun annehmen, Francke bekenne seine Liebe zum Wort Gottes als Jesus Christus, dann ist wiederum die von ihm gewählte Formulierung nicht motivierbar, denn er würde das Aktkorrelat seiner Liebe in einer Weise aussagen, welche die Aktintention gar nicht angemessen wiedergäbe. Denn im Wort als konkretem, Fleisch gewordenem Gott wird nicht das
54 Kontingent ist demnach also ebenso die Materialität der Schrift, d. h. die Sprache, in der sie verfaßt wurde und die eine beliebige sein kann, solange sie intensionale Bedeutungen auszudrücken vermag, als auch, daß das Wort Fleisch in Jesus, dem Sohn der Maria wurde. 55 Vgl. in diesem Zusammenhang vor allem Frege 1986a; ders. 1986b. Die hiesige Verwendung des Bedeutungsbegriffes entspricht allerdings dem, was Frege „Sinn" nennt: intensionale Bedeutung oder Begriffsinhalt.
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gleichsam irdisch materialisierte objektive Sinngebilde göttlicher Logizität geliebt, sondern die Person. Der Verfasser erinnert im Lebenslauff also die Verkündigung als das bevorzugte Liebesobjekt des Kindes. Das mag man als emotionale Radikalisierung des lutherischen Wortglaubens interpretieren. Der Rechtfertigung des Sünders sola scriptura werde hier in Uberbietung des hinhörenden, aufnahmewilligen Glaubens durch die Liebe der vernommenen Botschaft entsprochen, des in der Bibel niedergelegten Wortes Gottes. 56 Die Liebe Gottes kulminiere in der Liebe zum Wort Gottes, der das Wort des geliebten Gottes vernehmende Glaube im das Wort liebenden, hingebungsvollen Vernehmen. Was das heißt, verdeutlicht die sprachpraktisch gebräuchliche Redeweise von der Liebe zur Literatur. Hegen wir diese Liebe unter anderem und vielleicht vor allem deshalb, weil die Literatur uns durch die Vergegenwärtigung dessen beglückt, was wir lieben, dann lieben wir ursprünglich nicht sie, sondern Welt und Leben, die in ihrem Medium vorstellig werden wie sonst nirgends. Weil solche Vergegenwärtigung eine Kunst ist, gilt unsere Liebe indessen endlich auch ihr selbst, sie ergreift Besitz von dem Medium, in dem das Geliebte zur Vorstellung gelangt. Und genau in diesem Sinne, so scheint es, erinnert Francke seine kindliche Gottesliebe. Er spezifiziert die Gottesliebe des Kindes als religiöse Wortliebe, so wie im Bekenntnis der Liebe zur Literatur die Leidenschaft für das Leben, für die Vielfältigkeit der Welt als ästhetische Wortliebe gemeint sein kann. Das ist allerdings - in beiden Fällen - mehr als eine bloße Spezifikation. Im Falle Franckes wird dem Kind vom Text nämlich eine für sein Alter beachtliche, wenn nicht gar unglaubwürdige Sublimierungsleistung nachgesagt. Denn lieben würde es ja in erster Linie nicht das Verkündigte, auch nicht den Verkündiger, sondern das Medium der Verkündigung, und diese Liebe wäre wiederum die Gestalt, die seine Gottesliebe konkret angenommen hätte. Das heißt aber auch, daß sie sich aus einer naiven, eben kindlichen Gottesliebe (nach Art des Kindergebets: „Ich bin klein, mein Herz ist rein, soll niemand darin wohnen als Jesus allein")
56 Diese D e u t u n g entspricht der Auffassung Peschkes, der lutherische Geistgedanke bei Francke lasse „oftmals spiritualistische Verfärbungen und Akzentverschiebungen erkennen. D a s Schwergewicht fällt dann nicht auf das W o r t Gottes, sondern auf das Wirken des Heiligen Geistes. Dieser k o m m e zwar durch das W o r t zum Menschen, das H e r z müsse aber hindurchdringen, damit es die Kraft des Geistes erlange. D a s W o r t sei zwar ein Schwert des Geistes, aber was helfe es, wenn einem die geistlichen H ä n d e fehlen, es zu führen! Man dürfe es nicht dabei bewenden lassen, daß man das W o r t in der Kirche höre, aber d o c h so bleibe, wie man bisher gewesen sei. D e r Glaube gründe sich z w a r auf Gottes Wort, das Wort dürfe aber nicht der Wirkung Gottes entgegengesetzt werden" (Peschke 1977, 142).
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hätte entwickeln müssen. Von einer solchen gleichsam urwüchsigen, genuin kindlichen Liebe ist aber nirgends im Lebenslauf die Rede. Wenn schon, dann muß es auch gleich die Liebe zum Wort sein, die andere, bescheidenere, ist nicht der Erwähnung wert. Vielmehr suggeriert der Text, es habe gar keiner Entwicklung bedurft, alles sei schon von Anfang, von „Kindes Beinen" an da gewesen. Wie anders vermöchte eine solche Leidenschaft sich zu zeigen als in einer besonderen Begabung für die hermeneutische Auslegung der Bibel? Tatsächlich hat Francke an der Liebe zum Wort Gottes nicht genug, sondern überbietet sie noch durch die Liebe „insonderheit zum h. Predigtamt". Diese Steigerung legt eine leistungsethische Auslegung der religiösen Kinderliebe durch den Verfasser des Lebenslaufs nahe, die schon hinter der Behauptung der Wortiebe als solcher zu vermuten war. Was Francke als gottgegebene Leidenschaft darstellt, ist das Leitbild einer leistungsethischen Frömmigkeitsforderung. Und schließlich soll deren Erfüllung sich an intersubjektiv überprüfbaren Kriterien orientieren: Francke stellt seine Kindheit als religiös-emotionales Virtuosentum dar, das sich „in äusserlichen Bezeigungen vielfältig herfürgethan" habe, so daß die Entscheidung der Eltern, den Jungen der theologischen Laufbahn zu widmen, als sinnfällige Konsequenz seiner leistungsethischen Bewährung im Umgang mit dem Wort Gottes und der daraus ersichtlichen Berufung ausgewiesen werden kann. Daß ihn sein Vater „in solchem Sinn", wie der zitierte Sequenzausschnitt endet, „fleissig erhalten" habe, kann zweierlei bedeuten: den Fleiß des Vaters, seinen Sohn auf dem rechten Erziehungswege zu erhalten, oder den Fleiß des Sohnes bei der Begehung dieses Weges. In jedem Falle steht Francke unter „genaue[r] auffsicht" des Vaters, also unter einer die Schritte seines Zöglings kontrollierenden Beobachtung. Die religiöse Liebe des Kindes wird als Gegenstand einer geforderten, geregelten und disziplinierenden Vervollkommnungsbemühung dargestellt, die der Logik leistungsethischer Bewährung entspricht. „Da er aber Anno 1670 Todes verblichen", so fährt Francke nun fort, „wurde ich zugleich mit andern Kindern von privat Praeceptoribus einige Jahre unterrichtet, welche ob wol kleine Gesellschafft und tägliche conversation ausserhalb Hauses, meinem Gemüthe, wie ich nach der zeit wol erkant, nicht wenig Schaden verursachte, und es durch die vermeynte zulässige, aber ohne genaue auffsicht nie in den Schrancken bleibende, Kinder Lust, gar sehr von Gott abgewendet, biß ich in meinem 11 ten biß 12 Jahr, so viel ich mich erinnere, da ich wieder unter eigener Praeceptorum privat auffsicht lebte, auffs neue erwecket ward durch ein gar schönes exempel meiner recht christlichen und Gottliebenden nunmehr in Gott ruhenden und seeligen Schwester Anna Franckin, welches ich täglich für äugen hatte, und ihre ungeheuchelte Furcht Gottes, Glauben, Liebe, Demuht, Lust und Liebe zum wort Gottes, verlangen nach dem ewigen Leben
August H e r m a n n Franckes „ L e b e n s l a u f f "
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und viel ander gutes an ihr erkante, auch über dieses von eben derselben durch gute erbauliche reden zu allem guten gereitzet ward." 57 Auch weiterhin legt Francke großen Wert auf die Darstellung seiner Erziehung. Daß er nun Gemeinschaftsunterricht - wenn auch nicht an öffentlichen Schulen, sondern nach wie vor von Privatlehrern - erhält, stellt der anfänglich zitierte Nebensatz in einen - liest man ihn temporal, dann kontingenten, liest man ihn kausal, dann zwingenden - Zusammenhang mit dem T o d des Vaters. Der kausalen und im Kontext wahrscheinlicheren Lesart zufolge wird der mittlerweile Siebenjährige nicht aus pädagogischen Gründen mit fremden Kindern zusammengeführt, die Maßnahme ist vielmehr Geburt der Notwendigkeit, durch äußere Umstände vorübergehend (für „einige Jahre") erzwungen. Der Tod des Vaters bedroht den Nukleus der Familie, ihr Schutzraum öffnet sich den Einflüssen „ausserhalb Hauses", und diese - „ob wol kleine[n]" - Einflüsse verursachen „nicht wenig Schaden" in dem Jungen. 58 Die ausdrückliche Proportionalisierung der kleinen Widrigkeiten jugendlicher Entwicklung und ihrer gar nicht geringen Wirkung dokumentieren die akribische Aufmerksamkeit, die noch der Erwachsene nachträglich in seinen jugendlichen Werdegang investiert, zumal er die damaligen „Schäden" erst „nach der zeit wol erkant" hat, sie also zwar nicht dem Kind ersichtlich waren, dafür aber retrospektiv Franckes Aufmerksamkeit und Wachsamkeit auf sich zogen. Uberhaupt ist es aufschlußreich, daß Francke in diesem Zusammenhang von „Schaden" spricht. Offensichtlich unterstellt er einen vorgängigen Zustand der Unversehrtheit, der durch die Schädigung beeinträchtigt oder aufgehoben wurde und so erheblich ist, daß deren Erwähnung im Lebenslauf gerechtfertigt ist. Nun kann von der Art der Schadensquellen darauf geschlossen werden, welcher Art der Schaden ist und was durch sie seine vorgängige Unversehrtheit eingebüßt hat. Deshalb ist es interessant, was Francke als Ursache und als Objekt seiner Schädigung nennt. Er kontrastiert „Gesellschafft" und „conversation" dem jugendlichen „Gemüthe". „Gesellschafft", so erfahren wir im Zedlerschen Universallexikon aus dem frühen 18.Jahrhundert, „ist eine würckliche Vereinbarung der Kräffte vieler zu Erlangung eines gemeinschafftlichen Zweckes" 9 - im Falle
Francke 1969, 7. L a u t Maier-Petersen werde der T o d des Vaters „ohne jedes G e f ü h l , ohne jede Erinnerung an die W i r k u n g dieses einschneidenden Erlebnisses konstatiert" (vgl. M a i e r - P e tersen 1984, 220). M . E . spricht der T e x t eine andere Sprache, subkutan läßt er die B e d r o hung der kindlichen Welt durchscheinen, als die sie d a m a l s e m p f u n d e n wurde oder zumindest im Lebenslauf nachträglich erinnert wird. 57 58
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Zedier 1733ff, Bd. 10, 1260.
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Franckes wäre das der Unterricht - , und als „Conversation" erkennt es eine „Gemeinschafft, Gesellschafft, welche also genennt wird, wenn man mit einen persönlich umgehet". 60 Die Konversation spezifiziert eine Gesellschaft als solche der Geselligkeit, so wie man geläufigerweise von einer Hochzeits- oder einer Abendgesellschaft spricht. Die gemeinschaftliche Ubereinkunft ihrer Teilnehmer ist die gemeinsame Unterhaltung, aber diese kann wiederum nur das bequeme Mittel für etwas anderes sein wie bei der Reisegesellschaft, die sich zufällig finden mag und nach der Ankunft am Zielort wieder auseinandergeht. Bei der Hochzeitsgesellschaft ist übrigens noch ganz anderes im Spiel, die Geladenen sind ja nicht allein zu ihrem eigenen Vergnügen da, sondern zur gemeinsamen Feier des Brautpaares, und das ist auch ihre (freilich in der Regel vergnügliche) Verpflichtung. Die Geselligkeit hat hier einen - allerdings milden - Verpflichtungscharakter bzw. ist mit Verpflichtungen verbunden. Das verbindet sie den höfischen Gesellschaften, und diesen Ton läßt Francke wohl auch bewußt mit anklingen, indem er sich im Rückblick seines Lebenslaufs schädlicher Gesellschaft und Konversation ausgesetzt sein läßt. Denn im Gegensatz zu dem schon althochdeutsch verbürgten Wort „Gesellschaft" wurde das zweite im Bunde erst im 16.Jahrhundert dem Französischen entlehnt und hat bis heute einen seiner Herkunft entsprechenden höfischen Beiklang behalten. Konversation treiben bedeutet, kunstvoll Unverbindlichkeiten auszutauschen, es geht hier um die Gefälligkeit des Umgangs, nicht um Wahrheitsfindung, Selbstoffenbarung und derlei düstere Dinge, die den vom Authentizitätszwang getriebenen bürgerlichen Protestanten bewegen. Auch die in pietistischer Literatur geläufige polemische Verwendung dieser Worte spricht dafür, daß „Gesellschafft" und „conversation" im Text für die aus frommer Sicht eitlen Oberflächlichkeiten von Gemeinschaften stehen, die sich dem Selbstgenuß widmen, jenem Selbstgenuß, den die Pietisten - man entsinne sich der Pia Desideria - dem höfischen Leben nur zu gerne unterstellen. 61 Umso unnachgiebiger erscheint im Lichte seiner Wortwahl Franckes Religiosität, weil sie schon den Kindern zur Last legt, was die Gesellschaften dieser Welt auszeichne: das freizügige Regiment der Lust, hier: der „nie in den Schrancken bleibende[n], Kinder Lust". Denn von Lust sprechen wir in den Grundbedeutungen der Neigung („Ich habe Lust, ein Buch zu lesen, spazieren zu gehen, ein Eis zu essen"), bzw., stärker, des Verlangens, der Begierde (wenn wir „... gar ersoffen in lust und be60
Ebd., Bd.6, 1170. Daher fühlte Francke sich denn auch wohl aufgerufen, 30 Regeln zur Bewahrung des Gewissens und guter Ordnung in der Konversation oder Gesellschaft aufzustellen. Vgl. Kramer 18 80ff, Bd. I, 269 f. 61
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girde dises lebens" sind 6 2 ), und schließlich deren Befriedigung („Es ist mir eine Lust, zu lesen, spazieren zu gehen, ein Eis zu essen"). Wegen der semantischen Nähe dieser Bedeutungen werden „Lust" und „Begierde" daher häufig synonym verwendet. Der Begriffsumfang von „Lust" ist aber größer, sie kann im Gegensatz zur Begierde die Neigung oder den Trieb zu etwas ebenso bezeichnen wie dessen Stillung. Letzteres betont Zedlers Definition: „Die Lust entstehet, wenn die Begierden der Seelen gestillet werden." Dabei unterscheidet er feinsinnig zwischen Stillung und Zweckerfüllung der Begierden. Denn diese zielten, so Zedier ganz im Sinne der aufklärerischen Anthropologie, auf die Glückseligkeit des Menschen. Indessen würde manche Lust, die eine Begierde zwar zu stillen vermöchte, die Erfüllung ihres Endzwecks gerade verhindern. Sie sei dann eine „falsche Seelen-Lust". „Denn die Menschen halten vielmahls etwas vor gut, und meynen dadurch ihren Zweck der Glückseligkeit zu erlangen, den sie doch nicht erlangen können, und sich dadurch vielmehr unglücklich machen. Vergnügt man sich nun über solche Sachen, so ist das eine falsche Seelen-Lust, als wenn einer seine Glückseligkeit in der Kützelung seiner äusserlichen Sinnen; der andere in Reichthum, und der dritte in dem Vorzug vor andere s u c h e t . . . Man hat daher eine dreyfache falsche Seelen-Lust, des Ehrgeitzes, Geldgeitzes und der Wollust, deren Eigenschaft ist der Mangel der Ruhe, oder die unendliche Sehnsucht, und die beständige Veränderung .. ," 63 Geiz, Geltungssucht und Wollust prägen auch nach pietistischer Auffassung den sündigen Menschen, und zumindest die letzten beiden Eigenschaften sind für den frommen Pietisten mit der geselligen Konversation verbunden. Die „Kinder Lust" zelebriert im Kleinen, was die Gesellschaft im großen auszeichnet: die Selbstverfehlung des Menschen in der Abwendung von Gott, seinem Schöpfer und Erlöser, und der Hinwendung zu seinen triebhaften Begierden. Dieser Lust, die nicht Gott, sondern das Vergnügen der Geselligkeit sucht, fühlte der junge Francke sich laut Lebenslauf ausgesetzt. Dabei wird die „Kinder Lust" grammatisch eindeutig seinen Mitschülern zugeordnet, denn Francke wurde „ . . . mit andern Kindern . . . unterrichtet, welche" - nämlich der Kinder - „ob wol kleine G e s e l l s c h a f f t . . . meinem Gemüthe . . . Schaden verursachte, und es" - Subjekt des Nebensatzes ist nach wie vor die Gesellschaft der „andern Kinder[]" - „durch die . . . Kinder Lust . . . von Gott abgewendet" hatte. G a n z offensichtlich ist hier von der Lust der anderen Kinder die Rede. Francke sondert sich von den Mitschülern ab und stellt sich, pars pro toto, durch sein „Ge-
62 63
Martin Luther, zit.n. Grimm 1854ff, Bd.6, 1314. Zedier 1733ff, Bd. 18, 1245f.
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müthe" als wehrloses Opfer dar. Denn wie Gesellschaft, Konversation und Lust in aufsteigender und jeweils inhaltlich spezifizierender Linie die Äußerlichkeit gottlosen Treibens charakterisieren, so das Gemüt die Innerlichkeit des religiös Talentierten. Ursprünglich ist es, so verrät das Grimmsche Wörterbuch, „unser inneres überhaupt im unterschied vom körper oder leib .. .". 64 Auch die Alltagssprache qualifiziert das Gemüt als Ort der Innerlichkeit, auch als Ausdruck emotional zuständlicher Selbstvertrautheit. Von einem Gemütsmenschen sagt man, er werde stets bewegt von dem situativen Erleben starker Gefühle, die Stimmung oder Atmosphäre seines Umfeldes finde einen unmittelbaren "Widerhall in seiner gefühlsmäßigen Befindlichkeit. Wenn etwas auf s Gemüt schlägt, färbt es diese Befindlichkeit in einer subjektiv als belastend empfundenen Weise ein: wir sind niedergeschlagen, melancholisch, im klinischen Fall gar depressiv. Ein frohes Gemüt hat dagegen derjenige, dem nichts so leicht auf s Gemüt schlägt, der unabhängig von den alltäglichen Zu- und Abträglichkeiten von der Grundstimmung der Unbeschwertheit getragen wird. Am besten drückt das Immanuel Kant aus. Ein Gemütszustand sei nach seiner bekannten Formulierung in der Kritik der Urteilskraft - die Stimmung der Gemüts- oder Erkenntniskräfte Verstand, Wille und Einbildungskraft zu einer Erkenntnis überhaupt. Nun das Entscheidende: Diese Stimmung wiederum „kann nicht anders als durch das Gefühl . . . bestimmt werden", 65 das die Gemütskräfte in einer bestimmten - im positiven Falle belebenden, erheiternden - Art und Weise zueinander in ein Verhältnis und also in Bewegung setzt. Ohne Gemütsbewegung auch keine „Erkenntnis überhaupt", unser reflexives Weltverhältnis, heißt das, ist durch unseren Gefühlshaushalt determiniert, und je nachdem, wie wir diesen Haushalt führen, ist es klar, trübe oder sogar gestört. Denn zu den Gemütsbewegungen zählen auch die Affekte, d.h. „stürmisch[e]" und „unvorsätzlich[e]" Gefühle, wie der Enthusiasmus, die den Menschen mitreißen und von seinem Ziel (nämlich einer „Erkenntnis überhaupt") abbringen können. Affekte verdienen laut Kant nicht das Wohlgefallen der Vernunft. Eine edle Gemütsart besteht deshalb in ihrer Zähmung. 66 Das verbindet Kant mit Zedier, der das Gemüt gleichsam als Resonanzboden des Willens begreift. „Alles nun, was in dem Gemüthe vorgehet, . . . könten wir überhaupt die Gemüths-Bewegungen nennen." 67 Diese äußerten sich in Begehren oder Abscheu, und beides beruhe wiederum auf den Begierden. Begierden erzeugen also 64 65 66 67
Grimm 1854ff, Bd. 4.1, 3294. Kant 1998, Bd. V, 32) f. Ebd., 362 f. Zedier 1733ff, Bd.3, 918.
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die Bewegung des Gemüts, und - wie Zedlers Universallexikon in dem Artikel „Lust" ausführte - wo wir sie auf falsche Weise stillen, halten sie uns in einem Zustand der Bewegtheit, der „unendlichen Sehnsucht", die Kant an den Affekten beklagte und Francke von seiner selbstgenügsamen Zweisamkeit mit Gott abführt. Was also sowohl Zedier als auch später Kant aus dem intuitiven Sachverstand der Alltagssprache aufnehmen, ist die Empfindlichkeit des Gemüts für Stimmungen, Affekte, Gefühle. Mit anderen Worten: Das Gemüt ist offenbar unsere zarteste Seite. In diesem Sinne versteht auch Francke das seine. Es ist ganz deutlich: Die durch schädliche Gesellschaft und Konversation eingebüßte Unversehrtheit ist die im Schutzraum der frommen Familie vor der Erweckung gottloser Begierden bewahrte Unberührtheit des religiösen Gemüts, das die Gedanken des Schülers in einem Zustand der Ruhe und Selbstgenügsamkeit bei Gott hält. Denn die Spezifizierung des erlittenen Schadens lautet auf die Abwendung des Jungen von Gott, also doch wohl auf die Irritation seiner „liebenden" Zweisamkeit mit dem Wort Gottes in den Studien der Schrift und den Vorbereitungen zum Predigtamt durch die von außen auf ihn andrängende Umwelt. Es zeugt nebenbei von stupender Selbstgewißheit, daß Francke schon unter den Kindern gnadenlos selegiert: jene Geschöpfe der Sünde, er selbst ein Kind Gottes, und zwar, wie „in äusserlichen Bezeigungen vielfältig herfürgethan", bereits bewährtermaßen im zarten Knabenalter. So schildert er denn auch die Absonderung von dieser Welt der schrankenlosen Kinder durch Rückkehr zu Einzelunterricht und -aufsieht („da ich wieder unter eigener Praeceptorum privat auffsicht lebte") als Anlaß neuerlicher Erweckung. Allein um einen Anlaß handelt es sich dabei, weil die Konjunktion „da" keine kausale, sondern eine temporale Funktion hat: sie ist im Sinne von „als" zu verstehen. Vom Anlaß sind logisch die Ursache seiner Erweckung und schließlich der Grund seiner Erweckbarkeit zu unterscheiden. Während letzterer in dem frommen Gemüt liegt, das Francke qualitativ aus der Kindergesellschaft hervorgehoben hatte und nun, nach Abstreifen der lästigen äußeren Umstände, wieder voll zur Geltung und Blüte kommen kann, ist die Ursache der konkreten, neuerlichen Erweckung „... ein gar schönes exempel" seiner „recht christlichen und Gottliebenden", zum Zeitpunkt der Niederschrift des Lebenslaufs bereits vor gut zehn Jahren verstorbenen Schwester Anna Francke. Der unbestimmte Artikel („ein gar schönes exempel" [Hervorhebung von mir - M.S.]) suggeriert zunächst, die Schwester habe irgendetwas getan, das Francke zum Exempel hatte dienen können. Jedoch wird dann nichts dergleichen benannt, vielmehr sie selbst, ihr Leben soll den mittlerweile Zwölfjährigen beflügelt zu haben. Nun würde man das geläufigerweise durch den bestimmten Artikel ausdrücken („... durch das
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Exempel meiner . . . Schwester"), geht es hier doch um diese bestimmte Person, die Francke zum Vorbild gereichte. 68 Daß er gleichwohl anders formuliert, ist also erklärungsbedürftig. Die naheliegende Erklärung für Franckes Wortwahl ist, daß der Verfasser in der Schwester sein Vorbild nicht sub specie ihrer Individualität als konkrete und unverwechselbare Person erkennt, sondern gleichsam als Agentin einer vom Individuellen absehenden Lebensform, als bloßer token eines type - wie er ja auch die Eltern zu Beginn des Lebenslaufs in dieser Weise, als individuell austauschbare Platzhalter in der göttlichen Weltordnung, dargestellt hat. Tatsächlich exemplifiziert sie in Franckes rückblickender Darstellung das wahre christliche Leben nur, anstatt es individuell zu verkörpern, ist darin also prinzipiell durch andere Frömmigkeitsvirtuosen austauschbar. Allerdings dürfte der Umstand, ein in der Familie normativ anerkanntes und gebotenes Lebensmodell ausgerechnet von der älteren Schwester in einer auch für Mutter und Verwandte akklamationswürdigen Weise vorgeführt zu bekommen, dem Jüngeren ein Ansporn gewesen sein, zumal bei seinen Anlagen, mit ihr in einen Frömmigkeitswettbewerb zu treten. Jedenfalls formuliert Francke in diesem Sinne, er sei von ihr „zu allem guten gereitzet" worden. Und das wohl umso mehr, als er das schwesterliche Exempel „täglich für äugen hatte". Wie auch immer: Francke listet nahezu den gesamten christlichen Tugendkatalog auf, und natürlich darf wiederum die Liebe zum Wort Gottes - hier sogar: „Lust und Liebe" - nicht fehlen. Daß er die Frömmigkeitsvirtuosität der Schwester grammatisch durch eine Reihung von Substantiven formuliert, die ihr „ungeheuchelte[s]" Christentum prädizieren sollen, belegt die These, seine Schwester habe Francke nicht als konkrete Person beeindruckt, sondern als zwar schwesterliche, aber individuell kontingente Repräsentantin des „wahren" Glaubens. Mit den folgenden Sätzen schließt der erste Abschnitt des Lebenslaufs: „Solches war bey mir so durchdringend, daß ich bald anfinge das eitele wesen der J u g e n d , in welches ich mich schon durch das böse Exempel anderer Kinder ziemlich verliebet und vertieffet hatte, daß es von mir (weil man es an mir als einem Kinde, wie der weit L a u f f ist, ohne großen wiederspruch eine Zeitlang erduldet hatte) fast vor keine Sünde mehr geachtet ward, ernstlich zu hassen, mich der unnützen Gesellschafft, Spielens und andern Zeit Verderbs zu entschlagen, und etwas nützlichers und bessers zu suchen. D a h e r mir auch von den meinigen ein Zimmer eingereumet ward, darinnen ich täglich meiner andacht
6 8 Wie schon im Falle der „einen Liebe zum Wort G o t t e s " kann sich auch bei dieser Formulierung die D e u t u n g s b e d ü r f t i g k e i t des unbestimmten Artikels nicht durch den Verweis auf die frühneuhochdeutsche G r a m m a t i k erübrigen. Vgl. Anm. 49.
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u n d G e b e t s z u G o t t h e r t z l i c h p f l e g t e , u n d G o t t bereits z u der z e i t g e l o b e t e ihm m e i n g a n t z e s Leben z u s e i n e m D i e n s t u n d z u seinen h. E h r e n a u f f z u o p f f e r n . " 6 9
Der von den Vokabeln „Gesellschafft" und „conversation" aufgerufene Vorstellungskreis wird differenziert; die Vermutung bestätigt sich, Francke habe mit seiner Bewertung der Kindergesellschaft nicht nur eine bestimmte Form der pädagogischen Gemeinschaftsbildung im Auge gehabt, sondern die Kinder selbst: jetzt spricht er vom „eitele[n] wesen der Jugend", und die Eitelkeit ist eine Eigenschaft, durch die Pietisten gerne die Selbstbezogenheit der Gottlosen charakterisieren. Deren Exempel in Gestalt der Kinderlust hat denn auch Schaden angerichtet, weil es „böse" war, und das darf der Leser durchaus wörtlich verstehen: als ein Exempel innerlicher Verdorbenheit. Indem Francke vom Wesen der Jugend spricht, scheint er sich selbst allerdings in den Kreis seiner Mitschüler einzuschließen, was der bisherigen Tendenz des Textes widerspräche, den „von Kindes Beinen an" durch Gott Begnadeten von seinem außerfamiliären Umfeld abzusondern. Das Wesen einer Sache ist der Inbegriff ihrer notwendigen Eigenschaften, das heißt desjenigen, ohne das sie nicht wäre, was sie ist. Jugendliche waren aber in dem berichteten Zeitraum nicht nur die anderen Schüler, sondern auch Francke. Ihr Sosein als Jugendliche ist also auch das seine gewesen. Aber Francke denkt nicht so. Er versteht J u g e n d " im Rückblick offenbar im Sinne von Jugendlichkeit, als Inbegriff von Eigenschaften, die einem Kind nicht notwendig, sondern nur unter bestimmten Umständen etwa „ohne genaue auffsicht" - zukommen. Diese Eigenschaften sind eben die Geselligkeit und Lust der Kinder; keineswegs muß ein Kind also notwendigerweise jugendlich, von jugendlichem Wesen sein. 70 Hier scheint das leistungsethische Prinzip auf die Spitze getrieben: das Kind soll sich eine religiöse Vervollkommnung abverlangt haben, die im Widerspruch zum „Wesen der Jugend" steht, soll sich also aus eigenem religiösen Streben - sit venia verbo - entjugendlicht haben. Entsprechen Franckes Darstellungen dem Selbstverständnis des frommen Schülers, dann wird er wohl ein besonders altkluger Zwölfjähriger gewesen sein. Immerhin bekennt er aufrichtigerweise, daß er sich in das „eitele" Treiben der Jugend „ziemlich verliebet und vertieffet hatte". Allerdings stellt er diesem Eingeständnis voran, er sei dazu durch das Beispiel der Kinder verleitet worden. Es ist erstaunlich, daß der fast Dreißigjährige diese Schuldzuweisung in dem Rückblick seines Lebenslaufes für nötig hält. Warum noch die anderen für längst verjährte Jugendstreiche be69
Francke 1969, 7. In diesem Sinne unterscheidet Grimms Wörterbuch zwischen „I. jugend, zustand und zeit des Jungseins" sowie „II. Jugend, von jugendlichen wesen" (Grimm 1854ff, Bd. 4.2, 2360, 2361). 70
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zichtigen, in die er sich doch nur durch eigene Schwäche hat verstricken lassen? Motiviert ist das durch die fundamentalistische Rigorosität seiner Frömmigkeit, die selbst das frohe Kindertreiben nicht wie ein Katholik zu den läßlichen Sünden zählen darf, sondern noch in dieser vergleichen wir sie mit Speners Kritik an der Glaubenspraxis seiner Zeit 71 - doch wohl kleinen Verfehlung eine Verschuldung sehen muß, die leichtfertig die Gnade Gottes verspielt. Also „verliebet und vertieffet" hat Francke sich in die Jugend, und zwar „ziemlich": ein in diesem Zusammenhang aufschlußreiches Wort. Dabei handelt es sich um eine Adjektivbildung von „ziemen" bzw. „geziemen" in der Bedeutung von „passen", „sich gehören". „Was sich ziemt" ist demnach „ziemlich", und Grimms Wörterbuch unterscheidet hier, was „erlaubt" ist, von dem, das als „angemessen", „gelegen", „passend", „geeignet" gilt. 72 Zunächst auch in der religiösen, rechtlichen und sittlichen Sphäre angesiedelt, reduziert sich der Begriff im 15. und 16.Jahrhundert schließlich auf „den wert einer maszbestimmung" im „bereich des wirklichen und praktischen lebens". 73 Heute gebrauchen wir das Wort vorwiegend als Ausdruck, der die - positive oder negative - Eigenschaft eines Gegenstandes oder Sachverhaltes hervorhebt. Von der vorigen Bedeutung bleibt die einer Maßangabe übrig, „die aber auch von der rücksicht auf ein mittelmasz, also von der normierenden absieht... frei ist", wie sie sich sprachgeschichtlich im 15. und 16.Jahrhundert durchgesetzt hat. „Ziemlich gut, schön, kalt, schnell": Mit Recht betont Grimms Wörterbuch, der Gehalt dieser Verwendung beschränke sich nur mehr auf „das blosze gefallen und gutdünken"' 74 Freilich berücksichtigt es nicht seinen pragmatischen Sinn. Sprechen wir von etwas als „ziemlich so oder so", dann wägen wir seine Qualität ab, schränken sie vielleicht auch vorsichtig ein, sind jedenfalls bisher zu keinem abschließenden und objektivierenden Urteil gelangt. Es ergibt eben einen Unterschied, ob wir den Kinofilm vom gestrigen Abend Dritten als „sehr spannend" oder „ziemlich spannend" schildern. Im ersten Fall ist semantisch bereits eine Distanzierung von dem Ereignis vollzogen worden (wenngleich wir diese durch die Intonation unserer Stimme wieder zurücknehmen können: „sehr schön"), die im zweiten noch aussteht; „ziemlich" hat ein semantisches Expressivitätsmoment, das dem Adverb „sehr" fehlt. Und in genau diesem Sinne verwendet auch Francke das Wort. Nun ist seine Verliebtheit in das eitle Wesen der Jugend ja kein Ereignis vom vorigen Tag, sondern liegt zum Zeit-
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Vgl. oben, 1.4.3. Vgl. Grimm 1854ff, Bd. 15, 1120. Ebd., 1121. Ebd., 1124.
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punkt der Niederschrift des Lebenslaufes etwa fünfzehn Jahre zurück. D e r Gebrauch von „ziemlich" artikuliert hier die erneute, lebendige Evozierung des mit seiner damaligen Verfehlung verknüpften Schuldgefühls. Der Autobiograph wägt gleichsam die damalige Sünde im Erinnern seiner Kindheit erneut ab. Wieder bestätigt sich die existentielle Bedeutung des gelebten Lebens für die Gegenwart des frommen Pietisten, die sich bereits in Franckes Bemerkung zeigte, er habe die schädliche Wirkung der Kinder erst „nach der zeit wol erkant": auch diese Formulierung sprach ja für die Lebendigkeit, mit der auch die verhältnismäßigen Geringfügigkeiten des vergangenen Lebens den Erwachsenen noch - zweifellos um seines Seelenheils willen - beschäftigen. „Ziemlich" also habe er sich „verliebet und vertieffet", mit anderen Worten: selbstvergessen sich der „Kinder Lust" hingegeben und dabei sein wahres Ich fast verloren, da das „böse Exempel" seiner Studienund Spielgenossen von ihm „fast vor keine Sünde mehr geachtet ward"; wäre da nicht die Schwester gewesen, auch sie ja ein Exempel, aber „ein gar schönes", so d a ß er bald anfing, „das eitele wesen der Jugend . . . ernstlich zu hassen", sich „der unnützen Gesellschafft, Spielens und andern Zeit Verderbs zu entschlagen, und etwas nützlichers und bessers zu suchen". Erneut bestätigt sich der leistungsethische Maßstab für die Lebensbewährung, es geht vor allem anderen um eine nutzenintensive Zeitausfüllung. Zu derem Zweck folgt Franckes mentaler Absonderung von der gottlosen plebs nun auch die lebenspraktische: er bezieht ein Zimmer, worin er täglich Andacht und Gebet „hertzlich pflegte". Wie schon die frühe Kindheit durch die „Liebe zum wort Gottes, und insonderheit zum h. Predigtamt" leistungsethisch charakterisiert wurde, so ist nun Gegenstand der nutzenintensiven Betätigung die Herzlichkeit gegenüber Gott: jene eigentümliche Verbindung von Empfindung und Rationalität wiederholt sich hier in einer anderen Variante. Auch sinnlogisch bringt Francke den Absatz zu einem Ende, indem er die Ausgangssituation begnadeten religiösen Virtuosentums nach seiner Talfahrt kindlichen „Zeitverderbs" wieder herstellt: „bereits zu der zeit [Hervorhebung von mir - M.S.]" habe er Gott gelobt, ihm sein ganzes Leben zu widmen. Er hebt also die Ubererfüllung des Solls hervor - das Zeitadverb „bereits" verweist darauf - , und das ist es ja auch, was ihn vor seinem Ausflug in die Welt der Kindergesellschaften ausgezeichnet haben soll. 75 Der Text gestaltet also die Kreisfigur ursprünglicher Begnadung des religiös Talentierten, seines Abfalls von den guten Anfän75 Deutlich wird hier, daß sich für Francke protestantisches Virtuosentum auch in supererogatorischem Verhalten zeigt, dessen Möglichkeit und Gebotenheit vor allem in der katholischen Tradition, nämlich im Zusammenhang von Fragen moralischer Perfektionierung, diskutiert wurde. Vgl. dazu mit Nachweisen Joerden 1998, 631 f.
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gen und schließlich seiner Rückkehr zum Ursprung, gleichsam eine resurrectio zum Anfänglichen und Wahren. Nebenbei: Sollte der Zwölfjährige tatsächlich beteuert haben, Gott sein ganzes Leben aufzuopfern, so wäre das ein weiteres untrügliches Zeichen seiner jugendlichen Altklugheit, in deren Verdacht ihn der lebensgeschichtliche Rückblick des Dreißigjährigen allerdings gebracht hat. Zu welchen Ergebnissen ist nun die Analyse des ersten Absatzes gelangt? Und wie lassen sie sich im Sinne der in der Zwischenbetrachtung erarbeiteten Fragestellung interpretieren? Grundsätzlich gilt ja zu berücksichtigen, daß wir Gesichertes nur über den knapp dreißigjährigen Francke wissen, über denjenigen, der 1690/91 seinen Lebenslauf verfaßt hat. Denn der Heranwachsende ist uns nur in der Perspektive des Zurückblickenden zugänglich, der aus einem Abstand von gut zwanzig Jahren und in ihrem Lichte über seine Kindheit berichtet. Zunächst müssen wir uns über dessen Religiosität ein Urteil bilden und erst dann - soweit möglich - über diejenige des Kindes, auf die wir von dem Alteren aus schließen können. Denn über die Jugend Franckes wissen wir unbezweifelbarerweise nicht viel mehr, als seine objektiven Lebensdaten hergeben: wann er geboren wurde, wo er aufgewachsen ist, daß er in jungen Jahren durch den Vater eine strenge religiöse Unterweisung erfahren, sich bereits als Kind unter elterlicher Aufsicht intensiv mit der Bibel beschäftigt hat, offensichtlich eine Sprachbegabung besaß, schließlich, daß die veränderten Unterrichtsverhältnisse zu einer Auflockerung der religiösen Beschäftigungen geführt haben, daß er dann aber durch Einzelunterricht und andere äußere Bedingungen für ein konzentriertes Studium auf dem anfänglichen Pfad der strengen Unterweisung fortgefahren ist. Aber weder wissen wir, ob sich bereits der Junge selbst für eine religiöse Begabung gehalten hat, oder nur dessen Eltern, oder sogar nur der Verfasser des Lebenslaufs, der sich eben so erinnert oder erinnern will; noch - und aus denselben Gründen - wissen wir, ob Francke bereits als Kind seinem Gott liebevoll zugeneigt war, ob er die Gemeinschaft mit den anderen Kindern als verderblich empfunden hat. Schließlich wissen wir nicht einmal, ob die Eltern tatsächlich bemüht waren, ihr Kind „gar zeitig" in die Schule zu schicken und ob sie „nie einen andern Sinn gefasset" haben, als ihren Sohn Theologie studieren zu lassen. 76
76 Ein Blick in die biographische Literatur zu Francke hilft da kaum weiter; sie speist sich, wo sie sich nicht auf die ebenso unverläßlichen Stimmen der Zeitzeugen beruft, aus eben diesem Lebenslauf oder aus anderen autobiographischen Dokumenten, die sie zumeist als bloße Datenlieferanten behandelt, welche direkte Rückschlüsse auf die berichtete Zeit und deren Ereignisse erlaubt. Vgl. besonders Kramer 1880ff; Beyreuther 1961. Auch die ansonsten instruktiven Artikel von de Boor und Wendland über das im Lebens-
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Dagegen können wir jetzt zweifellos sagen, daß Francke, der Dreißigjährige, die leistungsethische Ausnutzung der Lebenszeit, die emotionale Hingabe an das credendum und die Superiorität gegenüber dem Gewohnheitschristentum selbst in den nebensächlichsten der alltäglichen Verrichtungen als lebenslaufrelevante Selbstdarstellungskriterien bewertet, denn andernfalls würden ihm die entsprechenden Details daß seine Eltern ihn „gar zeitig" zur Schule geschickt hätten, daß er als kleines Kind „eine Liebe zum wort Gottes" gefaßt und endlich statt der altersüblichen Beschäftigungen „etwas nützlichers und bessers" gesucht habe - im Rückblick entweder entgangen sein oder er hätte sie einer Erwähnung in dem inhaltlich gattungsgemäß auf das Wesentliche beschränkten Lebenslauf als zu geringfügig erachtet. Das gleiche gilt für seine stete Dichotomisierung des Seins in die Sphären des Sakralen und des Profanen, die Francke so sehr verinnerlicht hat, daß er seine Lebensbewandtnisse danach klassifiziert: in Handlungen der Gotteszuwendung und solche der Abkehr von Gott; kein Mittelweg führt zwischen den Extremen hindurch. Die wesentlichen Stichpunkte, die uns von der Analyse der Anfangszeilen zu der Frage nach der sprachlichen Strukturlogik religiöser Sinnbildung führen, sind damit bereits genannt. Wie hängen die Traditionalität Franckes, sein Leistungsethos, die Emotionalität seiner Frömmigkeit, die Reflexivität des genauen Selbstbeobachters, seine offenkundige, religiös motivierte Uberlegenheitsgewißheit und sein dichotomisches Weltbild miteinander zusammen? Es soll eine vorläufige Fallstrukturhypothese gewagt werden, welche dann im Fortgang des Textes einer selektiven Uberprüfung am Material unterzogen werden muß: Franckes Frömmigkeit wird durch die Spannung zwischen dem grundsätzlichen Verständnis menschlicher Passivität innerhalb des
lauf dargestellte Bekehrungserlebnis Franckes unterscheiden nicht trennscharf zwischen dem Erlebnis und seiner Darstellung (vgl. de Boor 1975; Wendland 1920). Eine Ausnahme: der Aufsatz von Jürgen Henningsen, Leben entsteht aus Geschichten, dessen Titel programmatisch für die Interpretationsansätze bei der Sprachgestalt des Lebenslaufes ist (vgl. Henningsen 1977). Der Autor sieht ein Innenverhältnis zwischen Sprache und Religion. „Interesseleitend ist nicht", so Henningsens Auskunft über seinen Forschungsansatz, „daß Francke 1687 etwas erlebte, was er dann beschrieb, sondern daß er 1690/91 etwas schrieb, was dann für sein weiteres Leben bedeutsam wurde und es strukturierte, indem es Vergangenheit zu Geschichte machte, stilisierte: hier wurde, so die These, .Wirklichkeit' nicht beschrieben, sondern hergestellt" (Henningsen 1977, 263). Allerdings wird in den folgenden Ausführungen die weitergehende These entwickelt, daß aus dem Verhältnis zwischen der Logik narrativer Konstruktion und den konstruierten Inhalten auch etwas über deren historischen Wahrheitsgehalt herauszufinden sei. Nur kann das eben nicht einfach dadurch geschehen, daß Franckes Aussagen for granted genommen werden. Zu den philosophischen Implikationen der narrativen Konstruktion von Wirklichkeit vgl. in dieser Arbeit Teil IV.
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göttlichen ordo, der gefühlsbetonten Individualisierung von Beziehungsmustern und Glaubenshaltungen sowie der leistungsethischen Perfektibilisierung des Lebens bestimmt. 77 Vor allem die Kanalisierung der religiösen Hingabe an Gott durch die Bewährung des Verkündigungsverständnisses ist hier bedeutsam. Sie verlangt dem Subjekt eine Sublimierungsleistung ab, die es strukturell überfordern muß. 78 So führt die Unterstellung der Liebe unter Leistungskriterien Francke in die praktische Aporie eines Zwangs zur Spontaneität. Gewiß, diese Aporie ist strukturell bereits im Liebesgebot Jesu angelegt. Liebe läßt sich im Gegensatz zur Achtung oder Demut - nicht fordern, Menschen können nicht dafür zur Rechenschaft gezogen werden, daß sie andere nicht lieben. Aber immerhin kann das Liebesgebot als Ansinnen einer Lebensform verstanden werden, die für die Liebe Gottes prädisponiert. Wer dem Umkehrruf Jesu folgt, mag demnach seine Liebe zu Gott „entdekken". Dagegen kommt die besagte Aporie dann vollends zur Wirkung, wenn der Gegenstand der Liebe nicht Gott, sondern das Wort Gottes ist, zu dem der Gläubige überhaupt nur reflexiv Zugang hat, was ihn wiederum an der geforderten Unmittelbarkeit der Gottesliebe hindert, die der Gläubige Jesus Christus - etwa in der Kontemplation des Gekreuzigten - ohne weiteres entgegenzubringen vermöchte. 79 Außerdem soll sich diese Liebe ja „in äusserlichen Bezeigungen vielfältig" hervor-
77 Bereits die Analyse der ersten Absätze des Lebenslaufs widerlegt mithin die Behauptung Maier- Petersens, ein Leben, das nach Autonomie und Selbstvervollkommnung strebe, werde von Francke verdammt (vgl. Maier-Petersen 1984, 224). D a s Gegenteil ist der Fall: Franckes Frömmigkeit erzeugt einen stupenden Selbstvervollkommnungsschub. Allerdings identifiziert Maier-Petersen Autonomie und Selbstvervollkommnung mit einem Leben „für,weltliche Zwecke'" - eine nicht nur unplausible, sondern gegenüber gläubigen Menschen auch ignorante Unterstellung. 78 Möglicherweise ist in diesem Zusammenhang ein biographisches Detail von Interesse, auf das Maier-Petersen hinweist: In Franckes Lebenslauf spielen Frauen - mit Ausnahme der Schwester, worauf noch zurückzukommen sein wird - keine maßgebliche Rolle. Bezeichnend ist die Art und Weise, wie Francke sich Spener über seine Heiratsabsichten eröffnet: „Ich bitte mir beten zu helfen, d a ß ich ja in keinem Stück nachlässiger werde in dem Ehestande, sondern daß der Segen und N a c h d r u c k sich vermehre (Brief vom 12. Mai 1696, zit.n. Kramer 1861, 312; vgl. Maier-Petersen 1984, 201f). 79 Schon die Kanonisierung des Hohelieds in der Bibel konnte den Gläubigen dazu dienen, auf dem Wege allegorischer Interpretation eine Sprache f ü r die liebevolle Anbetung ihres Gottes zu finden - wie anders wäre sie auch zu rechtfertigen? „Es fehlt im H l d schlechterdings jeder religiöse Gedanke; ja das ganze Buch ist von der ersten bis zur letzten Zeile so ohne G o t t und ohne jede Religion . . . , d a ß man um die Frage nicht herumkommt, wie konnte dieses Buch überhaupt kanonisiert und sogar den Megilloth zugewiesen werden" (Kühl 1937, 14]). Welche Intention auch immer hinter der Kanonisierung der ursprünglich profanen Liebeslieder gestanden haben mag: durch ihre Aufnahme in die Bibel konnte der Eros religiös kanalisiert werden. Zu den großen und wirkungsgeschichtlich bedeutenden Fortschreibern der Hohelied-Tradition gehört die Jesus-Minne Bernhard von Clairvauxs und - im protestantischen Raum - Paul G e r h a r d t , dessen
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tun, erfordert also eine ihrem Wesen widerstrebende nachträgliche Vergewisserung. Diese Spannung wird durch Franckes starres Weltbild noch verschärft, weil es keine religiösen Kompromißbildungen zuläßt: entweder Liebe zum Wort Gottes oder Weltliebe und also auch entweder bedingungslose emotionale Hingabe an Gott oder die Verderbnis gottloser Zerstreuung. 80 Und schließlich wird sich derjenige, der sich diesem Rigorismus unterwirft, zugleich herausgehoben fühlen aus der Menge des Gewohnheitschristentums, dem diese radikale Dichtotomisierung seiner Lebenspraxis fremd ist. Kann nun dies alles schon auf den Jugendlichen zugetroffen haben? Welche Anzeichen haben wir, daß die zum Ausdruck gebrachte Frömmigkeit bereits diejenige des Jungen war? Aufhorchen muß der Leser dort, wo Francke konzediert, er habe sich als Zwölfjähriger in das „jugendliche Wesen" verliebt und sich zur Gesellschaft mit den anderen Heranwachsenden verführen lassen. Die faktische Spontaneität der Hingabe galt also, wo die nach Auskunft Franckes streng disziplinierende - und jedem spontanen Verhalten doch wohl eher hinderliche Aufsicht durch Vater und Lehrer wegfiel bzw. gemildert wurde, ganz anderen Dingen als der Religion. In diesem Sinne ist ja auch die Liebe zum Wort Gottes interpretierbar. Sein Umgang mit der Bibel könnte ursprünglich durch eine - für Kinder geradezu natürliche - Leidenschaft für die phantasievollen morgenländischen Geschichten, die übrigens auch Goethe in Dichtung und Wahrheit von seiner jugendlichen Beschäftigung mit dem Alten Testament behauptete, oder durch eine Begeisterung für die Sprache der Bibel, für die intellektuellen Herausforderungen ihres Bedeutungsuniversums motiviert gewesen sein, die dann erst nachträglich oder von außen - von den Eltern und Verwandten als Liebe Gottes gedeutet und gefordert worden ist. Dieser Deutung kommt auch der Umstand entgegen, daß Francke seine Neigung zum „jugendlichen Wesen" dem üblen Einfluß seiner Umwelt zur Last legt und also gleichsam externalisiert. 81 Es liegt jedenfalls in der Kon-
Lieddichtung sich an Bernhard orientiert. In gewissem Sinne gehören also auch diese Autoren - und nicht nur die Theologen - zur Deutungsgeschichte des Hohenliedes. 80 Wieviel pragmatischer ist da doch der - freilich säkularisierte - Puritanismus eines Benjamin Franklin: „Most People dislike Vanity in others whatever Share they have of it, but I give it fair Quarter wherever I meet with it, being persuaded that it is often productive of Good to the Possessor & to others that are within his Sphere of Action: And Therefore in many Cases it would not be quite absurd if a Man were to thank God for his Vanity among the other Comforts of Life" (Franklin 1976, 4). 81 Maier-Petersen sieht das ähnlich: „Es sind immer die ganz anderen, der groß Haufe, die Welt, die ihn listig verführen wollen, so daß sich die Frage aufdrängt, wer oder was denn da tatsächlich verführt und was in ihm verführt wird" (Maier-Petersen 1984, 198).
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sequenz der im Text gestalteten Spannung zwischen Leistung und Gefühl, wenn sich Franckes Glaubenspraxis auf dem Grunde eines ständigen Wechsels zwischen einer wohlmöglich nur selbstsuggerierten und daher dem Gläubigen stets verdächtigen Spontaneität liebender Hingabe an das Wort Gottes und einer von dieser Selbstverdächtigung wiederum erzwungenen Reflexion auf die Authentizität dieser Hingabe vollzöge. Läßt sich dieser Wechsel fortan inhaltlich, als Strukturprinzip der dargestellten Lebensgeschichte identifizieren? Wenn ja, dann hätte der Text die Funktion der Bewältigung einer religiösen Krise durch die nachträgliche Rekonstruktion ihrer Entstehung, Entwicklung und Lösung. Indessen müßte sich in dieser Rekonstruktion reproduzieren, was durch sie bewältigt werden sollte: die krisenhafte Fallstruktur der Lebenspraxis, welcher der Verfasser wohl kaum in einen „view from nowhere"' (Thomas Nagel) entschlüpfen kann. Im folgenden gilt es diese These am Material zu überprüfen.
1.4. „Indessen fand ich auch in meinem Gemüht wenig Ruhe ... ": der Bekehrungsweg Nun aber lohnt auch ein Blick auf die Gesamtkomposition des Textes. Was wird wie entfaltet, zusammenhängend und im ganzen? Welche Darstellungskriterien strukturieren den Text und seine Entwicklung? Erst einmal die objektiven Daten: Francke hat schulischen Erfolg, er nimmt als Dreizehnjähriger an Vorbereitungsklassen für die Universität teil, studiert antike Literatur und eignet sich die griechische und lateinische Sprache solide an. Als Sechzehnjähriger, im Jahr 1675, bezieht er die Erfurter Universität, studiert vor allem Logik und Metaphysik. Vier Jahre später erfolgt der Wechsel nach Kiel, wo er sich auf der Grundlage eines ihm gewährten Stipendiums neben der Theologie mit Philosophie und Rhetorik auseinandersetzt, auch bereits Predigten „in der Stadt und auff dem Land" 82 hält. Laut Lebenslauf geht Francke aus Gründen eines intensiveren Hebräisch-Studiums 1682 nach Hamburg, kehrt dann für autodidaktische Sprachstudien zu seiner Familie nach Gotha zurück, setzt schließlich sein Universitätsstudium 1684 in Leipzig fort. Der Lebenslauf berichtet von seinem Wechsel 1687 nach Lüneburg, schildert die dortige Anfechtung und Bekehrung zum „wahren" Glauben und schließt mit einem Resümee seines bisherigen Lebens seitdem. Die zentralen Elemente der Textkomposition sind neben den objekti82
Francke 1969, 12.
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ven Lebensdaten die Darstellung der akademischen Entwicklung und Aktivitäten - durch Angabe der studierten Literatur, der Professoren an den verschiedenen Studienorten sowie der dort erbrachten Leistungen und die Schilderung der seelischen Befindlichkeiten auf der jeweiligen Etappe der Lebensgeschichte aus religiöser Sicht. In dieser Sicht dichotomisiert sich der Lebenslauf - wie schon in dem analysierten ersten Absatz - in die semantischen Felder des Heiligen und des Profanen, der Zuwendung und der Abwendung von Gott, der Befreiung zum Reich Gottes und der Verstrickung in den diesseitigen Interessen, der Rettung und des Verderbens. Dabei nimmt die Schilderung der seelischen Befindlichkeit quantitativ innerhalb des Textganzen fortschreitend zu. Sie wird als Widerstreit zwischen den Mächten des Guten und des Bösen, zwischen Heil und Verderben gestaltet, und komplementär zur Zunahme derjenigen Textteile, welche der Schilderung des Widerstreits eingeräumt werden, spitzt diese sich zu der Stilisierung eines dramatischen Kampfes um das Seelenheil des Verfassers zu, eines Kampfes, der in der Bekehrung zum „wahren" Christentum kulminiert und die Lebensdarstellung schließlich vollständig dominiert. 83 Die religiös motivierte Schilderung des Innenlebens ist mithin das die Entwicklung des Selbstzeugnisses inhaltlich vorantreibende Textelement, sie befreit sich gleichsam aus dem Korsett der objektiven Daten und der Nachzeichnung des akademischen Werdegangs. Günter Niggl hat das Verhältnis zwischen religiösen und akademischen Partien im Text als „typologische Uberlagerung der religiösen Bekenntnisschrift" durch die Gelehrten- bzw. Berufsautobiographie gelesen. Seine Interpretation des Franckeschen Textes steht im Horizont der weitreichenden These, die ältere, von Augustinus herkommende Tradition der religiösen Autobiographie werde von der seit dem 16.Jahrhundert sich gattungsgeschichtlich durchsetzenden Gelehrtenautobiographie zurückgedrängt, bis sich schließlich der alte Typus dem neuen fügen muß. Franckes Text sei ein Beispiel für diese Entwicklung und als „Schnittpunkt zweier konträrer Gattungstraditionen" lesbar. 84 Denn die Gelehrtenautobiograpie war, so Niggl, gegen Ende des 17.Jahrhunderts „schon so deutlich in die allgemeine Vorstellung einer Autobiographie getreten, daß die führenden und also öffentlichen Vertreter der neuen Bewegung des Pietismus ihre Absicht, die Geschichte ihrer Bekehrung als religiöse Konfession zu verfassen, typologisch 83
Von den sechzehn Absätzen des Lebenslaufs werden die ersten zehn von der Schilderung des Innenlebens ebenso wie von dem Bericht über den akademischen Werdegang des Autors bestimmt, in den letzten sechs dagegen tritt die Darstellung des akademischen Lebens fast vollständig hinter diejenige der Gewissenskrise zurück. 84 Niggl 1977, 8 f.
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nicht mehr rein verwirklichen konnten". 85 Soweit die gattungsgeschichtliche Interpretation des deutungsbedürftigen Umstands, daß Francke so ausführlich auf seine Universitätsaktivitäten eingeht, um schließlich offenbar auf ganz anderes hinauszuwollen.86 Es gibt aber noch eine andere Lesart, welche die Darstellung der akademischen vita als integralen Bestandteil des Bekehrungsberichtes ausweisen kann: Bereits in dem Anfangsabsatz des Lebenslaufes bekannte Francke, er habe sich in das „eitle Wesen der Jugend" verliebt, also doch wohl anderes im Herzen gehabt als Gott. Auch seine Liebe zum Wort Gottes scheint ursprünglich eher eine Leidenschaft für die Sprache der Bibel gewesen sein zu können, die dann im Sinne der besagten Formulierung von Franckes familiärem Umfeld und schließlich von dem Jungen selbst, möglicherweise aber auch erst vom Verfasser des Lebenslaufs religiös umgedeutet wurde. Im folgenden bekennt Francke nun ganz offen, seine schulischen Studien aus eitlem Trachten (um „Ehre bey der Welt groß zu achten") nach Gelehrsamkeit betrieben zu haben.8 Man muß hier unterscheiden zwischen dem objektiven Sachverhalt und seiner Deutung durch den Autobiographen. Das Streben nach Gelehrsamkeit ist durchaus in einen sinnlogisch stringenten Zusammenhang mit seiner „Liebe zum Wort Gottes" zu bringen: es handelt sich dabei um das Resultat eines intrinsischen und beharrlichen Sachinteresses, das allerdings aus religiöser Sicht, wenn es nicht mehr als Begabung für das Verkündigungsverständnis gedeutet werden kann, sündhaft ist und daher des eitlen Trachtens nach Ehre und Ruhm bezichtigt wird - wobei Francke sich das Bekenntnis seines Gelehrsamkeitsstrebens wiederum nur unter Verweis auf die schlechten Beispiele abringt, die ihn erneut aus der Bahn gerissen haben sollen. Aufschlußreich ist auch, daß er laut eigener Aussage das Studium in Erfurt vornehmlich mit der Lektüre philosophischer Autoren bestritt, indem er sich „ziemlich in diesen stu-
N i g g l 1973, 166. H a n s - J ü r g e n Schräder hat diese D e u t u n g als historisch f r a g w ü r d i g angezweifelt. „ D i e Gelehrtenautobiographie stellt j a die historisch ältere, gegenüber der subjektiven Analyse seelischer E r f a h r u n g e n im 17.Jahrhundert noch eindeutig dominierende T r a d i t i on dar. D a ß diese T r a d i t i o n auch in den Rechenschaftsberichten pietistischer Gelehrter partiell a u f g e g r i f f e n wird, ist k a u m verwunderlich und keineswegs Ergebnis einer S p ä t entwicklung" ( S c h r ä d e r 1989, 31). G e g e n ü b e r den gattungsgeschichtlichen D e u t u n g s ansätzen schlägt J ü r g e n Henningsen eine weniger weitreichende Interpretation vor, welche die Form des Lebenslaufs biographisch durch die Auskunftspflicht des Stipendiaten Francke gegenüber dem Verwalter der Lübecker Schabbel-Stiftung motiviert: „ E s ist durchaus d e n k b a r , d a ß Franckes „ L e b e n s l a u f f " in der geläufigen Intention des N a c h - Lübeck-berichten-Müssens angefangen wurde und erst im Verlauf des Schreibens umschlug zu einem Bericht nicht f ü r seine A u f s e h e r und G e l d g e b e r , sondern f ü r sich und damit (als , E x e m p e l ' ) auch für Freunde und Schüler" (Henningsen 1977, 282). 85 86
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Francke 1969, 8.
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diis vertieffete, und die besten Logicken und metaphysiken zusammen schlepte .,.". 8 8 Die bildhafte Ausdrucksweise verdeutlicht die Begeisterung, mit der er sich laut Lebenslauf dem Studium der Texte gewidmet haben muß. „Zusammenschleppen" ruft die Vorstellung eines gewichtigen Vorrats auf, der von überall her gesammelt und gehortet wird. Die Studien greifen denn auch auf andere Gebiete aus, Francke, eben erst an die Kieler Universität gewechselt, „verliebte" sich in das „Studium polyhistoricum" 89 und war schließlich in seine Vorratsschätze derart „verstricket", daß er selbst dasjenige für unumgehbar hielt, „was doch auch nur von seinen Liebhabern für eine Zierde der übrigen wissenschafften angegeben wird". 90 Von dem „Studium textuale" der Bibel im Rahmen des von ihm mitbegründeten collegium philobiblicum in Leipzig berichtet er, er habe es ergriffen, „daß ich die großen Schätze, welche uns in der H. Sch. dargereichet worden besser erkennen, und aus der H.Sch. selbst herfürsuchen lernete", um also „auch selbst zuzusehen, was ich aus einem jeglichen text für einen deutl. verstand fassen, und für Lehren, Ermahnungen und Trost schöpffen könnte". 91 Der Akzent liegt hier deutlich auf dem Interesse an der hermeneutischen Auslegungsarbeit. Bezeichnend ist, daß er in diesem Zusammenhang „von einer unter den studiosis entstehenden Liebe zum worte Gottes" spricht, 92 die exegetische Textarbeit also als Ausdruck der gleichen Liebe charakterisiert, die ihn als Kind bereits in die Lektüre der Bibel gezogen haben soll. Es ließen sich weitere Beispiele anführen, die wie die vorstehenden belegen würden, daß Franckes Text den Widerspruch austrägt zwischen einem intrinsischen akademischen Interesse an der Bibel als Forschungsgegenstand einerseits und der religiösen Forderung nach einer demütigen, fromm-empfindsamen Hingabe an das credendum andererseits, die ein eigenlogisches Sachinteresse, das gleichsam nur um seiner selbst willen da ist, natürlich nicht kennt. Schlichten kann der Lebenslauf diesen Widerspruch nur insoweit, als er seine urwüchsigen Interessen mit seinen Frömmigkeitsanforderungen in Einklang bringt, wo er also - zum Beispiel - das Studium der Bibel in der Kindheit und die bibelwissenschaftlichen Bestrebungen seines collegium philobiblicum an der Leipziger Universität als Liebe zum Wort Gottes deuten kann. 93 88
Ebd., 9. Ebd., 11. 90 Ebd., 12. Auch brieflich äußert sich Francke wiederholt enthusiastisch über seine breitgestreuten wissenschaftlichen Studien. Vgl. de Boor 1975, 124. 91 Francke 1969, 20. 92 Ebd., 18. 93 Auch de Boor sieht in Franckes Engagement für die biblische Philologie den Versuch, „aus der unerträglichen Konfliktsituation zwischen Frömmigkeit und Wissenschaft, 89
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Warum also Franckes ausführliche Berichterstattung über den akademischen Werdegang? Die meisten Stationen auf seinem Ausbildungsweg werden ja als Verstrickung in selbstbezogene Interessen geschildert und es hätte der Detailversessenheit, mit der er jedes besuchte Kolleg notiert, wohl kaum bedurft, um seine Studien im nachhinein und bilanzierend als Huldigung menschlicher Eitelkeit zu bewerten. Man muß aber berücksichtigen, daß Francke zum Zeitpunkt der Niederschrift seines Lebenslaufs die im nachhinein so gnadenlos verurteilte Studentenzeit erst wenige Jahre hinter sich hat. Und er wird in der Zwischenzeit trotz der Bekehrung unmöglich zu einem ganz anderen Menschen geworden sein. Schließlich folgt er ja nur kurze Zeit nach Abfassung des Textes bereits dem Ruf auf eine Professur für Griechisch und Hebräisch an die Universität Halle, bleibt der Wissenschaft also treu. Die Lebendigkeit der Schilderung seiner Liebe zur Gelehrsamkeit in wenigstens einzelnen der Formulierungen, die Ausführlichkeit der nachträglichen Würdigung seiner Lehrer und der studierten Werke, das alles deutet daher auf eine sich im Lebenslauf unwillkürlich verratende Identifikation mit der akademischen Lebenssphäre, die er sich allerdings aus religiösen Gründen nicht ohne weiteres zugestehen darf. Seine Darstellungen der akademischen vita enthalten gerade diejenigen Anteile der Lebensgeschichte, die gleichsam gezähmt, die religiös abgearbeitet werden müssen. Es ist denn auch auffällig, daß Francke die gelesenen Werke und die Professoren, deren Kollegs er besuchte, nicht als solche der „verderbten" Welt zurechnet, sondern allein seine eigene im Rückblick eitle, um Geltung, Ruhm und den selbstgenügsamen Genuß der wissenschaftlichen Tätigkeit bedachte - Einstellung zu dieser Materie. Will man Franckes Lebenslauf mit Niggl als Mischprodukt aus religiösem Bekehrungsbericht und Gelehrtenautobiographie lesen, dann jedenfalls nicht, wenigstens nicht vorrangig im Sinne einer Uberlagerung von zwei Gattungstraditionen, sondern als den Reflex eines individuellen Konflikts zwischen dem religiösen und dem wissenschaft-
Philosophie und Theologie der Wiedergeborenen einen für ihn gangbaren Ausweg zu finden" (de Boor 1975, 128). Nur beruht seine Lesart auf einer der vorliegenden Interpretation entgegengesetzten Einschätzung der Franckeschen Frömmigkeit: „Die frühzeitige Vertiefung in die Frömmigkeit Johann Arndts und die dadurch ausgelöste Kindheitserweckung haben Francke so geprägt, daß er sich nicht mehr unbefangen der Wissenschaft und den Fragen seiner Zeit zuwenden konnte." Franckes Haltung sei durch den Versuch geprägt, „aus dieser Kindheitsfrömmigkeit auszubrechen und sich der Wissenschaft zuzuwenden" (de Boor 1975, 123). Die bisherige Textanalyse konnte dagegen zeigen, daß Franckes vermeintliche Kindheitserweckung mit starken Vorbehalten gesehen werden muß, während die wissenschaftliche Tätigkeit und ihr kindliches Pendant, die Neugierde, keinesfalls einer besonderen Förderung, sondern vielmehr ihrer Zügelung um der religiösen Selbstdisziplinierung willen bedurfte.
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lichen Selbstverständnis des Verfassers, der in seinem Leben den „wahren" Glauben gegen das Talent, die Leidenschaft und Tätigkeiten des Studenten einer professionalisierten Wissenschaft gleichsam exekutieren muß und dieser Wissenschaft trotzdem treu bleiben will. Immer wieder betont er, er habe sein „Studium theologicum . . . so gar nur ins wissen und in die bloße vernunfft gefasset", sei nicht in seinem „Hertz" von den Inhalten des Studiums überzeugt gewesen. 9 4 Sehr wahrscheinlich war in seiner Vernunft mehr Herz, als er sich eingestehen will. 9 5 Sucht man nun nach Quellen für Franckes religiöse Kritik an seiner Studentenzeit, dann stößt man immer wieder auf die leistungsethische Bewährung eines an Maßstäben der Empfindsamkeit und Emotionalität des Gottesbezugs orientierten Glaubenslebens. Exemplarisch sei folgender - um das letzte Drittel gekürzter - Absatz zitiert und analysiert, der über die Zeit nach Franckes Rückkehr von seinen Sprachstudien bei dem Hebraisten Esdras Edzardus in Hamburg zu seiner Familie nach Gotha berichtet: „Der Zustand meines Gemüths da ich von Hamburg kam war sehr schlecht und mit Liebe der weit durch und durch beflecket. Gott gab mir auch zu erkennen, daß er seine Hand immer mehr von mir abgezogen, weil ich seine kräfftigen Vater Hand, die mich so nachtrücklich zur Bekehrung so mannichmal gereitzet, nicht platz gegeben, sondern mich immer tieffer in die Liebe der weit versencket. Da fienge ich nun gleichsam auffs neue an Gott mit Ernst zu suchen. Aber es bestand mein Suchen dennoch mehr im äusserlichen als im innerlichen. Ich sunge und betete viel, laß viel in der Schrifft, und andern geistlichen Büchern, ging viel zur Kirchen, bereuete auch äusserliche Sünden und kam wol mit Thränen zur Beichte, aber das blieb noch alle zeit in meinem Hertzen stekken, daß Ehre, Reichthum und nach guten Tagen trachten keine Sünde sey. Da doch Johannes ausdrücklich schreibet. 1. Joh. II. Habt nicht lieb die weit, noch was in der weit ist. So iemand die weit lieb hat, in dem ist nicht die Liebe des Vaters. Denn alles, was in der weit ist, nemlich Fleisches Lust, äugen Lust, und hoffärtiges Leben ist nicht vom Vater sondern von der Welt. Wenn ich auch alle Sünden bereuete, so bereuete ich den Unglauben nicht, der doch tieffe wurtzeln hatte in meinem Hertzen. Denn wo die Früchte des Glaubens nicht sind, als Liebe, Freude, Friede, Geduld, Freundlichkeit, Gütigkeit, Glaube, Sanfftmuth, Keuschheit, da ist auch nicht glaube, sondern eine bloße Einbildung vom glauben, und in der That nichts als Unglauben. Doch war in solchen 11/2 Jahren, da ich zu Hause war, dem äusserlichen nach, mein Zustand besser als vorhin. Denn ich lag dem studieren ob mit großen Fleiß, und suchte auch im übrigen ein äusserliches erbares Leben zu führen, mein Hertz kam aber nicht zur rech94
Francke 1969, hier: 24. Daher liegt Erich Beyreuther völlig falsch, wenn er Franckes Studienjahre vor den Lüneburger Ereignissen so paraphrasiert, er habe „[philosophische Vorstudien ... zum Uberdruß genug getrieben" (Beyreuther 1961, 54). Von „Uberdruß" kann gerade keine Rede sein. 95
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ten ruhe . . . Für der weit ward ich wol für einen frommen und fleissigen Studenten gehalten, der seine zeit nicht übel angewant, ward auch von vielen lieb und wehrt gehalten, aber in der that war ich nichts als ein bloßer natürlicher mensch, der viel im Kopff hatte, aber vom rechtschaffenen wesen, das in Jesu Christo ist weit genug entfernet war." 96
Francke fügt dem Bericht über die Leistungen und Erfolge seiner Studien bei Esdras Edzardus hier eine Bilanzierung seiner psychischen Verfassung nach dem Ende der Hamburger Zeit an („Der Zustand meines Gemühts . . . war sehr schlecht ..."). Die Formulierung erinnert zunächst an den Stil einer medizinischen Diagnose, die ein Arzt seinem Patienten erstellt, denn Francke hält seine seelische Befindlichkeit in einer objektivierenden Weise fest, gleichsam als beuge er sich von außen über einen Krankheitsfall. Das allein macht seinen Zug zur Selbstanalyse überdeutlich. Nun würde man das für angemessen halten, wenn sich die Erörterung seines Gemütszustandes auf die Wirkung eines außerordentlichen Ereignisses bezöge. Uberlebende einer Katastrophe könnten sich viele Jahre später an die Zeit ihres Unglücks in dieser Weise erinnern; ihr damaliger Gefühlszustand wäre ihnen erklärlicherweise noch präsent und auch erinnerungswürdig, weil er der Ausdruck einer schweren, das Leben im ganzen affizierenden, mittlerweile aber überwundenen Krise wäre. Von dieser Außeralltäglichkeit kann indessen bei Francke kaum die Rede sein, von Hamburg gilt es vor allem zu berichten, daß er „Biblia hebraea wol sechsmahl absolvirete". 97 Weiterhin würde jemand so formulieren, der einem Dritten seine Krankheitsgeschichte mitteilte, jemand, der darin geübt ist, seine innere Befindlichkeit auf Unregelmäßigkeiten hin abzuhorchen, weil er unter chronischen psychischen Beschwerden leidet, und der sich zugleich aus Selbstschutz von dieser Krankheitsgeschichte in die Haltung des distanzierten Beobachters seiner selbst zurückzieht. Dieser Fall scheint demjenigen Franckes schon näher zu kommen. Daß er seinen damaligen Gemütszustand so erinnert, wie wir es im Lebenslauf lesen, ist wahrscheinlich seinem Selbstverständnis geschuldet, keine innere Regung auf dem Heilsweg des „wahren" Christen für geringfügig zu halten, die ihn eventuell belasten könnte. Und von seinem Gemüt bekennt er ja, es sei „mit Liebe der weit durch und durch beflecket" gewesen. Der selbstgeforderten Liebe zum Wort Gottes steht hier also im Sinne der durchgängigen Dichotomisierung von Gott und Welt die Liebe der Welt entgegen. „Welt" wird offensichtlich metonymisch und als genetivus objectivus gebraucht: die Liebe hat die vielfältigen Händel des dies-
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Francke 1969, 14 f. Ebd., 14.
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seitsbezogenen Lebens zum Gegenstand, die nicht nur Pietisten vor Augen hatten, wenn sie diesen Ausdruck hörten. Diese Händel auf dem „marckt der weit" 98 sind dem religiösen Protestanten alle Formen selbstbezogenen Handelns, bei dem das menschliche Selbst nicht - um eine berühmte Formulierung Sören Kierkegaards zu zitieren - , „indem es sich zu sich selbst verhält, und indem es es selbst sein will, . . . sich . . . durchsichtig in der Macht [gründet], welche es gesetzt hat [in Gott]"; 9 9 eines Handelns also, dessen Ziele der Mensch rein aus eigener Macht glaubt bewirken zu können. Das aber gilt dem Gläubigen als Selbstüberschätzung und diese wiederum als Ausdruck der Eigenliebe, die sich zum Maß aller Dinge erhebt und deren Motive letztlich gottlos auf die Befriedigung subjektiven Begehrens wie Ruhm, Reichtum und sexuelle Erfüllung abzielen. Ausdrücklich bezieht Francke sich denn auch in dem zitierten Absatz weiter unten auf einen johanneischen Vers, der den Weltbegriff in diesem, wirkungsgeschichtlich für das Christentum relevanten Sinne konnotiert. 1 0 0 Demnach kann hier, wie schon bei der Liebe zum Wort Gottes, nur in einem Sinn von Liebe die Rede sein: als Hingabe an etwas, zu dem
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Andreas Gryphius, zit.n. Grimm 1854ff, Bd. 14, 1.1., 1465. Kierkegaard 1957, 24./25. Abt., 10 u. 167, Anm.4. 100 Die pietistischen Assoziationen mit dem Weltbegriff bringt auf wortgewandte Weise Quirinus Kuhlmann in einem Gedicht aus der Sammlung seiner Himmlischen LibesKüsse von 1671 zum Ausdruck. Unter dem Titel Die Welt / eine Folter der Himmels-Liebe heißt es da: „Was bist du / schnödes Nichts / das man di Welt benennt? Ein Reich / da Torheit herscht / di ihr Altäre bauet / Ein Diamant / darein Unlibe sich aushauet / Ein Bild / das man bei N a c h t und nicht bei Tage k e n n t . . . " U n d nach einigen weiteren Strophen setzt Kuhlmann folgende „Gold-verse" bei, „mit welchen ein H o c h ädel gebohrner und auserlesener Tichter / di Welt abgeschildert": „Was ist das grosse Nichts / so Welt und Erde heisset / Dem der gemeine Geist zu opffern sich befleisset / Ihm fetten Weihrauch bringt / und ihm sich selber schlacht? Ein grosser Wunder-ball mit Eitelkeit erfüllet / Ein Bronn / aus welchem stets ein Stromm der Sunden quillet / Ein Mahler / so den Schein zu einem G r u n d e macht. Ein Spil der Sterblichen / von lauter Trauerschlüssen / . . . Ein Baum / der iderzeit verborne Früchte zeiget / . . . Ein immer- grünes Feld / so heisses Wolfskraut heget / . . . Ein weites Freuden-meer / voll Syrten und Sirenen / . . . Ein wol-geputzt Spittal / durchbeitzt mit Pest und Seuchen / . . . Ein falscher Urtheil tisch / der Tugend Laste heisst / . . . Ein Aetna / dessen Brust von heissen Lastern brennet / . . . Ein Führer / der mit Lust uns in di Hölle leitet / . . . Ein rechter W i d e r - G O t t / ein falsches Sinnen-zil..." (Kuhlmann 1971, 36ff). 99
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Teil III Analysen früher pietistischer A u t o b i o g r a p h i e n
ich mich in einem emotionalen Abhängigkeitsverhältnis befinde, von dem ich mich nicht einfach lösen kann. Wie in der personalen Liebesbeziehung dies andere der Mensch ist, dem ich mich hingebe, an dem ich hänge und von dem ich insofern auch abhänge, so ist es in der Liebe zur Welt eine bestimmte Lebensweise und die Güter und Menschen, die zu ihr gehören und ohne die sie nicht wäre, was sie für mich ist. Liebe bedeutet in diesem Zusammenhang die Abhängigkeit eines Menschen von dieser Lebensweise, seine Einhausung in einen bestimmten Umgang mit den Gütern und Mitmenschen seines alltäglichen Lebens, die ihm die Entschlußkraft raubt, sich für ein anderes und - jedenfalls für Francke, dem die Existenz Gottes ja nicht zur Disposition steht - „wahres" Leben im Gegensatz zu diesem „falschen" zu entscheiden, für ein Leben, das zwar in dieser Welt gelebt wird, aber nicht mehr von dieser Welt ist. Deshalb kann Francke in diesen Zusammenhängen auch von Verstrickung sprechen, 1 0 1 der man sich gewaltsam entreißen muß, 1 0 2 denn der aus dem Gewissen aufkeimende Ruf: „Kehre um!", „Andere dein Leben!", ist hier um nichts authentischer als der, es tunlichst zu unterlassen. 103 Umso erstaunlicher, daß Francke sein Gemüt der Weltliebe bloß ausgesetzt sein läßt, denn wird es von ihr „beflecket", dann ist es ursprünglich in einem ihm wesenhaften Zustand der Reinheit, der durch die Befleckung zwar eingebüßt oder gar nur beeinträchtigt wurde, aber eben darum auch korrigierbar ist; während also die Liebe zum Wort Gottes dem Kind „ins Hertz gesencket" wurde, wie es zu Beginn des Lebenslaufs heißt, hat die Weltliebe sein Gemüt nur „beflecket". Francke bemüht sich erneut um die im Rahmen seiner Frömmigkeit größtmögliche Verschleierung des Umstands, daß die sogenannte Liebe zur Welt ihm mindestens ebenso wesentlich [gewesen] ist wie die andere. Das Urteil über seine Gemütsverfassung sieht Francke dadurch bestätigt, daß ihm Gott „auch" signalisierte, die ihn von jungen Jahren an schützende und aus der Kindergesellschaft heraushebende Gnade nicht mehr zu gewähren, weil er sich „immer tieffer in die Liebe der weit versencket" habe. Allerdings scheint Francke den Zeichen Gottes nicht die seiner Frömmigkeit gemäße Bedeutung beizumessen, sonst hätte er zuerst von diesen gesprochen und erst dann die eigene Einschätzung sei-
Francke 1969, 12. Ebd. 103 Das N e u e T e s t a m e n t thematisiert diesen Widerstreit des Willens, den es wie Francke als Verstrickung des Menschen in seine irdischen Belange deutet, welche ihn daran hindern, J e s u U m k e h r r u f und mithin seiner H e i l s z u s a g e wirklich und effektiv zu folgen, in der Parabel vom reichen J ü n g l i n g , die in allen drei der synoptischen Evangelien eine wichtige Rolle spielt. Vgl. M t 1 9 , 1 6 - 2 6 ; M k 1 0 , 1 7 - 2 7 ; L k 1 8 , 1 8 - 2 7 . 101
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nes Gemütszustandes folgen lassen. Im übrigen bezeichnet das Modaladverb „auch" in diesem Kontext eine Erweiterung der vorstehenden Aussage, die Zeichen Gottes würden hier nur zur Beglaubigung des bereits selbstständig introspektiv Befundenen angeführt. Francke wird sich also sein schlechtes Gewissen in den äußerlichen Ereignissen seines Lebens widerspiegeln haben lassen und diese dann wiederum - wie er das im Lebenslauf häufig tut 104 - als Botschaft Gottes gedeutet haben, die ihm bloß eine zusätzliche Uberzeugungsgewißheit gewähren soll. Seine Wortwahl evoziert denn auch die Anstrengung, aus der Versenkung in die Weltliebe wieder aufzutauchen und zu Gott zurückzufinden, die einer solchen Gewißheit wohl bedarf. So habe er angefangen, Gott „gleichsam auffs neue" und „mit Ernst" zu suchen. Deutlich unterstreicht er die Festigkeit seines Entschusses durch die Zeitadverbien „da" und „nun", die den Beginn einer neuen Zeitrechnung suggerieren, und durch die an sich tautologische Wendung „aufs Neue anfangen"; andererseits ist er sich dessen durchaus bewußt, daß diese Redeweise nur in übertragener Bedeutung einen Sinn ergibt („gleichsam"), denn weder kann er nach protestantischer Auffassung die Eintragungen in seinem Sündenregister löschen, noch auch nur leugnen, daß nicht bereits der Entschluß zum gottgefälligen Leben die Verstrickung in die Weltlichkeit der Welt löse, sondern erst seine Ausführung. So hebt der bekundete Ernst denn auch auf ein bestimmtes Verhältnis des Verfassers zur Wirklichkeit ab. Denn mit „Ernst" bezeichnen wir den Gegensatz von Spaß bzw. Scherz oder Spiel und deren Unverbindlichkeit und Widerruft» arkeit, die ihn in einem äußerlichen Verhältnis zur Wirklichkeit belassen. Dagegen steht der Ernst zu ihr in einem Innenverhältnis. Michael Theunissen hat das in der folgenden Begriffsanalyse luzide herausgearbeitet: „Was wir , ernstlich' wollen, wollen wir ,wirklich' und nicht bloß zum Schein. Das ,Ernstgemeinte' ist uns ein wahres Anliegen, um das es uns ,zu tun' ist. Was ,im Ernst' ist, das ist ,in Wirklichkeit' und ,in Wahrheit' und ,in der Tat'. Alle diese und ähnliche Ausdrücke haben dieselbe Bedeutung. In ihnen wird der Ernst, die Wirklichkeit, die Wahrheit oder die Tat genannt, um das ,Ist' zu bekräftigen und jedes ,Ist nicht' im Scheinbaren und Gleichgültigen abzuwehren. Was nicht bloß irgendwie, sondern im Ernst oder in Wirklichkeit ist, bekommt durch diesen Zusatz keinen anderen Inhalt; es ist nur in einem ausgezeichneten Sinn. Dies, daß es ist, wird im Ernst gewichtig und schwer. So ist die Wirklichkeit, die wir meinen, wenn wir vom 104 Besonders deutlich wird das in Franckes Schilderung seines Wechsels von Leipzig nach Lüneburg im Herbst 1687: „Denn Gott fügte es, daß ich Leipzig . . . verlassen muste, in dem er meines Verttern D. Gloxini Hertz dahin gelencket, daß er mir das Stipendium Schabbelianum wieder reichete ..." (ebd., 25).
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Ernst reden, nichts als das in seinem eigenen Gewicht bedeutsam gewordene Sein. Was wir ,ernst nehmen' und womit wir ,Ernst machen', ist das, was für uns wahrhaft und eigentlich ist." 105 ,Wahrhaft' und ,eigentlich', darauf will Francke hinaus, sei für ihn Gott und nicht die Welt, der Inbegriff des Scheinhaften und daher Uneigentlichen. Nun wissen wir mittlerweile, daß das so nicht stimmt. Immer wieder externalisiert das Selbstzeugnis Franckes Leidenschaft für das akademische Leben, indem es sie als eine per se sündhafte Weltliebe darstellt, die sein wesenhaft reines Gemüt befleckt habe; sein Abfall vom „wahren" Christentum - so kann man sein Selbstbild paraphrasieren - resultiert aus der Verführung durch die Gesellschaft der weltlich Gesinnten und Gottlosen, von der es sich als dem schlechthin Unernsthaften, Uneigentlichen, Unwahren seines Lebens entschlossen loszureißen gilt, um zu seiner ursprünglichen gnadenvollen Begabung, dem Ernst, der Eigentlichkeit und Wahrheit christlicher Existenz zurückzukehren. In Wirklichkeit wird es Francke mit jener Gelehrsamkeit der Bücher, die er sich „zusammenschleppte", nicht minder ernst gewesen sein. Das im Lebenslauf berichtete Arbeits- und Leistungspensum, das zu bezweifeln der Leser keinen Grund hat, legt sich kein Student zum bloßen Spaß auf, es erfordert jene Beharrlichkeit und Disziplin, die auf einer intrinsischen Motivation beruht und folglich durch die Metaphorik der Verführung und Befleckung in einer die Sachlage geradezu umkehrenden Art und Weise wiedergegeben wird. Nein, in der Betonung des Neuanfangs und seines Ernstes werden e contrario die Konturen des Voranfänglichen sichtbar, das eben das ganz Neue gar nicht zuläßt, weil es immer noch derselbe zwiespältige Mensch ist, der den Neuanfang wagen will. Folgerichtig habe er Gott „mehr im äusserlichen als im innerlichen" gesucht, mit seinem Ernst also offenbar nicht Ernst machen können. „Innen" und „Außen" sind die den Dichotomien von Gott und Welt, Gemüt und Gesellschaft, Heil und Verderben entsprechenden Raummetaphern. Nicht in dem, worin sich der Mensch mit seiner Umwelt berührt, soll der Heilsweg gefunden werden können, sondern umgekehrt in dem, was der Umwelt verschlossen bleibt, was einen privaten Charakter besitzt, eben innerlich ist: also, im Gegensatz zum Verstand, der für das eitle akademische Leben zuständig ist, die Sphäre des Gefühls und der Empfindungen, metonymisch formuliert: das oftmals beschworene Herz des Gläubigen. Worin aber ist laut Lebenslauf Franckes Suche nach Gott nur äußerlich geblieben? In Gesang und Gebet, heißt es, in der Lektüre von Bibel und Erbauungsliteratur, im Kirchgang, schließlich auch in seiner -
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T h e u n i s s e n 1958, I X .
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wenngleich tränenreichen - Reue. Nun ist der Gesang ein ausgezeichnetes Medium der Verinnerlichung des Glaubens, 106 desgleichen das Gebet, immerhin seit dem Mittelalter eine probate Meditationstechnik im Verkehr des Menschen mit seinem Gott, 1 0 7 evidenterweise sind auch Tränen der Reue eher ein Zeichen innerlicher Gottsuche, denn sie lassen sich nicht hervorzwingen, sind also Ausdruck spontaner affektiver Betroffenheit. Zusammenfassend heißt Franckes Bekenntnis also, im Innerlichen sei er in Wirklichkeit äußerlich gewesen. Das kann bedeuten, er habe nicht aufrichtig genug gebetet, gesungen, gebeichtet. Kann man aber auch unaufrichtigerweise oder gar nicht aufrichtig genug reuen und weinen? Nichts spricht dafür, daß Franckes Ernst, mit dem er Gott suchen wollte, nicht authentisch war. Eigentümlich vage und stereotyp wirkt sein Selbstvorwurf, es sei trotz aller noch so aufrichtigen Frömmigkeitsübungen dieser Art in seinem Herzen stecken geblieben, „daß Ehre, Reichthum und nach guten Tagen trachten keine Sünde sey" (worauf dann das Zitat der prominenten Verse aus dem Ersten Johannesbrief über die Verderbtheit der Welt folgt). Denn es ist aus den bisherigen Ausführungen des Lebenslaufs gar nicht ersichtlich, inwiefern Francke überhaupt nach den genannten Gütern gestrebt habe. Gewiß wird man ihm Ehrgeiz konzedieren dürfen, kaum aber das Streben nach Reichtum, wofür er denn auch den falschen Beruf ergriffen hätte, und seine fleißigen Studien lassen es als unglaubwürdig erscheinen, er habe in dem allseits geläufigen Sinne nach guten Tagen getrachtet, wenn anders er sich damit nicht auf das Glück des Denkens bezieht, das ihm seine akademische Arbeit zugetragen haben wird. Francke stereotypisiert seine Verfehlungen hier auf die genannte Johannes- Zitation hin, so daß diese auf die Geschichte seiner Studienzeit passe, kurz: er will sich als einen schlimmen - wenn auch durch das Verschulden der Welt erst schlimm gewordenen - Menschen darstellen. Was aber hat er sich aus der Sicht des Rückblickenden wirklich zu schulden kommen lassen? Wenngleich er seine Sünden bereut habe, so doch nicht den Unglauben, „der doch tieffe wurtzeln hatte in meinem 106 „Singen . . . ist eine ... Intensivform des Sagens, in der der Sagende vermittels seiner Stimme sich selbst zum Instrument für worthaft geläutetes und melodisch bewegtes Klingen hergibt, so daß er, in der Sprache verbleibend, über das Sprechen hinauskommt" (Henskys 1989, 638). Deshalb ist der Gesang ein ausgezeichnetes Medium expressiver Artikulation. Der Kirchengesang, der semantisch an die religiöse Sphäre gebunden ist, erlaubt mithin in besonderer Weise die Expression religiöser Gefühle und Affekte bzw. die Expression von Gefühlen und Affekten als religiöser. Insofern sich der Sänger in der Synthese des Kirchenliedes aus Semantik und Melos gleichsam - mit Henskys gesprochen - zum religiösen Klingen hergibt, trägt das Kirchenlied bzw. der Kirchengesang zur Verinnerlichung des Glaubens bei. 107
Vgl. Angenendt 2000, 532ff; 546ff.
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Hertzen". Das Bild der Wurzeln, welche die Weltliebe im Herzen des Verfassers geschlagen habe, konzediert nun doch mehr Eigenverschuldung als das der Befleckung, denn Wurzeln wachsen nur in einem der Pflanze gedeihlichen Nährboden. Allerdings bleibt der Bekehrte wiederum eine Erläuterung schuldig, worin denn dieser Unglaube soll bestanden haben. Seinen bisherigen Aussagen können wir ja gerade das Gegenteil entnehmen, nämlich alles Erdenkliche getan zu haben, das man gemeinhin als Glauben bezeichnet. So findet er den Leser damit ab, er habe damals nicht „die Früchte des Glaubens" gehabt und listet diese dann in genauer Entsprechung von Gal 5, 22 auf: Liebe, Freude, Friede, Geduld, Freundlichkeit, Gütigkeit, Glaube, Sanfftmuth, Keuschheit. Diese pauschale Selbstverurteilung erweckt - wie schon wenige Zeilen vorher seine ebenfalls pauschalisierende Selbstbezichtigung als Streber nach Ehre, Reichtum und guten Tagen - den Eindruck, der Student habe sich nichts in concreto zu Schulden kommen lassen. Vielmehr muß man sogar annehmen, er habe durchaus gemeint, ein gläubiger Mensch zu sein. Das konzediert er ja indirekt durch die Formulierung, wo nicht die Früchte des Glaubens seien, „da ist auch nicht glaube, sondern eine bloße Einbildung vom glauben, und in der That nichts als Unglauben". Er unterscheidet hier zwischen Schein („Einbildung") und Wirklichkeit („in der That"), was die Feststellung impliziert, er sei zur damaligen Zeit einer Selbsttäuschung unterlegen. Worin könnte diese bestanden haben? Franckes Wortlaut nach darin, seinen Gesang von Kirchenliedern, das Beten und die Lektüre von Bibel und Erbauungsliteratur, schließlich seine tränenreiche Reue fälschlich für Glauben gehalten zu haben, während sie zwar möglicherweise die conditio sine qua non des Glaubens, nicht aber dieser selbst, sondern unter den gegebenen Umständen seiner Weltliebe dem Gemüt vielmehr äußerlich und also Bestandteil des Unglaubens gewesen seien. So habe sich denn sein Zustand durch den Ernst, mit dem er Gott zu suchen begonnen, „dem äusserlichen nach" gebessert, er habe „ein äusserliches erbares Leben" zu führen versucht, allein: „mein Hertz kam aber nicht zur rechten ruhe". Als ehrbares Leben bezeichnen wir ein solches, das soziale Anerkennung erheischt. Ehrbar ist derjenige, der moralisch integer ist und den geltenden Normen der Sittlichkeit entspricht. Es liegt also schon im Begriff der Ehrbarkeit, daß sie, gemessen an den hohen sozialethischen Forderungen der Franckeschen Frömmigkeit, auf „äußerliche" Eigenschaften eines Menschen abhebt. Folglich zählt er alles dasjenige, was zuvor seine Gottessuche belegen sollte, vom Gesang und Gebet bis zu den Tränen der Reue, zu den Handlungen, die einen Menschen allenfalls als ehrbar auszeichnen, nicht aber als gläubig. Freilich bleibt Francke dem Leser weiterhin eine Erläuterung schuldig, worin denn nun, nachdem wir alles über das äußerliche Leben und
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die bloß scheinbare Innerlichkeit des eingebildeten Glaubens erfahren haben, die „wahre", von Francke ja bedingungslos geforderte wie angestrebte christliche Innerlichkeit besteht. Gewiß, schon der Beginn des Lebenslaufs verrät es ja, in der Liebe zum Wort Gottes, in der Herzlichkeit der Gottesbeziehung, die sich nur auf dem Wege der Abkehr von der Welt, der Tötung der Weltliebe vollzieht, ist die Innerlichkeit des Menschen gotterfüllt und sein Glaube ganz innerlich. Aber was heißt das konkret? Was hätte der Student aus der Sicht des Bekehrten tun müssen bzw. was hat er in der Erinnerung des Lebenslaufs schuldhafterweise nicht getan, während er eifrig sang, betete, zur Kirche ging, sich in die Bibel vertiefte und seine Sünden tränenreich reute? Sein Herz sei nicht zur rechten Ruhe gekommen, notiert er, und es scheint, daß genau in dieser unscheinbaren Formulierung der Schlüssel zur religiösen Bildungsgeschichte des Verfassers liegt, daß nämlich in ihr, in der Ruhe des Herzens, in einem bestimmten Gemütszustand, letztlich in bestimmten qualia, die entweder empfunden oder nicht empfunden werden, die gotterfüllte Innerlichkeit gründet. Es scheint, daß allein diese qualia Francke der Garant seines Glaubens sind; daß ihre Empfindung oder Nichtempfindung darüber befindet, ob sein Glaube bloß Schein und Selbsttäuschung oder Wirklichkeit ist. Die pauschalen Selbstbezichtigungen, welche mit Bibelzeilen seine Verschuldungen belegen sollen, ohne daß diese konkret geschildert oder auch nur benannt würden - es sei denn, daß er mit Leidenschaft Theologie und Sprachen studierte, was er ja wiederum erklärtermaßen nicht an sich selbst für verwerflich hält, sondern nur dann, wenn es aus einer „weltlichen" Einstellung resultiert - , bezeugen daher gleichsam ein artikulatorisches Vakuum, einen Zustand, für den er keine Sprache hat. Dieser Zustand ist die Empfindung des Ungenügens an seinem Glauben, damals, als er aus Hamburg kam und in Gotha bei der Familie Zuflucht vor der Welt draußen und der Weltliebe in ihm selbst suchte. 108 Die aufgrund der Analyse des Textanfangs formulierte Fallstrukturhypothese über Franckes Religiosität läßt sich nun wie folgt zuspitzen: Der Lebenslauf dokumentiert eine radikale leistungsethische Emotionalisierung des Gottesverhältnisses, deren Aporetik noch dadurch verschärft wird, daß der Verfasser an sein wissenschaftlich- theologisches Selbstverständnis als Bibelhermeneutiker und Philologe den Maßstab der hingebungsvollen Gottesliebe anlegt, um es nicht vollends der Weltlichkeit der Welt zuschreiben zu müssen. Die leistungsethische Emotionalisierung des Glaubens, zumal die Anstrengung, diese in seinem aka-
108 Erich Beyreuther paraphrasiert dieses Ungenügen in einem treffenden Bild: „Denn das Herz ist ein Abgrund, den kein irdisches Gut ausfüllen kann" (Beyreuther 1961, 44).
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demischen Schriftstudium zu exerzieren, führt effektiv in die Logik der Selbstüberbietung, die sich ihrer selbst reflexiv versichern muß und sich dabei nur immer wieder ihres Ungenügens vor dem selbstgesetzten Maßstab spontaner Emotionalität überführt. Das Leistungsethos zwingt Francke daher zur bestimmten Negation aller Glaubensvollzüge, in denen er die Authentizität seiner Gottesliebe zu erweisen versucht. Aufgrund der scharfen Dichotomisierung seines Lebensvollzugs in Formen der Gotteszuwendung und solche der Abwendung von Gott gelingt es ihm auch nicht, etwa im Sinne der Zwei-Reiche-Lehre und des Berufsethos Luthers, welches der Arbeitstätigkeit der Gläubigen ja eine relative Autonomie gegenüber der religiösen Lebenssphäre zubilligt, Wissenschaft und Religion, intrinsisches Sachinteresse und Gottesliebe miteinander zu vermitteln, sondern letztere muß er in seinem ganzen Leben und also auch in allen Tätigkeitsbereichen als genuine Gottesliebe gleichsam exekutieren. Das Resultat dieser Anstrengung ist die von ihm mehrfach beklagte Unruhe des Herzens bzw. des Gemüts. Von ihr her, also gemäß der bestimmten Negation seines faktischen Glaubenslebens nur ex negativo gewinnt der Begriff eines erfüllten Glaubens an Kontur: er bestünde vor allem in einer seelischen Verfassung, die sich primär durch Prädikate religiöser Empfindsamkeit und Emotionalität bestimmen ließe. Franckes Gewissenskonflikt entfaltet mithin eine der Selbstüberbietungslogik seiner emotionalisierten Frömmigkeit entsprechende Eigendynamik, von der erwartet werden darf, daß sie im Lebenslauf als narratives Strukturierungsprinzip wiederkehrt, sich also in der Form der Narration artikuliert. Tatsächlich wird im folgenden die Unruhe des Herzens das beherrschende Thema. „Ich war wol in großer Unruhe und in großem Elend", protokolliert Francke die Leipziger Zeit, dann, in plastischer Metaphorik: „... der immer heimlich nagende wurm eines bösen Gewissens, daß ich nicht im rechten zustande wäre, trieben mein Hertz als ein ungestümes Meer bald auff die eine bald auff die andere Seite". 109 Der sich steigernden Unruhe folgen weitere umso entschlossenere Entschlüsse noch ernsthafteren Ernstes: „Aber gegen das 24 Jahr meines alters fienge ich an in mich zu schlagen, meinen Elenden zustand tieffer zu erkennen, und mit größerem Ernst mich zu sehnen." 110 Francke kann Erfolge verbuchen, da Gott sein Herz „änderte", und diese Änderung gibt ihm einen atmosphärischen Vorschein von der Wiedergeburt: „In solchem zustande war ich gleichsam in der Demmerung, und als hätte ich einen Flor für den äugen". Doch dann wieder
109 1,0
Francke 1969, 23. Ebd.
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Zögern und Ausharren, „von der so tieff eingewurtzelten weit Liebe zurück gehalten, nicht vollends hinein zu gehen" in den Tempel des Herrn. 1 1 1
1.5. „Denn wie man eine Hand umwendet...die
Konversion
Franckes Darstellung seiner zwischen Extremen der Zuversicht und Niedergeschlagenheit schwankenden Gemütsverfassung kulminiert schließlich in Lüneburg, im Vorfeld der ihm angetragenen Predigt über Joh 20, 31 zum Thema des rechten Glaubens, den er ja selbst nicht hat. Die beständige Selbstbeobachtung hält ihn nicht bei der Predigtvorbereitung, die Ausdeutung der Textstelle bei Johannes zieht ihn wieder in die Reflexion auf seinen eigenen Glaubensstand: „Ich kam also von der meditation der Predigt ab, und fand gnug mit mir selbst zu thun." 112 Schließlich steigert sich das Ungenügen an seinem Glauben in die Bezweifelung des credendum: „Denn solches, nemlich, daß ich noch keinen wahren Glauben hätte, kam mir immer tieffer zu Hertzen. Ich wolte mich hier und damit auffrichten, und gleichsam die traurigen gedancken damit verjagen, aber es wolte nichts hinlänglich seyn. Ich war bißhero nur gewohnet meine vernunfft mit guten gründen zu überzeugen, weil ich im Hertzen von dem neuen wesen des Geistes wenig erfahren hatte. Darum meynte ich mir nun auch durch solchen weg zu helffen, aber je mehr ich mir helffen wollte, je tieffer stürtzte ich mich in unruhe und zweiffei ... Ich meynte, an die H. Schrifft würde ich mich doch halten, aber bald kam mir in den Sinn, wer weiß ob auch die H. Schrifft Gottes wort ist, die Türcken geben ihren Alcoran, und die Juden ihren Talmud auch dafür aus, wer will nun sagen, wer recht habe. Solches nahm immer mehr die überhand, biß ich endlich von dem allen was ich mein Lebenlang, insonderheit aber in dem über acht Jahr getriebenen studio theologico von Gott und seinem geoffenbahrten wesen und willen gelernet, nicht das geringste mehr übrig war, das ich von Hertzen geglaubet hätte. Denn ich glaubte auch keinen Gott im Himmel mehr, und damit war alles aus, daß ich mich weder an Gottes noch an menschen wort mehr halten kunte, und ich fand auch damahls in einem so wenig Krafft als in dem andern. Es war nicht etwa bey mir eine solche ruchlosigkeit, daß ich aus weltlich gesinnetem Hertzen die warheit Gottes in den wind geschlagen hätte. Wie gerne hätte ich alles geglaubet, aber ich konte nicht." 113 Das Krankheitsbild, das Francke von seinem Scheinglauben zeichnet, ist das folgende: Seine den selbstauferlegten Glaubensmaßstäben zuwiderlaufende Lebensführung belastet ihn mehr und mehr („... immer 111 112 113
Ebd., 24. Ebd., 26. Ebd.
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tieffer ..."). Die „traurigen Gedancken", das Ergebnis permanenter Reflexion seines Gemütszustandes, versucht er wiederum „hier und damit" zu entkräften. Allerdings nicht einmal das gestattet er sich, ohne es nicht seinerseits wiederum zum Gegenstand einer es religiös abwertenden Reflexion zu machen. So wirft er sich vor, daß ihm nichts als Vernunftgründe gegen den Verdacht seines Unglaubens eingefallen seien, weshalb er sich nur noch tiefer in „unruhe und zweiffei" verstrickt habe. Was er hier schildert, ist die Spirale nichtstillstellbarer Selbstbezweiflung. Sie nimmt ihren Ausgang von der reflexiven Hinterfragung seiner Glaubenshaltung, gleichsam dem Sündenfall der Gewissensforschung. Sein Zweifel wiederum ließe sich zwar entweder durch die leistungsethisch eingeklagten Gefühle der Gottesliebe beseitigen oder durch Gegengründe widerlegen. Aber es ist ja gerade seine beständige zweiflerische Selbstbeobachtung, die ihn von den ersehnten Gefühlen fernhält; und die Gründe, die er zur Widerlegung seiner Zweifel anführen könnte, stehen als Werkzeuge der Vernunft erst recht im Widerspruch zu der selbstabverlangten emotionalen Glaubensinnerlichkeit. In der Tat: Je nachdrücklicher Francke gegen seine Reflexion aufbegehrt, desto tieffer stürzt er sich in sie hinein und kehrt sich so nur noch weiter von dem ab, was er als „wahren" Glauben erstrebt. Schließlich wird ihm selbst die Verkündigung unsicher, er bezweifelt ihren Geltungsanspruch mit dem Argument, einen solchen würden auch andere Religionen erheben. Man darf darin keine Motive der aufklärerischen Religionskritik vermuten, denn die Basis seines Zweifels sind ja gerade nicht rationale Argumente für oder wider die veritativen Geltungsansprüche der Religionen, sondern die Empfindung des Ungenügens gegenüber den eigenen Glaubens- und Frömmigkeitsmaßstäben; 114 der Zweifel ist nicht rational, sondern psychologisch motiviert. Francke stellt sich als einen vom Zweifel gleichsam Getriebenen dar, denn ausdrücklich betont er, kei-
114
Insofern handelt es sich auch nicht um eine „religionsgeschichtliche Anfechtung", wie Erich Beyreuther spekuliert (Beyreuther 1961, 46). Vollends absurd ist der Versuch Frederick Herzogs, Nietzsches Atheismus in Francke hinein zu okulieren: „The first wrestle with the modern ,Death of God' problem" (Herzog 1969, 48, Anm. 12). Solche geistesgeschichtliche Pauschalisierungen hat Kurt Aland im Blick, wenn er völlig zu Recht schreibt: „Von wirklichem Atheismus, von wirklicher Uberzeugung von der Nichtexistenz Gottes, das ist deutlich, kann hier nicht die Rede sein, sondern lediglich vom Mangel an der absoluten Gewißheit des persönlichen Gottes. Wer wie Francke sagt ,es gar zu hart fühlete . . . , was es sey, keinen Gott haben, an den sich das Hertz halten könne', der hat in Wirklichkeit seinen Gott. Er hat sich ihm verborgen, aber er ist da" (Aland 1960, 555). Allerdings sieht Aland nicht, daß Franckes Zweifel kein kontingentes lebensgeschichtliches Ereignis, sondern seinem Glauben strukturell konstitutiv ist. Der Glaube selbst rückt dem Gläubigen seinen Gott fern, indem er alle Regungen in Zweifel zieht, die ihn als intuitive Gottesbeziehung berühren: Franckes Bußkampf ist eine psychologische Radikalisierung des deus absconditus.
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neswegs sei er so ruchlos gewesen, „die warheit Gottes" absichtlich in den Wind geschlagen zu haben: „Wie gerne hätte ich alles geglaubet, aber ich konte nicht". Was der Lebenslauf hier schildert, ist tatsächlich ein Krankheitsbild, das Bild jener „Krankheit zum Tode" nämlich, die Sören Kierkegaard in Anlehnung an Joh 11,4 so nannte: das verzweifelte Selbstseinwollen, in dem der Mensch ein Selbstbild verwirklichen will, das ihm bzw. seinem Vermögen, seinen Kräften widerspricht und deshalb unmöglich Wirklichkeit werden kann. Kierkegaard nennt das die „Selbstverzehrung" des Verzweifelnden, und die Beschreibung dieses pathologischen Befundes entspricht zumindest phänomenal dem Leidensweg Franckes in seinem Lebenslauf. So sei die Verzweiflung dessen, der verzweifelt er selbst sein will, „eine ohnmächtige Selbstverzehrung, in welcher jedoch die Verzweiflung abermals nicht vermag was sie will, sich selbst verzehren. Dies ist eine Potenzierung oder das Gesetz für die Potenzierung. Dies ist das Erhitzende, oder dies ist der kalte Brand in der Verzweiflung, dies Nagende, dessen Bewegung fort und fort nach innen geht, tiefer und tiefer in ohnmächtige Selbstverzehrung hinein. Es ist so weit davon, daß es ein Trost für den Verzweifelten wäre, daß die Verzweiflung ihn nicht verzehrt, es ist gerade umgekehrt, dieser Trost ist eben die Pein, ist eben das, was den nagenden Schmerz am Leben hält und das Leben im nagenden Schmerze; denn eben darüber - nicht verzweifelte - sondern verzweifelt er: daß er nicht sich selbst verzehren kann, nicht sich selber loswerden kann, nicht zu Nichts werden kann". 115 Die ohnmächtige Selbstverzehrung ist die versuchte Nichtung des verneinten faktischen Selbst um des erstrebten idealen Selbstbildes willen, schließlich die versuchte Nichtung des Leidens am Scheitern dieses Unterfangens, und so auch bei Francke: die Verinnerlichung des Glaubenszweifels zur Verzweiflung an sich selbst, schließlich der Verzweiflung an der verhinderten Destruktion des verneinten, des vermeintlich weltlichen, gottabgewandten, verdorbenen Selbst. 116 Kierkegaard spricht von dem „Nichts", das der Verzweifelte als Ziel seiner Selbstnichtung anstrebt, jenen Zustand des Nichtseins, auf den die Nichtung des falschen Selbstseins um des erstrebten höheren Selbst hinauslaufen soll 115
Kierkegaard 1957ff, 24.U.25. Abt., 14. Franckes autobiographische Artikulation seiner Lüneburger Frömmigkeitskrise deckt also in nichts die freischwebende Behauptung Maier-Petersens, der Atheismusanfall sei dem Widerspruch geschuldet „zwischen einer einerseits gewünschten und auch rational schon erlebten Autonomie, die aber andererseits nicht zugelassen werden kann aus Angst. D i e Angst resultiert aus dem Abhängigkeitsverhältnis zu der überkommenen Ordungsmacht, die nicht ungestraft negiert werden darf" (Maier-Petersen 1984, 246). Maier-Petersen interpretiert Franckes Zweifel an Gott also in vollständiger Verkennung der Bedeutungsstruktur des Textes als Zeichen von Autonomie. 116
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für Kierkegaard ein hoffnungsloses Ziel, weshalb der Verzweifelnde denn auch den ewigen Tod stirbt. Francke aber scheint dieses Nichts kennengelernt zu haben, denn darauf läuft sein Lebenslauf hinaus, demzufolge er es subjektiv als Ereignis erfahren hat, das ihn unwillkürlich und glückshaft als Befreiung von der Last seines Bußkampfes ergriffen habe. 1 1 7 Hier die entscheidende Textpassage: „Denn ich fühlete es gar zu hart, was es sey, keinen Gott haben, an den sich das Hertz halten könne; Seine Sünden beweynen, und nicht wissen warum, oder wer der sey, der solche thränen auspresset, und ob warhafftig ein Gott sey, den man damit erzürnet habe; sein Elend und großen Jammer täglich sehen, und doch keinen Heyland und keine Zuflucht wissen oder kennen. In solcher großen angst legte ich mich nochmals an erwehntem Sontag abend nieder auff meine Knie, und rieffe an den Gott, den ich noch nicht kante, noch Glaubte, um Rettung aus solchem Elenden zustande, wenn anders warhafftig ein Gott wäre. Da erhörete mich der Herr, der lebendige Gott, von seinem h. Thron, da ich noch auff meinen Knien lag. So groß war seine Vater-Liebe, daß er mir nicht nach und nach solchen zweiffei und unruhe des Hertzens wieder benehmen wolte, daran mir wol hätte genügen können, sondern damit ich desto mehr überzeuget würde, und meiner verirreten Vernunfft ein zaum angeleget würde, gegen seine Krafft und Treue nichts einzuwenden, so erhörete er mich plötzlich. Denn wie man eine Hand umwendet, so war alle mein Zweiffei hinweg, ich war versichert in meinem Hertzen der Gnade Gottes in Christo Jesu, ich kunte Gott nicht allein Gott sonder meinen Vater nennen, alle Traurigkeit und unruhe des Hertzens ward auff einmahl weggenommen, hingegen ward ich als mit einem Strom der Freuden plötzlich überschüttet, daß ich aus vollem Muth Gott lobete und preisete, der mir solche große Gnade erzeiget hatte ... Ich begab mich drauff zu Bette, aber ich konnte für großen Freuden nicht schlaffen, und wenn sich etwa die äugen ein wenig zuschlossen, erwachte ich bald wieder, und fieng auffs neue an den lebendigen Gott, der sich meiner Seele zu erkennen gegeben, zu loben und zu preisen. Denn es war mir, als hätte ich in meinem gantzen Leben gleichsam in einem tieffen Schlaff gelegen, und als wenn ich alles nur im Traum gethan hätte, und wäre nun erstlich davon auffgewachet." 118 Francke ist inzwischen laut Lebenslauf in seinen Frömmigkeitsbemühungen fortgefahren; der anhaltende Gewissenskonflikt hindert ihn je-
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Francke hat seinen Bekehrungsweg in den Lebensnachrichten selbst als Bußkampf bezeichnet: „Und hier zu Lüneburg war der gesegnete Ort da Gott, bald nach seiner Hinkunfft, zwar nicht eine geringe innerliche Anfechtung des Glaubens, in welcher ihm der Grund aller göttlichen Wahrheit wollte zweiffelhaft gemachet werden, und welche mit einem starken Büß- Kampf und Traurigkeit verknüpfet war ..." (Kramer 1861, 61). Indessen bestreitet de Boor, daß es sich bei Franckes Erlebnissen tatsächlich um einen Bußkampf im Sinne der Hallischen Bekehrungstheologie gehandelt habe: „Was Francke hier erlebt, i s t . . . eine Situation, die Francke später in der Regel als Anfechtung des bereits Bekehrten vom Bußkampf unterschieden hat" (de Boor 1975, 135). 118 Francke 1969, 27 f.
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doch weiterhin daran, mit Predigten vor die Gemeinde zu treten. Die zitierte Passage schildert einen selbstquälerischen Geist, der sich an seinem Unvermögen zu den erstrebten Glaubensleistungen geradezu delektiert - daher die Betonung des leidenden Gottes, dem der verbohrte Student die Nachfolge verweigert. Es scheint, als wolle der Verfasser hier sprachlich die Gewalt gestalten, mit der sich der Verzweifelnde seinen Gott in plastischer Konkretion vorstellig macht, um aus dessen Erscheinung einen Glaubensanreiz zu ziehen, um also gleichsam von der magischen Wirkung des evozierten Bildes zehren zu können; als wolle er eine Epiphanie herbeizwingen, die freilich zuerst noch ausbleibt. Erst als er „nochmals" zum Beten niederkniet - seine Formulierungen legen hier geradezu einen Gebetsmarathon nahe - , wird er von Gott erhört: „Denn wie man eine Hand umwendet, so war alle mein Zweiffei hinweg ...". Der bildliche Vergleich hebt auf die geradezu spielerische Leichtigkeit ab, mit der - in diametralem Kontrast zu dem vorangegangenen Bußkampf - Gott, der Allmächtige, nun die Wende herbeigeführt habe. Francke formuliert zunächst negativ: die Verflüchtigung des Zweifels. Das eben ist im Resultat jene Nichtung, die der Verzweifelnde Kierkegaard zufolge niemals letztgültig erreichen kann. Der Satz fährt dann zunächst eigentümlich floskelhaft fort („... ich war versichert..."); offenbar fällt es Francke schwer, die neuerwirkte negative Freiheit auch adäquat zu prädizieren. So wiederholt sich die negative Bestimmung („... alle Traurigkeit und unruhe des Hertzens ward auff einmahl weggenommen ..."), bevor er dann zu einer Formulierung findet, welche die neue Zuständlichkeit positiv bestimmt. Die ist nicht eben originell, aber immerhin evoziert die Metaphorisierung des Freudenaffektes als eines Stromes, der den Geplagten überschüttet, ein sinnlich-atmosphärisches Glückserleben. Der Satz fährt konsekutiv fort ( „ . . . , daß ich aus vollem Muth Gott lobete und preisete ..."), führt also das Gotteslob nun erstmals auf „wahren", nämlich mit innerlichem Empfinden gesättigten Glauben zurück. Franckes Lebenslauf nimmt nun die Gestalt eines minutiösen Protokolls an, das jede Bewegung des aus seiner Glaubenskrise erlösten Studenten festhält. Demnach hat er sich schließlich schlafen gelegt, aber seine Freudenstimmung ließ ihm - diesmal im positiven Sinne keine Ruhe. Denn es war ihm, schreibt er, als hätte er in seinem ganzen Leben „gleichsam in einem tieffen Schlaff gelegen", als wenn er wie im Traum gelebt und nun „erstlich davon auffgewachet" wäre. Es fällt ihm offenbar weiterhin schwer, die qualitative Differenz zu seinem vorigen Zustand direkt zu benennen, denn jetzt umschreibt er sie durch die Dichotomie von Schlaf und Wachzustand, die einen weiten Assoziationsspielraum eröffnet. Berücksichtigt man, daß die bisher einzige positive Bestimmung seines Bekehrungserlebnisses in dessen Qualifizierung als
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eines ihn übergießenden Freudenstromes, also als eine primär atmosphärische Zuständlichkeit besteht, dann muß die jetzt folgende Dichotomie wohl gelesen werden im Sinne des Erwachens aller Sinne. Und tatsächlich bestätigen die folgenden, die Schilderung des Bekehrungserlebnisses abschließenden Zeilen diese Vermutung: „Meine vernunfft stand nun gleichsam von ferne, der Sieg war ihr aus den Händen gerissen, denn die Krafft Gottes hatte sie dem Glauben unterthänig gemachet. Doch gab sie mir zuweilen in den Sinn, solte es auch wol natürlich seyn können, solte man nicht auch von natur solche große Freude empfinden können; aber ich war gleich dagegen gantz und gar überzeuget, daß alle weit mit aller ihrer Lust und Herrligkeit solche Süssigkeit im menschlichen Hertzen nicht erwecken könnte, als diese war, und sähe wol im Glauben, daß nach solchen Vorschmack der Gnade und Güte Gottes die weit mit ihren reitzungen zu einer weltlichen Lust wenig mehr bey mir ausrichten würde. Denn die Ströme des lebendigen wassers waren mir nun alzu lieblich worden, daß ich leicht vergessen konte der stinckenden mistpfützen dieser weit. Ο wie angenehm war mir diese erste milch, damit Gott seine schwachen Kinder speiset!" 119
Endlich darf Francke die Unterwerfung der Vernunft unter den Glauben melden; wie von weither regen sich noch einmal die Zweifel, aber nun müssen sie tatsächlich nicht mehr widerlegt werden, die Erfahrungsgewißheit der Bekehrung beseitigt sie von alleine. Diese wird nun ausschließlich durch sinnliche Metaphern veranschaulicht, von der „Süssigkeit" und dem „Vorschmack", die den Geschmackssinn ansprechen, über die „Ströme des lebendigen wassers", welche den taktilen Sinn wecken, bis zur „milch", die „speiset" und daher sowohl wiederum den Geschmackssinn reizt als auch durch die Stillung von Hunger und Durst die Vorstellung der Trieberfüllung aufruft. Kontrastiert werden den Metaphern des Bekehrungsgeschehens die „stinckenden mistpfützen dieser weit", welche den Geruchssinn adressieren. Die von Francke verwendeten Metaphern sind also allesamt dem Bereich der Leib- und Sinneserfahrung entlehnt, und das sicherlich nicht zufällig: die Bekehrung, die er als ein Aufwachen aus tiefem Schlaf umschreibt, hat die Sinne zum atmosphärischen Erleben erweckt, das in der Leiblichkeit zentriert ist. 120 Es folgen Bibel- und Lutherzitate, welche dem Bekehrungserleben durch ihren gleichlautenden Ton die Autorität der Gottgewirktheit verleihen sollen. Auch Luthers berühmte Worte aus seiner Römerbriefvorrede dürfen nicht fehlen. Schließlich bilanziert Francke: „Gott hatte nun mein Hertz mit Liebe gegen ihn erfüllet, die weil er sich
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Ebd., 28. Dazu paßt es gut, daß Francke seinem Biographen Gustav Kramer zufolge später über den Bekehrungsaugenblick bekannt haben soll, „es sei ihm da recht gewesen, als wenn er an der Brust Gottes gehangen" (Kramer 1880ff, Bd. I, 37). 120
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mir als das allerhöchste und allein unschätzbare Guth zu erkennen gegeben." 121 Das Zeitadverb deutet auf das Bekehrungsgeschehen als Ursprung seiner aus Sicht des Lebenslaufs neuen Liebe zu Gott; die Kreisbewegung von der anfänglichen, gottgewirkten Gottesliebe über die Verstrickung in die Welt, den Kampf gegen deren Verführung bis zur schließlichen Wiederaufrichtung der anfänglichen Liebe, die schon der erste Absatz des Lebenslaufs gestaltete, wiederholt sich hier als das Ordnungsprinzip des gesamten Textes. Er endet mit der Resurrektion des „wahren" Kinderglaubens im Herzen des Erwachsenen. Entscheidend für Franckes Frömmigkeit ist nun, was das Fundament dieses Glaubens ist: gewiß, das Bekehrungsgeschehen; aber dieses steht in keinem erkennbaren Zusammenhang zu Franckes Bemühung um den Schriftsinn, denn diese ist durch den Lebenslauf weitgehend als eitler Vernunftglaube diskreditiert worden. Das Bekehrungsgeschehen erscheint vielmehr - trotz aller Betonung seiner Unwillkürlichkeit - als Kulmination einer selbstgemachten psychischen Krise. Und seine Qualität ist wiederum eine rein sensitiv-atmosphärische. Mit anderen Worten: die Liebe, mit der Gott Franckes Herz seit der Bekehrung erfüllt hatte, gründet in einer sinnlich-atmosphärisch prädizierten seelischen Befindlichkeit, einem subjektiven Zuständlichkeitserleben, dem, allerdings, die Vernunft - samt Bibel und Theologie - „von ferne" steht. „Und daß ist also die zeit, dahin ich eigentlich meine warhafftige Bekehrung rechnen kann" - Francke ist in der Erzählzeit angekommen, der letzte Absatz behandelt sein weiteres Leben seit der Bekehrung auf dem Pfade der christlichen Tugend und des „wahren" Glaubens als reine Formsache, allerdings nicht ohne auf die Lasten hinzuweisen, die Gott selbst seinen rechtgläubigen Kindern auferlege. Seine letzten Worte lauten: „Also hat mir es auch nie an prüffungen gefehlet, aber Gott hat dabey meiner Schwachheit allezeit geschonet, und mir erst ein gar geringes, und dann nach und nach immer ein größeres maaß des Leidens zugetheilet, da mir aber allezeit nach der von ihm ertheilten Göttlichen Krafft das letztere und größere viel leichter worden zu tragen, als das erste und geringere." 122
Wie anders wird Gott Francke geprüft haben als durch die Verlockungen der Welt, denen er schon so oft vor seiner Bekehrung erlegen zu sein behauptete. Der Bekehrte scheint sich seiner Standfestigkeit in diesen Prüfungen nicht einmal allzu sicher zu sein, denn er schreibt ja, Gott habe ihn dabei „geschonet", eben so, wie ein Lehrer seinen Primus schont, wenn dieser einmal einen schlechten Tag hat. Handelt der All121 122
Ebd., 29. Ebd.
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wissende so, dann wird Francke dieser Schonung wohl bedurft haben (wenngleich er sie nach allem, was der Lebenslauf schildert, wohl auch verdiente). Francke ist deswegen keineswegs irritiert. Das unterstreicht, was der Text uns längst preisgegeben hat: daß Franckes Verfehlungen vor der Bekehrung nicht in objektiven Tatbeständen faßbar sind, weil sie lediglich in einer vom Verfasser als ungenügend empfundenen seelischen Befindlichkeit der „Ungläubigkeit" bestanden, und die hat sich seinen Worten zufolge spürbar gewiß zum Guten gewendet. Wer jemanden schont, weiß, daß die durch Unterlassen der Schonung provozierte Verfehlung dem Fehlgehenden nicht substantiell ist und auch nicht zum Gegenstand seiner Beurteilung werden muß. Daß Francke Gottes Handeln also als Schonung seiner Person deutet, weist auf ein gehöriges Maß an Selbstgewißheit hin. Francke sagt damit implizit, wenn er auch durch die Weltlichkeit der Welt verlockt würde, auf daß er mit ihr gleichsam fremd ginge, so ändere sich dennoch nichts an seinem substantiell neuen Sein. Er ist in der T a t zu einem neuen Menschen geworden, denn für sein Handeln gelten offenbar fortan Maßstäbe, welche die Nichtbekehrten nicht für sich in Anspruch zu nehmen hoffen dürfen.
1.6. Die Strukturlogik religiöser Sinnbildung bei Francke Noch einmal stellt sich die Frage nach dem Verhältnis von Leben und Lebenslauf: Was verrät der Text über die religiöse Bildungsgeschichte seines Verfassers? Was ist Wirklichkeit und was nachträgliche Konstruktion? Francke schildert seinen Bekehrungsweg, der in einem zähen Bußkampf um den Durchbruch des „rechten" Glaubens zu dem Erlebnis der Wiedergeburt und der nachfolgenden Glaubensgewißheit geführt habe. Ganz offensichtlich wollte er einen innerreligiösen teleologischen Läuterungsprozeß darstellen, denn das Organisationsprinzip des Lebenslaufs, die sukzessive Verschärfung einer religiösen Krise, erhält von der alles entscheidenden Wende der Bekehrung seinen Sinn; von ihr her und auf sie hin wird das Leben nachträglich strukturiert. Das geschieht wiederum keinesfalls in einem leeren Raum, sondern innerhalb eines von der pietistischen Frömmigkeitsbewegung vorgegebenen symbolischen Koordinatensystems. So findet Johannes Wallmann für die Datierbarkeit des Bekehrungserlebnisses vor allem in der Theologie Theophil Großgebauers einen Vorläufer. 1 2 3 Erhard Peschke konnte für den Augenblickscharakter der Bekehrung entsprechendes 123
Wallmann 1 9 9 0 , 6 4 .
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Gedankengut bei Johann Arndt ausfindig machen. 124 Überhaupt hat Peschke auf die tiefe Verbundenheit des Lebenslaufs mit Arndts Frömmigkeitstheologie hingewiesen. 125 Deren Entgegensetzung der Kinder Satans und der Kinder Gottes habe Franckes Unterscheidung des natürlichen und des bekehrten Menschen geprägt - es ließe sich wohl ergänzen: auch die dem Lebenslauf charakteristische starre Dichotomisierung aller Lebensvollzüge in das vollends perhorreszierte weltliche Handeln hier und die Nachfolge Gottes dort entspricht der Arndtschen Frömmigkeit. Das gleiche gilt von den Merkmalen der Anfechtungen: „das Fehlen des Trostes, die Angst, die Ausweglosigkeit, der Unglaube, das Sichverbergen Gottes, das Festhalten am Gebet und das schwache Seufzen des Glaubens in der größten Not". 1 2 6 Folgerichtig ist insgesamt „in der psychologischen Selbstbetrachtung, im Suchen nach inneren und äußeren Zeichen des Gnadenstandes" Arndtsches Gedankengut erkennbar. 127 „Francke erfährt und durchleidet hier also das, was ihm in der religiösen Theorie wohl vertraut und durch die Beschäftigung mit Molinos noch einmal nachdrücklich bewußt geworden war." 128 Muß man daraus schließen, daß er mit seinem Lebenslauf einen theologiegeschichtlichen Flickenteppich geknüpft hat, der eine bestimmte gedanklich bereits ausgearbeitete Bekehrungstheologie lediglich zu erbaulichen Zwecken autobiographisch verpacken sollte? 129 Oder gibt er eine authentische Erfahrung wieder, so daß man mit Erhard Peschke
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Peschke 1977, 29. Henningsen zitiert aus einer Jugendarbeit Franckes, in der dieser das übernommene Gedankengut bereits gedanklich verarbeitet: „Es geschieht die Rechtfertigung aber eigentlich auf einmal, denn G o t t nimmt den Menschen nicht allgemach in seine G n a d e , d a ß er zum Teil in G n a d e n , zum Teil auch nicht wäre . . ( z i t . n . Hennigsen 1977, 281). 125 Ebd., 38ff. So auch de Boor: „Zwar wird der Name Arnds in Franckes Lebenslauf nicht genannt. Doch fast alle Begriffe, mit denen Francke seine religiöse Entwicklung kennzeichnet, finden sich bei Arnd wieder" (de Boor 1975, 121). Demgegenüber sieht Peschke freilich neben J o h a n n Arndt auch in Miguel de Molinos eine maßgebliche theologiegeschichtliche Einflußquelle. D a s ist insofern biographisch plausibel, als Francke Molinos während seiner Leipziger Zeit übersetzt und sich sorgfältig mit ihm auseinandergesetzt hat. Was Peschke dann aber im Lebenslauf auf den Einfluß des spanischen Mystikers zurückführen will, könnte ebenso gut durch Franckes Arndt-Lektüre motiviert worden sein, und die wird ihn lebensgeschichtlich weitaus nachdrücklicher geprägt haben. D a s Wahre Christentum gehörte bereits zu seiner Kindheitslektüre und war eine zentrale religiöse Bezugsquelle der Familie. 126
Peschke 1977, 39. Weigelt 1965b, 50. 128 D e Boor 1975, 136. 129 Petra Kurten hat das Verhältnis zwischen Bekehrungsgeschichte und Bekehrungstheologie untersucht. Sie geht dabei eher von einer Befruchtung seiner Bekehrungstheologie durch das im Bekehrungsbericht authentisch dargestellte Bekehrungserlebnis Franckes aus. Vgl. Kurten 1985. 127
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darauf bestehen müßte, Francke habe seine theologischen Gewährsmänner wie Großgebauer, Arndt, Molinos und natürlich auch Luther 130 „eigenständig nacherlebt" 131 ? Die Authentizität des Bekehrungsgeschehens hat Francke persönlich betont. In dem bereits erwähnten Brief an Spener vom 15. März 1692 schreibt er: „Wegen des jüngst uns zugesandten Brieffes eines mit dem Atheismo luctierenden Menschen, sende hierbey den anfang und fortgang meiner Bekehrung weil die Exempel mehr zu movieren pflegen, und" - das ist nun in unserem Zusammenhang wichtig - „gewiß eben dergleichen damahls in meinem Gemüth vorgegangen". 132 Soll die religiöse Bildungsgeschichte Franckes allein seinen inhaltlichen Aussagen im Lebenslauf entnommen werden, dann sind wir tatsächlich auf Quellen wie die zitierte Briefstelle angewiesen, in denen Francke die Wahrheitsgemäßheit seiner Darstellungen betont. Hingegen bedarf es solcher Rückversicherungen nicht, wenn der Lebenslauf als Ausdrucksgestalt seiner Religiosität gelesen wird. Die Tatsache, daß Francke sein Leben in einer bestimmten Weise - und natürlich unter Rückgriff auf lebensgeschichtlich prägende Literatur - symbolisch objektiviert, ist als solche vielsagend. Insoweit nun die in der individuellen Textgestalt des Lebenslaufs manifestierte Strukturlogik religiöser Sinnbildung derjenigen des geschilderten Geschehens entspricht, insoweit es also zu einer Bedeutungskongruenz von Form und Inhalt kommt, ist es, wenn auch nicht zweifelsfrei erwiesen, so doch hochgradig plausibel, daß es sich mit seiner Bekehrungsgeschichte in der geschilderten Weise verhalten hat. Die Analyse des Lebenslaufs konnte mithin zusammenfassend folgende Bedeutungsschichten sichtbar machen: erstens die gleichsam unchiffriert zugängliche, vom Verfasser teleologisch stilisierte Erinnerung der religiösen Lebensvollzüge als eines Bußkampfgeschehens mit der Richtung auf Läuterung, zweitens die latente Struktur, die diesen als Bußkampf stilisierten Vollzügen zugrundeliegt und sich aus der unaufhebbaren Inkongruenz religiös-emotionaler Spontaneität und selbstzweiflerischer Reflexivität ergibt, sowie drittens die vom Lebenslauf verborgene Krisenkonstellation der Lebenspraxis, welche die genannte Struktur generiert. Welche Bedeutung hat der Bußkampf nun in Franckes religiöser Bildungsgeschichte? Vergleicht man in seiner Darstellung des Bekehrungs-
130 Die klassische Studie zum Einfluß Luthers auf Francke stammt aus der Feder Herbert Stahls. Stahl gewichtet die theologiegeschichtliche Prägung Franckes allerdings zu einseitig. So kommt Johann Arndt als Einflußquelle bei ihm nicht vor. Vgl. Stahl 1939. Zu Franckes Lutherverständnis vgl. auch Peschke 1977, 136-149. 131 Peschke 1977, 39. 132 Zit.n. Kramer 1861, 220.
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weges die Symptome der Anfechtung vor dem Erlebnis seines Durchbruchs zum rechten Glauben mit denen danach, dann fällt auf, daß sie sich phänomenal kaum unterscheiden. Aber sie werden anders bewertet. Wird Francke vor dieser entscheidenden lebensgeschichtlichen Zäsur substantiell angefochten, droht also ganz von Gott abzufallen, so berührt ihn die göttliche Prüfung nach dem Durchbruchserlebnis nur noch akzidentell. Von Interesse ist an dieser Umdeutung zunächst, was sie Francke lebenspraktisch bringt. In erster Linie entlastet sie sein Gewissen, unterbindet die Produktion von Schuldgefühlen. Denn Francke muß das faktische Zurückbleiben hinter der religiösen Forderung nach Synthetisierung von Spontaneität und Reflexivität in der emotionalen Hingabe an die Bibel nun nicht mehr seiner Verderbnis zuschreiben, die er ja überwunden zu haben glaubt; er kann mit der aporetischen Struktur des Geforderten leben lernen. Die Interpretation des religiösen Dilemmas als Bußkampf steht im Dienste dieser Umdeutung, ist nämlich die Selbstsuggestion einer spiralförmigen Entwicklung der religiösen Krise bis zu einem Punkt, der als dramatische Aufhebung der Extreme von Glaubensemphase und Glaubensverzweiflung in die Gewißheit plötzlicher Gottesgegenwart somatisch, sinnlich und atmosphärisch erlebt wird. Dieses Erleben symbolisiert Francke als Wiedergeburt, die ihrerseits seine folgende lebenspraktische Selbstversicherung als eines substantiell unanfechtbaren Gläubigen, als des Neuen Menschen legitimiert. In der Tat, bei Francke ist „die äußere Autorität, die für ihn dahinfiel, einfach auf das Erlebnis übergegangen", wie das Fritz Blanke formuliert hat; 1 3 3 es ist indessen nach allem, was der Lebenslauf verrät, durchaus fraglich, ob dieser Wechsel tatsächlich so einfach geschehen ist. Von theologischer Seite ist Franckes Glaubensverständnis, das den Bußkampf als Weg zur Gnadensgewißheit vorschreibt, aus verschiedenen Motiven und mit unterschiedlichen Gründen kritisiert worden, Francke gab es jedenfalls ein wirksames Modell lebenspraktischer Krisenlösung in die Hand. Es wäre nun allerdings völlig verfehlt, die Schilderung seines Bußkampfes als eine strategische Selbstinszenierung abzutun. Es gibt im Text keinerlei Anhaltspunkte dafür, daß er seine religiöse Entwicklung retrospektiv, das heißt aus der Distanz der erlebten Wiedergeburt, nicht authentisch als Bußkampf erinnert, sondern inszenatorisch entwirft (ζ. B. zur Erbauung möglicher Leser). Sinnlogisch ist das Erinnerte für ihn aus der Binnenperspektive seiner religiösen Bekehrung zu einem Bußkampf geworden. Der Begriff „Bußkampf" bezeichnet also keinen von der Binnenperspektive der religiösen Lebenspraxis ablösbaren
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Blanke 1933, 133.
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Prozeß. Deshalb taugt er auch nicht zur Bestimmung der Strukturlogik religiöser Sinnbildung. Diese verrät sich nicht im Bußkampf als solchem, sondern erstens in dem der retrospektiven Deutung des Lebenslaufs zugrundeliegenden objektiven Geschehen des permanenten Umschlagens zwischen Glaubenszweifel und Glaubensemphase, zwischen Depression und Euphorie, sowie zweitens in der Logik des Denkens, derzufolge Francke das fragliche Geschehen als Bußkampf, das heißt das Umschlagen von Zweifel in Emphase und von Emphase in Zweifel als sukzessive Steigerung des Widerstreits zwischen Anfechtung und Gewißheit des Glaubens interpretiert. Charakteristisch für die Strukturlogik der religiösen Sinnbildung Franckes ist die Synthese aus der Innerlichkeitsakzentuierung der Religiosität, ihrer Dynamisierung durch die Spannung zwischen der Suggestion unmittelbaren Gotteserlebens und der Skepsis reflexiver Selbstvergewisserung sowie ihrer Teleologisierung durch den leistungsethischen Perfektibilisierungsanspruch des Gläubigen, der auf die Erfahrung der diesseitigen Gnadengewißheit, seine folgerichtige Selbstcharismatisierung als Glaubensvirtuosen und die unerbittliche Methodik einer Lebensführung hindrängt, welche alle Widerfahrnisse des Lebens der Ökonomie religiöser Praxis unterwirft. Daß diese Synthese vom Gläubigen als Bußkampf interpretiert wird, ist mithin zwar schlüssig aus der Strukturlogik seiner religiösen Sinnbildung motivierbar, aber keinesfalls zwingend erforderlich. Die Deutung der religiösen Krise als Bußkampf ist spezifisch für die individuelle Fallstruktur Franckes und kann nicht umstandslos generalisiert werden. Nicht jeder Gläubige derselben religiösen Provenienz wie Francke muß sein Leben zwingend im Lichte eines Bußkampfes interpretieren. Gleichwohl wurde der Bußkampf von vielen Gläubigen als integraler Bestandteil ihres Bekehrungsweges, also als Modus religiöser Sinnbildung nachvollzogen. Wen wundert es, daß er dabei zu einem Schema verkam, dem viele bloß äußerlich zu genügen strebten, um der Forderung des „rechten", des „wahren" Glaubens zu entsprechen. 134 Die Ergebnisse der Analyse erlauben es nun, Franckes Lebenslauf in der folgenden Weise „umzuschreiben": Die Persönlichkeit des Verfassers wird seit der Kindheit durch die Spannung zwischen zwei schwer vereinbaren Polen bestimmt, der für ihn autoritativ verbindlichen Geltung einer emotionalen, innerlichkeitsakzentuierten Frömmigkeit der Gottesliebe einerseits und andererseits dem leistungsethischen Anspruch der Perfektibilisierung des Lebens sowie dem Säkularisierungs134 „Bußkampf unter Tränen und Angstausbrüchen und freudenreicher Gnadendurchbruch wurden in treiberischer Form nach diesem Ablaufschema zum Gesetz, zur Norm erhoben. Das geschah in der [Francke - M.S.] nachrückenden zweiten pietistischen Generation" (Beyreuther 1963, 149).
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druck intellektueller Neugierde und des intrinsischen philologisch-hermeneutischen Sachinteresses, welches sich in der Beschäftigung mit religiös-erbaulichen und theologischen Texten nicht erschöpft, sondern verselbständigt und den jungen Theologiestudenten rasch aus dem Studium seiner Disziplin in die Gefilde von Historie und Philosophie entführt. Diese Spannung löst Francke dadurch, daß er die naturwüchsige intellektuelle Neugierde als „Liebe zum wort Gottes, und insonderheit zum h. Predigtamt" rationalisiert beziehungsweise die für ihn lebenspraktisch autoritative Norm religiöser Emotionalität dem Anspruch ihrer Sublimierung zu einer spontanen liebenden Hingabe an die Verkündigung unterwirft, welche sich in intellektuellem Verständnis, hermeneutischer Auslegung und rhetorischer Vermittlung der Offenbarung leistungsethisch virtuos zu bewähren hat. Umgekehrt schreibt er die Begeisterung für die nichttheologischen Texte einer Anfechtung seines „von Kindes Beinen an" von Gott begnadeten religiösen Gemüts zu, die besiegt werden muß. Der Lebenslauf chiffriert mithin einen Versuch, die religiöse Krise abzuwenden, welche aus der Konfrontation des für Francke autoritativ gültigen Frömmigkeitsparadigmas mit den Tendenzen der leistungsethischen und intellektuellen Individuierung resultiert. Aber dieser Versuch führt ihn in den an sich widersprüchlichen Zwang zur Spontaneität. Franckes Glaubensvollzüge bewegen sich von früher Zeit an im ständigen Wechsel zwischen Spontaneität und Reflexivität, zwischen Glaubensemphase und Glaubenszweifel, der während des Studiums aus Gründen familiärer Leistungsforderungen einerseits, schließlich der religiösen Bewährungsprobe seelsorgerischen Handelns (die Lüneburger Predigt als Auslöser des vermeintlichen Bußkampfes) manifest wird und den er, in selbstreferentieller Potenzierung der Reflexivität, in seinem Lebenslauf seinerseits einer Deutung aus der Perspektive leistungsethischer Bewährung unterzieht. Der Text hat mithin die lebenspraktische Funktion der Normalisierung einer religiösen Krise durch den nachträglichen sprachlichen Entwurf ihrer Entwicklung und lebensgeschichtlichen Bewältigung. Er trägt dazu bei, den erreichten status quo des Bekehrten zu stabilisieren, insofern er das bisherige Leben als notwendige Entwicklung zur Konversion festschreibt. 1 3 5 Damit 1 3 5 D a h e r ist Wilhelm Wendlands T h e s e zu widersprechen, die Selbstbesinnung habe kein Motiv für die A b f a s s u n g des Lebenslaufs sein können, weil die Pietisten sich ihrer selbst durch die B e k e h r u n g derart sicher geworden seien, d a ß es solcher Rückversicherung nicht b e d u r f t hätte (Wendland 1920, 199). D a g e g e n hat Erich Beyreuther auf die Stabilisierungsfunktion des Lebenslaufs hingewiesen (Beyreuther 1978, 135). E b e n s o argumentiert Henningsen: „ D i e autobiographische A u s s a g e . . . stellt als sprachlich gestaltetes Bildungsschicksal einen letzten Schritt in der Integration des Widerfahrenen d a r , dieses zu ,Geschichte' und damit zu ,Leben' stilisierend" (Henningsen 1977, 2 6 3 f ) . Allerdings begründen beide Autoren ihre T h e s e rein biographisch: die E r f u r t e r Anfeindungen
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erfüllt er zugleich eine zukunftsorientierte Funktion, nämlich alles, was der Bekehrung folgt, mag es sich de facto auch kaum vom Bisherigen unterscheiden, als spirituell neues Sein zu prädizieren. Im Zusammenhang der Fragestellung nach dem Verhältnis zwischen Identität und Autobiographik im Pietismus ist nun zu fragen, ob sich die Logik religiöser Sinnbildung in Franckes Lebenslauf als im Sinne der Zwischenbetrachtung genuin pietistische interpretieren läßt. In der Tat, das Lavieren zwischen religiösen Emphasen und Glaubenszweifeln, zwischen temporärer Selbsterhöhung und - erniedrigung, die Zerknirschung, Selbstbeobachtung und -analyse, die Erwähltheitsgewißheit des Wiedergeborenen, seine Selbstgewißheit und - gerechtigkeit, die Idealisierung des religiösen Lebenswegs sowie die unaufhörliche Selbstüberbietung religiösen Fühlens entsprechen den dort hypothetisch aufgewiesenen Strukturmerkmalen des pietistischen Deutungsmusters. Was im ersten Teil dieser Untersuchungen zunächst und vorläufig als Idealtypus der pietistischen Religiosität formuliert wurde, bringt Franckes Lebenslauf wie kein anderer dieser Zeit realtypisch zum Ausdruck: die Reflexivierung, Sensitivierung und Ethisierung christlicher Glaubensvollzüge sowie die Selbstcharismatisierung der Gläubigen. Das Zusammenwirken der idealtypisch unterstellten Strukturmerkmale religiöser Sinnbildung im Pietismus läßt sich also in Franckes Selbstzeugnis geradezu modellhaft exemplifizieren. Der Lebenslauf verrät aber nicht nur, daß, sondern darüber hinaus auch, wie, also in welchem Verhältnis zueinander diese Strukturmerkmale sich in Franckes Lebenspraxis realisieren. Fundamental ist wohl die radikale Ethisierung eines emotionalen Frömmigkeitsverständnisses im Sinne der fortschreitenden Perfektibilisierung sämtlicher Lebensvollzüge. Die inneren Widersprüche dieses Vorhabens zwingen Francke in die Dialektik von Reflexivierung und Sensitivierung: einerseits also der permanenten Reflexion auf den Glaubensstand, aus dessen Ungenügen an den selbstgestellten Maßstäben die Bemühung folgt, die geforderten Gefühlszustände sensitiv zu positivieren - diese Dialektik kulminiert zweifellos im Bekehrungserleben, bricht aber sicherlich nicht damit ab. 136 Und schließlich
hätten Francke veranlaßt, sich durch die Niederschrift seiner religiösen Bildungsgeschichte des eigenen Glaubensstandes zu versichern. Die vorliegende psychologisch orientierte Analyse konnte dagegen zeigen, daß in den Erfurter Ärgernissen allenfalls der Anlaß, nicht der Grund für die Abfassung des Lebenslaufs gesehen werden muß. In diesem Sinne argumentiert auch de Boor, der allerdings nicht die Differenz zwischen dem Geschehen und seiner sprachlichen Gestaltung, zwischen Lüneburg und Erfurt reflektiert: In dem Bekehrungserlebnis sei der bei Francke „bis dahin unausgeglichene Widerspruch zwischen Wissenschaft und Frömmigkeit zur Entscheidung geführt worden" (de Boor 1975, 137). 136 Kurt Aland zitiert eine aufschlußreiche Passage aus Alb recht Ritschis Geschichte
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ist die Selbstcharismatisierung des Verfassers zweifach ersichtlich: an der Betonung des eigenen Bußkampfes gegenüber dem Gewohnheitschristentum 37 sowie vor allem an der Selbstsicherheit, die der Bekehrdes Pietismus, die Franckes Bekehrungsbericht demjenigen des Judenmissionars Stephan Schultz gegenüberstellt, um im Vergleich der beiden Texte die Abweichung Franckes vom Luthertum in Richtung einer Sensitivierung des Glaubensverständnisses deutlich zu machen. D e r bei Ritsehl wiedergegebene Bericht Stephan Schultz' lautet wie folgt: „Als er in Stolpe auf der Schule war, erfuhr er eine schwere Anfechtung, die ihn bald ein halbes J a h r aufgehalten und das folgende J a h r wiederkehrte, aber nicht so lange anhielt. D e r Hauptinhalt der Anfechtung war der Mangel von Empfindung der G n a d e Gottes, deren ich schien ganz verlustig zu sein, und wider allen meinen Willen mit solchen G e d a n ken geplagt wurde, als ob kein G o t t im Himmel wäre. Die heil. Schrift wurde mir wie ein vertrockneter Born; wollte ich sie lesen, so hieß es: was findest du darin? oder: du liesest sie zu deiner Verdammnis. U n d so ging es mir bei den anderen Gnadenmitteln, wie mit dem Abendmahl, bis endlich G o t t durch seinen guten Geist weiter durchdrang, dass ich dem Satan zum T r o t z f o r t f u h r , die heil. Schrift zu lesen. D a s heil. Abendmahl genoss ich in einem M o n a t zu drei, vier Malen. Weil nun der Satan merkte, d a ß ich ihm sonderlich mit dem Genuss des heil. Abendmahls (dabei er mich am meisten anfocht) trotzte, so Hess er von mir ab." Nun Ritschis Interpretation: „Schultz sieht in der Verwirrung, die ihn überfällt, eine Anfechtung des Teufels, erkennt also in der E r f a h r u n g selbst eine Wahnvorstellung; hingegen Francke erkennt in der Verwirrung und dem Zweifel an Gottes Dasein die folgerechte O f f e n b a r u n g seines Sündenstandes f ü r ihn und die Voraussetzung seiner erst jetzt erfolgenden Aufnahme in Gottes Gnade. Um die Anfechtung zu überwinden, bedient sich Schultz der kirchlichen Gnadenmittel, der heiligen Schrift, die er immer wieder liest, und des Abendmahls; Francke hingegen erreicht sein Ziel durch das Gebet an den Gott, den er nicht glaubt, also durch eine eigene Leistung . . . Verhängnisvoll aber ist es, dass er in dem Vorgange nicht eine Anfechtung durch Combination täuschender Vorstellungen mit gesteigerten Gemüthsbewegungen, sondern seine wahrhaftige Bekehrung durch G o t t erkannt h a t . . ( R i t s e h l 1966, 252). Was Ritsehl kritisiert, soll hier nur festgestellt werden: die Fundierung der Bekehrung in einer sensitiven Gottesgewißheit sowie die psychologische Herbeizwingung dieser Gewißheit durch die spiralförmige Entwicklungslogik des Bußkampfes. Aland geht m.E. fehl, wenn er den Leistungscharakter der Franckeschen Gottesvergewisserung mit dem Verweis auf die vermeintlich vergleichbaren anfechtungsbedingten Glaubenszweifel und sensitiven Merkmale in der Bekehrung Augustins (Bekenntnisse VIII, 12 und IX, 1) und dem Turmerlebnis Luthers (vgl. v. a. Luther 1883ff, Bd. 54, 185f) glaubt widerlegen zu können (vgl. Aland 1960, 557, 559), denn dieser Vergleich verdeckt die spezifische Bildungsgeschichte der Franckeschen Frömmigkeit, ohne die auch die Bekehrung nicht erschlossen werden kann. Andererseits erscheint es heute in der T a t kaum noch nachvollziehbar, warum das Erleben gewisser qualia nicht reflexiv als Bekehrungserlebnis soll interpretiert werden dürfen, wie Ritsehl offenbar (und möglicherweise im Bemühen um die W a h r u n g eines rein forensischen Rechtfertigungsverständnisses) unterstellt. D a s unhintergehbar subjektive Erleben einer Bekehrung ist dieser nicht äußerlich, ganz gleich, welche theologische Bedeutung man diesem Erleben zuspricht. 137 Hierzu zitiert Aland nun in der T a t Verwandtes bei Luther. Denn wenn auch der R e f o r m a t o r den Franckeschen Bußkampf nicht kennt, so kann sich die Selbstcharismatisierung aus Leiden durchaus auf den R e f o r m a t o r berufen. So schreibt Luther etwa in seiner Fastenpostille vom November 1525: „Und dis ist eben die schwereste und Höheste anfechtung und leiden, damit G o t t zu weilen seine hohe Heiligen angreifft und übet, Welche man pflegt zu nennen desertionem gratiae, D a des Menschen H e r t z nicht anders fü-
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te aus dem Sieg in diesem Kampf davonträgt. Diese Selbstsicherheit reicht denn auch so weit, daß Francke sich die ganze Welt zum Feind machen kann, ohne sich davon auf seinem Lebensweg irritieren zu lassen. 138 Sein Lebenslauf ist mithin - im Sinne der in Teil II getroffenen Unterscheidung zwischen repräsentativen und authentischen Quellen ein authentisches Dokument des Pietismus, denn es objektiviert ein Sprachhandeln, das formal und inhaltlich von den Strukturmerkmalen pietistischer Sinnbildung bestimmt ist. Insofern ist es ein authentisches Dokument des Pietismus als eines sozialen Deutungsmusters. Der ideale Adressat eines Lebenslaufs, das ergab die Analyse des Gattungsbegriffs, ist eine Leserschaft, welche die individuelle Umsetzung des Programms einer sozial anerkannten Lebensführung anschaulich dokumentiert wissen will. 139 Was, so muß nun gefragt werden, ist an Franckes Lebenslauf Programm, was individuelle Umsetzung? Programm, und zwar im Sinne eines vom Verfasser intendierten Modells, ist sicherlich die - im übrigen ja von Franckes Mentor Philipp Jakob Spener in den Pia Desideria als Ausgangspunkt kirchlicher Reformen postulierte - Existentialisierung der Frömmigkeit einerseits durch die selbstkritische, das heißt psychologisch achtsame Sensitivierung des Glaubenslebens sowie andererseits durch dessen Teleologisierung auf einen Zustand selbstcharismatisierender Glaubensgewißheit hin, der beides: sowohl die christliche Bewährung im Alltag fundieren und ermöglichen wie auch in ihr sich praktisch erweisen soll. Und Programm ist schließlich wohl auch die autobiographische Rechenschaftsablegung selbst, die das Glaubensleben der intendierten Frömmigkeit gemäß zur Einheit und Ganzheit zusammenfügt. Somit formuliert Franckes Lebenslauf das Programm einer glaubenspraktischen Individualisierung, denn er erhebt mit dem sensitiv-reflexiven Innenverhältnis des Gläubigen - eben so, wie er es selbst in seinem Lebenslauf artikuliert hat - etwas schlechthin Unobjektivierbares zum objektiven Lebensmaßstab: die Angemessenheitskriterien für die Selbstbeobachtung und religiöse Emp-
let, denn als habe jn Gott mit seiner Gnade verlassen und wolle sein nicht mehr. Und wo er sich hin keret, sihet er nichts denn eitel zorn und schrecken. Aber solche hohe anfechtung leidet nicht jederman und verstehet sie auch niemand, on wer sie erferet. Es gehören gar starcke Geister da zu, solche puffe auszuhalten" (Luther, Weimarer Ausgabe 1883ff, Bd. 17, II, 20). 138 „Von da an [seit der Bekehrung - M.S.] habe auch erst recht erkant, was Welt sey, und worinnen sie von den Kindern Gottes unterschieden sey. Denn die weit fienge auch bald an mich zu hassen und anzufeinden, oder einen wiederwillen und verdruß über mein thun spüren zu lassen, auch sich zu beschweren oder mit Worten mich anzustechen, daß ich auff ein ernstliches Christenthum mehr, als sie etwa nöthig vermeynten, drunge" (Francke 1969, 29). 139 Vgl. oben, III. 1.2.
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findsamkeit kann der jeweilige Gläubige nur selbst erheben. Das hat Konsequenzen f ü r die Gattung des Lebenslaufs, dessen formale Gelungenheit als Bestandteil eines sich seiner selbst im Sinne des genannten Programms vergewissernden Glaubenslebens Francke mit dem eigenen Selbstzeugnis wiederum programmatisch vorführt, denn im Unterschied zu der diesbezüglich gänzlich unproblematischen Gelehrtenautobiographie hat die religiöse Autobiographie Franckescher Provenienz sich an einem Paradox abzuarbeiten: der sprachlichen Objektivierung des unhintergehbar Subjektiven - wieder drängt sich hier der nun schon mehrfach zitierte Satz Philipp Nicolais auf: „Vn je mehr ich dir [dem ewigen Leben - M.S.] nachdencke / vn deine Lieblichkeit vn Süssigkeit behertzige / je mehr die Liebe / Begierd vn Verlangen nach dir in mir wächßt vnd zunimpt." 1 4 0 Dieser Satz besagt ja, daß Erleben und sprachliche Artikulation in einem Innenverhältnis zueinander stehen, und im Zusammenhang der religiösen Autobiographie heißt das, Gemütszustände lassen sich nicht resultativ abschildern wie die uns gegenständlich gegebene Welt. Diese strukturelle Spannung wird der (religiösen) Autobiographie als Gestaltungsproblem gestellt bleiben. Wie nun der Bußkampf als solcher nicht notwendiger Bestandteil religiöser Sinnbildung im Pietismus sein muß, sondern vielmehr nur jene Struktur, die ihn unter individuell kontingenten Bedingungen im Falle Franckes - und sicherlich vieler anderer, biographisch ähnlich gelagerter Fälle - generiert, so wird man ihn wohl auch kaum zu dem im Lebenslauf veranschaulichten Programm religiöser Lebensführung zählen dürfen, sondern vielmehr auf die Seite der individuellen Umsetzung dieses Programms zu schlagen haben. 1 4 1 D e r Bußkampf ist das Resultat einer individualspezifischen Gewichtung der besagten Strukturmerkmale, die ein charakteristisch pietistisches Glaubensleben formen. Folglich sind auch andere Gewichtungen durchaus denkbar, solche, die nicht in einer Bußkampfpraxis resultieren und gleichwohl der Religiosität Franckes strukturell homolog sind; denkbar wären etwa Fälle, in denen einzelne der von Francke realtypisch ausgebildeten Strukturmerkmale aus kontingenten biographischen Gründen nicht zur vollständigen Entfaltung kommen, andere dagegen zu einer gegenüber Francke verstärkten Geltung gelangen. Denn die Strukturmerkmale religiöser Sinnbildung im Pietismus sind solche, die - gemäß ihrer individuell verschiedenen Konstellation - unterschiedliche Realisationsformen pietistischen
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Nicolai 1963, 4. Darin ist also, freilich nur aus der Perspektive der vorliegenden Materialanalyse, dem Urteil Erich Beyreuthers zuzustimmen, der sich vehement gegen die verbreitete Auffassung ausspricht, Francke habe den Bußkampf als Norm christlicher Bekehrung hingedrängt (Beyreuther 1963, 148ff). 141
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Glaubenslebens ermöglichen. Um einmal gedankenexperimentell zwei Beispiele zu bilden: Stellen wir uns eine Biographie vor, in der das pietismusspezifische Leistungsethos weniger zur Geltung käme als im Falle Franckes, dessen städtisch-bürgerliche Herkunft ihn sicherlich aus noch ganz anderen als religiösen Gründen auf ein beharrliches Perfektibilisierungsstreben verpflichtet haben wird; dann würde die das Bußkampfgeschehen auslösende Spannung zwischen Reflexivierung und Sensitivierung der Glaubensvollzüge möglicherweise an Dramatik verlieren und in Folge dessen ein datierbares Durchbruchserlebnis ausbleiben - im übrigen ein Sachverhalt, unter dem unser fingierter Pietist wiederum leiden müßte, wenn er Franckes Lebenslauf gelesen und in seiner gattungsgemäßen Vorbildfunktion als Bekehrungsmuster mißverstanden hat, dem es nun unmittelbar nachzustreben gelte. Wegfallen kann der Durchbruch aber auch aus anderen Gründen, etwa dann, wenn der Gläubige seine leistungsethische Mobilisierung zur Gottesliebe bis zur Sensitivierung seines gesamten Alltagslebens vorantreibt, die selbstkritische Reflexion auf die Authentizität der religiösen Empfindsamkeit dagegen niemals wie bei Francke bis zur existentiellen Selbstinfragestellung zuspitzt; der Betreffende wüßte sich in diesem Fall vielleicht schon seit frühester Kindheit erwählt, ohne daß ihn eine Anfechtung substantiell vor seinen eigenen Glaubensmaßstäben hätte verunsichern können - nachweislich und prominenterweise sind ja auch solche Fälle aus Franckes Hallenser Erziehungsanstalten hervorgegangen, etwa der junge Nikolaus Ludwig Graf Zinzendorf, der nach den Grundsätzen des Hallischen Pietismus erzogen wurde, sich aber seinem ganzen Naturell nach gegen jede Form der bußkampffixierten Bekehrungstheologie ausgesprochen und aus Widerwillen gegen den Hallenser Geist es sogar abgelehnt hatte, sich zum Pietismus zu bekennen (als dessen herausragende Vertreter im 18.Jahrhundert er und sein Herrnhuter Kreis gleichwohl gelten). Ausgehend von Franckes Lebenslauf sind der ars combinatoria also keine Grenzen gesetzt. Vielmehr fordern die Ergebnisse dazu auf, aus dem verfügbaren Material verschiedene Phänotypen religiöser Sinnbildung im Pietismus herauszulesen. Allerdings gilt es, über den hier denkbaren Erscheinungsformen nicht die ihnen gemeinsame Struktur zu vergessen. Wollte man nach den bisherigen Ergebnissen dasjenige benennen, woraus die bei aller variantenreichen Vielfalt gleichwohl spezifisch pietistische Sinnbildung entspringt, so wäre wohl das charakteristische Streben des Pietisten zu nennen, wie es uns in allen vorgestellten Texten begegnete: zu einer instantan erlebbaren, affektiv und sensitiv gesättigten Gnadengewißheit zu kommen, die zugleich reflexiv als authentisch solche identifiziert werden kann (wobei das alleinige Authentizitätskriterium wiederum der actus purus des Erlebens ist). Weil dieses Streben aus den mittlerweile
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mehrfach und ausführlich dargelegten Gründen aporetisch ist, wird der Gläubige strukturell notwendig in das Drama der pietistischen Bildungsgeschichte hineingestellt, das sich als fortschreitende Zuspitzung der Spannung zwischen Sensitivierung und Reflexivierung seiner Glaubensvollzüge realisiert. In dieser Spannung reproduziert sich die Aporie des ursprünglichen Strebens und diese Aporie läßt sich innerpietistisch nur dann lösen, wenn das Widerspiel der einander ablösenden subjektiven Glaubensskepsis und -gewißheit in einem schlechthinnig unbezweifelbaren sensitiven Evidenzerlebnis plötzlicher und augenblickshafter Gottesgegenwart stillgestellt wird. Dieses Erlebnis muß in seiner Intensität und Qualität für den Gläubigen einzigartig und daher unvergleichbar sein, damit es die Kraft hat, sich gegen den Strudel der skeptischen Reflexivität eindrücklich und dauerhaft zu behaupten. Der Pietist wird dieses Evidenzerlebnis immer anstreben. Aber es ist eine Frage kontingenter biographischer und historischer Umstände, ob es in seinem Leben niemals, wenigstens einmalig oder datierbarerweise mehrmalig zu diesem Evidenzerlebnis kommt, oder ob schließlich sogar das Leben als Ganzes von in ihrer Fluktualität kaum noch datierbaren religiösen Evidenzerlebnissen dieser Art grundiert ist. Zunächst scheint es allerdings zweifelhaft, ob und wie ein Erlebnis von der erforderten Herausgehobenheit sich mehrmals soll einstellen können. Und bedürfte es dessen überhaupt? Ist der selbstquälerische Zweifel des Pietisten an seinem Glaubensstand erst einmal durch die überbordende Gewißheit sensitiver Gottespräsenz fortgespült worden, hat diese doch ihre psychologische Funktion erfüllt und es gibt keine innere Notwendigkeit, es noch einmal auf das Wagnis ankommen zu lassen, Gottes Nähe derart herbeizuzwingen wie etwa Francke es in seinem Lebenslauf geschildert hat. Indessen ist zweierlei zu bedenken: Erstens entspricht die funktionale Bedeutung von Franckes Wiedergeburtserlebnis nicht der Selbstinterpretation des Autobiographen; der versteht es nämlich nicht als ein gleichsam selbstinduziertes Mittel zu dem übergeordneten Zweck der Harmonisierung seines Seelenlebens, sondern als Gnadenwirkung Gottes, also als etwas, das ein gläubiger Pietist, der dessen teilhaftig wurde, vermutlich um so sehnlicher erneut zu spüren, zu erfahren begehrt. Und zweitens wird dieser Pietist es vor dem Hintergrund der einmalig errungenen Gewißheit einfacher haben, sich die Authentizität seines Gotteserlebens auch fürderhin zuzugestehen. Zwar wird, was ihn ergreift, vielleicht nicht mehr dasselbe Intensitätsquantum erreichen, aber sich doch immer wieder - bleibt nur das erste Erlebnis unbezweifelt - von derselben Qualität erweisen. Fortan fühlt er in seinem Erleben den Heiligen Geist die Regie führen. In Teil II wurde vorgeschlagen, die pietistische Reflexivierung der Glaubensvollzüge funktional im Sinne einer das ersehnte Evidenzerleb-
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Teil III Analysen früher pietistischer Autobiographien
nis vor- und einer es gleichsam nachbereitenden Reflexion zu differenzieren. 142 Als nachbereitende prüft die Selbstreflexion des Pietisten die Authentizität sensitiver religiöser Befindlichkeiten, als vorbereitende kommt es ihr zu, den Gläubigen für solche Befindlichkeiten psychologisch zu prädisponieren. Franckes Bekehrungsweg konnte diese Unterscheidung plausibilisieren, die permanente skeptische Obacht auf die Qualität seines Gotteserlebens war diesem zugleich nach- wie vorgeordnet, indem sie seine Glaubensvollzüge immer wieder ihrer Mangelhaftigkeit überführte und ihn zugleich zur Selbsttranszendierung auf den wahren, letztlich (aufgrund seiner sensitiven Evidenz) unbezweifelbaren Glauben hin antrieb. Die im zweiten Teil dieser Arbeit getroffene Unterscheidung wäre nun um die folgende zu ergänzen: zwischen negierender und affirmierender Reflexion. Während die negierende von der Grundhaltung des zersetzenden Zweifels getragen und bestimmt ist, basiert die affirmierende auf der Bereitschaft zur Bestätigung, gleichsam zur reflexiven Ratifizierung ihres Gegenstandes. Franckes Lebenslauf konnte sichtbar machen, daß diese Unterscheidung Sinn ergibt. Denn er kann nicht kaschieren, daß das Leben des Wiedergeborenen sich inhaltlich kaum von demjenigen unterscheidet, das bereits der verzweifelte Sünder führte. Der Unterschied zwischen dem Leben ante und post regenerationem, so sollte die Analyse gezeigt haben, ist wesentlich einer der Bewertung, oder eben: der Reflexionshaltung. Dominiert vor dem Lüneburger Ereignis die negierende Reflexion, so nach ihm die affirmierende. Was sie affirmiert, ist das Evidenzerlebnis als eines solchen, als eines Erlebnisses nicht der Selbsttäuschung, sondern eben der Evidenz. Gleichwohl ist zu betonen, daß es sich dabei immer noch um Selbstreflexion - und nicht etwa um lediglich als Reflexion kaschierte narzißtische Selbstbestätigung - handelt, die dem uns aus der pietistischen Erbauungsliteratur bekannten Anspruch genügt, sich fortwährend zu beobachten und zu prüfen. Auch Francke bleibt nach seiner Lüneburger Selbstbefreiung weiterhin Pietist, in einem wirkungsgeschichtlich relevanten Sinne wird er es jetzt sogar erst. Es ist also durchaus denkbar, daß im Sinne der Dialektik von vorund nachbereitender Reflexion diese, sofern es sich bei ihr um eine der Grundhaltung des Gläubigen gemäß affirmierende Reflexion handelt, sensitive Evidenzerlebnisse religiöser Provenienz begünstigen kann, und zwar in einem Maße, das sich bis in selbstvergessenen religiösen Eifer hineinzusteigern vermag. Schließlich ist es nicht einmal zwingend, daß die negierende Reflexion und ihre Kulmination in einem das ganze Leben wendenden Wiedergeburtserlebnis - so wie bei Francke - die le-
142
Vgl. oben, II.5.
Phänotypische Varianten pietistischer Sinnbildung
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bensgeschichtlich notwendige Voraussetzung der affirmierenden Reflexion und der durch sie evozierten Sensitivierung des Glaubenslebens sein muß. Denn möglich wäre doch eine pietistische Sozialisation, die dem Heranwachsenden früh die Gewißheit seiner Glaubensauthentizität schenkt, weil er die Selbstreflexion nur als eine strukturell affirmierende (etwa durch die Eltern, die ihrerseits möglicherweise noch dem Franckeschen Modell verbunden waren) kennengelernt und internalisiert hat. Die bereits angekündigte phänotypische Differenzierung von autobiographischen Ausdrucksgestalten genuin pietistischer Sinnbildung soll im Ausgang von Franckes Lebenslauf dieser Spur folgen, sich nämlich an dem Unterscheidungskriterium zwischen negierender und affirmierender Reflexion in ihrer Funktion der Vor- und Nachbereitung von Evidenzerlebnissen sensitiver Gottesgegenwärtigkeit orientieren. Rein logisch sind dabei folgende drei Typen zu unterscheiden: erstens der einer ausschließlich negierenden Reflexion, die folglich kein Evidenzerlebnis als solches gelten lassen kann und den Gläubigen deshalb in ein Bußkampfgeschehen führt, das sein Telos, die Neuwerdung, verfehlt; zweitens der Typus Franckescher Provenienz, also der durch ein einmaliges herausragendes Erlebnis vermittelten Transformation der negierenden in affirmierende Reflexion; schließlich drittens der von der rein affirmierenden Reflexion geprägte Lebenslauf, der einen Bußkampf in Franckes Sinne nicht kennen kann, weil er seit den ersten Anfängen von der Gewißheit der Auserwähltheit und Virtuosität des Glaubens umflort ist. Für diese drei Formen sollen nun Beispiele vorgestellt werden, wobei sich allerdings die Analyse der ausgewählten Lebensläufe aus darstellungstechnischen Gründen von dem bisherigen Pfad der Ausführlichkeit abwenden wird.
2. Phänotypische
Varianten pietistischer
2.1. Johann Henrich Reitz'„Historie
Sinnbildung
Der Wiedergebohrnen"
Auf der Suche nach geeignetem Material, das die bezeichneten phänotypischen Varianten pietistischer Sinnbildung verdeutlichen soll, ist man vor allem auf die seit der Wende zum 18.Jahrhundert in erklecklicher Anzahl sowie in einzelnen besonders bekannten Fällen mit hohen und mehrfachen Auflagen entstehenden Sammelbiographien verwiesen. 143 Sie sollen dem Erbauung suchenden Leser das im pietistischen Sinne mustergültige Leben zumeist schon verstorbener Christen ohne 143
Vgl. hierzu Schräder 1982, 127*-153*.
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Teil III Analysen f r ü h e r pietistischer Autobiographien
Ansehung ihres weltlichen Standes oder ihrer Konfessionszugehörigkeit vor Augen führen. D i e prominentesten dieser Sammlungen sind Gottfried Arnolds Das Leben Der Gläubigen, erstmals 1701 in Halle verlegt, Gerhard Tersteegens Auserlesene Lebens= Beschreibungen Heiliger Seelen, in den dreißiger Jahren begonnen, und Friedrich Oetingers Die Unerforschlichen Wege der Herunterlassung GOTTES, 1735 in Leipzig verlegt. N o c h im 19. Jahrhundert, ja selbst im 20. Jahrhundert findet die Textgattung in der Erweckungsbewegung Nachfolger, etwa in Johann Arnold Kannes Leben und aus dem Leben merkwürdiger und erweckter Christen aus der protestantischen Kirche aus den Jahren 1 8 1 6 / 1 7 , in der zwischen 1844 und 1861 in Bielefeld herausgegebenen Sonntags-Bibliothek. Lebensbeschreibungen christlich-frommer Männer zur Erweckung und Erbauung der Gemeine oder 1931 zu Gotha in dem Sammelwerk Unter Gottes Führung. Zeugnisse religiöser Erneuerung moderner Menschen von J. Ferdinand Laun. Am gattungsgeschichtlichen Anfang dieser Reihe steht die von Johann Henrich Reitz begonnene, aber erst nach seinem T o d e zu Ende geführte Historie Der Wiedergebohrnen, die zwischen 1698 und 1745 auf im ganzen sieben Bände anwuchs. 1 4 4 Uber ihre
144 Zu Leben und Werk von J o h a n n Henrich Reitz vgl. M o h r 1973; Schräder 1982, 155*-163*. Reitz, geboren 1655 in Oberdiebach bei Bacharach als eines von sechs Kindern des reformierten Pfarrers J o h a n n Adam Reitz, absolvierte das Heidelberger P ä d a gogium und studierte Theologie zunächst in Bremen, daselbst er mit T h e o d o r U n d e reyck, dem Begründer des reformierten Pietismus, in persönlichen K o n t a k t trat, dann in Leyden. Bevor er 1681 in Freinsheim in der Kurpfalz seine erste Pfarrstelle antrat, hielt er sich f ü r ein J a h r als Hauslehrer in Frankfurt a. Μ. auf, wo er den pietistischen Konventikeln Philipp Jacob Speners beitrat. Nach acht Jahren in Freinsheim und vier weiteren als P f a r r e r und Kircheninspektor in Ladenburg wirkte Reitz seit 1693 - ebenfalls als P f a r r e r und Kircheninspektor, seit 1695 auch als H o f p r e d i g e r des Grafen Wilhelm Moritz - in der G r a f s c h a f t Solms-Braunfels. D o r t wurde er 1697 des Amtes enthoben, als er sich f ü r einen gräflichen Registrator eingesetzt hatte, der aus spiritualistischen Uberzeugungen die Kirche als „eine braut des teuffels" verurteilt (zit.n. M o h r 1973, 76) und folgerichtig sein Kind der T a u f e entzogen hatte, was ihm mit seiner Entlassung und Arretierung vergolten wurde. Reitz ließ sich daraufhin in Frankfurt nieder, wo er sich der Ausarbeitung der Historie der Wiedergebohrnen widmete. 1703 übernimmt er das Rektorat an der Siegener Lateinschule, wird aber ein J a h r später wegen des öffentlichen Zulaufs seiner pietistischen Konventikel wieder abgesetzt. In den letzten Lebensjahren als Verwalter in privaten Diensten der Fürstin Ernestine Charlotte von Nassau-Siegen, stirbt Reitz 1711 in Wesel. Hans-Jürgen Schräder sieht einen inneren Zusammenhang zwischen der Sammelbiographie Historie der Wiedergebohrnen und dem Schlüsselereignis in Reitz' Leben: der wegen Solidarisierung mit dem Schwärmertum des gräflichen Registrators zu Solms-Braunfels erfolgten Amtsenthebung. „Angemessen zu verstehen ist dieses Ereignis nur vor dem H i n tergrund der hochgesteigerten religiösen Erregung, des emphatischen neuen Impulses zu allgemeiner Erweckung und zur Scheidung der Geister, die die letzten J a h r e vor der mit dem bangen Ernst einer kommenden heilsgeschichtlichen Veränderung erwarteten J a h r hundertwende allenthalben, besonders unter den pietistischen Frommen, erfüllt haben
Phänotypische Varianten pietistischer Sinnbildung
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zeitliche Vorreiterrolle hinaus wird ihr attestiert, die Gattung der pietistischen Sammelbiographie auch formal geprägt zu haben. 145 Reitz versammelt in seinen dickleibigen Bänden 147 Historien, die Zeugnis ablegen sollen von der wahrhaft lebenspendenden Kraft der Wiedergeburt und der ihr folgenden Erneuerung im Geiste des „wahren" Christentums. Der erste Teil seiner Sammlung, 1698 in Offenbach erschienen, hält sich noch vornehmlich an puritanische Lebensläufe, die zunächst in englischen Sammlungen erschienen und von Reitz für seine Unternehmung ins Deutsche übertragen worden waren. Aber die folgenden Teile 146 beziehen auch Biographien katholischer und lutherischer Gläubiger mit ein, und zwar ebenso von Unbekannten wie von Prominenten. Die Biographien zu eminenten Figuren des „wahren" Christentums schlagen eine Brücke von mittelalterlichen Glaubensvirtuosen (wie Thomas Hermerken) über die Renaissance (Giovanni Pico della Mirandola), die Puritaner (John Bunyan, Richard Baxter, John Knox u.a.) und Reformierten (z.B. Theodor Undereyk) bis in die ureigenste Traditionsgeschichte des lutherischen und radikalen Pietismus (Johann Arndt, Philipp Jakob Spener, Gottfried Arnold, Christian Hoburg u.v. m.). Dabei sind die Texte zu den „kleinen Leuten" sogar interessanter, weil sie nicht von der gleichsam hagiographischen Betonung des den Großen gebührenden Ranges überformt werden und sich dafür mehr den teilweise skurrilen Details widmen können. Diese Biographien prägt ein bisweilen drastischer Positivismus, etwa in der breiten Schilderung der Ewigkeitsvisionen eines Berleburger Kutschers, der das Jenseitige mit kräftiger Schraffur auf das Blatt bringt; 147 oder in der Auratisierung der Anfälle einer Epilektikerin zu Zuständen einer ekstatischen Beseeltheit durch den Heiligen Geist; 148 Barbara Cordula von Lauters Biographie dagegen trägt die Züge einer empfindsamen Räuberpistole, die >bereits in die Richtung von Sophie La Roches Geschichte des Fräuleins von Sternheim und Christian Fürchtegott Gellerts Leben der schwedischen Gräfin von G*** weist: im Zentrum ihrer Lebensgeschichte steht ihre wundersame Errettung aus den Fängen des „Papismus". 149
und den wichtigsten Anstoß auch für die Sammlung der exemplarischen ,Wiedergeborenen' gaben" (Schräder 1982, 159*). 145 Schräder 1989, 14f. 146 Die Teile II und III erschienen 1701, ebenfalls in Offenbach, IV und V dann 1716/17 in Idstein, Teil VI 1730 und Teil VII 1745, beide in Berleburg. Die Herausgeber der beiden letzten Teile waren, nach dem Tode von Reitz, Johann Samuel Carl (1676-1757), der Leibarzt des Grafen von Berleburg sowie dessen Nachfolger Johann Conrad Kanz (1680-1764). Vgl. Schräder 1982, 1 7 7 M 9 1 * . 147 Reitz 1982, Bd. 3: Teil VI, 387. 148 Ebd., Bd. 2: Teil IV, 217. 149 Ebd., 230.
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Teil III Analysen f r ü h e r pietistischer Autobiographien
In unseren Zusammenhängen ist das mehrbändige Werk vor allem deshalb von Interesse, weil sich unter den 147 Historien auch viel autobiographisches Material findet, sei es in Form von vollständig ausgearbeiteten Lebensläufen, oder von Auszügen aus Briefen, Tagebüchern. 150 Denn für Reitz ist eben das „die allersprießlichste Confession und das allerheilsamste Symbolische Buch / wann viele Wiedergebohrne ihren Kampf / ihren Lauff / ihren Glauben / ihre Angst und Geburt=Schmertzen / ihre gehabte Gedancken / Reden / und Vornehmen / und was Gottes Gnad und Geist in ihnen gewürcket / und was der Satan / die Welt und ihr Fleisch an sie gesinnet / oder worzu gereitzet und versucht / zusammen tragen / und davon eine Historie machen / die da gleich ist einem auß vielen Blumen / von vielerley Farben un mancherley Kräften / zusamen gesetzten Sträußlein oder einem Myrrhen = Büchlein / so von Geschmack bitter / aber eines angenehmen Geruchs ist / Cant. 1. V. 13." 151 Die Absicht, ausgehend von Franckes Lebenslauf exemplarische Autobiographien auf ihre phänotypische Differenzierung der Strukturlogik pietistischer Sinnbildung hin zu untersuchen, ist bei Reitz schließlich deshalb gut aufgehoben, weil sich unter den in seiner Sammlung vereinigten Selbstzeugnissen eben auch - neben puritanischen - genuin pietistische Exemplare finden, deren Verfasser in demselben Frömmigkeitshorizont stehen wie August Hermann Francke und sein Lebenslauf. Darüber hinaus haben sie über die mehrfachen Auflagen des Werkes weite Verbreitung im pietistischen Lesepublikum gefunden. 152 Im folgenden werden nun aus Reitz' Sammlung drei Selbstzeugnisse in den Fokus der Betrachtung rücken; sie alle kreisen um das sensitive Evidenzerlebnis der Gottesgegenwart als Telos eines wahren christlichen Lebens - wie es denn Reitz selbst in der Vorrede zum ersten Teil seiner Historie in ausdrücklicher Referenz auf Johann Arndt formuliert: das „wahre" Christentum „kann man nicht anders / dann auß Erfahrung lernen / was es sey / und muß es fühlen / empfinden / sehen / hö-
150 D e r Quellenwert der Selbstzeugnisse wird allerdings dadurch eingeschränkt, d a ß sich der Herausgeber einige Freiheiten gegenüber den veröffentlichten Texten zugestanden hat: „Man bekennet ebenfals gern / d a ß man in den Historien nicht alles beygebracht / was man gekönt / und wie mans gefunden / sondern alle abgekurtzt / und diß und jenes außgelassen / auch die Worte zuweilen deutlicher gegeben / und alles zum Nutzen und zur Erbauung gerichtet habe" (Reitz 1982, Bd. 1: Teil II, Vorrede). 151 Reitz 1982, Bd. 1: Teil I, Vorrede. 152 Vgl. dazu Schräder 1989, Kapitel V: „Die Wirkungsgeschichte der Historie Der Wiedergebohrnen", darin vor allem die „Besitznachweise in den Verzeichnissen privater Bibliotheken", 268ff, und die „Zeugnisse f ü r Wirkungen im Bereich der individuellen Erbauung", 280 ff.
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ren . ,." 1 5 3 Den Anfang wird machen die Historie von Johann Philipp Burcken, „einem gottseligen und ernstlichen Prediger", 154 und damit der Fall einer Lebensgeschichte, der das ersehnte metabolische Evidenzerlebnis sensitiver Gottesgegenwart verwehrt geblieben ist, weil keines sich dem autobiographischen Selbstbeobachter als Durchbruch zum „wahren" Glauben hat erschließen können, das die bohrenden Selbstzweifel fürderhin beschwichtigt hätte. Burcken verdeutlicht, wie sich der Bußkampf, den der um zehn Jahre ältere Francke so beispielgebend durchgefochten hatte, in eine desaströse Leidensgeschichte wenden kann, wenn er sein Telos verfehlt. Auf Burcken soll folgen eine dem Franckeschen Lebenslauf vergleichbare Erfolgsgeschichte, nämlich der Bekehrungsweg des Samuel Schumacher, den dieser, ein Pfarrer aus Melchenau, 1693 brieflich festgehalten hat. Dabei wird man ausnahmsweise den Umstand vernachlässigen dürfen, daß Schumacher zu den Reformierten gehört, weil die Strukturlogik seiner Frömmigkeit in signifikanter Weise der bislang aufgewiesenen entspricht (wie das im übrigen auch bei einigen der puritanischen Exempel aus dem ersten Teil der Historie häufig, wenn auch in sprachlich schlichterer Form der Fall ist). Schließlich folgt ein aufschlußreiches Beispiel für die Umdeutung äußerer Widerfahrnisse des Lebens in religiöse Evidenzerlebnisse, wobei das Geschehene als providentielles Zeichen gelesen wird, an dessem richtigen Verständnis sich der Gläubige als solcher zu bewähren hat. Wer es zu keiner intrinsischen Gotteserfahrung mit den erforderlichen sensitiven Qualitäten bringt, kann sie sich also - wie dieser Lebenslauf zeigen wird - gleichsam von außen herbeierzählen, um den sozialethischen Maßstäben des Pietismus zu genügen. Ergänzt werden die Beispiele der Reitzschen Sammlung dann durch den Fall einer Lebensgeschichte, die von Beginn an in der bereits skizzierten Weise von der sensitiven Evidenz des Göttlichen grundiert ist und daher nicht mehr zur Durchbrechung der Spirale von Sensitivierung und Reflexivierung des Glaubenslebens genötigt ist. Einen solchen Fall wird man in der Historie der Wiedergebohrnen natürlich vergeblich suchen, 155 denn deren erklärtes Ziel ist es ja, den Lesern Durchbrüche zum „wahren" Glauben vorzuführen, die unter Leid und Qual erkämpft 153
Reitz 1982, Bd. 1: Teil I, Vorrede. Reitz 1982, Bd. 3: Teil VI, 245. 155 ... sieht man einmal von den Thanatographien kleiner Kinder ab, die deren Religiosität in eben diesem Lichte erscheinen lassen. Zu dieser Gruppe in Reitz' Sammlung zählt im übrigen auch eine knappe Biographie „von einem dreyjährigen ungemein = frommen Söhnlein eines Predigers bey Gera" (Reitz 1982, 3. Bd.: Teil VI, 309) aus der Feder August Hermann Franckes, „so der theure Herr Professor Franck zu Halle in einem den kleinen Kindern im Waysenhaus daselbst nach gehaltenem Examine ausgetheilten Böglein beschreibet" (ebd., 310). 154
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sein müssen. Insofern hat Hans- Jürgen Schings die Historien der Wiedergebohrenen zu Recht als solche der „Traurigen und Angefochtenen" bezeichnet. 156 Nichtsdestoweniger gibt es bereits in der Frühgeschichte des Pietismus prominente Beispiele für jenen Autobiographietypus, der ohne einen radikalen lebensgeschichtlichen Dualismus auskommt und die individuelle Bildungsgeschichte durchgehend von einer positiv gestimmten religiösen Empfindsamkeit bestimmt sein läßt. Exemplarisch vorgestellt wird hier die Autobiographie der Johanna Eleonora Petersen, geb. von Merlau. Sie zählt zweifellos neben Franckes Lebenslauf zu den Höhepunkten der im engeren Sinne pietistischen Autobiographik.
2.2. „ . . . ein rechter Schmertzens=Mann": Philipp Burcken
die Historie von Johann
Johann Philipp Burcken, soviel zu den objektiven Daten seines Lebenslaufs, wurde am 3.Oktober anno 1673 in Nürtingen „an diese Welt gebohren". Was bis zu seinem 14. Lebensjahr mit ihm vorgegangen, erklärt Burcken sich - anders als Francke - außerstande zu berichten, denn es „ist theils mir nicht genau bekannt, theils nicht so gar merckwürdig". 157 In eben diesem Jahr schicken seine Eltern ihn von der örtlichen Lateinschule auf das Gymnasium in Stuttgart, wo er ein Jahr später unter Furcht und Zittern den Einfall der Franzosen in die Stadt erlebt. 1690 wird Burcken zum Studium der Theologie an der Tübinger Universität ein fürstliches Stipendium gewährt. Wegen seiner schwachen Augen erleidet er dort „Spott und Verachtung" und lebt unter den anderen Stipendiaten „als ein wildfremder Mensch, dessen sich ausser gar wenigen niemand annahme". 158 1693 das Examen, dann gleich eine Anstellung als Vikar in Fellbach. Ein Jahr später unterzieht „ein gewisser Oculist" Burckens Augen einer Operation; „unter Schreyen des Mundes zu Gott" 1 5 9 läßt der Patient die Tortur über sich ergehen, wofür er mit vorübergehender „Blindheit und Finsterniß" 160 belohnt wird. Weitere Operationen folgen, die mit hitzigem Fieber quittiert werden. Der Geschundene empfängt nach schwerem Leiden schließlich das Abendmahl, ein untrügliches Zeichen, daß man seinen Tod erwartet. Seine einzige Stütze in dieser Zeit ist die Mutter, die ihm aus Christian 156 157 158 159 160
Schings 1977, 91. Reitz 1982, 3. Bd.: Teil IV, 246. Ebd., 253. Ebd., 257. Ebd., 258.
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Scrivers Seelenschatz vorliest und ihm so Ruhe und Trost verschafft. Doch der Kranke genest wieder, gewinnt sogar sein Augenlicht zurück und kann also auf seinem bisherigen Lebensweg fortfahren, der ihm 1697 ein Diakonat in Nürtingen einbringt; im gleichen Jahr folgt die Hochzeit. Soweit die kargen Ereignisse. Der Lebenslauf wird von Angaben des Herausgebers über Burckens Persönlichkeit beschlossen, aus denen wir auch entnehmen können, daß der Prediger „allhier ein Gast gewesen 41 Jahre", 1 6 1 demnach also 1714/15 verstorben ist. Den dürren Daten entspricht - im wahrsten Wortsinne - die Trostlosigkeit in Burckens Leben. Von Beginn seiner bewußten Erinnerungen an sieht er in seinem „Bußkampf" - wie er seine religiöse Bildungsgeschichte ausdrücklich bezeichnet 162 - den Sünder, geschlagen mit „Thorheit und Bosheit", 163 obsiegen. Als sein Lebenslauf die Hochzeit erwähnt, enthält er dem Leser den Namen der Braut vor, nicht so seinen Widerwillen gegen das „heydnische Gräuel" des Hochzeitstreibens, das seinem Herzen „grausame Kämpffe und Bangigkeiten" zugemutet habe. 164 Im folgenden seien - wie schon im Francke-Kapitel - einzelne Textsequenzen exemplarisch analysiert, und zwar diesmal ausschließlich im Hinblick auf das skizzierte Problem der willkürlichen Evozierung sensitiver Gottesevidenz, mit deren Hilfe der pietistische Gläubige aus der Dialektik von Reflexivierung und Sensitivierung in das Neue Sein des „wahren" Christentums springt. Zunächst ein Auszug aus Burckens Angaben zu seiner Kindheit: „Unter Anführung meiner Praeceptorum (deren der sich über alles erbarmende Gott am besten gedencken wolle) nähme ich nun damalen in Erlernung der lateinischen Sprache und andern Dingen, so man mir nur beybrachte, nach Wunsch zu, und hatte hierin vor meinen Commilitonibus zu nicht geringer Stärckung meines ohne dem natürlich so starcken Ehrgeizes leichtlich den Vorzug. Meine Seele aber bliebe elend, jämmerlich, wüst und lär, und empfienge von aussen entweder keine, oder doch gar geringe (wiewolen mich ietzo nichts erinnere) Anweisung und Aufmunterung zu wahrer Gottseligkeit und einer ernstlichen Bekehrung von den Sünden zu dem lebendigen Gott." 165
Der Verfasser berichtet von seinem Erfolg in der Lateinschule, den er, wie es in den der zitierten Passage vorangehenden Zeilen heißt, rascher Auffassungsgabe und gutem Gedächtnis zu verdanken gehabt habe. Der erste der beiden Sätze unterstreicht die Mühelosigkeit des Lernens, vielleicht aber auch die Vielfältigkeit der Lehrstoffe („so man mir nur 161 162 163 164 165
Ebd., Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,
275. 254. 256. 269. 247.
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beibrachte": das Adverb in Hervorhebungsfunktion betont entweder, es hätte eben zu nichts mehr als der üblichen Lehrstoffvermittlung bedurft, oder eben die Quantität dessen, was gelernt werden mußte), die Ubereinstimmung des Schülers mit den Anforderungen seiner Lehrer („nähme ... nach Wunsch zu"), schließlich die Befriedigung seines von Natur aus großen Ehrgeizes (denn dessen „Stärkung", von der explizit die Rede ist, setzt implizit seine Befriedigung voraus), mit anderen Worten: die spielende Erfüllung sowohl objektiver als auch subjektiver Erwartungen. In schroffem Kontrast zu diesem Satz steht der folgende: dem äußeren Fortschritt wird innere Stagnation gegenübergestellt („Meine Seele aber bliebe ..."), und schon der Zustand, in dem Burcken stagnierend verharrt sei, habe sich „elend, jämmerlich, wüst und lär" ausgenommen. Die Gegenüberstellung zweier so diametral entgegengesetzter Lageeinschätzungen geschieht ganz unvermittelt und ist deshalb erläuterungsbedürftig. So wären für die Charakterisierung des inneren Menschen Gründe beizubringen, soll sie nicht bloß aufgesetzt wirken. Zumal die Reihung „elend, jämmerlich, wüst und lär" ja wohl den eigentlichen, den wahren Zustand Burckens, eben denjenigen seiner Seele, nicht bloß des instrumentellen Verstandes, wiedergeben soll. Nun verweist das Verb „bleiben" ja implizit auf eine Vorgeschichte der von Burcken beklagten Seelenverfassung, welche den scharfen Kontrast motivieren könnte. Der Leser ist scheinbar auf eine frühere Textstelle verwiesen, die diesbezüglich Auskunft geben könnte. Freilich sucht man diese Textstelle vergebens. Ganz im Gegenteil: Burcken leitet seinen Lebenslauf damit ein, sein Gewissen habe ihn dazu angehalten, „die so innerlich = als äusserliche Führungen des lieben Gottes ... in diese wenige Blättlein zu begreiffen". 166 Eine „wunderbare und unaussprechliche=ja vor vielen tausend andern sonderbare Gnad und Barmhertzigkeit" 167 wird da angekündigt, nicht dagegen Jammer und Wüstenei. Aus der Zeit vor dem so erfolgreichen Fortkommen auf der Lateinschule wird nichts berichtet, das erklären würde, warum auf den ersten der zitierten Sätze nun dieser ominöse zweite folgt. So muß der Leser zunächst einfach zur Kenntnis nehmen, daß alle Erfolge in Wahrheit nichts seien, denn es habe offenbar „einer ernstlichen Bekehrung von den Sünden zu dem lebendigen Gott" ermangelt, worin auch immer diese sollen bestanden haben. In nuce verdeutlicht hier Burckens Satzsequenzierung, was charakteristisch für seinen Lebenslauf im ganzen ist: die auffällige Diskrepanz zwischen den dargestellten lebens-
166 167
Ebd., 245 f. Ebd., 246.
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geschichtlichen Sachverhalten und ihrer Bewertung. Das Schema ist, wie schon bei Francke, ein radikal dualistisches: alle Lebensvollzüge, so erfolgreich sie scheinen mögen, werden durch das vermeintlich verruchte Innenleben vollständig entwertet. Zumal der Autobiograph die Sündhaftigkeit der Seele authentisch zu empfinden scheint, denn wie auch Francke fühlt er sich bemüßigt, den wahrscheinlich objektiv lapidaren Lebenswandel des Kindes so weit wie möglich zu ent-schuldigen, als bedürfte es dessen überhaupt: „Durch die viele Aergernüssen gottloser Leute ... wurde ich als ein theils thörichter, theils unwissend = theils leichtsinniger Knab, bald zu dieser bald zu jener Sünde verführet.. ," 168 Noch deutlicher formuliert Burcken die besagte, inhaltlich völlig unmotivierte Kontrasitivität des inneren und des äußeren Menschen in folgender Passage: „In denen Studiis nahm ich auch diß Orts mercklich und nach Wunsch zu und hatte einen rechten unverdrossenen Fleiß; von welchem ich mich auch die Lustbarkeiten, deren andere genossen, nicht abhalten Hesse ... Dasjenige aber, was mich zu solchem Fleiß angetrieben, war vermuthlich anders nichts als ein lauterer Ehrgeiz und Begierde von andern deßwegen gelobet und geliebet zu werden; welche böse Nahrung dann auch dem alten Adam reichlich mitgetheilet wurde. So viel ich aber in solcher äusserlichen Wissenschaft zunahm, so viel größer und tiefer wurde auch die Verderbniß und Jammer meiner Seelen." 169
Diesmal ist von der Stuttgarter Gymnasialzeit die Rede. Wie schon zuvor wird auch hier der schulische Erfolg konstatiert, ja sogar die Resistenz des Lernbeflissenen gegen die Lustbarkeiten der anderen, die ihm doch eigentlich auch auf seinem christlichen Führungskonto Pluspunkte hätte einbringen müssen. Aber nichts dergleichen! Denn sofort behauptet sich die Herrschaft des Verdachts gegen die positiven Seelenregungen, wo doch sein Fleiß „vermuthlich" der christlich perhorreszierten Selbstliebe geschuldet gewesen sei. Das Adverb drückt aus, der Selbstverdacht beruhe auf einer Unterstellung, für die es allenfalls Indizien gibt. Diese bleibt Burcken dem Leser indessen schuldig, seine Vermutungen werden nicht ihrerseits begründet oder hinterfragt, die Selbstverdächtigung setzt sich absolut. Und es scheint, daß der jede Handlungssicherheit destruierende Selbstzweifel Burcken, dem sich sonst alles an ihm selbst spätestens auf den zweiten Blick der Selbstbeobachtung als sündhaft und verdorben entbirgt, der alleinige Grund seiner Erlösungshoffnung ist: „In dieser Blindheit und Boßheit gienge ich nun fort biß ins Jahr 1694. Dann ob zwar der liebe Gott mitten in dem Lauff meiner Sünden sich nicht unbezeuget
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Ebd., 247. Ebd., 249.
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und mein Gewissen nicht ungestrafft und ungerührt ließ, grieff er mich dannoch nicht mit solchem Gewalt und Hefftigkeit an, wie in diesem und folgenden Jahren geschehen, da er mich als einen wütenden Saulum darnieder geschmettert / und so zu reden recht gewaltthätig zur Buße gezogen und herumgeholt. Ach ja, der liebe Gott hat wol grosses an meiner Seelen gethan. Ο daß ich nur seine theure Gnade nicht möge vergeblich empfangen haben, damit nicht ein desto schwerer Gericht darauff folgen müsse!" 170
Wenn überhaupt, dann wird die Gegenwart Gottes in der Strafe erfahren, indem sie das Gewissen mit „Gewalt und Hefftigkeit" rührt und infolgedessen den Gläubigen niederschmettert. Burckens Identifikation mit Saulus belegt, d a ß er diese Strafe im Sinnhorizont einer erwarteten Wiedergeburt - nämlich vom Saulus zum Paulus - deutet, sich keinesfalls also für gänzlich verloren hält. Worin besteht nun diese Strafe? Offenbar in der „Herumholung" zur Buße, und zwar wohl im Sinne einer contritio activa, der Zerknirschung des Gläubigen angesichts seiner Sünden. Mit anderen Worten: Burcken interpretiert sein psychisches Leiden als Folge einer (strafenden) Gotteszuwendung, die ihn in die Reue zwingen soll; so vermag er sich in seinem Leiden der Gegenwart Gottes zu vergewissern, deren positive Erfahrung er sich aus r a d i k a l e r Selbstverneinung prinzipiell versagt: „Ego me contero, ergo sum in Christo", so ließe sich in Abwandlung von Descartes' berühmtem Diktum formulieren, oder, mit den Worten der Margareta Breyer, einer weiteren Zeugin des „wahren" Christentums in Reitz' Sammlung: J a / ich erfahre täglich / daß offt Betrüben vermehre das Lieben". 1 7 1 Daß das Verhältnis zum eigenen Leiden bestimmt bleibt von der Hoffnung seiner Aufhebung in der allumfassenden Wandlung und Wiedergeburt, belegt die im letzten Satz artikulierte Hoffnung, die erwiesene Gnade des Leidens reiche aus, um sich vom Saulus zum Paulus zu wandeln: Burcken ist kein Masochist, vielmehr, so möchte man sagen, führt sein Lebenslauf eine Theodizee des - religiös induzierten - Leidens, die bestimmt bleibt von der Sehnsucht nach Besserung. Wie nun aber die positiven Seelenregungen „wahrer" Christlichkeit von dem skeptischen Beobachter seiner selbst in ihrer Authentizität angezweifelt werden können, so auch die negativen. Denn der Sünder mag sich ja darüber täuschen, d a ß seine Verzweiflung tatsächlich in die Reue führt oder gar schon deren Ausdruck ist. Burcken, ein Meister der bestimmten Negation alles Positiven, erweist sich im Leiden nicht minder unnachgiebig. Die Episode seiner vorübergehenden Blindheit, an der er nach der mißlungenen Augenoperation laboriert, schildert der Verfasser als Zeit der Verstockung. Denn trotz seiner großen Schmer170 171
Ebd., 257. Reitz 1982, 3. Bd.: Teil VI, 235.
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zen erkennt er an sich selbst nicht die rechtschaffene Demut vor Gott, der doch durch solche Torturen dem Sünder seine Zuwendung geschenkt habe. Schließlich empfängt er das Abendmahl, dessen seelische Wirkung wiederum zum Gegenstand des unnachgiebigsten Selbstzweifels wird: „Was damalen in meiner Seele vorgegangen, kan ich so eigentlich nicht wissen: das aber kan ich wol sagen, daß keine Zerknirschung des Hertzens, keine Bekenntnis und Bereuung der Sünde sich bey mir gefunden; und dannoch hatte ich nach Gebrauch des Abendmahls ein gantz beruhigt Hertz, und solche Empfindung, daß mir gantz wol war. Vermuthlich aber war solche Zufriedenheit anders nichts, als eine Wirckung eines gefährlichen Schlaf=Trünckleins / welches der alte Adam und die listige Schlange mit einem selbst=gemachten Trost und blinden Hoffnung der Seligkeit zubereitet hatte." 172
Die Deutung dieser Textstelle muß berücksichtigen, daß Burcken ein gläubiger Christ ist, der sein Augenleiden und die mißlungenen Operationen als Aufrufe Gottes zur Buße versteht, die sein Glaube ohnehin von ihm fordert. Es ist also höchst unwahrscheinlich, daß er diesen Aufrufen entgegen seiner Behauptung nicht nachgekommen ist. Nun unterscheidet der Text die leidvollen Seelenregungen der Sache nach sub specie ihres unmittelbaren, sich Burckens Kenntnis „so eigentlich" entziehenden sowie ihres intentionalen Gegebenseins, letzteres als Gegenstand einer Suche, durch die sie gefunden werden können. Burckens Formulierungen machen also objektiv die epistemologische Differenz zwischen unmittelbaren und reflexiven Bewußtseinsinhalten kenntlich. Die implizite Pointe seiner Formulierungen ist, daß Burcken die Seelenregungen, von denen er „so eigentlich nicht wissen [kan]", nicht als Zerknirschung, Reue u.s.w. finden konnte, sie wurden ihm nicht reflexiv in diesem Sinne zugänglich. Eine naive, Empfindungsqualitäten ontologisierende Interpretation der zitierten Textstelle würde nun lauten, Burcken habe, weil er sie doch nicht „gefunden", auch keine Zerknirschungszustände gehabt; damit verschenkt sie allerdings das Deutungspotential der Formulierung durch ihre begriffliche Entdifferenzierung. Denn gewiß ging viel in Burckens Seele vor, was von anderen durchaus als Zerknirschung gefunden worden wäre - dafür bürgt uns sein tiefer Glaube und sein schlechtes Gewissen; allein Burcken vermag sich nicht in dieser Weise reflexiv zu seinen unmittelbaren Bewußtseinsinhalten in Beziehung zu setzen - und genau dieser Sachverhalt ist erklärungsbedürftig. Was hier offenbar vorliegt, ist eine besonders durchtriebene Zerknirschungsfigur: die ihrer reflexiven Potenzierung zur Zerknirschung über die (eben nur scheinhafte) Zerknirschung. Sie besteht in
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Ebd., 259.
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der bestimmten Negation von Zerknirschungszuständen und bewährt sich darin, jedwede Reue in Zweifel zu ziehen. Diese reflexive Disposition zur Wahrnehmung innerer Zustände kann verständlicherweise erst recht keinen positiven sensitiven Befindlichkeiten die Weihe des Christlichen schenken: die dem Abendmahl Burckens folgende Zufriedenheit wird daher nicht als Zeichen für die Wirkung des Wortes Gottes verstanden, sondern der Anästhisierung durch ein „Schlaf=Trüncklein[]" aus selbstgemachtem Trost und Hoffnung auf Seligkeit - es ist bemerkenswert, wie der radikale Pietismus im Bemühen um die Authentizität des Glaubens sich Gedankenmotiven der Religionskritik annähert. Allerdings hält die Wirkung des „Schlaf=Trünckleins" nicht vor, wie der folgende Absatz berichtet; Burcken verfällt wieder in Höllenpein, und diese steigert sich diesmal wie bei Francke bis zur Infragestellung Gottes und der Heiligen Schrift - die psychologisch konsequente Folge des systematischen Selbstentzugs jedweder Gottesgewißheit als einer vermeintlich inauthentischen Glaubensillusion. Aber weniger die Schilderung dieser Generalanfechtung ist aufschlußreich, unterscheidet sie sich doch der Sache nach kaum von Franckes diesbezüglichen Ausführungen, als die Bilanz, die Burcken aus seiner Krankenzeit zieht: „Alle meine Sünden mußten nach und nach hervor in meinem Gewissen / und durch das Feuer der Angst vor göttlichem Gericht verzehret w e r d e n . " 1 7 3
Dieser Satz ließe sich auch auf Franckes Bußkampf beziehen, und anhand seiner kann man sich die Differenz zwischen den individuellen Frömmigkeitsgeschichten der beiden Theologen verdeutlichen. Burcken bilanziert seinen Bußkampf als sukzessive Bewußtmachung seiner Sünden (sie „mußten . . . hervor in meinem Gewissen"), und nach dem Vorangegangenen ist klar, wie das zu verstehen ist: im Sinne der sukzessiven Selbstbewußtwerdung als Sünder in allen seinen Lebensvollzügen. Diese Selbstbewußtwerdung vollzieht sich durch die negierende Reflexion sämtlicher positiver Gewißheiten des Gläubigen bis hin zur Gottesanzweiflung und wird begleitet von der „Angst vor göttlichem Gericht", das über denjenigen, der sich solcherart der Positivität seines christlichen Glaubens beraubt hat, das Urteil sprechen werde. Unter dem nagenden Selbstzweifel der negierenden Reflexion bricht dem Gläubigen das Fundament seiner christlichen Existenz vollends weg und hinterläßt als einzige, letzte Gewißheit „das Feuer der Angst", das nun, ein seidener Faden der Selbstbehauptung, als Gotteszuwendung an den Sünder gewußt wird. Dieser Angst schreibt Burcken purifizierende Wirkung zu, denn sie verzehrt die Sünde. Bleiben wir im Bild, so befreit die Angst von der Sünde, indem sie diese ganz aufzehrt. Dann aber wird 173
Ebd., 263.
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die Angst schließlich sowohl äußerst konkret als auch abstrakt; konkret, weil sie unmittelbar und intensiv empfunden wird, abstrakt, weil sie mit der Sünde zugleich alle konkreten Bestimmungen des individuellen Lebens in sich aufzehrt und eben nichts zurückläßt als einen Menschen, der bar jeder Geschichte und Zukunft ganz hingegeben in der Gegenwärtigkeit der Angst existiert. Soll die Wiedergeburt sich ereignen, dann geschieht sie aus dieser abstrakten Angst heraus, und sie vollzieht sich als deren Aufhebung in reines Empfinden, das dann mit einem neuen Vorzeichen versehen wird - in der Nacht sind alle Katzen grau. Was hier beschrieben wird, ist der Umschlag der negierenden Reflexivität in reine Sensitivität, diesseits ihrer verbindlichen Prädizierung ein Grenzgang zwischen Angst und Freude. Dessen Ausgang ist vermutlich eine Frage der Persönlichkeitsstruktur. Francke konnte am Ende den Sieg in seinem Ringen verzeichnen, „[D]enn wie man eine Hand umwendet", so vollzog sich der Wechsel von der größten Verzweiflung in die überbordende Freude des Wiedergeborenen. Burcken blieb dieses Ende versagt, er war eben, wie Reitz in seiner Würdigung des Predigers schreibt, „ein rechter Schmertzens = Mann". 1 7 4
2.3. „ Gott hat michs auß Empfindung gelehret": Samuel Schumacher und P.St.
Durchaus glücklicher scheint das Leben des Pfarrers Samuel Schumacher verlaufen zu sein. Davon erfahren wir in einem Brief, den Schumacher im April 1693 aus der Schweiz an Freunde in Bremen, seiner früheren Wirkstätte geschrieben hat, und zwar offenbar deshalb, um sich für den „Verdruß" zu rechtfertigen, den seine Lebensführung in der Umgebung gemacht habe. 175 In diesem Brief schildert Schumacher seinen Bußkampf, den er wie Francke zu einem guten Ende führt. Die Begründung, die er für die ausführliche Schilderung seiner Anfechtungen gibt, ist schon allein deshalb aufschlußreich, weil sie - mehr oder weniger ausdrücklich - in vielen Lebensläufen angeführt wird und etwas über die geistige Lage der Zeit verrät. „Damit der Reichthum der unendlichen Barmhertzigkeit Gottes / die sich so wunderbar an mir unwürdigen Nichts entdecket hat / desto herrlicher hervorleuchte / " , so Schumacher, „und niemand glaube / daß es nur Melancholie / sondern hohe Anfechtungen der Seelen gewesen / die ihr Fundament hatten", 1 7 6 174 175 176
Ebd., 271. Reitz 1982, 1. Bd.: Teil III, 2 1 5 f . Ebd., 216.
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eben deshalb wolle er von seinen Widerfahrnissen berichten. Offensichtlich macht die Anthropologie der Theologie die Deutungshoheit über die Seelenregungen der Gläubigen streitig. Mehr noch, diese müssen sich selbst davon überzeugen, daß die psychologische Erklärung nicht die bessere ist 177 - ein deutliches Zeichen für die innerpietistische Säkularisierung, die schließlich in Karl Philipp Moritz' Magazin zur Erfahrungsseelenkunde und dessen literarisch zum psychologischen Roman distanzierter Autobiographie ihren Abschluß findet. Davon ist Schumacher indessen noch weit entfernt. Sein Brief vermittelt den Eindruck distanzloser religiöser Selbstbeobachtung, hinter der die objektiven Daten seines Lebens weit zurücktreten. So wird es dem Leser schwer, dem geschilderten Innenleben äußere Ereignisse zuzuordnen. Nur so viel: Während seiner Bremer Zeit, der die von ihm betreute Gemeinde durch Gnade Gottes „grosse Erbauung" zu verdanken habe, gewann in dem Vikar die Gewißheit Gestalt, „die Sünde in den H. Geist begangen zu haben". 178 Wie er das will herausgefunden haben? Erstlich, so Schumacher, sei ihm bereits „Warheit un schmeckung der kräften der zukünftige Welt" zuteil geworden, worauf er nun aber zum anderen durch „eine wissende und berathschlagende Aufkündigung der Freundschafft des H. Geistes" sich als der erwiesenen Gnade unwürdig bekundet habe. Diese Aufkündigung sei geschehen durch „zuvor aus Muthwillen begangene[] Sünden", und im Bewußtsein seiner
177 Sehr schön kommt dieser Widerstreit zwischen einer religiösen bzw. theologischen und einer anthropologischen bzw. psychologischen Deutung derselben Seelenzustände in den folgenden Worten des Pietisten Adam Bernds (1676-1748) aus seiner Lebensbeschreibung zum Ausdruck: J e t z t , da ich nach der Philosophie solches betrachte, kan ich es leichte aus der Natur und aus den Kräfften der Imagination, wie solche bey schwachen Leibern und Gemüthern, so Temperament! melancholici und zur Furcht sehr geneigt sind, anzutreffen, auflösen. Dazumal aber dachte ich nicht anders, als daß der Satan allein sein Spiel mit mir hätte und mich mit solchen Einfallen quälete, dessen Mitwürckung ich doch bey dergleichen Zufällen keinesweges in Zweiffei zu ziehen gesonnen bin" (zit.n. Beyer-Fröhlich 1933, 142). Bernd nimmt hier eine Zwischenstellung zwischen einer erfahrungswissenschaftlichen und einer theologischen Deutung ein. Zwar weiß er seine Gemütszustände in der rückblickenden Analyse seiner Lebensbeschreibung als Symptome der Melancholie, aber an deren Entstehung soll Satan gleichwohl mitgewirkt haben. Hans-Jürgen Schings hat die Melancholie der Pietisten, die diese sich selbst als göttliche Traurigkeit und mithin als Zeichen der Gotteszuwendung interpretierten, aus dem Trauergebot ihrer Religiosität herleiten können (vgl. Schings 1977, 75ff). Er zitiert aus Thomasius' Erinnerungen zu Franckes Bericht über das Pädagogium, in denen dem Hallenser Pietisten vorgeworfen wird, die Kinder „zu Mönchen, das ist zu groben, ungezogenen, höchst melancholischen, phantastischen, eigensinnigen, widerspenstigen, unerträglichen und hämischen Leuten" zu erziehen (Thomasius, zit.n. Schings 1977, 83). Der Melancholiker wird hier als ein durch Verinnerlichung der pietistischen Erbauung erzeugter Sozialcharakter lesbar. 178
Reitz 1982, 1. Bd.: Teil III, 216.
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schweren Verfehlung habe er schließlich, bar jeder Hoffnung auf Rettung, Gott den Gehorsam verweigert. Was folgt, ist ein pietistischer Tanz auf dem Vulkan, die Lust an der Selbstzerstörung aus Verzweiflung an der eigenen Sündigkeit. Sie führt den eifernden Vikar zu dem absurden Bekenntnis: .. ich bin jetzt ein Libertiner", 1 7 9 aber es hilft nichts, Reue und Angst vor der ewigen Verdammnis kehren zurück und begleiten den Apostaten auf ruheloser Reise über Amsterdam und Hornung in die Schweiz, wo sich das Geschehen nun in einem Bekehrungserlebnis schürzt. Schumachers dumpfes und lastendes Sündenbewußtsein, dessen Angemessenheit aus den geschilderten Lebensumständen nicht im mindesten ersichtlich wird, die Qual der Reue, Angstzustände nahezu klinischen Ausmaßes, die, noch in der Erinnerung schaudernd - „ O Abgrund des Elends / wo führstu meine Feder hin" 1 8 0 - , gleichwohl gewissenhaft notiert werden: alles das ist charakteristisch für die göttliche Traurigkeit der Pietisten. In unserem Zusammenhang interessant ist aber vor allem der Umschlag von der negierenden Reflexion des zerstörerischen Selbstzweifels in die affirmative, die der Logik von Wiedergeburt und Erneuerung folgt. Sie muß in etwas fundiert sein, daß nachträglich und zweifelsresistent als unmittelbare Gotteserfahrung prädiziert wird. Schumacher situiert eben diese Erfahrung, die der „Schmertzens = Mann" Burcken sich versagte, in einem Gottesdienst, zu dem der Sünder sich zerknirscht und zerrüttet einfand, um ihn beseligt wieder zu verlassen. Im folgenden sollen die maßgeblichen Abschnitte vollständig zitiert werden: „In d e r P r e d i g t meines H e r r n H o s p i t i s w u r d e n von ihm verhandlet die g e s e g nete W o r t Pauli E p h . 3 / 1 4 . s c . biß z u m E n d e d e s C a p i t e l s . D a er nun s o herrlich die L ä n g e und die Breite sc. d e r L i e b e G o t t e s in C h r i s t o erklärte / d a bewegte er mir d a ß H e r t z / d a ß ich g e d a c h t e : A c h d u elende C r e a t u r / sihe alle / die hier sind / können sich trösten dieser H ö h e und Breite d e r L i e b e G o t t e s ; D u allein und der T e u f f e i haben sich derselben in E w i g k e i t nicht zu trösten! A c h w ä re nur ein eintziges B r o s a m l e i n f ü r dich unwürdigen H u n d v o r h a n d e n ! Ο a r m e v e r d a m t e Seel / wie übel hastu mit E s a u d a s R e c h t deiner E r s t g e b u r t verschertz e t / wie übel hastu dich zugerichtet / d a ß G o t t auch selbst / wann er schon w o l t e / dir d e n n o c h k r a f f t seiner G e r e c h t i g k e i t und W a r h e i t nicht helffen k ö n te? Augenblicklich a b e r g e s c h ä h e es / als durch einen s a n f f t e n Wind / d a ß mein z u v o r eiß-kaltes H e r t z solcher G e s t a l t z e r s c h m o l t z e n / d a ß ich / d a ich seit d e r Zeit 2. J a h r e n nicht ein G e b e t thun konte / n o c h einige T h r ä n e n vergiessen / die g a n t z e P r e d i g t durch v o r lauter T h r ä n e n z e r f l ö s s e / welches mir s o w u n d e r lich v o r k a m / d a ß ich es nicht g e n u g austrucken kan.
179 180
Alle Zitate ebd., 217. Ebd., 220.
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Teil III Analysen früher pietistischer Autobiographien
Nachdem nun die Predigt vollendet / und die Communion angieng / träte ich mit einem thränenden Hertzen hinzu / und war mein Hertz durch eine geistliche aber sehr liebliche Kraft gleichsam hinauff gerücket in das Hertz J E s u / als in den rechten himlischen Saal / da das geistliche Abendmahl gehalten wird / und versenckte ich mich dort in seine Wunden / und vereinigte mich mit ihme / welches alles auf eine sehr empfindliche Weise geschähe. Auff diese Freude war ich dennoch voller Forcht und Zweiffei / und wußte nicht / ob mir traumete / oder ob sich die Sache also verhielte; Leset doch die Geschieht / so sich mit Petro zugetragen / Act. 12.V.6.seqq. welches mir warhafftig geistlicher weise wiederfahren ist / so daß ich wol möchte wiederholen aus dem 126. Psalm / Da der H E R R seingefangenes Volck erlösete / da waren wir wir wie die Traumenden. Aber damit mich Gott völlig versicherte seiner Liebes = Gunst / führte er meih auß dem Vorhoff in das Innerste / und besuchte mich von selber Zeit an mein süsser Bräutigam JEsus mit Hertzrührenden Küssen seiner Liebe / deren Empfindung nunmehro sieben gantzer Wochen lang fast nach einander ohne Auffhören gewähret hat und noch währet / indem ich dies schreibe / da ich allen Augenblick JEsum umfangen kann / und er mir allezeit warhafftig antwortet. Gantz deutlich erschallet in meinen Ohren oder Seel die Stimm / daß mir meine Sünden vergeben. Darwider setzte sich zwar meine Vernunfft mit allen ersinnlichsten Gründen / es fielen mir aber dargegen so unzehliche Sprüche der H.Schrifft ein / an welche ich mein Lebtag nicht gedacht hatte /womit allen diesen Zweiffels = Einwürffen der Mund gestopffe worden / so daß nunmehro einer in und mit mir ist / der alleweg sieget. Damit aber diese so herrliche Wunder Gottes deutlich vorgestellen werden / so will ich die so mancherleye Würckungen des Η Geistes in meiner Seelen abtheilen in die erleuchtende / heiligmachende und tröstende Krafft; Gott gebe Gnade hierzu! Amen." 1 8 1 D i e ausführliche Zitation ist durch die P r ä g n a n z gerechtfertigt, mit der Schumachers Schilderung die Sequentialität des sensitiv vermittelten U m s c h l a g s von der negierenden in die affirmierende Selbstreflexion des G l ä u b i g e n protokolliert. D i e A b s ä t z e des T e x t e s - wiewohl wir von ihnen nicht wissen, ob sie dem Brief entnommen o d e r ob Reitz sie nachträglich einfügte - entsprechen den Stufen der religiösen Selbstgewinnung, in deren H o r i z o n t der V e r f a s s e r sich die entscheidende P h a s e seines Lebens auslegt. Deren B e d e u t s a m k e i t wird durch einen stilistischen K u n s t g r i f f unterstrichen, der E r z ä h l z e i t und erzählte Zeit zur K o n g r u enz bringt: noch zu derselben Zeit, d a er dieses schreibe, so Schumacher, genieße er die G n a d e innigster Zweisamkeit mit J e s u s Christus. D a s Geschehene wirkt in die G e g e n w a r t hinein in seliger Gegenwärtigkeit; d a s in chronologischer Hinsicht V e r g a n g e n e ist in einem eminenten Sinne jetztzeitig.
181
Ebd., 221-223.
Phänotypische Varianten pietistischer Sinnbildung
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Im ersten der zitierten Absätze schildert Schumacher die Verzweiflung des hoffnungslosen Sünders in dem symbolischen Koordinatensystem alttestamentlicher Semantik. Ihr folgt, in größtmöglicher Kontrastivität, die metabole, der Umschlag ins neue Sein, den Schumacher wie auch Francke und viele andere als augenblickshaft und durch eine Metaphorik somatischer Sensitivität und emotiver Rührung prädiziert. Das Vergleichswort „als" legt es nahe, die geschilderte Empfindsamkeit als qualitative Spezifizierung des Augenblickscharakters zu verstehen, der dem Wiedergeburtserlebnis laut Schumacher geeignet habe. Diese Empfindsamkeit wird als Erweckung der Emotionen durch die sensitive Affizierung des Gläubigen artikuliert: der sanfte Wind habe das eiskalte Herz zerschmolzen, eben so, wie im kollektiven Gedächtnis der Menschen der Frühlingswind Bote der warmen Jahreszeit ist und seine Empfindung wegen ihres festen Sitzes im Leben sich spielend evozieren läßt. Die diesem Erlebnis folgende seelische Erhebung wird nun im folgenden Absatz in ein passendes Verhältnis zu der Semantik der Jesus-Minne gesetzt und dadurch als rechtes Wiedergeburtserlebnis gleichsam autorisiert. Auch diese Semantik ist nahe an der somatischen (genauer: erotischen) Erfahrungsbasis der Menschen, daher geschieht die von Schumacher berichtete Vereinigung mit seinem Erlöser denn auch „auf eine sehr empfindliche Weise". Gleichwohl bleiben diesem Absatz leise Zweifel an dem erreichten Gnadenstand vorbehalten, die sich ihrerseits durch die Referenz auf die Bibel autorisieren und so zunächst noch gegenüber dem sensitiven Evidenzerlebnis der Gottesgegenwart behaupten dürfen. Im Streit der semantischen Systeme um die Deutung des Geschehenen siegt im nächsten Absatz schließlich endgültig die Symbolik des Hohen Liedes über die Repräsentanten des Selbstzweifels, „so daß nunmehro einer in und mit mir ist / der alleweg sieger". „Damit aber diese so herrliche Wunder Gottes deutlich vorgestellet werden", so Schumacher nun im folgenden Abschnitt seines Briefes - also doch wohl zur reflexiven Nachbereitung des Erlebten - , gibt er sich und seinen Lesern Rechenschaft über die Wirkungen seiner Wiedergeburt. Klassifikatorisch unterscheidet er eine erleuchtende, eine heiligmachende und schließlich eine tröstende Kraft, die er unter ausführlicher Bezugnahme auf passende Textstellen der Bibel in seinem nun so wunderbar elevierten Seelenhaushalt nachweisen will. Eben in dieser Absicht (und ihrer Durchführung) dokumentiert sich die affirmierende Reflexion des wiedergeborenen Pietisten. Keineswegs verabschiedet der sich also von seiner Selbstbeobachtung, sie vollzieht sich indessen unter anderen Vorzeichen als vor der Bekehrung, sie verzichtet gleichsam auf die Exposition des Gläubigen in das Nichts der abgründigen Selbstverneinung. Paradoxerweise macht das selbst die folgende Textstelle deutlich:
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Teil III Analysen früher pietistischer Autobiographien
„Ob mir nun schon solche und dergleichen Gnaden=Erscheinungen begegnen / so finde ich doch / daß mein JEsus mir noch eine sonderliche Gnade geschencket / die ich warhaftig höher schätze dann die gantze Welt nemlich eine so tieffe Demuth in meiner Seelen; Dann ohngeachtet ich solche Liebes = Bezeugungen täglich geniesse / so ist meine Seele dennoch in das tieffste Nichts versencket / daß mich dünckt / es sey bey mir noch nichts vorgangen; Ja ich bin oft so gar meines Nichts überzeuget / daß ich offt aus auffrichtigem Hertzen GOtt also angeredet habe: Wirff mich nur in die Holl zu Verherrlichung deiner Gerechtigkeit / dann ich bin nichts! Ο mich unwürdigen Hund / es ist kein Knecht so unnütz wie ich bin! Ich dancke dir / Ο Jesu / für diese grosse Gnad und Demuth! Und diß ist auch der Zustand der H. Engeln / ja aller Seelen im Himmel / die ihre Krön darnieder werffen .. ."182 O f f e n b a r dankt der Wiedergeborene Jesus für die Gnade, ihn ob der ihm erwiesenen „Liebes = Bezeugungen" nicht selbstgefällig haben werden zu lassen, was unweigerlich einen Rückfall in die alte Sünde bedeutet hätte. Vielmehr sei seiner Seele „eine so tieffe Demuth" geschenkt worden, daß sie ihn gegen solche Gefahren zuverlässig immunisiere. Diese Demut ist laut Schumacher indessen keine Sache eines willentlichen Entschlusses, sondern der Fortdauer seiner Selbstzerknirschung: Weiterhin sei seine Seele „in das tieffste Nichts versencket", so d a ß es ihm scheine, als „sey bey mir noch nichts vorgangen", also seine innere Befindlichkeit gleich derjenigen vor der Wiedergeburt. Worin unterscheidet sich dann aber das Sein des Neuen Menschen von dem des alten Adam? Eine Differenz läge nur dann vor, wenn die Selbstzerknirschung des Gläubigen von einer gegenüber seinem früheren Leben qualitativ neuen Selbstbejahung (eben als des Neuen Menschen), die negierende Reflexion von der affirmierenden grundiert würde. Genau das bringt die zitierte Passage denn auch zum Ausdruck: Von seiner Nichtigkeit sei er so sehr überzeugt, so der Verfasser, d a ß er Gott darum gebeten habe, von ihm in die Hölle befördert zu werden. Diese Bitte wäre Schumacher - jedenfalls der inneren Logik seiner Selbstdarstellung zufolge - vor der Wiedergeburt nicht möglich gewesen, denn zu sehr war seine Reue von der Angst geprägt, dereinst wirklich in den Kesseln des großen Widersachers zu schmoren. Jetzt dagegen gewinnt die Zerknirschung gleichsam eine flotte Unbeschwertheit: N u r ab mit mir in die Unterwelt! Dem entspricht grammatisch der Doppelpunkt: Er markiert seine Bitte um Entsendung in die Hölle als Selbstzitat. Eben so habe er gebeten, heißt das, mit anderen Worten: Schumacher drückt seine Seelenqual nicht authentisch aus, sondern er demonstriert, wie sie ihn „offt" ergreife. Diese Zustände, indem sie eben oft, aber nicht immer oder auch nur stetig, regelmäßig eintreten, ragen aus
182
Ebd., 229f.
Phänotypische Varianten pietistischer Sinnbildung
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einer Befindlichkeit heraus, die von ihnen unterschieden ist und am besten von den vormals genannten „Liebes = Bezeugungen" Jesu charakterisiert werden kann. Dem Autobiographen gelingt hier eine positive Distanzierung und Rahmung seiner Zerknirschungsanfälle, und das unterscheidet den Neuen Menschen vom alten Adam. Mehr noch, es ist durchaus fraglich, ob die hier bekannte Selbsterniedrigung aufrichtig ist. Denn wie zu ihrer Bestätigung und Gratifikation stellt Schumacher nun fest, dies sei auch „der Zustand der H. Engeln / ja aller Seelen im Himmel / die ihre Krön darnieder werffen". Mit wem er sich wirklich identifiziert, macht dieser Satz überdeutlich. Der Wandel vom Satansbraten zum geflügelten Himmelsbewohner vollzieht sich für den Verfasser rascher als er es seine Leser wissen lassen dürfte! Während aber Schumacher, ganz wie Francke, noch einen veritablen Bußkampf führen mußte, um der „Liebes = Bezeugungen" Jesu teilhaftig zu werden, findet der von Reitz unter dem Kryptonym P.St. vorgestellte Sünder durch einen einzelnen, noch dazu völlig kontingenten Vorfall, den er allerdings in für sein Seelenheil vorteilhafter Weise zu deuten versteht, auf den Weg des „wahren" Christentums. Weil er sich nicht über einen langwierigen religiösen Entwicklungsprozess Rechenschaft ablegen muß, sondern eben nur über ein singuläres Ereignis, ist sein Selbstzeugnis recht knapp, nämlich kaum vier Seiten lang. Immerhin findet er Zeit, sich über seine Eltern zu erheben, die ihn „nach dem gemeinen Lauff und lauer Weiß" 183 erzogen hätten. Wer so denkt und es auch öffentlich sagt, und zwar nicht im Affekt der Empörung, sondern als sachliche Feststellung, sieht sich ganz offensichtlich auf der Straße der Gerechten. So weiß der Verfasser denn auch, „daß ich vor Menschen gerecht war; aber ich wußte nicht / daß ich bey G O T T darum noch nicht in Gnaden stunde", 184 daß er also als Kind die wahre, nicht bloß scheinhafte Gerechtigkeit noch nicht erlangt hatte. Derer ist er sich zum Zeitpunkt der Niederschrift seiner Bekehrung dagegen offenbar gewiß, denn nur diese Gewißheit vermag seine öffentliche Anklage gegen die Eltern zu motivieren, denen laut Dekalog ja immerhin, wenn schon nicht die Franckesche Liebe, so doch Achtung gebührt. Rasch kommt der Verfasser nun zum Wesentlichen: Im Juni 1696, „nach gethanem Morgen=gebet", 1 8 5 läßt er sich zu Säuberungszwekken in einen Brunnen herab, der über ihm in sich zusammenfällt. Wie durch ein Wunder bleibt er unverseht, doch was hilft es: lebendig begraben unter den schweren Steinen, geht dem Unglücklichen im Dunkel des Brunnens langsam die Luft aus. Nur zu deutlich ist dem Leser der 183 184 185
Reitz 1982, 1. Bd.: Teil I, 161. Ebd., 161 f. Ebd., 162.
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Teil III Analysen früher pietistischer Autobiographien
Symbolwert dieser Episode, und so berichtet der Verfasser denn auch von der „erschröcklichste[n] H ö l l e n = A n g s t " , 1 8 6 die ihn dort unten ergriffen. Der Unfall wirft ihn in einer Grauzone zwischen Glauben und Aberglauben auf seine Sünden zurück, und er sieht sich schon in dem stickichten Verlies der ewigen Verdammnis preisgegeben. „ D a ich nun meynte / ich w ü r d e a l s o hingehen und sterben müssen / weil ich aus M a n g e l aller L u f f t keinem A t h e m s c h ö p f f e n konte / d a bließ mich ein s a n f f ter Wind an / (eben als läge ich im o f f e n e n F e l d e ) welcher wohl roch / a l s k ä m er von den B a u m = B l ä t t e r n im M a y e n . D u r c h diesen G e r u c h d e s Feldes b e k a m mein Leib K r a f f t / und meine Seele zugleich T r o s t und V e r s i c h e r u n g / d a ß mir meine Sünden vergeben / und ich E r l ö s u n g zu gewarten. S o gleich g a b mir auch G O t t ein / wie E r J o n a m auß d e m A b g r u n d / die drey M ä n n e r auß d e m Feur O f e n / und D a n i e l auß der L ö w e n = G r u b e n e r r e t t e t . " 1 8 7
Achtundzwanzig Stunden, so der weitere Bericht, mußte der Büßer noch ausharren, bis man ihn aus den Trümmern zerrte und zum Erstaunen der Schaulustigen gesund und munter fand. Denn den Unfall erlebt er geradezu als Reinigung - mit den Worten Burckens: seine Sünden, die ihm im Dunkel des Brunnens schlagartig ins Bewußtsein treten, wurden vom Feuer der Todesangst aufgezehrt - und seine Bergung als christliche Wiedergeburt. Obwohl nichts in dem Dokument auf ein ausgeprägtes Sündenbewußtsein verweist, auf die Qualen religiöser Selbstverneinung und asketischer Geißelung der Begierden, scheint auch dieser Verfasser das Bedürfnis zu haben, sein Leben in einem Evidenzerlebnis der Gottesgegenwart zu gründen. Die bisher untersuchten Fälle machten deutlich, daß ein solches Erlebnis sich der gleichsam spiralförmigen, leistungsethischen Steigerung von Reflexivität und Sensitivität des Glaubenslebens verdankt. Diesen Kampf hat P.St. nicht ausgefochten. Sein Evidenzerlebnis resultiert nicht aus einer psychischen Entwicklungsdynamik, sondern aus der religiösen Prädizierung eines außeralltäglichen, sinnlich eindrücklichen Ereignisses. Es ist auffällig, daß er zu dessen Charakterisierung auf dasselbe Bild zurückgreift, das auch Schumacher für die Artikulation seines Evidenzerlebnisses parat hielt: wie dessen „eiß-kaltes H e r t z " durch einen „sanfften Wind" „zerschmoltzen" wurde, so erfaßte „ein sanffter Wind" auch das Unfallopfer auf dem Boden des Brunnens. Wie aber Schumacher von einer inneren Empfindung ergriffen wurde, so beruht P.St.'s Läuterung auf einer äußeren. Sehr wahrscheinlich drang der Geruch der Felder zwischen den durchlässigen Brunnensteinen hindurch in sein Gefängnis herab und gab ihm deshalb Hoffnung, daß er nicht hermetisch von der
186 187
Ebd. Ebd., 163 f.
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Außenwelt geschieden und daher seine Rettung nicht unmöglich sei. Daß er durch diesen Wind zu der Gewißheit seiner Erlösung gefunden habe, gibt seinem Glaubensbekenntnis freilich einen kurios diesseitigen Beiklang. Meint er nun die Erlösung aus dem irdischen Jammertal, das die Pietisten stets beklagen, oder nur aus dem Brunnen und also zurück in das volle Leben, in dem es sich denn doch wohl ganz gut leben läßt? Zweifellos, P.St. ist kein religiöser Virtuose wie Francke oder Burcken oder vielleicht auch Schumacher. Ist er aber überhaupt ein Pietist? Immerhin fühlt er sich bemüßigt, sein Leben dem Dualismus von sündhafter Existenz und Wiedergeburt, dem Wertkriterium einer authentischen sensitiven Bekehrungserfahrung und der Forderung nach Protokollierung des Glaubenslebens (der wir schließlich sein Dokument verdanken) zu unterstellen. Das Erfahrene wird wiederum - wie auch in den differenzierteren Lebensläufen - durch passende Bibelstellen autorisiert und durch seine Subsumption unter den Erfahrungsschatz der Heiligen Schrift als Glaubenszeugnis zementiert. Zugleich wird damit dem Gebot Genüge getan, die Schrift ihrerseits in der persönlichen Lebenserfahrung zu verankern - eben so, wie P.St. es formuliert: „GOtt hat michs auß Empfindung gelehret." 188 Daß es das karge Selbstzeugnis des anonymen Verfassers überhaupt gibt, ist ein Dokument der alltagspraktischen Normativität des pietistischen Deutungsmusters - auch und gerade in seiner offensichtlich defizitären Form.
2.4. „... und erquickte mich in der Liebe meines Eleonora Petersen
Gottes":
Den Niederungen dieser allzu diesseitigen Wiedergeburtsvorstellungen und -gewißheiten gänzlich ferne steht die Autobiographie der Johanna Eleonora Petersen. Vielmehr bezeugt sie, daß die pietistische Religiosität - wie es denn ja auch die Analyse des Franckeschen Lebenslaufs ergab - eines datierbaren Wiedergeburtsereignisses, zumal als Ergebnis eines Bußkampfes, strukturell entbehren kann, ohne deshalb der reflexiv kontrollierten Sensitivierung des Glaubenslebens verlustig gehen zu müssen. Das macht sie nicht notwendig zu einem Zeugnis der innerpietistischen Säkularisierung. Datierbare Wiedergeburtserfahrungen werden noch heute von religiösen Gemeinschaften innerhalb der Pfingstbewegung angestrebt, während sich umgekehrt schon vor Francke Selbstzeugnisse finden, in denen nichts auf einen Bußkampf in seinem Sinne hindeutet - weder manifest noch latent. Speners Lebenslauf wäre 188
Ebd., 164.
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Teil III Analysen früher pietistischer Autobiographien
ein prominentes Beispiel dafür, oder eben die Autobiographie der Petersen. Die Verfasserin ist 19 Jahre älter als Francke, ihre Lebensbeschreibung erschien erstmals 1689, also nur ein, zwei Jahre vor Franckes Niederschrift seines Lebenslaufs, und zwar als Anhang zu einem kleinen Erbauungsbändchen, den Gesprächen des Hertzens mit GOTT. Weitere Auflagen erlebt sie 1718 und 1719, zuletzt wiederum als Anhang zu der Lebensbeschreibung ihres Mannes Johann Wilhelm Petersen. Der Zeitraum, über den sie in ihrer Autobiographie Auskunft gibt, reicht denn auch von der Geburt bis zur Hochzeit und der ersten gemeinsamen Ehezeit, während wir über die folgenden Lebensjahre dann nur noch durch seine Feder erfahren. Die folgenden Analysen halten sich an die dritte Auflage der Autobiographie aus dem Jahr 1719. 189 Zunächst die objektiven Daten: 190 Geboren wird Johanna Eleonora 1644 in die hessische Adelsfamilie derer von und zu Merlau. Ihr Vater, Georg Adolph, gestorben 1681, war mit der Mutter, Maria Sabina Ganß von Utzberg, seit 1637/38 in zweiter Ehe verheiratet, aus der neben Johanna Eleonora, der Zweitältesten, noch drei weitere Töchter stammen. Nach dem Tod der Mutter werden die Kinder auf dem heimatlichen Gut von Pflegerinnen versorgt. Der Vater, Hofmeister beim Landgrafen Wilhelm Christoph von HessenHomburg, weilt selten zu Hause; die Lebensumstände sind bescheiden. Als Zwölfjährige beginnt das Mädchen die typische Laufbahn adeliger Damen aus verarmten Verhältnissen, nämlich in subalterner Stellung bei Hofe. Nach ihrer ersten Anstellung bei der Gräfin von Solms-Rödelheim kommt sie 1659, mit mittlerweile fünfzehn Jahren, als Hofjungfer zu Anna Margaretha von Hessen-Homburg, Gemahlin des Herzogs Philipp Ludwig von Holstein-Sonderburg, nach Wiesenburg nahe Zwickau in Sachsen, wo der Herzog ein Lehen besitzt. In ihre Zeit bei der Herzogin fällt eine unglückliche Verlobung mit dem kursächsischen Obristleutnant von Bretewitz. Während die Jungfer sich immer mehr in ihre religiösen Studien vertieft, erfährt sie über Dritte von dem leichtfüßigen Lebenswandel des Offiziers. Als von diesem auch noch
189 Leben Frauen Johanna Eleonora Petersen, Gebohrner von und zu Merlau, Herrn D. Joh. Wilh. Petersens Ehe= Liebsten ... Der Text wurde vollständig wiederabgedruckt in Werner Mahrholz' Anthologie zum deutschen Pietismus aus dem Jahr 1921 (Mahrholz 1921, 201-245). Aus dieser Ausgabe wird im folgenden zitiert. 190 Zu Leben und Werk Johanna Eleonora Petersens und ihres Mannes vgl. Schering 1982, Wallmann 1990 und Matthias 1993. Gustav Freytag stellte im vierten Band seiner Bilder aus der deutschen Vergangenheit die Lebensbeschreibungen des Ehepaars in den Mittelpunkt seines mentalitätshistorischen Pietismusreferats. Die beiden Texte werden von Freytag dort in ausführlichen Auszügen wiedergegeben, um seine allgemeinen und im übrigen noch heute lesenswerten charakterologischen Überlegungen zum Pietismus am Material zu veranschaulichen. Vgl. Freytag 1927, 97-137: 109-132.
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das Interesse an einer finanziell besseren Partie kolportiert wird, löst man die Verbindung in gegenseitigem Einvernehmen. 1672 macht Johanna Eleonora durch Zufall die Bekanntschaft mit Spener. Die Autobiographie schildert dies Ereignis als Schlüsselszene im Leben der jungen Adligen: beide reisen auf einem Mainschiff, die Hofjungfer als Begleiterin der Prinzessin Sophie Elisabeth von Holstein-Sonderburg nach Bad Ems, Spener auf dem Weg nach Mainz. Seit dieser Begegnung wird sie dem damaligen Senior des Frankfurter Predigerministeriums als ihrem väterlichen Freund - wie sie sich in der Lebensgeschichte ausdrückt - verbunden bleiben. Ein Freund Speners war es auch, der bereits vor der persönlichen Bekanntschaft der beiden um die nun nicht mehr ganz so junge Frau wirbt, der Geistliche Johann Winckler. Doch Johanna Eleonoras Vater legt gegen die Verbindung mit dem Bürgerlichen Einspruch ein, sie kommt nicht zustande. Stattdessen verschlägt es die Jungfer nach einem kurzen Intermezzo im Hause des Vaters 1675 nach Frankfurt und damit in den unmittelbaren Umkreis Speners. Zu dieser Zeit steht sie bereits allerorten im Ruf einer besonders ausgeprägten Frömmigkeit. Die mittlerweile Dreißigjährige findet bei der verwitwten Patrizierin Juliana Maria Baur von Eyseneck im Saalhof Unterkunft und begründet dort ein Konventikel, das zu den Spenerschen Kreisen in Konkurrenz tritt. 191 Hier wird sie auch ihren späteren Ehemann Johann Wilhelm Petersen kennengelernt haben. Die Trauung der beiden ist von Spener 1680 vollzogen worden. Zu dieser Zeit wirkte Petersen als holsteinischer Hofprediger und Superintendent in Eutin. - So weit führt uns Johanna Eleonora Petersen in ihrer Lebensbeschreibung. Die übrigen Daten sind rasch erwähnt: Ihr Mann übernimmt 1688 die Superintendentur in Lüneburg, wird aber 1692 wegen seines öffentlichen Eintretens für den Chiliasmus seines Amtes enthoben. Von Gönnern in der preußischen Regierung unterstützt, erwerben die Petersens ein Gut in der Nähe von Magdeburg, der Mann zieht sich in die freie Schriftstellerei zurück. Seine Frau stirbt 1724, er zwei Jahre danach. Sucht man nun in der Lebensbeschreibung der Petersen nach einem herausgehobenen Wiedergeburtserlebnis, das aus sinnlicher Evidenz den Umschlag des weltlichen Lebens in das gnadendurchwirkte des
191
„Die im Saalhof gehaltenen religiösen Versammlungen erregten in und außerhalb Frankfurt bald den Verdacht der Sektiererei. Johanna Eleonora von Merlau hielt Erbauungsstunden mit Mägden, gab jungen Mädchen, darunter auch den Töchtern Speners, religiöse Unterweisungen, lehrte sie das freie Gebet und die griechische Sprache, um das Neue Testament im Grundtext zu lesen. Sie sammelte einen Kreis kleiner Mädchen im Alter von sechs Jahren, für die sie kindgerechte Gebete entwarf und die sie ins Lesen des Neuen Testamentes einführte" (Wallmann 1990, 85f).
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Teil III Analysen früher pietistischer Autobiographien
Neuen Menschen bewirkt, so wird man nirgends fündig. Schlüsselbedeutung kommt gewiß der Mainschiffepisode zu, aber von einem Bekehrungserlebnis Franckescher Provenienz kann auch hier nicht die Rede sein. Entsprechend fehlt dem Text auch das drängende Telos, auf das Franckes Lebenslauf zustrebte. Formulierungen wie Schumachers „Ich eile aber fort zum Ende" 1 9 2 wären bei Johanna Eleonora Petersen undenkbar: zu welchem Ende auch? Als Zuspitzung einer Krise schildert die fromme Christin zwar die methodisch herbeigezwungene Selbstüberwindung zu ihrem coming out in den höfischen Kreisen. Aber die Vorgeschichte dieses öffentlichen und praktischen Bekenntnisses zum christlichen Leben wird keinesfalls als Zeit der Gottlosigkeit erinnert. Vielmehr spricht der Text von einer seit der Kindheit wesentlich ungebrochenen Gnadengewißheit. In diesem Sinne vielsagend ist bereits der Beginn des Selbstzeugnisses, welcher der Verteidigung des geführten Lebens gegen die erwartete Kritik der Ungläubigen und Lästerer dienen soll: „Damit du, geliebter Leser, wissen mögest, wie wunderbar mich der Höchste von Jugend auf geführet und durch mancherlei Gelegenheit zu sich gezogen, als habe meinen Lebenslauf nur mit kurzem hier [dem Lebenslauf ihres Mannes M.S.] beifügen wollen; zumal ich nach meines Heilands Exempel viele und mancherlei Lästerungen und Lügen über mich habe müssen ergehen lassen, da es viele befremdet, daß ich bei so jungen Jahren nicht mehr mit ihnen laufen wollen in das wüste Leben und haben gelästert... Und als ich mich um solcher und dergleichen mancherlei Lästerungen willen nicht abwenden ließ, sondern den Weg der Wahrheit zu erwählen und darinnen zu wandeln suchte, da gingen andere Lästerungen an, ich wäre irrig im Glauben. Bald beschuldigten sie mich dieser, bald einer anderen Ketzerei, davon ich nie etwas gesehen und noch gehöret hatte, welches mir denn anfangs sehr fremde vorkam, weil ich in aller Einfalt wandelte nach Heiliger Schrift und nach den Worten, wozu die Lehrer auf der Kanzel antrieben, daß man also wandeln sollte, und nun ich suchte solches werkstellig zu machen, wurde ich verlästert, da ich doch, als ich die Worte davon redete und mir solche gefallen ließ, vor christlich und tugendsam gerühmet wurde an vielen Orten. Als ich aber eine Täterin solcher Worte (nach meinem geringen M a ß ) suchte zu werden, da wurde ich von Stund' an gelästert und mancherlei Irrtums beschuldigt, also, daß ich mich drüber entsetzte und mit meinem Gott mich auf solche Weise zu besprechen, mit nachfolgendem Seufzen gedrungen wurde: Mein Gott, du siehst mein Herz, daß ich nichts anderes suche, als das zu tun, was ich zuvor gehöret aus deinem Worte und durch die Predigt des Wortes, und dazu hast du mich angetrieben, da du mir in Heiliger Schrift offenbaret, daß ein Hörer deiner Worte ohne Tat einem törichten Manne gleich sei, und daß nicht die, so da Herr, Herr, Herr sagen, ins Himmelreich kommen werden, sondern die deinen Willen tun: „Nun ich aber mein Herz dazu
192
Reitz 1982, 1. Bd.: Teil III, 230.
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gewendet und deinen Geist mich treiben lasse zu tun, was mir wohlgefället, so befremdet es nicht allein die Gottlosen, sondern auch die, so solche Worte im M u n d e führen, deren Täterin ich gern sein wollte. Ach mein G o t t ! tue mir doch kund, worinnen ich meinem Nächsten anstößig bin, du siehest ja, daß ich nicht Neuigkeit suche, sondern allein die N a c h f o l g e deines geliebten Sohnes, den du mir zum Vorbild gegeben, daß ich nachfolgen soll seinen Fußstapfen. Warum befremdet's denn die, so dein Wort lesen und wissen, da ich nichts anderes suche, als nur wie in deinem Wort gesaget und ausgeboten ist, ja, ein Kennzeichen, d a ß wir dich lieben, so wir deine G e b o t e haben und halten, was ist es denn, mein G o t t ? " Dergleichen Reden habe ich so lange vor meinem G o t t geführt, bis mir aus seinem Worte o f f e n b a r wurde, daß es also sein mußte, und daß nicht die schönen Worte der Gottseligkeit die Menschen befremdet, sondern sie je und je die T a t und die K r a f t der Worte verlästert und verfolget haben. D a r a u f gab ich mich zufrieden und lernete mich freuen, daß ich würdig wäre, um seines heiligen N a m e n s willen geschmähet zu werden, da ich fast täglich eine neue Schmach empfand, aber auch neue K r a f t und G n a d e im Worte und in Erkenntnis all des Guten, so wir in Christo J e s u haben, und also mußte ich in der T a t erfahren, daß es eine heilige Wahrheit, was Paulus saget: Alle, die gottselig leben wollen in Christo J e s u , die müssen V e r f o l g u n g leiden." 1 9 3
Die zitierte Sequenz, mit der Petersens Autobiographie anhebt, rekapituliert in nuce die religiöse Problematik des ganzen Lebenslaufs; entsprechend aussagekräftig ist sie für das Frömmigkeitsprofil der Verfasserin. Die Niederschrift des Selbstzeugnisses erscheint im Lichte der ersten Zeilen als triumphaler Höhepunkt göttlicher Gerechtsprechung. Denn in ihr manifestiert sich objektiv und daher verbindlich, „wie wunderbar mich der Höchste von Jugend auf geführet" und im Kampf mit der weltlichen Gesinnung der Lästerer und Lügner hat obsiegen lassen. Sie schreibt nicht nur nieder, sondern fest, was im Leben sich erwiesen hat, verleiht der religiösen Bestimmung ihre zwar nicht unwiderrufliche, aber von nun an eben - wo nötig - ausdrücklich zu widerrufende Bestimmtheit, damit wir, die geliebten Leser, sie zur Kenntnis nehmen, um uns daran zu bilden und zu erbauen. Wäre es nicht blasphemisch und widerspräche daher dem Selbstverständnis der Autobiographin, so ließe sich hier wohl gleichsam von einer durch die Niederschrift des Lebenslaufes vollzogenen Ratifizierung der göttlichen Gerechtsprechung reden. Die charakteristische Differenz zu den bisher besprochenen Lebensläufen liegt nun nicht in der unverbrüchlichen Gnadengewißheit der Erzählerin, sondern in der Perspektivenkongruenz der Verfasserin des Lebenslaufes und dessen Protagonistin. Denn schon seit jungen Jahren hatte die Petersen nicht mehr das „wüste Leben" führen wollen und sich von ihrer sozialen Umwelt abgesondert. Die Kritik an dieser Absonde193
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rung gilt ihr von vornherein nur als Lästerung, mithin als unlautere Diffamierlust. Daß sie sachhaltig sein könnte, wird nicht erwogen. Zwar finden sich auch bei anderen Autobiographen Herleitungen ihres religiösen Virtuosentums aus einer im Vergleich mit den Altersgenossen herausragenden Frömmigkeit, doch bei Francke und Schumacher etwa wird das kostbare Gut des kindlichen Gemüts beschmutzt, entfremdet sich der Gläubige seinen Anlagen, verstrickt sich in die Welt. Petersen dagegen berichtet das Gegenteil: nicht Abfall von den guten Anfängen, sondern deren Entwicklung, unbeirrt von den Anfeindungen ihrer Umgebung („Und als ich mich um solcher und dergleichen mancherlei Lästerungen willen nicht abwenden ließ, sondern den Weg der Wahrheit zu erwählen und darinnen zu wandeln suchte..."): dem frommen Gemüt folgt konsequent der Entschluß zu einem frommen Leben. Chronologisch bezieht sich die Verfasserin hier wohl auf ihre Zeit als Hofjungfer der Herzogin von Holstein-Sonderburg in Wiesenburg, denn später im Lebenslauf berichtet sie von dieser Lebensphase als Zeit der religiösen Selbstoffenbarung und herber Anfeindungen im Kreise der Gesellschaft. Das aber heißt: Die Autobiographin dividiert ihr Leben in eine Zeit der frommen Gesinnung und eine solche des (zusätzlich auch) gesinnungsgemäßen Lebens. Damit reduziert sich die religiöse Problematik auf die Frage der authentischen Praktizierung der Glaubensüberzeugungen, die als solche nicht in Frage gestellt werden. Das ist bei den Reitzschen Autobiographen - und erst recht bei Francke - anders. Als sie also eine „Täterin" christlicher Worte zu werden suchte, wurde die Petersen des Irrtums beschuldigt und verlästert, worauf sie „mit nachfolgendem Seufzen" sich an Gott wendete: „Mein Gott, du siehst mein Herz", so schreibt sie, „daß ich nichts anderes suche, als das zu tun, was ich zuvor gehöret aus deinem Worte und durch die Predigt des Wortes, und dazu hast du mich angetrieben, da du mir in Heiliger Schrift offenbaret, daß ein Hörer deiner Worte ohne Tat einem törichten Manne gleich sei, und daß nicht die, so da Herr, Herr, Herr sagen, ins Himmelreich kommen werden, sondern die deinen Willen tun ..." Offensichtlich referiert Petersen hier ihre Zwiesprache mit Gott in direkter Rede. Dabei appelliert sie an ihn, ihre aufrichtigen Frömmigkeitsbemühungen als solche zur Kenntnis zu nehmen („du siehst mein Herz, daß ich nichts anderes suche, als ..."), was impliziert, daß sie diese auch als authentische erinnert. Fraglich war ihr demnach in der berichteten Zeit nicht der Stand ihres Glaubens, sondern die Reaktion ihres sozialen Umfeldes auf ihn. Aber selbst diese Fraglichkeit wirkt inszeniert - und das heißt in diesem Zusammenhang wohl: inszeniert vor Gott. Denn wenige Zeilen vorher hatte sie ja diagnostiziert, man habe sie wegen der Bekundung ihrer Uberzeugungen „vor christlich und tugendsam gerühmet" und erst dann angegriffen, als sie „eine Täterin sol-
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eher Worte ... suchte zu werden"; woraufhin sie Gott in diesem Punkte ihre selbstgewisse Aufrichtigkeit ebenso bekennt wie die Motivation ihrer Bemühung um ein tätiges Christentum durch die Heilige Schrift. Es muß ihr also - wie es ihre Rede von den Lästerungen ja ohnehin längst verraten hat - völlig evident gewesen sein, daß die Kritik an ihrem Verhalten - gemessen an ihren eigenen Maßstäben - unchristlichen und daher gänzlich verwerflichen Beweggründen entsprang. Warum also dann die Bitte: „Ach, mein Gott, tue mir doch kund, worinnen ich meinem Nächsten anstößig bin ..."? Inszeniert wird hier eine naive Ahnungslosigkeit, und als inszenierte ist sie scheinheilig. Nicht wirklich wünscht die Petersen in ihrer Zwiesprache mit Gott Besinnung auf mögliche sachliche Beweggründe für die Anfeindungen ihrer Umgebung bei Hofe - weshalb nur, mag sich der Leser fragen, erkundigt sie sich nicht direkt bei ihren Nächsten? - , sondern vielmehr eine durch die religiöse Meditation vermittelte affirmative Selbstvergewisserung. So verwundert es dann auch nicht, daß ihr schließlich „aus seinem [Gottes - M.S.] Worte offenbar wurde", ihre Kritiker seien Scheinchristen, welche die praktischen Konsequenzen ihrer Reden scheuten: „Darauf", so nun das unumwundene und selbstgefällige Resultat der göttlichen Unterredung, „gab ich mich zufrieden und lernete mich freuen, daß ich würdig wäre, um seines [Gottes M.S.] heiligen Namens willen geschmähet zu werden..." Das Gespräch mit Gott dient der jungen Frau nur gleichsam als Verstärker einer bereits unirritierbaren Superioritätsgewißheit. In der Tat: Nicht existentielle Selbstinfragestellung konturiert das religiöse Profil der Petersen, sondern deren Gegenteil: die Selbstaffirmation einer religiösen Gesinnung. Ihr Glaube ist freilich aufrichtig und tief empfunden, denn die ihr lebensgeschichtlich gestellte Aufgabe sieht die Autobiographin eben darin, diesen Glauben öffentlich zu bekennen und zu einer kompromißlosen Gestaltungsmacht in ihrem praktischen Leben werden zu lassen. Vor dem Hintergrund dieser einleitenden Passagen aus der Autobiographie der Petersen ist es natürlich von Interesse, worin die religiöse Selbstaffirmation der Verfasserin gründet. Was, so gilt es zu fragen, fundiert ihre Gesinnung, deren Aufrichtigkeit sie, darf man ihrem Selbstzeugnis Glauben schenken, zu keinem Zeitpunkt ihrer religiösen Bildungsgeschichte in Zweifel gezogen hat? Die Antwort darauf muß berücksichtigen, was die Autobiographin im Zusammenhang dieser Bildungsgeschichte für darstellungswürdig erachtet, mit welchen Geschichten sie für die sich entwickelnde, exemplarische Frömmigkeit den Boden bereitet. Franckes Lebenslauf spitzte sich sehr schnell zu auf den Gegensatz von gläubiger Weltabkehr und sündiger Zerstreuung in der Welt, auf zwei Pole seines religiösen Lebensalltags also, zwischen denen sich der Bildungsweg schließlich bis zu dem die unverbrüchliche
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Gnadengewißheit verbürgenden Durchbruchserlebnis hochschaukelte. Dieser Dualismus, wie gesagt, fehlt in Eleonora Petersens Autobiographie. Und statt der die einzelnen Geschehnisse teleologisch verknüpfenden Dynamik findet sich bei ihr ein beschauliches Nacheinander von Episoden, die weniger als integraler Bestandteil eines zielgerichteten Gesamtgeschehens gestaltet werden, als das sie, jede in ihrer Eigenart, für die substantiell von Anfang an intakte Frömmigkeit der Verfasserin sprechen sollen. Aus der frühesten Kindheit befindet sie derer zwei für erwähnenswert. Angekündigt werden sie von folgendem Bekenntnis: „Was mich belanget, so habe ich den Trieb seines [Gottes - M.S.] guten Geistes von zarter Kindheit auf empfunden, aber aus Unwissenheit demselben guten Geist oft widerstrebet und ihm in mancherlei Gleichstellung der Welt durch den weltförmigen Adelstand große Hinderungen gemacht, bis der Verstand herbeigekommen, da das heilsame Wort seine kräftige Uberzeugung in mir gewirket." 194
Auf den ersten Blick scheinen diese Zeilen der bisherigen Interpretation zu widersprechen, daß nämlich die Petersen sich geradlinig von der frommen Gesinnung des jugendlichen Gemüts zu der pietistischen Glaubensvirtuosität der Erwachsenen entwickelt habe; vielmehr scheint auch hier - ähnlich wie in den bereits vorgestellten Selbstzeugnissen ein Gang der Entfremdung von den ersten, gottseligen Anfängen angekündigt zu werden. Genauere Lektüre korrigiert diesen Eindruck indessen. Denn dem von zarter Kindheit an empfundenen „guten Geist" - eine eigentümlich allgemeine, fast säkulare, jedenfalls christlich indifferente Formulierung, die wohl am besten zu einem konfessionell unbescholtenen Kinderglauben passen mag - habe sie „aus Unwissenheit", d.h. unwissentlich, also auch unabsichtlich und mithin entgegen ihren Intentionen „widerstrebet": ihre religiöse Gesinnung wird durch dieses Bekenntnis nicht in Frage gestellt. Weiterhin schreibt sie, die Entfaltung des Heiligen Geistes „in mancherlei Gleichstellung der Welt durch den weltförmigen Adelstand" behindert zu haben. Die Abschwächung ihrer vermeintlichen Verfehlungen durch den Tatbestand, sie „unwissentlich" begangen zu haben, wird also sogar noch dadurch betont, daß sie diese von ihrem inneren Selbst abspaltet und ihrer Rolle als Standesperson zuschreibt. Insofern sie Adelige war, als Adelige handelte und - gemäß den Erwartungen ihres Umfeldes - handeln mußte, hinderte sie das Wachstum des guten Geistes „in ihrem Gemüte. Die Integrität der Person wird durch" die Rollen, die diese spielen muß, nicht diskreditiert. Diesen, allgemein der Gesellschaft, kommt vielmehr - aristotelisch gesprochen - die Funktion der steresis zu, welche die teleologische Entfal-
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Ebd., 204f.
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tung des eidos erschwert, diesem aber äußerlich bleibt. 1 9 5 Es ist evident, wie weit sich die in dieser Uberzeugung wiederum unmißverständlich artikulierte religiöse Selbstgewißheit von Luthers Verständnis des peccatum radicale entfernt hat. 9 6 So mußte denn nur der Verstand „herbeikommen", damit „das heilsame Wort seine kräftige Uberzeugung" in dem frommen Gemüt wirken und die Gläubige ihrer Gesinnung Taten folgen lassen konnte. Es gibt im übrigen in der ganzen Autobiographie nur eine einzige Stelle, w o die Petersen ausdrücklich von ihren höfischen Aberrationen berichtet, auf die sie zu Beginn, in der anfänglich ausführlich zitierten Passage anspielt. Sie habe sich, schreibt sie da, am H o f e der Herzogin „in allerlei Geschicklichkeiten von allerlei Arbeit" geübt, „daß ich sehr beliebt wurde, auch im Tanzen vor anderen den Preis hatte, welches mir die Eitelkeit lieb und angenehm machte, daß ich zur Kleiderpracht
195 Durch ihren Hintersinn verweist die zitierte Formulierung gestaltprägnant auf das soziologisch bedeutsame Faktum, d a ß sich im Medium einer innerlichkeitsakzentuierten Religiosität die frühbürgerliche Differenzierung von Individuum und Gesellschaft entfalten konnte, die Niklas Luhmann mit dem Begriff „Exklusionsindividualität" benennt, wonach der Einzelne zwar von den verschiedenen Teilsystemen der modernen Gesellschaft rollenspezifisch inkludiert wird, aufgrund deren funktionaler Ausdifferenzierung aber innerhalb dieser Teilsysteme nicht mehr als ganze Person sozial präsent werden kann (vgl. Luhmann 1989, 158). Die Institutionen innerlichkeitsakzentuierter Religiosität wären demnach Orte außerhalb der Gesellschaft, in denen sich die Individuen ihrer Exklusivität zugleich bewußt werden und versichern können. Welche negativen Konsequenzen sich aus dieser Entgesellschaftlichung des Individuums - und, vice versa, seiner Privatisierung - f ü r dessen Individuierungschancen ergeben, hat Michael Theunissen eingehend anhand der modernen Wirkungsgeschichte des Begriffs „Selbstsein" untersucht (Theunissen 1982). Letztlich laufen sie darauf hinaus, die Individualisierung des Einzelnen gegen seine Individuierung auszuspielen. So setze sich laut Theunissen spätestens im nachhegelschen Denken die Meinung fest, „der Mensch könne seine Individualität nur entfalten, wenn er sich aus gesellschaftlichen Verhältnissen löst oder sich gar von allen zwischenmenschlichen Beziehungen zurückzieht" (ebd., 2). Gerade hierfür gibt J o h a n n a Eleonora Petersen ein konkretes und sinnfälliges Anschauungsbeispiel. Modern gesprochen, sucht sie auf religiösem Wege, sie selbst - und zwar im Gegensatz zur (höfischen) Gesellschaft zu werden und zu sein. „ D a ß ich ich selbst sein will, heißt auch und nicht zuletzt: Ich will mehr und anderes sein als das, was ich in meiner sozialen Funktion bin . . . D e r Begriff des Selbstseins entwirft geradezu eine Alternative zu diesem rollenhaften Ais-Sein, zu dem Sein, das mir als Glied von Gemeinschaften zukommt. E r löst, in einen anderen Begriff übersetzt, der nicht zufällig ebenfalls H o c h k o n j u n k t u r hat, die persönliche von der sozialen Identität ab" (ebd., 3). Abgesehen davon, d a ß Theunissen die seit Ferdinand T ö n nies gebräuchliche und hilfreiche Unterscheidung von Gemeinschaft und Gesellschaft unterläuft, ist die Pointe plausibel: durch den Verlust der Allgemeinheit (durch Negation der sozialen Identität) wird die personale Identität abstrakt, büßt ihre Welthaltigkeit ein. Individualisierung resultiert mithin im Gegenteil dessen, was ihr Begriff suggeriert. Eben diese Konsequenz ist ein zentrales Problem der pietistischen Religiosität und zugleich Signum ihrer Modernität. 196
Vgl. Ebeling 1985, 77ff.
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und dergleichen Eitelkeiten rechte Belieben hatte, weil mir's wohl anstünde und von jedermann gerühmet wurde, auch war niemand, der jemals gesagt hätte, daß es nicht recht wäre, sondern lobeten solche Eitelkeiten an mir und hielten mich für gottselig, weil ich gerne las und betete und in die Kirche ging und oft die Predigt in allen Punkten wiedererzählen konnte; ich wußte, was das vorige Jahr über solchen Text war geprediget worden, da war es überall gut Ding und ward von Geistlichen und Weltlichen vor eine gottselige Jungfrau gehalten, und ob ich gleich mit Liebe und Lust in der Gleichstellung der Welt meinen Wandel führete und in die wahre Nachfolge Christi noch nicht getreten war". 197 Im Unterschied zu den bisher untersuchten Lebensläufen zieht Petersen hier nicht die Aufrichtigkeit und Angemessenheit ihrer Frömmigkeitspraxis in Zweifel - etwa so, wie Burcken drastischerweise im Modus der bestimmten Negation jede seiner Frömmigkeitsäußerungen widerrief - , sondern sie kritisiert sich wegen der Gleichzeitigkeit von gesinnungsmäßigen religiösen Handlungen und weltlichen Händeln, in denen sie sich eben vorfindet, ohne über deren Gefährlichkeit für das fromme Gemüt unterrichtet worden zu sein. So sei sie eben noch nicht in die wahre Nachfolge Christi getreten, was hier heißen soll: in die eigentliche, dem Sinn des Begriffs vollends entsprechende, nämlich praktische Nachfolge, die sich bewußt von der Welt abkehrt. Gesinnungsmäßig dagegen hielt sie es auch damals schon mit der imitatio Christi. Nun also zu den beiden Kindheitsepisoden, die den Lesern die frühe Frömmigkeit der Autobiographin verdeutlichen sollen, welche sich fortan bis zu der Einsicht weiterentwickelt, sich selbst auf eine Frömmigkeitspraxis hin zu transzendieren, die das bisherige Leben hinter sich läßt. Da kehrt die Mutter mit den Kindern, die „wegen Kriegesunruh" aus das Land gezogen waren, wieder nach Frankfurt zurück und muß auf ihrem Weg einem Trupp Soldaten ausweichen, die mit Schall und Schüssen nahebei durch die Felder streichen. Als sie sich schließlich in Sicherheit vor den rauhen Landsknechten finden, sinkt die Mutter zu Boden, um ihrem Gott für die Errettung aus der Not zu danken. Die ältere Schwester Johanna Eleonoras dagegen fragt die Mutter, warum die Gott denn danke, da die Soldaten ihnen in der Stadt doch nicht mehr gefährlich werden könnten. Die Autobioraphin erinnert sich nun in folgender Weise ihrer Reaktion auf die ungebührliche Frage: „Da habe ich in meinem Herzen eine rechte Empfindung über diese Rede gehabt, daß mich's recht geschmerzet, daß sie Gott nicht danken wollte oder meinete, daß es nun nicht nötig wäre; das bestrafete ich an ihr mit brünstiger Liebe gegen Gott, dem ich von Herzen dankte. Item ich beredet wurde, daß die Bade-
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mutter die Kinder aus dem Himmel holete, habe ich großes Verlangen gehabt, mit der Bademutter zu reden und habe ihr anbefohlen, den Herrn J e s u m Christum herzlich zu grüßen, und habe soviel von ihr begehret zu wissen, ob der liebste Heiland mich auch lieb hätte, welches ich mit sehr inbrünstiger Liebe empfunden: D a s waren also die ersten Kinderbewegungen, so ich mich gar eigentlich erinnern k a n n . " 1 9 8
Die ganze Episode zielt auf den ersten der zitierten Sätze hin, denn dieser fängt die Plötzlichkeit der Empörung gegen das Verhalten der Schwester ein. Das affektive Betroffensein fungiert hier als ein quale, dem die Bedeutung eines religiösen Befähigungsausweises zugesprochen wird. Maßstab des Glaubens ist die „rechte Empfindung", deren Rechtmäßigkeit ihrerseits nicht rational begründet, sondern in ihrer unmittelbaren Gewißheit absolut gesetzt wird und welche als solche unwillkürlich von der Gnade Gottes Zeugnis gibt. Sie soll das junge Mädchen religiös untrüglich qualifizieren, und zwar so, daß sie sich zugleich vor der Schwester auszeichnet. Nur um dieser Sensitivität des Glaubens willen wird die Episode überhaupt erzählt. Sogar die ganze widersprüchliche Dynamik der pietistischen Frömmigkeit kommt in Petersens Schilderung ihrer Reaktion auf die unbekümmerte Frage der Schwester zum Ausdruck, allerdings in völlig harmonisierter Form: zunächst, wie gesagt, der Akzent auf die Normativität einer unwillkürlichen religiösen Sensation, dann aber auch, schon in den nächsten Worten, der Anspruch, diese Unwillkürlichkeit zu instrumentalisieren. Denn der Schwester unbilliges Betragen „bestrafete" die Petersen „mit brünstiger Liebe gegen Gott". Während die erste Empfindungsreaktion noch plötzlich eintrat („Da habe ich . . . eine rechte Empfindung ... gehabt"), wird nun schon die „brünstige[] Liebe" als Strafe intendiert, als ob sie willkürlich verfügbar wäre. Deutlich ist hier der leistungsethische Anspruch, dem das religiöse Innenleben bei gleichzeitiger Erwartung seiner Spontaneität unterstellt wird. Denn wie die Petersen nun einerseits - um der Schwester einmal zu zeigen, wie man es recht macht - die vom Volksglauben überlieferte Bademutter in ihrer einfältigen Frömmigkeit bittet, „den Herrn Jesum Christum zu grüßen" und ihn angelegentlich zu fragen, ob er sie, das Herzenskind, denn auch „lieb hätte", so wird die Antwort Jesu auf diese Frömmigkeitsdemonstration vor der Schwester wiederum als „mit sehr inbrünstiger Liebe empfunden" prädiziert. Diese harmonische Komplementarität aus affirmativer Glaubensreflexion - so nämlich, daß bereits vom Kind ausgesagt wird, es habe anderen, hier: der Schwester bewußt ein Beispiel gegeben, wie es geht - und
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E b d . , 205.
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spontanem affektiv- religiösem Empfinden wird im weiteren Verlauf der Lebensgeschichte letztlich niemals gebrochen. Die zweite Kindheitsepisode, welche die Petersen einer Charakterisierung ihrer religiösen Bildungsgeschichte für wert erachtet, ist nicht minder schlicht. Sie findet die Mutter im Bette, weinend über die Nachricht, aus einer ihr bekannten adeligen Jungfer sei eine Hure geworden. Und die Reaktion des Kindes: „ D a wußte ich zwar ganz nicht, was eine H u r e war, aber ich gedachte doch bei mir, daß es sehr böse sein müßte, weil die selige Mutter so weinete, und ging allein beiseits, fiel auf meine Knie und betete mit Tränen zu G o t t , er solle mich doch bewahren, daß ich keine H u r e würde. Dieses einfältige Kindergebet hat der treue G o t t also gnädiglich erhöret, daß er mich nicht allein vor Gelegenheit behütet, sondern auch ein solches H e r z gegeben, daß ich einen Greuel an unkeuschen Reden und G e b ä r d e n gehabt und in keiner Gesellschaft geblieben, wo es nicht keusch und ehrbar z u g e g a n g e n . " 1 9 9
Zweifellos soll auch diese Episode irgendwie repräsentativ sein für die kindliche Frömmigkeit, die der Autobiographin zur lebensgeschichtlichen Motivierung ihres religiösen Selbstbewußtseins dient. Nur ist nicht unmittelbar ersichtlich, was an der Reaktion des Kindes im eigentlichen Sinn fromm sein soll. Eher verrät sie eine nervöse Empfindlichkeit des Gemütes, und bezeichnenderweise muß selbst diese herhalten als Ausweis für dessen gnadenvolle Herausgehobenheit aus seiner Umgebung - ein besonders eindrücklicher Beleg für die Positivierung des Glaubensverständnisses in der abstrakten, weil selbstzweckhaften Sensitivität der schönen Seele. Im Fortgang des Textes bestätigt sich diese Haltung der von der pietistischen Reflexion substantiell unangefochtenen Positivität des sensitivierten Glaubenslebens. Einen Verinnerlichungsschub scheinen dabei die Schatten herbeizuführen, die sich auf die Beziehung zwischen der Petersen und ihrem Verlobten, dem Obristen Bretewitz legen. Auf die kolportierten Gerüchte über die freizügige Lebensweise des Offiziers fern bei seinen Soldaten reagiert die junge Frau gleichsam durch Selbstimmunisierung mittels Rückzug in ein phantasiereiches Frömmigkeitserleben. Sie habe alles, was sie von dem Verlobten erfahren, dem Höchsten anheimgestellt und sich näher mit diesem zu vereinigen gesucht. Auffällig ist, daß sie dort, wo sie von der drohenden Entzweiung mit ihrem Verlobten berichtet, zugleich ihre Vereinigung mit Gott betont. Es bleibe dahingestellt (weil diese Frage abseits unseres Weges liegt), ob die Vereinigung mit dem Höchsten für ihre Entzweiung mit dem - wie sich jetzt abzuzeichnen beginnt - Niedrigsten, weil Wortbrüchigen und
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Ebd., 206.
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für die mit dieser Entzweiung verbundenen enttäuschten Erwartungen kompensieren soll. Sehr wahrscheinlich - dies wäre eigens im Text zu analysieren - hat die mißlungene Liason begünstigt, was zweifellos bereits im Frömmigkeitsprofil der Petersen angelegt war: eben jenes sensitive Frömmigkeitsverständnis, das sie im Zusammenhang mit der Bretewitzepisode als Suche nach der Vereinigung mit Gott prädiziert. Wie nun schildert sie diese Suche? „Dabei wurde mir manche Erquickung in Heiliger Schrift mitgeteilet, bald im Schlafe durch göttliche Träume, da ich mit solcher Kraft die Worte der Schrift redete und drob aufwachte, daß meine Gespielin, welche ein gottseliges Herz hatte, oft sehr darüber betrübt wurde, daß sie dergleichen nicht empfing; diese tröstete ich immer damit, daß sie mich vor ein solches Kind ansehen sollte, welches von dem Vater mit Zucker gelocket würde, sie aber wäre bewähret und hätte solcher Lockungen nicht nötig, welches mir auch von Herzen ging. Denn ich sah wohl, daß die Welt mich an sich zog um des freudigen Geistes, der in mir war. Mein Gott aber zog mich durch seine Freudigkeit und Liebe zu sich und schloß mir oft das Wort also auf, daß sich mein Leib und Seel drob erfreuten, darin ward ich immer mehr gestärket." 200
Bei der Suche nach Vereinigung mit dem Höchsten sei ihr „manche Erquickung in Heiliger Schrift" mitgeteilt worden. Als ermutigende Wirkung ihrer Bemühung nennt sie also nicht etwa - wie Luther in der Niederschrift seines Turmerlebnisses, um ein besonders kontrastives Beispiel zu nennen - die erhellende Einsicht in den bisher verschlossenen Sinn des heiligen Wortes, aber auch nicht die Erfahrung eines existentiellen Ergriffenseins durch die Imperative der christlichen Lebensform, sondern vielmehr einen Zustand, den man gemeinhin im weitesten Sinne mit ästhetischem Genuß assoziiert. Erquickung, also Belebung, Vitalisierung schreiben wir der Wirkung geistiger Getränke zu, der Stillung eines leiblichen Bedürfnisses - so kann eine Mahlzeit, in der Sommerhitze ein Eis oder eine Brause erquicken - und der Erholung von Anspannung in der Muße. Erquicklich ist alles, was Körper und Gemüt belebt, und an solchen Dingen, so kann man auch sagen, ergötzen wir uns. Indessen ist die Erquickung gänzlich indifferent gegenüber dem Bereich des Moralischen, wiewohl wir uns vielleicht auch am beispielhaften Verhalten anderer erquicken können. Denn Erquickung bezieht sich ausschließlich auf das subjektive Gefühl der Lust, das durch ein erquickliches Objekt erzeugt wird, sie zielt auf eine bestimmte Art der lustvollen Selbsterfahrung. Wer sich also von der Heiligen Schrift erquicken läßt, tut das in der Haltung einer Person, die im Anderen der Schrift nicht die Herausforderung des eigenen Vorverständnisses (der
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Ebd., 214.
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Schrift wie auch seines eigenen Christseins), sondern die Bestätigung des Selbst sucht. 2 0 1 Nun wurde der Petersen die Erquicklichkeit der Bibel nicht einmal durch die Verstehensanstrengung der Lektüre als solcher vermittelt, sondern - in sonderbarer Zuspitzung ihres Sensitivismus - „durch göttliche Träume, da ich mit solcher Kraft die Worte der Schrift redete und drob aufwachte". Im Traum wird die trennende und zergliedernde Tätigkeit des Intellektes suspendiert und die Subjekt-Objekt-Spaltung vorübergehend zugunsten einer Unmittelbarkeit aufgehoben, in der Denker und Gedanke in ihrer Unterschiedenheit vom Träumer nicht mehr wahrgenommen werden. Im Traum ist das Geschehen der Bibel nicht mehr Erzählung, zu der sich der Leser in ein Verhältnis setzt, sondern (irreale) Wirklichkeit, in die er abstandslos eintaucht - die Petersen träumte offenbar sogar so heftig, daß sie noch im Schlaf aus den Texten rezitierte, die sie tagsüber gewissenhaft durchgenommen haben mag. Erquicklich wirkt die Bibel also vor allem in der Erinnerung an den abstandslos erfahrenen Trauminhalt, der im Erwachen, im Manifestwerden zugleich verdämmert und im Verdämmern noch das Gefühl des Einbegriffenseins in die Geschichten der Schrift vermittelt; erquicklich wirkt die Aufhebung des symbolisch vermittelten Bedeutungsverstehens in, wenn auch illusorische, weil eben traumhafte Wirklichkeitserfahrung, das sensitive Ergriffen- und Einbegriffensein im Hier und Jetzt des Traumes. Die Petersen hat sich aber nicht nur - folgen wir der Darstellung der zitierten Passage - in dieser unorthodoxen Weise ihres Gottes versichert, sondern sie zugleich als Superioritätsausweis gegenüber ihren Mitmenschen verstanden, die derlei träumerische Einfühlung ins Biblische nicht vorweisen konnten. Ihre „Gespielin" - vermutlich eine andere Frau im Dienste der Herrin - „tröstete" sie wegen deren Untalentiertheit fürs Träumen damit, daß sie, Petersen, durch solchen Gnadenerweis „von dem Vater mit Zucker gelocket würde", die andere diesen Zuspruch dagegen gar nicht nötig habe, „welches" - wie sich die Autobiographin noch anzufügen beeilt - „mir auch von Herzen ging". Nun spenden wir Trost demjenigen, dem Schmerzhaftes widerfuhr, und zwar nur dann, wenn der Schmerz als seiner Ursache irgendwie angemessen anerkannt wird. Wir trösten Eltern, deren Kind eine schwere Krankheit durchmacht, nicht aber solche, die über einem simplen
2 0 1 Diese affirmative Selbstbezüglichkeit wird innerhalb der ästhetischen Erfahrung von ihrem Gegenteil her deutlich, das nichts weniger als erquicklich ist: die Ergriffenheit durch das Erhabene. D a s Erhabene aber ist die säkularisierte Theophanie, in ihr ereignet sich ästhetisch, was religiös als „mysterium tremendum etfascinosum" (Rudolf Otto) erfahren wird.
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Schnupfen des Zöglings vor Dritten die Fassung verlieren. In diesem Fall sagen wir zwar vielleicht, mit Hilfe bestimmter Medikamente werde sich die Lage schon wieder bessern, aber diese Bemerkung hat den Status eines wohlmeinenden Einwandes gegen die Unangemessenheit der elterlichen Reaktion und ist mit tröstendem Zuspruch nicht zu verwechseln. Wir versuchen das aufgebrachte Paar um seiner selbst willen - weil der Verlust der Fassung für sie selbst etwas Peinliches haben muß, wenn sie erst wieder zu sich gekommen sind - von der Unangemessenheit ihres Schmerzes zu überzeugen, anstatt seine Angemessenheit durch Zuspruch anzuerkennen und lindern zu wollen. Kurzum: Tröstung setzt als geklärt voraus, daß es ihrer bedarf, und wenn wir das Wort verwenden, dann haben wir damit eben dies unterstellt. Das tut auch die Petersen, und indem sie in der zitierten Weise formuliert, erkennt sie die Betrübnis ihrer „Gespielin" darüber, daß sie keine „göttliche[n] Träume" zu träumen weiß, als begründet an. Deshalb ist das, was sie der anderen nun zum Tröste zuspricht, scheinheilig. Sie tut nämlich so, als sei von ihren Träumen nicht viel Aufhebens zu machen und suggeriert Bescheidenheit, wo in Wirklichkeit jede Silbe in Stolz und Selbstgewißheit schwimmt. Fühlt sie sich deshalb zu dem Zusatz „..., welches mir auch von Herzen ging" bemüßigt? Aber worauf bezieht sich das Relativpronomen, auf den illokutionären Akt des Tröstens (grammatisch auf das Verbum des Hauptsatzes), oder auf dessen propositionalen Inhalt, also die Worte, die sie ihrer „Gespielin" konkret zuspricht? Der Folgesatz legt es nahe, daß sich die Aufrichtigkeitsbekundung auf den Umstand des Tröstens bezieht. Also nicht der konkrete Inhalt ihres Zuspruchs - ihre falsche Bescheidenheit - ging der Petersen von Herzen, sondern die Bereitschaft zum Zuspruch als solchem. Das bestätigt die bisherige Interpretation: die Verfasserin empfindet authentisch die Notwendigkeit des Zuspruchs an andere, denn sehr ernst meint sie es mit dem Gnadenerweis Gottes an sie, dem ihre Umgebung ermangelt. Die Welt bedarf ihres Trostes, und sie habe ihn auch gesucht, denn, so die Petersen, „ich sah wohl, daß die Welt mich an sich zog um des freudigen Geistes, der in mir war". Spricht sie hier vom „freudigen Geist[]" in ihr, so im Folgesatz von Gott, dessen Freudigkeit und Liebe sie zu ihm hinzog. Die Freudigkeit des Geistes in ihr ist die des göttlichen Geistes, welcher sie erfüllt und mithin ist wohl auch die sie anziehende Freudigkeit und Liebe Gottes, von der nachfolgend die Rede ist, als solche zu verstehen, die sie innerlich empfindet. Indem sie von Gottes Freudigkeit und Liebe erfüllt ist, also durch seine Freudigkeit und Liebe in ihr, fühlt sie sich zum Höchsten hingezogen, der - wie es nun weiter heißt - ihr oft das Wort aufgeschlossen habe. Die innerlich empfundene Freudigkeit und Liebe Gottes sowie die Einsicht in das Wort Gottes werden von Peter-
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sen sprachlich nicht in ein konsekutives Verhältnis gesetzt, mit anderen Worten: ihre affektive Gestimmtheit resultiert nicht etwa daraus, daß ihr der Sinn der Verkündigung aufgeschlossen worden ist. Vielmehr wird das Gegenteil nahegelegt: erst die sensitiv empfundene Gottespräsenz in ihr habe ihr die Heilige Schrift geöffnet. Der zitierte Absatz in Petersens Lebensbeschreibung, der von der Frömmigkeit der erwachsenen Hofjungfer berichtet, bestätigt das Persönlichkeitsprofil, das schon die Kindheitsepisoden verrieten: eine prägnante Synthese aus sensitivem Glaubensleben, frommer Superioritätsgewißheit und substantieller Affirmativität des religiösen Selbstbewußtseins. Zentrale Bedeutung kommt dabei der religiösen Sensitivität zu, aus ihr leitet sich das affirmative Selbstverhältnis ebenso her wie das Uberlegenheitsgefühl gegenüber dem Durchschnittschristentum. Das Leistungsethos dieser Frömmigkeit, das in der ersten Kindheitsepisode die Darstellung ihrer Beziehung zu der Schwester bekundete, wird sich daher nicht vornehmlich darin zeigen, ein wie bei Francke oder Schumacher grundsätzlich beargwöhntes frommes Empfinden willkürlich bis zur letztendlichen, unhinterfragbaren Glaubwürdigkeit zu steigern, sondern in der Selbstnötigung zur lebenspraktischen Umsetzung der grundsätzlich als psychisch intakt empfundenen Frömmigkeit, und zwar durch die konsequente Abkehr von den Verhaltenskonventionen eines - aus der Sicht der Autobiographin - unchristlichen Lebens bei Hofe. Eben in diesem Zusammenhang verwendet die Petersen wiederholt die Durchbruchsmetapher, die bei Francke strikt auf ein psychisches Geschehen bezogen war. Sie tut das in der Mainschiffepisode, welche ihre Bekanntschaft mit dem (ungenannt bleibenden) Senior des Frankfurter Predigerministeriums Philipp Jakob Spener schildert. Ihre Darstellung dieser Begegnung konzentriert sich vornehmlich aufs Atmosphärische. Durch göttliche „sonderbare Schickung" habe der Geistliche auf dem Schiff neben ihr Platz genommen und zwischen den beiden sich ein geistlicher Diskurs entsponnen, „welcher etliche Stunden währete, also, daß die vier Meilen von Frankfurt bis Mainz, allwo er ausstieg, mir nicht eine Viertelstunde deuchte, und redeten ohne Aufhören zusammen, daß nichts anders war, als ob er in mein Herz sähe und alles hervorkam, was mich bis dorthin noch in Zweifel gehalten .. ." 202 Über die Dinge, die während ihres Diskurses erörtert wurden, verrät die Petersen indessen nichts, und zwar sicherlich nicht deshalb, weil sie diese als unpassend für den begrenzten Raum einer Lebensgeschichte halten würde - wenige Seiten später läßt sie sich ausführlich
202
M a h r h o l z 1921, 218.
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über die geistlichen Aufschlüsse aus, die ihr Gott in ihrem Leben gewährt habe. 203 Vielmehr kommt es der Autobiographin weniger auf den gedanklichen Gehalt ihrer Unterredung an, als auf dessen sensitive Wirkung, die sie ihrerseits wiederum der Gnade Gottes zuschreibt. Auch sei ihr an ihrem Reisegefährten gewahr geworden, „daß er solche Einsicht hatte und den Grund meines Herzens mir vorsehen konnte, auch solche Niedrigkeit, Sanftmut, heilige Liebe und Ernst, den Weg der Wahrheit zu erkennen zu geben, da wurde ich recht getröstet und sehr gestärkt und suchete durchzubrechen .,." 2 0 4 Es ist die Wirkung des Mannes, die Aura seiner Persönlichkeit im Hier und Jetzt des Gesprächs, die sie zum Durchbruch bewegt, und der wiederum wird in der Bestätigung ihres religiösen Selbst im äußeren Handeln, insofern in praktischer Selbstverwirklichung gesucht. „Das Gleichnis von den fünf törichten Jungfrauen, und dergleichen heilsamen Orter Heiliger Schrift waren immer in meinem Herzen und trieben mich an, die Gleichstellung der Welt von mir abzulegen, und war doch die Furcht vor der Herrschaft bei mir noch, die ich nicht überwinden konnte. Da tanzete ich oft mit Tränen und wußte mir nicht zu helfen. Ach, dachte ich oft, daß ich doch eines Viehhirten Tochter wäre, so würde mir ja nicht verdacht, in der einfältigen Nachfolge Christi zu wandeln, es wäre kein Aufsehen auf mich. Als ich aber erkennete, daß mich kein Stand entschuldigen wollte, weil ich dem allen absagen müßte, so ich Christi Jünger sein wollte, und mich nichts hindern könnte, so ich die Schmach der Menschen an die Seite setzete und die gerne erdulden wollte, um Christi teilhaftig zu werden." 205
2.5. Abschließende Überlegungen zur Phänotypik religiöser Sinnbildung im Pietismus Finden sich nun die in der Zwischenbetrachtung in heuristischer Absicht formulierten und in den übrigen Lebensläufen sinnfälligen Strukturmerkmale der pietistischen Religiosität, die Sensitivierung, Reflexivierung und Ethisierung des Glaubenslebens sowie die Selbstcharismatisierung des Gläubigen gleichermaßen in der Lebensbeschreibung der Petersen? Und in welchem Zusammenhang stehen sie in ihrer Lebensbeschreibung zueinander? Für die Ethisierung der Frömmigkeit im Pietismus sowie für die Selbstcharismatisierung des pietistischen Gläubigen ist die Lebensbeschreibung der Petersen ein nicht minder prägnantes 203 204 205
Ebd., 2 3 I f f . Ebd., 218. Ebd., 219.
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Beispiel als die übrigen untersuchten Texte. Aber auch die anderen beiden - und, wie gesehen, für die religiöse Sinnbildung im Pietismus eigentlich zentralen - Strukturmerkmale sind deutlich erkennbar. Was sie bedeuten, sei noch einmal kurz in Erinnerung gerufen: Sensitiviemng wurde als die positive Identifizierung, Fixierung und Aneignung der erhofften Gnade in dem psychischen und somatischen Heilserleben meditativer Zwiesprache oder mystischer Vereinigung der in sich einkehrenden Gläubigen mit ihrem Gott definiert, 2 0 6 und in diesem Sinne zeugen die Lebensläufe so unterschiedlicher Pietisten wie Burcken, Francke und Johanna Eleonora Petersen gleichermaßen für die Sensitivierung ihres Glaubenslebens und vollziehen sie auch. Reflexiviemng hieß der Prozeß, in dem Fragen der richtigen und religiös aufrichtigen Gestaltung der Glaubenspraxis durch die sich von der Welt abkehrenden reumütigen Sünder zum beherrschenden Gegenstand eben dieser Glaubenspraxis selbst werden, 2 0 7 und später ließ sich diese Definition noch einmal hinsichtlich der das sensitive Evidenzerleben des Gläubigen vorund nachbereitenden Reflexion intensional differenzieren. 2 0 8 Als vorbereitende wurde die methodische Evozierung des religiösen Evidenzerlebens charakterisiert, als nachbereitende die skeptische Selbstvergewisserung über die Authentizität und religiöse Dignität des Erlebens, die sich zu diesem Erleben entweder grundsätzlich negierend oder grundsätzlich affirmierend verhält. Wie nun alle Lebensläufe jeweils auf ihre fallspezifische Weise durch die dem religiösen Evidenzerleben zugemessene Bedeutung die Sensitivierung des Glaubenslebens bezeugen, so geben sie auch alle der reflexiven Problematisierung dieses Erlebens Raum und zeugen insofern ebenso von der Reflexivierung des Glaubens im Pietismus. Diese Gemeinsamkeiten können aber nur die Kontrastfolie für die erheblichen Unterschiede abgeben, die sich zwischen den Lebensläufen Franckes, Burckens und Schumachers (sowie mit Vorbehalten P.St.s) auf der einen Seite und der Lebensbeschreibung Johanna Eleonora Petersens auf der anderen Seite gezeigt haben. Sensitivierung und Reflexivierung stehen in beiden Lagern gewissermaßen unter einem anderen Vorzeichen. So vollzieht sich im ersten Lager die Sensitivierung durch Evozierung von Zuständen, die retrospektiv als distinkte, aus dem Bewußtseinsstrom geradezu eruptiv herausgehobene, ekstatische Gewißheitserlebnisse prädiziert werden. Strukturell korreliert ihnen, in einem internen Sinnzusammenhang, die Reflexivierung des Glaubenslebens in Gestalt einer das Evidenzerleben negierenden Reflexion. Eben weil die 206 207 208
Vgl. Teil II, 116 f. Ebd. Ebd.
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Gläubigen gegenüber ihren Gewißheitszuständen hier eine grundsätzlich skeptische, hinterfragende, zweifelnde Grundhaltung einnehmen, muß jedes neue intendierte Evidenzerleben das vormalige, welches seiner Inauthentizität überführt wurde, an Intensitäts- und Unwillkürlichkeitsanmutung übertreffen, es muß als das schlechthin Neue und Unbeschreibliche göttlicher Gnadenwirkung erlebt werden, um sich gegen den nagenden Zweifel der Reflexion behaupten zu können. Vice versa braucht das religiöse Evidenzerleben dann, wenn die reflexive Grundhaltung des Gläubigen eine tendentiell positive ist, nicht in der von Burcken, Schumacher und Francke her sinnfälligen Dramatik und ekstatischen Außeralltäglichkeit intendiert zu werden. Genau das ist bei Johanna Eleonora Petersen der Fall. Gewiß, Sensitivierung und Reflexivierung charakterisieren ihre Frömmigkeit nicht minder als diejenige August Hermann Franckes oder Samuel Schumachers, aber eben unter anderem Vorzeichen. „Bescheiden vertraute ich fremdem Ansehn; ich ergab mich völlig dem Hallischen Bekehrungssystem, und mein ganzes Wesen wollte auf keine Wege hineinpassen", schreibt die fiktive Autobiographin in Goethes Bekenntnissen einer schönen Seele,209 „Wenn ich Gott aufrichtig suchte, so ließ er sich finden und hielt mir von vergangenen Dingen nichts vor. Ich sah hintennach wohl ein, wo ich unwürdig gewesen, und wußte auch, wo ich es noch war; aber die Erkenntnis meiner Gebrechen war ohne alle Angst." 210 Die Gemeinschaft mit dem Höchsten gestaltet sich harmonisch und ist frei von Argwohn: „In dem Umgange mit dem unsichtbaren Freunde [gemeint ist Gott - M.S.] fühlte ich den süßesten Genuß aller meiner Lebenskräfte." 211 Dieses Bekenntnis paßt grundsätzlich auch auf Johanna Eleonora Petersen. Die Bußkampfdynamik im Sinne Franckes bleibt ihrer Frömmigkeit fremd. Der Zugang zu Gott gelingt direkt, unverstellt und merkbar in der „Erquickung" von Leib und Seele durch die Heilige Schrift. Das sensitive Evidenzerleben göttlicher Gnadenwirkung, das auch bei der Petersen im Zentrum der praxis pietatis steht, wird also nicht - wie bei Francke, Burcken und Schumacher - einer inquisitorischen Reflexion unterzogen, welche die Authentizität des Erlebens unter Generalverdacht stellt. Deshalb beschränkt sich ihr religiöses Leistungsethos auf die praktische Selbstverwirklichung gemäß ihrer religiösen Gesinnung - wobei es dann allerdings zu Krisen kommen kann, wenn Mut und Entschlossenheit zum praktischen Christentum schwächein - , und muß sich nicht schon in der Herbeizwingung eines als schlechthin reflexiv unhintergehbaren Evidenzerlebnisses be209 210 211
Goethe 1949ff, Bd. 7, 388. Ebd. Ebd., 390.
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währen, welche das „wahre" Christentum des Gläubigen gleichsam auf den Punkt bringt. Welche Konsequenzen ergeben sich daraus für die Funktion der Autobiographie? In den Fällen Burckens, Schumachers und Franckes artikulierten die Lebensläufe die Dialektik von religiöser Empfindungsbzw. Erlebensgewißheit und skeptisch-destruktiver Analyse der Gewißheitsbedingungen. Die negierende Reflexion des Bußkampfes nahm hier die Gestalt der bestimmten Negation aller positiven Erlebensgewißheiten an und resultierte in zweierlei: sowohl einem erhöhten Gewißheitsanspruch des Gläubigen als auch einer umso wachsameren Selbstbeobachtung. So wurden diese Lebensläufe als Medium durchsichtig, das die Aufhebung der selbstentzweienden Dynamik von Sensitivierung und Reflexivierung des Glaubenslebens im Zustand der Wiedergeburt und Erneuerung bezeugen und zugleich gleichsam herbeischreiben konnten. Die Objektivität der Sprache zementierte so die nur allzu subjektive, an das Hier und Jetzt präsentischen Erlebens gebundene Evidenz der Gottesgegenwart, verstetigte sie durch symbolische Prägnanz und half so, für neue Situationen des religiösen Erlebens zu prädisponieren. Insofern diente die Lebensbeschreibung als integraler Bestandteil einer Krisenlösung - vor allem am Lebenslauf Franckes war das herausgearbeitet worden. Die Petersen dagegen wird gar nicht mit dieser Art von Krise konfrontiert, ihre Lebensbeschreibung kann daher auch nicht die Funktion haben, den Sprengsatz einer aporetischen Frömmigkeit zu entschärfen. Aber sie kann dem umgekehrten Ziel dienen: der Verhinderung nämlich, daß sich die Frömmigkeit in die Aporie eines Bußkampfes hineinziehen lasse, und zwar dadurch, daß sie im Modus der affirmierenden Reflexion die Gültigkeit des unwägbar subjektiven Gotteserlebens objektivierend bezeugt - womit sie das tut, wozu Francke und Schumacher sich erst nach dem, was sie als ihre Bekehrung erinnern, für fähig befanden. Wie schreibt die Petersen gleich zu Beginn ihrer Autobiographie: „Dem [gemeint ist „der christliche Leser" - M.S.] bezeuge ich aber vor dem Angesicht Gottes, daß es des Herrn Kraft und sein allmächtiges Wort gewesen, so mich von der vergänglichen Lust abgezogen, der mich von groben Sünden, so die Welt strafen kann, bewahret, und niemand auf dieser Erden sein wird, der mir mit Wahrheit ein einziges Stück von allen Lästerungen, so gegen mich ausgesprenget, nachsagen kann, sondern ein jeder wird gestehen müssen, daß es anderer Leute Wind und Worte sind, die er gehöret und ohne Fluch geglaubet." 212 Warum, so muß sich der Leser fragen, legt es die Autobiographin überhaupt darauf
212
Mahrholz 1921, 203.
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an, vor der Welt Rechenschaft über ihr Tun abzulegen, das Bild, das die Öffentlichkeit sich von ihr macht, zu beeinflussen und notfalls zu korrigieren? Ihre Lebensbeschreibung verrät schließlich eine stupende religiöse Selbstgewißheit, und es besteht auch kein Zweifel daran, daß sie es mit der Abkehr von der Welt ernst meinte und sie tatsächlich vollzogen hat. Muß ihr nicht das Urteil der Welt gleichgültig bleiben, zumal doch ihr Leben, ihr Tun - so jedenfalls würde ich die Logik ihres religiösen Denkens paraphrasieren - für sich selbst spricht und sich im rechten oder falschen Urteil über dieses Tun die Gerechten von den Sündern scheiden! Sehr wahrscheinlich wird man ihr einen großen Ehrgeiz unterstellen dürfen, mit ihrem Lebenslauf gleichsam vor den Augen des Lesers zu paradieren wie die siegreichen Soldaten nach ihrer Heimkehr aus dem Krieg vor den Zivilisten. Aber das ist keine hinreichende Erklärung für ihre Rechenschaftsablegung. Die Lebensbeschreibung soll ihr Handeln, das von mißgünstigen Zeitgenossen verdunkelt worden sei, ins rechte Licht rücken. Ihr Leben spricht eben doch nicht für sich, sondern bedarf der Symbolisierung, welche seine vielfältig ausdeutbare chaotische Mannigfaltigkeit an Situationen und Geschehnissen im Sinne der von der Petersen erstrebten Lebensform des „wahren" Christentums seiegierend und wertend vereindeutigt. Das gelebte Leben ist nur mehr als erinnertes Leben und die erinnernde Rechenschaftsablegung vor anderen zugleich Ausdruck der - möglicherweise ganz unwillkürlichen, nicht eigens thematisierten - Entscheidung: So war es! So sollte es sein! Bereits in der Zwischenbetrachtung war, nach Auswertung der vorgestellten pietistischen Erbauungsliteratur, die Hypothese formuliert worden, daß es einen internen Zusammenhang zwischen Autobiographik und praxis pietatis gebe, weil diese in der Bemühung um Evozierung des zuständlichen Bewußtseins sensitiver Gottesgegenwart zentriert sei. Wo aber die religiöse Identität im zuständlichen Bewußtsein sensitiven Gotteserlebens - mit Hegel gesprochen: in der sinnlichen Gewißheit - fundiert werde, bedürfe es - so die Argumentation - zwingend einer Instanz symbolischer Objektivierung, denn das zuständliche Bewußtsein ist wie der Klang der Stimme, die noch im Hier und Jetzt verklingt und unwiderruflich verklungen ist. Identität kann niemals auf der sinnlichen Gewißheit als solcher beruhen, sondern nur auf einer wahrhaftig erinnerten, mit anderen Worten: auf der symbolisch vermittelten Gewißheit. Und die Autobiographie ist ein privilegiertes Medium, in dem sich diese Vermittlung vollziehen kann. Die Analyse der Lebensläufe von August Hermann Francke, Johann Philipp Burcken, Samuel Schumacher, P.St. und schließlich Johanna Eleonora Petersen haben beides in exemplarischer Weise herausarbeiten können: sowohl die funktional zentrale Bedeutung der sinnlichen Gewißheit im Glaubens-
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leben der Pietisten, welche durch den Begriff „Sensitivierung" bezeichnet wurde, als auch die funktionale Relevanz einer reflexiven Objektivierung dieser Gewißheit im Medium der autobiographischen Selbstbezeugung. Sensitivität und Reflexivität greifen auf diese Weise in einem Bildungsprozeß fortschreitender Innerlichkeitsakzentuierung der Persönlichkeit ineinander. Dem Schlußteil der Arbeit obliegt es nun, analog zu Teil II, aus den Ergebnissen der Analysen die begrifflichen Schlußfolgerungen zu ziehen.
IV. Autobiographik und Selbst(er)findung „Durch denselben Akt, vermöge dessen der Mensch die Sprache aus sich herausspinnt, spinnt er sich in dieselbe ein ..." Wilhelm v. Humboldt
1. Reflexive Selbstsymbolisierung ... Die Geschichtsschreibung, so Aristoteles in seiner Poetik, habe es mit dem Besonderen und Kontingenten zu tun, weshalb sie weniger philosophisch und ernsthaft sei als die auf Allgemeinheit zielende Dichtung. 1 Dieser weist er damit eine Aufgabe zu, der sich im Grunde noch die Literatur des 19.Jahrhunderts verpflichtet fühlte. „Der Realismus", schreibt Theodor Fontane in dem für sein Kunstverständnis programmatischen Aufsatz Über unsere lyrische und epische Poesie seit 1848, „will nicht die bloße Sinnenwelt und nichts als diese; er will am allerwenigsten das bloß Handgreifliche, aber er will das Wahre."2 Das ist gut aristotelisch gedacht. Doch was Fontane hier so bündig formuliert, birgt ein gewisses Problem. Denn offenbar will der Realismus zwar die Wirklichkeit erfassen, aber andererseits soll die wahrheitsfähige Bezugnahme auf sie nicht als abbildförmige Repräsentation des Seienden mißverstanden werden - eben dies würde ja gleichsam auf eine (ästhetisch redundante) Verdoppelung der „bloße[n] Sinnenwelt" hinauslaufen. Das hat Aristoteles zweifellos genauso gesehen, nur verrät sein Diktum, daß er diese Verdoppelung nicht per se zurückweist, sondern offenbar der Geschichtsschreibung vorbehält. 3 Freilich muß in Zweifel gezogen wer1
Aristoteles 1994, 29. Fontane 1963, 13. 3 Die Dichtung, schreibt er, sei Nachahmung (mimesis) sittlich bedeutsamer, allgemeingültiger und möglicher menschlicher Handlungen. Vgl. in der Poetik das 1., 2. und 9. Kapitel. Im 23. Kapitel vergleicht er eine Untergattung der Dichtung, nämlich das Epos in folgender Weise mit der Geschichtsschreibung: „... man muß die Fabeln wie in den Tragödien so zusammenfügen, daß sie dramatisch sind und sich auf eine einzige, ganze und in sich abgeschlossene Handlung mit Anfang, Mitte und Ende beziehen, damit diese, in ihrer Einheit und Ganzheit einem Lebewesen vergleichbar, das ihr eigentümliche Vergnügen bewirken kann. Außerdem darf die Zusammensetzung nicht der von Geschichtswerken gleichen; denn dort wird notwendigerweise nicht eine einzige Handlung, sondern 2
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den, ob der Chronist, den Aristoteles in das unphilosophische Terrain eines historiographischen Positivismus abschiebt, wirklich ganz ohne das Allgemeine, also ohne einen seinen Gegenstand erschließenden und strukturierenden begrifflichen Bezugsrahmen überhaupt auskommt. 4 Diese Frage wurde schon im zweiten Teil der Arbeit erörtert. Dort ging es darum, ob es möglich ist, durch das Studium von Quellen zu Strukturen - also zu etwas Allgemeinem - in der historischen Wirklichkeit vorzudringen, welche die Mannigfaltigkeit der konkreten Ereignisse im Dort und Einst der Vergangenheit in ihrer Bedeutung erschließen und insofern eben auch transzendieren. 5 Das wurde bejaht und durch die Analyse von Zeugnissen aus der Frömmigkeitsgeschichte des Pietismus erprobt. Und die Behauptung von bestimmten Strukturen in der historischen Wirklichkeit, hier: in der Frömmigkeitsgeschichte des Pietismus, bildet das Vergangene wiederum nicht einfach ab. Es ist evident, daß das Denken in Kategorien der Abbildung und ihrer diversen Spielarten wie Aufzeichnung, Wiedergabe, Spiegelung und dergleichen der historiographischen Wissensproduktion nicht gerecht wird. 6 Zielt auch der historische Bericht vom Besonderen und Kontingenten bereits als solcher auf Allgemeines, das in der „bloße[n] Sinnenwelt" nicht phänomenal gegeben ist und sich insofern auch nicht abbilden läßt, dann stellt sich - bleiben wir bei der Unterscheidung des Aristoteles - vielmehr die Frage nach dem Zusammenhang von Geschichtsschreibung und Dichtung. Nun suggeriert das Wort „Dichtung", das Allgemeine des Besonderen und Kontingenten sei nicht wirklich geschehen. Das Erklärungsproblem besteht mithin in der Beantwortung der Frage, ob die Historik eher Konstruktion oder Rekonstruktion von Geschichte betreibt 7 - eine Frage, die darüber hinaus noch dadurch ver-
ein bestimmter Zeitabschnitt dargestellt, d. h. alle Ereignisse, die sich in dieser Zeit mit einer oder mehreren Personen zugetragen haben und die zueinander in einem rein zufälligen Verhältnis stehen" (Aristoteles 1994, 77). Die Geschichtsschreibung handele von allen Ereignissen einer bestimmten Zeit, die dazu noch in einem zufälligen Verhältnis zueinander stünden - das ist in den Worten Fontanes die „bloße Sinnenwelt" und das „bloß Handgreifliche". 4 Das hebt auch Manfred Fuhrmann in seinen Anmerkungen zur Poetik des Aristoteles hervor, wenn er sagt, dessen Räsonnement werde dem Umstand nicht gerecht, daß die Geschichtsschreibung im Besonderen das Typische hervortreten lasse und zur Bekräftigung seines Einwandes auf Thukydides verweist (vgl. Aristoteles 1994, 29, Anm.2). Aristoteles' Gewährsmann ist Herodot. 5 Vgl. oben, II.l. 6 Es gibt energische Stimmen in der Philosophie, die behaupten, es werde der Produktion von Wissen grundsätzlich nicht gerecht. Besonders konsequent: Rorty 1987. 7 Wo es im historiographischen Methodenstreit um den Status der Erzählung für die Produktion von Wissen geht, ist das eine der zentralen Fragen. Zur deutschen Diskussion vgl. die folgenden Sammelbände: Koselleck/ Stempel 1973; Koselleck/ Lutz/ Rüsen
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kompliziert wird, daß die Aussagen des Historikers ja nicht einmal direkterweise Aussagen über das Vergangene sind, sondern solche über wiederum andere Aussagen, nämlich über diejenigen der Quellen, die als einzige noch Zeugnis vom Vergangenen ablegen können. 8 Für Hayden White, dessen Buch Metahistory unter dem Schlagwort eines New Historicism Schule gemacht hat, sind historische Erzählungen „sprachliche Fiktionen, deren Inhalt ebenso erfunden wie vorgefunden ist und deren Formen mit ihren Gegenstücken in der Literatur mehr gemeinsam haben als mit denen in den Wissenschaften". 9 White zufolge müssen wir das Geschäft der Historik als Konstruktion von Geschichte begreifen, weil allein die Summe der Fakten vorgefunden werde, dagegen deren Zusammenfügung zu einem Ganzen, zu dem also, wovon wir in den Büchern der Historiker erfahren, Erfindung sei. Erfunden wird demnach die historische Erzählung und vorgefunden der Stoff, der in dieser Erzählung schriftstellerisch, und zwar unter bewußter oder unbewußter Heranziehung aller einer bestimmten historischen Epoche eigentümlichen tropologischen Gestaltungsmittel verarbeitet wird. 10 Zur Verdeutlichung seines Standpunkts setzt White sich kritisch mit der Geschichtstheorie des britischen Historikers und Philosophen Robin George Collingwood auseinander. 11 Denn Collingwood hielt es für möglich, in den quellenförmig überlieferten Details - mit einer Formulierung Walter Benjamins - „den Kristall des Totalgeschehens" zu entdecken. 12 White bezieht sich auf Collingwoods hermeneutisch-historiographische Adaption von Kants Begriff der reinen bzw. produktiven Einbildungskraft, die, wie die Kritik der reinen Vernunft in dem Kapitel über die transzendentale Deduktion der reinen Verstandesbegriffe ausführt,
1982; Kocka/ Nipperdey 1979; Rossi 1987; Eggert/ Profitlich/ Scherpe 1990; Conrad/ Kessel 1994. Vgl. auch Stefan Ottos Problematisierung der Wissensproduktion in den Geschichtswissenschaften ausgehend von seiner Auseinandersetzung mit Diltheys Projekt einer Kritik der historischen Vernunft: ders. 1992, vor allem das 2. Kapitel. 8 Diesen Sachverhalt pointiert der französische Historiker Faurisson in unglaublich zynischer Weise, wenn er behauptet, die Existenz von Gaskammern, in denen Millionen von KZ- Häftlingen während der Naziherrschaft den Tod fanden, sei nicht zu beweisen, da er schlechterdings keinen Zeugen habe auftreiben können, der sich zur Zeit des Gasaustritts in einer dieser Zellen befunden und danach mündlich oder schriftlich darüber berichtet hätte. Vgl. dazu Lyotard 1989, 17. 9 White 1994, 124 f. 10 Zur ausführlichen Entwicklung dieser These vgl. die umfangreiche Einleitung unter dem Titel „The Poetics of History" in White 1993. Zur „Theory of Tropes" einschließlich ausführlicher Literaturhinweise ebd., 31 ff. u White 1994, 127 ff. 12 White bezieht sich auf die Geschichtstheorie des späten Collingwood, die posthum 1946 unter dem Titel The Idea of History erschienen ist.
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das in der Anschauung nur unvollständig Gegebene selbständig zur begrifflich erfüllten Vorstellung eines Gegenstandes ergänze. 13 Analog zu der transzendentalen Gegenstandskonstitution müßten die Historiker laut Collingwood an ihre Quellen „mit einem Sinn für die möglichen Formen, die verschiedene Arten von erkennbar menschlichen Situationen annehmen können, herangehen", 14 um aus dem Überlieferten das Ganze zu erschließen. Es geht Collingwood um den begrifflichen Gehalt der Quellen. Dieser ist eben, wie White seinen Referenzautor paraphrasiert, „die im Quellenmaterial enthaltene , Geschichte'", die unter der Oberfläche des Uberlieferten zum Vorschein gelange. „Und er folgerte", so White, „daß Historiker plausible Erklärungen für bestimmte Mengen von historischem Quellenmaterial geben, wenn es ihnen gelingt, die Geschichte oder den Komplex von Geschichten, der implizit in ihnen enthalten ist, zu entdecken". 15 Folgen wir Whites Referat, dann ist Collingwood ein mustergültiger Vertreter der Auffassung, daß in der Historiographie die Geschichte rekonstruiert werde. .Rekonstruktion ist nicht das Gegenteil von Konstruktion, weil - wie das Wort bescheinigt - auch der Rekonstrukteur konstruktiv tätig ist. Nur impliziert das Verständnis von Historiographie als Rekonstruktion von Geschichte, daß eine interne Beziehung zwischen dem begrifflichen Gehalt der Sache und dem Begriffsvermögen des Interpreten besteht; daß Geschichte in den Quellen zwar nicht an sich, sondern nur für uns, aber für uns in der Eigenschaft als Begriffsverwender, eben - in der Sprache Kants - als Besitzer produktiver Einbildungskraft zum Ausdruck gelange und wir folglich darauf verpflichtet seien, diese im Gestrüpp der Uberlieferung verborgene Geschichte gleichsam offenzulegen. Freilich soll von der Erörterung der Frage Abstand gehalten werden, ob Geschichtsschreibung eher im Sinne einer konstruktiven oder einer rekonstruktiven Tätigkeit verstanden werden muß. Insofern enthält sich die vorliegende Studie hinsichtlich ihrer historiographischen Anteile auch einer metatheoretischen Reflexion auf Bedingungen und Reichweite ihres eigenen Geltungsanspruchs. Vielmehr dienten die vorstehenden Überlegungen als Auftakt zu der weitaus spezielleren Frage, wie es sich mit Wahrheit und Dichtung bei einer ganz bestimmten Spielart der Geschichtsschreibung, nämlich der Lebensbeschreibung, genauer noch: der pietistischen Autobiographik verhält. Daß Geschichtsschreibung und Lebensbeschreibung etwas miteinander zu tun haben, ist ja offenkundig. Beide beruhen auf dem Besonderen und Kontingenten von Er13 Vgl. Kant 1998, Bd. II, 148f (Kritik der reinen Vernunft, Β 151 f). Vgl. hierzu auch den Gestaltbegriff in der Psychologie. Dazu Metzger 1974. 14 White 1994, 128. 15 Ebd.
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eignissen, die sie auf eine das Zerstreute zusammenfügende Bedeutungszuschreibung hin transzendieren. Nicht minder deutlich sind aber auch die Unterschiede. 16 Der Autobiograph verläßt sich zumeist auf seine Erinnerung, die zweifellos weniger verläßlich ist als die Quellen, die dem Historiker zur Verfügung stehen. Außerdem steht der Autobiograph in einer weitaus intimeren Beziehung zu seinem Gegenstand; immerhin ist es sein Leben, nicht nur das seines Volkes, seiner Kultur, seiner Epoche oder sogar allein nur seines Interesses, mit dem er sich beschäftigt. Genauer: Ist das Interesse des Historikers akademischer, intellektueller Art, so dasjenige des Autobiographen existentiell; es ist eben - wie Sören Kierkegaard gesagt hat - das inter-esse des Existierenden zwischen Denken und Sein: „Für den Existierenden ist das Existieren sein höchstes Interesse, und die Interessiertheit am Existieren die Wirklichkeit." 17 Das heißt, daß die Erinnerung des Autobiographen von vitalen Lebensbedürfnissen bestimmt wird. Der sich seines Lebens Erinnernde hört nicht auf bedürfnishaft zu leben, und sein Erinnern steht im Dienst dieses Lebens, es ist Bestandteil seiner Verwirklichung, der empraktischen Selbstbewußtwerdung als eines so und so Existierenden. 18 Im folgenden wird nun nicht die von Hayden White in gedanklicher Zwiesprache mit seinem theoretischen Kontrahenten erörterte, strikt wissenschaftstheoretische Frage nach dem Geltungsanspruch historiographischer Aussagen auf den Fall der Autobiographik bezogen und darüber nachgedacht, ob Lebensbeschreibungen ihren Gegenstand grundsätzlich überhaupt rekonstruieren können oder notwendig immer konstruieren müssen. Was die Lebensbeschreibung von der Geschichtsschreibung unterscheidet, sind an sich schon starke Argumente dafür, daß - wie immer es damit um den Historiker stehen mag - der Autobiograph jedenfalls eher konstruiert als rekonstruiert, denn sein Gedächtnis kann ihn trügen und wird, wie gesagt, ohnedies aus anderen Gründen bemüht als denen der Wahrheitsfindung und Wissensproduktion. Dem kann freilich entgegengehalten werden, daß der Autobiograph sich seines Lebens vergewissern will, nicht irgendeines, das er hier und jetzt zu seinem macht, und daß diese Intuition, er könne sein Leben erinnern, einen Grund in der Sache haben muß. Aber das bleibe dahin16
Vgl. hierzu auch Thomä 1998. Vgl. Kierkegaard 1957ff, 16. Abt., 2. Teil, 15. 18 Wird nun davon auf eine grundlegende „Erkenntnisunsicherheit" des Autobiographen hinsichtlich der Art geschlossen, „wie die Geschichte der eigenen Person im Hinblick auf ein lebensdienliches Gesamtkonzept zu schreiben sei" (Pothast 1992, 172), dann nur unter Verkennung der Tatsache, daß Selbsterkenntnis anderen Gesetzen gehorcht als die Erkenntnis von Objekten. Möglicherweise ist ihr Begriff sogar grundsätzlich unpassend. Vgl. dazu die weitere Argumentation in diesem Teil der Arbeit. 17
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gestellt. Stattdessen werden vielmehr die begrifflichen Konsequenzen aus dem evidenten Sachverhalt gezogen, daß die Pietisten ihre Texte subjektiv immer als Rekonstruktionen des verstrichenen Lebens verstanden, im Widerspruch dazu aber in ihren autobiographischen Rückblicken objektiv immer Konstruktionen dieses Lebens entworfen haben. Für diejenigen Autoren, die ihr Leben im Lichte des später so genannten Hallischen Bekehrungsmodells niederschrieben, galt die Diskrepanz zwischen den - soweit aus dem Lebenslauf ermittelbar - objektiven Daten und ihrer retrospektiven, manichäisch anmutenden Bewertung besonders deutlich. Aber auch der etwas simple P.St. schien die so überschwenglich berichtete Theophanie seinem Unfall - dem Sturz in einen baufälligen Brunnen und seine Errettung aus dem Verlies - eher herbeigeschrieben zu haben; jedenfalls stehen Sachverhalt und Deutung objektiv keinesfalls in einer zwingenden Beziehung. Vor allem aber seine Behauptung, er sei durch dieses Ereignis ein ganz anderer Mensch geworden, ist nicht einfach for granted zu nehmen. Der Akt des unablässigen Behauptens trägt zweifellos zur Verwirklichung des Behaupteten wesentlich bei. Wie bei den anderen Autoren, so auch hier: Die Sprache objektiviert das Unwägbare, und damit schafft sie Wirklichkeit. Wiederum mit Kierkegaard: „Die Wirklichkeit ist nicht die äußere Handlung, sondern ein Inneres, in welchem das Individuum die Möglichkeit aufhebt und sich mit dem Gedachten identifiziert, um darin zu existieren. Das ist Handlung." 19 In genau diesem Sinne Handlungscharakter hat die pietistische Autobiographie. Sie überführt die bloße Möglichkeit eines Lebens, das ich meiner fehlbaren Erinnerung nach geführt haben könnte, dadurch in Wirklichkeit, daß der Autobiograph sich für eben diese Version entscheidet, daß er sie als Version seines Lebens verfaßt. Die Wirklichkeitserschließung der Autobiographie ist mehr noch ein Akt der Selbstverwirklichung als der Erinnerung an eine Wirklichkeit. Sie erschließt etwas, was vor seiner Erschließung noch gar nicht da war, was durch sie erst es selbst wurde, nämlich die Wirklichkeit des so und so erinnerten Lebens. Die Etymologie hilft dabei, diesen Gedanken zu pointieren: „Wirklichkeit", mittelhochdeutsch „wirkelicheit", Substantivbildung aus dem mittelhochdeutschen „wirkelich", bedeutet ursprünglich soviel wie „tätig sein", „wirksam sein", „wirkend sein". Die philosophische Interpretation dieses Bedeutungsgehalts lautet nun, daß wirklich nur das ist, was sich als handlungsrelevant erweist. Die Wirklichkeit eines erinnerten Lebens verrät sich also darin, daß das Erinnerte handlungsorientierend wirkt. Die sprachliche Verwirklichung ver-
19
Kierkegaard 1957ff, a.a.O. 42.
Reflexive Selbstsymbolisierung.
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gangenen Lebens heißt dann, diesem Leben erinnernd eine die gegenwärtigen Lebensvollzüge bestimmende Bedeutung zuzuschreiben. Doch, noch einmal, diese Interpretation ihres Tuns liegt den pietistischen Autobiographen fern. Sie glauben zu rekonstruieren, wo sie tatsächlich konstruieren, zu finden, wo sie erfinden. Selbstverständnis und Praxis der pietistischen Autobiographen stehen mithin in einem unübersehbaren Widerspruch zueinander. Das ist nicht kontingenterweise so, sondern vielmehr weitgehend durch die Strukturlogik religiöser Sinnbildung im Pietismus bedingt. Der Verdeutlichung und Begründung dieser These diene die erneute, kursorische Rekapitulation der Ergebnisse im Lichte der im zweiten Teil der Arbeit getroffenen begrifflichen Unterscheidungen: Der Pietist sei ein geborener Autobiograph - diese die exemplarischen Textanalysen zur frühen pietistischen Autobiographik anleitende Hypothese 20 konnte bestätigt werden. Seine Frömmigkeitspraxis treibt ihn an, das religiöse Leben einer permanenten Selbstbeobachtung zu unterziehen, und die Autobiographik ist ein privilegiertes Medium, in dem sich diese Selbstbeobachtung sprachlich objektivieren kann. Dabei dreht sich alles um das ersehnte religiöse Evidenzerleben. Die Selbstbeobachtung trägt zu ihm bei, indem sie nicht einfach nur nachträglich feststellt, was erlebt worden ist, sondern auch das zukünftige Erleben durch Prädisponierung des Gläubigen vorbereitet. Diese ihr eigentümliche Funktion darf allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, daß das Evidenzerleben als unwillkürlich erfahren werden will. Denn Unwillkürlichkeit ist eine notwendige Bedingung dafür, es als Gnade Gottes prädizieren zu können. Das Evidenzerleben besteht in der jeder Repräsentation sowohl zugrunde- wie vorausliegenden und insofern auch begrifflich uneinholbaren, sinnlich- atmosphärischen Präsenz von Bewußtseinsinhalten, welche im Sinne des zweiten Teils als zuständlich - im Gegensatz zu intentional - charakterisiert werden können. Religiöse Sinnbildung im Pietismus ist wesentlich die hochgradig ambivalente Tätigkeit der methodischen Produktion, reflexiven Bewußtwerdung und Reproduktion zuständlichen Bewusstseins.21 Insofern dessen Inhalte zwar unwillkürlich erlebt werden, sich andererseits aber nicht zufällig einstellen, sondern integraler Bestandteil des religiösen Sinnbildungsprozesses sind, kann das Evidenzerleben des Gläubigen mit einem gewissen Vorbehalt als ein Emergenzphänomen charakterisiert werden. Der Vorbehalt besteht darin, daß emergentistische Theorien naturalistisch argumentieren, um Evolutionsprozesse zu konzeptualisieren, während es sich hier um einen hermeneutischen
20 21
Vgl. oben die Einleitung in Teil III. Vgl. oben, II.5.
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Sachverhalt handelt: das Erleben ist evident und die Evidenz erlebnishaft in der Binnenperspektive sinnerschließender Lebensvollzüge. Der Begriff „Emergenz" soll daher nur verwendet werden, insofern er das sensitive Evidenzerleben des pietistischen Gläubigen als systemisch determinierte Entstehung von irreduzibel Neuem charakterisieren kann: 2 2 es ist jeweils wieder neu, weil nicht aus der Strukturlogik religiöser Sinnbildung bzw. aus einzelnen ihrer Strukturmerkmale ableitbar und vorhersagbar, zugleich aber systemisch determiniert, denn der Gläubige wird durch diese Strukturlogik zu dem besagten Erleben prädisponiert. Also allein in Analogie zu der naturalistischen Begriffsbildung emergentistischer Theorien und nicht sensu strictu seien die Produktion und Reproduktion zuständlichen Bewußtseins als Produktion und Reproduktion emergenter Bewußtseinsinhalte verstanden. Die Reproduktion ist in der nun mehrfach ausgeführten Weise durch die Reflexivierung, genauer: die nachbereitende reflexive Bewußtwerdung des sensitiven Evidenzerlebens vermittelt. Insofern sich diese Reflexion - in den Worten Ferdinand Fellmanns - als „symbolischef] Verdichtung" zuständlichen Bewußtseins vollzieht, soll hier von reflexiver Symbolisierung gesprochen werden. 2 3 Gemäß dem zweiten Teil der Arbeit ist damit die Quali-
22 Achim Stephan unterscheidet in seiner Habilitationsschrift Emergenz. Von der Unvorhersagbarkeit zur Selbstorganisation neun Merkmale emergentistischer Theorien: „eine naturalistische Grundhaltung, die Akzeptanz genuin neuartiger Strukturen und systemischer Eigenschaften, die Annahme einer Hierarchie von ,Existenzstufen', die Annahme der synchronen Determiniertheit systemischer Eigenschaften und der diachronen Determiniertheit von Strukturbildungen, eine These der Nicht-Vorhersagbarkeit von Strukturen u n d / o d e r Eigenschaften, die These der Irreduzibilität systemischer Eigenschaften sowie die Annahme einer ,nach unten gerichteten Kausalität'" (Stephan 1999, 14). Er bezieht sich dabei auf die Hauptvertreter des britischen und des amerikanischen Emergentismus: Samuel Alexander (1859-1938), Conwy Lloyd M o r g a n (1852-1936), Roy W o o d Sellars (1880-1971) und Charles D u n b a r Broad (1887-1971).
Als genuin neuartig gilt dem Emergentismus zufolge „das erstmalige Auftreten eines Exemplars eines zuvor überhaupt noch nicht realisierten Typs" (ebd., 18), systemisch determiniert ist das Neue, wenn die Eigenschaften und Verhaltensdispositionen eines Systems nomologisch von dessen Mikrostruktur, also den Eigenschaften seiner Bestandteile und deren Anordnung abhängen (synchrone Determiniertheit; ebd., 26) und insofern es nicht vorkommen kann, „daß sich in zwei Welten, in denen der gleiche Ausgangszustand besteht und in denen die gleichen Naturgesetze gelten, unterschiedliche Strukturen ausbilden" (diachrone Determiniertheit; ebd., 31). Irreduzibel neuartig sind systemische Eigenschaften, wenn sie „eo ipso vor ihrer ersten Exemplifizierung nicht vorhersagbar [sind] und zwar im Prinzip nicht" (ebd., 32). Dem Emergentismus zufolge „ist eine systemische Eigenschaft, von der vorausgesetzt wird, d a ß sie gemäß der These der synchronen Determiniertheit nomologisch von der Mikrostruktur des Systems S, das sie hat, abhängt, dann irreduzibel und damit emergent, wenn sie nicht aus der Anordnung, die die Bestandteile in S haben, und den Eigenschaften, die diese ,isoliert' oder in von S verschiedenen Systemen haben, deduziert werden kann" (ebd.). 23
Vgl. zum folgenden oben, II.5.
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fizierung des religiösen Erlebens als ein biographisch relevantes, distinktes, klar identifizier- und erinnerbares Erlebnis gemeint, als Quelle religiöser Gewißheiten und Gegenstand skeptischer Uberprüfung. Hierbei kommt der Autobiographie eine wesentliche Funktion zu, nicht minder in Fällen wie demjenigen der Johanna Eleonora Petersen als solchen Hallischer Provenienz. Der Widerspruch zwischen subjektivem Anspruch und objektivem Tun des pietistischen Autobiographen beruht nun auf dem Anspruch, die Gottesgegenwart zuständlich zu erleben. Ist die sensitive Evidenz des religiösen Erlebens funktional abhängig von der - spezifisch pietistischen - Sinnbildungstätigkeit des Gläubigen, so transzendiert sie diese zugleich auf ein schlechthin Unantezipierbares hin. Jedesmal wieder wird die Gnadenwirkung Gottes als unbeschreiblich konkret, unvergleichlich und insofern neu erlebt. Das religiöse Subjekt, das seinen Lebenslauf schreibt, kann also mit guten Gründen behaupten, es erinnere etwas in seinem Leben Vorfindliches, etwas, das in seiner Bedeutsamkeit nicht gemacht, sondern gleichsam von außen in sein Leben getreten sei. Denn das ist der Eindruck, den das Erleben authentischerweise in ihm hinterlassen hat. Was es nicht erinnert, ist der Umstand, daß dieses Erleben durch den religiösen Sinnbildungsprozeß bedingt ist, und zwar in der Weise seiner vor- und nachbereitenden Reflexion. Nicht erinnert wird also die Konstruktion des Vorfindlichen, seine Erfindung als eines Vorfindlichen, mehr noch: als eines vor allem auch erinnerungswürdigen Vorfindlichen, als eines lebensbedeutsamen Ereignisses. Denn dies ist nicht zugleich auch noch erinnerbar, ohne dem erinnerten Erleben seine Aura der Einzigartigkeit zu rauben. Zweierlei erinnert das religiöse Subjekt demnach nicht: erstens die methodische Prädisponierung für sein Evidenzerleben gemäß den sozialethischen Regeln und Normen pietistischer Glaubenspraxis, zweitens die Nachträglichkeit der Symbolisierung des Erlebens als eines lebensbedeutsamen Erlebnisses religiöser Art. Für das religiöse Subjekt unwillkürlich da sind aber zunächst nur unbestimmte qualia, die erst durch ihre reflexive Symbolisierung religiöse - und erinnerungsfähige - Bestimmtheit erlangen. Kriterium für deren Lebensbedeutsamkeit ist erst einmal nur ihre Intensität, mit der sie das religiöse Subjekt anrühren, und im Modus skeptischer Selbsthinterfragung kann die reflexive Symbolisierung des Evidenzerlebens ja schließlich auch - wie wiederholt bei Francke und Schumacher vor ihrem Bekehrungserlebnis und bei dem armen Burcken sein Leben lang zu dem Ergebnis einer negativen, d. h. nicht erinnerungswürdigen, für den weiteren Lebenslauf eher abschreckenden Qualifizierung kommen. Vollzieht sich die Transformation der qualia in bestimmte Qualitäten allgemein als reflexive Symbolisierung, so schöpft sie konkret aus dem Reservoir, welches das Universum des Christentums mit seinen vielfälti-
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gen Regionalsemantiken parat hält - sei es die Sprache des Hohenliedes und seiner Rezeption in der Braut- und Passionsmystik vom heiligen Bernhard bis Paul Gerhardt, sei es die des Paulus und seiner Rezeption in der Erbauungsliteratur des Luthertums mit ihrer strikten Dichotomisierung von Fleisch und Geist und ihrer Abwertung des Kreatürlichen, oder die des Psalters, ihr Vokabular der Verzweiflung und der plötzlichen Errettung durch Gott. Die symbolisch gleichsam fixierten Qualitäten des sensitiven Gotteserlebens prädisponieren dann wiederum für weitere qualia, die der Gläubige in bestimmten situativen Kontexten sucht und findet. Für diese Art der Selbstobjektivierung des innerlichkeits- und empfindungszentrierten gläubigen Pietisten spielt das Gespräch, wie es in den frommen Konventikeln gepflegt wird, eine große Rolle, ebenso der Brief, das Tagebuch, schließlich eben auch der Lebenslauf, die Lebensbeschreibung. Alle Formen der Selbstmitteilung binden den Verfasser bzw. Sprecher, denn sie erzeugen im Gegenüber die Erwartungshaltung, er werde sich ihren Implikationen entsprechend verhalten. Diese Implikationen ergeben sich eben aus dem, was Kierkegaard das inter-esse zwischen Denken und Sein nennt. Es sind in erster Linie Anforderungen der Stimmigkeit zwischen der sprachlichen Repräsentation des Lebens bzw. von Ausschnitten dieses Lebens und seiner Praxis - wer sich als einen Casanova zur Sprache bringt, kann nicht beim ersten Flirt drucksen, wer ein Gespräch zwischen Bekannten mit seinen Geschichten von der Helgolandumsegelung im November dominiert, muß beim gemeinsamen Jollensegeln auf dem Stausee wenigstens eine ordentliche Halse zustandebringen. Die Erinnerung wird wahr gemacht dadurch, daß sie sich in der Stimmigkeit - kierkegaardisch gesprochen - von Denken und Sein bewährt, daß das Erinnerte auf diese Weise verwirklicht wird. Ohne sich auf Kierkegaard zu beziehen, aber in sachlicher Nähe zu dessen Begriff des existentiellen Interesses hat in der gegenwärtigen Religionsphilosophie Hermann Schrödter von religiösen Uberzeugungen als „modalen Transformationen" gesprochen. 24 „Ihr Kern besteht darin, die komplexe Wirklichkeit faktisch gelebter Religion als verwirklichte Möglichkeit menschenwürdiger Welt- und Lebensgestaltung anzusehen." 25 Was das heißt, verdeutlicht er an einem Satz aus Pascals Memorial·. J a h r des Heils 1654, Montag, 23. November, Tag des hl. Klemens, ... Von ungefähr halb elf abends bis um eine halbe Stunde nach Mitternacht, Feuer. ,Gott Abrahams, Gott Isaaks, Gott Jakobs', nicht der Philosophen und Gelehrten ... Gott Jesu Christi ... Deum
24 25
Schrödter 1987, 154-174. Ebd., 154.
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meum et Deum vestrum." 26 Und Schrödters Interpretation dieser Textstelle: Pascal notiere eine distinkt identifizierbare ( J a h r des Heils" etc.) „Erfahrung" 2 7 („Feuer"), die er als Gott bezeichne. Eben darauf kommt es Schrödter an, daß Pascal den Ausdruck „Gott Abrahams, Gott Isaaks, Gott Jakobs" nicht als Begriff, sondern als Name verwendet, und Namen haben keinen Bedeutungsgehalt, sondern beschränken sich eben auf die Bezeichnung eines Gegenstandes. 28 Nicht werde die Erfahrung unter ein Allgemeines (Begriff) subsumiert, sondern in seiner Konkretion unmittelbar identifiziert (Name). Namen seien wiederum nur dann sinnvoll, wenn sie in Lebensbeziehungen stehen, „also immer zu ,Geschichten' gehören" 2 9 . So wie jeder beliebige Eigenname, mit dem wir eine bestimmte Person benennen, zugleich unmittelbar die Geschichten vergegenwärtigt, die wir uns von dieser Person erzählen können, 3 0 gilt das auch von „Gott" als Eigenname. Er gehört zu bestimmten Geschichten, die von Gott erzählen. Freilich formuliert Schrödter in seiner Interpretation der Worte Pascals genauer, dessen auf Montag, den 23. November 1654 datierte Erfahrungwerde „mit dem Namen ,Gott' benannt und in eine ,Geschichte' gerückt, in die Pascal damit ,verstrickt' ist".31 Indem Pascal eine bestimmte Erfahrung als „Gott" bezeichnet, sie also unmittelbar als „Gott" identifiziert, verwandelt er sich unwillkürlich jene Geschichte an, die den Hintergrund des verwendeten Eigennamens bildet. Damit stellt er vice versa die eigene Erfahrung vereindeutigend in den Kontext dieser Geschichte. „Pascal hält seine Erfahrung in ihrem Ergebnis fest; es ist seine Erfahrung in einem mit genauer Zeitangabe festzulegenden 26
Zit.n. Schrödter 1987, 164, 167. Ebd., 167. 28 Schrödter schließt sich hier explizit den begrifflichen Klärungen der Theorie der Eigennamen in der analytischen Philosophie an. Vgl. ebd., 165-167. 29 Ebd., 167. 30 Das läßt sich an einem interessanten Phänomen verdeutlichen: Wenn Eltern ihrem neugeborenen Kind einen Namen geben, dann ist dieser Name zwar schon in die Geschichte der Namensgebung eingebettet, die mit seiner Nennung mitaufgerufen wird, nicht aber in die des Kindes, auf das der Name referiert. Nun machen Eltern in der Regel die Erfahrung, daß der Name ihres Kindes im Verlauf seiner Kindheit, und zwar schon sehr früh, einen bestimmten Klang annimmt. So wird sehr wahrscheinlich der Name Swinda für Eltern eines Kindes mit diesem Namen ganz anders klingen, als für solche, die zwar diesen Namen für ihr Kind erwogen haben, sich an diese Geschichte der Namensgebung auch noch erinnern können, dann aber letztendlich für einen anderen Namen entschieden haben. Und für Eltern mit Kindern, die Swinda heißen, wird dieser Name jeweils sicher ganz unterschiedlich klingen, denn er referiert jeweils auf ein Individuum mit einer unverwechselbaren Geschichte, welches eben die Geschichte ist, in der dieser Eigenname vorkommt. Der Name Swinda klingt für Eltern von Kindern dieses Namens deshalb jeweils anders, weil mit ihm je andere Geschichten vergegenwärtigt werden. 27
31
Schrödter 1987, 168 (Hervorhebung von mir - M.S.).
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Kontext; sie besitzt einen im ,Memorial' festgehaltenen Gehalt, der wegen der zeitlichen menschlichen Existenzweise in seinem Situationsbezug festgehalten (objektiviert) werden muß, d. h. die Unmittelbarkeit der Erfahrung bleibt als solche von sich aus nicht erhalten, sondern ihre Kraft und ihre Bestimmtheit hängen von den begrifflichen Mitteln ihrer Objektivierung ab, die Begrifflichkeit spielt jedoch in zweierlei Hinsicht eine Rolle. Offensichtlich ermöglicht sie für Pascal selbst die Eigenart des Erfahrenen als bestimmte festzuhalten und ineins damit fur uns zu verstehen, was als Erfahrenes für Pascal vorliegt." 32 Die Namensgebung fungiert zunächst gleichsam als instantane deiktische Fixierung, 3 die es erlaubt, das Fixierte zu reidentifizieren. Weil diese Fixierung das „Dies-da" der Erfahrung aber in den Kontext jener Geschichte stellt, in die der verwendete Name eingebettet ist, wird die besagte Erfahrung „in ihrem Ergebnis" zugleich zu einem potentiellen Gegenstand retrospektiver reflexiver Symbolisierung im Medium eben dieser Geschichte. Pascals Erfahrung ist Bestandteil der „komplexefn] Wirklichkeit faktisch gelebter Religion", nur weil sie als benannte Erfahrung das Erfahrungssubjekt zugleich in den Horizont dieser Geschichte stellt. Die Erfahrung wird also erst in ihrem Horizont ,wirklich', aber zugleich kann man sagen: auch die Geschichte wird erst durch Pascals Verstrickung in sie ,wirklich', nämlich als Bestandteil einer in seinem Leben M verwirklichte[n] Möglichkeit menschenwürdiger Welt- und Lebensgestaltung". Schrödter bezieht sich mit seiner Formulierung vom Verstricktsein in eine Geschichte ausdrücklich auf die Narrativitätstheorie des Phänomenologen Wilhelm Schapp. „Die Geschichte jedenfalls", so Schapp, „läßt sich nicht als Gegenstand untersuchen, weil etwas Geschichte nur insoweit ist, als ich in die Geschichte verstrickt bin. Dies Verstricktsein läßt sich nicht so aus der Geschichte lösen, daß auf der einen Seite die Geschichte übrigbliebe und auf der anderen Seite mein Verstricktsein oder so, daß die Geschichte überhaupt noch irgend etwas wäre ohne den Verstrickten, oder der Verstrickte noch irgend etwas wäre ohne die Geschichte." 34 Geschichten sind also nicht einfach vorhanden, so daß Menschen sich dann nachträglich zu ihnen in eine Beziehung setzen und das auch ebenso gut lassen können. Menschen sind nur als Protagonisten oder Nebenfiguren in Geschichten da und die Geschichten wiederum entfalten sich nur über das handelnde Personal ihrer Figuren. Für Schapp ergibt es daher auch keinen Sinn, von einer an sich seienden Wirklichkeit diesseits der Geschichten zu sprechen. Er verdeutlicht das 32 33 34
Ebd. Ebd., 170. Schapp 1985, 85f.
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anhand unserer Vorstellung von Bäumen, die in eben den Geschichten besteht, in deren Horizont Bäume auftauchen. „Mit der Eiche, mit der Tanne taucht im Horizont nicht nur dies eigenartige Gespinst von Geschichten auf, nach welchem Knospen, Blätter und Zweige wachsen ... Es taucht nicht nur dies auf, was wir dem Baum im eigentlichsten Sinne selbst zurechnen, sondern im Horizont taucht gleichzeitig alles mit auf, was man das Schicksal des Baumes nennen könnte und was doch auch wieder nicht äußerlich ist, sondern zu ihm gehört, wie Gesundheit und Krankheit. Es taucht mit ihm auf der Sturm, der in bedroht, der Holzfäller, der schon im Hintergrund auf ihn lauert, die Insekten, die ihm das Leben schwer machen. Es tauchen auf Regen und Sonnenschein, alles in verschiedener Nähe und Weite, aber alles als zu ihm gehörig. Ich möchte nicht einmal sagen, daß all dies in einer Randzone auftaucht, sondern daß es ständig mit ihm da ist, nicht eigentlich um ihn ist, etwa in der Weise, daß er darin ist, sondern so, daß es sinnlos wäre, sich einen Baum vorzustellen ohne dies alles, was wir nur in Gedanken vielleicht von ihm trennen können durch eine Art Vergewaltigung." 35 Der Baum ist für uns nur als eine Figur in Geschichten da, so daß letztlich auch die Unterscheidung zwischen dem Baum in unserer Vorstellung und dem Baum da draußen, also einem wirklich Seienden abzüglich aller Geschichten, hinfällig ist. Mit ihm da ist eben auch die Geschichte seiner Wirklichkeit. Wirklich ist ein bestimmter Baum nicht an sich, sondern nur für uns, und zwar im Medium der Geschichten, die seine Vorstellung allererst konturieren. Was von Bäumen gilt, das gilt nun nicht minder von subjektiven Erfahrungen, etwa derjenigen Pascals, die er im Memorial mit „Gott Abrahams, Gott Isaaks, Gott Jakobs" benennt. Wirklich ist die Erfahrung - mit Schrödter - „in ihrem Ergebnis" durch die Geschichte, die im Horizont des Namens auftaucht und in die Pascal, indem er mit diesem und keinem anderen Namen auf seine Erfahrung referiert, fortan verstrickt ist. Im folgenden soll nun - im Anschluß an Schrödters Begriff der „modalen Transformation" - die Verwirklichung des Pietismus als einer „Möglichkeit menschenwürdiger Welt- und Lebensgestaltung" im Modus der reflexiven Symbolisierung erschlossen werden, die ja auch eine Verstrickung der Pietisten in Geschichten ist, namentlich über Erlebnisse, welche ihnen widerfahren sind, und die sie im Lichte der biblischen und mystischen Semantik benennen und autobiographisch verarbeiten. Die reflexive Symbolisierung vollzieht sich offenbar auf zwei Weisen, nämlich als Semantisierung und als Narrativierung des pietistischen Evidenzerlebens. Semantisierung sei hier zunächst im Sinne Fell-
35
E b d , 131.
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manns als symbolische Verdichtung zuständlichen Bewußtseins im Medium der Sprache verstanden, Narrativierung als Textualisierung des Semantisierten, als dessen Formung zu einem es intern in einem lebensgeschichtlichen Sinnzusammenhang verknüpfenden plot. Es ist evident, daß die Narrativierung des Evidenzerlebens durch dessen Semantisierung bedingt ist. Aber andererseits werden die semantischen Valenzen, welche das Evidenzerleben bestimmt qualifizieren, möglicherweise überhaupt erst vor dem Hintergrund eines narrativen Rahmens ausgewählt, in den sich das Erleben muß einschreiben lassen. Man kann bestimmte qualia eben nur in einer ganz bestimmten Weise semantisieren, wenn sie in einem Bekehrungsprozeß eine tragende Rolle spielen sollen. Der Bekehrungsprozeß ist aber der narrative Rahmen, in dem die Sprache der pietistischen Autobiographen von deren Innenleben zeugt. Logisch stehen mithin Semantisierung und Narrativierung in einem gegenseitigen Bedingungsverhältnis; chronologisch dagegen resultiert Semantisierung im Pietismus üblicherweise in narrativen Strukturen. So steht am Ende der reflexiven Symbolisierung religiösen Erlebens offenbar immer eine Geschichte, sei es in Form von Briefen oder von Tagebüchern oder Lebensläufen. Der folgende Versuch, Semantisierung und Narrativierung des religiösen Evidenzerlebens erfahrungstheoretisch zu konzeptualisieren, hat daher letztlich einen Strukturbegriff narrativer Identitätsbildung im Pietismus zum Ziel.
2. ... als Semantisierung zuständlichen Bewußtseins ... Matthias Jung hat unlängst einen Vorschlag zur Konzeptualisierung religiöser Erfahrung in dem begrifflichen Rahmen einer hermeneutischpragmatischen Religionsphilosophie unternommen. Erfahrung versteht er „als den Titel für jenen humanen Grundvollzug [...], in welchem Subjekte ihres Welt- und Selbstverhältnisses gewahr werden, indem sie es in öffentlich zugänglichen Ausdrucksgestalten für sich und andere faßbar machen". 36 Hermeneutisch-pragmatisch ist sein Theorieentwurf deshalb, weil er auf sinnlogische Erschließungsleistungen religiöser Individuen - zweifellos ein Gegenstand der philosophischen Hermeneutik - als einer sozial vermittelten, geteilten und identitätskonstituierenden Lebenspraxis - das bevorzugte Untersuchungsobjekt pragmatischer bzw. pragmatistischer Theorien - abhebt. Jungs Erfahrungsbegriff drängt sich einer begrifflichen Erhellung der Semantisierung sensitiven
36
Jung 1999, 264.
. als Semantisierung zuständlichen Bewusstseins
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Evidenzerlebens im Pietismus geradezu auf, denn er beansprucht, symbolische Formen religiöser Praxis, hier: Lebensläufe, Tagebücher und andere autobiographische Zeugnisse der praxis pietatis, als Artikulationen zu bestimmen, „in denen sich bewußtes, subjektiv erfahrenes Leben selbst auslegt, wobei es auf die traditionsvermittelnden Artikulationsleistungen der Vergangenheit zurückgreift". 37 Die metonymische Formulierung vom sich selbst auslegenden Leben ist allerdings unglücklich, weil sie verunklärt, worauf Jung hinaus will. Die Subjekte machen sich ihm zufolge ihr Welt- und Selbstverhältnis dadurch „fassbar", daß sie dieses auslegen, wobei wiederum das Auslegen genauer als ein Artikulieren verstanden werden soll, durch das sich das besagte Welt- und Selbstverhältnis zugleich reproduziert und erneuert. 38 Bezogen auf die pietistische Autobiographik heißt das, daß die Gläubigen in den Selbstzeugnissen ihr Selbstverhältnis und ihr Verhältnis zur Welt durch dessen Semantisierung in eins erschließen und entwickeln. Nun entspricht diese These ganz gut den Ergebnissen der Materialanalysen zu Francke und den anderen pietistischen Autobiographen. Eine Begrifflichkeit, die eine solche Deutung der historischen Quellen nicht nur plausibilisieren, sondern auch deren erfahrungstheoretischen Gehalt explizieren kann, hätte damit ebenso belegt, daß - in dem in Auseinandersetzung mit Kierkegaard entwickelten Sinne des Wirklichmachens einer Lebensdeutung durch die entschlossene performative Übernahme der Bedeutung, die diese Deutung dem Leben zuschreibt - die pietistische Autobiographik ein frühmodernes Medium der Selbstverwirklichung ist, daß der Pietist durch seine Frömmigkeit ausgezeichneterweise zur Selbstverwirklichung in diesem Sinne prädisponiert wird und schließlich, daß der Pietismus als soziales Deutungsmuster ein Modell von notwendig sprachlich vermittelter Selbstverwirklichung instanziiert, das - wenn auch gänzlich losgelöst von den Frömmigkeitsinhalten des Pietismus auch heute noch virulent und nicht nur virulent, sondern eben auch philosophisch bedenkenswert ist. Bereits die zitierten programmatischen Textstellen deuten darauf hin: die Schlüsselrolle in Jungs religionsphilosophischer Erfahrungstheorie spielt der Begriff „Artikulation". Er wird systematisch eingeführt, um ein bedeutungstheoretisches Defizit zu beheben, daß Jung zufolge die gegenwärtige, vor allem von analytischen Philosophen geführte Debatte um die Frage bestimmt, „ob - und wenn ja, in welcher Weise - Personen
37
Ebd., 267.
38
Weil nun dieser P r o z e ß J u n g zufolge ein humaner Grundvollzug ist, also etwas,
was das Leben der Menschen notwendig bestimmt, kann dann eben auch metonymisch d a v o n gesprochen werden, das Leben lege sich selbst aus.
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einen privilegierten Zugang zu ihren inneren Erlebnissen haben". 39 Selbst diejenigen Autoren, so Jung, die das konzedieren, verstünden die Beziehung des Bewußtseins auf seine einzelnen Zustände - exemplarisch führt Jung das aus an einem Aufsatz von William Aiston - „als Wissen eines logisch und semantisch wissensunabhängigen Gehalts". 40 Zwar habe diese Deutung unsere Intuitionen auf ihrer Seite, sie könne aber keine rational befriedigende Erklärung für die Genese des besagten Gehaltes liefern. Gewiß läßt sich die Entstehung einzelner Bewußtseinszustände auch unabhängig von der Perspektive der Ersten Person erklären. Aus diesem Blickwinkel ist aber nicht nachvollziehbar, daß wir uns auf die Bewußtseinszustände als gehaltvolle beziehen. Daß wir in einem Magendrücken somatisch unsere Verliebtheit erfahren und nicht eine Viruserkrankung, beruht auf einer erstpersonalen Bedeutungszuschreibung, also auf einem Zugang zu dem in Frage stehenden Bewußtseinszustand, den nur ich in - mit Heidegger gesprochen - jemeiniger Perspektive gewinnen kann. Dabei ist die Bedeutungszuschreibung seiner Erfahrung nicht äußerlich. Wir erfahren den fraglichen Bewußtseinszustand als Verliebtheit. Strenggenommen wissen wir auch gar nicht, daß es sich dabei um ein Verliebtheitsmerkmal handelt, sondern wir sind uns dessen gewiß. Beruht hinsichtlich unserer Uberzeugungsgehalte Wissen auf objektiven, drittpersonalen Kriterien, so Gewißheit auf subjektiven, erstpersonalen. Nehmen wir nun an, daß ein Verliebter zum Zeitpunkt ti sein Magendrücken als Merkmal seiner Verliebtheit erfährt, zum Zeitpunkt t 2 an einer Magenverstimmung erkrankt und zum Zeitpunkt t 3 sich an das Magendrücken von t! mit den Worten erinnert, sie seien kein Merkmal der Verliebtheit gewesen, sondern der Virusinfektion zum Zeitpunkt t 0 . Selbst gesetzt den Fall, das Magendrücken sei durch die Virusinfektion kausal verursacht worden, kann diese Tatsache nicht widerlegen, daß es zum Zeitpunkt t j als Verliebtheitsmerkmal erfahren wurde, daß es für den Verliebten ein Merkmal seiner Verliebtheit war, durch das (unter anderen) er ihrer gewahr wurde. Jung spricht daher zur Charakterisierung erstpersonaler Bedeutungszuschreibungen von einem dynamischen Kontinuum, „in dem eine ständige Wechselbewegung zwischen gefühlten Qualitäten und den Aus-
39 Jung 1999, 269. Vgl. auch die Angaben zu der einschlägigen Literatur dieser Debatte: ebd., Anm. Nr. 9. 40 Ebd., 272. Aistons Artikel ist unter dem Titel „Varieties of Priviledged Access" 1971 in Bd. 8, Nr. 3 des American Philosophical Quarterly erschienen. „Daß der Selbstbezug von Subjekten", so Jung, „unter der Form des Wissens von ... analysiert werden sollte, wird, wenn ich recht sehe, in der analytischen Diskussion meist unproblematisch vorausgesetzt..." (ebd., 271 f).
. als Semantisierung zuständlichen Bewusstseins
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drucksgestalten prädiskursiv-bildlicher wie diskursiv-sprachlicher Art stattfindet. Es ist der Prozeß der Artikulation, der mentalen Zuständen allererst Prägnanz verleiht, sie als intentional gehaltvoll bestimmbar macht, durch Ausschaltung, Steigerung und Ergänzung subjektiven Sinn erzeugt. Aus dieser Perspektive erscheint es als eine Verzerrung, die Innenansicht der ersten Person primär unter dem Gesichtspunkt eines privilegierten Wissens von sich zu behandeln. Global und mit allem Nachdruck formuliert: Nicht (deskriptives) Wissen, sondern Artikulation ist der Schlüsselbegriff, unter dem die Perspektive der Ersten Person zur Entfaltung kommen muß." 41 Die artikulatorische Prägnanzbildung des subjektiven Sinns mentaler Zustände erläutert Jung auch in Auseinandersetzung mit Cassirers Begriff der symbolischen Prägnanz. 42 Dessen Pointe, die Jung für seine Theorie religiöser Erfahrung nutzen will, besteht darin, daß die Gegenwart des in sensitiver Evidenz Erlebten seiner symbolischen Artikulation nicht abstrakt gegenübersteht, sondern mit ihr eine unhintergehbare Einheit bildet, wobei die Form dieser Einheit „nicht identitätslogisch, sondern nur relationslogisch präzisiert werden kann". 43 Cassirer lehre die Einheit von Symbol und Symbolisierten „nicht als dinghafte Identität, sondern als eine Wechselwirkung von Teil und Ganzem zu denken". 44 So finde die hermeneutische Analyse artikulierter erstpersonaler Erfahrung „keine atomaren Bedeutungsträger vor, sondern relationslogisch präzisierbare Elemente eines Strukturganzen. Ausdrucksbedeutung selbst ist nach Cassirers Redeweise ein ,Urphänomen', das als ,Moment innerhalb einer gegliederten Sinneinheit' phänomenologisch beschrieben, jedoch niemals additiv aus unmittelbar Gegebenem aufgebaut werden kann." 45 Die „Wechselbestimmung" - eine Vokabel Cassirers - von qualia und symbolischen Formen, die bestimmte, distinkte Erlebnisse als unterscheidbare Einheiten innerhalb des Bewußtseinsstroms allererst generiert, wird freilich ihrerseits nicht erlebt, sondern nur rekonstruktiv erschlossen. „Weil sich nämlich der intentionale Gehalt subjektiv nicht als durch interpretierende Artikulation vermittelt präsentiert, wird er den phänomenalen qualia des Erlebnisses allein zugerechnet und erscheint als ein reines Selbstgegebenes" 46 - genau dieser Effekt charakterisiert die Emergenzerfahrung der Pietisten. Diese symboltheoretische Konzeptualisierung religiöser Erfahrung
41 42 43 44 45 46
Ebd., 272f. Zu Jungs Cassirer-Lektüre vgl. ebd., 304-312. Ebd., 307. Ebd. Ebd., 308. Ebd., 310.
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vermag sehr gut zu erklären, was die Rekonstruktion von Prozessen reflexiver Symbolisierung sensitiven religiösen Evidenzerlebens im Pietismus ergeben hatte. Die Analyse der Lebensläufe vor allem von Francke, Schumacher und Petersen konnte exemplarisch eine Strukturlogik religiöser Sinnbildung herauspräparieren, derzufolge die Gläubigen eben deshalb Erfahrungen unwillkürlicher, augenblickshafter und sensitiv intensiver Evidenz machen, weil sie sich reflexiv durch Symbolisierung ihres Erlebens dafür prädisponieren. Aber daß ihr sensitives Evidenzerleben eine religiöse Qualität hat, schreiben sie nicht einer interpretierenden Artikulation zu, sondern der Einwirkung Gottes. Die interpretative Bedingtheit ihrer Erlebnisqualitäten und damit gewissermaßen deren Selbstinduzierung erleben sie nicht und können sie nicht einmal als gültige Rekonstruktion ihrer Erfahrung akzeptieren, ohne zugleich die zentrale religiöse Uberzeugung preisgeben oder jedenfalls durch komplizierte Zusatzannahmen umständlich reformulieren zu müssen, daß ihre mentalen Zustände der sensitiven Beglückung, Befriedung u.s.w. gottgegeben und Zeichen göttlicher Gnade sind. Umgekehrt können die pietistischen Autobiographien ebenso als Zeugnisse angeführt werden, um das hier referierte Modell religiöser Erfahrung als Funktion symbolisch prägnanzbildender Artikulationen durch seine historischempirische Fundierung gegen dasjenige Theoriemodell zu stützen, mit dem es offenkundig konkurriert. Diesem Theoriemodell zufolge würden die Pietisten nur gleichsam abschildern, was bereits sprachunabhängig mit und in ihnen vorgegangen ist. Es würde die Autobiographien als Wissensspeicher interpretieren müssen, die bestimmte an sich gegebene Sachverhalte festhalten, damit der Gläubige zur Kenntnis desjenigen gelangt, der er zum in seinem Lebenslauf beschriebenen Zeitpunkt tatsächlich war. Wer ausdrücklich den Interpretationsprämissen eines solchen Theoriemodells folgt, könnte dann auch nicht mehr die Unterscheidung begründen, die jeder Interpret von Autobiographien selbst und gerade dann stabil im Auge zu behalten hat, wenn er unterstellt, der Autobiograph bemühe sich um eine nicht nur wahrhaftige, sondern auch wahre, Tatsachen wiedergebende Lebensdarstellung: die Unterscheidung nämlich zwischen Autor und Protagonist des Textes. Diese Unterstellung, die in modernen Autobiographien offensichtlich nicht mehr sehr weit führt - man denke nur an den Titel von Goethes Autobiographie - , ist nun aber bei den untersuchten Pietisten sehr wohl angebracht. Und bereits die Analyse von Franckes Lebenslauf konnte sehr schnell zeigen, daß man in heillose Verwirrung gerät, wenn man die Eigenschaften des erinnerten Ich eins zu eins auf dessen Referenten, also denjenigen, welcher der Autobiograph vor Jahr und T a g einmal war, überträgt. Das Theoriemodell, mit dem Jungs an Cassirer orientierter Entwurf
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einer Theorie religiöser Erfahrung konkurriert, 4 7 und demzufolge die intentionale Bezugnahme auf innere Bewußtseinszustände als deskriptives Wissen von diesen Zuständen verstanden wird, ist offenkundig eine bestimmte Variante des Repräsentationalismus. Jung bringt den Artikulationsbegriff als Gegenbegriff einer designativistischen Spielart des Repräsentationsbegriffs in Anschlag. Dabei kann er sich auf Charles Taylor als einen prominenten Fürsprecher seiner Position berufen. In einem die neuere bedeutungstheoretische Debatte in der Philosophie zusammenfassenden Aufsatz stellt Taylor fest, daß die gegenwärtig in der angelsächsischen Welt vorherrschenden Bedeutungstheorien zwei entscheidende Merkmale aufweisen: ihre Betonung der Repräsentation und ihre Übernahme der externen Einstellung des Beobachters. 48 Wenn wir anerkennen, daß es genuin erstpersonale Bewußtseinszustände gibt, dann können diese nicht in der externen Einstellung des Beobachters erschlossen werden. Deshalb ist auch der Begriff, wörtlich: der Re- Präsentation dazu nur bedingt geeignet. Fälschlich suggeriert er, die fraglichen Bewußtseinszustände seien als solche intendierbar und damit eben auch beliebig wiedersorstellbar. Folgen wir Jungs Argument, dann verhält es sich so, daß sie immer nur sub specie der spezifischen Beziehung, in der das jeweilige Subjekt zu ihnen steht, repräsentiert werden können, so daß die Art der Bezugnahme und deren Vokabular dem Repräsentierten gar nicht äußerlich bleibt. Eben darauf will Jung auch mit seiner Adaption des Cassirerschen Symbolbegriffs hinaus. Die Bewußtseinszustände sind fiir uns überhaupt nicht unabhängig von dieser Beziehung als distinkte Erlebnisse da, Repräsentierendes und Repräsentiertes sind Relata des Sinnbildungsgeschehens der Artikulation, 49 in 47 Diese Orientierung schließt Kritik im übrigen ein, und zwar vor allem daran, daß Cassirer symbolische Prägnanz - wie Jung zweifellos im Einklang mit Cassirers Selbstverständnis betont - „als Funktion einer transzendentalen Subjektivität" denkt und nicht, wie es ihm selbst vorschwebt, „als Artikulations- und Interpretationsleistung konkreter Individuen und sozialer Gemeinschaften" (ebd., 311). Nach Cassirer instanziieren Bedeutungen ihre symbolische Form, diese ist also den Bedeutungsakten transzendentallogisch vorgängig. Sie wäre stattdessen, so die Pointe der Kritik, als Resultante des pragmatischen Interaktionszusammenhanges der Individuen zu konzeptualisieren. 48
Taylor 1992a, 62. Die Betonung liegt auf „für uns". Denn aus der drittpersonalen Perspektive sind sie selbstverständlich unabhängig von dieser Beziehung da, nämlich in Form von Gehirnströmen, die neurologisch gemessen und repräsentiert werden können. Nur geht diesem - naturalistischen - Blick auf unsere Bewußtseinszustände eben verloren, was sie für uns bedeuten, welchen Gehalt sie also haben. Der Gehalt innerer Bewußtseinszustände ist nicht unabhängig von der Perspektive der Ersten Person konzeptualisierbar. Mit anderen Worten: Erst die Perspektive der Ersten Person macht innere Bewußtseinszustände zu sinnhaften Phänomenen, macht sie also im vollgültigen Sinne des Wortes überhaupt erst zu Bewußtseinszuständen, also zu etwas, das sie von den neuronalen Erregungszuständen, sagen wir, von Nilpferden oder Gürteltieren unterscheidet. 49
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dem ich unter Verwendung einer bestimmten Semantik und bedingt durch bestimmte lebensgeschichtlich motivierte affektive und volitionale Prädispositionen - die es zum Beispiel wahrscheinlich machen, daß ich zu einem bestimmten Zeitpunkt ein Magendrücken als Verliebtheitsmerkmal repräsentieren werde - meiner Bewußtseinszustände differenziert gewahr werde. Die erstpersonale Repräsentation innerer Bewußtseinszustände bedeutet also, d a ß ich letztere im Vollzug der Artikulation, das heißt indem ich mich artikulierend auf sie beziehe, zu denjenigen mache, als die ich sie dann repräsentiert haben werde. Taylor sieht das auch so, denn mit ausdrücklicher Bezugnahme auf Humboldts Sprachbegriff schreibt er: „Primär bedeutsam ist die Aktivität des Sprechens, innerhalb deren dieses System beständig erzeugt und verändert wird. Es ist entscheidend, die Sprache als energeia, nicht bloß als ergon aufzufassen." 50 Bedeutung, so läßt sich Taylors Einsicht in Jungs Terminologie erläutern, ist die Resultante eines Artikulationsgeschehens, das innere Bewußtseinszustände als bestimmte Empfindungen, Affekte, Gefühle, Erlebnisse, Erfahrungen, Wünsche und Uberzeugungen - die Liste erhebt weder Anspruch auf Systematik noch auf Vollständigkeit - sprachlich zum Ausdruck bringt. Auch Taylor verwendet den Artikulationsbegriff, um vor allem jene Fälle zu charakterisieren, in denen ich nicht weiß, wofür ich einen sprachlichen Ausdruck suche, bevor ich ihn nicht gefunden habe. „Solange ich noch nicht weiß, wie ich beschreiben soll, wie ich mich fühle oder wie etwas aussieht usw., so lange fehlen den betreffenden Gegenständen klare Konturen. Ich weiß nicht wirklich, worauf ich mich richten soll, wenn ich mich auf sie richten will." Und er zieht daraus den Schluß, „daß das Artikulieren unserer Auffassung von einer Sache untrennbar verknüpft ist mit der Identifikation ihrer Wesensmerkmale". 5 1 In diesen Fällen „wissen wir erst im nachhinein, was wir zu identifizieren" - anders gesagt: zu repräsentieren - „versucht
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ten . Argumente, denen zufolge die bedeutungstheoretische Diskussion über Sprache als energeia geführt werden soll, sind letztlich auch Argumente f ü r eine stärkere Verknüpfung von Bedeutungs- und Handlungstheorie. Jung macht das deutlich anhand der von H a r r y Frankfurt getroffenen Unterscheidung zwischen Wünschen erster und zweiter O r d nung. 5 3 Wünsche erster O r d n u n g beziehen sich bei Frankfurt auf Gegenstände (ζ. B. der unwiderstehliche Appetit auf Erdbeereis im H o c h 50 51 52 53
Taylor 1992a, 63. Ebd., 65. Ebd., 66. Vgl. Frankfurt 1993.
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sommer), solche zweiter Ordnung auf diejenigen erster Ordnung (ζ. B. die Bejahung oder Verneinung meines Wunsches, ein Erdbeereis zu essen). Nun sollen Jung zufolge die für religiöse Erfahrung einschlägigen inneren Bewußtseinszustände Frankfurts Begriff der Wünsche erster Ordnung zugeordnet werden können und Wünsche zweiter Ordnung Artikulationsgestalten sein, welche den besagten Bewußtseinszuständen eine prägnanzbildende Bedeutung zuschreiben. Ist diese Zuordnung richtig, dann wären Wünsche erster Ordnung, bevor sie ihrerseits zum Gegenstand von Wünschen zweiter Ordnung werden, unmittelbar gegeben und sozusagen präartikulatorisch oder prärepräsentational. Das allerdings ist problematisch. Denn der Begriff des Wunsches scheint „Intentionalität" als notwendiges Prädikat zu implizieren. Wünsche zählen demnach zu Intentionen. Die inneren Bewußtseinszustände, zu denen wir einen unhintergehbar erstpersonalen Zugang haben, sind aber nicht an sich schon intentional strukturiert. Ein Kribbeln in der Bauchgegend kann ich als einen Wunsch artikulieren, Schokolade zu essen oder endlich den Computer auszuschalten und zum Strand zu laufen, um schwimmen zu gehen. Präartikulatorisch ist also nicht ein unbestimmter Wunsch, der dann zu dem bestimmten Wunsch wird, schwimmen zu gehen, sondern vielmehr nur - wollen wir es überhaupt derart differenziert aussagen - ein lustvolles Erwartungsempfinden. Die Zuordnung innerer Bewußtseinszustände zu Wünschen erster Ordnung gelingt also, wenn überhaupt, nur dann, wenn wir letztere sehr allgemein analog zum Lust/Unlust-Schema im Sinne von Strebungen - als sozusagen präintentionalen Wünschen - nach Selbsterhaltung oder Veränderung verstehen, die den Bewußtseinszuständen inhärieren oder zugehören. In diesem Sinne wäre das Kribbeln in der Bauchgegend auch kein isolierbares quale, sondern die Nuance eines sensitiv-atmosphärischen Leibempfindens, zu dem auch die Strebung gehört bzw. welches die Strebung hat, einen anderen Empfindungszustand zu realisieren. Demgegenüber gehört es zu dem Wohligkeitsempfinden eines Wanderers, der nach einem Picknick an einem schönen Septembertag träge in der Nachmittagssonne liegt, daß er eben dort liegen und seine Lage nicht verändern will (weil er eben gerade jetzt wunschlos glücklich ist, wie wir dann nicht grundlos sagen), ohne daß er dies auch intendierte. Darin unterscheidet er sich vermutlich nur wenig von dem alten Hund oder der Schildkröte, die beide ihr Fleckchen in der Sonne nicht aufgeben, wenn sie es nicht unbedingt müssen. Sie alle haben allenfalls die Strebung, einen gegebenen Empfindungszustand konstant zu halten. Sinnvoller scheint es aber im ganzen zu sein, bei Inhalten zuständlichen Bewußtseins jede Konnotation eines Wunsches fern zu halten und besser ganz allgemein von vorintentionalen mentalen Zuständen zu sprechen. Ebensowenig wie qualia einfach zu Wünschen erster Ordnung zäh-
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len, scheinen mir Artikulationen ohne weiteres Wünsche zweiter Ordnung zu sein. 54 Artikulationen sind symbolische Sinnbildungen bzw. Sinngebilde. Beide, Wünsche zweiter Ordnung und Artikulationen, stehen vielmehr in einem komplexen Bedingungsverhältnis, nämlich so, daß im Vollzug von Artikulationen nicht nur mentale Zustände prägnanzbildend formuliert, sondern in eins damit auch volitionale Beziehungen auf diese Zustände konstituiert werden, wobei „volitional" hier als „intentional willenshaft" gemeint ist. Artikulationen formulieren Bewußtseinszustände als volitionale Qualitäten. Volitionale Qualitäten sind nicht notwendig auch gewollte Qualitäten. Denn es kann ebenso gut sein, daß die prägnanzbildende Artikulation eines Bewußtseinszustandes diesen als ungewollte Qualität vereindeutigt. Allerdings sind bestimmte Wünsche immer zugleich unbestimmte Abneigungen - nämlich ungeschiedenerweise gegen alles, was mit der Erfüllung des Wunsches unvereinbar ist - und bestimmte Abneigungen unbestimmte Wünsche - nämlich zunächst ganz allgemein dessen, was das Unerwünschte beseitigt. Präartikulatorisch gibt es indessen weder Wünsche noch deren Gegenteil. 55 Volitionen verdanken sich mithin Artikulationen von mentalen Zuständen. Insofern nun die volitionalen Beziehungen auf mentale Zustände im Vollzug ihrer Artikulation konkret als Wünsche oder Abneigungen realisiert werden können, impliziert jede Realisierung einer Volition die Bewertung ihres Gegenstandes. Wenn man „Ich will x" sagt, dann hat man damit zugleich „x ist gut (für mich)" gemeint. Harry Frankfurts Unterscheidung von Wünschen erster und zweiter Ordnung ist also bedeutungstheoretisch einschlägig, weil es den volitionalen und - mittelbar - den handluungstheoretischen Horizont sichtbar machen hilft, in dem Artikulationsprozesse angesiedelt sind. Indem wir unsere mentalen Zustände artikulieren, bilden wir zugleich Wünsche oder Abneigungen zu dem Artikulierten aus, durch die wir es in einem allerweitesten Sinne als gut oder schlecht, als zu- oder abträglich für uns bewerten. Insofern wiederum präartikulatorische Bewußtseinszustände vielfältig artikulierbar sind, bedeuten konkrete Artikulationsgestalten zugleich Entscheidungen darüber, was in meinem Leben ich will und welchen Wert ich ihm beimesse. Insofern sind sie konkrete Vollzüge praktischer Entscheidungen, wie wir uns oder etwas in unserem Leben bewerten. Vermittels solcher Vollzüge ist Welt für uns da.
54 Das aber behauptet Jung ja ausdrücklich: „Wünsche zweiter Stufe sind ... Artikulationsgestalten, die teilweise die Bedeutung [formen], die die Dinge für uns besitzen" (Jung 1999, 300). 55 Aus genau diesem Grund argumentiert Raymond G. Frey in der gegenwärtigen tierethischen Debatte, es ergebe keinen Sinn, Säugetieren Wünsche zuzuschreiben (Frey 1997 sowie ders. 1980, VI. Kapitel).
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Freilich ist es völlig kontraintuitiv, jeden Artikulationsakt als eine Entscheidung zu charakterisieren. Und es ist auch noch ganz unklar, was die Kriterien der Bewertungen sind, die unsere Volitionen als Wünsche oder Abneigungen implizieren. Diesbezüglich hilft eine Unterscheidung weiter, die wiederum Charles Taylor im Anschluß an Harry Frankfurt gemacht hat. Taylor differenziert Wünsche zweiter Ordnung sub specie der mit ihnen vollzogenen entweder schwachen oder starken Wertungen. 56 „Im Falle schwacher Wertungen genügt es, daß etwas gewünscht wird, damit es als gut beurteilt wird, während starke Wertungen eine Verwendung von „gut" oder eines anderen evaluativen Ausdrucks erfordern, für die ein Gewünschtsein allein nicht ausreicht; in der Tat können manche Wünsche oder gewünschte Ziele als schlecht, niedrig, unehrenhaft, oberflächlich, unwürdig usw. bewertet werden." 57 Der Unterschied zwischen schwachen und starken Wertungen wird dann unmittelbar einsichtig, wenn man sich verschiedene Handlungsoptionen vorstellt, zwischen denen gewählt werden muß. Schwache Wertungen beruhen auf einer Abwägung der Präferenzen, also des Quantums an Gewünschtheit zweier oder mehrerer Alternativen, zwischen denen eine Entscheidung herbeizuführen ist („lieber ins Cafehaus oder in die Buchhandlung gehen?"), starke Wertungen auf einer qualitativen Bewertung der Motivationen, sich für die Erfüllung des einen oder des anderen Wunsches zu entscheiden. Unmittelbares Wohlbefinden als Motiv der Wunscherfüllung wird sich bei starken Wertungen also nicht gegen das Motiv gerechten, tugendhaften, vorausschauenden oder fürsorglichen Handelns durchsetzen („ich würde jetzt lieber noch etwas länger schlafen, aber ich werde stattdessen aufstehen, weil die Kinder schon wach sind"). Wenn man diese Unterscheidung macht, dann entsprechen am ehesten die schwachen Wertungen unserem Alltagsverständnis von Wünschen. Sie sind dann das Bindeglied zwischen vorintentionalen Strebungen sowie komplexen vorausschauenden volitionalen Einstellungen, die im Horizont eines existentiellen Lebensentwurfs stehen. Erst in diesem Horizont ergibt es m.E. Sinn, von artikulatorisch vollzogenen, lebensbedeutsamen Entscheidungen zu sprechen. Taylors Unterscheidung sei um der Anschaulichkeit willen noch einmal an einem Beispiel erläutert: Nehmen wir an, ich sitze mit Freunden an einem Tisch in einem Schnellrestaurant und wir führen ein Gespräch. Außerdem befinde ich mich in einem mir nicht intentional bewußten Zustand des Unwohlseins. Für die anderen ist dieses Unwohlsein daran 56 Taylor 1992b, 9-18. In Erfahrung und Religion berücksichtigt Jung diese Unterscheidung noch nicht, in neueren Arbeiten verfolgt er sie dagegen in bildungstheoretischer Absicht. Vgl. Jung 2001a, 9 f. 57 Taylor 1992b, 14.
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ersichtlich, daß sich meine Körperhaltung während des Gesprächs verkrampft. Auf die Nachfrage, ob es mir schlecht gehe, werde ich mir dieses bisher viszeralen Unwohlempfindens intentional bewußt, und zwar vereindeutigterweise als Hungergefühl. Indem ich sage, daß ich Hunger habe, meine ich auch, daß ich das ändern will. Das vorintentionale Empfinden wird durch Vereindeutigung zu einem bewußt ungewollten Empfinden. Die Prädizierung meines Zustandes als Hunger impliziert seine Wertung, zunächst aber nur im schwachen Sinne. Indem ich nicht hungrig sein will, meine ich zugleich in einem ganz elementaren Sinne, daß der Hunger schlecht für mich ist. In diesem Augenblick empfinde ich eine ganz starke volitionale Präferenz, nämlich keinen Hunger zu haben. Ihr entspricht der bisher noch ganz unbestimmte Wunsch, mit irgendetwas den Hunger zu stillen. Diese Präferenz hat mit Entscheidungen, wie ich etwas oder mich selbst verstehen und bewerten will, noch wenig zu tun. Nun gebe ich dieser Volition aber nicht statt, (a) weil das Schnellrestaurant, indem ich sitze, nur Hamburger verkauft, deren Fleisch aus einer verabscheuungswürdigen Massentierhaltung stammt, oder (b) weil ich gerade faste. Ich stille meinen Hunger (a) aus tierethischen oder (b) aus religiösen Gründen - also aufgrund von starken Wertungen - nicht. Hatte ich nun schon Hunger vor der Nachfrage, wie es mir geht? Nein, denn ich fühlte mich zwar unwohl, war mir aber dieses Unwohlseins nicht intentional bewußt. Es war, umgangssprachlich geredet, kein Thema für mich. Deshalb scheint es mir sinnvoll, die verkrampfte Körperhaltung als Ausdruck eines vorintentionalen mentalen Zustandes, als Ausdruck eines zuständlichen Bewußtseinsinhalts zu deuten und von dem späteren - intentionalen - Wunsch, keinen Hunger zu haben, zu unterscheiden. Dieser impliziert eine schwache Wertung und ist als solcher wiederum unterschieden von der starken Wertung meines Hungers als eines angesichts der tierethischen oder religiösen Konsequenzen seiner Stillung zu vernachlässigenden oder - im religiösen Falle - möglicherweise geradezu begrüßenswerten Unwohlempfindens. Erst diese letzte Bewertung beruht auf einer im engeren Sinne lebensbedeutsamen Entscheidung. Sie transzendiert die gegebene Situation darauf hin, wie ich im ganzen leben will. Und diese Transzendierungsbewegung wiederum vollziehe ich - mit de Saussure - in der parole, durch das Sprechen oder - mit Taylor - durch Sprache als energeia. Denn „Hunger" ist nun ein Ausdruck innerhalb der religiösen Geschichte, die ich über mein Fasten, deren Motivation und Konsequenzen, erzähle. Ein solcher Vorschlag, bedeutungs- und handlungstheoretische Überlegungen zur Konzeptualisierung religiöser Erfahrung zusammenzuführen, mutet zweifellos existenzphilosophisch an. Das wird auch bei Jung deutlich, besonders dort, wo er die zunächst in einer an Frankfurt
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orientierten Terminologie explizierten Sachverhalte zusätzlich durch die Unterscheidung zwischen Gehaltssinn, Bezugssinn und Vollzugssinn im Rahmen von Martin Heideggers „Hermeneutik der Faktizität" erläutert. 58 Während demnach das Begriffspaar Bezugssinn/Gehaltssinn die Differenz zwischen extensionaler und intensionaler Bedeutung, zwischen dem, was gemeint wird, und dem, wie es gemeint wird, festhält, ist der Vollzugssinn „die Art und Weise, in der das Subjekt eines Aktes ... diesen A k t . . . als Ausdruck seines Selbst- und Weltverhältnisses vollzieht ... Ausdrucksbildung legt den Vollzugssinn fest, weil sie das sich artikulierende Subjekt auf eine bestimmte Deutung der eigenen Erfahrung verpflichtet." 59 Laut Jung entsprechen Gehalts- und Bezugssinn den Wünschen erster Ordnung, während Heidegger mit dem Vollzugssinn dasjenige bezeichnet, was Frankfurt Wünsche zweiter Ordnung nennt. Allerdings kann die ungeschiedene Zuordnung von Gehalts- und Bezugssinn zu Wünschen erster Ordnung gerade dann nicht überzeugen, wenn man sich entschließt, diese in einem so weiten Sinne zu verstehen, daß sie alle Inhalte zuständlichen Bewußtseins bezeichnen. Während Frankfurts Begriff der first order-desires vielleicht noch so weit gedehnt werden kann (wenn man ihn nämlich im Sinne einer Strebung versteht, die allen Inhalten des zuständlichen Bewußtseins inheriert), ist es falsch, vorintentionalen mentalen Zuständen als solchen einen Bezugssinn im Sinne Heideggers zuzusprechen. Denn der Sinn des Bezugs auf einen Gehalt besteht in der Repräsentation dieses Gehalts sub specie des spezifischen Bezogenseins auf ihn. Also setzt die Genese des Bezugssinns voraus, daß ein Gehalt einem ihn erfassenden Subjekt gegeben ist. Er setzt mithin eine bewußtseinsförmige SubjektObjekt-Relation voraus und folglich etwas, was präintentional nicht gedacht werden kann. Dem zuständlichen Bewußtsein sind Subjekt und Objekt ungeschieden. Im Modus des zuständlichen Bewußtseins intendiert das Subjekt nicht etwas von der intentio notwendigerweise Unterschiedenes. Frankfurts Dyade ist auf Heideggers Triade nicht unvermittelt abbildbar. Andererseits wäre eine Vermittlung von Frankfurts Ansatz mit demjenigen Heideggers wünschenswert, weil sie, wie noch zu zeigen ist, den internen Zusammenhang zwischen handlungstheoretischen und existenzphilosophischen Fragestellungen kenntlich macht. Durch Taylors Unterscheidung von Wünschen zweiter Ordnung sub specie der in ihnen enthaltenen schwachen oder starken Wertungen lassen sich die Terminologien Frankfurts und Heideggers glücklicherweise miteinander verbinden. Was Heidegger Bezugssinn nennt, besteht dann
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Jung 1999, 321-329. Ebd., 324.
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in schwachen Wertungen, der Vollzugssinn dagegen in starken Wertungen. Diese werden aus der Theorieperspektive Heideggers in ihrer existentiellen Bedeutsamkeit für das Lebenkönnen im ganzen sichtbar. Jung verdeutlicht das anhand von Heideggers Interpretation der urchristlichen Lebenserfahrung in dessen Vorlesung Einleitung in die Phänomenologie der Religion. Dort werden Gehalt und Bezug als integrale Momente des Vollzugssinns an dem Verhältnis der Urchristen zur Verkündigung aufgezeigt. „Der Vollzug hat den Charakter einer interpretativen Wahl (in diesem Fall der ,Annahme der Verkündigung'), in der sich das Subjekt für eine Ausdrucksgestalt entscheidet, die ihm als genuine Option innerhalb seines Lebenszusammenhanges durch charismatische Personen angesonnen wird. Versucht man", so Jung weiter, „diesen Prozeß in seine Strukurmomente zu zerlegen, so ergibt sich folgendes Bild: Das gelebte Leben (erste Stufe) konstituiert kraft des kontrastiven Charakters der qualitativ bestimmten psychophysischen Phänomene einen Horizont von Bedeutsamkeit. Für diesen Möglichkeitshorizont hat Heidegger den Terminus , geöffnete Situation' geprägt. Durch Artikulation des präreflexiv Erfahrenen (zweite Stufe) entsteht dann eine konkrete Bedeutung, in der die geöffnete Situation zu einer Ausdrucksgestalt geschlossen wird. Die geschlossene Ausdrucksgestalt bedeutet freilich keinen Abbruch des Erfahrungsprozesses, sie geht vielmehr als Vorstruktur des Verstehens in jede neue Erfahrung ein." 60 Taylors Triadisierung der Franfurtschen Dyade legt es nun nahe, Jungs Interpretation der von Heidegger erschlossenen Struktur urchristlicher Lebenserfahrung folgendermaßen zu differenzieren: das präreflexiv Erfahrene - vielleicht besser: das Erlebte - wird durch Artikulation in der Weise einer schwachen Wertung allererst in einen Möglichkeitshorizont starker Wertungen hineingestellt und mithin auf eine Situation der Daseinserschließung hin geöffnet. Nicht schon bzw. allein das gelebte, d. h. zuständlich, vorintentional bewußte Leben besteht in kontrastiven, qualitativ bestimmten psychophysischen Phänomenen, sondern diese sind für uns erst aus der Perspektive schwacher Wertungen da. Erst schwache Wertungen konstituieren einen Horizont der Bedeutsamkeit, jene geöffnete Situation, die dann durch starke Wertungen geschlossen wird, indem unter den qualitativ indifferenten, weil nur auf Präferenzhierarchien beruhenden Bezügen schwacher Wertungen einer ausgewählt und kraft seiner Affirmation vollzogen wird. Der Vollzugssinn macht also durch Affirmation und Negation mit den Bezügen gleichsam Ernst. Er realisiert sich als die bestimmte Bedeutungshandlung einer starken Wertung, und diese ist ein point of no return, weil sie
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Ebd., 328 f.
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als Vorstruktur des Verstehens jede neue Erfahrung in einer bestimmten Richtung ihrer Bedeutbarkeit prädisponiert. Menschen legen sich so in ihrem Leben symbolisch fest. In diesem Sinne entspricht die Differenz zwischen Bezugssinn und Vollzugssinn derjenigen zwischen schwachen und starken Wertungen. Anhand der untersuchten pietistischen Autobiographien ist das unmittelbar nachvollziehbar. Exemplarisch sei hier nur auf eine Szene in dem Lebenslauf Johann Philipp Burckens verwiesen. Zur Erinnerung: Der Mann hatte seit früher Kindheit ein Augenleiden, weshalb er sich als Erwachsener entschloß, sich - wie sich dann herausstellte - von einem Quacksalber mehrfach operieren zu lassen. Das Ergebnis war vorübergehend eine völlige Erblindung, verbunden mit einem lebensbedrohlich hohen Fieber. Der streng gläubige Burcken interpretiert sein Mißgeschick als göttliche Strafe, die ihn zur harten Buße bewegen soll. Schließlich erwarten die Angehörigen wohl keine Besserung mehr, und Burcken empfängt das Abendmahl. Dem folgt zeitlich unmittelbar ein Zustand des Wohlbefindens („... ein gantz beruhigt Hertz, und solche Empfindung, daß mir gantz wol war"), den Burcken dann auch als „Zufriedenheit" bezeichnet. 61 Dabei handelt es sich offenkundig um die schwach wertend vereindeutigende Artikulation eines mentalen Zustandes als „Herzensruhe", was man im Kontext der geschilderten Umstände mit „Entspannung" paraphrasieren könnte. Die Wertung besteht in der ganz elementaren Bejahung dieses Wohlgefühls, die schon die Vokabel „Herzensruhe" als solche ausdrückt, und die noch einmal durch die Zufriedenheit betont wird, als die der Autor seinen Zustand beschreibt. Nun gibt Burcken - wie ja hinlänglich gezeigt werden konnte 62 - ein besonders rigoroses Beispiel pietistischer Selbstbezweiflung, die keinen positiven Empfindungszustand vor dem Gerichtshof des religiösen Gewissens gelten läßt. So schreibt er denn auch: „Vermuthlich aber war solche Zufriedenheit anders nichts, als eine Wirckung eines gefährlichen Schlaf=Trünckleins / welches der alte Adam und die listige Schlange mit einem selbst=gemachten Trost und blinden Hoffnung der Seligkeit zubereitet hatte." 6 Hier greift also eine starke Wertung, welche das Wohlempfinden im Kontext eines Lebensentwurfs, der unter dem Primat authentischer religiöser Selbstverneinung steht, als Sünde perhorressziert. Burckens Lebenslauf macht Ernst mit einem bestimmten Selbstentwurf, der den Vollzugssinn schwacher Wertungen im Lichte der starken entbirgt, für die sich das Subjekt nun wiederum bewußt entschieden hat. 61 62 63
Reitz 1982, 3. Bd.: Teil VI, 259. Vgl. oben, III.2.2. Reitz 1982, 3. Bd: Teil VI, 259.
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Das Ernst machen mit den möglichen Bezügen, indem ich mich dafür entscheide, diese in einem starken Sinne zu werten, kann in Rekurs auf Schrödter modallogisch als Transformation von Möglichkeiten religiösen Erlebens in die Wirklichkeit einer religiösen Erfahrung gedeutet werden. Vollzug ist wirklicher (verwirklichter) Bezug, Bezug ist möglicher Vollzug. Die modale Transformation, das zeigt Heidegger, wird durch entschlossenes Handeln geleistet, und Jung folgend ist nicht erst die religiöse Lebensführung des Menschen, sondern schon die vereindeutigende Artikulation seines religiösen Erlebens handlungsförmig, weil sie ihn auf eine bestimmte Lebensführung verpflichtet, ihn gewissermaßen in eben dieses Leben - und kein anderes, alternatives - hineinstellt. Beispielsweise wird man sich Burcken eben unmöglich - einmal abgesehen von der historischen Unmöglichkeit - in Badeshorts am Strand vorstellen können. Es scheint fast, als ob Kierkegaard diese begrifflichen Zusammenhänge, die sich im Kontext neuerer bedeutungstheoretischer Diskussionen klären, bereits erahnt hätte. Noch einmal die bereits zitierte Passage aus der Unwissenschaftlichen Nachschrift: „Die Wirklichkeit ist nicht die äußere Handlung, sondern ein Inneres, in welchem das Individuum die Möglichkeit aufhebt und sich mit dem Gedachten identifiziert, um darin zu existieren. Das ist Handlung." 6 4 Genau in diesem Sinne, so war der Satz interpretiert worden, habe die pietistische Autobiographie Handlungscharakter, weil sie die bloße Möglichkeit eines Lebens, das ich neben vielen anderen geführt haben könnte, dadurch in Wirklichkeit überführt, daß der Autor sich für seine Darstellung als die Darstellung seines Lebens entscheidet. Es dürfte nun deutlich geworden sein, wie die Struktur einer solchen Semantisierung des Lebens erfahrungstheoretisch zu denken ist. Allerdings bleibt zu fragen, ob sie sich denn tatsächlich in dieser dezisionistisch anmutenden Weise vollzieht, wie Kierkegaard das zweifellos gedacht hat und auch Heideggers Kategorie des Vollzugssinns es nahelegt. Jung gibt zu bedenken, daß es auch „unspektakuläre Formen symbolischer Prägnanz" gibt. „Hier wäre beispielsweise an traditionelle, habitualisierte Formen von Alltagsfrömmigkeit zu denken." 65 Demnach gäbe es also spektakuläre und unspektakuläre Formen symbolischer Prägnanzbildung, und die spektakulären bestünden darin, daß das Subjekt sich in entschlossener Verwirklichung seiner Seinsmöglichkeiten für eine Deutung seines Lebens entscheidet, während die unspektakulären anzeigen, daß das Subjekt eingelebte, nämlich von allen Angehörigen der gemeinsamen Lebensform unhinterfragt akzeptierte Sym-
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Kierkegaard 1957ff, 16. Abt., 2. Teil, 42. Jung 1999, 329.
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bolisierungen des Lebens als gültig für das eigene übernimmt. Es ist nun allerdings denkbar, daß auch die existentiell bewußt vollzogenen Prägnanzbildungen „traditionelle, habitualisierte Formen" sind, daß der bewußte Vollzug seinerseits historisch bedingt und in dieser Bedingtheit unhinterfragt akzeptiert ist; daß es - wie paradox es klingen mag - eine Tradition der Eigentlichkeit gibt. Dieser Gedanke drängt sich dann auf, wenn man den Handlungscharakter artikulatorischer Sinnbildung zwar berücksichtigt, ihn aber nicht existenzphilosophisch sondern sprechakttheoretisch interpretiert. Eine solche Interpretation würde zunächst einmal ganz allgemein feststellen, daß jede sprachliche Bedeutungszuschreibung an Zustände und Ereignisse der sinnhaften Welt in einer internen Beziehung zu den Sprechakten steht, in denen sie realisiert wird. Die Einsicht der Sprechakttheorie, daß die Äußerungsbedeutung eines Satzes nicht identisch ist mit dessen propositionalem Gehalt, sondern sich überdies aus seiner illokutionären Form sowie deren Handlungseinbettung ergibt, wäre hier dahingehend zu spezifizieren, daß der Gehalt der Artikulation innerer Bewußtseinszustände je nach ihrer sprachpragmatischen Form (je nach dem Sprachspiel, wie Wittgenstein sagen würde), in der sie vollzogen wird, variiert. Deshalb sind Bewußtseinszustände nicht nur kausal durch Sinnesreizung - sondern auch sinnlogisch durch die Situation bedingt, in der man sie artikuliert. Die sinnlogische Bedingtheit mentaler Zustände durch die Situation, in der sie artikuliert werden, ist nun etwas anderes als ihre Bedingtheit durch den semantischen Gehalt der Sätze, vermittels derer sie in einer solchen Situation geäußert werden. Es ist eben eine Bedingtheit durch den sprachpragmatischen, situativen Gehalt dieser Sätze. Ein Beispiel: Der Satz „Ich fühlte eine große Freude" hat eine unterschiedliche Bedeutung, je nachdem, ob er als Erlebnisbericht auf einer Party (x berichtet, daß p), als Geständnis in einer Therapiegruppe (x gesteht, daß p) oder als Bekenntnis in einem Bibelkreis auf dem Kirchentag (x bekennt, daß p) geäußert wird. Berichten, gestehen und bekennen sind aber charakteristische Illokutionen, welche die Sprachspiele der jeweiligen Gruppen: Partygäste, Therapiegruppe und Bibelkreis dominieren. Das an sich unbestimmte quale einer im allerweitesten Sinne lustvollen Empfindung, auf die ich mit dem besagten Satz schwach wertend Bezug nehme, wird hier durch propositional identische Sprachhandlungen jeweils verschieden artikuliert, und zwar mit praktischen Konsequenzen derart, daß die jeweilige Artikulation entsprechende Verhaltenserwartungen erfüllt und zum Ausdruck bringt. Erst der Vollzug der Sprachhandlung innerhalb einer bestimmten praktischen Rahmung artikuliert den Gegenstand und schreibt ihm jene Bedeutung zu, die ihm allein im Horizont starker Wertungen verliehen werden kann. Prägnanzschaffende Sinnbildung ist also eine Funktion
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bestimmter Illokutionen und der mit ihnen verbundenen performativen Verpflichtungen. Demnach hat auch die erfahrungstheoretische Deutung der Strukturlogik religiöser Sinnbildung im Pietismus den sprachpragmatischen Rahmen zu bedenken, der diese Sinnbildungen in spezifischen sozialen Institutionen des Sprachhandelns fundiert. Zu diesen Institutionen gehört nun zweifellos die pietistische Autobiographik.
3. ... durch Narrativierung
des Glaubenslebens
Briefe, Tagebücher, das intime Zwiegespräch der Frommen unter sich, der Lebenslauf, die Lebensbeschreibung: das alles dient im Pietismus der artikulatorischen Prägnanzbildung sensitiven Evidenzerlebens in einem Bezugsrahmen starker Wertungen, der als solcher f ü r die Gläubigen ebenfalls erst im Modus seiner sprachpragmatischen Artikulation manifest wird. Was immer im einzelnen berichtet, geschildert, erzählt wird, im ganzen sind autobiographische Texte im Pietismus entweder Bekenntnisse oder Geständnisse. 6 6 Originär bekenntnishaft sind die untersuchten Lebensläufe. In ihnen wird ein Bekenntnis zu den Inhalten des gelebten Lebens vollzogen, und zwar im Lichte einer Entwicklung, die sinnlogisch entweder in einem Bekehrungserlebnis terminiert oder ein von vornherein offener Prozeß der Selbstperfektionierung ist. Lebenslauf und Lebensbeschreibung sind die autobiographisch verbindlichsten Textgattungen, denn in ihnen geht es um das einzelne des Lebens nur sub specie des Bekenntnisses, das dieses einzelne zur Ganzheit fügt. Die pietistischen Autobiographien objektivieren die vielfältig und widersprüchlich ausdeutbaren Bewußtseinszustände als Momente einer religiösen Entwicklungsgeschichte (im Sinne von „story"), durch die der Pietist ein Glaubensbekenntnis ablegt. Er bekennt sich zu Gott, indem er sich zu seinem Leben als einem Bußkampf oder als einen Prozeß steter religiöser Selbstperfektionierung, jedenfalls als Medium religiöser, spezifisch pietistischer Sinnbildung bekennt. Diese Entwicklungsgeschichte {„story") ist eine Sprachhandlung, durch die ihr Verfasser eine weitaus größere performative Selbstverpflichtung eingeht als durch die anderen Formen der Selbstmitteilung im Pietismus. Es ist etwas Statuarisches an Lebenslauf und Lebensbeschreibung; sie stellen ein Leben gleichsam hin, und da steht es nun und erinnert das Subjekt an die praktischen Konsequenzen, die sich aus dieser Lebensbeschreibung, diesem Lebenslauf, kurz: aus dem Bekennt66 Zu der Möglichkeit, ganze Texte als Illokutionen zu verstehen, vgl. im zweiten Teil Anm.97.
. durch Narrativierung des Glaubenslebens
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nis dieser Lebensgeschichte („story") ergeben. Deshalb eignen sie sich besser als die anderen autobiographischen Gattungen dazu, ein wie im Falle Franckes in die Krise geratenes Selbst zu stabilisieren, indem sie es seiner, hier: religiösen Identität versichern. Wie keine andere autobiographische Gattung sonst dienen Lebensbeschreibung und Lebenslauf also der narrativen Identitätsversicherung, und es ist charakteristisch für den Pietismus, daß er nicht nur gleichsam die Technik dieses sich Versicherns bereithält, sondern das Bedürfnis danach durch die Strukturlogik seiner Frömmigkeit selbst erzeugt. Es scheint deshalb zu guter Letzt angemessen zu sein, die Semantisierung des Glaubenslebens im Pietismus als dessen Narrativierung zu spezifizieren, und zwar in der doppelten Hinsicht des Genitivs: als Drang der Gläubigen, ihre religiöse Praxis narrativ: im Sinne der erzählerischen Bewußtwerdung religiöser Sachverhalte durch Austausch mit dem (konkreten oder generalisierten) Anderen, zu vollziehen wie zu erfassen - indem nämlich diese Sachverhalte solche des eigenen religiösen Lebens sind. Seiner Identität versichert sich der Pietist sukzessive im Prozeß der religiösen Sinnbildung, dessen Strukturmerkmale der Sensitivierung, Reflexivierung und Ethisierung des Glaubenslebens sowie der Selbstcharismatisierung des Gläubigen Strukturmerkmale eines narrativen Selbstverhältnisses sind. Freilich gilt es den Begriff der narrativen Identitätsversicherung zunächst theoretisch zu erschließen, um die in der vorliegenden Arbeit anvisierte kulturgeschichtliche und philosophische Relevanz des Pietismus vollends kenntlich machen zu können. Benennt dieser Begriff doch einen Komplex von Antworten auf die in Soziologie, Psychologie und Philosophie gleichermaßen virulente, jeweils den unterschiedlichen Forschungsinteressen entsprechend variierte Frage, welcher Art das Innenverhältnis zwischen Narrativität und personaler Identität beim Menschen ist. Stellt die Psychologie diese Frage vor allem in therapeutischer Hinsicht, 67 so die Soziologie im Zusammenhang der Erforschung von sozialen Institutionen der Identitätsgenese und Wissensproduktion. 68 Die Philosophie wiederum ist mit ihr aus anthropologischem, erkenntnistheoretischem und/oder ethischem Blickwinkel befasst. 69 Die folgenden Überlegungen bemühen sich um eine mentalitätsgeschicht67
Vgl. zum Überblick Granzow 1994. Vgl. für die folgenden Überlegungen v. a. H a h n / Kapp 1987; Willems/ Hahn 1999a; speziell innerhalb der Religionssoziologie und der religionssoziologischen Konversionsforschung vgl. den griffigen Überblick über die Fülle der Literatur zur Struktur von Konversionserzählungen Knoblauch/ Krech/ Wohlrab-Sahr 1998, v.a. 18-26. 69 Vgl. für die folgenden Überlegungen v. a. Schapp 1985, darin der zweite Abschnitt; Carr 1986; Danto 1985; Maclntyre 1995, v.a. das fünfzehnte Kapitel; Rorty 1992, v.a. die ersten beiden Kapitel; Ricoeur 1996, v.a. die fünfte und sechste Abhandlung; Thomä 1998; Pothast 1992. 68
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liehe Verortung des Pietismus im Rahmen einer historischen Anthropologie. Sie wollen, ausgehend von der Diskussion narrativer Identitätsversicherung in der Soziologie, den Pietismus als eine spezifische mentalitätsgeschichtliche Instanziierung dessen kenntlich machen, was die philosophische Anthropologie unter dem Titel eines homo narrans zum Konstituens menschlicher Selbst- und Weltverständigung erklärt. Alois Hahn hat sich mehrfach und ausführlich der wissenssoziologischen Erforschung des Verhältnisses von Identität und Selbstthematisierung gewidmet. Er will die soziale Genese dessen erklären, was er das „explizite Selbst" einer Person nennt. Implizit bleibt das Selbst als „Inbegriff von im Laufe des Lebens erworbenen Gewohnheiten, Dispositionen, Erfahrungen usw., die das Individuum prägen und charakterisieren", 70 , deren es sich aber nicht unbedingt auch als seiner personalen Identität bewußt ist. Es ist dies lediglich „das Selbst in der Form des An-sich", 71 wie Hahn mit Hegel formuliert. Das explizite Selbst dagegen ist ein Ich, „das seine Selbstheit ausdrücklich macht, sie als solche zum Gegenstand von Darstellung und Kommunikation erhebt". 72 Diese Explikation beruht nun auf einem durch die Fremdperspektive sozialer Institutionen, konkreter oder generalisierter Anderer vermittelten Selbstbild. 73 Hahn optiert eindeutig für den konstruktiven Charakter dieses Selbstbildnisses, stellt es doch eine Abstraktion aus der Totalität des gelebten, erinnerten und bewerteten Lebens dar, eine Selektion aus der Faktizität jemeinigen Erlebens und Handelns. Was den Erkenntnisstatus der retrospektiven Lebensbeschreibung anbelangt, würde sich Hahn also fraglos auf die Seite der Konstruktivisten schlagen. Denn Selbstbilder, die auf Erinnerungen und Vergegenwärtigungen des gelebten Lebens beruhen, enthalten aufgrund ihrer sozialen Vermittlung Momente, „die aus der Perspektive dessen, der nur den empirischen Lebenslauf für wirklich hält, als Fiktionen angesprochen werden müssen". 74 „Wie diese Bilder aufgebaut sind, das hängt ganz wesentlich von den institutionellen Zusammenhängen, in denen sie konstruiert werden, ab. Besonders wichtig ist in diesem Zusammenhang die Frage, inwiefern das Individuum durch ausdrücklich von den Gruppen inszenierte Prozeduren zur Selbstdarstellung, zum Selbstbekenntnis, zur Of-
70
Hahn 1987, 10. Ebd. 72 Ebd. 73 Der konstitutionstheoretische Bezugsrahmen für Hahns Konzeptualisierung von Prozessen der Identitätsbildung ist die Sozialisationstheorie von George Herbert Mead in Mind, Self & Society. 74 Ebd., 13. 71
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fenlegung seines Inneren und zur Aufdeckung seiner Vergangenheit veranlaßt wird." 75 Es ist naheliegend, daß Hahn diese Frage zunächst für die soziale Institution der Beichte gestellt hat. 76 Zivilisationsgeschichtlich war vor allem die Einführung der oftmaligen und geheimen, privaten Tarifbuße im Zuge der irischen Mission des 7.Jahrhunderts als soziale Institution der Selbstbildgenese von großer Bedeutung. 77 Die damals in Umlauf gelangenden Bußbücher, sogenannte Paenitentialien, unterwarfen Handeln und Erleben der Gläubigen einem strikten, in der christlichen Sozialethik fundierten Wertungssystem. 78 Ihm zu folgen heißt gemäß der Argumentationslogik Alois Hahns, durch die in der Beichte institutionalisierte Selbstthematisierung der unwillkürlichen Alltagspraxis aus der Fremdperspektive des christlichen Sündenverständnisses durch Einstellungsübernahme eine reflexive symbolische Brechung widerfahren zu lassen. Das gilt zumal für den Ubergang von der Tat- zur Intentionshaftung. „Eine neue Stufe wird erreicht, wo sich der Schwerpunkt der Sündenanalyse von den äußeren Akten auf Intentionen verschiebt und wo Verantwortung nicht nur für Tun, sondern auch für Erleben übernommen werden muß." 79 Hier wird dem eigenen Erleben und Handeln eine bestimmte, seinen jeweiligen situativen Kontext auf das Selbst hin transzendierende, es charakterisierende Bedeutung zugemessen, kurz: die durch die Beichte erforderten Selbstzuschreibungen setzten das Selbst nicht voraus, sondern sie generieren es erst. Deshalb kann die Beichte als ein leicht nachvollziehbares Anschauungsbeispiel für das dienen, was Hahn - zumeist im Plural - einen Biographiegenerator nennt: „Ob das Ich über Formen des Gedächtnisses verfügt, die symbolisch seine gesamte Vita thematisieren, das hängt vom Vorhandensein
75
Ebd., 11. Vgl. Hahn 1982. 77 Vgl. Angenendt 1997, 630ff. 78 Die Bußbücher „enthalten Listen von Sünden, von denen jede mit einer Strafangabe bzw. einem Sühnetarif versehen ist. Die auferlegten Bußen bestehen in der Mehrzahl der Fälle aus einer bestimmten Anzahl von Tagen, Monaten oder Jahren des Fastens oder auch anderen Werken der Frömmigkeit und Liebestätigkeit" (ebd., 630). Einige dieser Bücher folgen der „Achtlasterlehre", die Völlerei, Unzucht, Geiz, Zorn, Traurigkeit, Trägheit, Hoffart und Stolz umfaßt (ebd., 631). 79 Hahn 1987, 20. Die Intentionshaftung ist den frühmittelalterlichen Bußbüchern nicht fremd, da sie sich aber weitaus schwerer tarifieren läßt als die Tathaftung, trat sie dieser gegenüber in den Hintergrund. „Die Tarifierung basiert letztlich auf der Voraussetzung, alle Schuld abwägen und nach ihrer Schwere bemessen zu können, wie es besonders der französische Begriff ,penitence tarifee' hervorkehrt. Nach festem Tarif aber können Vergehen nur dann behandelt werden, wenn als eigentliches Beurteilungsprinzip die Tathaftung gilt, der zufolge der äußerlich vorliegende Tatbestand, nicht aber zuerst die Intention des Täters bewertet wird" (Angenendt 1997, 634). 76
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von sozialen Institutionen ab, die eine solche Rückbesinnung auf das eigene Dasein gestatten. Wir wollen solche Institutionen Biographiegenei ratoren nennen. « 8 0 Die Differenz zwischen Tat- und Intentionshaftung macht im übrigen deutlich, daß die jeweiligen Biographiegeneratoren auch die Thematisierungsebene des Selbst festlegen. „Soll nur äußeres Handeln erfaßt werden? Oder sind auch innere Lagen, Gefühle, Empfindungen, Motive bekenntnisrelevant?" 81 Letztere werden erst durch die Intentionshaftung zum privilegierten Gegenstand der Selbstthematisierung. Soziale, hier: spezifisch religiöse Deutungsmuster schlagen auf diese Weise auf die Art der Selbstbilder durch, welche die Menschen von sich entwerfen. Sie determinieren, welches Selbst durch die angebotenen Formen der Selbstthematisierung entworfen, welches im Sinne des Kierkegaardischen inter-esse wirklich werden kann. 82 Aber nicht nur die Ebene der Thematisierung, auch deren Konsistenz determinieren die Biographiegeneratoren. Von ihnen hängt es ab, ob die Identität in der Einheit eines Sinnzusammenhanges zur Sprache kommen kann. Wiederum verdeutlicht Hahn das anhand der Beichte, genauer: der während der Gegenreformation aufkommenden Generalbeichte. „Haben die üblichen Beichten zwar die Funktion, das Gewissen zu erforschen, so tilgen sie doch auch andererseits die bereuten Sünden. Demgegenüber bietet die Generalbeichte Anlaß, auch die schon verziehenen Sünden noch einmal zu beichten. Es geht um eine wirkliche Sündenbiographie. Das gesamte Leben wird in einer bestimmten Weise rekapituliert." 83 Eine logische Konsequenz aus der Ableitung expliziter sprachlicher Selbstverhältnisse aus den sozialen Institutionen der Biographiegenera-
80
Hahn 1987, 12. Ebd., 17. 82 Cornelia Bohn und Alois Hahn schreiben den Biographiegeneratoren die Erzeugung biographischer Identität als „kommunikative[r] Wirklichkeit [Hervorhebung v. mir - M.S.]" zu (Bohn/ Hahn 1999, 35). Andernorts im selben Buch formulieren Herbert Willems und Alois Hahn, die biographische Identität entspringe als „subjektiv relevante und diskursfähige Sinngestalt" den Biographiegeneratoren (Willems/ Hahn 1999b, 16). Im Sinne der vorstehend im Anschluß an Kierkegaard geführten Argumentation für die symbolisch vermittelte Selbstverwirklichung des sich auf sein Lebensbekenntnis verpflichtenden Autobiographen interpretiere ich das so, daß nicht nur die Identität - im Sinne möglicher und versuchsweise erprobbarer prädikativer Selbstzuschreibungen, die nicht notwendig in einem Passungsverhältnis von Denken und Sein stehen müssen - sondern die Wirklichkeit der Identität durch die Selbstthematisierung generiert wird und daß diese Wirklichkeit eine Konsequenz der Selbstverpflichtung ist, die wir eingehen, wenn wir unser erinnertes Leben, unser diffuses, intuitives Selbstverständnis in eine „diskursfähige Sinngestalt" bringen. 83 Hahn 1987, 21. 81
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toren ist, daß nicht überall und zu allen Zeiten die gleichen Chancen zur Ausbildung eines expliziten Selbst bestanden haben und dessen Explizitheitsgrad entsprechend der ihn jeweils ermöglichenden Biographiegeneratoren historisch und sozialstrukturell stark variiert. 84 Denn dem Hahn-Kreis zufolge sind Biographiegeneratoren kein anthropologisches Faktum. Daß Menschen ihr Selbst explizit machen und in welcher Form sie das tun, hänge wesentlich davon ab, „ob es Institutionen gibt, die die Individuen zwingen oder es ihnen gestatten, ihre Vergangenheit zum Thema zu machen". 8 5 Dieser zweifellos plausible Sachverhalt kann allerdings wohl kaum als logisch hinreichende Begründung für die von Hahn geradezu apodiktisch vertretene These gelten, Menschen würden „nicht von Natur aus" dazu neigen, sich über ihr Leben Rechenschaft abzulegen. Jedenfalls gilt es festzuhalten, daß - wie immer es nun um die Neigungen und Abneigungen der Menschen stehen mag, ihr Leben zu erzählen - jedenfalls die Biographiegeneratoren nicht unmittelbar in naturalen Dispositionen fundiert sind, sondern als unselbständige Bestandteile übergreifender sozialer Strukturen fungieren. So zeigt die Geschichte laut Bohn und Hahn, „daß zumindest eine deutliche Tendenz besteht, die religiöse Selbsterforschung zu intensivieren, wenn die Vervielfältigung äußerer Handlungsmöglichkeiten einen gesteigerten sozialen Kontrollbedarf und eine verstärkte Steuerung der Individuen über Innenlenkungen nahe legen". 8 6 Biographiegeneratoren helfen demnach historisch-gesellschaftlich bedingte Kontingenzerfahrungen zu bewältigen, das Krisenhafte zu normalisieren. 87 Hahns Theorie der sozial vermittelten Selbstthematisierung erweist sich zur Deutung der pietistischen Autobiographik als anschlußfähig. Die Erbauungsliteratur frühpietistischer Provenienz reagiert auf die dogmatischen Konflikte, welche der Konsolidierung der Konfessionen nach dem Augsburger Religionsfrieden folgen, mit einer überkonfessionellen, bei aller Polemik gegen die katholische Kirche substantiell irenischen Innerlichkeits- und Empfindsamkeitsakzentuierung der Frömmigkeitsnormen, die aus den nun mehrfach entwickelten Gründen die reflexive Symbolisierung des Glaubenslebens ansinnen. Was Marianne Willems der Empfindsamkeit attestiert, gilt so schon für den Pietismus als Gegenbewegung zur theologischen Dogmatik: „Die Verankerung im Gefühl, dem fraglose Evidenz zugesprochen werden kann, stellt die Moral" - im Pietismus: die frömmigkeitsfundierte Handlungsorientierung - „auf eine sicherere Basis und schließt zugleich die Kluft zwischen 84 85 86 87
Ebd., 17. Ebd., 18. Bohn/ Hahn 1999,45. Ebd., 43.
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Normsystem und konkreter Lebenswirklichkeit, die ein zentrales Problem des Begründungsrationalismus darstellte." 88 Der Pietismus zeigt freilich, daß Hahns Theorie differenziert werden muß. Denn Biographiegeneratoren entwickelt der Pietismus auf zwei Ebenen. Erstens ganz im Sinn des von Hahn eingeführten Begriffs - bildet die Frömmigkeitspraxis des Pietismus diejenigen sozialen, sprachpragmatischen Institutionen aus, die es den Menschen leicht machen, sich zu thematisieren: Konventikel, Bet- und Bibelkreise, die seelsorgerisch intendierte Zwiesprache der Frommen untereinander und mit ihren Pfarrern, das Tagebuch, den Lebenslauf, die entstehende Briefkultur. Diese Ausdrucksmedien stehen den Pietisten im späten 17. und 18.Jahrhundert in den protestantischen Ländern eingeführter-, weitgehend anerkannterund geforderterweise zur Verfügung. Das heißt freilich nicht, daß sie auch genutzt werden. Warum hätten die Menschen dem Ansinnen von Theologen wie Johann Arndt und Philipp Jakob Spener folgen sollen? Es leuchtet nicht ein, daß sie allein durch die Existenz von pietistischen Konventikeln dazu bewegt worden wären, diese auch zu besuchen. Dasselbe Erklärungsproblem gibt im übrigen ja auch die Institution der Beichte auf (ohne daß Hahn dieses Problem, wenn ich recht sehe, irgendwo thematisiert hat). Warum gingen die Menschen zur geheimen Beichte? Allein aufgrund von äußeren Zwängen? Dann wäre das während der Beichte thematisierte Selbst lediglich ein strategisches Konstrukt gewesen und diese mitnichten ein Biographiegenerator geworden, der identitätsbildend gewirkt hat. Mit äußerem Zwang allein kann die Entstehung von Identität nicht erklärt werden. Das gilt auch für den Pietismus. Erst die Identifizierung der Frömmigkeitsformen - wie der Besuch von Bet- und Bibelkreisen, das Abfassen von Tagebüchern und Lebensläufen - als Ausdrucksgestalten eines sozialen Deutungsmusters, eines religiösen Welt- und Selbstdeutungssystems also, das gemäß den Strukturmerkmalen pietistischer Sinnbildung Erlebens- und Handlungsformen der Aktoren generiert, 89 kann erklären, daß die institutionellen Biographiegeneratoren von den Gläubigen auch genutzt wurden. Deshalb ist zweitens - über Hahn hinausgehend - auch von der Strukturlogik religiöser Sinnbildung im Pietismus, speziell aber von dem Strukturmerkmal der Reflexivierung des Glaubenslebens als einem Biographiegenerator zu sprechen. Es erzeugt jenen inneren - nicht äußeren! - Zwang zur innerlichkeits- und empfindsamkeitsakzentuierten Selbstthematisierung, der schließlich zur Begründung von sozialen Institutionen wie Konventikeln oder der Brief-
88 89
Willems 1999, 113. Vgl. II.4.
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kultur führt, welche dann ihrerseits die durch die Strukturlogik religiöser Sinnbildung im Pietismus bedingte Disposition zur Selbstthematisierung in konkretes Handeln überführen und dadurch sozial objektivieren. So greifen - gemäß der Psychodynamik pietistischer Sinnbildung und in differentieller Fortführung von Hahns Theorie - ein struktureller und die institutionellen Biographiegeneratoren in der Frömmigkeitspraxis der Selbstthematisierung ineinander. Beide sind intern sozial, die institutionellen sowieso, aber auch der strukturelle, weil er integraler Bestandteil eines sozialen Deutungsmusters und überhaupt nur als solcher konsistent denkbar ist. Wenn aber der Pietismus als soziales Deutungsmuster Selbstthematisierungen erzeugt, dann erzeugt er durch den strukturellen Biographiegenerator der Reflexivierung des Glaubenslebens - in der an Hegel orientierten Terminologie Alois Hahns - Identitäten an sich, zu deren impliziten Eigenschaften es gehört, zwingenderweise für sich zu werden. Wie diese Selbstbewußtwerdung sich konkret vollzieht, kann indessen nicht auch noch aus dem Deutungsmuster abgeleitet werden. Ist das explizite Ich zwar als reale und auf Realisierung drängende Möglichkeit gemäß der Logik pietistischer Sinnbildung bereits Teil des impliziten Ich, so bedarf es gleichwohl zu seiner Aktualisierung noch der geschichtlich veränderlichen sozialen Institutionen. Mit anderen Worten: Nur der strukturelle, nicht die institutionellen Biographiegeneratoren sind Bestandteil der Logik religiöser Sinnbildung im Pietismus. Welche konkrete Gestalt die jeweilige Selbstthematisierung annehmen wird, ist aus deren strukturellen Bedingungen nicht ableitbar, denn das hängt eben auch von den konkreten, historisch kontingenten institutionellen Biographiegeneratoren ab, welche das religiöse Subjekt mit ihrerseits wiederum historisch kontingenten Semantiken, Artikulationsstilen und narrativen Gattungen versorgen. Nur daß sich der Pietist innerlichkeitsund empfindsamkeitsakzentuiert thematisieren und im Medium einer historisch kontingenten Semantik zu religiösem Selbstbewußtsein gelangen wird, ist ein notwendiges Strukturmerkmal des Pietismus. Der strukturelle Biographiegenerator ist also Bestandteil des impliziten Selbst und mithin dessen, was Hahn im sachlichen Anschluß an Pierre Bourdieu ein Habitusensemble und mit ausdrücklicher Bezugnahme auf Erving Goffman eine resource-continuity nennt. 90 Vor allem Bourdieus Habitus-Konzept besitzt viele Berührungspunkte zu Oevermanns Theorieskizze sozialer Deutungsmuster, die sich ja wiederum als hilfreich für die Erschließung der Strukturlogik pietistischer Sinnbildung erwiesen hatte. Allerdings ist der Habitusbegriff enger gefaßt als
90
Hahn 1987, 10;ders. 1995, 132-136.
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der Begriff sozialer Deutungsmuster, er benennt im wesentlichen dasjenige, was Oevermann unter Einstellungsmustern versteht, nämlich soziale Deutungsmuster sub specie ihrer performativen Realisierung in der Alltagspraxis. 91 Oevermanns ebenso wie Bourdieus Konzeptualisierung
91 Bourdieu kennt freilich, wenn ich recht sehe, keinen Begriff, welcher den sozialen Deutungsmustern äquivalent wäre. Die f ü r die Gegenüberstellung von Oevermann und Bourdieu einschlägigen Formulierungen seien hier noch einmal zitiert (vgl. auch die einschlägigen Passagen in Π.3.): „Individuelle Einstellungen, Erwartungen und Glaubensvorstellungen stellen Konkretionen der sozialen Deutungsmuster dar. Soziale Deutungsmuster sind konstitutiv f ü r die individuellen Einstellungen, nicht umgekehrt individuelle Einstellungen f ü r soziale Deutungsmuster" (Overmann 1973, 10). U n d : „Die systematische Gleichförmigkeit von individuellen Einstellungen läßt sich auf der Ebene der Psychologie nicht mehr erklären. Eine psychologische Erklärung müßte nämlich von der G r u n d a n n a h m e einer Eins-zu-Eins-Korrespondenz von Umweltbedingungen und Einstellungen ausgehen. Handlungssubjekte in ähnlichen Umweltbedingungen bilden dann ähnliche Einstellungen heraus. Eine solche Erklärung vernachlässigt die I n t e r v e n t i o n ' intersubjektiv gültiger Regeln der Deutung von Sachverhalten im P r o z e ß der Einstellungsgenese. Diese Regeln sind aber . . . emergente Eigenschaften von Interaktionssystemen, nicht von Persönlichkeitssystemen. Mit der Einführung dieses soziologischen Regelbegriffs läßt sich dann auch plausibel machen, warum diesselben Einstellungsmuster gegenüber einem Variationsspielraum von objektivistisch beschriebenen Handlungsbedingungen aufrechterhalten werden und somit Eins-zu-Eins-Korrespondenz zwischen Einstellungen und Umweltbedingungen nicht vorliegen m u ß " (ebd.). Die soziologische Analyse behandelt individuelle Einstellungen „als Derivate von Deutungsmustern, die als ,faits sociaux' den Handlungssubjekten objektiv gegenübertreten. Diese ,faits sociaux' werden empirisch zwar aus der Gleichförmigkeit individuell-konkreter Meinungen und Einstellungen erschlossen, aber als erschlossene Tatsachen erklären sie dann diese Einstellungen" (ebd., 11).
Demgegenüber Bourdieu: „In der Terminologie der generativen Grammatik N o a m Chomskys ließe sich der Habitus als ein System verinnerlichter Muster definieren, die es erlauben, alle typischen Gedanken, Wahrnehmungen und Handlungen einer Kultur zu erzeugen - und nur diese" (Bourdieu 1974, 143). Auch f ü r Bourdieu gilt, d a ß sich das System verinnerlichter Muster - bei Oevermann: der Einstellungsmuster - nur aus konkreten Einstellungen erschließen läßt, in seinen Worten: „daß sich der modus operandi im opus operatum zu erkennen gibt, und nur d a " (ebd., 151). Analog zu Oevermanns Strukturebenen der Deutungsmuster und Einstellungsmuster formuliert Bourdieu, Habitusformen seien „Systeme dauerhafter und übertragbarer Dispositionen, als strukturierte Strukturen, die wie geschaffen sind, als strukturierende Strukturen zu fungieren, d . h . als Erzeugungs- und Ordnungsgrundlagen f ü r Praktiken und Vorstellungen, die objektiv an ihr Ziel angepaßt sein können, ohne jedoch bewußtes Anstreben von Zwecken und ausdrückliche Beherrschung der zu deren Erreichung erforderlichen Operationen vorauszusetzen, die objektiv ,geregelt' und Regelmäßig' sind, ohne irgendwie das Ergebnis der Einhaltung von Regeln zu sein, und genau deswegen kollektiv aufeinander abgestimmt sind, ohne aus dem ordnenden H a n d e l n eines Dirigenten hervorgegangen zu sein" (Bourdieu 1987, 98f). Habitusformen sind strukturierende Strukturen, insofern sie konkreten Dispositionen zugrundeliegen, sie sind in der Terminologie Oevermanns also jene Einstellungsmuster, die aus den konkreten gleichförmigen Einstellungen der Aktoren erschlossen werden können. Andererseits bezeichnet Bourdieu die Habitusformen ihrerseits als durch anderes strukturiert. Hier greift nun Oevermanns Konzept sozialer Deutungsmuster, indem es zeigt,
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sozialen Handelns sind - übrigens bei beiden durch Reformulierung der generativen Grammatik Noam Chomskys im Sinne einer Grammatik des sozialen Handlungssinns - Versuche, begrifflich zu explizieren, was Max Weber mit seiner noch unterminologischen Verwendung des Habitusbegriffs, der ihm aus der Scholastik bekannt gewesen sein dürfte, 9 2 in seiner Protestantismusstudie anvisierte. Da spricht er vom „inneren Gesamthabitus des Puritaners" 93 und meint damit „die in den psychologischen und pragmatischen Zusammenhängen der Religionen gegründeten praktischen Antriebe zum Handeln",94 die sich keinen oder zumindest nicht primär rationalen Handlungsabwägungen verdanken, sondern „Produkt eines lang andauernden Erziehungsprozesses" sind 95 und sich folglich auch nicht in „irgendeiner einheitlichen Weltanschauung'" erschöpfen, ja von dieser subjektiv sogar völlig ablösen können. 96 So wie vom „inneren Gesamthabitus des Puritaners" läßt sich auch von dem inneren Gesamthabitus des Pietisten sprechen, und dieser Habitus impliziert die innere Disponierung für Selbstthematisierungen,
d a ß die Einstellungsmuster - nach Bourdieu die Habitusformen - ihre Struktur den ihnen sinnlogisch inherierenden und grundsätzlich propositional explizierbaren, weil „nach allgemeinen Konsistenzregeln strukturiertefn] Argumentationszusammenhänge[n]" (Oevermann 1973, 3) verdanken, eben den sozialen Deutungsmustern. Ich bin nicht sicher, ob Bourdieu diesen Schritt mitmachen würde, der - bei Oevermann vermutlich im Anschluß an Searle - besagt, d a ß alle sinnhaften Strukturen der phänomenal gegebenen Wirklichkeit als solche begriffliche Strukturen sind - und deshalb auch mit den Mitteln einer objektiven Hermeneutik, die ja eine Lehre des sprachlichen, d . h . des begrifflichen Verstehens ist, in ihrem originären Bedeutungsgehalt erschlossen werden können. Auch ein musikalisches Sinngebilde verstehen wir, wenn wir es überhaupt verstehen wollen, demnach nur derivativ zum sprachlichen Verstehen, und zwar deshalb, weil es ebenso wie ein philosophischer Text einen symbolisch zwar als Klang materialisierten, logisch aber nach allgemeinen, sprachanalogen und nur sprachlich angemessen explizierbaren Konsistenzregeln strukturierten Argumentationszusammenhang ausschnittweise zum Ausdruck bringt. Es ist bereits darauf hingewiesen worden, d a ß diese These keineswegs als unbestritten gilt (vgl. Teil II, Anm.73). Bourdieu denkt Habitusformen zwar als strukturierte Strukturen - in seinem frühen Buch Zur Soziologie der symbolischen Formen spricht er vom Habitus als Vermittlung zwischen Struktur und Praxis - , aber er bestimmt die Struktur, welche den Habitus bzw. die Habitusformen strukturiert, nicht, jedenfalls nicht vergleichbar eindeutig in einem begriffsrealistischen Vokabular wie Oevermann, dessen Theoriearchitektonik - nicht nur in seiner Skizze zu einer Theorie sozialer Deutungsmuster, sondern auch in der Programmatik seiner Methodologie einer objektiven Hermeneutik - Assoziationen an Hegels Lehre des absoluten Geistes weckt. 92
Vgl. zur Geschichte des Habitusbegriffs Nicki 2001. Weber 1988, 182. 94 Ebd., 238. 95 Ebd., 46. 96 Ebd., 56. Weber gibt ein instruktives Anschauungsbeispiel f ü r die Wirkungsweise des puritanischen Gesamthabitus (vgl. ebd., 189, Anm. 3), das oben im Zusammenhang der Einführung des Deutungsmusterbegriffs ausführlich diskutiert wurde (vgl. oben 130f). 93
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welche sich im Verbund mit entsprechenden Institutionen artikulieren, aber auch allererst zu deren Hervorbringung beitragen und diese verändern kann. Die Biographiesammlung des Johann Henrich Reitz ist in dieser Hinsicht auf exemplarische Weise doppeldeutig. Die in ihr verstreuten autobiographischen Zeugnisse sind nämlich - ebenso wie die Lebensläufe August Hermann Franckes und Johanna Eleonora Petersens - eine Ausdrucksgestalt der habituellen Disponierung des Pietisten zur narrativen Symbolisierung seines Glaubenslebens. Aus dem Inhalt dieser Lebensläufe, ja allein schon aus der Tatsache, daß sie existieren, ist ohne weiteres ersichtlich, welche selbstverständliche und reflexiv nicht hinterfragte Lebensbedeutsamkeit die erzählerische Objektivierung wichtiger Lebensereignisse, -ausschnitte und -phasen für die Verfasser hatte. Daß diese Selbstzeugnisse in einer Sammlung zusammengestellt wurden - und die Reitzsche ist ja nur eine von vielen - , ist freilich auch ein Indiz für etwas anderes. Es bedeutet, daß eine spezifische Institution der Selbstthematisierung - der Lebenslauf - als ein privilegiertes Ausdrucksmedium religiöser Subjektivität normativ autorisiert wird. Die Lebensläufe, in der Formulierung Bourdieus opera operetta, ursprünglich unwillkürliche Objektivationen eines modus operandi der Selbstthematisierung, werden nun ihrerseits zum Gegenstand einer Thematisierung. Sie verschwinden nicht in den Familienunterlagen, werden auch nicht, wie zum Beispiel Franckes Lebenslauf, nur unter der Hand weitergereicht und zum unmittelbaren Gebrauch im Lebensumkreis des jeweiligen Verfassers bestimmt, sondern gesammelt und öffentlich überliefert. Das werden Gelehrtenbiographien zwar auch. Aber während diese ein beispielhaftes und repräsentatives Leben der Öffentlichkeit kundtun, wird man bei vielen der von Reitz versammelten Selbstzeugnisse den Eindruck nicht los, angesichts der Mediokrität des darin bezeugten Lebens - man denke nur an die Skizze des P.St. - sei es ein zentrales Veröffentlichungsmotiv gewesen, dem Leser die religiöse Selbstthematisierung als solche durch beispielgebende Dokumente anzusinnen. Wie formuliert der Herausgeber gleich zu Beginn seiner „Vorrede An Den Christlichen Leser" zum ersten Teil der Historie: „Darum / gleichwie nichts nützlichers / nichts heilsamers / nichts Evangelischer seyn kann / als wann ein Glaubiger dem andern seine Sünden / Jac.5.V.16 ja auch die Gnaden Gottes in ihm / bekennet / also ist das die allersprießlichste Confession und das allerheilsamste Symbolische Buch / wann viele Wiedergebohrne ihren Kampf / ihren Lauff / ihren Glauben / ihre Angst und Geburt=Schmertzen / ihre gehabte Gedancken / Reden / und Vornehmen / und was Gottes Gnad und Geist in ihnen gewürcket / und was der Satan / die Welt und ihr Fleisch an sie gesinnet / oder worzu gereitzet und versucht / zusammen tragen / und davon eine Hi-
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storie machen / die da gleich ist einem auß vielen Blumen / von vielerley Farben un mancherley Kräften / zusamen gesetzten Sträußlein oder einem Myrrhen=Büschlein / so von Geschmack bitter / aber eines angenehmen Geruchs ist / Cant.I.V. 13."97 Reitz fordert seine frommen Leser also ausdrücklich zum Abfassen eines eigenen Lebenslaufs auf, und die versammelten Historien mögen ihnen als Vorlagen dazu dienen, wie man das macht. Der Lebenslauf wird in der Vorrede und dann durch die Sammlung der Zeugnisse als solche hinsichtlich seiner konstitutiven Bestandteile thematisiert und gleichsam zum Zwecke der Nachbildung autorisiert. Die veröffentlichten Selbstthematisierungen fungieren hier also zugleich als Thematisierungen ihrer selbst. Reitz' Sammlung, so in Kürze die These, ist ein Dokument für die Selbstreferentialisierung der pietistischen Autobiographik. Darin steckt nun aber ein ungeheures literarisches Säkularisierungspotential, für das auf einer - sowohl zeitlich wie entwicklungsgeschichtlich - viel späteren Stufe Lavaters Vorrede an den Herausgeber seines Geheimen Tagebuchs von 1771 zeugt, die in dem zwei Jahre später erschienenen zweiten Band dieser Aufzeichnungen unter dem Titel Unveränderte Fragmente aus dem Tagebuche eines Beobachters seiner Selbst abgedruckt ist. Fragen der ästhetischen und im engeren Sinne literarischen Säkularisierung des Pietismus drängten sich schon im zweiten Teil der Arbeit im Zusammenhang der heuristischen Formulierung einer Strukturlogik pietistischer Sinnbildung auf und wurden dort unter Bezugnahme auf Lavaters erstes Tagebuch konkretisiert. 98 Diese Überlegungen sind nun anhand seines Vorwortes in dem Folgebartd fortzuführen. Dazu muß man wissen, daß der Verfasser die Veröffentlichung des ersten Bandes, der, wie der Titel auch andeutet, anonym erschien, nicht selber betrieben hatte. Der Zürcher Pfarrer pflegte seine Manuskripte unbedenklich unter Freunden und Verwandten - gleichsam als fromme Liebesgaben - auszustreuen, was schließlich in der Institutionalisierung dieses Privataustausches in Form einer „Handbibliothek für Freunde" gipfelte. Christoph Siegrist spricht in dem Zusammenhang auf treffend paradoxe Weise von „intimer Öffentlichkeit". 9 9 Auch Lavaters Tagebuchaufzeichnungen gelangten in die H ä n d e eines Freundes, der sie wiederum dem St. Gallener Prediger Zollikofer zuspielte. Dieser redigierte das Manuskript so, daß die Anonymität des Verfassers gewahrt blieb, und gab es dann heraus. Indessen waren zwecks Veröffentlichung 97
Reitz 1982, 1. BdrTeil I-III, Vorrede zum I.Teil, o.S. Die folgenden Ausführungen schließen an die auf Lavater bezüglichen Partien am Ende des zweiten Teils an (Π.6.). 99 Siegrist 1978, 21. Zur Vorgeschichte der Veröffentlichung von Lavaters Tasgebüchern vgl. ebd., 21 ff. 98
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kleinere Manipulationen an dem Text vorgenommen worden, so daß, nachdem die Anonymität des Verfassers rasch gelüftet worden war, Lavater in einem der zweiten Auflage beigefügten Brief behaupten konnte, diese Schrift brauche er in der vorliegenden Fassung guten Gewissens nicht für sein Werk zu erklären. 100 Weil er aber nun einmal als Autor entdeckt war und andererseits die Einschübe und Eingriffe den Authentizitätsanspruch des Tagebuchs in Frage stellten, entschloß sich der Pfarrer zur Veröffentlichung einer Fortsetzung, bei der der Herausgeber mehr Zurückhaltung üben sollte. Interessant ist nun, wie Lavater in dem Vorwort dieser Ausgabe an den Herausgeber Zollikofer auf die Vorwürfe reagiert, mit denen er von den Lesern des ersten Bandes konfrontiert wurde. Zuvorderst kann er nicht verstehen, warum in Gottes Namen die Leser unbedingt den Autor ausfindig machen wollten, „daß sie mehr den vermutheten Verfasser, als sein Tagebuch, das Beobachtete, als den Beobachter beurtheilten". 101 Er beklagt eine „erbärmliche Verfehlung der Gesichtspunkte", 102 technisch formuliert: eine der Textgattung des Tagebuchs unangemessene Rezeptionshaltung. Nicht den Verfasser, sondern den Beobachter, nicht das Beobachtete, sondern das Tagebuch hätte sie interessieren sollen. Aber ist hier nicht der Beobachter auch der Verfasser und das Beobachtete Inhalt des Tagebuchs? Lavater will darauf hinaus, daß es für die Bedeutsamkeit des Tagebuches irrelevant sei, ob das Berichtete genau so auch wirklich geschehen sei und ob es den Lebensausschnitt dieser oder jener konkreten historischen Person wiedergebe. Was aber ist relevant? Nach Lavaters Auffassung besteht die Bedeutsamkeit des Tagebuchs für die Leser darin, daß es ein privilegiertes Ausdrucksmedium der sich selbst ergründenden Individualität ist, der Ort, in dem ein Individuum in der komplexen „Mannichfaltigkeit" seines Wesens 103 zur Sprache gelangt. Um diesen Ausdruckscharakter der Schrift, gleichsam um die sprachlich gestaltete Selbstergründungstour des Tagebuches geht es, nicht um den etwaigen Verfasser hinter der Sprache. Deshalb seien auch diejenigen unter den „Censoren" auf dem Holzweg, die aus dem Beobachteten Vorschriften ziehen wollten: „[w]as Beobachtung ist, ist nicht Vorschrift, nicht Regel, Grundsätze für alle, Beyspiel ohne Einschränkung!" 104 Das Tagebuch
100 So seine Wiedergabe des Briefes in dem Vorwort des zweiten Bandes an den Herausgeber: Lavater 1978, X. 101 Lavater 1978, VII. 102 Ebd., IX. 103 Ebd., XXVII. 104 Ebd., XVI.
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sei als „Beobachtungsgeschichte" zu lesen, nicht als „Sittenlehre". 105 Wenngleich Lavater auch schreibt, daß das Tagebuch dem Leser „zu seinem Vergnügen und Nutzen gereichen" werde, so darf darunter nach alldem gerade nicht die Funktion des Horazischen „delectare et prodesse" verstanden werden. Wird hier nämlich das delectare als ästhetischer, die Lebenskräfte belebender Reiz verstanden und das prodesse als moralischer Nutzen, der aus der Literatur zu ziehen sei, so wendet sich Lavaters Theorie des Tagebuchs, als die man die Ausführungen in seinem Vorwort an den Herausgeber getrost verstehen darf, gegen beides. Der wiederholten und nachdrücklichen Insistenz auf der sowohl sittlich wie - in Kategorien der Gefälligkeit - ästhetisch indifferenten Beobachtung als der charakteristischen Leistung des Tagebuchs, welcher die Leser gefälligst durch vorurteilsloses und nicht durch biographistisch verkürztes Interesse zu begegnen hätten, entspricht am ehesten Baumgartens Begriff einer cognitio sensitiva, den er der von ihm begründeten philosophischen Ästhetik zur Kennzeichnung ihrer spezifischen, von der herkömmlichen rationalistischen Erkenntnistheorie unterschiedenen Gegenstandskonstitution zugrundelegt. 106 Vernunfterkenntnis, die der Ergänzung durch die sinnliche Erkenntnis entbehrt, überführt Baumgarten eines formalistischen Reduktionismus: „Doch welcher Art ist jener Gegenstand, den der Mensch mit so vollkommener Vernunft betrachtet? Irgendein Allgemeinbegriff, der aus den individuellen Erscheinungen entspringt, die doch, jede in ihrer Art, eine unbegrenzte Fülle bedeutender Einzelheiten enthalten ..." 1 0 7 Baumgarten zufolge muß den Philosophen völlig klar sein, „daß nur mit einem großen und bedeutenden Verlust an materialer Vollkommenheit all das hat erkauft werden müssen, was in der Erkenntnis und in der logischen Wahrheit an besonderer formaler Vollkommenheit enthalten ist. Denn
105
Ebd., VIII. „ A E S T H E T I C A (theoria liberalium artium, gnoseologia inferior, ars pulchre cogitandi, ars analogi rationis) est scientia cognitionis sensitivae", wie Baumgarten in §1 seiner Aesthetica bündig formuliert (Baumgarten 1988, 2). Ausdrücklich setzt Baumgarten fest, das Ziel der Ästhetik sei die „perfectio cognitionis sensitivae, qua talis", und fährt fort: „haec autem est pulchritudo . . . " (Baumgarten 1988, §14, 11). D a s apodiktisch verausgesetzte Junktim von vollkommener sinnlicher Erkenntnis und Schönheit leuchtet allerdings nicht ein, weil wir „schön" und „hässlich" als Prädikate verwenden, die einen Gegenstand objektiv - also unbeschadet der V o l l k o m m e n h e i t oder Unvollkommenheit unserer cognitiones - bestimmen. Gewisse D i n g e können eben durch eine vollkommene sinnliche Erkenntnis nicht schön gemacht werden, während die Feststellung ihrer H ä ß lichkeit umgekehrt keineswegs auf einer unvollkommenen ästhetischen Erkenntnis beruhen muß. Gegenteilige Behauptungen beruhen auf einer metaphysischen Harmonisierung der ästhetischen Subjekt-Objekt-Relation. Vgl. hierzu Schlette 1998. 106
107
Baumgarten 1988, §559, 143.
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Teil IV Autobiographik und Selbst(er)findung
was bedeutet die Abstraktion anderes als einen Verlust?" 108 In genau diesem Sinne will Lavater den Leser seines Tagebuchs davor bewahren, es vorschnell an Erwartungen zu bemessen, die von Allgemeinbegriffen präformiert worden sind und den Inhalt nun subsumptionslogisch bewerten. Stattdessen will er ihnen die sinnliche Erkenntnis eines Individuums in der Vielfältigkeit seines sprachlich in Tagebuchform objektivierten Gegebenseins ansinnen, 109 und dafür ist es gänzlich unerheblich, wer dieses Individuum tatsächlich war. Nun ist es an sich schon bemerkenswert, daß die Anlage eines Tagebuches in Form von Selbstbeobachtungsprotokollen keine Begründungslasten moralischer oder sittlicher Art mehr soll schultern müssen. Aber Lavater geht darüber noch zwei erhebliche Schritte hinaus. Erstens, in Verlängerung seiner Interpretation des Tagebuchs als Ausdrucksmedium der sich selbst ergründenden Individualität, vertritt er die uns bereits von dem mehrfach zitierten Diktum Philipp Nicolais her bekannte These, daß die Innerlichkeit des Individuums sprachlich uneinholbar ist: 110 „Gott und der Mensch ist immer der Text. Alle Buchstaben sind nur Auslegung; was sage ich, sind nur Bild, Copie, Umriß, Schatten ,.." 1 1 1 Daraus folgt notwendig, daß die Selbstergründung unabschließbar bleiben muß, und eben dafür steht ja auch die Gattung des Tagebuchs, zu dessen formalen Merkmalen das offene Ende zählt. Zweitens kann sich das Tagebuch Lavater zufolge der Fiktion bedienen, ohne an Glaubwürdigkeit und Bedeutsamkeit zu verlieren. „Könnte denn das Buch, gesetzt, daß es auch durchaus im höchsten Grade erdichtet wäre, nicht immer noch in mancher Absicht großen Nutzen haben, wenigstens eben den Nutzen, den man jedem moralischen Romane gern eingesteht? ... Würde nicht immer mancher Leser bey mancher Stelle gleich gesagt haben: Hier erkenne ich mich! da stehe ich - dieser Fehler und diese Denkungsart sind die meinigen; - hier wird mir deutlich und auf eine sanftbelehrende Weise vorgesprochen, was ich oft so tief bey mir empfinde, und mir so ungern heraussage?" 112 Lavaters Vergleich des Tagebuchs mit dem moralischen Roman - man denke da an Autoren wie Oliver Goldsmith oder Christian Fürchtegott Geliert -
108
Ebd., §560, 145. So schreibt er: „Ach! wer kann doch so kurzsichtig seyn, die unendliche Wichtigkeit der Beobachtung des Ganges oder Irrganges einer nicht ganz unredlichen Seele, und wie sie zurückkömmt, wenn sie allenfalls irre gegangen, nicht einzusehen? Nicht so stark einzusehen, daß man sie tauensenmal lieber wünschte, als ein Ideal, ein vollkommenes Bild, das so, wie es gemahlt wird, nirgends vorhanden ist, und nirgends vorhanden seyn kann ..." (Lavater 1978, XVII). 110 Vgl. oben, 1.1.4. 111 Lavater 1978, XVIII. 1,2 Ebd., XIVf. 109
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hinkt freilich, denn belehrend sollen seine Selbstzeugnisse nicht insofern sein, daß sie eine moralische Aussage narrativ ausschreiben, sondern daß die nicht von anderswo her instrumentalisierte, sondern zweckfrei betriebene Selbstbeobachtung durch die Differenziertheit ihrer psychologischen Erschließungskraft auch dem Leser eine Erkenntnis dessen vermittelt, was und wer er ist. Das gilt nun aber eher - soll denn schon der Vergleich mit zeitgenössischen Romanen herhalten für den Werther als den Pfarrer von Wakefield. Die freimütige Gewährung fiktionaler Bestandteile in einem Tagebuch bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung seines Authentizitätsanspruches ist ein mutiger Gedanke. Von den eigenen Aufzeichnungen bekennt Lavater: „Nichts Moralisches oder Unmoralisches im Tagebuch ist erdichtet; wenn gleich viel an der äußerlichen Geschichte, an der Form erdichtet, oder stark verändert und versetzt ist." 113 Mit anderen Worten: die Aufzeichnungen sprechen authentisch dasjenige aus, was der Verfasser als seinen Charakter ergründet hat, aber sie tun das auf eine gleichsam inventorische Art und Weise. Mit Fontane ließe sich das so formulieren: Um des Wahren willen wird im „bloß Handgreiflichen" zur prägnanten Charakterisierung der Person verdichtet, umgeschrieben und frei ersonnen. Genau besehen ist dieser lockere Umgang mit dem historisch Verbürgbaren eine Konsequenz aus Lavaters Einsicht in die sprachliche Unhintergehbarkeit der innerlichen Individualität. Denn sie gründet in der - pietistisch unmittelbar plausiblen - Gewißheit von der Unergründlichkeit des Selbst. Ist das Selbst ein Mysterium, das sich niemals ganz im „bloß Handgreiflichen" entbirgt, so kann seine sprachlich vermittelte Ergründung dann gestalterisch frei über das Äußerliche verfügen, wenn das Ergebnis nach Befinden des Autobiographen dem Ausdruck seiner selbst angemessener erscheint, als eine getreue Wiedergabe dessen, was auch Dritte zweifelsfrei bezeugen können. Der Literarisierung der Autobiographie ist damit Tür und Tor geöffnet. - Zusammengefaßt: Zuerst die von Johann Henrich Reitz versammelten Selbstzeugnisse, dann die bloße Tatsache ihrer Sammlung und öffentlichen Herausgabe unter dem Titel einer Historie der Wiedergebohrnen und schließlich Lavaters wenigstens subkutan autobiographietheoretische Erwägungen in dem Vorwort seiner Unveränderten Fragmente aus dem Tagebuche eines Beobachters seiner Selbst markieren drei Stufen in einem Prozeß der Literarisierung pietistischer Autobiographik; darüber hinaus und vor allem anderen ist diese als ein Symptom zu werten für das zunehmende Bewußtsein der Pietisten von dem eigenen Selbstverhältnis als eines Geschehens narrativer Identitätsversicherung. 113
Ebd., XV.
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Die erste Stufe bildet darin die rein religiös motivierte, in der Strukturlogik der pietistischen Frömmigkeit fundierte autobiographische Selbstthematisierung in Brief und Tagebuch, Lebenslauf und Lebensbeschreibung. Gemäß dem pietistischen Impetus der Reflexivierung aller Glaubensvollzüge müssen schließlich auch Form und Inhalt des Schreibens zum Gegenstand der Beobachtung und Prüfung werden. Das Reflexivwerden der Selbstthematisierung vollzieht sich nun wiederum zweistufig: erstens als ethische, zweitens als - im weiteren Sinne ästhetische Thematisierung der Selbstthematisierung. Ethisch wird die Selbstthematisierung sub specie ihrer exemplarischen sittlichen und moralischen Funktion zur Vermittlung von Vorschriften und Vorsätzen sowie zur sittlichen und moralischen Besinnung und Besserung des Menschen reflektiert. D a z u gehört auch die Normierung und Institutionalisierung spezifischer Formen der Selbstthematisierung wie eben Lebenslauf oder Tagebuch. So schreibt Lavaters Herausgeber Zollikofer in einer dem zweiten Tagebuchband vorangestellten Antwort auf das Vorwort des Herausgebers über den Zweck des ersten Bandes: „Die H a u p t absicht desselben war, christliche Leser zum Nachdenken über sich selbst, zur genauen Beobachtung und Prüfung ihrer Gesinnungen zu erwecken, und ihnen in Beyspielen zu zeigen, wie man dieses Geschaffte vornehmen, und worauf man dabey sehen müsse. Es kam dabey nicht sowohl auf den historischen Innhalt des Buches, als vielmehr auf die Schicklichkeit desselben zur Beförderung dieser Absicht an." 1 1 4 Zollikofer stimmt darin also Lavater bei, daß man es mit der Unterscheidung von Dichtung und Wahrheit im „bloß Handgreiflichen" nicht so genau nehmen müsse, solange nur der moralische Zweck des ganzen gewahrt bleibt. Lavater wiederum scheint Zollikofer in der moralischen Endabsicht der Veröffentlichung zuzustimmen, wenn er das Tagebuch wie bereits zitiert - dem moralischen Roman vergleicht. Und doch argumentiert er anders als sein Herausgeber. Die besagte Stelle hat einen deutlich apologetischen Ton. Die Äußerungsbedeutung ist diese: Wenn du, lieber Leser, schon keinen anderen Nutzen aus dem Tagebuch ziehen kannst, so doch wenigstens den der moralischen Belehrung durch die Kenntnisnahme von einer Individualität gleich deiner mit allen ihren Fehlern und Schwächen. In Wirklichkeit ist diese Funktionalisierung des Tagebuchs aber nur vorgeschoben; Lavater steht, wie gesagt, auf dem Standpunkt des Eigenrechtes der Beobachtung und - mit Baumgarten gesprochen - des Eigenrechtes einer cognitio sensitiva, die sich nicht mehr hinter moralischen Nutzenerwägungen soll verstecken müssen. Mit anderen Worten: Lavater thematisiert die Selbstthematisierung äs-
114
Ebd., X X X f .
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thetisch. Nun ist die ästhetische Thematisierung der Selbstthematisierung in der Strukturlogik pietistischer Sinnbildung als Möglichkeit angelegt und folglich auch als charakteristisch pietistisch rekonstruierbar. Wo sich erst einmal Sensitivierung, Semantisierung und Narrativierung des Glaubenslebens als grundlegende Verhaltensdispositionen der Pietisten durchgesetzt haben, werden sie auch dann noch Bestand haben, wenn sie nicht mehr funktional durch eine streng religiöse praxispietatis gebunden werden und sich - wie im Falle Lavaters - zu reiner, selbstgenügsamer Selbstbeobachtung verselbständigen, deren ursprüngliches religiöses Ziel zunehmend verblaßt. Letztlich geht es schon Lavater nur noch darum, wie sich ein im Grunde unerschöpfliches Ich auf dem Wege seiner sprachlichen Artikulation authentisch artikulieren kann. Daß es bei der Veröffentlichung dieses Weges nicht davor zurückscheuen soll, auch inventorisch tätig zu werden, verrät Lavaters Uberzeugung, daß es viele Wege gibt zu seinem Ziel. So zeugt sein Vorwort an den Herausgeber in den Unveränderten Fragmenten von der inneren Transformation eines institutionellen Biographiegenerators, der sich von der Institution gewissenhafter autobiographischer Selbsterforschung zu einer solchen des literarisierten IchAusdrucks entwickelt hat. Die Richtung dieser ästhetischen Säkularisierung einer ursprünglich streng religiösen Institution läßt sich ohne weiteres bis zum autobiographischen Roman und von dort bis zum Bildungsroman des späten 18. und des 19.Jahrhunderts ausziehen. Und spannenderweise spricht nach dem Bisherigen jetzt alles dafür, daß die Transformation des institutionellen Biographiegenerators durch den strukturellen der narrativen Reflexivierung des Glaubenslebens bedingt ist. Durch ihn realisiert sich das soziale Deutungsmuster des Pietismus direkt als Movens ästhetischer Säkularisierung. Was nun Lavater betrifft, so darf man ihn freilich nicht dahingehend mißverstehen, daß sein freier Umgang mit dem „bloß Handreiflichen" bereits ein Zeichen für eine spielerische, experimentelle Selbstidentität sei. Denn er bleibt der alten Dichotomie von Wesen und Erscheinung durchaus treu, und hinter dem inventorischen Umgang mit den Äußerlichkeiten verbirgt sich eine umso unverbrüchlichere Gewißheit, das Selbst, von dem die Aufzeichnungen seiner Selbstbeobachtung erzählen sollen, stehe fest.
4. Identitätsbildung
in der Moderne: zwei
Varianten
Hegel feiert in seinen Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie die Reformation als geistesgeschichtliches Ereignis, weil sie das Prinzip der Subjektivität des Menschen, der innersten Gewißheit seiner selbst, für die Religion entdeckt habe. „Dies ist nun das, was der Lutherische
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Glaube ist, daß der Mensch in Verhältnis zu Gott stehe und darin er selbst als Dieser nur erscheinen, nur Dasein haben müsse; d.h. seine Frömmigkeit und die Hoffnung seiner Seligkeit und alles dergleichen erfordere, daß sein Herz, sein Innerstes dabeisei." 115 Die Wahrheit der christlichen Lehre erschließt sich dem Gläubigen nur in einem bestimmten Zustand affektiver Betroffenheit von der Verkündigung, „durch die Buße, Bekehrung, Freudigkeit des Gemüts in Gott", mehr noch: allein aufgrund des so charakterisierten zuständlichen Bewußtseins affektiver Betroffenheit „existiert" die Wahrheit des Evangeliums. 116 Das aber kann nur heißen: das „wahre" Evangelium, d.h. das Evangelium, das seinem Begriff vollauf gerecht wird, existiere allein innerlich, nämlich im Vollzug seiner herzinniglichen Aneignung - mit den Worten Johann Arndts: als „wahres" Christentum. Die Verkündigung kann laut Hegel nur dann mit vollem Recht Verkündigung genannt werden, wenn nicht nur ihr propositionaler Gehalt intellektuell verstanden wird, sondern der Rezipient sich auch von ihm als unmittelbar betroffen erfährt, indem er also die Verkündigung nicht nur mit dem Kopf hört, sondern mit dem Herzen erhört. Das Wesentliche der Verkündigung ist ihr performativer Gehalt, und der wiederum ist nicht etwas, was der Lehre an sich zukäme, sondern er kommt ihr in der Weise seiner faktischen Wirkung zu. Er ist das, was Heidegger mit dem Begriff des Vollzugssinns der Verkündigung meint. Was Hegel vom „Lutherische[n] Glaube[n]" der Reformation sagt, gilt nun in gesteigerter Weise vom Lutherischen Glauben in der pietistischen Bewegung. Und so gilt denn auch für den Pietismus, was Hegel das Prinzip der Reformation nennt, „das Moment des Insichseins des Geistes, des Freiseins, des Zusichselbstkommens; eben die Freiheit heißt, in dem bestimmten Inhalt sich zu sich zu verhalten, - die Lebendigkeit des Geistes, in dem, was als Anderes erscheint, in sich zurückgekehrt zu sein". 117 Der Gläubige, so wohl Hegels Gedanke, erfährt, indem er von der Verkündigung affektiv betroffen wird, zugleich sich selbst in seiner affektiven Betroffenheit, und zwar - gemäß der reformatorischen Auffassung - in einer für seinen Glauben bedeutsamen Betroffenheit, in einem für das Christentum maßstäblichen Zustand. In dieser Erfahrung geht das Subjekt erstmals sich selbst auf, es entdeckt sich - sub specie seiner Betroffenheit - als Maßstab der Wahrheit des Christentums. Das heißt, in Hegels Worten, es entdeckt sich als Geist, der in dieser Entdeckung frei für sich wird, indem nämlich das Subjekt sich seiner selbst in seiner affektiven Betroffenheit als dasjenige bewußt 115 116 117
Hegel 1986, Bd.20, 49-58. Ebd., 55. Ebd., 57.
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wird, auf das es - im Gegensatz zur Tradition und zu Autoritäten, denen extrinsisch Folge geleistet wird - im Glauben ankommt. Die Freiheit des reformatorischen resp. des pietistischen Geistes besteht also darin, daß der Gläubige sich, indem er sich zur Verkündigung verhält, sich zugleich zu sich selbst verhält und nun in diesem Selbstverhältnis allererst in seiner Subjektivität konstituiert. Ziehen wir den religiösen Inhalt ab, in dessen Medium der Geist für sich wird, dann bleibt als die eigentlich substantielle Entdeckung der Reformation ein Begriff von Subjektivität als Freiheit des Sich-zu-sich-Verhaltens übrig (eben sub specie des Glaubens). Hegel zufolge geschieht diese Entdeckung zwar in der reformatorischen praxis pietatis, wird aber - gemäß der kategorialen Differenz zwischen Theorie und Praxis - nicht auch schon von ihr auf den ihr innewohnenden Begriff gebracht. Die theoretische Konzeptualisierung der reformatorischen Entdeckung bleibe vielmehr der Philosophie vorbehalten, und zwar zunächst derjenigen von Descartes. Mit Descartes, so Hegel, treten wir in eine neue Periode der Geistesgeschichte ein, und in dieser Periode „ist das Prinzip das Denken, das von sich ausgehende Denken, - diese Innerlichkeit, die überhaupt in Rücksicht auf das Christentum aufgezeigt und die das protestantische" - man kann auch sagen: das reformatorische, und ebenso: das pietistische - „Prinzip ist. Das allgemeine Prinzip ist jetzt, die Innerlichkeit als solche festzuhalten, die tote Äußerlichkeit zurückzusetzten, für ungehörig anzusehen. Nach diesem Prinzip der Innerlichkeit ist nun das Denken, das Denken für sich, die reinste Spitze des Innersten, diese Innerlichkeit das, was sich für sich jetzt aufstellt; und dies Prinzip fängt mit Descartes an." 118 Demnach wäre das epistemische Selbstbewußtsein, in dessen unmittelbarer Gewißheit alles sichere, d. h. klar und deutlich einsichtige Wissen laut Descartes fundiert sein soll, ein angemessenes Modell zur Konzeptualisierung der reformatorischen resp. der pietistischen Innerlichkeit. Mit anderen Worten: Die Reformation und in ihrer Verlängerung der Pietismus prägen geistesgeschichtlich ein reflexionslogisches Selbstverhältnis als soziales Deutungsmuster aus, und eben dieses Selbstverhältnis bringt Descartes auf den philosophischen Begriff. Das klingt zunächst einmal plausibel. Ist die Weltabkehr des Pietisten, seine Introspektion, seine Suche nach einer unmittelbaren Gottesevidenz in einzelnen Bewußtseinszuständen dem cartesischen methodischen Zweifel an allen Gewißheiten, der Reduktion auf die letzte Gewißheit des sich selbst reflektierenden Ich, daß es als reflektierendes hier und jetzt sei, seinem unmittelbaren Wissen von sich als einer imma-
118
Ebd., 120.
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teriellen, selbstgegebnen Substanz nicht strukturell homolog? Ob nun Hegel diese These vertritt - vom Pietismus spricht er ja nicht, aber er liegt in der Linie des Arguments - oder nicht, jedenfalls provoziert sie zwei Einwände. Erstens handelt es sich im Falle des pietistischen und überhaupt jedes praktischen Sichzusichverhaltens gar nicht um ein epistemisches Selbstbewußtsein, in dem das Selbst in Beziehung auf sich etwas, das es selbst sein soll, in wertneutraler Beobachtung konstatieren würde. Und, wichtiger noch, zweitens scheint die reflexionslogische Konzeptualisierung menschlicher Selbstverhältnisse bereits als solche unangemessen zu sein. Beide Einwände sind von Ernst Tugendhat in Selbstbewußtsein und Selbstbestimmung anläßlich seiner Auseinandersetzung mit der Tradition der Reflexionsphilosophie besonders klar entfaltet worden. 119 Auch der Pietist bezieht sich nicht so auf sich, daß er sich im Fühlen, Spüren, Empfinden Gottes als fühlendes, spürendes und empfindendes Ich unmittelbar weiß, sondern allenfalls in der Weise, daß er weiß, daß er Gott fühlt, spürt, empfindet usw. Der Gegenstand des Wissens ist also nicht er selbst, sondern ein Sachverhalt, der sprachlich durch eine Proposition ausgedrückt wird. Und das Wissen des fraglichen Sachverhaltes beruht wiederum auch nicht darauf, daß der Pietist diesen sich als dem Subjekt des Wissens zuordnet, denn dann müßte er ja wieder sich als Subjekt des Wissens (von Sachverhalten) unmittelbar wissen. Sondern es besteht schlicht darin, daß er weiß, wie man die den jeweiligen Sachverhalt bestimmenden Prädikate in Relation zu dem Personalpronomen in der Ersten Person Singular, dem Wörtchen „Ich" sprachlich richtig verwendet. Das besagte Wissen beruht auf einer Kenntnis der Grammatik von Sätzen wie „Ich fühle, daß ..." usw. Doch, wie gesagt, das pietistische Selbstverhältnis ist ohnehin kein epistemisches und hat also auch nicht die Form eines konstativen Sichzusichverhaltens, sondern vielmehr die von Wertungen, die sich auf jeweils für mich lebenspraxisrelevante Sachverhalte beziehen. Und vor allem vollzieht sich das wertende Sichzusichverhalten, wie ja ausführlich dargelegt worden ist, durch die Artikulation von Sachverhalten, und zwar eben in einer dem Bewußtsein dieser Sachverhalte nicht äußerlichen Art und Weise. Die Sachverhalte, auf die sich der Pietist in seinem Sichzusichverhalten bezieht, vorzugsweise solche des Habens von Empfindungen, sensitiven Evidenzen usw., sind vor ihrer Artikulation noch gar nicht für ihn da, sondern sie werden erst im Vollzug ihrer Artikulation zu Sachverhalten seines Selbstverhältnisses. 119
Vgl. Tugendhats Problemaufriß in den ersten beiden Kapiteln bzw. Vorlesungen des Buches: Tugendhat 1979, 9-49. Die folgende Argumentation folgt Tugendhats Kritik des reflexionslogischen Selbstverhältnisses.
Identitätsbildung in der Moderne: zwei Varianten
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Wie Tugendhat gezeigt hat, handelt es sich beim unmittelbaren Sichzusichverhalten - das Hegel plausiblerweise der reformatorischen Subjektivität unterstellt und das er in dem cartesischen Modell einer reflexiven Selbstbeziehung erstmals auf den Begriff gebracht sehen will - eben gerade nicht um ein „nichtpropositionales Sich- Verhalten zu sich", aber es sei auch ohne weiteres möglich, anders als Hegel „die Rede von einer Reflexion nicht im Sinn einer Relation der Person zu sich, sondern im Sinn eines Verhältnisses der Person zu ihrem sonstigen eigenen Verhalten zu verstehen". 120 Der naheliegende Einwand, daß das Sichzusichverhalten doch nun einmal ein Verhalten zu sich und nicht zu diesem oder jenem Verhalten sei, kann laut Tugendhat dann zurückgewiesen werden, wenn es gelingt, „ein ausgezeichnetes Verhalten der Person zu identifizieren, das nicht ein bestimmtes Verhalten ist, sondern allem bestimmten Verhalten zugrundeliegt und bei dem wir sagen könnten: indem die Person sich zu diesem Verhalten verhält, verhält sie sich zu sich". 121 Auf der Suche nach Vordenkern, die ihm bei der Verfolgung dieses Gedankens weiterhelfen könnten, stößt er auf einen Zeitgenossen Hegels: Sören Kierkegaard. Zu Beginn der Krankheit zum Tode entwikkelt Kierkegaard nämlich ein zukunftsweisendes Strukturmodell des Sichzusichverhaltens: „Der Mensch ist Geist. Was aber ist Geist? Geist ist das Selbst. Was aber ist das Selbst? Das Selbst ist ein Verhältnis, das sich zu sich selbst verhält, oder ist das an dem Verhältnisse, daß das Verhältnis sich zu sich selbst verhält." 122 Nicht also das Subjekt verhält sich hier zu sich selbst, sondern das Verhältnis. Freilich tritt Kierkegaard mit dieser Formulierung, verstehen wir sie wörtlich, noch nicht aus dem reflexionslogischen Modell des Sichzusichverhaltens heraus. „Die Schwierigkeit liegt in dem Gedanken einer reflexiven Relation von a zu a, egal ob mit ,a' das Subjekt oder sein wie immer verstandenes Verhältnis gemeint ist, denn in dem letzteren Fall hätte das Verhältnis seinerseits eine Subjekt-Objekt-Relation zu sich." 123 Das eben ist auch schon bei Hegel der Fall, wenn er sagt, der reformatorische Geist bestehe darin, „in dem bestimmten Inhalt sich zu sich zu verhalten", in der „Lebendigkeit des Geistes, in dem, was als Anderes erscheint, in sich zurückgekehrt zu sein". 124 Daß Kierkegaard zweierlei Verhältnisse unterscheidet, nämlich dasjenige des Subjekts von demjenigen der Reflexion, ermutigt Tugendhat zu einer nichtreflexionslogischen Lesart des besagten Strukturmodells, 120 121 122 123 124
Tugendhat 1979, 157. Ebd., 158. Kierkegaard 1957ff, 24./25. Abt., 8; vgl. Tugendhat 1979, 158. Tugendhat 1979, 158. Hegel 1986, Bd.20, 57.
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wonach es dann also die Person ist, die sich zu ihrem Verhältnis verhält. 125 Nun spricht Kierkegaard von dem Verhältnis, zu dem Tugendhats Lesart zufolge die Person sich verhält, als einer „Synthesis von Unendlichkeit und Endlichkeit, von dem Zeitlichen und dem Ewigen, von Freiheit und Notwendigkeit ... Eine Synthesis ist ein Verhältnis zwischen Zweien." 126 Soll nun das Verhältnis, zu dem die Person bzw. das Subjekt sich verhält, so basal gedacht werden, daß es gerechtfertigt ist, dabei von einem Verhalten zu sich zu sprechen, so kann es nur als Synthesis von gegensätzlichen Existenzbestimmungen gedacht werden, und das Verhalten der Person zu seinem Verhältnis wäre dann die - heideggerisch geredet - jemeinige Synthetisierung dieser immer schon, sofern wir existieren, aufeinander bezogenen Bestimmungen der menschlichen Existenz. Tugendhats Fazit: „Wenn man Kierkegaards Konzeption voll ausbuchstabiert, enthält sie also drei verschiedene ,Verhältnisse': 1. das von Kierkegaard nicht eigens hervorgehobene Sichverhalten der Person im Sinne ihres Existierens, 2. das Verhältnis im Sinn von Relation zwischen den Grundbestimmungen des Existierens, 3. das Sichverhalten der Person zu ihrem Existieren, und da dieses durch die eben genannte Relation - die ,Synthese' - bestimmt ist, ist das Sichverhalten der Person zu ihrem Existieren ein Sichverhalten zu dieser Synthese". 127 Zu ergänzen wäre hier: das Sichverhalten zu der Synthese ist nichts anderes als die immer wieder neue Resynthetisierung der uns so und so überkommenen Existenzbestimmungen, ihre Neu- und Umgewichtung im Lichte sich wandelnder Entwürfe, wie ich das Leben, das ich immer schon als Synthesis - bei Kierkegaard: von Freiheit und Notwendigkeit - zu leben habe, auch leben will. Diese Ergänzung macht Tugendhat selbst. Allerdings entwickelt er sie nicht mehr im Anschluß an Kierkegaard, sondern in Auseinandersetzung mit Heideggers Sein und Zeit. Es bleibe hier dahingestellt, ob das praktische Selbstverhältnis, das ein Verhältnis der Person zu seiner Existenz bedeutet, und zwar in dem Sinne, daß sie ihr Leben als etwas vollzieht, was sie zu sein hat und was sie entsprechend in ihrem Lebensvollzug in bestimmter Weise als das Uberantwortete und zu sein Aufgegebene wertet und entwirft, nicht ebenso schon durch eine Auslegung von Kierkegaards Krankheit zum Tode hätte entfaltet werden können. 128 125
Tugendhat 1979, 159. Kierkegaard 1957ff, 24./25. Abt., 8. 127 Tugendhat 1979, 160. 128 Vgl. hier die beiden für die existenzphilosophische Kierkegaard- Forschung maßstäblichen Analysen von Michael Theunissen, welche die Strukturlogik des praktischen Sichzusichverhaltens aus Kierkegaards Typologie von Verfallsformen menschlicher Existenz heraus entwickeln: Theunissen 1991; ders. 1993. Zum Verhältnis der Existenzanalysen Kierkegaards und Heideggers vgl. ebd., 45-51. 126
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Aber festgehalten werden soll, daß Tugendhat dort, wo er dann mit Heidegger das Sichzusichverhalten als ein Existenzverstehen begreift, das der Person ihr Existieren im Lichte der Frage erschließt, wie sie überhaupt sein will, schließlich ausdrücklich auf die von Frankfurt und Taylor her bekannte Unterscheidung zwischen Wünschen erster und zweiter Ordnung zu sprechen kommt. 129 Die Zurückweisung der reflexionslogischen Konzeptualisierung menschlicher Selbstverhältnisse führt Tugendhat also dorthin, wohin auch die Analyse der pietistischen Lebensläufe gelangte: zum Verständnis des Personseins bzw. der personalen Identität vermittels der Stellungnahme der Person zum eigenen Existieren im Lichte starker Wertungen dessen, was sie in ihrem Leben will und wie sie dieses Leben leben will. Diese Stellungnahme, so könnte man sagen, vollzieht sich empraktisch, sie ist selbst schon Bestandteil des gewollten Lebens. Umso überraschender ist es, daß Tugendhat nicht gebührend berücksichtigt, was Taylor wichtig ist, und was Jung dann in religionsphilosophischen Zusammenhängen systematisch zu einer Theorie der religiösen Erfahrung ausgebaut hat, daß nämlich der affektiv-volitionale Selbstentwurf sich als ein artikulatorisches Selbstverhältnis vollzieht. Damit hängt der mindestens ebenso überraschende Umstand zusammen, daß für Tugendhat neben Heidegger - und eben mit starken Einschränkungen Kierkegaard - nur noch George Herbert Mead als ein Philosoph in Frage kommt, „der versucht hat, das Sichverhalten zu sich aus der Vorstellung einer reflexiven Relation und damit aus dem traditionellen Subjekt-Objekt-Modell zu befreien und strukturell neu zu durchdenken". 130 Was, so muß Tugendhat sich fragen lassen, ist denn mit Wilhelm Dilthey? Dilthey, so die These, hat wiederholt, so schon in seiner mittleren, von Jung als pragmatistisch charakterisierten Schaffensperiode, 131 etwa in den Beiträgen zur Lösung der Frage nach dem Ursprung unseres Glaubens an die Realität der Außenwelt und seinem Recht von 1890, seiner Ethik-Vorlesung aus demselben Jahr oder drei Jahre später in Leben und Erkennen, dann aber vor allem in seiner Spätschrift Der Außau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften ebenfalls ein Modell des Sichzusichverhaltens entwickelt, das ohne die Voraussetzung einer reflexiven Relation der Person zu sich auskommt; und er hat darüber hinaus gezeigt, daß das menschliche Selbstverhältnis ein primär artikulatorisches ist oder sich jedenfalls im Medium der Artikulation ausbildet und immer wieder aktualisiert. Es sei an dieser Stelle nochmals Jungs Begriff religiöser Symbolisierung zitiert, weil er direkt ins Zen129 130 131
Vgl. Tugendhat 1979, 219f, 220, Anm. 14. Ebd., 245. Jung 1996, 110-131; vgl. auch ders. 2001b, 79-82.
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trum dessen führt, was der späte Dilthey sich unter dem Sichzusichverhalten des Menschen gedacht hat: „Die symbolischen Formen des religiösen Lebens", also zum Beispiel pietistische Autobiographien wie diejenigen von Francke, Burcken, Schumacher und Petersen, „sind Artikulationsgestalten, in denen sich bewußtes, subjektiv erfahrenes Leben selbst auslegt, wobei es auf die traditionsvermittelten Artikulationsleistungen der Vergangenheit zurückgreift." 1 3 2 Die metonymische Redeweise von der Selbstauslegung des Lebens, so war dieser Satz interpretiert worden, soll besagen, daß die Subjekte sich in ihrem Welt- und Selbstverhältnis so verstehen, daß sie dieses, nämlich ihr Leben, unter Rückgriff auf eine durch die Tradition vermittelte Semantik artikulieren. Und weil nun einmal das Verstehen des Lebens ein Grundvollzug menschlichen, des „bewusste[n], subjektiv erfahrene[n]" Lebens ist, zu dessen Sein also wesentlich gehört, daß der Mensch es so oder so versteht, kann auch metonymischerweise davon gesprochen werden, daß das Leben sich selbst auslegt. Das ist in der Tat der Sinn der zitierten Formulierung, wie sich aus dem Kontext von Jungs Theorie religiöser Erfahrung unschwer zeigen ließ. Und es ist ebenso der Sinn jenes Satzes, den Jung durch seine Formulierung implizit, in leichter Abwandlung zitiert. Er lautet „ [ D ] a s Leben artikuliert sich", und er stammt von Dilthey. 1 3 3 Dieser Satz ist deshalb interessant, weil sich von ihm her die Frage beantworten läßt, wie das Sichzusichverhalten gedacht werden kann, wenn es weder epistemisch noch reflexionslogisch konzeptualisiert werden soll. Zunächst allerdings gilt es eine erhebliche Schwierigkeit zu beseitigen. Während Jungs Formulierung diesen Satz implizit in der einzig sinnvollen Weise auslegt, steht er bei Dilthey in einem anderen, viel weiteren und in dieser Weite allerdings ganz unbrauchbaren Kontext. „Die Struktur und Artikulation des Lebens", schreibt Dilthey dort, „ist überall, wo psychisches Innen auftritt, sonach in der ganzen Tier- und Menschenwelt dieselbe." 1 3 4 Demnach artikulieren sich also Tiere und Menschen gleichermaßen. Das aber widerspricht erstens der Verwendung des Artikulationsbegriffs, der weiter gefaßt ist als der Ausdrucksbegriff und ein bewußtes sprachliches oder sprachanaloges Sinnbildungsgeschehen bezeichnet. In diesem Sinne können sich überhaupt nur Menschen artikulieren. Dilthey dagegen verwendet den Artikulationsbegriff hier offensichtlich synonym mit dem Ausdrucksbegriff in seiner weitesten und anspruchlosesten Bedeutung. Damit handelt er sich dann allerdings dort Probleme ein, wo er den Ausdruckbegriff an den Begriff 132 133 134
Jung 1999, 267. Dilthey 1982, 345. Ebd.
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des objektiven - und das heißt ja: des objektivierten, also ausgedrückten - Geistes knüpft. Zweitens hat aber bereits die implizite Behauptung Diltheys, daß Tiere Innerpsychisches ausdrücken, nicht den gleichen argumentativen Status wie diejenige, daß Menschen das tun. Denn während Menschen in der Lage sind, ihr Ausdrucksverhalten sprachlich zu explizieren, können Tiere das nicht. Daß sie Symbolverwender sind, ist also allenfalls eine Unterstellung per analogiam. Konsequenterweise soll im folgenden der zitierte Satz Diltheys eingeschränkterweise als eine Aussage über menschliches Leben gelesen und der Artikulationsbegriff in seiner engen Verwendung, durch die er sich vom Ausdrucksbegriff unterscheidet und ausschließlich eine spezifisch menschliche Verhaltensweise charakterisiert, aufgefaßt werden. Dann aber gewinnt der Satz eine philosophisch relevante Bedeutung, und zwar nicht nur allgemein, sondern auch im Kontext der Diltheyschen Hermeneutik. Blicken wir, diese Vorklärungen im Rücken, nun auf die grammatische Konstruktion des Satzes. Die Verwendung des Reflexivpronomens als Akkusativergänzung bedeutet, daß hier logisch eine näher zu bestimmende Form der Selbstbezüglichkeit ausgesagt wird. Und die metonymische Besetzung der Nominativergänzung verhindert es, daß die Relation der Selbstbezüglichkeit als eine reflexionslogische SubjektObjekt-Beziehung gedacht werden kann, in der ein Subjekt sich direkt auf sich zurückwendet. Übersetzen wir die Metonymie in die wörtliche Bedeutung zurück, die hier, vermutlich aus stilistischen Gründen, verklausuliert wurde, dann ist in dem Satz das Selbstverhältnis des Menschen als dessen Verhältnis zu seinem Leben ausgesagt. Dieses Verhältnis wird nun durch das Verb als ein sowohl sprachliches wie praktisches ausgesagt. Denn beide Momente sind im Begriff der Artikulation verbunden. Er bezeichnet ja die parole, die Sprachpraxis, und diese Sprachpraxis wiederum als Medium einer - noch einmal: nichtreflexionslogischen - Selbstbeziehung. Allerdings wirft Diltheys Satz zugleich die Frage auf, wie denn das Selbstverhältnis des Menschen genau zu denken sei. Eine relativ gute Antwort gibt die /Iw/frdK-Schrift, die der konstitutionstheoretischen Begründung der Geisteswissenschaften gewidmet ist. Darin bezeichnet Dilthey das menschliche Selbstverhältnis als Kriterium zur Unterscheidung zwischen einer naturwissenschaftlichen und einer geisteswissenschaftlichen Erforschung des Menschen. Sind die Gehalte des Sichzusichverhaltens der externen Beobachtungsperspektive des Naturwissenschaftlers unzugänglich, so nicht derjenigen des Geisteswissenschaftlers, weil diesen dieselben Eigenschaften auszeichnen, die seinen Gegenstand als spezifisch geisteswissenschaftlichen charakterisieren. Als solcher sind, so Dilthey, Menschen, ihre Zustände und Verhaltensweisen nur gegeben, „sofern menschliche Zustände erlebt
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werden, sofern sie in Lebensäußerungen zum Ausdruck gelangen und sofern diese Ausdrücke verstanden werden". 135 In anderen Worten: „Eine Wissenschaft gehört nur dann den Geisteswissenschaften an, wenn ihr Gegenstand uns durch das Verhalten zugänglich wird, das im Zusammenhang von Leben [im Sinne von Erleben - M.S.], Ausdruck und Verstehen fundiert ist." Sollen diese Sätze tatsächlich eine Antwort auf die Frage geben, wie das Selbstverhältnis des Menschen zu denken sei, dann muß allerdings klar werden, erstens: warum aus der Tatsache, daß das Verhalten jedes Menschen in dem Zusammenhang von Erleben, Ausdruck und Verstehen fundiert ist, notwendigerweise folgen soll, daß es Dritten - also etwa Geisteswissenschaftlern - zugänglich ist, und zweitens·, inwiefern dieses Verhalten - sofern es denn intersubjektiv zugänglich ist - etwas über das Selbstverhältnis des Menschen aussagt. Fassen wir Erleben, Ausdruck und Verstehen als die Glieder einer triadischen Struktur auf, dann scheint im Zentrum der Beantwortung der ersten Frage das zweite Glied zu stehen, die Beantwortung der zweiten Frage sich dagegen vor allem mit dem ersten und dritten Glied auseinandersetzen zu müssen. Zur ersten Frage: Die These, menschliches Verhalten sei geisteswissenschaftlich zugänglich, weil es in dem Zusammenhang von Erleben, Ausdruck und Verstehen fundiert ist, appelliert an die Einsicht, daß der Gegenstand des Geisteswissenschaftlers seinesgleichen ist. Seinesgleichen ist er, weil beide, der Mensch als Untersuchungsgegenstand des Geisteswissenschaftlers und dieser selbst erleben, Erlebnisse ausdrükken und Erlebnisausdrücke verstehen. Das ist freilich kein hinreichendes Kriterium für die Zugänglichkeit des Fremdpsychischen. Die Erlebnisse des Anderen sind nicht die meinen, sein Ausdruck ist folglich von meinem verschieden, und auch sein Verstehen irgendwelcher ausgedrückter Erlebnisse weicht sehr wahrscheinlich von meinem ab. Daraus, daß wir alle erleben, Erlebnisse ausdrücken und verstehen, folgt ja nicht, daß wir die gleichen Erlebnisse haben und sie in der gleichen Weise ausdrücken und verstehen. Gibt es also keinen unmittelbaren, introspektiven Weg, das Verhalten des Anderen mit dem eigenen hinsichtlich seiner intrinsischen Merkmale zu vergleichen, so muß es ein tertium comparationis geben, etwas, an dem das Eigenverhalten des Geisteswissenschaftlers und dasjenige seines Gegenstandes, des Anderen, partizipiert, und das wiederum allgemein verstanden werden kann. Wird dieses Dritte verstanden, dann auch der Andere sub specie seiner Partizipation an ihm. Zweifellos handelt es sich dabei um das Medium,
135
Dilthey 1990, 98.
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in dem sich sowohl der Geisteswissenschaftler wie sein Gegenstand, der Andere, ausdrücken. Der späte Dilthey spricht hier von „objektivem Geist" und versteht darunter zusammenfassend intersubjektiv zugängliche, historisch gewachsene Medien des Erlebnisausdrucks: das Gesamt an symbolischen Ordnungen, welche die von Menschen gemachte Welt im Gegensatz zur natürlichen ausmacht. Diese Medien können freilich nicht von den Gehalten abgezogen werden, die durch sie mediatisiert werden und umgekehrt. Deshalb kann Jung erläutern, „Sprachen, soziale Normen und Gebräuche, Handlungsgewohnheiten, kulturelle, staatliche, rechtliche und wirtschaftliche Institutionen fallen ebenso unter den Strukturbegriff „objektiver Geist" wie Dichtungen, Gemälde, Musikstücke oder philosophische Abhandlungen." 136 Sprachen, Normen, Gebräuche und Institutionen sind offensichtlich Medien, während Dichtungen, Gemälde, Musikstücke und Abhandlungen mediatisierte Inhalte sind. „All diese verschiedenartigen Sachverhalte werden damit unter den gemeinsamen Gesichtspunkt gebracht, daß sie zwar aus (inter-)subjektiven Handlungen hervorgegangen sind, aber dennoch eine spezifische Beschaffenheit aufweisen, die nicht in psychologischen Begriffen expliziert werden kann ... Diltheys objektiver Geist ist der allgemeinste Begriff der Geisteswissenschaften, ein Letztes, über das nicht hinausgegangen werden kann." 137 Der Geisteswissenschaftler kann also die intrinsischen Gehalte des Fremdverhaltens verstehen, sofern es sich in denselben symbolischen Ordnungen objektiviert, in denen seine eigenen Lebensvollzüge sich objektivieren. Der Gegenstand des Geisteswissenschaftlers ist seinesgleichen, weil beide dieselben Sprachen sprechen. Nun zu der zweiten Frage, nämlich danach, was das geisteswissenschaftlich zugängliche Verhalten, das durch die Trias von Erleben, Ausdruck und Verstehen bestimmt ist, über das Selbstverhältnis des Menschen aussagt. Diesbezüglich aussagekräftig ist die besagte Trias evidenterweise überhaupt nur dann, wenn das dritte Glied als Sichverstehen gemeint oder wenigstens interpretierbar ist. In der Tat sagt Dilthey ausdrücklich, daß den Menschen „nur seine Handlungen, seine fixierten Lebensäußerungen, die Wirkungen derselben auf andere ... über sich selbst [belehren]; so lernt er sich nur auf dem Umweg des Verstehens selber kennen". 138 Zumindest ist mit dem dritten Glied der Trias also auch das Sichverstehen gemeint. Sichverstehen ist nun eine spezifische Form des Selbstverhältnisses, wobei das erste Glied der Trias angibt, was dieses Selbstverhältnis zum Gegenstand hat, nämlich nicht ein 136 137 138
Jung 1996, 153. Ebd., 153 f. Dilthey 1990, 98 f.
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ominöses Kierkegaardisches Selbst oder ein cartesisches Ich oder dergleichen, sondern das eigene Erleben. Was Dilthey darunter versteht, läßt sich unschwer aus einer berühmten, für das gesamte oeuvre verbindlichen Formulierung erschließen, in der er sich von dem Erfahrungsbegriff der klassischen Erkenntnistheorie abgrenzt. In der Vorrede zu seinem Frühwerk, der Einleitung in die Geisteswissenschaften, heißt es: „Wenn man von wenigen und nicht zur wissenschaftlichen Ausbildung gelangten Ansätzen ... absieht, so hat die bisherige Erkenntnistheorie, die empiristische wie die Kants, die Erfahrung und die Erkenntnis aus einem dem bloßen Vorstellen angehörigen Tatbestand erklärt. In den Adern des erkennenden Subjekts, das Locke, Hume und Kant konstruierten, rinnt nicht wirkliches Blut, sondern der verdünnte Saft von Vernunft als bloßer Denktätigkeit. Mich führte aber historische wie psychologische Beschäftigung mit dem ganzen Menschen dahin, diesen, in der Mannigfaltigkeit seiner Kräfte, dies wollend fühlend vorstellende Wesen auch der Erklärung der Erkenntnis und ihrer Begriffe (wie Außenwelt, Zeit, Substanz, Ursache) zugrunde zu legen .. ." 139 Erfahrung ist nach Dilthey in der - mit Plessners Wort - Positionalität des affektiv-kognitiv-volitional weltbezogenen Menschen fundiert. Diese Ganzheit eines nicht bloß wahrnehmungsmäßigen Bezugs realisiert sich im Erleben. Das Erleben hat einen Empfindungswert, der sich aus den affektiven und volitionalen Zuständen ergibt, in die der Mensch durch die ihn affizierenden Reize versetzt wird und auf die er befindensgemäß reagiert. Daß den Menschen „seine Handlungen, seine fixierten Lebensäußerungen, die Wirkungen derselben ... über sich selbst [belehren]", besagt nun über die Konzeptualisierung des Selbstverhältnissses als ein Sichverstehen hinaus unmißverständlich noch ein zweites: daß dieses Verstehen kein unmittelbares Erlebnisverstehen ist, wie das Dilthey in seiner Einleitung in die Geisteswissenschaften noch gedacht hatte, 140 sondern Ausdrucks\erste\\Qn. Darin unterscheidet sich also das Sichverste-
139
Dilthey 1983, 32. „Ausschließlich in der inneren Erfahrung, in den Tatsachen des Bewußtseins fand ich einen festen Ankergrund für mein Denken ... Realität, wie sie ist, besitzen wir nur an den in der inneren Erfahrung gegebenen Tatsachen des Bewusstseins", so Dilthey 1883 in seiner Vorrede zum Ersten Band der Einleitung in die Geisteswissenschaften (Dilthey 1983, 31f). Und in dem sogenannten Althoff- Brief von 1882 skizziert Dilthey in diesem Sinne sein Projekt einer - damals noch psychologistischen - Grundlegung der Geisteswissenschaften: „Daß in der inneren Erfahrung und dem entsprechenden Verstehen Anderer Wirklichkeit, ja die einzige volle Realität, die wir besitzen, gegeben ist, bildet den ersten Teil der Erkenntnistheorie der Geisteswissenschaften" (ebd., 27). Hier wird in dem kritisierten Sinne das Verstehen des Fremdpsychischen durch Vergleich mit der introspektiven Selbsterfahrung konzipiert. 140
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hen nicht vom Fremdverstehen: beides ist vermittelt durch die Symbolizität des objektiven Geistes. Sichverstehen ist demnach das Verstehen der Gehalte des Erlebnisausdrucks. Handelt es sich bei dem Mittelglied der Trias um individuelle Instanziierungen symbolischer Ordnungen, dann müßte daraus allerdings auch folgen, daß ich mich selbst nicht besser verstehen kann als den Anderen und vice versa der Andere mich mindestens ebenso gut verstehen kann wie ich mich selbst. Das aber scheint in beiderlei Richtung kontraintuitiv. Unsere Intuitionen sagen uns hier vielmehr anderes und scheinbar Widersprüchliches: daß wir uns besser verstehen als den Anderen und ebenso, daß der Andere uns besser versteht, als wir uns selbst. Dabei handelt es sich aber in der Tat nur um einen Scheinwiderspruch, denn in den genannten Fällen verwenden wir das Wort „verstehen" jeweils anders. Wenn wir nämlich sagen, daß wir uns selbst besser verstehen als andere das tun, meinen wir, daß es da irgendetwas gibt, was sich nicht hat ausdrücken lassen, was in dem Ausdruck, den wir finden, nicht aufgeht. 141 Wir meinen den Uberschuß jemeinigen Erlebens über seinen Ausdruck. Natürlich wissen wir nicht, was das ist, sondern nur, daß es eben da ist, daß es einen Rest des (jetzt) nicht Kommunizierbaren gibt, und wir haben häufig die Empfindung, daß wir unser Erleben vor dem Horizont dessen ausdrükken, was wir nicht, oder noch nicht oder nicht zugleich auch noch ausdrücken können. Was in solchen Fällen empfunden wird, ist schlechterdings nicht objektivierbar, allenfalls kann man sagen, daß ein diffuses Ungenügen empfunden wird. Dieses privilegierte Sichverstehen ist mithin gar kein Verstehen, sondern allenfalls eine Form des zuständlichen Vertrautseins mit dem eigenen Erleben, die sich nicht intentional fokussieren, nicht sprachlich verdichten läßt. Sagen wir dagegen, andere würden uns besser verstehen als wir uns selbst, dann meinen wir umgekehrt, daß wir nicht über die gleiche Distanz zu unserem Ausdrucksverhalten verfügen, die andere haben, wenn sie unsere Erlebnisausdrücke deuten. Das liegt daran, daß wir nicht selten noch während des Verstehens unserer selbst von den Erlebnissen bestimmt oder geprägt sind, deren Ausdruck verstanden werden soll, und daß diese Bestimmtheit oder Prägung das Verstehen affektiv und volitional disponiert. Dies wiederum bedeutet, daß unser Verstehen seinerseits wie das Erleben einen Empfindungswert besitzt und daß die Intensität der Empfindsamkeit unseres Verstehens davon abhängt, in welchem Maße das zu Verstehende uns existentiell betrifft. Während nun neue Erlebnisse den Verstehensvollzug unterbrechen und das Subjekt von der sprachlich verdich-
141
Vgl. Taylor 1992a, 64f.
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tenden Fokussierung symbolischer Ausdrucksgestalten ablenken können - Stichwort „Achterbahn" ist es ebenso gut möglich, daß der Empfindungswert des Verstehens neue Erlebnisse überlagert oder gleichsam imprägniert und somit für ein qualitativ so und so bestimmtes Erleben vorbereitet. Woran ist denn erkennbar, daß wir etwas an uns verstehen? Doch wohl vor allem daran, daß wir uns entsprechend verhalten, und das heißt auch, daß wir - wie man dann sagt - die Dinge anders sehen, will heißen: erleben bzw. erfahren als bevor wir uns so und so verstanden haben. Die pietistischen Autobiographien machen das zu Genüge sinnfällig. In diesem Fall dient das letzte Glied der Trias zugleich als Ubergang zum ersten. Das tut es im übrigen auch insofern, als das Verstehen von Erlebnisausdrücken die Bedingung der Möglichkeit ist, das Ausgedrückte in der Erinnerung zu reidentifizieren. Mehr noch, sie vermag die das Erleben bestimmenden Empfindungen zu evozieren und eben dadurch dafür zu sorgen, daß das Erlebnis lebendig bleibt - was ebenfalls in den analysierten Texten hinreichend rekonstruiert worden ist. Es gibt aber keine Handhabe zu klären, ob die evozierten Empfindungsqualitäten die gleichen sind wie diejenigen, von denen das Erleben ursprünglich bestimmt war. 1 4 2 Möglicherweise handelt es sich weniger um ein erinnerndes Nachempfinden früherer Erlebnisse als um die spezifischen Empfindungsqualitäten neuer Erlebnisse. Verstehen bereitet neues Erleben vor. Ebenso unwillkürlich, wie Verstehen einen dem Erleben ähnlichen Empfindungscharakter hat und auch in neues Erleben übergehen kann, geht zweifellos das Erleben in Erlebnisausdrücke über. Der Ausdrucksbegriff befaßt ungeschiedenerweise alle sinnhaften Ausdrucksgestalten der Menschen unter sich, ob es sich dabei nun um bewußte, intentionale, oder um unbewußte, unwillkürliche, also zumeist um Fälle des unmittelbaren Empfindungsausdrucks handelt. Wittgenstein: „Wie beziehen sich Wörter auf Empfindungen? - Darin scheint kein Problem zu 1 4 2 Diesen Sachverhalt impliziert die T h e s e , d a ß der G e h a l t der Erinnerung eines Erlebnisses bzw. einer E r f a h r u n g z u m Zeitpunkt t 3 nicht denjenigen des erinnerten Erlebnisses bzw. der erinnerten E r f a h r u n g zum Zeitpunkt tj widerlegen kann. D e m entspricht die K o g n i t i o n s p s y c h o l o g i e mit der ursprünglich auf die Symboltheorie N e l s o n G o o d m a n s zurückgehenden Unterscheidung zwischen autographischen und allographischen Symbolen. Allographisch ist, wovon eine identische R e p r o d u k t i o n erstellt werden kann, autographisch, was strukturell nicht identisch r e p r o d u z i e r b a r ist. In der K u n s t etwa ist ein R o m a n ein allographisches Symbolgebilde, insofern die Bücher einer A u f l a g e sich nicht voneinander unterscheiden, ein G e m ä l d e d a g e g e n ist autographisch, insofern die Veränd e r u n g irgendeines seiner M e r k m a l e d a s Werk selbst verändert. Für d a s autobiographische G e d ä c h t n i s gilt nun, d a ß „ e s . . . ausgesprochen unwahrscheinlich [ist], daß eine einmal gemachte E r f a h r u n g in genau derselben Form zu einem späteren Zeitpunkt - als Erinnerung - wieder a u f t a u c h t " ( G r a n z o w 1994, 16). E r f a h r u n g e n sind nicht exakt r e p r o d u zierbar, sie sind „ a u t o g r a p h i s c h " .
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liegen; denn reden wir nicht täglich von Empfindungen, und benennen sie? Aber wie wird die Verbindung des Namens mit dem Benannten hergestellt? Die Frage ist die gleiche wie die: wie lernt ein Mensch die Bedeutung der Namen von Empfindungen? Z.B. des Wortes ,Schmerz'. Dies ist eine Möglichkeit: Es werden Worte mit dem ursprünglichen, natürlichen, Ausdruck der Empfindung verbunden und an dessen Stelle gesetzt. Ein Kind hat sich verletzt, es schreit; und nun sprechen ihm die Erwachsenen zu und bringen ihm Ausrufe und später Sätze bei. Sie lehren das Kind ein neues Schmerzbenehmen." 143 Sie lehren es zum Beispiel, eine Schmerzempfindung mit dem Laut „au" auszudrücken. Das heißt, daß sie es empraktisch mit der Verwendungsregel solcher Schmerzausdrücke vertraut machen. „'So sagst du also, daß das Wort >Schmerz< eigentlich das Schreien bedeute?' - Im Gegenteil; der Wortausdruck des Schmerzes ersetzt das Schreien und beschreibt es nicht." 144 Mit anderen Worten: Wir lernen uns unwillkürlich auszudrücken. Erlebnisausdrücke dieser Art sind allerdings sehr weit entfernt von hochkomplexen Ausdrucksgestalten des objektiven Geistes wie beispielsweise der Sixtinischen Kapelle oder auch (nur) der Fresken Michelangelos in ihr. Denn offensichtlich handelt es sich z.B. bei Kunstwerken um bewußte Ausdrucksgestalten, und zu fragen wäre, was man sich bei dem Attribut „bewusst" hier genau zu denken hat. Zur Beantwortung dieser Frage soll wenigstens ein Vorschlag gemacht werden. Er geht von einem kurzen, sprachphilosophisch interessanten Text eines deutschen Romantikers aus, Uber die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden von Heinrich von Kleist. Der Dichter widmet sich darin - der Titel verrät es im Grunde ja schon dem internen Zusammenhang von Denken und Sprechen. Daß es hier einen internen Zusammenhang gibt, leuchtet intuitiv ein, denn Gedanken haben wir, sofern wir uns ihrer bewußt werden, immer nur in sprachlicher Gestalt. „Der Franzose sagt, l'appetit vient en mangeant", so nun Kleist, „und dieser Erfahrungssatz bleibt wahr, wenn man ihn parodiert, und sagt, l'idee vient en parlant." 145 Kleist geht von dem auch von Taylor untersuchten Phänomen aus, daß wir um einen Gedanken ringen, was ja soviel heißt wie ein Ringen um das rechte Wort, in dem der Gedanke zum Ausdruck kommt. Kleist enthält sich nun jeder psychologistischen Erklärung dieses Phänomens: „Aber weil ich doch
143
Wittgenstein 1984, 357. Ebd. Bei dem Zitat handelt es sich um den § 244 der Philosophischen Untersuchungen, der im Kontext von Wittgensteins Privatsprachenargument steht. Vgl. dazu im Zusammenhang mit der Selbstbewußtseinsdebatte auch Tugendhat 1979, 91-113. 145 Kleist 1982, 880. 144
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irgendeine dunkle Vorstellung habe, die mit dem, was ich suche, von fern her in einiger Verbindung steht, so prägt, wenn ich nur dreist damit den Anfang mache, das Gemüt, während die Rede fortschreitet, in der Notwendigkeit, dem Anfang nun auch ein Ende zu finden, jene verworrene Vorstellung zur völligen Deutlichkeit aus, dergestalt, daß die Erkenntnis, zu meinem Erstaunen, mit der Periode fertig ist." 146 In der Tat beschreibt Kleist hier sehr genau, was in der Praxis des Formulierens geschieht. Gedanken werden gefaßt, indem wir sie in der parole unwillkürlich ausdrücken. Und seine Gegenprobe: „Etwas ganz anderes ist es wenn der Geist schon, vor aller Rede, mit dem Gedanken fertig ist. Denn dann muß er bei seiner bloßen Ausdrückung zurückbleiben, und dies Geschäft, weit entfernt ihn zu erregen, hat vielmehr keine andere Wirkung, als ihn von seiner Erregung abzuspannen. Wenn daher eine Vorstellung verworren ausgedrückt wird, so folgt der Schluß noch gar nicht, daß sie auch verworren gedacht worden sei; vielmehr könnte es leicht sein, daß die verworrenst ausgedrückten grade am deutlichsten gedacht werden." 147 Hier behauptet er nun nicht etwa, daß wir Gedanken vorsprachlich fassen, sondern er beschreibt lediglich den Fall eines gleichsam inneren Sprechens, also nichts anderes als das sprachlich vermittelte Denken, dessen Resultat, ein sprachlicher Gedanke, in seiner Äußerung identisch reproduziert werden soll. Kleists These: Genau das geht meistens schief, denn wir müssen, indem wir formulieren, zugleich darauf reflektieren, daß der geäußerte Gedanke dem bereits innerlich gefaßten Gedanken entspricht. So verliert unser Äußerung ihre Unwillkürlichkeit, und eben deshalb scheitert sie häufig. Erklärungsbedürftig bleibt freilich, warum sie scheitert. Darüber sagt Kleist nichts, dabei liegt es so nahe. Das Kriterium des Scheiterns kann nicht die mangelhafte Ubereinstimmung zwischen dem gedachten und dem geäußerten Gedanken sein, denn wenn wir in der Lage wären, den ersten umstandslos zu reidentifizieren, bliebe unerklärlich, warum wir ihn dann nicht auch äußern können. Nun haben wir aber kein objektives täuschungsresistentes Kriterium, einen niemals geäußerten Gedanken zu reidentifizieren. Stattdessen spüren wir eben nur, wenn wir während eines Äußerungsaktes darauf reflektieren, ob die Äußerung etwas, von dem wir nicht wissen, was es ist, entspricht, daß dieses „etwas" sich seinem Ausdruck entzieht. Wir können eben etwas nur ausdrücken, indem wir es unwillkürlich tun. Ob es ein Gedanke war - den wir vorher bereits im Denken unwillkürlich gefaßt haben müssen, damit es ein Gedanke hat werden
146 147
Ebd., 880f. Ebd., 883.
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können - werden wir niemals wissen. Es ist mit den Gedanken eben so, wie Robert Musil es irgendwo im Mann ohne Eigenschaften einmal von einem Hund gesagt hat, der mit einem viel zu langen Knochen im Maul durch eine schmale Tür hindurch will: Er dreht und wendet den Kopf, nimmt mehrmals Anlauf - und irgendwann ist er durch. In dieser Hinsicht unterscheiden sich komplexe sinnlogische Gebilde kaum von den viel schlichteren des Schmerzausdrucks: beides, Schmerzausdruck und Gedankenäußerung, geschieht unwillkürlich. Und die Gedankenäußerung wird ebenso gelernt wie der Schmerzausdruck; wir lernen die richtige Verwendung von Wörtern, deren Sequenzierung zu einem Satz einen Gedanken regelgerecht ebenso ausdrückt wie eine einzelne Partikel regelgerecht den Schmerz. Andererseits wird etwa eine Autobiographie nicht völlig unwillkürlich geschrieben, eine Lebensgeschichte nicht völlig unwillkürlich erzählt. So nehmen wir zum Beispiel durch deiktische Ausdrücke Bezug auf etwas bereits Gesagtes, und das setzt voraus, daß wir davon wissen, das deiktisch Gekennzeichnete bereits gesagt zu haben; außerdem besagt es, daß wir es in einer bestimmten Weise verstanden haben, denn nur in einer bestimmten Hinsicht beziehen wir uns jetzt auf es. Ob wir uns allerdings richtig auf es beziehen, wissen wir wiederum nicht, denn dazu müßten wir in actu der Bezugnahme auf das Gesagte zugleich die Art und Weise, in der wir auf es Bezug nehmen, mit dem Gehalt des Gesagten vergleichen. So kämen wir wieder in die von Kleist beschriebene Bredouille. Es bleibt uns eben nichts übrig, als weiter zu sprechen, weiter zu schreiben, bis wir das subjektive Gefühl haben, alles gesagt zu haben, was man sagen kann. Eines aber ist klar: komplexere sinnlogische Gebilde als den schlichten Schmerzausdruck generieren wir durch die in der Sprachpraxis unauflösbare Verschränkung von Erlebnisausdruck und Ausdrucksverstehen, so daß jeder komplexere Ausdruck - wie etwa Michelangelos Fresken in der Sixtinischen Kapelle - immer schon ein - wenn das fast unmögliche Wort mir dies eine Mal verziehen wird - Erlebnisausdrucksverstehensausdruck ist. Der wird seinerseits verstanden, und sein Verstehen ist mit Empfindungswerten verbunden, die in neue Erlebnisse münden mögen usw. Dilthey hat diesen Zusammenhang zwischen Erlebnisausdruck, Ausdrucksverstehen und Verstehenserlebnissen selbst benannt, allerdings nicht in der Aufoau-Schrift. In seiner Poetik erfaßt er ihn unter dem Titel des Schillerschen Gesetzes·. „Die Gestalt muß Leben werden und das Leben Gestalt... Ich werde den Satz, daß der ästhetische Vorgang die im Gefühl genossene Lebendigkeit in der Gestalt erfaßt und so die Anschauung beseelt, oder diese Lebendigkeit in Anschauung darstellt und so das Leben in Gestalt überträgt, daß also Ubersetzung von Erlebnis in Gestalt und von Gestalt in Erlebnis hier beständig stattfindet, als das
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Schillersche Gesetz bezeichnen." 1 4 8 Obgleich Dilthey sich hier auf eine Charakterisierung des poetischen Produktionsprozesses beschränkt, hat Matthias Jung zu recht betont, daß das Schillersche Gesetz „gleichzeitig eine Grundstruktur des Lebensvollzugs [benennt], seine Ausdruckstendenz, durch die eine erkennende Einstellung auf den Erlebnisstrom überhaupt erst möglich wird . . . Erst die Wechselbeziehung zwischen dem Erleben und seiner - symbolischen - Artikulation läßt Bedeutungen entstehen, die dann eigenem Nachdenken oder wissenschaftlicher Analyse als Material dienen können. So werden beispielsweise Gefühle durch sprachliche, mimische und gestische Äußerungen artikuliert, und die Reaktion der Umwelt auf diese Artikulationen wirkt dann wieder auf das bewußte Erleben dessen zurück, der seiner Befindlichkeit Ausdruck verliehen hatte." 1 4 9 Erleben, Ausdruck und Verstehen sind demnach faktisch immer schon synthetisierte Momente eines einheitlichen Sinnbildungsgeschehens. Dieses Sinnbildungsgeschehen, so nun die These, konkretisiert, was der Begriff „Artikulation" in dem Satz „ D a s Leben artikuliert sich" hergibt. Artikulation ist nicht Ausdruck, sie ist die Synthesis aus Erleben, Ausdruck und Verstehen in dem Sinnbildungsgeschehen, das ein bestimmtes Sichverhalten des Menschen als spezifisch menschliches Sichverhalten charakterisiert und deshalb auch der privilegierte Gegenstand geisteswissenschaftlicher Forschung ist. Der Mensch, heißt das, ist ein Wesen, das ein artikulatorisches Weltverhältnis hat, und dieses Weltverhältnis erschließen die Geisteswissenschaften. Aber sie erschließen ja nicht nur sein Weltverhältnis, sondern ebenso und vielleicht vor allem sein Selbstverhältnis. Zu sich selbst verhält sich der Mensch folgerichtig also dann, wenn er sich wiederum sinnbildend zu dem Sinnbildungsgeschehen seines Lebens verhält, indem er dieses Geschehen nicht sich, nicht das ominöse Kierkegaardische Selbst - erlebt, dieses Erleben ausdrückt und den Ausdruck versteht, und zwar in der synthetischen Einheit, die auch das Sinnbildungsgeschehen erster Stufe auszeichnet. - Es ist evident, daß diese Konzeptualisierung des menschlichen Selbstverhältnisses das reflexionslogische Subjekt-Objekt-Modell weit hinter sich gelassen hat. Eben dadurch ist Dilthey auch anschlußfähig geworden für die von Tugendhat - wie gesehen: zu Unrecht - als vergleichslos innovativ ausgegebenen Theoretiker des menschlichen Selbstverhältnisses, Martin Heideggerund George Herbert Mead. Es kann nun nicht mehr Wunder nehmen, daß Dilthey im ersten Teil seiner Entwürfe zur Kritik der historischen Vernunft unter dem Titel
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Dilthey 1978, 117. Jung 1996, 101.
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Plan der Fortsetzung zum Außau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften die Trias von Erleben, Ausdruck und Verstehen zuerst anhand der Autobiographie verdeutlicht und erst danach das Verstehen anderer Personen und ihrer Lebensäußerungen thematisiert. 150 „Der Lebenslauf", schreibt er, „besteht aus Teilen, besteht aus Erlebnissen, die in einem inneren Zusammenhang miteinander stehen. Jedes einzelne Erlebnis ist auf ein Selbst bezogen, dessen Teil es ist; es ist durch die Struktur mit anderen Teilen zu einem Zusammenhang verbunden. In allem Geistigen finden wir Zusammenhang; so ist Zusammenhang eine Kategorie, die aus dem Leben entspringt. Wir fassen Zusammenhang auf vermöge der Einheit des Bewußtseins. Diese ist die Bedingung, unter welcher alles Auffassen steht; aber es ist klar, daß ein Stattfinden von Zusammenhang aus der bloßen Tatsache, daß der Einheit des Bewußtseins eine Mannigfaltigkeit von Erlebnissen gegeben ist, nicht folgen würde. Nur weil das Leben selbst ein Strukturzusammenhang ist, in welchem die Erlebnisse in erlebbaren Beziehungen stehen, ist uns der Zusammenhang des Lebens gegeben." 151 Mit anderen Worten: Der innere Zusammenhang, in dem die Erlebnisse einer Person zueinander stehen, ergibt sich nicht allein aus der Selbigkeit dieser Person in der Zeit, sondern hinzukommen muß, daß sie sich zu ihrem Erleben verhält, und zwar so, daß in diesem Sichzusichverhalten die Beziehungen der Erlebnisse untereinander erlebt werden. Das aber kann im Kontext der Trias von Erleben, Ausdruck und Verstehen nur heißen, daß der Autobiograph sich verstehend zu den Erlebnisausdrücken verhält, zu denen sein bisheriges Leben geronnen ist, und daß er diese Ausdrücke in dem Zusammenhang versteht, der sich im Rückblick auf das Geschehene, vorgreifend auf das Gewollte seinerseits empfindungswertig, das heißt affektiv und volitional besetzt und insofern erlebnishaft ausbildet. Die Autobiographie, so kann jetzt gesagt werden, ist mithin ein bevorzugtes sprachliches Medium, in dem sich das Selbstverhältnis des Menschen artikulatorisch entwickelt. Diltheys Trias von Erleben, Ausdruck und Verstehen, wenn man sie als Spezifizierung des Artikulationsbegriffs in seinem seinerseits selbstbewußtseinstheoretisch zu spezifizierenden Diktum vom sich selbst artikulierenden Leben liest, stellt ein positives Gegenmodell zum reflexionslogischen Subjekt-Objekt-Paradigma dar. Es kann das Sichzusichverhalten als praktisches Selbstverhältnis auszeichnen, in dem die Person sich zu ihrem Leben verhält, indem sie das Sinnbildungsgeschehen dieses Lebens sinnbildend artikuliert. Dieser Artikulationsprozess vollzieht sich in die Offenheit der Zu-
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Dilthey 1990, 235-251. Ebd., 240 f.
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kunft. Von ihm gilt, was Dilthey von dem Verhältnis des Komponisten zur Musik sagt: „Denn diese musikalische Welt mit den unendlichen Möglichkeiten von Tonschönheiten und von Bedeutung derselben ist immer da, immer in der Geschichte fortschreitend, unendlicher Entwicklung fähig, und in ihr lebt der Musiker, nicht in seinem Gefühl." 152 Auch der Mensch, der sich zu sich selbst verhält, lebt nicht in seinen Gefühlen, sondern in der Sprache, in der er diese Gefühle und vieles mehr artikuliert. Diese Sprache ist nicht die langue eines fertigen Textes, sondern die parole dessen, der sich sprechend zu sich selbst verhält, indem er sich zu seinem Leben verhält - ein unabschließbarer Prozeß und ein wesentlich narrativer; insofern ist der fiktive Autobiograph Tristram Shandy in Lawrence Sternes gleichnamigem Roman, der, paradox formuliert, länger brauchen würde, seine Geschichte zu erzählen, als sie zu leben, der Idealtypus des sich zu sich verhaltenden Menschen. „Die Selbstbiographie ist nur die zu schriftstellerischem Ausdruck gebrachte Selbstbesinnung des Menschen über seinen Lebenslauf." 153 Dilthey berücksichtigt freilich nicht den performativen Zwang, dem sich der Autobiograph unterstellt. Denn keineswegs verhilft er seiner Selbstbesinnung nur zu einem Ausdruck, sondern zugleich legt er sie damit auf einen bestimmten Lebenslauf fest. Als Ausdruck der Selbstbesinnung verleiht die Autobiographie dem, worauf der Mensch sich besinnt, im Lichte des Lebens, das er zu sein hat und das er so und so leben will, eine seinem Lebensentwurf förderliche Prägnanz. Das gilt umso mehr von pietistischen Autobiographien, als sie ja überdies einen dezidierten Bekenntnischarakter haben. Die Analyse der Lebensläufe von Francke, Burcken, Schumacher und Petersen hat gezeigt, daß durch die Konstruktion einer bekehrungszentrierten Lebensgeschichte ein Bekenntnis zu der eigenen religiösen Berufung abgelegt wird, zu einer Berufung, die sich überhaupt erst in der Konstruktion der Lebensgeschichte als solche erweist. Zugespitzt formuliert: Das autobiographische Bekenntnis erzeugt die Berufung, zu der sich der Gläubige in seinem Lebenslauf bekennt. Damit verpflichtet dieser sich auf einen bestimmten Zukunftsentwurf, der folglich alles Geschehende im Lichte dieser Berufung vereindeutigt. Hegels Diktum, wonach die reformatorische Innerlichkeit durch „das Moment des Insichseins des Geistes, des Freiseins, des Zusichselbstkommens" bestimmt ist, wobei „die Freiheit heißt, in dem bestimmten Inhalt sich zu sich zu verhalten", 154 beruht also auf einem Modell, das zum Verständnis der praxis pietatis unangemessen ist. Der Pietist verhält sich nicht zu sich als einer ominösen Sub152 153 154
Ebd., 273 f. Ebd., 247. Hegel 1986, Bd.20, 57.
Identitätsbildung in der Moderne: zwei Varianten
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stanz, und auch nicht zu sich als einer substantialisierten Relation, in der er sich zu einem ihm zunächst fremden Inhalt findet, sondern er verhält sich zu seinem Leben, indem er, gemäß den sozialethischen Normen seines Glaubens, zu einer artikulatorischen Gewißheit über seine Erwähltheit kommen will. Die integralen Momente seiner religiösen Sinnbildung: die Sensitivierung, Reflexivierung und Ethisierung des Glaubenslebens sowie die Selbstcharismatisierung des Gläubigen synthetisieren Erleben, Ausdruck und Verstehen in einem normativ verbindlichen Artikulationsprozess. Er besteht in der Evokation von sensitiven Evidenzerlebnissen, ihrem prägnanzbildenden Ausdruck und dem zu weiterem Erleben prädisponierenden Ausdrucksverstehen, das selbst schon Erlebnisqualitäten besitzt und seinerseits zum Ausdruck gebracht wird. Die Autobiographie ist ein im Pietismus privilegiertes Medium dieses Artikulationsprozesses. Vor allem in ihr wird die Gewißheit sich erschrieben, die der Gläubige über seine Erwähltheit gewinnen möchte. Er verfehlt, gewinnt, verliert und bewahrt sie in der Konstruktion einer Lebensgeschichte. Nicht die reflexionslogische, sondern eine vermittels der Dilthey-Interpretation in Umrissen skizzierte narrativitätslogische Konzeptualisierung des menschlichen Selbstverhältnisses erschließt also das, was die Pietisten tun, wenn sie sich zu sich selbst verhalten. So sind denn die Pietisten zweifellos moderner als ihr Ruf. Sie praktizieren in ihrem Leben, was - sehen wir von Dilthey und vielleicht auch noch einigen anderen Ausnahmen einmal ab - erst die Philosophie des jüngst vergangenen Jahrhunderts in ihren Modellbildungen eingeholt hat. Allerdings, das sei nochmals hervorgehoben, gibt es eine Diskrepanz zwischen dem, was die Pietisten tun, und dem, was sie zu tun glauben. Denn zweifellos sind sie sich nicht des konstruktiven Charakters ihres narrativen Selbstverhältnisses bewußt. Aber beeinträchtigt das ihre Modernität? Nicht nur ihre Autobiographien, so war im Anschluß an Alois Hahn argumentiert worden, sind Biographiegeneratoren, sondern schon die Strukturlogik der religiösen Sinnbildung drängt auf eine narrative Biographisierung des eigenen Lebens. Nur weil das der Fall ist, bildet sich das autobiographische Schreiben als eine feste religiöse Institution im Pietismus überhaupt aus. Der Pietist ist ein homo narrans, und hier hat der Pietismus charakterbildend gewirkt. Er hat den Menschen ein narratives Selbstverhältnis erschlossen, dessen begrifflicher Gehalt ihnen in der Tat erst sehr viel später aufgegangen ist. Heute gibt es den Pietismus als soziologisch identifizierbare religiöse Bewegung so gut wie nicht mehr - einmal abgesehen vielleicht von einigen verstreuten freikirchlichen Gemeinden und besonders ambitionierten CVJM-Bibelkreisen, die in dieser Tradition stehen mögen. Im Zuge der breiten pietistischen Bewegung des 17. und des 18.Jahrhunderts fest in die Praktiken der Menschen eingewandert ist aber das narrative Sichzusichver-
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halten sowie das Selbstbewußtsein, mit dem Menschen für ihre autobiographischen Selbsterkundungen Interesse und Anteilnahme erwarten. „Die Einheit eines menschlichen Lebens", so Alisdair Maclntyre in After Virtue, „ist die Einheit einer narrativen Suche." 155 Möglicherweise hätten selbst die Pietisten des späten 17. Jahrhunderts diesen Satz unterschrieben, wenn es damals jemandem eingefallen wäre, ihn zu formulieren. Inhaltlich eine Welt, strukturell aber nur ein Katzensprung liegt zwischen diesem Satz und dem Richard Rortys, einem der wohl avanciertesten Narrativitätstheoretiker unserer Zeit: „Das vollkommene Leben", schreibt er, und dies, so scheint es, geht doch wohl auch die Pietisten an, das vollkommene Leben „wird eines sein, das in der Gewißheit endet, daß jedenfalls das letzte seiner abschließenden Vokabulare ganz ι seine · war.«156 das
155 156
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Register Angst 22, 30, 36, 58, 132f, 162, 171, 2 4 I f , 247, 250, 262, 270f, 273, 276, 278, 297, 340, 371 Anthropologie, anthropologisch 18, 29, 50, 55, 170, 213, 272, 331f Artikulation 11, 25, 27, 84, 159, 185, 235, 241, 255, 278, 315, 317-323, 326-330, 337, 350, 353-355, 364f, 367 authentisch 42, 104, 165, 183f, 187, 232, 235, 247, 249, 254, 256, 267, 270, 276, 284, 293, 309, 327, 345, 347 Autobiographie, Autobiographik 11, 130, 166-168, 177, 181-183, 185f, 189, 194-198, 225f, 228, 252, 255, 262, 264, 272, 279-281, 283, 287, 298f, 301, 304-307, 309, 315, 318, 327f, 330, 335, 341, 345, 354, 360, 363, 365-367, 370, 376-378, 383 Bekehrung 86, 166, 190, 192, 197, 221, 224-226, 228f, 242-256, 258, 263, 265f, 273, 275, 277, 279, 297f, 306, 309, 314, 330, 348, 366, 369-371, 375, 378, 382 Berger, Peter 147f, 151, 370 Biographiegenerator 333-337, 347, 367 Bourdieu, Pierre 152, 337-340, 370 Bußkampf 135, 240, 242f, 246, 248-251, 253, 255f, 256, 259, 263, 265, 270f, 277, 279, 297f, 330 Charisma, Charismatisierung, Selbstcharismatisierung 121, 138-143, 161, 165, 168, 250, 252-254, 295, 331, 367 Deutungsmuster 11, 131, 151-161, 163f, 167, 181-185, 187, 202, 252, 254, 279, 315, 334, 336-339, 347, 349, 369, 377, 381 Dilthey, Wilhelm 130, 147-149, 303, 353-358, 363-367, 371, 374 Disposition 32, 53, 61, 67, 74, 79, 83, 153, 171, 180, 232, 308, 320, 335, 337f, 347 Emergenz 307f, 317, 381
Empfindsamkeit, Empfindung, E m p f i n d lichkeit, empfinden 22, 24, 26f, 29, 32f, 42f, 58, 60f, 63f, 66f, 74, 77, 79, 80-86, 88-91, 109, 115, 121, 123f, 133f, 178f, 196, 205, 215, 219, 227, 229, 234, 237f, 240, 243f, 253, 256, 2 6 l f , 264, 267, 269, 271, 274f, 278f, 288-290, 293f, 298, 310, 320f, 324, 327, 329, 334f, 337, 344, 350, 358-361, 363, 365, 374, 382 E r f a h r u n g 24, 26, 29, 31-33, 39-41, 54, 56, 62-64, 67, 72-77, 83-86, 88-91, 97f, 103, 105, 112f, 115, 118, 123f, 142, 163, 165, 167, 169, 172-175, 177, 182, 189, 226, 242, 244, 247, 250, 253, 257, 263, 268, 272f, 275, 279, 283, 2 9 l f , 307, 311-321, 324-328, 330, 335, 348, 353f, 358, 360, 371, 374, 376, 378-381 Erfindung 303f, 309, 378 Erleben, Erlebnis, Verlebendigung 11, 16, 19, 21f, 24, 26f, 31-33, 37, 54, 62, 68, 70, 75, 82-86, 88, 90, 98, 104, 117f, 123, 132, 134f, 138, 140, 143, 149, 169-177, 190, 214, 221, 242-246, 248-250, 252f, 255-259, 262f, 273, 275, 278, 2 8 l f , 286, 290, 296-299, 307-310, 313-320, 326, 328-330, 332f, 336, 355-361, 363-365, 367, 369, 371 Erneuerung 13f, 21, 29, 31f, 48, 55, 64, 73, 99, 101, 103-110, 112-115, 117f, 123f, 132, 192, 260f, 273, 298, 380-382 Ethisierung 138f, 142-144, 161, 165, 168, 174, 178, 180, 252, 295, 331, 367 Familienähnlichkeit 130, 132, 137f, 157 Fellmann, Ferdinand 170-173, 177, 308, 372 Freiheit 18, 34, 41, 74, 243, 348f, 352, 366, 372, 381 Frömmigkeitsgeschichte 9, 14-17, 37f, 75, 92, 96, 130, 144, 161, 302, 376 Habitus 107, 152, 337-339, 377, 382
384
Register
Hahn, Alois 331-337, 367, 370, 373, 382 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 56, 287, 299, 332, 337, 339, 347-351, 366, 373 Heidegger, Martin 172, 316, 325f, 328, 348, 352f, 364 Huhrig, Detlef 12 Identität (personale), Identitätsmuster, Identitätsbildung 9-12, 95, 131, 138, 144, 152, 169, 182, 201, 252, 287, 299, 314, 3 3 l f , 334, 336f, 345, 347, 353, 370, 373, 376, 382 Individualisierung 43, 127f, 222, 254, 287 Jung, Matthias 12, 147, 314-328, 353, 357, 364, 374 Kierkegaard, Sören 45, 57, 110, 194f, 231, 2 4 l f , 305f, 310, 315, 328, 334, 351-353, 358, 364, 374, 381 Kleist, Heinrich von 361-363, 374 Konversion 12, 102, 167, 239, 251, 331, 375 Langen, August 42, 89, 135-137, 163f, 375 Lavater, Johann Kaspar 178-181, 341-347, 3 7 5 , 3 8 0 Lebensbeschreibung 167, 177, 194, 196-198, 260, 272, 280f, 294-296, 298f, 304f, 310, 330-332 Lebensgeschichte 11, 70, 95, 144, 166, 207, 224f, 228, 263, 290, 331, 363, 366f, 374, 381 LeGoff, Jacques 1 4 5 - 1 4 9 , 1 5 3 , 1 6 2 , 375 Lehmann,Jürgen 167, 185, 194, 376 Literarisierung 189,345 Luckmann, Thomas 147f, 151, 370 Mannheim, Karl 148-150, 376 Margreiter, Reinhard 62, 173, 376 Mentalitätsgeschichte 11, 145, 149, 152, 162, 280, 3 3 l f , 371, 375, 379f Narrativierung 9-12, 131, 179, 221, 312-314, 330-332, 337, 340, 345, 347, 366-368, 371 Oevermann, Ulrich 12, 79, 88, 151-153, 155, 157-159, 161f, 164f, 184, 338f, 377f, 381
Quelle, authentische vs. repräsentative 164f, 183f, 254 Reflexivität, Reflexivierung, reflexiv 55, 58, 61, 63f, 75, 78, 91, 110, 124, 138f„ 142f, 146, 161, 165, 168-170, 174-177, 186, 214, 2 2 l f , 238, 240, 248-254, 256-258, 263, 265, 269f, 275, 278, 296-298, 300f, 307-309, 312-314, 318, 326, 331, 333, 335-337, 340, 346f, 351, 353, 355, 367 Regel 103, 148, 152, 155-162, 167, 183, 185-187, 197, 210, 309, 338f, 361, 363 Säkularisierung 12, 175, 189, 250, 272, 279, 341, 347 Schapp, Wilhelm 312, 331, 379 Schmidt, Alfred 12 Schrödter, Hermann 310-313, 328, 380 Searle, John 157f, 167, 188, 339, 380 Selbstbewusstsein 146, 290, 337, 349f, 361, 365, 368, 381 Selbstverneinung 268, 327 Selbstverwirklichung 115, 144, 295, 297, 306, 315, 334, 381 Zweifel, Selbstzweifel, Verzweifelung 57, 135, 142, 146, 190, 239-244, 250f, 253, 257f, 263, 267f, 270, 273, 275, 285, 288, 294, 297, 349 Semantisierung 313-315, 328, 331, 347 Sensitivität, Sensitivierung, sensitiv 11, 91, 138f, 142f, 161, 165, 168-170, 173-177, 245, 252-254, 256-259, 262f, 265, 270f, 274f, 278f, 289f, 292, 294-300, 308-310, 314, 317f, 321, 330f, 347, 350, 367 Sequenzanalyse 184f, 187, 189, 193 Symbolisierung 172f, 299, 301, 308f, 312-314, 318, 335, 340, 353, 376 Taylor, Charles 12, 319f, 323-326, 353, 359, 361, 381 Tugendhat, Ernst 350-353, 361, 364, 381 Weher, Max 1 3 0 , 1 3 7 - 1 3 9 , 1 4 1 - 1 4 4 , 149f, 153, 162, 339, 382 Wissenssoziologie 147, 150f, 153, 370, 376f Wittgenstein, Ludwig 132, 157, 160, 188, 329, 360f, 382 Wuthenow, Ralph-Rainer 12, 165, 189, 195f, 383