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German Pages 388 [408] Year 2014
Imagination, Transformation und die Entstehung des Neuen
Transformationen der Antike
Herausgegeben von Hartmut Böhme, Horst Bredekamp, Johannes Helmrath, Christoph Markschies, Ernst Osterkamp, Dominik Perler, Ulrich Schmitzer
Wissenschaftlicher Beirat: Frank Fehrenbach, Niklaus Largier, Martin Mulsow, Wolfgang Proß, Ernst A. Schmidt, Jürgen Paul Schwindt
Band 31
De Gruyter
Imagination, Transformation und die Entstehung des Neuen Herausgegeben von
Philipp Brüllmann, Ursula Rombach, Cornelia Wilde
De Gruyter
Gedruckt mit Mitteln, die die Deutsche Forschungsgemeinschaft dem Sonderforschungsbereich 644 »Transformationen der Antike« zur Verfügung gestellt hat.
ISBN 978-3-11-035427-0 e-ISBN (PDF) 978-3-11-029807-9 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-037799-6 ISSN 1864-5208 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. 2014 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Einbandgestaltung: Martin Zech, Bremen Logo »Transformationen der Antike«: Karsten Asshauer SEQUENZ Druck und Bindung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Vorwort Der vorliegende Band geht aus der Arbeit der AG »Imagination und Innovation« des Sonderforschungsbereichs 644 »Transformationen der Antike« an der Humboldt-Universität zu Berlin hervor. Vom Wintersemester 2009/2010 bis zum Sommersemester 2012 untersuchte die Arbeitsgruppe den Zusammenhang transformativer Prozesse mit den Phänomenen der Imagination und Innovation. Die Herausgeber danken allen Mitgliedern der AG, besonders ihren Leitern Verena Lobsien und Peter Seiler, sowie neben den Beitragenden in diesem Band auch allen Gästen, die mit ihren Vorträgen und Workshops die Arbeit befördert haben. Ein besonderer Dank gilt Nadja Degen für die sorgfältige Unterstützung des Lektorats und vor allem Liouba Popoff, die mit großem Engagement in Redaktion und Layout die Realisierung dieses Bandes umgesetzt hat. Der Dank geht schließlich an Hartmut Böhme als den für diesen Band zuständigen Herausgeber der Reihe »Transformationen der Antike«, an den De Gruyter Verlag für die umsichtige Betreuung der Drucklegung sowie an die Gutachter des Peer-Review-Verfahrens für die vielfach wertvollen Hinweise. Berlin, im April 2014
Philipp Brüllmann, Ursula Rombach, Cornelia Wilde
Inhalt PHILIPP BRÜLLMANN, URSULA ROMBACH, CORNELIA WILDE Imagination, Transformation und die Entstehung des Neuen. Einleitung ................................................................................................................ 1 Teil 1 ULRIKE BRUCHMÜLLER Imagination und Innovation in der Philosophie Platons. Möglichkeiten der Referenz für alte und neue Transformationen ........................ 23 KLAUS CORCILIUS Phantasia und Phantasie bei Aristoteles ............................................................... 71 WIEBKE-MARIE STOCK Plotins phantasia. Zur Theorie der Imagination ................................................... 89 PETER SEILER trovare cose non vedute. Naturnachahmung und Phantasie in Cennino Cenninis Libro dell’arte ....................................................................... 111 ANNE EUSTERSCHULTE Bildräume des Geistes. Nicolaus Cusanus und die Theorie mentaler Bilder in der Renaissance ..................................................................... 155 Teil 2 URSULA ROMBACH Venus – Mars – Adonis. Imagination und mythopoetische Innovation .............. 197 VERENA OLEJNICZAK LOBSIEN »The new Poete«. Imagination des Widersprüchlichen in Spensers Garden of Adonis, oder: Einladung zur Spekulation. ......................................... 221 PHILIPP BRÜLLMANN »… dass sich entweder die Musik oder die menschliche Natur verändert hat«. Zu einem Argument der Camerata fiorentina............................ 245
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Inhalt
PAOLO SANVITO Die Accademia Olimpica in Vicenza. Humanistische Antikeforschung im Zeichen der Erneuerung der Künste: Musiktheorie, Rhetorik und Architektur ................................................................................................... 269 CORNELIA WILDE »... she endeavoured to create a world«. Margaret Cavendishs The Blazing World als Produkt philosophischer Imagination ............................. 305 KATALIN SCHOBER Ästhetische Inszenierungen von Gründungsmythen. James ›Athenian‹ Stuart begründet den Grecian style in der englischen Architektur ..................... 331 MARÍA OCÓN FERNÁNDEZ Colored Antiquities. Das Neue in Transformationen des Antike-Bildes durch Farbe .............................................................................................. 347 Autorenverzeichnis ............................................................................................. 369 Personenregister .................................................................................................. 373 Abbildungen ........................................................................................................ 379
Imagination, Transformation und die Entstehung des Neuen. Einleitung PHILIPP BRÜLLMANN, URSULA ROMBACH, CORNELIA WILDE
Der Sammelband Imagination, Transformation und die Entstehung des Neuen leistet einen Beitrag zum Konzept der Transformation, wie es im Berliner Sonderforschungsbereich »Transformationen der Antike« (SFB 644) entwickelt wird.1 Er tut dies, indem er den Zusammenhang zwischen Transformation und Imagination in den Blick nimmt, einen Zusammenhang, der – so unsere Überzeugung – zwei wesentliche Ausprägungen findet. Erstens ist die Imagination eine zentrale Produktivkraft in Transformationsprozessen, wo sie insbesondere bei der Entstehung des Neuen eine wichtige Rolle spielt; zweitens lässt sich unser heutiges Verständnis der Imagination als Ergebnis einer Transformation antiker Wissensbestände lesen. Die folgende Einleitung soll dazu dienen, diese beiden Thesen näher zu beleuchten, um den Rahmen für die vorliegenden Beiträge abzustecken. Zum einen ist also zu erläutern, weshalb und inwiefern es sinnvoll ist, von einer Transformation des Imaginationsbegriffs zu sprechen und dabei explizit auf das im SFB 644 entwickelte Transformationskonzept zurückzugreifen. Zum anderen gilt es, die Rolle der Imagination in Transformationsprozessen zu fokussieren. Schließlich sollen die inhaltlichen Schwerpunkte der einzelnen Beiträge, die die beiden Leitthesen dieses Bandes exemplifizieren, vorgestellt werden.
1. Transformationen des Imaginationsbegriffs Mitte des 19. Jahrhunderts erhebt Charles Baudelaire die Imagination des Künstlers zur »Königin der Fähigkeiten«: Welche seltsame Fähigkeit, diese Königin der Fähigkeiten. Sie steht mit allen anderen Fähigkeiten in Verbindung; sie spornt sie an, schickt sie in den Streit. [...] Sie ist Analyse, sie ist Synthese [...]. Die Einbildungskraft hat den Menschen die sittliche Bedeutung der Farbe, des Umrisses, der Klänge und Düfte gelehrt.
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Vgl. Böhme/Bergemann/Dönike/Schirrmeister/Toepfer/Walter/Weitbrecht (2011).
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Philipp Brüllmann, Ursula Rombach, Cornelia Wilde Sie hat, am Anfang der Welt, die Analogie und die Metapher geschaffen. Sie zerlegt die ganze Schöpfung, und mit den angehäuften Materialien [...] schafft sie eine neue Welt, ruft sie die Empfindung des Neuen hervor.2
Formuliert wird diese Bestimmung der Imagination in einem kunsttheoretischen Text aus Anlass des Pariser Malerei-Salons von 1859. Sie steht im Rahmen der polemisch geführten Kontroverse um die Konzepte des Realismus und dient hier vor allem einer Abgrenzung zu der mit dem Realismus verbundenen Nachahmungsästhetik.3 Im Zuge dieser Abgrenzung weist Baudelaire der Imagination nicht nur die zentrale Funktion im künstlerischen Produktionsprozess zu, sondern auch die dominante Position im Zusammenspiel der Seelenvermögen.4 Die Einbildungskraft setzt die anderen Vermögen zueinander in Beziehung. Baudelaire versteht die Einbildungskraft als eine Fähigkeit mit analytischer und synthetisierender Kraft.5 In einem ersten Schritt analysiert die Imagination die gegebene, sinnlich wahrnehmbare Welt; in einem zweiten Schritt setzt sie sie zu einer neuen Wirklichkeit zusammen.6 Dieser ordnende und rekombinative Prozess vollzieht sich gleichzeitig als ein kreativer Prozess der Sinnstiftung. Die Imagination gibt der sinnlich wahrnehmbaren Welt einen »sens moral«, eine moralische Bedeutung. Durch die Tropen Analogie und Metapher schafft sie die Voraussetzung für zeichenhaftes Verweisen und ermöglicht so die Lesbarkeit der Erscheinungswelt.7 In Baudelaires Schrift lässt sich die künstlerische, d.h. imaginative Schöpfung als ein Akt der Bedeutungsstiftung lesen.8 Im Kunstwerk wird die Bedeutung, die die Imagination der Materialität der gegebenen Wirklichkeit zuschreibt, als »neue Welt« ästhetisch erfahrbar.9 Baudelaires kunsttheoretische Schriften markieren den Übergang von einer Nachahmungsästhetik, einer Ästhetik der imitatio, zu einer Ästhetik der imaginatio.10 Dem Salon de 1859 ist dabei eine entscheidende Bedeutung zugewiesen worden, da sich Baudelaire hier explizit vom Anspruch auf eine _____________ 2 3 4 5 6
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Baudelaire, »Der Salon 1859«, 141. Vgl. Drost/Kemp/Riechers (1989), 321. Baudelaire benennt an dieser Stelle die anderen Fähigkeiten nicht explizit, zu denen in der Tradition der aristotelisch-mittelalterlichen Lehren von den Seelenvermögen etwa die Erinnerung und der Intellekt zählen, sie scheinen aber implizit angesprochen zu sein. Vgl. zu diesem analytisch-synthetisierenden Zweischritt bereits Coleridges Unterscheidung zwischen »primary« und »secondary imagination«, Coleridge, Biographia Literaria, I, 304f. Siehe dazu E. Lobsien (2008), 63–77. Für diesen Prozess der Analyse verwendet Baudelaire mehrfach den Begriff der »déformation«, den er – wie Hugo Friedrich herausstellt – »bejahend« meint. Friedrich (1956), 56: »Das Wirkliche, verstanden als das sinnhaft Wahrnehmbare, in seine Teile zerlegen und zertrennen, bedeutet, es deformieren. Der Begriff der Deformation kommt mehrfach bei Baudelaire vor und ist jeweils bejahend gemeint.« Vgl. Bischoff (2009), 153f. Vgl. Frey (1996), 68ff. Vgl. Bischoff (2009), 176. Vgl. Bischoff (2009), 163f. Dort findet sich auch ein aktueller Überblick über die Forschungsdiskussion zu Baudelaires Position in der Debatte um ästhetische Prinzipien.
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mimetische Wirklichkeitsabbildung abgrenzt und bestrebt ist, der Imagination und dem von ihr geschaffenen Kunstwerk eine Sphäre eigenen Rechts zu eröffnen.11 So bewertet Baudelaire die Imagination als »Königin der Fähigkeiten« in dem Bewusstsein, dass die Verteidigung der Imagination und deren Verunglimpfung, ihre Pathologisierung als ›Wahnsinn‹, in der Diskussion um das Potential der Imagination immer eng miteinander verbunden sind. In seiner Absage an die Mimesis, die Naturnachahmung als Prinzip künstlerischen Schaffens, greift Baudelaire einen wiederkehrenden Topos der Imaginationskritik auf und wertet diesen positiv um: Auf tausend verschiedene Arten haben wir in letzter Zeit sagen hören: »Kopiert die Natur; und nichts als die Natur [...]«. [...] Diesen mit der Natur so zufriedenen Doktrinären wäre ein Mann mit Einbildungskraft gewiß berechtigt entgegenzuhalten: »Ich finde es überflüssig und müßig, das, was ist, darzustellen, weil nichts, was ist, mich befriedigt. Die Natur ist häßlich, und ich ziehe die Ungeheuer meiner Phantasie den vorhandenen Trivialitäten vor«.12
In dieser Passage lässt Baudelaire den »Mann mit Einbildungskraft« die Schöpfungen der künstlerischen Phantasie über die naturgegebene Wirklichkeit erheben. Selbst die »Ungeheuer [der] Phantasie« sind schöner als die Natur.13 Baudelaires Fokussierung des schöpferischen Potentials der Einbildungskraft und ihre positive Bewertung, ja die Erhebung dieses Seelenvermögens zum wichtigsten Vermögen überhaupt, weisen ihn als in der romantischen Tradition stehend aus.14 Denker der Frühromantik, allen voran Novalis, hatten die Freisetzung der Einbildungskraft und ihrer Bilderwelten von dem Bezugssystem der äußeren Welt im künstlerischen Schaffensprozess programmatisch gefordert.15 Baudelaire geht allerdings nicht so weit wie Novalis, der darüber spekuliert, ob es eine »Erfindungskunst ohne Data, eine abs(olute) Erfindungskunst« gebe.16 In Baudelaires Konzeption bedient sich die Imagination vielmehr des Gegebenen, um _____________ 11
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Vgl. u.a. Friedrich (1956), 56. So spricht etwa Barck von dem »Dokument einer Epochenwende im ästhetischen Denken«, Barck (1993), 6. Baudelaire, »Der Salon 1859«, 140. Drost, Kemp und Riechers weisen darauf hin, dass Baudelaire mit den »Ungeheuer(n) meiner Phantasie« auf Francisco de Goyas »Monstren« und seine Phantastik Bezug nehmen könnte, (1989), 321. Gleichzeitig sind die Ungeheuer, die die Phantasie gebiert, ein Topos der Imaginationskritik, der seit Horaz (Horaz, Ars Poetica, Verse 1–13) Teil der Diskussion um die Beurteilung der Imagination ist und der gleichzeitig als Polemik gegen ästhetische Abweichungen genutzt werden konnte. Siehe dazu auch die Ausführungen zur moralisch motivierten Imaginationskritik bei Gianfrancesco Pico della Mirandola im Beitrag von Anne Eusterschulte in diesem Band, 155. So hat bereits Friedrich (1956) den Zusammenhang zwischen moderner französischer Lyrik und den poetologischen und ästhetischen Reflexionen der deutschen Frühromantiker aufgezeigt. Henke (2005), 40–49. Novalis, »Das Allgemeine Brouillon«, 388. Siehe zur romantischen Programmatik und der Verortung von Novalis’ Zitat: Vietta (1999), 384.
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daraus im Akt der imaginativen Bedeutungsstiftung eine neue Welt zu schaffen.17 Die Betonung und eindeutig positive Bewertung des kreativen Potentials der menschlichen Einbildungskraft durch die romantischen Denker wie auch durch Baudelaire erscheint aus imaginationsgeschichtlicher Perspektive jedoch keineswegs selbstverständlich. Beginnend mit Aristoteles, wird die Imagination (phantasia) als ein hybrides und durchaus ambivalentes Phänomen menschlicher Erkenntnisfähigkeit betrachtet. Ihre Leistungen werden weder als durchweg positiv noch als Ursprung künstlerischer Schaffensprozesse gesehen oder geschätzt. Das erste systematische Modell der phantasia liefert Aristoteles in seiner Schrift De anima, wo sie zwischen der Erklärung des Wahrnehmungsvermögens einerseits und des Denkvermögens andererseits behandelt wird (III 3). Die phantasia, die Aristoteles streng genommen nicht als ein Vermögen (dynamis), sondern als eine »Bewegung« (kinêsis) auffasst, nimmt hier auch sachlich gesehen eine mittlere Stellung ein. Phantasiai sind als Bewegungen gespeicherte Wahrnehmungen, die für weitere kognitive Prozesse zur Verfügung stehen.18 Auf welche Weise genau die Imagination mit den Vermögen der Wahrnehmung und des Denkens in Beziehung steht, ist das zentrale Problem, das in allen erkenntnis- und kunsttheoretischen, ebenso wie medizinischen Diskursen, in denen die Imagination firmiert, diskutiert wird. Dabei bewegt sich die Bestimmung der Imagination zwischen den Polen einer rezeptiv-thesaurierend-reproduktiven und einer eher produktiv-kreativen Wirkungsweise. Der Beitrag von Anne Eusterschulte wird diese Situation ausführlicher in den Blick nehmen. In dieser Einleitung sollen zwei Beispiele aus dem späten 15. und frühen 16. Jahrhundert illustrieren, dass die Geschichte des aristotelischen phantasia- bzw. des imaginatio-Begriffs keine stringente Entwicklung zur Wertschätzung als Produktivkraft nahm, wie es die romantisch geprägte Retrospektive der Moderne nahe legen könnte. In seiner 1482 im Druck erschienenen Theologia Platonica19 bindet Marsilio Ficino die Frage nach dem Potential der menschlichen Phantasie in den kunsttheoretischen Diskurs über die der Natur analoge Schöpferkraft des Menschen ein.20 _____________ 17
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Der Gedanke, dass die Erscheinungswelt dem schöpferischen Menschen als ein Arsenal von Materialien zur Verfügung steht, aus dem er eine neue Welt schaffen kann, kommt in den Theorien seit dem 16. Jahrhundert vor und mit der englischen romantischen Tradition wird er fester Bestandteil der Konzeptualisierung der Einbildungskraft und der künstlerischen Kreativität. Vgl. Friedrich (1956), 56. Exemplarisch ist dieser Gedanke in Samuel Taylor Coleridges Biographia literaria (1817) ausgeführt. Vgl. Schulte-Sasse, Art. »Einbildungskraft/Imagination«, 89. Vgl. den Beitrag von Klaus Corcilius in diesem Band. Ficino, Theologia Platonica/Ed. Marcel (1964–70). Zur Entstehungszeit siehe z.B. auch Ficino, Index Nominum/Ed. Zintzen (2003), Einleitung XIII. Vgl. Garin (1988), 3–22; Klein (1970), 65–68; von Flemming (2003), 59–98. Dabei verliert Ficino die negativen, den Sinnen zugewandten Aspekte der Phantasie keineswegs aus dem Blick. Vgl. z.B. Ficino, Theol. Plat. XIII 3 (II 224): Non solum ad corporis necessitatem noster animus respicit, sicut bestiae naturae imperio mancipatae, sed ad oblectamenta sensuum vana, quasi quaedam pabula phantasiae. Neque solum per varia blandimenta ipsi phantasiae animus adulatur, dum quasi per iocum diversis ludis delinit quotidie phantasiam [...].
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Wie die Natur bildet der Künstler Dinge, deren Form und Sinn vorher bestimmt und valide sind.21 Natur und Künstler ist dabei der gestaltende Geist gemeinsam. Der Künstler erstellt im Inneren mit Hilfe der Phantasie und des spiritus phantasticus, eines alle Körper umgebenden »Astralleibes«, die materia phantastica, d.h. Bilder der Figuren, um dann vermittels der mens deren Vernunftgründe zu reflektieren.22 Allein der spiritus phantasticus erlaubt das Zusammenspiel von Körper und Seele, die Produktion der materia phantastica sowie der idola oder simulacra.23 Die Imagination wird demnach nicht nur durch Wahrnehmungsbilder geformt, sondern enthält auch deren eingeborene Samen und potentielle Formen in sich, die durch die äußeren Eindrücke geweckt und in simulacra aktualisiert werden.24 Die Prüfung der Sinnesdaten vollzieht bei Ficino die phantasia selbst,25 da sie vermittels ihrer »Ahnung von den Substanzen«, d.h. von den Ideen des Guten und Schönen, fähig ist, die intentiones corporum zu erkennen und Urteile zu fällen.26 Die damit aufgewertete Rolle der phantasia im Erkenntnisprozess und das ihr im Formungsprozess der ›Intentionen‹ zugeschriebene produktive Vermögen27 nobilitieren nicht nur sie selbst, sondern werten zugleich die in der Vorstellung des Künstlers existierenden Bilder auf. Ist das Kunstwerk »die Intelligenz des Künstlers in einer bestimmten Materie«,28 so stellen die Bilder der phantasia hierfür die notwendige Voraussetzung dar. Erkenntnistheoretische Aufwertung und Einbettung in kunsttheoretische Diskurse erweisen sich als interdependent. Dass mit diesem Ansatz jedoch keineswegs der Durchbruch zu einer anhaltenden Konjunktur der menschlichen Vorstellungskraft geleistet war, lässt sich an der 1501 erschienenen ersten Monographie zur Imagination, dem Liber de imaginatione des Gianfrancesco Pico della Mirandola zeigen.29 Die aus der Lektüre griechischer und lateinischer Autoren gewonnene Erkenntnis, dass bereits unter den antiken Gelehrten kein Konsens über die Vorstellungskraft bestanden habe, _____________ 21 22 23 24 25 26
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Ficino, Theol. Plat. IV 1 (I 146). Von Flemming (2003), 77. Ficino, Theol. Plat. XIII 2 (II 207f.) Vgl. Kristeller (1972), 218. Ficino, Theol. Plat. VII 6 (I 274): Quam perceptionem sensum cognominamus. Deinde hanc perceptionem animadvertit et iudicat. Quam animadversionem phantasiam esse volumus. Ficino, Theol. Plat. VIII 1 (I 285): Phantasia iam discernit eam esse effigiem hominis huius qui Plato vocatur, effigiem pulchram viri boni atque amici. Ergo in his sensum aliquem habet iam substantiae, ut quidam putant, et pulchritudinis bonitatisque et amicitiae. [...] Huiusmodi quidam conceptus phantasiae incorporales quodammodo corporum intentiones vocantur. Vgl. Kristeller (1972), 219. Ficino, Theol. Plat. IV 1 (I 146). Siehe dazu auch die Ausführungen im Beitrag von Anne Eusterschulte in diesem Band, 155– 195. Das Datum des Widmungsbriefs an Kaiser Maximilian (1. Dezember 1500) ist der früheste Hinweis auf die Vollendung des Werkes., siehe Pico della Mirandola (1986). Pico thematisiert als erster die Möglichkeit einer historischen Bedeutungsverschiebung bei der Übersetzung des griechischen Begriffs der phantasia durch den lateinischen Begriff der imaginatio: Pico, De imaginatione I (50): [...] nostra autem potestatis huius nomenclatura tam potestatem ipsam denotat, quam eius actum quem solum Graecorum nuncupatio videtur significare.
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legt nach Gianfrancesco Pico die Notwendigkeit einer Abhandlung nahe,30 in der, ausgehend von Begriffsbedeutung und Eigenschaften der imaginatio, die zahlreichen Laster der Einbildungskraft sowie die dagegen zu verwendenden christlichen remedia thematisiert werden. Da »die an den Körper gebundene Seele unfähig wäre, etwas zu meinen, zu wissen oder zu erkennen, wenn ihr nicht die Imagination die dazu notwendigen Abbilder vermittelte«, nimmt die imaginatio auch bei Pico eine zentrale Rolle im Erkenntnisprozess ein.31 Zudem geht die Vorstellung über die Sinneswahrnehmungen hinaus, insofern sie ohne äußeren Anstoß Bilder produziert, die nicht nur Gegenwärtiges, sondern auch Vergangenes und Zukünftiges, ja sogar etwas, was von der Natur nicht geschaffen werden kann, abbilden.32 Der Imagination wird also auch hier eine Produktivkraft zugeschrieben, die die Grenzen der Naturvorgaben überschreiten kann. Diese Schlüsselstellung der imaginatio wird jedoch weder erkenntnistheoretisch hinterfragt noch kunsttheoretisch produktiv gemacht, sondern auf ihre ethischen Auswirkungen hin untersucht, da Pico davon ausgeht, dass »sich generell alles Gute wie auch alles Böse aus der Vorstellung ableiten lasse«.33 Pico bietet jedoch keine Exempla der potentiell positiven Wirkmacht der Imagination, sondern leitet seiner Intention entsprechend mit Kapitel VII, De malis plurimis quae de imaginatione prodeunt, die Warnung vor den Übeln der Imagination ein, an die sich die Kapitel der remedia gegen diese anschließen. Ideen Savonarolas folgend, dem er 1492 erstmals begegnete, assoziiert Pico mit der Kraft der Imagination vor allem ihr moralisches Gefährdungspotenzial. Die Beispiele des Marsilio Ficino und des Gianfrancesco Pico della Mirandola verdeutlichen, dass sich die Geschichte des Imaginationsbegriffs nicht als eine geradlinige Entwicklung vom ›Wahrnehmungsspeicher‹ des Aristoteles zur schöpferischen Einbildungskraft der Romantik erzählen lässt, wie es in der Forschung häufig geschieht.34 Die Veränderungen und vielfachen Begriffs-, Diskurs_____________ 30
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Pico, De imaginatione II (52): De ipsius autem imaginationis natura veteres olim scriptores non consenserunt. Pico, De imaginatione III (56): Neque enim aut opinari, aut scire aut intellegere anima corpori alligata quicquam posset, nisi ei phantasia species ipsas identidem ministraret. Pico, De imaginatione III (56): nullo etiam movente, prodit imagines, nec praesentes modo verum et praeteritas et futuras, et quae etiam promi a natura in lucem nequeunt. Pico, De imaginatione VI (64): Qua de re non difficulter affirmare possumus, cum bona in universum omnia, tum mala, de imaginatione posse derivari. Die Geschichte der Imagination wird in der Forschung meist als eine Entwicklung von dem aristotelisch basierten Konzept eines reproduktiv-kombinatorischen Vermögens, das sein Material aus der Sinneserfahrung nimmt, hin zu einer ästhetisch-künstlerischen Produktivkraft, die unabhängig von den gegebenen Dingen aus sich selbst heraus Neues produziert, erzählt. Der entscheidende »Wandel« in der Konzeptualisierung der Imagination wird in der Romantik und im Zusammenhang des Idealismus Kants und Fichtes verortet. Vgl. u.a. Nauta (2004), »Introduction«. Schulte-Sasse fasst die Imaginationsgeschichte wie folgt zusammen: »In einer jahrtausendlang dominanten Denkfigur [...] wurde die Einbildungskraft als materiell und damit als unzuverlässiges, deshalb rationaler Kontrolle zu unterwerfendes psychisches Vermögen gedeutet. Nach dem Wandel wurde es ein unentbehrliches Vermögen, mit dem sich der Mensch kreativ auf Objekte in Raum und Zeit bezieht«, Schulte-Sasse (2001), 89. Der »Wandel«, den
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und Kontextverschiebungen, die im Denken über die Imagination und ihre Bedeutung zu verzeichnen sind, lassen sich vielmehr, so unser Vorschlag, als Transformationen des antiken phantasia- bzw. imaginatio-Begriffs fassen. Vor allem die Beiträge des ersten Teils des vorliegenden Bandes arbeiten diesen Vorschlag weiter aus. Dabei liegt dem gesamten Band das im Rahmen des SFB 644 »Transformationen der Antike« entwickelte Konzept von Transformation zu Grunde. Was ist in diesem Zusammenhang mit einer Transformation gemeint?35 Transformationen sind, ganz allgemein gesprochen, Veränderungsprozesse, die sich vollziehen, wenn ein Gegenstand aus einem Referenzbereich ausgewählt und in einen Aufnahmebereich eingefügt wird und es dabei in beiden Bereichen zur Entstehung von etwas Neuem kommt. Wird der Aufnahmebereich einer Transformation zum Referenzbereich einer weiteren, entstehen Transformationsketten. Im vorliegenden Fall wäre der Gegenstand der Transformation das Konzept der phantasia, der (ursprüngliche) Referenzbereich die Aristotelische Seelenlehre und der Aufnahmebereich (z.B.) Picos Behandlung der Einbildungskraft im Liber de imaginatione. Das Konzept der Transformation im engeren Sinn soll ein Modell zur Erforschung des historischen Wandels kultureller Formationen zur Verfügung stellen, wobei das Verhältnis von Kontinuität und Veränderung im Zentrum des Interesses steht.36 Die möglichen Gegenstände der Transformation sind denkbar weit gefasst. Es kann sich um Monumente, Dokumente und Interpretamente ebenso handeln wie um Wissensfiguren, Theorien, Experimente, Kommunikationsakte und Stile. Im Prinzip können mit Hilfe der Transformationstheorie alle kulturellen Praktiken des Umgangs mit Überlieferungsbeständen untersucht werden. Als Agenten der Transformationen fungieren dabei nicht nur _____________
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Schulte-Sasse auf die erste Hälfte des 18. Jahrhunderts datiert, ist vor allem als ein Wechsel von erkenntnistheoretischen zu kunsttheoretisch-ästhetischen Verwendungen des Begriffs der Einbildungskraft/Imagination beschrieben worden, Schulte-Sasse, Art. »Einbildungskraft/ Imagination«, 90. Neben den beiden immer noch als Standardwerke geltenden Studien von Bundy (1927) und Cocking (1991) sind in den vergangenen zehn Jahren zahlreiche Sammelbände zur Imagination sowie Einzelstudien erschienen: u.a. Bredekamp (2010); Schönert (2004); E. Lobsien (2003); V. O. Lobsien/E. Lobsien (2003); E. Lobsien (2008); Dewender (2003). Vgl. zum Folgenden: Böhme/Bergemann/Dönike/Schirrmeister/Toepfer/Walter/Weitbrecht (2011), insbes. die Beiträge »Einladung zur Transformation« von Hartmut Böhme (7–37) sowie »Transformation. Ein Konzept zur Erforschung kulturellen Wandels« von Bergemann/ Dönike/Schirrmeister/Toepfer/Walter/Weitbrecht (39–56). Das Konzept der Transformation versteht sich als Alternative zur Rezeptionsforschung, zur Theorie des kulturellen Transfers sowie zur Diskursanalyse. Wichtig sind dabei das Moment der Wechselseitigkeit und die Weite des Gegenstandsbereichs sowie der berücksichtigten Prozesse. Die Beschreibung von Transformationen ist keine Wirkungsgeschichte und keine Rezeptionsgeschichte; sie geht nicht von einem teleologischen Determinismus aus; sie ist weder eine Geschichte der »Strukturen« noch eine akteurzentrierte Theorie historischen Wandels; sie stellt keine systematischen Geltungsfragen und fragt nicht nach der »Adäquatheit« des Ergebnisses einer Transformation. Vielmehr versucht sie ein vielseitiges Instrumentarium zur Beschreibung des Verhältnisses von Kontinuität und Wandel in historischen Prozessen zu bieten.
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Individuen, sondern auch Kollektive oder Institutionen. Das Modell der Transformation, das im SFB 644 anhand von Beispielen der griechisch-römischen Antike erarbeitet wurde, lässt sich im Prinzip auch auf andere Epochen anwenden, um das komplexe Verhältnis von Kontinuität und Wandel zu beschreiben. Entscheidend ist die diachrone Orientierung, das Interesse an historischen Prozessen. Die Pointe des Transformationskonzepts besteht in der These, dass Transformationen nicht nur Prozesse der produktiven ›Aneignung‹ darstellen, die von den Gegebenheiten des jeweiligen Aufnahmebereichs abhängen und auf diese Gegebenheiten zu beziehen sind. Transformationen sind vielmehr Prozesse einer produktiven Wechselseitigkeit: Aufnahme- und Referenzkultur erschaffen sich gegenseitig. Die Vergangenheit ist keine feststehende Entität, sondern wird im Prozess der Transformation stets neu gebildet; zugleich konstruieren sich die Rezeptionskulturen in diesem Prozess unter Rückgriff auf Vergangenes selbst. Zur Kennzeichnung dieses Prozesses hat der SFB 644 den Ausdruck Allelopoiese geprägt. Der Gedanke der Allelopoiese macht den geläufigen Begriff der Transformation zu einem terminus technicus. Dem entspricht die im SFB entwickelte Transformations-Typologie, die in den Geisteswissenschaften gebräuchliche Ausdrücke (z.B. »Appropriation«, »Assimilation«, »Montage«, »Rekonstruktion«, »Übersetzung«) mit einer allelopoietischen Wendung versieht und so zeigt, wie sich die mit diesen Begriffen verbundenen Vorgänge sowohl im Aufnahme- als auch im Referenzbereich auswirken. So entsteht ein pragmatisches Arbeitsinstrument zur Benennung typischer Handlungs- oder Verlaufsformen, eine offene Liste mit heuristischem Wert für die Sortierung des historischen Materials.37 Untersucht man mit Hilfe dieses theoretischen Ansatzes das Konzept der phantasia bei Marsilio Ficino und das der imaginatio bei Gianfrancesco Pico della Mirandola, so lassen sich in Abhängigkeit von der jeweiligen Intention die Transformationsakte markieren, die im Rückgriff auf das teilweise gleiche Material des antiken Referenzbereichs zu so unterschiedlichen Ergebnissen im Aufnahmebereich geführt und zugleich den Blick auf die antiken Darlegungen modifiziert haben. Ficino nimmt die von ihm vollzogene erkenntnistheoretische Aufwertung der phantasia für die Frage nach der schöpferischen Kraft des Menschen in Dienst. Die Rolle der phantasia bei der Ideenerkenntnis wird dabei durch zwei Transformationsschritte gestärkt: die Abtrennung von der imaginatio und die Erweiterung der ihr zugeschriebenen Fähigkeiten. Im ontologischen System Ficinos erhebt sich die menschliche Seele durch die Sinne, die Imagination, die Phantasie und den Verstand zur Erkenntnis der Ideen.38 Ficino verwendet imaginatio und phantasia also nicht synonym, sondern weist der imaginatio die niedrigere Funktion _____________ 37
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Vgl. für eine »systematischere« Auffassung und Darstellung der Transformationstypen Töpfer (2011), 137–181, insbes. 165ff. Ficino, Theol. Plat. VIII 1 (I 285): Ascendit enim per sensum, imaginationem, phantasiam, intelligentiam.
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als Reservoir auch in Abwesenheit des Objekts abrufbarer Bilder zu,39 wohingegen die ihr überlegene phantasia die Sinneswahrnehmungen zu beurteilen vermag:40 »Während die phantasia um das Einzelne kreist, regt sie den Intellekt an, der im Rückgriff auf ihre simulacra die Vernunftgründe erwägt und den Seelenaufstieg zur Ideenerkenntnis vorantreibt.«41 Indem Ficino die Phantasie für die Erkenntnis der Ideen als unverzichtbar einstuft, eröffnet er die Möglichkeit einer Einbettung der Kunst in erkenntnistheoretische Modelle, die auf der Ideenlehre basieren. Die erkenntnistheoretische Aufwertung der Phantasie und der um sie kreisenden Begriffe wird damit im kunsttheoretischen Diskurs verankert. Der ethische Diskurs, in dem Gianfrancesco Pico della Mirandola sein negatives Urteil über die Imagination formuliert und Gegenmittel gegen sie präsentiert, setzt andere Transformationsprozesse voraus. Auch bei Pico stellt Aristoteles, De anima III 3, die zentrale antike Referenz dar, die er mit platonischen,42 vor allem aber neuplatonischen und galenischen Elementen kombiniert. Ausgangspunkte bilden die vier Seelenkräfte des Boethius43 sowie die Position des Synesios, der in De insomniis die Phantasie als das beherrschende menschliche Vermögen herausstellt: »Sie ist der Übergang zwischen Vernunft und Vernunftlosigkeit, zwischen dem Körperlichen und dem Unkörperlichen, sie ist die Grenze, die beiden gemeinsam ist, und durch sie werden die göttlichen Elemente mit dem, was am weitesten von ihnen entfernt ist, in Verbindung gebracht.«44 Pico transformiert den Ansatz des Synesios, indem er die zentrale Position der Imagination im Erkenntnisprozess übernimmt, jedoch ihre Vermittlerposition zum Göttlichen ausblendet. Zu Transformationsakten der Dekontextualisierung und Rekombination treten solche der Neufokussierung, Umdeutung und Neubewertung durch eine Verlagerung von der erkenntnistheoretischen zur ethischen Fragestellung. Dadurch können nicht nur offene Streitfragen nach dem Sitz der Vorstellungskraft oder ihrer Abgrenzung gegenüber dem Gedächtnis, dem Gemeinsinn oder der Denkfähigkeit wohl_____________ 39
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Ficino, Theol. Plat. VIII 1 (I 285): Deinde, etiam absente Platone, per internam imaginationem Platonis cogitat colorem figuramque quam viderat, item Platonis suavem illam quam audiverat vocem et reliqua, quae per quinque sensus acceperat. [...] Sensus quidem circa corpora, imaginatio circa imagines corporum per sensus acceptas sive conceptas sese volutat. Ficino, Theol. Plat. VIII 1 (I 285): Cernis quantum excellat imaginationi Socratis phantasia. Imaginatio ipsa talem quidem collegit Platonis effigiem, sed quem designaret et qualem effigies illa non novit. Phantasia iam discernit eam esse effigiem hominis huius qui Plato vocatur, effigiem pulchram viri boni atque amici. Ergo in his sensum aliquem habet iam substantiae, ut quidam putant, et pulchritudinis bonitatisque et amicitiae. [...] Pulchritudo enim, bonitas, amicitia, disciplina incorporalia sunt, neque sensibus, neque imaginationi patentia. Huiusmodi quidam conceptus phantasiae incorporales quodammodo corporum intentiones vocantur. Vgl. von Flemming (2003), 88. Ficino, Theol. Plat. VIII 1 (I 286–287). Zu verweisen ist hier auf Bezüge zu Platon, Timaios 30, Menon, 81ff., Phaidon, 93ff., Philebos, 39d. Boethius, Philosophiae consolatio V 4, 27ff. Siehe dazu auch den Beitrag von Anne Eusterschulte in diesem Band, 155ff. Vgl. Park (1986), 22–23; Synesius, De insomniis 4/Ed. Migne P.G. 66, 12; 92.
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begründet ausgeblendet werden,45 sondern die Imagination kann zugleich zur hoch anfälligen Schaltzentrale menschlicher Seelenentwicklung erhoben werden. Da Gianfrancesco, anders als sein Onkel Giovanni Pico della Mirandola, nicht von der excellentia hominis, sondern der Unzulänglichkeit und Verworfenheit des Menschen ausgeht, welcher nur durch göttliche Gnade und Offenbarung Wahrheit erlangen könne und dessen ratio, der in den antiken Referenztexten die Kontrolle der Imagination obliegt, oft genug versage,46 kommt bei ihm der imaginatio die Schlüsselstellung für die Entwicklung der menschlichen Seele zwischen Gott und Tier zu:47 Mag daher die Vorstellung auch notwendig sein, so ist sie doch ein recht grobes Instrument und unfähig, richtig zu urteilen, wenn ihr nicht die Führung eines höheren Vermögens zu Hilfe kommt; folgt sie diesem höheren Vermögen, so macht sie den Menschen glücklich, folgt sie ihm nicht, so führt sie ihn in die Verdammnis. Denn wenn sie sich den Begierden, die die Sinne verlocken und herunterziehen, wohlberaten widersetzt und das Höhere anstrebt, so wird sie die sich sträubenden Sinne gegen deren Willen und Widerstand mit hinaufführen. Gehorcht sie dagegen den Sinnen und weigert sich das Geschäft der Tugend auf sich zu nehmen, dann ist ihre Macht so groß, dass sie auch den Körper infiziert und den Geist verdunkelt und es schließlich dahin bringt, dass der Mensch seine Menschlichkeit ablegt und die Bestialität annimmt.48
Ratio und Gebet sind die remedia gegen die Gefahren der Imagination, was Pico durch eine Verschmelzung philosophischer Theoreme mit Anleitungen zur persönlichen Frömmigkeit zu begründen sucht.49 Die negative Bewertung der imaginatio gründet in ihrem ethischen Gefährdungspotential. _____________ 45 46 47
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Pico, De imaginatione IV (58). Vgl. Park (1986), 34; Schmitt (1967), 35–37. Pico, De imaginatione VII (64): Sed quoniam hominum vita lubrica propensaque ad labendum et oberrandum, atque, ut sacrae litterae praemonent, a adolescentia sua prona est ad malum, fit saepenumero ut quibus uti ad felicitatem deberemus, ad infelicitatem et miseriam abutamur. Dagegen Giovanni Pico della Mirandola, Oratio de dignitate hominis 5, 21–23: Medium te mundi posui, ut circumspiceres inde comodius quicquid est in mundo. Nec te celestem neque terrenum, neque mortalem neque immortalem fecimus, ut tui ipsius quasi arbitrarius honorariusque plastes et fictor, in quam malueris tute formam effingas. Poteris in inferiora quae sunt bruta degenerare; poteris in superiora quae sunt divina ex tui animi sententia regenerari. Pico, De imaginatione VI (64): Verum enimvero licet necessaria sit, imaginatio bruta est tamen et recti iudicii expers, nisi ducatu potentiae altioris adiuta, cuius audiens hominem beat, obaudiens damnat. Nam si voluptatibus quae sensus illiciunt ed ad inferna pertrahunt bene consulta restiterit, atque ad superna contenderit, rebellem sensum quamquam invitum et reluctantem eo perducet. Sin accingere se virtutis negotio renuerit sensibus obtemperans, tanta est eius vis ut et copus afficiat et mentem obnubilet, efficiatque demum ut homo hominem exuat, et brutum induat. Vgl. Park (1986), 38. Pico, De imaginatione XI (97); Dabei differenziert Gianfrancesco Pico die Fehler der imaginatio in solche, die der Disposition des Körpers und den Objekten der Sinne entspringen, (Pico, De imaginatione IX [76–80]), solche die vom menschlichen Willen abhängen und denen durch den Gebrauch der ratio abgeholfen werden kann, (Pico, De imaginatione X–XI [80–98]) und solche, die durch die Kraft böser Engel entstehen und denen
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Bei Baudelaire ist, zwar deutlich stärker, aber in der Grundtendenz mit Ficino durchaus vergleichbar, durch den Wandel zur kunsttheoretischen Fokussierung eine positive Bewertung der Imagination zu konstatieren. Dieser Transformationsprozess ist durch eine grundlegende Montage gekennzeichnet. Thematisiert Aristoteles nämlich in De anima die phantasia allein mit Blick auf ihren Beitrag zur Erkenntnis, entwickelt er in der Poetik jenes Konzept, von dem sich romantische wie moderne Kunsttheoretiker und Künstler abzusetzen suchen: das Konzept künstlerischen Schaffens als »Nachahmung« (mimêsis). Waren bei Aristoteles phantasia und mimêsis also systematisch voneinander getrennt, werden sie in Baudelaires Konzeptualisierung der künstlerischen Produktion in Zusammenhang gebracht – als Gegenmodelle künstlerischen Arbeitens. Baudelaires Auffassung der Imagination wird eine zentrale Stellung im Bedeutungs- und Bewertungswandel des Denkens über Imagination zugesprochen.50 Hugo Friedrich etwa hat dessen Aussage über die die Erfahrungswelt zerlegende und deformierende und daraus Neues schaffende Einbildungskraft als »Fundamentalsatz moderner Ästhetik« charakterisiert.51 Die Tatsache, dass Baudelaire die Imagination im Salon nicht lediglich als kombinatorisches, sondern auch als kreatives Vermögen konzipiert, wird als Vereindeutigung der Ambivalenzen angesehen, die die Imagination seit der Antike im Spannungsfeld von Repräsentanz und Performanz, von Metaphysik und Rhetorik, von Nachahmung und Schöpfung situieren.52 Wenn die Imagination neue Welten hervorbringen kann, wenn ihr »seinsoriginäre Potenz« zugeschrieben wird, dann ist die Auseinandersetzung zwischen Nachahmung und Schöpfung zugunsten der Schöpferkraft des imaginativen Künstlers entschieden.53 Die Neues schöpfende Fähigkeit des Künstlers wird von Baudelaire voll und ganz bejaht. Es bleibt festzuhalten, dass die Veränderungen, die der Begriff der phantasia im Lauf seiner Geschichte durchläuft, weder ›ableitbar‹ noch ›zielgerichtet‹ erscheinen. Sie scheinen stattdessen mehr oder weniger kontingent einzutreten und einer nicht intendierten und nicht vorhersagbaren Dynamik zu unterliegen. Im Gegensatz zur quasi-teleologischen Bestimmung dieser Veränderungen kann ihre Beschreibung als »Transformationen der Antike« diesem Aspekt Rechnung tragen. Die Beiträge des ersten Teils dieses Bandes untersuchen und vertiefen diese Annahme anhand geistesgeschichtlicher Beispiele.
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allein durch den christlichen Glauben und das Gebet Einhalt geboten werden kann, (Pico, De imaginatione XII [99–109]). Vgl. Bischoff (2009), 154. Dabei ist für Friedrich der Akt der Zerstörung am Anfang des kreativen Verfahrens das moderne Moment dieser Konzeption künstlerischen Schaffens, Friedrich (1956), 56. Blumenberg sieht in der Auslegung dieser Ambivalenzen eine Konstante im abendländischen Denken, (1981), 55–105. Warning (1976), Sp. 217–220, Sp. 220.
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2. Imagination in Transformationsprozessen Nachdem verschiedene Transformationen des Imaginationsbegriffs skizziert worden sind, soll nun die Rolle der Imagination in Transformationsprozessen in den Blick genommen werden. Die Beiträge im zweiten Teil des vorliegenden Bandes werden diese Rolle an unterschiedlichen Fallbeispielen ausführlich beleuchten. Auf der Grundlage des bisher Gesagten lässt sich bereits erkennen, dass eine enge Verbindung zwischen Transformation und Imagination zu erwarten ist. Drei Beobachtungen erscheinen uns dabei besonders wichtig: (1) Die Transformationstheorie betrachtet die Vergangenheit nicht als ›gegeben‹, sondern als Potenzialität: als etwas, das im Prozess seiner Transformation erst ›hervorgebracht‹ wird. Dass die Antike bei dieser Hervorbringung auch auf die eine oder andere Weise imaginiert wird, scheint äußerst nahe liegend. Wie dies geschieht, muss jedoch von Fall zu Fall neu bestimmt werden. (2) Transformationen sind Prozesse, bei denen im Referenz- wie im Aufnahmebereich etwas Neues entsteht. Ein Zusammenhang zwischen Imagination und Neuem ist, historisch betrachtet, aber nicht unbedingt gegeben. Vielmehr kommt in dieser Koppelung unsere neuzeitlich-moderne Auffassung über die Verbindung von Imagination und Kreativität zum Tragen – wie es das Beispiel Baudelaires gezeigt hat.54 Die je spezifische Bedeutung der Imagination in Transformationsprozessen werden die historischen Fallbeispiele des zweiten Teils des Bandes genauer ausbuchstabieren. (3) Auch wenn die Vergangenheit aus transformationstheoretischer Perspektive als dynamis zu begreifen ist, gibt es stets gegenständliche Relikte, die als Initial des Transformationsprozesses fungieren. Transformationen haben es stets mit einem Wechselspiel von Konstanz und Offenheit des Referenzobjekts zu tun, dessen Status sich zwischen den Polen der ›Entdeckung‹ und ›Erfindung‹ bewegt. Dieses Wechselspiel passt sehr gut zum Begriff der Imagination als einer Fähigkeit, die Neues bildet, indem sie auf Vorhandenes zurückgreift.55 Gleichzeitig ist mit dem Verweis auf die Pole der Entdeckung und Erfindung auch etwas über die unterschiedlichen Dimensionen des Neuen gesagt. Ganz all_____________ 54 55
Zum Verhältnis des Schöpferischen und des Neuen siehe einleitend Haug (1993), 1–13, 2. Von diesen Zusammenhängen, die mit einem eher modernen Begriff der Imagination (entsprechend unserem alltäglichen Sprachgebrauch) arbeiten, muss die Frage unterschieden werden, inwieweit die Transformationen des Imaginationsbegriffs sich auf die Rolle der Imagination in Transformationsprozessen auswirken, ob also etwa die Aufwertung der Imagination als schöpferische Einbildungskraft mit einem zunehmend imaginativschöpferischen Umgang mit der Antike einhergeht. Nach unserer Überzeugung lässt sich diese Frage nicht allgemein beantworten; entsprechende Zusammenhänge sind jedenfalls sehr schwer nachzuweisen, und auch die Autorinnen und Autoren dieses Bandes gehen unterschiedlich damit um. Die Beispiele aus der frühen Neuzeit zeigen den Zusammenhang zwischen einer Aufwertung der Imagination und einem Kreativitätspathos, das sich auch auf den Umgang mit der Antike erstreckt, am deutlichsten, wie etwa das Beispiel Margaret Cavendishs, die die Imagination zum wichtigsten kreativen Erkenntnisvermögen erhebt und die antiken Autoritäten im Akt kreativer Zerstörung entmachtet.
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gemein gesprochen bezeichnen wir als ›neu‹ alle Dinge oder Prozesse, die es so noch nicht gab oder gibt oder die noch nicht bekannt waren oder sind;56 d. h. es gibt einerseits eine ontologische Dimension des Neuen – etwas ist noch nicht da gewesen –, andererseits eine erkenntnistheoretische Dimension – etwas war noch nicht bekannt bzw. war, im Zusammenhang der Transformation antiker Wissensbestände, zu einem bestimmten Zeitpunkt nicht mehr oder noch nicht wieder bekannt, wie etwa konkretes Wissen über antike Musikpraxis in der Renaissance oder über die Poetik des Aristoteles. Weiterhin ist die Haltung der Transformationsagenten gegenüber dem Neuen entscheidend: Wird Neues bejaht – wie bei Margaret Cavendish mit Emphase und als Gestus der Selbstermächtigung – oder eher unter der Hand als etwas eigentlich schon Bekanntes präsentiert? Innerhalb dieser Dimensionen des Neuen bewegen sich auch die Transformationen der Antike, bei denen die Imagination eine entscheidende Rolle spielt. Schon aufgrund dieser Zusammenhänge ist davon auszugehen, dass der Blick auf die Imagination dabei helfen kann, den Begriff der Transformation noch schärfer zu konturieren. Nicht zuletzt scheint dies auch deshalb zu gelten, weil der Begriff der Imagination gewissermaßen quer zu der erwähnten Typologie von Transformationsprozessen steht und diese auf je unterschiedliche Weise zu prägen scheint. Phänomene der Imagination können eben nicht nur dann eine Rolle spielen, wenn Elemente des antiken Referenzbereichs in den Aufnahmebereich integriert, sondern auch wenn diese explizit ausgeschlossen werden. Sie dürften nicht nur für die den Referenzbestand weitgehend erhaltende »Appropriation«, sondern auch für den Vorgang der »Assimilation« wichtig sein, bei der dieser Bestand mit dem Aufnahmebereich mehr oder weniger verschmilzt.57 Durch die Untersuchung der Bedeutung der Imagination für kulturelle Wandlungsprozesse soll dem Konzept der Transformation eine weitere, wichtige Dimension hinzugefügt werden, die zum Verständnis der vielschichtigen Transformationen (nicht nur) der Antike beitragen kann.58
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Siehe dazu Sukale (2008), 9-10. Für diese und weitere Beispiele vgl. Böhme/Bergemann/Dönike/Schirrmeister/Walter/Weitbrecht (2011). Eine abschließende Bemerkung zum Zusammenhang zwischen Allelopoiese, Entstehung des Neuen und Imagination: Die Begriffe der imaginierten Antike und der Entstehung des Neuen markieren gewissermaßen die Extremform der Allelopoiese, d.h. des Gedankens, dass in Referenz- und Aufnahmebereich etwas ›hervorgebracht‹ wird. Zugleich gilt jedoch, dass Transformationen stets Veränderungen von etwas in etwas sind. Es gibt einen Gegenstand, ein Relikt, Fragment etc., der auf die eine oder andere Weise herausgegriffen wird und an dem sich die Transformation vollzieht. Transformationen, die bei der Entstehung des Neuen auf eine imaginierte Antike als Referenzbereich rekurrieren, erscheinen als Extremfälle dieser Konstruktion und bieten so die Gelegenheit, den Horizont des Transformationsbegriffs zu erweitern und das Konzept der Allelopoiese zu problematisieren und zu schärfen.
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3. Die Beiträge Die beiden eingangs skizzierten Zusammenhänge zwischen Imagination und Transformation, d.h. Imagination als ein der Transformation unterworfener Begriff und Imagination als Produktivkraft in Transformationsprozessen, bestimmen die Struktur des vorliegenden Bandes. Der erste Teil widmet sich der Imagination (phantasia, imaginatio) als einem Konzept, das seit der Antike vielfältigen Transformationen unterliegt, die, wie erwähnt, keineswegs geradlinig zur romantischen Imaginationsapotheose hinführen. Während der Beitrag von Klaus Corcilius die Rolle der phantasia in Aristoteles’ Seelenlehre darstellt, fokussieren die übrigen vier Beiträge des ersten Teils die Imagination als Transformationsprodukt und loten dabei zugleich das ihr zugeschriebene kreative, d.h. transformatorische Potential aus. Dabei zeigen sie auf je eigene und fachspezifische Weise, wie das Bild eines rein rekombinatorischen Vermögens unterlaufen wird und schon sehr früh Anhaltspunkte zu einer Erweiterung und Aufwertung der phantasia zu finden sind. Die Beiträge intendieren keinen vollständigen Überblick, bieten aber einige Schlaglichter, die dabei helfen können, die Frage ›Was ist Imagination?‹ angemessen zu beantworten. In ihrem Aufsatz »Imagination und Innovation in der Philosophie Platons« argumentiert Ulrike Bruchmüller, dass erst durch eine Transformation des Platonischen Imaginationsbegriffs Ästhetik und Metaphysik, die in Platons Philosophie selbst eng zusammengehören, ›auseinander gefallen‹ sind. In einer Interpretation zentraler Passagen aus unterschiedlichen Dialogen versucht Bruchmüller, die Platonische Theorie zu rekonstruieren. Dabei stützt sie sich zum einen auf das Tübinger Paradigma der »ungeschriebenen Lehre«, zum anderen auf die zwei Platonischen Prinzipien des Einen und der unbestimmten Zweiheit. Sie stellt heraus, dass Imagination und Innovation zusammen nichts Geringeres als den Platonischen Philosophiebegriff selbst beschreiben. In seinem Beitrag »phantasia und Phantasie bei Aristoteles« erörtert Klaus Corcilius anhand einer Interpretation von De anima III 3, dem wichtigsten antiken Referenztext zur Imagination, dass Aristoteles die phantasia nicht als ein eigenständiges kognitives (geschweige denn kreatives) Seelenvermögen begreift, sondern phantasmata vielmehr als ›Überbleibsel‹ von Wahrnehmungsvorgängen versteht. Diese Überbleibsel verfügen sowohl über repräsentationale als auch kausale Eigenschaften, was die phantasia zu einem ebenso wichtigen wie vielseitigen Bestandteil der aristotelischen Theorie psychischer Leistungen macht. Wiebke-Marie Stock untersucht in ihrem Beitrag »Plotins phantasia. Zur Theorie der Imagination« die Theorie der Phantasie in den Schriften des Neuplatonikers Plotin (205–270 n. Chr.). Mit Blick auf die platonische und aristotelische Bewertung der phantasia als eines lediglich Erkenntnis vermittelnden Vermögens, sieht sie in Plotins Schriften ein besonders vielschichtiges Vorstellungsvermögen präsentiert, das nicht nur vermittelnde Funktion zwischen Körper und Seele sowie eine wichtige Erinnerungsfunktion
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hat, sondern auch für das bewusste Denken in Bildern überhaupt zuständig ist: Die phantasia ist bei Plotin »das Leben der Seele«. In »trovare cose non vedute – Naturnachahmung und Phantasie in Cennino Cenninis (ca. 1370–1440) Libro dell’arte« relativiert Peter Seiler die Cennini zugeschriebene Rolle als Vorbote moderner Kreativitätsvorstellungen und zeigt, dass bei diesem die Lizenz des Malers zur freien Erfindung im Verständnis der Malerei als scienza fundiert ist und die Phantasie als Produktivkraft des Neuen in Synergie mit dem Intellekt des Künstlers gedacht wird. Anne Eusterschulte geht in ihrem Beitrag »Bildräume des Geistes« am Beispiel der Geistmetaphysik des Nikolaus von Kues (1401–1464) der Frage nach, ob die mit der christlichen Appropriation antiker Imaginationstheorien einhergehende Neubewertung der Bild erzeugenden Vorstellungstätigkeit und ihrer Produkte im Rahmen einer theologisch gefassten Seelenlehre die Verhandlung des Konzepts der Imagination als Vermögen freier Bilderzeugung mit den Implikationen des Schöpferischen nicht schon lange vor dem Ende des 18. Jahrhunderts ermöglichte. Beschäftigt sich der erste Teil mit den Transformationen des Imaginationsbegriffs, geht es im zweiten Teil um Imagination in Transformationsprozessen. Sieben Beiträge aus Philosophie, Literatur-, Kultur- und Musikwissenschaft sowie Kunstgeschichte untersuchen die Wirkung der Imagination in Transformationsprozessen und ihre Rolle bei der Entstehung des Neuen. Die Beiträge thematisieren das Zusammenwirken von Wissen und Imagination bei der Genese innovativer mythopoetischer Bildfindungen ebenso wie bei der dichterischen Kreation utopischer Welten auf der Grundlage antiker Philosophien sowie die Rolle der Imagination in wissenschaftlich neuen Erkenntnissen der Antikeforschung. Darüber hinaus werfen sie die Frage auf, inwieweit das Phänomen der Imagination reflektiert und/oder als grundsätzlich für die Entstehung des Neuen angesehen wird. Alle Beiträge präsentieren Phänomene, die als neu erfahren wurden oder aktuell als neu wahrgenommen werden. Sie zeigen, auf welch unterschiedliche Weisen das Neue auftreten und bewertet werden kann: als Neubegründung und Überbietung, als Anfang oder Ursprung und als Gegenstand einer bestimmten ästhetischen Erfahrung. So eröffnet sich ein interdisziplinärer Zugang zu Theorie und Praxis der »Königin der Fähigkeiten«, der die Untersuchung der Genese, der Wirkungen wie der Geltungsansprüche ihrer »Herrschaft« mit neuem methodischem Instrumentarium erprobt. In »Venus – Mars – Adonis. Imagination und mythopoetische Innovation« nimmt Ursula Rombach, ausgehend von Giulio Romanos (1499-1546) Fresko Mars verfolgt Adonis im Palazzo del Te in Mantua, die zentrale Rolle künstlerischer Imagination bei der Entstehung mythopoetisch innovativer Bildfindungen in den Blick und verortet die Antikentransformation im Spannungsfeld komplexer Text-Bild-Relationen und der Realisation neuer historisch funktionalisierter Deutungsmuster.
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In ihrem Beitrag »The new Poete« präsentiert Verena Lobsien Edmund Spenser (ca. 1554–1599) als einen Dichter, der sich selbst innovativ als professionellen Dichter stilisiert und damit einen Ansatz zur Rechtfertigung der Erzeugnisse der künstlerischen Imagination bereit hält. Dabei stellt sich Spenser nicht nur in die Reihe europäischer poetae laureati von Vergil bis Ariost, die von der Hirtendichtung zum Epos voranschreiten, sondern liefert in seinem Hauptwerk The Fairie Queene in der Episode des Garden of Adonis ein Beispiel, wie die künstlerische Imagination Aspekte antiker Philosophien in ihrer Transformation zu einem semantisch überbordenden literarischen Text gestaltet und damit eine »Neue Poesie« schafft. Philipp Brüllmann befasst sich in seinem Beitrag »›... dass sich entweder die Musik oder die menschliche Natur verändert hat‹« mit einem Argument, das in den Äußerungen der so genannten Camerata fiorentina eine zentrale Rolle gespielt hat und das beweisen soll, dass die Musik der Antike einstimmig gewesen ist. Das Auffällige an diesem Argument ist, dass es nicht primär auf antike Quellen rekurriert, sondern von musikpsychologischen Überlegungen ausgeht. Brüllmann zeigt zum einen, dass diese besondere Vorgehensweise eng mit der Situation einer bewusst imaginierten Antike zusammenhängt, und weist zum anderen nach, dass der Versuch einer Imagination auf ›naturwissenschaftlicher‹ Grundlage gleichwohl mit einer Transformation der Antike einhergeht. Paolo Sanvitos Aufsatz »Die Accademia Olimpica von Vicenza« zeigt am Beispiel der Accademia, wie Musiktheorie, Rhetorik und Architektur als Disziplinen der humanistischen Antikeforschung zusammenwirken im Prozess der Entstehung der Gattung Oper. Gleichzeitig beschreibt Sanvito am Beispiel des von Palladio für die Accademia errichteten Teatro Olimpico, wie die Imagination der antiken Aufführungspraxis zur Erschaffung eines eigenen Raumes für die neue Kunstform der Oper führte. Anhand der Lektüre von Margaret Cavendishs (1623–1673) philosophischpoetischem Doppelwerk Observations upon Experimental Philosophy und The Blazing World zeigt Cornelia Wilde in ihrem Beitrag »›... she endeavoured to create a world‹«, wie Cavendish sowohl in ihrer Naturphilosophie und der damit zusammenhängenden Imaginationstheorie als auch durch literarische Akte der kreativen Zerstörung antiker und zeitgenössischer philosophischer Welterklärungsmodelle in ihren Texten eine Aufwertung der Phantasie erreicht und das frühneuzeitliche Neuheits- und Kreativitätspathos philosophisch und literarisch vorführt. Katalin Schober untersucht in ihrem Beitrag »Ästhetische Inszenierungen von Gründungsmythen« den Gründungsbau des Grecian style in der englischen Architektur an der Schnittstelle zwischen ästhetischen Debatten um einen Landschaftsgarten, architektonischen Stilfragen und altertumskundlich motivierten Reisepraktiken im 18. Jahrhundert. Sie geht dabei der Frage nach, inwiefern ein damaliger Rezipient die architektonische Innovation des Theseus-Tempels in Hagley Park
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als Aufforderung an die eigene Imaginationstätigkeit verstanden haben mag, sich in der ästhetischen Betrachtung nicht nur weitere Altertümer zu vergegenwärtigen, sondern in diesen auch neue, potentiell sinnstiftende Verbindungslinien zu neuzeitlichen Kontexten zu erkennen. So kann der Bau als ein mehrfach auslegbares Deutungsangebot interpretiert werden, das sowohl der Selbstdarstellung des Gartenbesitzers George Lyttelton als auch des beauftragten Architekten James Stuart dienstbar gemacht wurde. María Ocón Fernández erforscht in »Colored Antiquities« am Beispiel von Jacques Ignace Hittorfs (1792–1867) Tafelwerk zu seiner Schrift Restitution du Temple de Empédocle von 1851 die Bedeutung der Einbildungskraft als schöpferischen Vermögens für die Entstehung des Neuen bei der Transformation des Antike-Bildes durch Farbe. Dabei fokussiert sie die imaginative Produktivkraft ›einer die Natur verbessernden Imagination‹ bei der Transformation des farbigen Details zum polychromen Ganzen.
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TEIL 1
Imagination und Innovation in der Philosophie Platons: Möglichkeiten der Referenz für alte und neue Transformationen ULRIKE BRUCHMÜLLER
Die Frage nach Imagination und Innovation betrifft das Verhältnis des Dichterphilosophen zu seinem eigenen Denken und Schreiben1 und ist im Falle Platons besonderen Missverständnissen ausgesetzt.2 Während das Thema der Imagination in der Platonforschung gewöhnlich vom Begriff der phantasia im Sophistes aus beleuchtet wird, gehe ich im Anschluss an die Tübinger Platonforschung von einer hinter den Dialogen stehenden zusammenhängenden Philosophie aus, welche es ermöglicht, den Begriff der phantasia nicht nur vor dem Hintergrund der ungeschriebenen Prinzipien- und Seinslehre zu deuten, sondern ihn auch in den erkenntnistheoretischen und somit auch hermeneutischen Kontext einzuordnen sowie die Theorie der phantasia mit einer ganzen Reihe anderer Passagen, in denen die phantasmata eine zentrale Rolle spielen, in Verbindung zu bringen. Außerdem dient die Einordnung der phantasia in die Gesamtheit des platonischen Systems zur Bestimmung des Verhältnisses von Imagination und Innovation. Wenngleich sich Imaginationen auf der untersten ontologischen Ebene und Innovationen auf der obersten ontologischen Ebene wiederfinden lassen, haben diese auf letztere nicht nur verweisenden Charakter, sondern stellen einen unentbehrlichen Teil in der Harmonie des seelischen Ganzen dar, ohne den die innovative philosophische Erkenntnis nicht möglich ist. _____________ 1
2
Hierfür gibt es natürlich eine immense Fachliteratur, wobei jedoch der für ein einheitliches Verständnis so wichtige prinzipientheoretische Hintergrund von Platons Ästhetik bisher fast noch durchgängig vernachlässigt wurde. Einschlägig insbesondere: Moravcsik/Temko (1982), Janaway (1995), Büttner (2000, 2006), Halliwell (2002), Grisworld (2003/22008 [mit weiterführender Literatur für den angelsächsischen Bereich]). Die von Krämer (1959) vorgeschlagene Annahme einer hinter den Dialogen stehenden ungeschriebenen Lehre von den Ideen und Prinzipien hat seither kontinuierlich eine tiefere Fundierung und Ausweitung erfahren. Kritiker, die es immer gegeben hat und vermutlich auch noch eine Weile geben wird, konnten aber bislang keine unwiderlegt gebliebenen Argumente vorbringen. Zum gegenwärtigen Forschungsstand vgl. Erler (2007), Horn/Müller/Söder (2009) und Krämer (2011).
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Ulrike Bruchmüller
Bevor ich zur inhaltlichen Auslegung von Platons Theorie zum Verhältnis von Imagination und Innovation komme, möchte ich einleitend die Relevanz der Transformationstheorie für das Verhältnis der Rezeption zur mündlichen Lehre Platons beleuchten. Unser Begriff der Imagination kommt von imago (lat.), Bild, und ist wiederum vom griechischen Begriff der phantasia, dem Vorstellungsvermögen, welches sich auf Erscheinungen (phantasmata) bezieht, entlehnt. Der Begriff der phantasia ist vor Platon nicht belegt und dürfte im Zuge seiner Erkenntnistheorie im Sophistes entstanden sein.3 Hierbei ist Platons Erkenntnistheorie nicht von seiner Ontologie zu trennen. Vielmehr hat nach dem Sonnen- und Liniengleichnis (resp., 505b–511e) jede Entität in der Weise am Sein teil, in der sie erkennbar ist, so dass also eine Erkenntnis nur durch gegenseitige Resonanz in Form einer ontologischen bzw. epistemischen Stufengleichheit zwischen dem jeweils zuständigen Erkenntnisvermögen und dem Erkenntnisobjekt, in unserem Fall also zwischen phantasia und phantasmata, ermöglicht wird. Die ontologische und epistemische Hierarchie der Erkenntnisvermögen und ihrer Objekte gründet hierbei in der Ideen- und Prinzipientheorie, die Platon aus hermeneutischen Gründen in der Schrift nicht im Zusammenhang dargestellt, sondern nur mündlich im Rahmen der ungeschriebenen Lehre gelehrt hat. Insofern die Schrift aufgrund ihrer Abbildhaftigkeit nämlich zu den phantasmata gehört, können konsequenterweise durch jegliche Art von Schriften beim Leser nur phantasiai erzeugt werden, so dass der wahrhafte Philosoph ontologisch höher angesetzte und ernstzunehmende Erkenntnisgegenstände in diesem ihnen fremden Medium nicht adäquat darstellen kann. Platon verweigerte daher eine schriftliche Darstellung der Grundlagen seiner Philosophie. Insofern sich das Vermögen der phantasia in der Hierarchie der Erkenntnisvermögen jedoch an unterster Stelle befindet und die Erkenntnis der beiden ontologisch entgegengesetzten Prinzipien des absoluten Einen und der unbestimmten Zweiheit dieselbe ist (Phaid., 97d, epist. 7, 344b), gehört die phantasia zwar keineswegs wie die Ideen und Prinzipien zu den Dingen, über die man nach der Schriftkritik wegen ihrer Würde und Erhabenheit nur vor ausgewählten Menschen sprechen darf, ist aber wie die Schrift gerade in ihrer von Platon zugedachten Wertlosigkeit nur vor dem Hintergrund der Prinzipien verständlich. Ihr niedriger ontologischer und epistemischer Status deutet darüber hinaus ihre wesenhafte Undeutlichkeit und Unverständlichkeit an. Um sie _____________ 3
Obwohl Platon nur in soph., 260c–264b eine Art von Erklärung der phantasia vornimmt und das Wort darüber hinaus lediglich in Theait., 151c1, 161e8 sowie resp., 382e10 erscheint, verwendet er m.E. alle von phainesthai (»scheinen«) abgeleiteten Wörter in demselben ontologischen Sinn wie phantasia. Die Auswahl der Texte ist daher auch nach inhaltlichen Kriterien getroffen, die nicht zwangsläufig mit der Häufigkeit des Wortgebrauchs übereinstimmen. Insbesondere hat sich ergeben, dass eikôn (»Bild«, »Abbild«) mit dem dazugehörigen Wahrnehmungsvermögen der eikasia die übergeordnete Gattung der phantasmata darstellt und somit eng verwandt ist. Eine Definition der phantasia wird im Kapitel über den Sophistes, unten S. 54f. referiert. Zur Verwendungsweise von eikôn in den Dialogen vgl. auch Mouroutsou (2010).
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dennoch in diesem ihrem Wesen deutlich zu machen, ist ein Rekurs auf den platonischen Prinzipiendualismus unabdingbar. Die noch zu Lebzeiten Platons heftigen Auseinandersetzungen seiner Schüler um die richtige Lehre und die Unsachlichkeit der Aristotelischen Kritik an Platons Prinzipienlehre und Metaphysik lassen auf eine unzulängliche Kommunikation auch innerhalb der Akademie schließen, deren Mitglieder sich einem lebendigen Verständnis offenbar hauptsächlich durch eigene Theoriebildung angenähert haben. Platon selbst scheint, bis auf eine vermutlich politisch erzwungene Ausnahme, die Vorlesung Über das Gute,4 auch in der Akademie seine Lehre in der Regel nicht systematisch dargelegt zu haben.5 Dieser Umstand allein reicht jedoch noch nicht aus, die Existenz einer solchen Lehre zu bezweifeln. Das umfangreiche Werk des Aristoteles, das sich überall mit Platon auseinandersetzt, zieht an keiner Stelle eine Veränderung seiner Lehrmeinung auch nur in Erwägung, sondern beruft sich ausdrücklich auf die »ungeschriebene Lehre« (a)/grafa do/gmata, phys., 209b14f.). Vor allem aber legt Platon in seinem Schriftwerk Seite für Seite für seine hermeneutische Entscheidung Zeugnis ab,6 ist die innere Dynamik der Dialoge nicht ohne seine vollständige Philosophie und seine davon nicht zu trennende Hermeneutik verständlich. Nicht umsonst wählte Platon die Gattung des Dramas, deren ästhetischer Reiz darin besteht, über den wörtlichen Sinn hinauszuweisen. Die Komplexität dieses Höheren ergibt sich natürlich aus der Komplexität und Ästhetik der Dramen selbst und ist für die Platonischen Dialoge, ganz abgesehen von den zusätzlichen, direkten Verweisen auf inhaltliche Auslassungen, nicht hoch genug zu veranschlagen. Dieser innere Reichtum der Dialoge, den sie bis zu einem gewissen Grade auch mit anderen Schriften der griechischen Antike teilen, macht sie für Transformationen besonders geeignet. Am Ende des Phaidros entfaltet Platon ausführlich, in welcher Weise seine Schriften für alle Seelentypen verfasst sein sollen. Denn der Platonische Sokrates behauptet, für eine ideale Rhetorik, die dann doch wohl auch die von ihm und somit die von Platon in den Dialogen umgesetzte sein muss, sei eine systematische Untersuchung ausnahmslos aller Charaktertypen mit allen ihren Ursachen _____________ 4 5
6
Vgl. dazu Gaiser (1980). Während die Schriftkritik im Phaidros zwar nur die Schrift gegenüber dem mündlichen Gespräch als unzulänglich abwertet und diese Abwertung auch im Siebten Brief keinesfalls zurückgenommen wird, wird jetzt aber eine zusätzliche ontologische Differenzierung vorgenommen, die auch das mündliche Gespräch zwar immer noch besser als die Schrift, aber dennoch als unzulänglich für ein adäquates Verständnis der Prinzipien ausweist. Erste Voraussetzung zum Verständnis der hinter den Dialogen stehenden Lehre bildet, wie nicht unüblich in der Antike (vgl. Hadot [1991/2011]), der Wille zu einer eigenen ethisch verantwortungsvollen Lebensführung (vgl. h( [...] e(/cij th=j yuxh=j ei)j te to\ maqei=n ei)/j te ta\ lego/mena h)/qh – »die Seelenverfassung mit Rücksicht auf das Lernen und die sogenannten ethischen Qualitäten«, epist. 7, 343e), von der bekanntlich zumindest einige Akademiemitglieder weit entfernt waren (epist. 7, 334ab). Szlezák (1985, 2004) hat das in den Dialogen umgesetzte Konzept der Hermeneutik durch die Aufklärung der Dialogstrukturen anhand der Aussparungsstellen (Hinweise auf vorhandene, aber in der Schrift nicht zu erörternde Inhalte) das erste Mal durchsichtig gemacht.
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sowie auch das gründliche Studium, auf welche Reden und aus welchen Ursachen diese Charaktertypen auf welche Weise reagieren, unabdingbar (Phaidr., 269d– 274a), so dass Platon in seinen Texten allen seinen Lesern eine unterschiedliche und individuell angepasste Referenzmöglichkeit anzubieten bestrebt ist. Und in der Tat hat die Rezeptionsgeschichte gezeigt, dass ganz unterschiedliche Imaginationstheorien, von den Auslegungen des phantasia-Begriffs bei Aristoteles und Plotin als rezeptiv-rekombinatorisches Vermögen bis hin zur vom phantasia-Begriff vollkommen losgelösten, am Stufenweg des Symposions orientierten Annahme eines genuin schöpferischen Potenzials der dämonischen Kraft des Eros zuerst und besonders bei Plotin, aber auch in der gesamten darauffolgenden neuplatonisch-idealistischen Tradition bis hin zur metaphysischen Überbewertung der Phantasie bei Schleiermacher, mehr oder weniger auf Platon zurückgehen.7 Insofern der Begriff der phantasia bei Platon in der Tat im Sophistes im erkenntnistheoretischen Kontext gebraucht und somit seine ästhetische und hermeneutische Relevanz nur durch den Zusammenhang erschließbar ist, insofern er in ästhetischen Kontexten nur Begriffe wie phantasmata, eidôla, eikones und eikasia verwendet, ist es nicht verwunderlich, dass bereits Aristoteles, der der platonischen Dialektik und damit der ontologischen Abwertung der Ästhetik nicht gefolgt ist, den Begriff der phantasia nicht im Zusammenhang einer Theorie der Ästhetik verwendet. Dieser Interpretation der phantasia ist Plotin über ein halbes Jahrtausend später gefolgt, ohne hier eine Diskrepanz zu Platon zu sehen. Plotin verstand sich selbst wie auch Aristoteles als Ausleger der einen wahren Lehre Platons, die für ihn die ungeschriebene Lehre darstellte8. Auch er brachte die phantasia nicht in den Kontext der Ästhetik, obwohl diese in seiner Philosophie gerade auch im Hinblick auf die Rezeption der Diotimarede im Symposion eine wichtige Rolle spielt. Dennoch scheint das Bewusstsein für die ästhetische Bedeutung der phantasia vor dem Hintergrund der Ideenlehre in neuplatonischen Texten nachweisbar.9 Eine erneute Klärung dieses Zusammenhangs wird jedoch vor dem Hintergrund der aristotelischen Interpretation der phantasia als rezeptivrekombinatorisches Vermögen in der Scholastik und der schleiermacherschen Idealisierung der Ästhetik erforderlich. Sowohl der epistemische Status der phantasia als auch die Verbindung von Erkenntnistheorie und Ontologie mit der Folge einer ungeschriebenen Lehre Platons und der von Anfang an missverstandenen Abwertung der Ästhetik machen _____________ 7
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Vgl. einführend zur Geschichte des Imaginationsbegriffs die Einleitung in diesem Band sowie zur phantasia bei Aristoteles und Plotin die Beiträge von Klaus Corcilius und Wiebke-Marie Stock. Zur Idee der Schönheit bei Plotin: Halfwassen (2005, 2007/2008), zur Rezeption im Rationalismus: Mirbach (2010) und in der Romantik: Krämer (1982), 31–75. Vgl. Szlezák (1979). Auf diese Verwendungsweise bei Philostrat machte Christoph Helmig in seinem Vortrag im Rahmen der Arbeitsgruppe »Imagination und Innovation« des SFB 644 »Transformationen der Antike« am 12. Juni 2009 aufmerksam.
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daher die platonische Philosophie zum Verhältnis von Imagination und Innovation zu einem besonders interessanten Referenzmedium. »Transformationen sind bipolare Konstruktionsprozesse, in denen die beiden Pole einander wechselseitig konstituieren und konturieren. Dieser Aspekt der Selbstreferenz kann bewusst reflektiert werden als Zusammenspiel von ›Eigenem‹ und ›Fremdem‹, er kann aber auch als uneingestandene Projektion oder Identifikation in die Transformation eingehen. Diesen spezifischen Aspekt produktiver Wechselseitigkeit kultureller Inhalte von Referenz- und Aufnahmekultur bezeichnet der Begriff Allelopoiese.«10 Insofern Interpretationen immer zugleich auch Transformationen sind und wir uns der notwendigen Selbstreferenz in der Interpretation der platonischen Erkenntnistheorie bewusst sind, soll hier eine neue Transformation in Form einer zum Zweck der historischen Forschung geeigneten philosophischen Aneignung des Verhältnisses von Imagination und Innovation vorgeschlagen werden, um insbesondere den Imaginationsbegriff von seinen von der Romantik und im Falle Platons insbesondere von Schleiermacher geprägten Konnotationen zu befreien und die ihm aus der dualistischen Prinzipientheorie entstandene Komplexität für das heutige Sprachbewusstsein wieder zurückzugewinnen. Mit einer zum Zweck der historischen Forschung geeigneten Transformation ist selbstverständlich eine größtmögliche Annäherung an die der Antike immanente Wahrheit intendiert, die durch das Bewusstsein einer notwendigen subjektiven Transformation jeder Interpretation nicht in Frage gestellt, sondern gerade eingelöst werden soll. Selbstverständlich übersteigt diese Aufgabe die methodischen Möglichkeiten der konventionellen Philologie, da die gefragten Inhalte ja gerade nicht mit Worten zu vermitteln sind und eine solche Theorie weder im Text ausformuliert noch in der indirekten Überlieferung systematisch und für den kritischen Philologen überzeugend nachweisbar ist. Die Rekonstruktion einer einheitlichen Imaginationstheorie aus den vielen perspektivischen Behandlungen in den Dialogabschnitten auf der Grundlage der indirekten Überlieferung zur ungeschriebenen Lehre ist vielmehr eine philosophische Aufgabe, die unserem eigenen schöpferischen Denken, freilich unter Beachtung aller uns verfügbaren wissenschaftlichen Standards, direkt von Platon nicht so viel anders als damals seinen akademischen Schülern aufgetragen ist und der wir uns daher auch als Philologen nicht entziehen dürfen. Um die unterschiedlichen Transformationen des Verhältnisses von Imagination und Innovation im Anschluss an Platon noch besser zu verstehen, soll es das Anliegen dieses Beitrages sein, die einschlägigen Texte in Platons Schriftwerk auf eine gemeinsame systematische Theorie hin zu hinterfragen, um eine Rückbesinnung auf die Gemeinsamkeiten der in der Tradition auseinandergefallenen Theorien zu ermöglichen und sie auf dieser Grundlage auf einem erweiterten Reflexionsniveau neu diskutieren zu können. _____________ 10
Bergemann/Dönike/Schirrmeister/Toepfer/Walter/Weitbrecht (2011), 43.
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In einem ersten Abschnitt möchte ich zunächst die Voraussetzungen und Grundlagen der platonischen Dialektik darlegen, auf die ich mich in den nachfolgenden Textinterpretationen beziehe. Hier geht es um die Entfaltung der Seinspyramide aus den Prinzipien bis hin zur untersten Stufe der phantasmata: Erläutert werden die Zeugung des seienden Einen, die aus ihm hervortretende Gemeinschaft der obersten Gattungen, die Ableitung der Seinsebenen der Ideen, der Weltseele und der Erscheinungen und schließlich die Ableitung der Individualseele, in der die phantasia ihren Platz hat (a). Im zweiten Abschnitt möchte ich den im Symposion dargestellten Zusammenhang von Imagination und Innovation, die in den beiden grundlegenden und sich einander bedingenden Komponenten des Eros und damit im platonischen Philosophiebegriff enthalten sind, nachzeichnen. Eros wird hier als dynamischer Aspekt der Denkseele begriffen, der die Dichotomie von epistêmê und doxa zugrunde liegt. Weiterhin soll die Rückführung des im sinnlichen Bereich manifestierten Schönen über die verschiedenen Stufen der Seinshierarchie auf die Idee der Schönheit und darüber hinaus auf das absolute Eine als dem Ziel des zuvor besprochenen Eros erklärt werden, welche die unmittelbare Manifestation der Idee des Schönen in der Kunst ermöglicht (b). Der Phaidros kennt die entsprechenden Vermögen des Eros, die auch die beiden Hälften des Dialogs thematisch bestimmen, als Wahnsinn und Vernunft/Besonnenheit. Nur ein am Guten orientierter und damit besonnener Wahnsinn kann als Liebe bezeichnet werden. Während die ersten beiden Reden dagegen die Entartung der körperlichen Liebe behandeln, wobei nur in der ersten Rede die für Innovationen notwendige Besonnenheit fehlt, während sie in der zweiten Rede missbräuchlich eingesetzt wird, und somit ein Beispiel für die Entartung insbesondere von Imagination darstellen, geht die große Erosrede wie im Symposion alle Stufen der Liebe in ihrer positiven Ausprägung bis hin zur Liebe zu den Ideen durch (c). Der Sophistes, in welchem der Sophist das diskursive Denken in den Dienst der unbewussten Lüste des untersten Seelenteils stellt und damit die Philosophie missbraucht, ordnet die phantasmata zusammen mit den geometrischen Bildern in den untersten Abschnitt der Linie ein und führt die Existenz von falschen Meinungen allgemein, aber auch der phantasmata im Besonderen auf die Fähigkeit des Seienden zurück, das Nichtseiende als das Verschiedene aufzunehmen. Gerade mittels des Rückgriffs auf die noetische Seinsebene kann der scheininnovative, isoliert diskursive Täuschungsversuch des Sophisten entlarvt werden (d). Die naturwissenschaftliche Betrachtung der Traumbilder im Timaios behandelt das Paradigma aller Imaginationen und ist nicht nur vor dem Hintergrund seiner Dichotomie der guten und schlechten Traumbilder wichtig, sondern lässt uns v.a. die Beziehung von Imagination und Innovation als das Verhältnis von phantasia und epistêmê in getrennten Subjekten verfolgen (e). Sowohl die große mit der Perzeption der phantasmata einhergehende Lust als auch die Ausschaltung des Verstandes im Traum verleihen, auf der Grundlage von Politeia IX, den Träumen einen maßgeblichen Einfluss auf die Charakterbildung und somit der philosophischen Schlafhygiene, aber damit v.a. auch der Verantwortung im Umgang mit phantas-
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mata in der Dichtung eine herausgehobene ethische Relevanz (f). Insgesamt geben die Texte ein einheitliches und umfassendes Bild vom Verhältnis von Imagination und Innovation, demzufolge der gesamte Aufstieg auf den verschiedenen Seins- und Erkenntnisebenen aus dem Zusammenspiel eines bildlichen und eines diskursiven Denkvermögens besteht, so dass Imagination und Innovation ihr höchstes und wahres Wesen nur in der Identität bei der Schau der Idee des Guten selbst entfalten.
(a) Voraussetzungen und Grundlagen der platonischen Dialektik Insofern die nachfolgenden Texte vor dem Hintergrund der ungeschriebenen Lehre interpretiert werden sollen, sind zunächst die grundlegenden Strukturen dieser Lehre darzulegen. Ausgegangen wird von einem Dualismus, wonach ein unabhängiges, aber untergeordnetes formloses Materieprinzip (ahoristos dyas/»unbestimmte Zweiheit«) zunächst von einem obersten Prinzip (to hen/»das Eine«, to agathon/»das Gute« bzw. hê idea tou agathou/»die Idee des Guten«), welches Beweg-, Final- und Formursache in einem ist, in seinem Wesen bestimmt wird.11 Zunächst entsteht aus der Mischung der Prinzipien das »seiende Eine« (to hen on), indem das absolute Eine durch das Hinzutreten der unbestimmten Zweiheit das Sein annimmt und die unbestimmte Zweiheit durch die Begrenzung durch das Eine zum Sein bestimmt wird. Das seiende Eine kann daher auch als das höchste Sein und epistemisch betrachtet als höchster Geist bzw. Nus bezeichnet werden. Durch erneutes Hinzutreten der unbestimmten Zweiheit zergliedert sich das seiende Eine in Form einer Dihärese in das Eine und das Sein. Dieser Vorgang bildet das Grundgerüst auch für jede weitere Dihärese, indem das erzeugte Eine und das erzeugte Sein jeweils wieder in die Arten des Einen und Seienden getrennt werden können und sich dieser Vorgang bis zu den »unteilbaren Arten« (atoma eidê) wiederholt (Parm., 142b–e). Auf diese Weise wird der Ideenkosmos generiert, so dass das Sein und die Einheit die Grundeigenschaften jeder einzelnen Idee darstellen. Insofern das seiende Eine verschiedene inhaltliche Aspekte annehmen kann, erhalten die auf diese Weise erzeugten Ideen dann natürlich konkrete Namen. Dieser Vorgang beschreibt also zunächst nur, wie das Hinzutreten der unbestimmten Zweiheit die zu spaltende Gattung immer nach dem Muster des Prinzipiengegensatzes teilt. Der Prinzipiengegensatz wirkt sich somit sowohl vertikal in der Gegenüberstellung der Gattung zu ihren Arten als auch horizontal in der Hierarchie der Arten selbst aus. Die Struktur des seienden Einen, die strukturbildend für alle weiteren Dihäresen ist, wird auf der Grundlage von soph., 254b–258c als Gemeinschaft der »obersten Gattungen« (megista genê) bezeichnet und verdient eine genauere Be_____________ 11
Vgl. Krämer (1982), bes. 153–178. Neuste Literatur dazu findet sich in Bruchmüller (2012a).
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trachtung. Hierbei ist zu bemerken, dass sowohl das seiende Eine als auch dessen Derivate, das Eine und das Sein, mit sich selbst zwar identisch, untereinander aber verschieden sind. Die hierbei neu entstandenen Gattungen der Identität und Verschiedenheit entsprechen dem Prinzipiengegensatz insofern, als Identität durch das absolute Eine entsteht, Verschiedenheit aber durch die unbestimmte Zweiheit, welche bewirkt, dass die Verschiedenheit immer auf ein anderes bezogen und somit »relativ« (pros hen) ist. Insofern das seiende Eine durch die Prinzipien gezeugt ist, spiegeln sich diese in Form von Identität und Verschiedenheit in ihm wider. Insofern sich der Prinzipiengegensatz in Form von Selbigkeit und Verschiedenheit vertikal im Verhältnis der Gattung zu ihren Arten auswirkt, stellen diese gegenüber der Einheit der Gattung eine untereinander heterogene Vielheit dar. Das Verhältnis der Arten untereinander folgt zwar dem Prinzipiengegensatz, insofern jedoch die Arten im Verhältnis zur Gattung betrachtet werden, erscheinen die Arten relativ zueinander. Wenn sich also Selbigkeit und Verschiedenheit in Form des Einen und des Seins relativ gegenüberstehen, bedingen sie sich einander, indem sie Teile eines Ganzen sind. Jedes Ganze ist daher nach dem Prinzipiengegensatz pyramidal strukturiert. In den drei Wesenheiten des Selbigen, des Verschiedenen und des beide umfassenden seienden Einen, die auch als Grundlage für den gesamten Ideenkosmos fungieren, ist auch bereits die Struktur für die Gesamtheit des Ganzen angelegt. 12 Dieses wird erzeugt, indem das seiende Eine in dieser dreigliedrigen Struktur eine Mischung mit der sich bereits durch kleine Abbilder zu formen beginnenden unbestimmten Zweiheit in der Gestalt der Chora (chôra) eingeht, woraus der sichtbare Kosmos entsteht. Damit dieser in seiner Einheit zusammengehalten werden kann, wird wiederum aus Kosmos und Ideenkosmos die Weltseele erzeugt. Die Weltseele umfasst in der Funktion einer übergeordneten Gattung nach dem Vorbild der dreigliedrigen Struktur des seienden Einen den Ideenkosmos und den sichtbaren Kosmos, so dass die Ideen den Bereich des Selbigen, die Erscheinungen den Bereich des Verschiedenen und die Seele den Bereich des Seienden innerhalb des Ganzen darstellen. Die Weltseele bildet somit das epistemische Gegenstück zur ontologischen Einteilung des Ganzen. Insofern außerdem das seiende Eine als höchste Formursache nicht nur im Bereich der Ideen, sondern auch der Seele und der Erscheinungen fungiert, nimmt es unterschiedliche inhaltliche Aspekte an. Hierbei handelt es sich um die Idee des Guten für die ontologische Werthaftigkeit der Ideen und die Idee der Schönheit für das Prinzip der Erscheinungen. Auch das absolute Eine kann unter allen
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Dies folgt insbesondere aus dem wichtigsten Zeugnis zum Seinsaufbau in Aristoteles, de an., 404b16–27, das sich seinerseits auf die Mischung der Weltseele in Tim., 35a bezieht. Eine ausführliche Interpretation mit Heranziehung aller relevanten Zeugnisse findet sich bei Gaiser (1963/31998), 41–51.
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diesen Namen benannt werden.13 Somit kann sich das absolute Eine als Idee der Schönheit in der sichtbaren Schönheit der Erscheinungen manifestieren. Der hier dargestellte dreiteilige Aufbau der Seinshierarchie aus Ideen, Seele und Erscheinungen, wobei die Seele die beiden äußeren Bereiche umfasst, bildet auch die Grundlage für die Denkseele des Menschen, deren Zeugung im Liniengleichnis (resp., 509c–511e) beschrieben ist. Hierbei kommt es zunächst aus ontologischer Perspektive zu einer erneuten Mischung der beiden Hauptbereiche der Ideen und der Erscheinungen mit der unbestimmten Zweiheit, so dass diese nochmals geteilt werden. Es entsteht das Reich der mathematischen Gegenstände als Abbild der Ideen und das Reich der Nachbildungen (eikones) als Abbild der wahrnehmbaren Gegenstände. Da wir diese Nachbildungen mit dem Begriff der Imaginationen in Verbindung bringen, interessiert uns dieser Bereich besonders. In Analogie zur Weltseele korrespondieren auch die Erkenntnisvermögen der menschlichen Seele mit ihren Erkenntnisgegenständen. Wie daher die wahrnehmbare Welt ein Abbild der Ideen darstellt, stehen auch in der Seele, welche die gesamte Realität in allen ihren Teilen reflektiert, das auf die Ideen bezogene Erkenntnisvermögen (Nus und epistêmê/»noetische Einsicht« und »Wissen«) und das auf im weitesten Sinne Wahrnehmbares bezogene Vermögen (doxa /»Meinung«: nicht die Wahrnehmung selbst, sondern ihre Deutung, z.B. auch der Idealstaatsentwurf, insofern er sich auf zeitliche und örtliche Dinge bezieht) im gleichen Verhältnis. Nach dem Vorbild der Dihärese der Ideen in eigentliche Ideen und die mathematischen Gegenstände, die auch als vervielfältigte Schatten des Seins gelten, unterteilt sich auch das auf Ideen bezogene Wissen in das Ideenwissen im engeren Sinne, die epistêmê, und in das mathematisch strukturierte, diskursive Denken der Dianoia dianoia. Im Bereich der doxa dagegen unterscheiden wir die pistis, die sich auf reale Dinge bezieht, und die eikasia, die sich auf jegliche Nachbildungen bezieht und von der die phantasia ein Teil ist. Der Bereich der Nachbildungen gliedert sich, nach den Angaben im Sophistes,14 in den Bereich der natürlichen Nachbildungen in Form von Schatten, Spiegel- und Traumbildern und in den Bereich der künstlichen Nachbildungen in Form von mathematischen Abbildungen und jeglicher Art von Kunst und Literatur. 15 Obwohl nur letztere, streng genommen, Erkenntnisgegenstände der phantasia sind, sind diese im Begriff der eikones enthalten, so dass im Kontext der eikones meistens auch von phantasmata die Rede ist. Es zeigt sich daher als sinnvoll, den _____________ 13
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Zur Idee des Guten als absolutes Eine in der Politeia vgl. Krämer (1997), 179–203. Zur Idee der Schönheit vgl. den nächstfolgenden Abschnitt. Darüber hinaus ist es aber möglich, das höchste Prinzip mit jedem beliebigen Namen zu benennen, weil es als Ursache von allem auch das Wesen von allem (die fünfte Erkenntnisstufe aus dem Siebten Brief – vgl. dazu Krämer [1964], 137–167) ist. In diesem Sinn z.B. besteht auch Plotin immer wieder darauf, dass das Absolute weder das Eine noch das Gute sei noch sonst einen Namen habe, da es nur für uns das Eine bzw. Gute sei, nicht aber rein an und für sich betrachtet. Siehe unten S. 56. Auf die Analogie zwischen dem untersten Abschnitt der Linie, der Höhlenwand und der Tragödienkritik in Politeia X verweist Murdoch (1976).
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Begriff der Imagination im Kontext der gesamten Nachbildungen zu untersuchen. Aufgrund dieser Abbildhaftigkeit und der daraus resultierenden Ungenauigkeit der phantasia in der Schrift hat sich Platon schließlich verweigert, die wichtigsten Teile seiner Lehre, nämlich die Ideenlehre (und selbstverständlich auch die Prinzipienlehre), die dem obersten Abschnitt der Linie zugeordnet ist, dem ontologisch und epistemisch minderwertigen Medium der Schrift anzuvertrauen.
(b) Der Aufstieg zum Schönen im Symposion: Eros als innovative und imaginative Kraft im platonischen Philosophiebegriff Insofern für Platon Innovation nur über den philosophischen Aufstieg zu den Prinzipien denkbar ist,16 Imaginationen aber die unterste Erkenntnisstufe einnehmen, erlangen wir aus der Diotimarede des Symposions, die in einer Lobrede auf Eros den Begriff der Philosophie, der Liebe zur Weisheit, als der höchsten Form der Liebe behandelt, richtungsweisende Informationen zum Verhältnis von Imagination und Innovation.17 Eros, insofern er das Gute und Schöne begehrt und somit weder selbst gut noch schön und somit weder Gott noch sterblich ist, sondern dem hier eine Mittelstellung zugesprochen wird, wird hier als megas daimôn (»großer Dämon«) als eine »Seelenkraft« des »dämonischen Mannes« (du/namij 201d, daimo/nioj a)nh/r 203a), mit den Göttern zu kommunizieren, verstanden (201e–203a), welche in Tim., 90a in der Denkseele, im logistikon, angesiedelt wird. Mit Reale können wir ihn daher als den dynamischen Aspekt der Denkseele bezeichnen. Seine Mittelstellung und seine Struktur entspricht also der epistemischen Einteilung der Seele im oben erläuterten Liniengleichnis. Der nachfolgende Mythos beschreibt die Zeugung des Eros am Geburtstag der Aphrodite durch Poros, deutsch der »Furt«, und Penia, der »Armut«. Beide stehen für psychische Kräfte, die zur philosophischen Erkenntnis notwendig sind: Während Penia für den Mangel und die Begierde des Eros nach dem Schönen verantwortlich ist, gewährt Poros dem Sohn die Mittel, um an sein Ziel zu gelangen. Dabei ist zu bemerken, dass sie unabhängig voneinander unfruchtbar sind. Bevor es nämlich überhaupt zu einer Begegnung kommt, ist Penia nichts weiter als eine hässliche Bettlerin, Poros ein nichtsnutziger Trunkenbold, der an seinem sinnlosen Überfluss leidet und die Gemeinschaft der Götter verlassen hat. Reichtum und Armut stehen hier durchaus als relative Gegensätze in demselben Sinn wie Überfluss und Mangel (hyperbolê kai elleipsis) einander gegenüber, die ge_____________ 16
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Innovationen gehören zwar dem Erkenntnisbereich der epistêmê an, diese aber sind als solche nur unter Voraussetzung der Prinzipienschau erkennbar. Meine Interpretation lehnt sich an die richtungsweisende Auslegung von Reale (1984/201997) 465–477.
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meinsam als terminus technicus in der Akademie auch als Ausdruck für die unbestimmte Zweiheit standen. Ähnlich wie bei der Mischung der Weltseele aus den Ideen und der Erscheinungen, handelt es sich bei Poros und Penia um die epistemischen Entsprechungen in der menschlichen Abbildung der Seele, nämlich um die entsprechenden Aspekte von epistêmê und doxa. Dass also beide voneinander unabhängig unfruchtbar sind, verweist auf die Tatsache, dass es sich bei ihrer Mischung nicht um eine bloße Addition handelt, sondern dass beide Bestandteile unter dem Vorzeichen der Aphrodite, die für die Idee des Schönen und somit das Eine steht, erst ihre volle Tugend entfalten können. Poros stehen zwar alle möglichen Mittel der Dialektik zur Verfügung, aber sie schlummern im Schlaf, solange sie nicht bemüht werden. Ebenso ist Penia eine umherschweifende und herumirrende Ursache, die ihre Kraft nur in der Ausrichtung auf das in Aphrodite symbolisierte Schöne auf ein sinnvolles Ziel richtet. Zusammen bilden sie in Eros den Inbegriff der Philo-sophie, welche zwischen Weisheit und Unwissenheit eben das Streben zur Weisheit, letztlich das Streben zum Einen, bezeichnet (symp., 203d– 204b, vgl. auch Phaidr., 252e, 278d). Die Charakterisierung der Kraft der epistêmê als innovativ, kommt insbesondere in der Beschreibung des Eros aufgrund seiner Verwandtschaft zu Poros zum Ausdruck: Nach dem Vater stellt er dem Guten und dem Schönen nach, tapfer, kühn und entschlossen, als ein gewaltiger Jäger, immer irgend Möglichkeiten ersinnend, sowohl begierig nach Einsicht als auch erfinderisch ( po/rimoj), philosophierend das ganze Leben hindurch (symp., 203d).18
Als Sohn des Poros ist Eros also innovativ19, als Sohn der Penia strebt er nach der Schau, doch ist beides nur in wechselseitiger Beziehung und durch eine am höchsten Prinzip orientierte Vereinigung möglich. In diesem Sinn können die beiden Komponenten des platonischen Philosophiebegriffs paradigmatisch für das Verhältnis von Imagination und Innovation stehen. Das Ziel des Eros ist es, das »Gute immer zu haben« (e)/stin a)/ra cullh/bdhn, e)/fh, o( e)/rwj tou= to\ a)gaqo\n au(t%= ei)=nai a)ei 206a), und er erreicht es durch Zeugung im Schönen. Wie wir im Abschnitt (a) gesehen haben, ist das Schöne nur der wahrnehmbare Aspekt des Guten, der aber in übertragenem Sinn das Gute auch in allen anderen Bereichen vertreten kann. Wie die Art und Weise dieser Zeugung in Bezug auf die Zeugung von schönen »Sitten und Gebräuchen« ( ta\ e)/qh kai\ ta\ e)piqhdeu/mata 253a) vonstatten geht, wird in Phaidros 249d–255e, besonders aber in 252d–253c eingehend beschrieben: Die Liebe verfolgt dort Befiederung und »Angleichung an Gott« (homoiôsis theôi)20 durch Erinnerung an _____________ 18 19
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Übersetzungen folgen dem Text von Burnet. Auf diese Weise kann Sokrates Eros als »einen gewaltigen Zauberer, Giftmischer und Sophisten« (deino\j go/hj kai\ farmakeu\j kai\ sofisth/j symp., 203d) bezeichnen. Insofern hier die Eigenschaften einer entarteten Innovation angesprochen werden, handelt es sich um sokratische Ironie. Vgl. hierzu Lavecchia (2006).
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den einstmaligen Auszug der Seele an den überhimmlischen Ort sowohl von Seiten des Liebenden als auch des Geliebten. Durch diese gegenseitige sittliche Vervollkommnung erreichen sie das von Diotima erklärte Ziel des Eros, nämlich die Zeugung des Guten in Form von Tugend in schönen Seelen und somit die Ausbreitung des Guten, um es weitest möglich »immer zu haben«. Der Anreiz zur Ausbildung in der Kalokagathie (kalokagathia), insofern wir nur im Schönen zeugen wollen und uns Fortpflanzung nur durch eigene Schönheit gewährt ist, besteht also letztlich im Streben nach dem Guten als ewigem Gut und damit im Streben nach Unsterblichkeit (symp., 206a–207a). Der Verweis auf das ewige Gut in dem Streben, das Gute »immer zu haben«, deutet nicht nur auf die Verlängerung des Lebens durch die Zeugung eines Nachkommens, sondern auch auf die Unsterblichkeit der Denkseele und die Ewigkeit der Ideen, die ihre Güte aus der Idee des Guten schöpfen. Im Gegensatz dazu steht, wie wir am Phaidros noch sehen werden, die am Nichtsein orientierte und daher auch unfruchtbare pädophile Lustbefriedigung, die immer im Mangel bleibt, da der Überfluss im Geschlechtsakt ohne Liebe nur scheinbar ist. Nur durch die Verbindung beider Seelenteile unter dem Band des Einen können sie eine konstruktive und heilbringende Kraft entfalten. Eben dies wird beim Aufstieg zum Schönen im Symposion beschrieben. Der Aufstieg wird von der alles durchdringenden Kraft der Idee der Schönheit geleitet. Auf diese Weise hat bereits die Liebe zur körperlichen Schönheit der geliebten Knaben eine zur Schau der Idee der Schönheit unmittelbar hinleitende Funktion und geht in immer höheren Formen durch alle ontologischen Stufen des Seinsaufbaus hindurch. Nachdem sich der Lernende in den Körper eines einzigen Knaben verliebt hat, bemerkt er die Allgemeingültigkeit der Schönheit in Bezug auf alle Körper und findet an mehreren Körpern Gefallen, indem er immer die gleiche Schönheit an ihnen wiederentdeckt. Von hier sucht er nach der Ursache der körperlichen Schönheit an sich, die er in einer schönen Lebensweise erblickt. Auch in dieser Beziehung wird er sich zunächst in einen einzelnen Knaben verlieben, der sich durch ganz besonders schöne »Sitten und Bräuche« (toi=j e)pithdeu/masi kai\ toi=j no/moij 210c) auszeichnet. Auf dieser Stufe liebt er also die ethischen Tugenden, die ihren spezifischen Sitz bei Platon in der trichotomischen Seele haben. Auch hier schreitet er in der Kunst der Liebe zu immer höherer Allgemeinheit vor, so dass es ihm am Ende keinen Unterschied macht, in welcher Seele eines Knaben sich die jeweilige Tugend gerade befindet, da sie als Idee immer dieselbe ist. Auf diese Weise kommt er zur Liebe der Ideen – diese sind als solche zwar im Text nicht benannt, aber nehmen bei Platon allein den Rang der in Frage stehenden »Erkenntnisse« (e)pisth/maj 210c) ein – und auch auf dieser dritten Stufe beginnt er zunächst, die Schönheit einer einzelnen Erkenntnis zu erforschen, um sich von hier aus allmählich auf das große Meer der Erkenntnisse zu wagen. Am Ende aber wird er die Ursache der Schönheit aller Erkenntnisse in der Idee der Schönheit selbst erblicken (symp., 210a–212c).
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Die im Referat deutlich gemachten drei Stufen des Aufstiegs zur Idee der Schönheit,21 der Aufstieg über den menschlichen Körper, die trichotomische Seele sowie über die den ideenschauenden Nus umfassende Denkseele, beziehen sich dabei auf die Struktur der Gesamtrealität, welche, wie im Abschnitt (a) dargelegt, aus den drei Stufen, den Körpern bzw. sinnlichen Erscheinungen, der Weltseele und den Ideen besteht, so dass der Aufstieg in der Liebe gleichzeitig ein Aufstieg in der Seinshierarchie bedeutet. Individuum Denkseele Dreiteilige Seele Körper
Seinshierarchie Ideen Weltseele Erscheinungen
Abb.1
Weiterhin schreitet der Stufenweg nicht nur durch alle drei ontologischen Seinsbereiche von den Körpern über die Seele zu den Ideen direkt zum höchsten Prinzip vor, sondern deutet auch an, dass jeder dieser Bereiche seinerseits durch ein Verhältnis von Vielheit und Einheit (bzw. nach der Terminologie im Timaios von Identität und Verschiedenheit) strukturiert ist, insofern der Weg auf jeder der drei Stufen von der Liebe zum einzelnen Schönen zur Liebe zu einem allgemeinen und somit alles umfassenden Begriff des jeweils Schönen führt (vgl. oben S. 45, Abb. 2). Da ferner aufgrund der Methexis (methexis), der Anteilhabe der Arten an den Gattungen, diese drei Ideen auch für die dreiteilige Seele strukturbildend sind, also die vegetative Seele, das epithymêtikon, auf den Bereich der Erscheinungen bezogen ist, die wollende Seele, das thymoeides, auf den vermittelnden Bereich der Weltseele und die Denkseele, das logistikon, auf den Ideenkosmos, kann der Aufstieg aus der Perspektive des Subjekts auch als eine stufenweise sich auseinander entfaltende Entwicklung der drei in der Politeia dargestellten Seelenteile verstanden werden. Wichtig im Hinblick auf die Doppelnatur des Eros aus den Kräften der doxa und epistêmê erscheint im Kontext des Aufstiegs die Tatsache, dass der Aufstieg eben nur über die einzelnen Stufen der Seinshierarchie möglich ist, wobei keine Stufe aufgrund ihrer Minderwertigkeit übersprungen werden kann. Die alle ontologischen Stufen durchdringende Kraft der Schönheit schließlich erklärt sich nur unter der Annahme einer Identität der Idee des Schönen mit dem Einen als Letztursache, indem nämlich das absolute Eine über das seiende Eine als Ursache auch im wahrnehmbaren Bereich wirkt (vgl. Abschnitt (a)). Diese braucht im Text nicht explizit genannt werden, da ja das hinter der hier genannten Idee der Schönheit stehende seiende Eine diese Funktion ebenfalls schon ganz erfüllt. Der Text begnügt sich daher mit Anspielungen auf das erste Prinzip wie _____________ 21
Während die Forschung normalerweise fünf Stufen erkennt, die aber in keinem erklärbaren Zusammenhang stehen, hat der große Platonkenner Léon Robin (1989), XCII–XCIV diese Struktur noch gesehen.
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etwa die vorrangegangene Einführung des Guten (symp., 204d–207a), die Erwähnung, dass die besagte Idee beinahe das telos sei (211b), ein Begriff der eigentlich den Prinzipien vorbehalten ist, sowie auch die Charakterisierung der Schau als »unmittelbar« (e)cai/fnhj 210e, vgl. epist. 7, 341c). Die Idee der Schönheit wird dennoch explizit als seinsimmanent bezeichnet. Die Identität der Idee des Schönen mit dem seienden Einen und ihre Rückführung auf das oberste Prinzip erklärt somit auch, dass die Seele bei der Fahrt durch den überhimmlischen Ort im Phaidros-Mythos zwar die Schau der Idee der Gerechtigkeit, der Besonnenheit, der Wissenschaft und aller übrigen Ideen erlangt, sich aber allein an die Idee der Schönheit nach ihrer Rückkehr beim Anblick eines schönen Knaben unmittelbar erinnert (Anamnesis), da allein die Idee der Schönheit von allen Ideen mit den Augen geschaut werden kann. Bei der »Verständigkeit« (phronêsis) und allen übrigen Ideen sei dies deshalb nicht möglich, weil eine zu große Liebe entstehen würde (Phaidr., 250a–d). Dies lässt sich nur erklären, wenn sich das Eine als Prinzip auch der Erscheinungen unmittelbar in der Schönheit aller sinnlichen Dinge manifestiert. Daher können wir festhalten, dass das höchste Prinzip unmittelbar an der an den Körpern sichtbaren Schönheit als Idee der Schönheit zu erscheinen vermag. Gleiches ist dann aber auch im Bereich der eikones bzw. phantasmata, also im Bereich der Abbildungen auf der vierten und letzten Stufe der Realitäten im Liniengleichnis, der sowohl in der Malerei als auch im Mythos seine Vollendung erfährt, möglich. Damit sind die Grundlagen einer auch im modernen Sinne nachvollziehbaren Ästhetik gelegt, auf welche Plotin bereits in seiner ersten Schrift Über das Schöne im Vorgriff auf die Romantik zurückgreifen konnte. Somit liefert uns der Text der Diotimarede den Zusammenhang zwischen den philosophischen Seelenkräften der epistêmê und der doxa (Mythos von der Zeugung des Eros) und den mannigfaltigen Ebenen des hierarchischen Seinsgebildes (Stufenweg). Solange diese Vermögen nicht im Hinblick auf die Idee der Schönheit (am Geburtsfest der Aphrodite) und damit auf das Eine angewendet werden, gelingt der Aufstieg nicht. Die Seele verharrt im relativen Gegensatz von wertlosen Imaginationen und sophistischen Hirngespinsten.
(c) Eros als Besonnenheit und Wahnsinn im Phaidros Während im Symposion der Erosbegriff auf der Dichotomie der Denkseele aus doxa und epistêmê beruhte, welche sich nur wechselseitig unter dem Zeichen der Idee der Schönheit zu vollendeter Tugend entfalten konnten, begegnen wir diesem Verhältnis im Phaidros in Form von »Wahnsinn« (mania) und »Besonnenheit« (sôphrosyne), so dass Eros als ein göttlicher Wahnsinn definiert ist. Die Besonnenheit, die eine Tugend aller drei Seelenteile ist, determiniert also die Form des Wahnsinns ähnlich wie eine Idee ihre Arten und kann diesen entlang dem Stufenweg im Symposion auch auf verschiedene Seelenebenen heben.
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Der Dialog teilt sich entsprechend in zwei einander korrespondierende Hälften. Während im ersten Teil in der Abfolge der drei Reden die ersten beiden Stufen des Eros, nämlich die körperliche und seelische Liebe, behandelt werden und die große Erosrede des Sokrates mit dem Mythos vom Auszug der Seelenwagen zum überhimmlischen Ort ein Paradigma des literarischen Wahnsinns und somit der Imagination präsentiert, kann der wohlabgewogene Durchgang durch die Rhetorik im zweiten Teil als ein Paradigma der Besonnenheit und der aus ihr entstehenden Innovationen gelten. Beide Teile des Dialogs stellen, wenngleich nur in literarischer Abbildhaftigkeit, die Behandlung des gleichen Themas einmal auf dem Niveau der doxa, nämlich hauptsächlich in Form von phantasia, und anschließend auf dem Niveau der epistêmê, insofern diese die dianoia mit einschließt, dar. Als Kulminationspunkt des Dialogs erweist sich die Schriftkritik, die formal zum zweiten Teil gehört und mit dem Verweis auf die ungeschriebene Ideen- und Prinzipienlehre Platons die Fruchtbarkeit der harmonischen Vereinigung von Wahnsinn und Besonnenheit nur andeutet. Auch hier wird wie im Symposion der Begriff des Philo-sophen als Liebhaber der Ideen bemüht,22 so dass es sich auch hier bei der Philosophie um die höchste Form der Liebe handelt. Die erste Hälfte besteht aus drei Liebesreden, eine Lysianische, die durch Phaidros, und zwei Reden, die durch Sokrates vorgetragen werden. Während die ersten beiden Reden die Entartung der körperlichen Liebe behandeln, wobei nur in der ersten Rede die Besonnenheit fehlt, während sie in der zweiten Rede im Dienste unethischer Innovationen missbräuchlich eingesetzt wird, geht die große Erosrede wie im Symposion, wenngleich sie anders als dort ringkompositorisch strukturiert ist und zum Hauptthema die seelische Liebe hat, alle Stufen der Liebe in ihrer positiven Ausprägung bis hin zur Liebe zu den Ideen durch, konzentriert sich aber auf die imaginative Darstellungsweise des Mythos. Dieser Aufstieg zur höchsten Form der Liebe erfährt sein an der Besonnenheit orientiertes innovatives Gegenstück in der zweiten Hälfte des Dialogs. Auch hier ist der Aufstieg entsprechend den drei Seinsbereichen von Erscheinungen, Seele und Ideen strukturiert. Insofern nämlich im ersten Teil die vorangegangenen Reden auf Form und Inhalt hin analysiert werden, bilden sie als Abbilder der rhetorischen Kunst den ersten Gegenstand des Gesprächs. Der zweite Teil untersucht vor dem Hintergrund der Seelenlehre die Frage nach der Einschätzung des seelischen Gegenüber und der geeigneten Zuordnung einer in Form und Inhalt an den Adressaten angepassten Rede. Die Schriftkritik schließlich behandelt den Umgang mit den Ideen in der hermeneutischen Seelenführung. Aufgrund der Korrespondenz beider Hälften des Dialogs genügt es für die Bestimmung des Verhältnisses von Imagination und Innovation, auf die ersten drei Reden, die ja trotz ihres niedrigeren epistemischen Ranges dennoch die Grundlage für die Inhalte präsentieren, einzugehen, deren diskursive inhaltliche _____________ 22
Das unvollendete Wesen des Eros bezüglich der Erkenntnis (symp., 201d–202d, Phaidr., 278d) verstehe ich nicht in dem Sinn, dass Ideenerkenntnis für Eros nicht erreichbar sei, sondern mit Albert (1989) in dem Sinn, dass Eros nicht ewig in der Schau verharren kann.
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und formale Analyse des Autors natürlich aus dem zweiten Teil herangezogen werden muss. Die Lysiasrede: In der ersten, von Phaidros vorgetragenen Rede hat sich Lysias, der Urheber der Rede, zur Aufgabe gemacht, einen Knaben zur Liebe zu überreden, indem er sich als Nichtliebender ausgibt, um so vor den übrigen verliebten Bewerbern den Vorzug des Knaben zu gewinnen. Die Liebe wird daher als körperlich-erotischer Wahnsinn verworfen, um unter dem Vorwand einer als vernünftig ausgegebenen Nichtliebe den Knaben zu täuschen und am Ende doch noch zur Prostitution zu gewinnen.23 Wie aus der Definition der Liebe aus der ersten Sokratesrede hervorgeht, ist hier unter Liebe die »Begierde nach den Lüsten« (e)piqumi/a h(donw=n Phaidr., 237d), also die körperliche Liebe ohne Besonnenheit, zu verstehen, der die Besonnenheit als die »Meinung, die nach dem Besten strebt« (do/ca e)fieme/nh tou= a)ri/stou) fehlt. Aus dem Symposion wissen wir, dass auch die körperliche Liebe durchaus nach dem Besten streben und somit mit Besonnenheit verbunden sein kann. Im Gegensatz dazu fallen jedoch in der Lysiasrede Wahnsinn und Besonnenheit von vornherein auseinander, so dass dem Wahnsinn der Zusammenhang zum Guten und somit jegliche Wesensbestimmung fehlt. Der Wahnsinn ist nur noch dem Namen nach Liebe und kann sich somit zugleich hinter der vorgetäuschten Nicht-Liebe verbergen. Ebenso ist die Besonnenheit nichts als Etikette ohne Inhalt, die den triebgesteuerten Begierden des Wahnsinns Einzug bei dem begehrten Knaben gewähren lassen soll. Während also der platonische Liebesbegriff Wahnsinn und Besonnenheit dialektisch zu einer Einheit verknüpft, fallen die Begriffe bei Lysias in die unbestimmte Zweiheit von Liebe und Nicht-Liebe auseinander. Durch die fehlenden Begriffsbestimmungen sind dem Betrug Tür und Tor geöffnet. Eine theoretische Auswertung dieser Rede vor dem Hintergrund der Dialektik lässt sich im zweiten Teil des Dialogs ablesen. Wenn Sokrates hier auf die drei Reden zu sprechen kommt, wird zunächst klar aufgezeigt, dass das Redenschreiben an sich nichts Hässliches, sondern zwischen einem guten und einem schlechten Gebrauch zu unterscheiden sei (257c–258d). Mit diesen Möglichkeiten der Prädikation liegt uns von Anfang an die Einteilung der Reden nach dem dualistischen Prinzipiengegensatz des Einen und der unbestimmten Zweiheit, der bei Platon immer auch axiologisch zu verstehen ist, vor. Um die Bedeutung der Prinzipien des Guten und Schlechten im Folgenden auch vor dem Hintergrund der Kenntnis des Redegegenstandes noch weiter hervorzuheben, erfolgt der Mythos von den Zikaden sowie ein Gleichnis, in welchem der Irrtum der Sophisten bezüglich der Prinzipien und seine Konsequenzen, also ihre prinzipielle und damit radikale und konsequente Verwechslung des Guten und des Schlechten, mit der satirischen Vorstellung verglichen wird, dass einer, _____________ 23
»Denn gewiß war die Rede, mit welcher wir die Zeit verbrachten, ich weiß nicht, auf welche Weise, eine Liebesrede« (o( ga\r toi lo/goj h)=n, peri\ o(\n dietri/bomen, ou)k oi)=d )o(/ntina tro/pon e)rwtiko/j 227c).
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der Esel und Pferd nicht zu unterscheiden wisse, wenn auch das gesamte Volk darüber im Unklaren sei, die gesamte Volksversammlung dazu überreden könnte, mit Eseln statt mit Pferden in den Krieg zu ziehen, und damit das Volk in den Tod schicken könnte (260bc). Esel und Pferd stehen hier also für eine schlechte bzw. gute Liebe, die zum Tod respektive zum Heil führt. Insofern der Redegegenstand in der Lysiasrede zum Unheil führt, handelt es sich also um einen schlechten Gebrauch der Rede. Obwohl die Forderung nach der Kenntnis des Redegegenstandes sowie die Unterscheidung einer guten und einer schlechten Rede rein formal erscheinen könnte, sind hier bereits ontologische Kategorien bemüht, die nicht ohne Werturteil und damit nicht unabhängig vom Inhalt der Rede sind. Im Folgenden wird dann, entsprechend der Täuschungsabsicht der Lysiasrede, das Thema der Täuschung erörtert. Um überhaupt fachmännisch täuschen zu können, sei das Studium der Ähnlichkeiten notwendig (261a–262c). Das Hauptdilemma ist, dass niemand absichtlich, ohne sich in Selbsttäuschung zu verfangen, täuschen kann, der nicht selbst die Wahrheit kennt. Und an dem Wahrheitskriterium, der Unkenntnis über ihren Gegenstand, die Liebe, scheitert die erste Rede (260e), indem sie zugleich behaupten konnte, dass die Liebe das größte Übel als auch das größte Gut sei (263c). Die Täuschung, welche letztlich nur im Rekurs auf das Prinzip der unbestimmten Zweiheit möglich ist, belässt dabei den Gegenstand der Rede sowohl für den Redner als auch den Adressaten im Unbestimmten, was sich schließlich auch in der Struktur der Rede bemerkbar macht (264a–e). Dies wird zunächst in der Person des Phaidros, der zugleich einerseits als Akteur – er hält die Täuschungsstrategie für fein ausgedacht (keko/myeutai 227c) und möchte sich nun an Sokrates üben (228e) – andererseits als Opfer – Sokrates muss ihn aus dem lysianischen Liebesbann erst noch befreien (243e) – auftritt, stark dramatisiert, um damit gleichzeitig dem Leser eine authentische Einsicht in die gefährliche Macht und Eigenart der sophistischen Täuschung zu vermitteln, so dass sich auch moderne Interpreten leicht in die Irre haben führen lassen. 24 Inwiefern dabei, wie oben in 263c suggeriert, die Wesensbestimmung der Liebe von der Kenntnis des Guten und Schlechten abhängt, lässt sich vor dem Hintergrund der platonischen Seinslehre verstehen, nach welcher das erste, überseiende Prinzip seinskonstituierend wirkt, während das zweite Prinzip seinsprivativ tätig ist, wobei die Erkenntnis immer zugleich im Begriff des Seins inbegriffen und beide niemals zu trennen sind. Wenn die Liebe nach Meinung des Lysias zugleich das höchste Gut und das größte Übel darstellt, sind für ihn die Prinzipien zunächst zwar nur im Begriff des Eros, aber damit notwendig auch grundsätzlich identisch; er verwechselt das Gute mit dem Schlechten und befindet sich in all seinen Ansichten im Bereich der (Selbst-) Täuschung, des Nichtseins und der Unbestimmtheit. _____________ 24
Z.B. Seeck (1998), der die von Lysias vorgeschlagene Liebe in der Tat für vernünftig hält.
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Der Name der unbestimmten Zweiheit möchte besagen, dass zwei entgegengesetzte Eigenschaftsbezeichnungen wie das Paradebeispiel des Großen und Kleinen dermaßen unbestimmt sind, dass sie in einem einzigen Prinzip der Vielheit zusammengefasst werden können und ohne Bezug zu einer Sache bzw. einem Subjekt (hypokeimenon im aristotelischen Sinn bzw. Sein oder Wesen bei Platon) dasselbe bezeichnen, also einer eindeutigen Wesensbestimmung durch den fehlenden Bezug zu einem Sein ermangeln.25 Auf diese Weise gehen »Liebe« und Nicht-Liebe, wenngleich sie wie das Große und Kleine entgegengesetzte Namen haben, gleichermaßen auf die Befriedigung der Begierde, und nicht auf die Liebe der höheren Teile der Seele in dem Liebenden oder dem Geliebten oder, allgemein ausgedrückt, auf die Ideen. Der Geliebte ist daher für diese Art der Liebe auch vollkommen beliebig.26 Die Doppeldeutigkeit der Negation27 in dem Ausdruck der Nicht-Liebe, die nur den relativen Gegensatz zur krankhaften Begierde bezeichnet und damit letztlich mit ihr identisch ist, die aber andererseits als Nicht-krankhafte-Liebe auch eine absolute Verneinung zugunsten einer wahren Liebe hätte bezeichnen können, wird hier sprachlich missbraucht. Die Nicht-Liebe scheint eine vernünftige und daher göttliche Liebe zu sein, ist es aber nicht. Dasselbe gilt für den zweideutigen Ausdruck der Vernunft bzw. der Besonnenheit, der sich hinter dem Konzept der Nicht-Liebe verbirgt. Der Umstand, dass etwas Schlechtes unter dem Namen eines Guten ausgegeben wird, der Gegensatz zwischen Schein und Sein, ist ein erkenntnistheoretischer Vorwurf, den Platon nicht müde wird auch hier gegen die Sophisten ins Feld zu führen. Insgesamt müssen wir festhalten, dass der lysianische Begriff der Liebe keinerlei positive Imaginationen beinhaltet, sondern lediglich Phantasien der sexuellen Lustbefriedigung. Indem diese jedoch gerade durch eine scheinbare, begriffsleere Rationalität verdrängt werden, schaffen sie sich umso mehr Gehör.28 Analog verhält es sich mit der innovativen Leistung der Rede: Auf allen Gebieten der rhetorischen und dialektischen Technik versagt sie, indem sie Innovation ledig_____________ 25
26 27 28
Eben dies meint Platon auch, wenn er in epist. 7, 342e–343d davon spricht, dass die unteren Stufen der Erkenntnis, v.a. das gezeichnete Abbild, die Definition und der Name, die ja unter dem vermehrten Einfluss der ahoristos dyas stehen, den Mangel hätten, dass sie gleichermaßen die Qualität wie das Sein einer Sache offenbarten, insofern nämlich diese drei an der »entgegengesetzten Natur« (th=j e)nanti/aj [...] fu/sewj 343a) Anteil hätten und daher in ihrem Wesen »nicht eindeutig« (a)safe/j 343b) wären, so dass »jedes« der vier Ausdrucksmittel »das Gesagte und Gezeigte der Wahrnehmung als ein leicht Widerlegbares darbietet und mit jeder Ratlosigkeit und Unklarheit erfüllt« (ai)sqh/sesin eu)e/legkton to/ te lego/menon kai\ deiknu/menon a)ei\ parexo/menon e(/kaston, a)pori/aj te kai\ a)safei/aj e)mpi/mplhsi pa/shj 343c). Dasselbe meint die Unterscheidung zweier Messkünste, einer relativen und einer am metron, dem absoluten Maßstab eines Wesens, letztlich der Idee des Guten, orientierten, in Politik., 283a–285b. »um einen von den Schönen zu überreden« (peirw/meno/n tina tw=n kalw=n 227c). Das gesamte Thema der Täuschung wie auch die Doppeldeutigkeit der Negation spielt auch im Kampf gegen den Sophisten in soph. 257bc eine Rolle. Die Rede beginnt: »von meinem Anliegen weißt Du« (peri\ me\n tw=n e)mw=n pragma/twn e)pi/stasai 230d).
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lich vortäuscht und somit zuerst der Selbsttäuschung erlegen ist, da sie doch ganz allein den Imaginationen der sexuellen Lustbefriedigung dient. Entsprechend stehen die Inhalte von Imagination (Liebe) und Innovation (Vernunft) im Verhältnis der unbestimmten Zweiheit, indem sie gegeneinander ausgespielt werden und in diesem Streit ihren Wesensgehalt gegenseitig ausschöpfen, um ins Nichtsein herabzusinken und ihre dialektische Wesensbestimmung und Definition endgültig zu verlieren: Sex und Lüge vereinen ihre Natur im Nichtsein. Die erste Sokrates-Rede: Haben wir in der Lysiasrede stellvertretend für die gesamte Sophistik ein Beispiel von Selbsttäuschung, so zeigt uns Sokrates in seiner ersten Rede anhand desselben Redegegenstandes, wie man bewusst und kunstgemäß in die Irre führen kann. Dazu bedient er sich, wie er im zweiten Teil des Dialogs über die Rhetorik sein Vorgehen kommentiert, der Kunst der Dialektik. Beide Reden des Sokrates stellen demzufolge die beiden Teile einer Dihärese des Wahnsinns in menschlichen und göttlichen Wahnsinn dar. Die Begriffe »menschlich« und »göttlich« lassen sich auf das Gegensatzpaar von »schlecht und gut« und somit auf den Prinzipiengegensatz zurückführen (265a– 266a) – Dihäresen sind ja bei Platon, wie oben ausgeführt, immer vom Prinzipiengegensatz bestimmt. Auf Bitten des Phaidros wird auch hier ein Liebhaber (237a–241d) fingiert, der den Knaben durch eine vorgetäuschte Nicht-Liebe zum Sex überreden möchte (237b). Dabei wird die vernunftlose Liebe als eine Krankheit für den Verlust der gesamten Güter, die systematisch in drei Klassen durchgegangen werden, sowie jeglicher, sowohl augenblicklicher als auch längerfristiger Lust verantwortlich gemacht. Die rhetorische Kraft der Rede beruht daher auf der Kenntnis der verderblichen Liebe in ihrem Charakter als Steresis des Guten und der wahren Lust. Dennoch stehen sich auch in dieser Rede entsprechend der von Phaidros vorgegebenen Intention der Rede die Gegensätze von Vernunft in Form von Nicht-Liebe und Wahnsinn in Form von vernunftloser Liebe in gegenseitiger Abhängigkeit unversöhnlich gegenüber. Dieser Zwiespalt zwischen den relativen Gegensätzen begegnet nicht nur in der Person des verliebten Nicht-Liebenden, sondern Sokrates unterläuft bereits in der Rede selbst das vorgegebene Anliegen, indem er diese Schwäche des Widerspruchs sogar noch betont, wenn ausgerechnet der von ihm getadelte krankhaft Liebende sich an exponierter Stelle am Ende der Rede als Nicht-Liebender erweist, wenn er nach Stillung seiner Begierde »vernünftig« wird und den Knaben verlässt, da er seine Versprechen nicht einzulösen vermag (241ab) und somit dem Knaben indirekt andeutet, worauf er sich einzulassen überredet wird.29
_____________ 29
Die verderbliche Kraft jener als Nichtliebe getarnten »Liebe« wird vollends ersichtlich, wenn die Rede mit dem Hinweis endet, dass die Verliebten den Knaben so lieben, wie der Wolf das Lamm liebt (242d). Die Wolfsmetapher tritt in resp. 336b–d u.a. auch als Werwolfmetapher auf (vgl. dazu Adam [1902/21963] ad loc.).
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Im Gegensatz zur Lysiasrede steht hier, wie auch im zweiten Dialogteil bemerkt wird (263d), im Anfang eine Definition der vernunftlosen Liebe als krankhaften Wahnsinns, woraus sich die Struktur der gesamten Rede entfaltet. Doch insofern, wie erwähnt, die Einheit des axiologischen wie epistemischen Gehalts im ersten Prinzip eine Trennung zwischen Form und Inhalt der Rede verbietet, kann die erste Rede nur verdeckten Hauptes, nur bis zur Hälfte und nur unter der Voraussetzung einer Widerrufrede gehalten werden (242b–243d). Während es noch möglich war, die krankhafte Liebe zu schelten, verbietet die Wahrheit ein Lob der Nichtliebe, da ja mit der krankhaften Liebe identisch ist, um sich nicht in Widersprüche zu verstricken. Indem also in der Lysiasrede einseitig für die Rationalität auf Kosten des Liebeswahnsinns geworben und eins gegen das andere ausgespielt wurde, wurde gerade durch diese künstliche Entgegensetzung die positive Wesensbestimmung beider untergraben. Der Wahnsinn erzeugt somit keine positiven Imaginationen, sondern triebgesteuerte Phantasien, während die Rationalität wie sich das Logistikon des Tyrannen am Anfang von Politeia IX dem dritten Seelenteil unterwirft, statt sich am Guten zu orientieren, den Begierden und Lüsten dient. Dagegen erfolgt in der ersten Sokratesrede, insofern der Tadel der krankhaften Liebe nach dialektischen Maßstäben erfolgte, ein erster Schritt hin zu einer wirklichen Innovation, nämlich der auf Dialektik basierenden Rhetorik, die nur in Verbindung mit der zweiten Rede, welche die Imagination als konstruktive Ergänzung der Innovation in den Vordergrund rückt, Bestand hat. Nur die Weisheit, die Erkenntnis des Guten, verbindet Besonnenheit und körperliche Liebe zur Einheit, in der sie erst ihren eigentümlichen Sinn und ihr volles Wesen erlangen, ohne sich dabei gegenseitig aufzuheben. Die große Erosrede: Der positive Gehalt der Liebe bzw. Imagination dagegen wird in der großen Erosrede behandelt. Hier werden zunächst vier mit göttlichem Wahnsinn betriebene Künste vor ihren mit menschlicher Verständigkeit betriebenen Entsprechungen gerühmt. Die erste Kunst betrifft die Weissagung, welche unter der göttlichen Leitung des Apollon die Wahrheit zutage befördere, während die mit Besonnenheit und ohne göttlichen Wahnsinn durchgeführte Vogelschau eben nur ein menschliches Wissen hervorbringe. Eine zweite mit göttlichem Wahnsinn durchgeführte Kunst bestehe in den dionysischen Mysterien, die die Eingeweihten von Krankheit und Geschlechterfluch zu heilen vermögen. Sicherlich gehört Diotima, die die Athener laut Sokrates (symp., 101d) von der Pest 403 v. Chr. befreit haben soll und deren Name bereits an Dionysos anknüpft, in diesen Kontext. An dritter Stelle komme der göttliche Beistand in der Dichtung, die nur durch die Eingebung der Musen, nicht aber allein durch Kunstfertigkeit ihre Vollendung erreichen könne. Die vierte und beste Art des göttlichen Wahnsinns schließlich sei der im Anschluss noch zu behandelnde Eros, der der in der ersten Rede gepriesenen Nicht-Liebe in Form der Palinodie entgegengestellt wird (244a–245b mit rückblickender Auswertung durch Sokrates in 265a–c). Bei letzterem handelt es sich also um Form der körperlichen Liebe, die Besonnenheit und
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Wahnsinn auf harmonische Weise durch Wiedererinnerung der Idee der Schönheit beim Anblick des geliebten Knaben vereint. Die übrigen hier genannten Arten des Wahnsinns indessen beziehen sich auf den traditionellen Kult und stellen ebenfalls auf der ersten und untersten Ebene der Erscheinungen die positive Seite des Wahnsinns dar, insofern hier konkrete Dinge aus dem raum-zeitlichen Bereich imaginiert werden. Insofern der Eros die körperliche Schönheit des Knaben zum Objekt hat, während sich die anderen Formen des Wahnsinns auf phantasmata beziehen – so z.B. die Weissagung auf die phantasmata in der Leber (vgl. Abschnitt e) –, kommt ihm in der Reihe eine paradigmatische Funktion zu. Die Formen ihrer unsachgemäßen Ausübung dagegen, vor denen sie herausgehoben werden, stehen mit der vorher gepriesenen Nicht-Liebe als Gegenbild zu der jetzt zu preisenden Liebe auf einer Ebene, insofern beide keinen Anteil an göttlicher Begeisterung haben. Während es der Nicht-Liebe jedoch an tatsächlicher Besonnenheit fehlte, mangeln die hier aufgeführten Künste des Wahnsinns. Beide Komponenten gehören jedoch zusammen und bedingen sich gegenseitig. Nachdem jedoch Sokrates die Ebene der körperlichen Liebe hinter sich gelassen hat, beginnt er seine Rede erneut mit dem Unsterblichkeitsbeweis der Seele (245c–e) und dem sich daran anschließenden Mythos von der Auffahrt an den überhimmlischen Ort. Er legt hier zunächst die ontologischen Grundlagen für einen an der Tugend orientierten Erosbegriff, den er im dritten Teil der Rede konkret entfaltet.30 Dieser an den Seelen orientierte Eros hat dennoch die Befiederung, d.h. die Anfüllung mit Sein und Erkenntnis, zum Ziel und weist folglich auf die Ideen hinaus. Die Begründung des Eros in den Ideen hebt die in den ersten beiden Reden vorausgesetzte Gegensätzlichkeit zwischen Wahnsinn und Besonnenheit und damit auch zwischen Imagination und Innovation auf, indem sich beide in einem fruchtbaren Wechselverhältnis gegenseitig aufwerten: Der Wahnsinn sucht nun nicht mehr nach sexueller Befriedigung, sondern ist auf die Einsicht der Tugenden, letztlich der Ideen bezogen, indem die schönen Sitten und Gebräuche in Form eines gemeinsam verehrten Gottes nachgeahmt werden, während umgekehrt, wie das Dialoggeschehen sinnlich veranschaulicht, die Vernunft nicht mehr zum Betrug am Knaben eingesetzt wird, sondern zu wahrhaft innovativen Reden, die der gegenseitigen sittlichen Vervollkommnung dienen. Auf diese Weise muss der philosophische Wahnsinn auch als Paradigma der vier vorherigen Formen des göttlichen Wahnsinns, einschließlich des anschließend zu behandelnden Eros, verstanden werden, wobei alle drei Formen des Eros natürlich auf verschiedenen ontologischen Ebenen strikt zu trennen sind. In diesem Sinn ist die Philosophie auch als wahre Weissagung zu verstehen31 – schon der Name Apollon, der »Nicht-Viele«, deutet auf das erste Prinzip, das Eine32 –, die wahren _____________ 30
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ta\ e)/qh kai\ ta\ e)piqhdeu/mata (»die Sitten und Gebräuche« Phaidr., 253a) verweist auf die
zweite Stufe, also die Liebe zu den dreigeteilten Seelen, im Symposion (vgl. oben S. 34f). Vgl. Phaidr., 242c: ei)mi\ dh\ ou)=n ma/ntij. Apollon [...] daimoni/aj u(perbolh=j (»Apollon, welch göttliches Übertreffen« resp., 509c1f.) lautet die denkwürdige Reaktion Glaukons auf die Behauptung der Transzendenz der Idee des
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Mysterien stellen die schrittweise Einweihung in die Philosophie bis hin zur Prinzipienschau dar,33 die wie die Medizin für den Körper so für die Seele wie auch der Kult heilende Funktion hat; die wahre Dichtung ist natürlich die platonische, und die wahre Liebe ist nach Diotima die Liebe zu den Ideen, die in jeder Seele zu befördern, Lebensaufgabe des Philosophen ist. Auf diese ontologische Begründung der Arten des Wahnsinns weist Sokrates hin, wenn er seine Rede implizit über die Tradition der Dichtung und Mythen hinaushebt (247c, 249c). An den Mythos von der Befiederung als philosophische Grundlegung des Wahnsinns schließt sich dann deutlich abgetrennt (249d) die eigentliche Behandlung der Liebe als Liebe zu schönen Sitten und Gebräuchen, so dass auch hier wie im Symposion drei nach den Seinsbereichen geordnete Stufen des göttlichen Wahnsinns, nämlich in Bezug auf den Kult (als Manifestation im körperlichen Bereich), die Seele (die eigentliche Liebesbegegnung) und die Ideen (die Auffahrt zum überhimmlischen Ort), zugrunde liegen (vgl. unten S. 45, Abb. 2). Insgesamt deutet der erste Teil des Phaidros auf einen den Formen des Eros zugrunde liegenden Prinzipiendualismus, der sich in der Ganzheit des Menschen als Einheit von Leib, trichotomischer Seele und Denkseele auf den verschiedenen Stufen manifestiert. Dabei hat die in den ersten beiden Reden behandelte krankhafte »Liebe«/Nichtliebe weder für Leib noch Seele einen Wert, sondern führt den Geliebten geradezu ins Verderben. Insofern dieser Wahnsinn in relativem Gegensatz zur menschlichen Besonnenheit steht, ist er mit den Formen der unfruchtbaren Künste zu vergleichen. Demgegenüber stehen die in der großen Erosrede behandelten Formen des mit der Besonnenheit versöhnten und somit an der Idee des Guten orientierten, göttlichen Wahnsinns, die zunächst bereits auf der Ebene der Erscheinungen einen großen Nutzen aufweisen, dann aber in Form der an den Ideen orientierten Liebe auf der Ebene der Seele die Tugend befördern. Die philosophische Zusammenführung der Gegensätze von Wahnsinn und Besonnenheit bestimmt dabei auch die Struktur des gesamten Dialogs, insofern die Formen der Liebe als Wahnsinn im ersten Teil mit den Formen der Rhetorik im zweiten Teil genauestens zusammenfallen. Insofern die Abkunft des Eros von Poros und Penia im Symposion den Bestandteilen von Wahnsinn und Besonnenheit im Phaidros als Folge eines einheitlichen Philosophiebegriffs entsprach, ergibt sich folgendes Schema zum Vergleich:
_____________
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Guten im Sonnengleichnis. Wenngleich Platons Prinzipienphilosophie nicht als Apollonkult zu verstehen ist, sondern er an diesen nur anknüpft, um seine Philosophie attraktiv zu machen, ist für diesen Zusammenhang Schefer (1996 und 2001) empfehlenswert. Dies hat Riedweg (1987) am Beispiel des Phaidros und Symposions eindrucksvoll erläutert.
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Phaidros:
Idee des Schönen
Ideenschau /Anamnesis
Einzelerkenntnisse Seelische Schönheit Einzelne Verhaltensweisen Körperliche Schönheit Einzelne Körper
Seelische Schönheit: Liebe als Wetteifer in der Tugend Formen des göttlichen Wahnsinns ---------------Krankhafte Liebe !"Formen menschlicher Besonnenheit
Abb. 2
Obwohl beiden Dialogen, dem Phaidros und dem Symposion, dieselbe Ontologie zugrunde liegt, ist der Stufenweg im Symposion aufgrund seiner aufsteigenden Tendenz ausschließlich von einem positiven Liebesbegriff bestimmt, während der Phaidros das Wesen des Eros in eine allgemeine, auf einen Prinzipiendualismus zurückführbare Theorie des Wahnsinns einordnet. Wie bereits erwähnt, korrespondieren die beiden Dialoghälften in der Weise miteinander, dass die erste Hälfte des Dialogs den Aspekt des Wahnsinns des Eros behandelt und somit hauptsächlich auf dem Niveau der phantasia geschrieben ist, während die zweite Dialoghälfte auf dem Niveau der dianoia auf den Aspekt der Besonnenheit in der Liebe fokussiert ist. Phantasia und dianoia stellten die jeweils untersten Teile der dichotomischen Denkseele aus doxa und epistêmê dar. Zunächst nämlich gehören die ersten beiden Reden, die im Falle des Lysias als Schriftrolle abgelesen, aber auch im Falle des Sokrates für einen beliebigen Adressaten in einer wiederholbaren Situation verfasst wurde und somit ihrer schriftlichen Ausarbeitung ontologisch gleichkommt, dem Niveau der schriftlichen Abbilder und somit der phantasia an. Während sie inhaltlich nur sexuelle Phantasien zu bieten haben, stehen dagegen in der großen Erosrede entsprechend der dreigliedrigen ontologischen Struktur der Rede auch drei Arten von phantasmata im Zentrum, denen dann im zweiten Teil des Dialogs eine dianoetisch gewonnene Innovation korrespondiert. Hierbei handelt es sich in der Erosrede zunächst um die phantasmata in der Weissagung, der Medizin – in der antiken Medizin hatte z.B. die Heilung durch den medizinischen Schlaf eine herausgehobene Bedeutung, um die Heilung durch göttliches Einwirken zu vollbringen – und der Dichtung, also um die phantasmata im körperlichen Bereich, auf der zweiten Stufe um die phantasmata in der Vorstellung der Götter, die von den Liebenden nachgeahmt werden, sowie auf der dritten Stufe um die phantasmata in Form des Mythos vom Auszug an den überhimmlischen Ort, der die Ideenschau abbildet. Diese drei Stufen der phantasmata werden im zweiten Teil von den Erfindungen der Besonnenheit begleitet, welche dazu geeignet sind, die entsprechenden phan-
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tasmata jeweils auf ein höheres ontologisches Niveau zu befördern: Zunächst dient dort das innovative Konzept der Dialektik als Grundlage von Inhalt und Form der Rede. Insofern sich der Abschnitt auch auf die mündliche Rede bezieht, kann das Niveau der phantasmata verlassen werden. Weiterhin dient die Erfindung der adressatenbezogenen Seelenführung der gegenseitigen Ausbildung in der Tugend, so dass die Liebenden die Götter nicht mehr wie in der Erosrede in ihren sichtbaren Handlungen nachahmen müssen, sondern nach dem Wesen der Tugend selbst fragen und diese eben durch die Kultur der wechselseitigen Psychagogie durch Reden natürlich auch verwirklichen können. Und schließlich ermöglicht die innovative Entdeckung der mündlichen Prinzipienlehre die Schau der Ideen selbst, die in der Erosrede nur mythologisch in Form der phantasmata zugänglich waren. In der nachfolgenden Tabelle sind die Entsprechungen der großen Erosrede und des zweiten Dialogteils noch einmal gegenübergestellt: Seinsbereiche
Arten von Imagination in der großen Erosrede
Arten von Innovation im zweiten Teil des Dialogs
Ideen
Ideenanamnesis im Mythos
Mündliche Prinzipienund Ideentheorie
Seele
Imaginationen der Tugenden in Form des gemeinsamen Gottes
Adressatenbezogene Psychagogie
Erscheinungen
Eingebungen der Wahrsager, Ärzte und Dichter
Dialektische Strukturierung der Redeinhalte
Nachdem die grundsätzlichen Strukturen des Philosophiebegriffs anhand der Komposition des Phaidros nachgewiesen und erläutert wurden, möchte ich abschließend noch auf das Spannungsverhältnis zwischen den phantasmata und des Prinzipien- und Ideenwissens eingehen, dessen Behandlung als Leitmotiv des Phaidros in der Schriftkritik seinen Höhepunkt erfährt. Dieses wird in drei aufeinander bezogenen Mythen entwickelt, die am Anfang, in der Mitte und am Ende die Scharnierstellen des Dialogs darstellen und hier vor ihrem gemeinsamen Hintergrund erläutert werden sollen. Dabei werden entsprechend dem schritt-weisen Aufstieg des Dialogs den von Lysias stellvertretend für die Sophisten dargebotenen phantasmata zunächst die sokratischen phantasmata, dann die philosophischen Reden und schließlich im letzten Mythos die platonische Prinzipienerkenntnis selbst gegenübergestellt. Diesem Spannungsverhältnis von phantasmata und Prinzipien- und Ideenwissen, dessen Behandlung am Ende des Dialogs in der Schriftkritik als Verhältnis von Dichtung und Ideenerkenntnis abgeschlossen wird, begegnen wir im Proömi-
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um des Dialogs in Form des Verhältnisses zwischen Mythos und Selbsterkenntnis. Phaidros fragt Sokrates, was er von dem Mythos halte, dass Boreas die Oreithyia beim Spielen geraubt habe. Diesen Mythos rational zu erklären, vergleicht Sokrates indes mit der Erklärung von Kentauren, Chimären und anderen Ungeheuern und fügt hinzu, dass er sich nicht um die Mythenauslegung der Sophisten kümmere, sondern um sich selbst besorgt sei, ob er nicht »ein vielverschlungeneres und ungetümeres Ungeheuer als Typhon« (Tufw=noj poluplokw/teron kai\ ma=llon e)pitequmme/non) sei oder »ein zahmeres und einfacheres Wesen mit Anteil an einer göttlichen Natur ohne Aufgeblasenheit« (h(merw/tero/n te kai\ a(plou/steron z%=on, qei/aj tino\j kai\ a)tu/fou moi/raj fu/sei mete/xon) (230a). Die Praxis der Mythenallegorese mit einem Gleichnis aus der Mythologie zu kritisieren erscheint geradezu paradox, wenn nicht zwei vollkommen entgegengesetzte Verwendungen des Mythos vorlägen. Während sich die Sophisten für zweideutige Mythen interessieren, die, wie später die Lysiasrede, nichts als Vergewaltigung, Schrecken und Grausamkeit transportieren, zeichnet Sokrates mit dem Wortspiel des Typhôn und atyphos (»Nicht-Typhon« – »der Nichtaufgeblasene«) eine Alternative zur Beschäftigung und somit auch zur Selbstidentifikation mit vieldeutigen und daher sophistischen Wesen in Form der philosophischen Selbsterkenntnis in der Einheit und Einfachheit der eigenen Seele. Dies ist ein Beispiel für den unterschiedlichen ontologischen Rang des Mythos, der sich in einem Fall an die Begierden wendet und bei der Seele für das Prinzip der Vielheit wirbt und im anderen Fall den Eros zum eigenen göttlichen Selbst erweckt. Auch hier bildet sich also die Idee der Schönheit wie im Symposion direkt in den phantasmata, hier also im Mythos, ab, indem sie zur Selbsterkenntnis auffordert. Die höchste Form der Selbsterkenntnis besteht freilich in der Erkenntnis, dass die transzendente Idee des Guten die letzte Ursache für die Einheit unseres Selbst, die wir in der Einheit unseres Bewusstseins und somit unseres Denkens erfahren, darstellt. Insofern, wie wir im letzten Abschnitt noch sehen werden, sich die phantasmata, hier in Form von Mythen, an den dritten Seelenteil wenden und mit der diesem Seelenteil inhärenten Lust verbunden sind, haben sie eine enorme Einflusskraft auf das Unterbewusstsein unserer Seele, so dass der richtige Umgang mit ihnen, wie sich pointiert in der Schriftkritik anhand der phantasmata als Schriften zeigen wird, entscheidend für die prinzipielle und alles entscheidende Ausrichtung unserer Seele als erotische Kraft ist. Eine ähnliche Botschaft erreicht uns in der Mitte des Dialogs mit dem Mythos von den Zikaden. Gerade nachdem das neue Thema der zweiten Dialoghälfte mit dem Hinweis auf den Prinzipiengegensatz in Bezug auf das Redenschreiben eingeführt wurde, bildet er als eine Art Interludium eine mythologische Interpretation des am Beginn des zweiten Teils aufgestellten Gegensatzes von guten und schlechten Reden. Ausgerechnet im Medium des Mythos wird gezeigt, dass gewisse phantasmata, hier in Form des Gesangs der Zikaden, eben zweideutig seien, zur Täuschung des Verstandes dienen und unter der Kraft des zweiten Prinzips ins Verderben führen können. Die Alternative bilden nun aber nicht mehr
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weitere phantasmata, sondern philosophische Reden: Es wird erzählt, wie die Zikaden die Menschen aufsuchen, um sie in der Mittagshitze – der Dialog spielt an den Hundstagen34 – durch ihren bezaubernden Gesang von der Philosophie abzuwenden und einzukirren, um sie wie Sirenen in den Tod zu ziehen. Demgegenüber gelte es, den Zikaden zu widerstehen, welche, ehedem Menschen, durch ein falsches Verständnis der Musenkunst dem nichtigen Dasein von Zikaden verfielen und die nach dem Tod den Musen anzeigen sollen, wer die Musen auf richtige, also philosophische Weise ehre und wer nicht (258e–259d). Der Mythos ist direkt auf die Dialoghandlung zu beziehen. Der Zikadengesang wird mit den Reden der Sophisten in Athen verglichen, die gerade durch ihren Missbrauch der Imaginationskraft eine so starke Macht auf die Jugend ausüben, dass sie nicht nur selbst wie die Zikaden dem Untergang geweiht sind, sondern zudem eine echte politische Gefahr für die kleine Polis darstellen, wie nicht nur der Vergleich mit den Sirenen, sondern auch das sich daran anschließende Beispiel von der Verwechslung von Eseln und Pferden für den Krieg anschaulich darstellt. Konkret geht es also um die Verführung des Phaidros durch die Liebesrede des Lysias, der Sokrates die Reden unter der Platane entgegenstellt. Die Macht dieser verderblichen Imaginationskraft, die aus der menschlichen Neigung zu den Begierden ihre Kraft schöpft, ist nur durch harte philosophische Anstrengung in der Mittagshitze – ein in der Bedeutung ähnliches Bildmotiv wie das von der zweitbesten Fahrt (Phaid., 99cd) – zu besiegen. Während also Sokrates in der ersten Hälfte des Dialogs um die Gunst des Phaidros noch mit phantasmata kämpfen musste, um die Aufmerksamkeit und das Interesse seines Gesprächspartners aufrecht zu erhalten, führt der Mythos von den Zikaden nun aus dem Bereich der Imaginationen endgültig hinaus, um dem negativen Einfluss der Sophisten auf die Jugend nun mit den Erfindungen aus dem Bereich der epistêmê zu begegnen. Zwar ist der Einfluss der phantasmata rhetorisch sehr effektiv, da er auf das Unterbewusstsein wirkt, aber zum weiteren Aufstieg bedarf es der Wege der Dialektik. Der inhaltliche wie kompositorische Höhepunkt des Dialogs erfolgt in der Schriftkritik. Während der erste Mythos den sophistischen phantasmata zunächst eigene phantasmata gegenüberstellte und der Mythos von den Zikaden auf die heilsamere Wirkung der philosophischen Reden verwies, wird schließlich im Mythos von Theuth am Eingang der Schriftkritik das Verhältnis von phantasmata und Prinzipienerkenntnis beleuchtet. Der ägyptische Gott Theuth erfindet die Zahlen, die Arithmetik, Geometrie und Astronomie, das Würfelspiel und schließlich die Buchstaben. Nachdem er seine Erfindungen dem Gott Ammon vorstellte, lobte jener zwar die übrigen Erfindungen, aber die Erfindung der Buchstaben tadelte er, da sie den Menschen keinen Nutzen brächte. Da die Menschen nämlich mittels der Schrift imstande seien, alles äußerlich festzuhalten, sei sie »keinesfalls ein Mittel für das Gedächtnis, sondern zur Erinnerung« (ou)/koun mnh/mhj, a)lla\ u(pomnh/sewj fa/rmakon 275a), welche die Menschen vielwissend und dünkel_____________ 34
Zur Bedeutung der Metapher der Adonisgärtchen im Phaidros, die historisch zur Saatgutprobe an den Hundstagen dienten, vgl. Baudy (1986), 13–22.
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haft mache, da sie den Menschen nur den Schein, nicht aber die Sache selbst beibringe (274c–275b). Der Mythos deutet demzufolge an, dass die Schrift in ihrer Eigenschaft als phantasma eben nur das letzte Abbild des wahren Wesens der Dinge darstellt und diese deswegen nur äußerlich, eben im Abbild umschreiben kann. Der Unterschied zwischen »Gedächtnis« und »Erinnerung« ist folglich darin zu sehen, dass sich »Gedächtnis« auf die Lehre von der Anamnesis bezieht, »Erinnerung« aber nur in profanem Sinn gemeint sein kann. Die Fokussierung auf die phantasmata, welche nicht das eigentliche Wesen der Dinge darstellen, sondern eben nur ein Abbild und eine Perspektive von vielen unzähligen Perspektiven, macht gegen das Wesentliche blind, so dass die Fähigkeit zur Anamnesis der Ideen verloren geht. Wie auch der Eingangsmythos wird der Mythos von Theuth von einer kleineren mythologischen Andeutung begleitet: Denn es werde erzählt, dass die Weissagung im Zeustempel von Dodona einst über die lautlosen Worte einer Eiche erfolgten, welche die Alten in ihrer Einfalt achteten, da sie nicht so weise wie die Jüngeren gewesen seien (275bc). Ungeachtet der sokratischen Ironie, deutet die lautlose Vermittlung der Wahrheit durch die Zeuseiche, im Anschluss an den Mythos des Theuth von der Auslöschung des Gedächtnisses, auf die Unsagbarkeit der Prinzipien (epist. 7, 341c) hin. Nur die Erfindungen, die wie die mathematischen Disziplinen auf die Dialektik verweisen, werden von Platon folglich als nützlich eingestuft, nicht jedoch die Erfindungen, die zur Vortäuschung von Wissen und Weisheit missbraucht werden können. In diesem Sinn verhält sich die Erfindung der Schrift ganz genau so wie die von Lysias verbreitete Erfindung des Genos der widersprüchlichen Rede. Entsprechend verhält sich Platon äußerst zurückhaltend mit der Schrift und wählt konsequenter Weise gerade für die Darlegung des Verhältnisses von phantasmata und Prinzipien den Mythos. Im Folgenden schließlich geht Sokrates auf die Mängel der Schrift ein. Die Schrift gibt zwar auf sehr selbstgefällige Art die Allgemeingültigkeit ihrer Aussage vor, vermag jedoch – wie auch die Malerei ihre Bilder nicht lebendig und in Bewegung darzustellen vermag – die stets in Bewegung befindliche Vielfältigkeit der Realität, die die Idee in ihrer Lebendigkeit enthält, nicht durch ihre Einfachheit auszudrücken. Deutlich wird daher auf die Abbildhaftigkeit der Schrift (eidôlon, ei)/dwlon 276a) gegenüber der lebendigen philosophischen Rede verwiesen, welche in einer geeigneten Seele wahre »Lehre« hervorzubringen vermag. Während im Vorangehenden nur von einer Rhetorik gesprochen wurde, die der Überredung diente (z.B. 270b), deutet der hier verwendete Begriff der didachê (didaxh/ 277e–278a), welche nur von Ideenwissen möglich ist (vgl. Tim., 51e), an, dass Platon hier nicht nur über das epistemische Niveau der phantasmata, sondern auch der dianoia des zweiten Dialogteils, welches der Rhetorik vorbehalten war, über die Schriftlichkeit hinausverweist. Entsprechend muss der Philosoph mit seinem Wissen wie der Landmann mit seinem besseren Saatgut verfahren, welches er nicht zur Feier am Adonisfest zur schnellen, aber unfruchtbaren Aufzucht verwendet, sondern dessen Gedeihen er mit viel Zeit und
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Geduld unterstützt. Insofern der Philosoph sein Wissen in der Seele des Geliebten zur Reife bringen möchte, wird hier also die Zeugungsmetapher aus dem Symposion wieder aufgegriffen, bei der die Liebe die Zeugung im Schönen erstrebte, um das Gute immer zu haben. Mit der Abwertung der Schrift sind deutlich auch Platons eigene Schriften gemeint. Die Schriftkritik bezieht sich mit der exemplarischen Erwähnung des Epos, der Lyrik, der Tragödie und sogar der Gesetzgebung auf alle Gattungen der Schriftlichkeit und nach den strengen Zusammenhängen der verschiedenen Arten der phantasmata, insbesondere der vielen mit der Malerei verwandten Mythen im Dialog kann man sogar sagen, dass Gleiches wie für die Schrift für alle Arten von phantasmata gilt. Insofern also die Schrift von Haus aus ungenau und nur für ungenaue Inhalte wie die phantasmata geeignet ist, kommt eine direkte, nichtmythische Behandlung der Ideen und Prinzipien aufgrund der Ungenauigkeit und Zweideutigkeit der Schrift für den verantwortungsvollen Philosophen nicht in Frage. An der Tatsache schließlich, ob ein Schriftsteller seine letzten Erkenntnisse in der Schrift preisgibt oder nicht und ob er seinen Schriften »zu helfen« weiß, ob er sie also durch ontologisch und epistemisch höherwertige Inhalte rechtfertigen kann, entscheidet sich letztlich, ob er es wert ist, als Philosoph benannt zu werden (275c– 278d). Dass letztlich für die eindeutige Übermittlung der ungeschriebenen Ideenund Prinzipienlehre auch göttliche Kräfte eine Rolle spielen, die die Seelen der Dialogpartner in die richtige Richtung lenken und zur Resonanz bringen, kommt im Phaidros darin zum Ausdruck, dass Sokrates sowohl nach Abschluss der großen Erosrede als auch nach Abschluss der Schriftkritik und des Dialogs ein Gebet an Eros bzw. an Pan spricht (257a–b, 279bc). Insofern der Name des Pan im Griechischen das »Ganze« bedeutet und somit auf die Prinzipien verweist, der Eros aber als dynamischer Aspekt der Seele gedeutet wurde, ist auch mit der Gebetsreihe die aufsteigende Richtung des Dialogs unterstrichen. Die Eigenschaft der Täuschung ist daher für jede Art von Imagination durch phantasia, also alle Arten von Kunst und Literatur, wesentlich. Phantasmata (»Erscheinungen«) sind von sich aus nur Abbilder, die nach platonischer Sichtweise Sein und Beständigkeit nur vortäuschen und aufgrund dieser ontologisch mangelhaften Natur und der damit einhergehenden sachlichen Unterdeterminierung zu jeglicher Täuschung auch gerade des ethischen und ästhetischen Urteils besonders gut geeignet sind. Evident ist dies zunächst bei der Wahrheit in der Erscheinungswelt, wie die Tragödienkritik in Politeia X (598a–601b) deutlicher verständlich macht. So z.B. gibt die Malerei jeweils nur eine bestimmte Perspektive einer Sache wieder und kann somit leicht über den wahren Sachverhalt hinwegtäuschen. Das Bild eines Hauses kann gar nicht den realen Zustand dieses Hauses wiedergeben, sondern immer nur zwei Hauswände von vieren, diese nur von außen etc. Aber auch die Schriftstellerei stellt eine Handlung perspektivisch dar und entzieht dem Leser die Möglichkeit eines unabhängigen Urteils. Indem
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der Streit um die Waffen des Achilles nicht in der Odyssee erwähnt ist, erscheint die Tugend des Odysseus vollkommen, doch in Wahrheit gab es auch wie etwa im Sophokleischen Aias kritische Meinungen über ihn. Diese ontologische Mangelhaftigkeit des künstlerischen und sprachlichen Abbildes durch seine Einseitigkeit in der Wahrnehmungsperspektive ist dem Rezipienten jedoch gewöhnlich bewusst, der daher auch nicht den objektiven Tatbestand, sondern die Aussage einer höheren Wahrheit, nämlich die Wahrheit der Idee der Schönheit oder das Paradigma einer Tugend, in einem Kunstwerk sucht. Die Grenzen der Vermittlung durch die Kunst und Sprache liegen daher aber auch für Platon gerade im Bereich der Ethik und Epistemik, den seine Ideenlehre zum Inhalt hat und der in seiner Kunstkritik im zehnten Buch der Politeia die Ungenauigkeit von Nachbildungen aus dem wahrnehmbaren Bereich nur der Anschaulichkeit wegen und vielleicht zur Überführung sich wissend dünkender Leser heranzieht. Jede anspruchsvollere Kunst, und ganz besonders der Platonische Dialog, verweist auf eine ethische oder gar epistemische Idee, deren vollständiges Verständnis aber aufgrund der für ontologisch höher gelegene Inhalte nur unzulänglich geeigneten Sprache,35 die eben kein ontologisches, die gesamte Lebensweise mit einbeziehendes »Mitgehen« und die schließliche Angleichung der Seele an ihr Erkenntnisobjekt garantieren kann, auch in der Dichtung, also im Platonischen Dialog, nicht gewährleistet werden kann. Es entgeht uns ja nicht, wie mühsam und divergent nicht nur die Werke Platons, sondern auch anderer metaphysisch arbeitender Dichter und Denker von der historischen Forschung interpretiert werden, nicht weil sie sich nicht ordentlich hätten ausdrücken können, sondern weil die Sprache nicht geeignet ist, ein ontologisches Erlebnis wie die Ideenschau, die einer langen Selbsterkenntnis und Selbsterziehung bedarf, herbeizuführen. Diese ontologische Diskrepanz zwischen Darstellungsmedium und den Ideen als denkbar schlechtestem Darstellungsobjekt, der alles Vorstellbare übersteigende Rang der Ideen, kommt bei Platon etwa darin zum Ausdruck, dass die im überhimmlischen Ort sichtbar werdende Schönheit der Ideen alles Maß an sinnlich wahrnehmbarer Schönheit noch bei weitem übersteige und deshalb nie von Dichtern besungen wurde, noch auch in Zukunft besungen werde (247c–e). Insofern es ihm also um die Wiedererinnerung an Inhalte geht, die ganz und gar nicht im Bereich der irrationalen Täuschung und Abbildhaftigkeit ihre Heimat haben, ist er seiner Berufung nach auch gar kein »Dichter, Schriftsteller oder Verfasser von Gesetzen« (poihth\n h)\ lo/gwn suggrafe/a h)\ nomogra/fon 278e1f.), sondern bedient sich als wahrer Philosoph der Schrift nur nebenbei am Feierabend und zum Spiel und eben dann auch nur für spielerische Inhalte (276d). Demgegenüber ist freilich einzuwenden, dass auch gerade wegen der Ungenauigkeit der Sprache und des Bildes die künstlerische Darstellung besser als beispielsweise die Mathematik oder die Naturwissenschaften geeignet ist, auf höhere ethische Werte doch wenigstens hinauszuweisen. In der Tat ist dies auch der Fall, und Platon selbst be_____________ 35
Dem entspricht die Ungenauigkeit in der Malerei nach epist. 7, 343a.
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dient sich ja auch gerne des Mythos zu diesem Zweck, aber die Undeutlichkeit und die Missverständlichkeit, die beim platonischen Mythos ganz offenbar wird, ist auch und gerade in der Kunst nicht zu umgehen, was in der modernen Kunst, insofern sie vornehmlich auf Geschmack und Unterhaltung abzielt, kein ernsthaftes Problem darstellt, wohl aber bei Inhalten wie den Ideen oder gar Prinzipien, bei welchen letzteren es wohlgemerkt um alles, also vornehmlich die gesamte Werteordnung, geht, wie auch das oben angeführte Beispiel mit dem Esel zeigen sollte. Bei der richtigen Einordnung und Bewertung von Imaginationen in der Kunst, die von Natur eben auf Täuschung beruhen, kommt es daher, wie wir insbesondere am Beispiel der Eingangsmythen von Boreas und Oreithyia sowie von Typhon gesehen haben, darauf an, zu welchen rhetorischen Zielen die Unbestimmtheit der Sprache eingesetzt wird, welche Inhalte überhaupt vermittelt werden sollen. Selbstverständlich erfreuen sich diejenigen Formen von Imagination, die sich an die Begierden wenden, bei der Mehrheit der Leser einer besonderen Beliebtheit, mit welcher der Philosoph mit seinen auch noch so schönen Mythen für die Ewigkeit im Tagesgeschäft nicht konkurrieren kann. Deshalb ist er auf eine besonders kunstmäßige und rationale Art der Täuschung angewiesen, um durch das ästhetische Kunstwerk die Wiedererinnerung an die einzig im sinnlichen Bereich erfahrbare Idee, die Idee der Schönheit zu bewirken (Anamnesis). Dies demonstriert Sokrates am Beispiel seiner großen Erosrede, die teils unter Verwendung der sinnlichen Anschaulichkeit im Mythos auf das intelligible Schöne verweist und teils den Aufstieg der Seele direkt in der Betrachtung der Schönheit der Götter schildert und somit die Seele nach dem Stufenweg des Symposions konsequent und zielstrebig zur Vorstellung der Schönheit in den Ideen hinleitet. Dennoch vermag auch diese kunstmäßige Art der Täuschung nach der Schriftkritik aus den hier entwickelten Gründen allenfalls die Idee der Schönheit abzubilden, stößt aber ansonsten im Hinblick auf die Ideenlehre auf ihre unverrückbaren Grenzen. Zusammenfassend lässt sich also festhalten: Je nach Rang der Erkenntnisvermögen im Liniengleichnis ist es möglich, von unbewussteren und bewussteren Anteilen in der Seele zu sprechen. Obwohl die phantasmata, die den unbewussten Seelenteil ausmachen, hierarchisch geordnet sind, so dass nicht alle unbewussten Vorstellungen schlecht sind, ermöglicht das Medium der Kunst nur einen Aufstieg im Bereich der Erscheinungen. Das Wesen seelischer Tugenden und der Ideen kann allenfalls erahnt werden. Trotzdem bleibt der Aufstieg im körperlichen Bereich, für den die Kunst neben der Liebe ein hervorragendes Mittel darstellt, für den weiteren Aufstieg unverzichtbar, da sich der Aufstieg im ganzen Menschen vollzieht, der sich auf allen Ebenen harmonisch zur Einheit hinbewegt. Während dabei der göttliche Wahnsinn im Streben nach Vereinigung mit und Verewigung in dem Schönen, welches letztlich auf die Liebe zum Prinzip der Einheit geht, die Vernunft innovativ dazu anleitet, die Einheit in Form von Selbstbewusstsein und Selbstidentität des Menschen zu stärken und ihm damit Kraft und Leben zu schenken, indem auch das Gemeinsame in den verschiedenen
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Formen des Wahnsinns erkannt und letztere rational im Prinzip der Einheit begründet und damit in den seelischen Gesamtzusammenhang eingeordnet werden, zielt der krankhafte Wahnsinn auf die Entzweiung und Zerstörung der Einheit des Menschen, indem er durch unbewussten Missbrauch der Sprache, insbesondere der Negation und das Fehlen von Beziehungsangaben, Gefühle verabsolutiert und vereinzelt, wodurch die innere Harmonie zerstört, eine Dissonanz nicht nur zwischen Gefühl und Verstand, sondern auch zwischen den Gefühlen untereinander entsteht und der Mensch im Inneren gewaltsam zerrissen wird, um am Ende an sich selbst zugrunde zu gehen. Es wird folglich unsere Aufgabe sein, uns selbst der dunklen Macht der Begierden und des zerstörerischen Prinzips zu entziehen, das schwarze Pferd in uns zu bändigen, und uns durch Philosophie in der Mittagshitze dem erhaltenden Prinzip der Einheit entgegenzuführen. Kunst und Dichtung sind von Natur aus Nachahmungen und gehören damit nach platonischer Philosophie in das Gebiet der Irrationalität und Täuschung. Durch ihren lediglich verweisenden Charakter vermögen sie allenfalls ästhetische Werte, im Ideenbereich allenfalls die Idee des Schönen, nur durch höchste Kunstfertigkeit, d.h. absolute Durchrationalisierung des Mediums, abzubilden. Gleiches gilt nicht für die übrigen Ideen, die deshalb bei Platon nicht, zumindest nicht direkt, Thema der Schrift sind. Die Gegenüberstellung der vom zweiten Prinzip hervorgerufenen Vereinzelung der beiden Seiten des Eros, von Penia und Poros bzw. von Wahnsinn und Besonnenheit oder Imagination und Innovation, sowie ihres fruchtbaren Zusammentretens in der Philosophie wird am Ende von Platons Leben noch einmal zu aller Grundsätzlichkeit im Hinblick auf die Prinzipienschau erhoben. An der berühmten Stelle in epist. 7, 343e–344b, die sich an den erkenntnistheoretischen Exkurs in Form einer zweiten Schriftkritik anschließt, beschreibt Platon diese entgegengesetzten Vermögen als innerliche Verwandtschaft zu den Göttern (syngeneia) – hier jedoch sind negative phantasmata von vornherein ausgeschlossen, indem er einen unbewussten, aber göttlichen Einfluss auf die Physiognomie der Seele annimmt – und als denkerische Leistungsfähigkeit (eumatheia) und postuliert dort deren Zusammenwirken als Voraussetzung zur Schau der höchsten Prinzipien, deren Auseinandertreten aber als ganz und gar fatal für jede philosophische Betätigung. Die vereinzelte syngeneia kommt nicht nur an dieser Stelle ein kleines bisschen besser weg als ihr intellektualistisches Gegenstück, was damit zu erklären ist, dass sie, wenngleich nur im Bereich der phantasmata, im Gegensatz zum krankhaften Liebeswahn, der eigentlich den Gegensatz zur einseitigen eumatheia darstellt, auf jeden Fall göttlich ist. Obwohl Platon im Siebten Brief von zwei entgegengesetzten Menschentypen spricht, begegnet uns in Phaidros ein Mensch der ehrlichen göttlichen Begeisterung und ein Liebhaber der sophistischen Rhetorik zugleich. Dies muss also kein Widerspruch sein: Phaidros steht ohnehin für das demokratische Athen, zu dem Platon eine ambivalente Beziehung hatte. Der demokratische Menschentyp zeichnet sich folglich nach resp., 561a–e dadurch aus, dass er mehrere Verfassungen in sich vereint. Da beide cha-
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rakterlichen Extremformen ihren eigenen, eigentümlichen Umgang mit Imaginationen und Innovationen aufweisen, werden wir zunächst dieselben in der Sophistik und im Anschluss in der Divination untersuchen, um von dort auch Rückschlüsse auf den philosophischen Umgang zu ziehen.
(d) Scheinimaginationen und -innovationen im Sophistes Im Gegensatz zu Lysias, der sich als Redenschreiber sowohl ontologisch und axiologisch minderwertiger Imaginationen als auch Innovationen bediente, begegnen wir im Sophistes einem Sophisten, der sich als Streitkünstler v.a. auf die scheinbar innovative Seite der Sophistik, die Wortverdrehung, verlegt hat. Entsprechend kann sein Täuschungsspiel nur durch den Rückgriff auf den Seinsbegriff als Garanten echter Ideenschau aufgedeckt werden. Nachdem am Anfang des Dialogs vermutet wurde, dass die Kunst des Sophisten zur phantastikê, zur »Trugbilder hervorbringenden Kunst«, gehöre, leitet die Frage nach der ontologischen Möglichkeit jener phantastikê den Gang des Dialogs bis zur Bestimmung der phantasia unmittelbar vor der endgültigen Dihärese am Dialogende. Dieser ganze zwischengeschaltete Exkurs zur Möglichkeit einer Existenz der phantasia deduziert den auf der untersten Ebene der Seinshierarchie angesiedelten Begriff der phantasia aus der Dialektik von Sein und Nichtsein. Entsprechend betont der Fremde in soph., 253c, dass das Thema eigentlich die Behandlung des für später angekündigten, aber nicht vorliegenden Dialogs Philosophos schon voraussetze.36 Die phantastikê ist somit letztlich nur im Rekurs auf die Ideen- und Prinzipiendialektik vollständig zu begreifen (soph., 254c). Entsprechend würde eine adäquate Behandlung auch ein eigenes Buch erfordern, doch muss zur Annäherung an einen prinzipientheoretisch und damit für Platon wesentlich und vollständig verstandenen Begriff der phantasia hier wenigstens die Richtung angezeigt werden. Nachdem der Sophist durch sechs Dihäresen auf ganz unterschiedliche Weise bestimmt wurde und daher aufgrund seines vielfältigen Wesens vielfältigen Künsten anzugehören schien, die er dennoch unter dem einen Namen der Sophistik zusammenfasst, untersucht der Fremde den Sophisten als »Streitkünstler« a)ntilogiko/j), der zwar allwissend zu sein scheint, dies aber in Wahrheit nicht ist (232b–233c). Wer aber zum Schein alles hervorzubringen vermag, bediene sich der »Bilder hervorbringenden Kunst« ei)dwlopoiikh/), und nicht, wie anfangs geglaubt, einer der erwerbenden Künste. Hiervon gebe es nicht nur die Malerei, die Tiere und Pflanzen, Meer und Erde, Himmel und Götter in Windeseile nachbilde,37 sondern auch diejenige bilderzeugende Kunst, die »ihre Bilder von allem gesprochen zeige« (deiknu/ntaj ei)/dwla lego/mena peri\ pa/ntwn 234c; vgl. ta\ e)n toi=j lo/goij fanta/smata e1) (233d–234e). Um nun den Sophisten klar zu _____________ 36 37
Zum geplanten Dialog des Philosophos vgl. Kranz (1986). Soph., 233d–234b entspricht sehr genau der Tragödienkritik in resp. X, 595c–597e, die sich ihrerseits wörtlich auf den untersten Abschnitt der Linie bezieht.
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definieren, teilt der Fremde die Bilder hervorbringende Kunst, die eidôlopoiikê, in die eikastikê, diejenige Kunst, die ihre Bilder wahrheitsgetreu schafft und unter welche wie in resp., 511a sowie 602d die geometrischen Figuren fallen bzw. im epist. 7, 342c der gezeichnete Kreis, der an dritter Stelle der Erkenntnisstufen als Beispiel für ein eidôlon erscheint, und die phantastikê, »die Trugbilder hervorbringende Kunst«, unter welche folglich alle übrigen Nachbildungen besonders in Kunst und Malerei, aber eben auch in Worten fallen (235b–236c). Während der eikastikê das Erkenntnisvermögen der eikasia zugeordnet wird, bedient sich die phantastikê der phantasia. Die vielfältigen Anwendungsbereiche der eikastikê, besonders aber der phantastikê, werden noch im Einzelnen thematisiert werden. Wenn an späterer Stelle des Sophistes die vollständige Dihärese der phantastikê aufgeführt wird, unterscheidet der Fremde zwischen zwei Arten von Bildern: den göttlichen in der Natur – die Göttlichkeit der Natur folgt aus der Weltschöpfung im Timaios, während mit ihren Abbildern die Spiegelbilder auf dem Wasser gemeint sind – und den menschlichen in der Kunst, der sogenannten Bilder erzeugenden Kunst (265b–266d). Obwohl derartige Dihäresen im Liniengleichnis der Politeia nicht vollzogen werden, können wir davon ausgehen, dass die Bilder im Sophistes auch den Bildern in der Politeia entsprechen. Wenn im Sophistes jedoch bereits der eikastikê das Vermögen der eikasia zugesprochen wurde, löst sich der Widerspruch dadurch auf, dass bei Platon die erste Art einer Gattung, gleichsam als herausgehobenes Exemplar, oftmals nach der Gattung selbst benannt wird.38 Die eikasia im Liniengleichnis würde dann also ebenfalls aus eikasia im eigentlichen, geometrischen Sinn und phantasia bestehen.39 Obwohl im Sophistes nur die menschlichen Bilder eine Rolle spielen, ließe sich die Einteilung der Erkenntnisvermögen in eikasia und phantasia auf die gleiche Art auch auf die Bilder der »göttlichen Produkte« anwenden und gilt somit auch für den untersten Abschnitt der Linie als Ganzem. Dieser bildet dann nach dem Liniengleichnis zusammen mit der pistis den Teil der doxa.
_____________ 38 39
So z.B. die Doppelbelegung des »noetischen Denkens« (no/hsij) im Liniengleichnis (511e, 534a) oder des Königs als Gattung und als Art in Polit., 301ab. Im Zusammenhang mit dem untersten Linienabschnitt sind entsprechend phantasmata explizit erwähnt (vgl. resp., 510a2). Vgl. auch die Beispiele für eidôla in soph., 239d.
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doxa
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pistis (siehe unten S. 31) eikasia: - Natur (Schatten, Spiegel- und Traumbilder) -
Kunst (eidôlopoiikê)
(in Bildern und Sprache)
eikastikê (eikasia) (Geometrische Figuren, wissenschaftliche Abhandlungen)
phantastikê (phantasia) (Malerei, Architektur, Dichtung, Mythen, Sophistik, Schauspielerei)
Abb. 3 Bevor jedoch endgültig entschieden werden kann, ob die Kunst des Sophisten zur eikastikê oder zur phantastikê gehört, muss zunächst in einem langen Exkurs, der das Kernstück des Dialogs ausmacht, die Existenz der eidôlopoiikê nachgewiesen werden, da die Annahme einer Kunst von Nachbildungen und somit von Nichtseiendem gegen den berühmten und weithin anerkannten Satz des Parmenides, dass das Nichtseiende niemals sei, verstoße. Bereits hier sei gegen den Einwand, Platon habe nicht zwischen einem prädikativen und existentiellen Seinsbegriff unterschieden, angemerkt, dass gerade in der Einheit von Ontologie und Axiologie, insofern das Sein immer auch Werthaftigkeit impliziert und somit auch das existentielle Sein im Sinne der methexis als Prädikat behandelt wird, das Wesen der Ideenlehre liegt. Inwiefern dennoch auch für Platon beide auseinanderzuhalten sind, wird Gegenstand des Exkurses zu den obersten Gattungen sein. Nach einer Einführung in die dem Bild anhaftende Problematik von Schein und Sein wird der Seinsbegriff anhand der traditionellen Seinslehren grundsätzlich diskutiert, wobei schließlich angesichts der entgegengesetzen Positionen der Materialisten und der Ideenfreunde das Verhältnis von Bewegung, Ruhe und Sein neu zu bestimmen ist (236d–251a). Dabei wird die grundsätzliche Frage formuliert, »auf welche Weise wir jedesmal eben dasselbe mit vielen Namen (polloi=j o)no/masi tau)to\n tou=to) benennen« (251a). Es geht darum, auf welche Weise ein und dieselbe Sache verschiedene Prädikationen, insbesondere aber die »Prädikation« des existentiellen und prädikativen Seinsbegriffs, haben kann, eine Frage, die später im Hinblick auf den logos wieder relevant wird. Zunächst werden die beiden Alternativen, dass alle oder gar keine Begriffe, in diesem Fall die Begriffe von Ruhe, Bewegung und Sein, untereinander Gemeinschaft haben, ausgeschlossen, so dass nur übrig bleibe, dass zwar einige Begriffe sich miteinander verknüpften, andere aber nicht. Dies verhalte sich wie bei den Buchstaben, die in Konsonanten und Vokale zu teilen seien und von denen die Konsonanten wie ein
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Band die Vokale verknüpften. Nach dem Vorbild der Buchstaben müsse man fragen, (a) »welche Gattungen mit welchen zusammenstimmen«, (b) »welche einander nicht aufnehmen«, (c) »ob es irgendwelche überall Zusammenhaltende gebe« und (d) »ob andere durchweg der Trennung Ursache sind« (253bc). Wer diese Wissenschaft, also die Ideendialektik, beherrsche, würde (a’) eine Idee durch viele, einander verschiedene, hindurchziehend, (b’) viele verschiedene von einer Idee zusammengehalten, (c’) eine Idee durchweg nur mit einer von vielen verknüpft und (d’) viele gänzlich voneinander Getrennte bemerken. Obwohl wir diese Wissenschaft zur Bestimmung des Sophisten benötigen, wird ihre nähere Behandlung auf den Dialog Philosophos verschoben (253d–254b). Nach dieser Skizze des eigentlich notwendigen Weges wird der nun folgende Gang durch die obersten Gattungen als Notlösung präsentiert, um zu erklären, inwiefern trotz Parmenides das Nichtseinende sehr wohl sei. Zunächst wird gezeigt, dass Ruhe, Bewegung, Sein, Selbigkeit und Verschiedenheit, welche beiden letzteren die Untersuchung als notwendig erwiesen hinzunahm, durch Teilhabe an der Verschiedenheit fünf verschiedene Gattungen ausmachten (254c– 255e), um am Beispiel der Bewegung zu zeigen, dass alle Gattungen (und selbst das Seiende) sowohl am Seienden, sofern sie sind, als auch am Nichtseienden, sofern sie das Seiende (im Fall des Seienden, das Andere) nicht sind, teilhaben (255e–257a). Die Interpretation dieses Abschnittes vor dem Hintergrund der ungeschriebenen Lehre bietet möglicherweise eine dahingehende Auflösung der mit dem Buchstabenvergleich aufgestellten Aporien an, dass zunächst alle erwähnten Gattungen außer Ruhe und Bewegung durcheinander hindurchgehen und somit den Konsonanten vergleichbar wären (a). Ruhe und Bewegung – wie auch das Seiende und das Nichtseiende im absoluten Sinn, welches letztere aber nicht zu den obersten Gattungen gehört, da es gar nicht existiert – dagegen nehmen wie die Vokale nicht einander an (254d). M.E. handelt es sich hier um das paradigmatische Verhältnis zweier Arten einer dihäretisch, also nach dem Prinzipiengegensatz geteilten Gattung (b). Ferner ist als durchgängige Ursache von Mischung das Seiende zu verstehen. Insofern alles am Seienden teilhat und vom Seienden in einer Kette von Dihäresen deduziert werden kann, gibt es auch eine Teilhabe der Ideen untereinander. In diesem Sinn wäre dann auch vieles von einer Sache zu prädizieren (c). Durchweg Ursache der Trennung wäre dann das Nichtseiende bzw. Verschiedene (d), welches als Privation jeder beliebigen einzelnen Idee zu verstehen ist, die durch die unbestimmte Zweiheit in Form des Verschiedenen vom Rest des Ideenkosmos abgetrennt wird. Daher wird in der Fortsetzung explizit ausgeführt, dass das Nichtseiende nicht als das Gegenteil vom Seienden im absoluten, sondern im konträren Sinn untersucht würde (257bc). Im absoluten Sinn, um diese Unterscheidung an anderen Beispielen noch zu verdeutlichen,
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wäre also die Bewegung Privation von Ruhe. Hier ist aber z.B. die Idee des Großen im Gegensatz zu allen nichtgroßen und damit von allen von der Idee des Großen verschiedenen Ideen gemeint. Zusammenfassend kommt der Idee des Seienden unter den fünf Gattungen eine herausragende Stellung insofern zu, als nicht nur sie selber, sondern jedes einzelne Seiende sowohl an sich als auch in Relation zu einem anderen seiend ist, was auch die doppelte Verwendungsweise des Seinsbegriffs als existentiell und prädikativ widerspiegelt. Sobald sich das Seiende an sich jedoch mit dem Nichtsein, welches nur in Beziehung existiert, vermischt, entfaltet das Seiende seine dihäretischen Strukturen, so dass zuerst Dasselbige und das Verschiedene als zwei verschiedene, relative Gegensätze entstehen. Auf diese Weise kann der Fremde sagen, dass sich das Nichtseiende, wenngleich natürlich als ihr Gegenteil, wie die Erkenntnis verhält, da erst das Nichtseiende den Ideenkosmos strukturiert und erkennbar macht. Nur die Erkenntnis, also die Wahrheit, kann schließlich auch die Existenz von wahrer und falscher Rede ermöglichen. Daher sei also die Existenz des Nichtseienden nicht als Gegenteil des Seienden behauptet, wohl aber seine Existenz in einer konkreten Beziehung erwiesen. Insofern jede Idee durch Teilhabe am Seienden ein Seiendes an sich ist, aber auch an anderen Ideen teilhat und somit ein bezogenes Seiendes ist, ist sie eines und vieles zugleich. Über die angedeuteten Inhalte der höheren Dialektik, die zum vollständigen Verständnis ja nötig sind, ließe sich dagegen nur spekulieren. Dennoch sei kurz auf die Anspielungen auf die Prinzipien in 257a, wo das Eine vom Seienden selbst prädiziert und in Kontrast zum unendlichen Rest (apeiron) gestellt wird, und 258e–259a, wo auf den unbestimmten Erkenntnisstatus des absoluten Nichtseienden, welches die unbestimmte Zweiheit vertritt, angespielt wird, hingewiesen. Auf welche Weise nun zwischen den Begriffen Verknüpfung hergestellt und sowohl Rede als auch Philosophie ermöglicht wird, erklärt der logos, da er ebenfalls zu den seienden Gattungen gehöre (259e–260b). Denn wenn sich Rede und Meinung (logos auf der Ebene von doxa) als die wesentlichen Bestandteile des sophistischen Streitgesprächs mit dem Nichtsein verknüpften, entstünden falsche Reden und Meinungen. Das Nichtseiende zu glauben oder zu sagen bedeute nämlich, das Falsche »im Denken oder in Reden« (e)n dianoi/# te kai\ lo/goij 260c) anzunehmen, so dass notwendig alles voll von »Abbildern, Bildern und Phantasien« (ei)dw/lwn te kai\ ei)ko/nwn h)/dh kai\ fantasi/aj 260c) wäre. Daher müsse nun, um dem Einwand zu begegnen, dass, nachdem das Nichtseiende als seiend zugestanden ist, nun erst eine Verknüpfung zwischen Rede und Nichtseiendem nachgewiesen werden müsse, bevor die Existenz der Trugrede eingestanden werden könne, zunächst erklärt werden, was überhaupt logos, doxa und phantasia seien (260d–261c). Um das Wesen von Rede und Meinung (logos und doxa) zu erklären, vergleicht der Fremde nun die Worte mit den bereits im Vorangehenden herangezogenen Buchstaben. Wie also das Verhältnis des Seins zu Bewegung und Ruhe mit
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dem Verhältnis der Konsonanten zu den Vokalen erläutert wurde, so könnten auch die Wörter in Zeitwörter und Nomina eingeteilt werden, da erstere letztere verbinden (261c–262d). Wie also eine Idee (Ruhe, Bewegung; Vokale) Anteil an einer Gattung (Sein; Konsonanten) hat und diese Gattung in Bezug auf diese Idee seiend ist, also von ihr prädiziert werden kann, so hat ein mit einem Nomen bezeichnetes Subjekt Anteil an einer Handlung, die ihrerseits als seiend in Bezug auf dieses Subjekt bezeichnet wird, so dass in Bezug auf ein bestimmtes Subjekt einige Handlungen sind, andere aber nicht sind (Beispiel: Theaitetos sitzt. / Theaitetos fliegt.; 262e–263d). Mit der Unterscheidung zwischen absolutem Nichtsein und relativem Nichtsein ist es also möglich, von einem Subjekt eine falsche Prädikation zu machen und Nichtseiendes als seiend auszusagen, ohne dem Subjekt das Sein als solches abzusprechen. In unserem Beispiel verhielte sich also dann Theaitetos wie das Wesen einer Idee, während zur Diskussion steht, ob diese Idee an der Idee des Sitzens oder des Fliegens teilhat. Dennoch gehört das Beispiel vollständig dem wahrnehmbaren Bereich an. Obwohl der logos eine seiende Gattung ist und damit in das Ideenreich gehört, wird er hier in seiner abbildhaften Funktion auf der Ebene der doxa, die nach dem Liniengleichnis nur auf wahrnehmbare Dinge bezogen sein kann,40 untersucht. Seine Strukturen werden jedoch direkt aus dem Ideenbereich abgeleitet und von dort in den wahrnehmbaren Bereich übertragen. Obwohl der logos innerhalb der wahrnehmbaren Welt eine herausgehobene Stellung einnimmt, wird er bei der Einführung der obersten Gattungen nicht erwähnt. Da lo/goj auch »Zahl« bzw. »Proportion« heißen kann, ist zu vermuten, dass er Teil von Platons Zahlentheorie ist, die wesentlich eine Proportionenlehre ist. Nachdem nun nachgewiesen ist, dass es falsche Rede gebe, müsse dasselbe auch für den Gedanken (dianoia), die Meinung (doxa) und die phantasia aufgezeigt werden. Dabei sei Gedanke und Rede dasselbe, nur dass, wenn die Rede nicht ausgesprochen werde, sondern als »inneres Gespräch der Seele zu sich selbst« (o( e)nto\j th=j yuxh=j pro\j au(th\n dia/logoj 263e) stattfinde, sie als Gedanke (dianoia) zu bezeichnen sei. Dieser trete dann durch Bejahung und Verneinung auch als Meinung (doxa) auf – in diesem Sinn wurde logos im vorangehenden Abschnitt gebraucht –, so dass die Meinung (doxa) auch als »Vollendung des Gedankens« (dianoi/aj a)poteleu/thsij 264b) bezeichnet werden kann. Sobald aber dieser Vorgang »an jemandem nicht an und für sich, sondern vermittels der Wahrnehmung erfolge« (mh\ kaq )au(th\n a)lla\ di ) ai)sqh/sewj par$= tini 264a), handele es sich um phantasia bzw. um dasjenige, was uns erscheine (fai/netai 264a), was an anderen Stellen bei Platon auch als phantasmata bezeichnet wird. Sie ist die »Mischung von Wahrnehmung und Meinung« (su/mmeicij ai)sqh/sewj kai\ do/chj 264b). Da alle diese mit der Rede verwandt seien, mischten sie sich ebenfalls mit dem Nichtseienden, so dass sie wahr und falsch sein könnten (263d– 264b). _____________ 40
Vgl. oben S. 31.
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Wenn der logos hier als gleichbedeutend mit dem inneren Dialog der Gedanken gesetzt wird, der im Liniengleichnis in den mathematischen Bereich gehört, verweist dies erneut auf seine zahlentheoretische Herkunft und zeigt zudem seine strukturbildende Funktion für die wahrnehmbare Welt an. Er liefert das Gerüst, innerhalb dessen Bejahung und Verneinung stattfinden kann, so dass Meinung entsteht. Die Unterscheidung zwischen doxa, die als doxa kath‘ hautê im Sinne von pistis zu verstehen ist, und der vermittels Wahrnehmung (aisthêsis) zu erfolgenden doxa in der Qualität der phantasia, aber auch der eikasia allgemein, ist ein Versuch, den Unterschied zwischen einem Ding und seinem Bild oder, allgemein gesprochen, zwischen Sein und Schein innerhalb der wahrnehmbaren Welt philosophisch zu erklären, um die Existenz der eidôlopoiikê zu beweisen. Insofern die phantasia keine doxa kath‘ hautê ist, fehlt ihr die Anbindung an die dianoia und damit an das Sein der Ideenwelt. Entsprechend besitzt von der ontologischen Seite her der Gegenstand der phantasia, das Bild, keine eigene Substanz, sondern erscheint an etwas. In unserem Beispiel ließe sich die Aussage, dass Theaitetos fliegt, nur vermittels eines Bildes, etwa eines Schattenbildes, für Theaitetos wahrscheinlich machen, nicht jedoch auf der Grundlage der Wahrnehmung des realen Jungen. In diesem Sinn gäbe es zwar das Bild, aber als nichtseiendes. Offensichtlich beruht die phantasia, die Erkenntnis eines Bildes, im Gegensatz zur realen Welt vornehmlich auf Wahrnehmung. Der Sophist, der sich als allwissend und gerecht ausgibt, ohne es zu sein, sei ein Nachahmer der Gerechtigkeit und des Wissenden, ein Schauspieler also, der sich selbst benutzt, um aus sich ein Bild des Wissenden zu machen (267a–d). Insofern Rede und Meinung auf den gesamten wahrnehmbaren Bereich einschließlich der Bilder bezogen sind, die Bilder aber schon nichtseiend sind und unter den Bildern die phantasmata im Gegensatz zu den wahrheitsgetreuen, geometrischen Abbildern auch noch perspektivische Abbildungen der Welt präsentieren, ist klar, dass in diesem Bereich aufgrund des hohen Anteils von Nichtseiendem auch viel Täuschung und falsche Rede möglich ist. Inhaltlich lassen sich folgende Arten der phantasmata unterscheiden (vgl. oben S. 56, Abb. 3): Das Denken (dianoia) erfolgt in seiner primären Qualität in Zahlen, Proportionen und Bildern, die nur in einem sekundären Sinn durch Begriffe transportiert werden (Phil., 39ab). Gemeint sind hier natürlich nicht nur Gegenstände, sondern das gesamte Repertoire unseres Denkens, ganze Handlungsabläufe, Erinnerungen, Vorstellungen, Hoffnungen und Befürchtungen, die alle in den Bereich der doxai gehören. Im Bereich der Abbilder unterscheidet Platon zwischen natürlichen und künstlichen sowie im Bereich der Kunst zwischen genauen und perspektivischen Abbildern und jeweils zwischen dem Gebrauch der Sprache und des Bildes. Als phantasmata wird alles, was perspektivisch abgebildet ist, gezählt. Unter allen diesen gibt es dann also noch einmal nach dem vorliegenden Beweisgang die Unterscheidung in wahr und falsch.
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Unter die natürlichen phantasmata zählen Schatten und Spiegelbilder. Auch Traumbilder sind, wie uns der nächste Abschnitt über den Timaios noch hinlänglich erweisen wird, Spiegelbilder, die unsere Augen seitenverkehrt von innen erreichen. Aber auch Objekte, die aufgrund ihrer Entfernung schwer zu erkennen sind, gehören zu den phantasmata (Phil., 38cd). Alle diese haben gemeinsam, dass das mathematische, dreidimensionale Denken bei ihrer Wahrnehmung ausgeschaltet wird, da sie nur in der zweiten Dimension erscheinen und somit ihre Wahrnehmung an Genauigkeit verliert. Insgesamt kommen alle diese phantasmata dem Bereich der Chora (chôra) sehr nahe. Die Chora (chôra) ist der Grenzbereich zwischen der wahrnehmbaren Realität und dem Prinzip der unbestimmten Zweiheit, besteht, gleichsam wie ein Schattenspiel, aus ständiger ungeordneter Bewegung und konstituiert den Raum. Im Gegensatz zu unserer heutigen Zeit, wo jeder wissenschaftliche Nachweis, sei es in Form des Experimentes oder des Quellennachweises, letztlich auf die Wahrnehmung zurückzuführen ist – eine Ausnahme bilden vielleicht rein formale Fächer wie die Logik, die daher aber auch auf inhaltliche Aussagen verzichten –, steht bei Platon also die Wahrnehmung für eine Scheinwelt. Nicht die wahrnehmbare Welt an sich, die doch auf geometrischen Proportionen beruht, bedarf zu ihrer Deutung am meisten der Wahrnehmung, als vielmehr ihre ständig in Veränderung befindlichen und schwer erkennbaren Bilder und Schatten. Ontologie und Epistemologie bilden hier, wie immer bei Platon, eine Einheit. Da die Genauigkeit der Erkenntnis also gerade nicht auf Wahrnehmung beruht, ist die Vorstellung eines Tisches, an den ich mich von meinem letzten Besuch her erinnere und der daher zu den reinen doxai gehört, genauer als ein konkretes, aber nur aus der Ferne zu erkennendes Artefakt. Im Bereich der Kunst fließen der Gebrauch von Bildern und Sprache gerade in der Literatur, aber eben auch in der dem Sophisten eigentümlichen Schauspielkunst ineinander über. Nicht unter die phantasmata zählen zunächst alle genauen und nicht-perspektivischen Darstellungen. Genannt wurden geometrische Zeichnungen, aber auch an wissenschaftliche Untersuchungen, die nicht der Kommunikation, sondern der Erinnerung für den Wissenden dienen (Phaidr., 274c–275d), ist zu denken. Über die phantasmata in der Literatur wurde bereits im Abschnitt über den Phaidros ausführlich gesprochen. Da jede schriftliche Darlegung die Rezeption verzerrt, sind auch die Platonischen Dialoge, die ja daher eine perspektivische Abbildung vermeintlich wirklicher Reden darstellen, Produkte der phantasia. Sie geben sich als etwas, was nicht real existiert, auch wenn sie im Unterschied zur sophistischen Trugrede zur Wahrheit der Ideen hinführen wollen. Auch sie vermitteln ihre Inhalte durch die Beschreibung von Szenerie, die Heranziehung von Mythen u.ä. großenteils mit Wahrnehmung. Während die individuelle Rezeption in der Literatur jedoch für den Philosophen ein Problem darstellt, da seine Inhalte weit über die Wahrnehmung hinausreichen, macht sich der Sophist die Wahrnehmung durch die bloß äußerliche Anwendung der Sprache zueigen. Indem mit der Vieldeutigkeit der Wortbedeutungen wie mit den schnell beweglichen Bildern
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der Chora (chôra) gespielt wird, werden falsche Reden konstruiert, die in ihrer Perspektivität nicht sofort als solche erkannt, an die Lüste des epithymêtikon appellieren und als wahr bewundert werden. Rhetorische Kniffs erwecken den Schein einer allumfassenden Weisheit. Die Äußerlichkeit der Sprache täuscht regelmäßig über den eigentlichen Inhalt der Rede hinweg. Die Sprache verhält sich ohne Inhalt wie das Bild ohne Dimensionalität. Genau dies haben wir an der Lysiasrede gezeigt. Auch hier ist im untersten ontologischen Bereich, der nur noch aus substanzlosen, stets in Veränderung befindlichen Bildern und rhetorischen Figuren besteht – noch typischer ist eigentlich Gorgias für diesen Stil, doch hatte er offensichtlich keine Liebesrede zu bieten – und direkt an das Nichtsein der Chora (chôra) angrenzt, der höchste Grad an Täuschung möglich, der Sophist mithin im Bereich des Nichtseins aufgefunden. Die sophistische Art der Imagination ist im Gegensatz zur gottbegeisterten Imagination, in der, wie im folgenden Abschnitt beschrieben, die Inhalte durch Ausschaltung des Bewusstseins direkt von den Göttern in die Wahrnehmung eingegeben werden, vollkommen unfruchtbar und endet im absoluten Nichtsein, so dass Platon die Sophistik immer wieder mit Bildern des Todes direkt in Verbindung gebracht hat. Auch hier steht wie im Phaidros dem Begriff der Innovation das scheininnovative, allein auf Listen und Betrug ausgerichtete Denken des Sophisten gegenüber.
(e) Träume und Weissagungen im Anschluss an den Timaios Nachdem wir im Phaidros das Wesen von Imagination und Innovation nicht nur in ihrer am höchsten Prinzip orientierten Einheit verstehen konnten, sondern auch die Entartung der Imagination in Form der triebgesteuerten Phantasien in der Lysiasrede und die Entartung der Innovation zusätzlich zur Lysiasrede auch im Sophistes, können wir im Timaios nicht nur die entsprechende Dichotomie der göttlichen und natürlichen Imaginationen betrachten, welche das Paradigma der guten und schlechten Imaginationen in der Kunst darstellen, sondern auch die uns bereits bekannte Beziehung von Imagination und Innovation als das Verhältnis von phantasia und epistêmê in getrennten Subjekten verfolgen. Nach Timaios besteht sowohl das Tageslicht als auch der Lichtstrahl des Auges aus den feinsten Elementen des Feuers – das Feuer zeichnet sich aufgrund seiner Struktur als einfachster der fünf regelmäßigen Körper, der Pyramide, und aufgrund seiner hauptsächlichen Vorkommnis in der Gestirnsmaterie bei Platon durch die höchste ontologische Qualität unter den vier Elementen aus. Nachdem sich die gleichartigen Elemente sowohl des Lichtes aus dem Auge als auch des von den Gegenständen reflektierten Sonnenlichts zu einer Einheit verbinden, erfolgt, so Timaios, der Sehvorgang durch Bewegungsübertragung durch das gleichartige Medium des feinteiligen Feuers hindurch. Diese Bewegung erzeuge in der Seele die Wahrnehmung. Wird es jedoch Nacht und erlischt das Tageslicht, möchte sich das Augenlicht nicht mit fremdartigen Elementen vermischen, so
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dass wir die Augen schließen und schlafen. Dabei wende sich das Augenlicht nach innen und bringe die inneren Bewegungen zur Ruhe. Dem Licht kann eine solche Funktion im Horizont der platonischen Philosophie plausibel zukommen, insofern der dem Feuer entsprechende ontologische Rang des Augenlichts, da dieser Rang auch in der hierarchisch zu verstehenden Begriffsterminologie von Ruhe und Bewegung beschrieben werden kann, die Wirkungsmacht des Feuers über alles Bewegte einschließt. Je mehr Ruhe daher dieses Licht im Körper zu erzeugen vermöge, desto weniger werde der Schlaf durch Träume gestört. Wenn dagegen noch stärkere Bewegungen im Körper agierten, nehme das Augenlicht diese als Traumerscheinungen (phantasmata) wahr und melde sie der Seele. Diese Erscheinungen, so Timaios, entsprächen dem Ort, an dem sie jeweils zurückgeblieben seien, und der Art der diesen Orten eigentümlichen Bewegungen. Damit könnten die Bewegungen der unteren zwei Seelenteile gemeint sein, die im Schlaf noch arbeiten41 und organisch über den Körper verteilt sind (69d–71a). Relevanter sind hier aber die mit dem epithymêtikon in Zusammenhang stehenden und über den gesamten Körper verteilten, nachtaktiven Regungen desselben. Der Wechsel von Ruhe und Tätigkeit der Denkseele dagegen bezeichnet den Unterschied zwischen Schlafen und Wachen. Das nach innen gewendete Augenlicht werde also in Form von Traumbildern diejenigen Bewegungen aufnehmen, die im Körper vorherrschten. Dabei handele es sich um einen ähnlichen Vorgang wie er durch die Erzeugung der Bilder in Spiegeln und beim Reflektieren auf glatten und glänzenden Flächen stattfinde. Hier kämen nämlich das an den Gegenständen reflektierte Sonnenlicht und das Augenlicht im Spiegel an einem einzigen Punkt auf die Weise zusammen, dass ein seitenverkehrtes Bild entstehe (45b–46b). Traumbilder sind demnach Spiegelbilder der vornehmlich im Körper, aber auch in der Seele sich vollziehenden Vorgänge. Damit sind sie als Spiegelbilder von dem eigentlichen Sehvorgang dihäretisch abgetrennt und dadurch mit den bekannten Schatten und Spiegelbildern im Linien- bzw. Höhlengleichnis direkt vergleichbar, welche im Sophistes in der Kategorie der göttlichen Abbilder den menschlichen Abbildern in der Kunst, etwa den in der Dichterkritik im zehnten Buch der Politeia behandelten Bildern in der Malerei und den Werken der Dichtung sowie den in der Schriftkritik im Phaidros als Abbilder erwähnten Werken der Rhetorik, gegenübergestellt wurden. Wie die menschlichen Abbilder in der Kunst, so existieren auch die im Körper gespiegelten Abbilder nicht isoliert, sondern im Zusammenhang eines einheitlichen Ganzen und können damit, wenngleich nur auf ungenaue Weise, auf höhere Wahrheiten verweisen. Diese Theorie, die nicht ohne vorherige Einführung der zweiten Ursache, insbesondere der Chora (chôra) und der aus ihr entstehenden Elementarteilchen, vollständig behandelt werden kann, wird im dritten Teil der Rede nochmals aufgegriffen und weiter ausgeführt. Nachdem die Götter das thymoeides geschaffen hätten, schufen sie auch das epithymêtikon und setzten es in die Magengegend, _____________ 41
Siehe unten S. 64.
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damit es in seiner Begierde nach Speise und Trank zufriedengestellt werde und möglichst weit vom oberen Seelenteil entfernt sei. Da das epithymêtikon weder an Vernunft Anteil habe, noch auf vernünftige Empfindungen (tino\j au)tw=n ai)sqh/sewj) mit Gehorsam reagieren würde, sondern sich nur an eidôla und phantasmata ausrichte, hätten die Götter in seiner Behausung die Leber eingepflanzt. Diese sei nicht nur dicht, glatt und glänzend wie ein Spiegel, sondern auch süß und zugleich mit Bitterkeit versehen, so dass die »Vernunft« (nou=j) dieselbe benutze, um das epithymêtikon durch entsprechende Abbildungen und Einwirkungen entweder durch gallichte Farben und Bitterkeit zu erschrecken und einzuschüchtern oder durch anmutige Bilder und Süße zu erfreuen. Um aber schließlich auch das Niedrige in uns zu erhöhen, hätten die Götter in der Leber den Sitz der Weissagung gebildet. Niemand nämlich habe jemals bei Bewusstsein einen gottbegeisterten und wahren Seherspruch vollbracht, sondern diese Eingebung sei nur im Schlaf, bei Krankheit oder bei einer bewusstlosen Verzückung möglich, jedenfalls in einem Zustand, wo »man nicht an der Vernunft oder am Verstand teilhat« (lo/gou kai\ fronh/sewj ou) metei=xe), während dann die im Traum oder Wachen empfangenen Bilder nur durch verständiges Nachdenken zu deuten seien. Dies sei auch der Grund dafür, dass von alters her den gottbegeisterten Sehern die Propheten als Ausleger der Sprüche und Erscheinungen beigeordnet seien. Aus diesen Gründen aber tauge die Leber zur Weissagung nur in einem noch lebenden Körper, während sie in einem toten Körper nur dunkle Weissagung hervorbringen könne (70d–72c). Interessant ist der Abschnitt insofern, als hier die uns bereits aus dem Verhältnis von Imagination und Innovation bekannten Erkenntnisfunktionen der phantasia und der epistêmê durch verschiedene Subjekte getrennt ausgeübt werden. Zunächst greifen die Götter in den Erkenntnisprozess ein, die erkenntnistheoretisch auf der Ebene des Philosophen stehen und mit ihm die gleiche Aufgabe insofern ausüben, als auch der Philosoph durch das von den Göttern gebrauchte Ideenwissen die Fähigkeit zur Weissagung hat42. Dies geht aber nur, wenn der Weissagende sein Bewusstsein vollkommen ausgeschaltet, weil seine Aufgabe einzig der Empfang jener Imaginationen ist, während die Aussendung und auch die Interpretation philosophisches Wissen voraussetzt. In diesem Sinn ist die berühmte Aussage in apol., 22b zu verstehen, dass alle anderen besser als die Dichter selbst über ihre eigenen Werke sprechen könnten43. Greift der Weissagende in den fremden Kompetenzbereich ein, werden ihm die Götter ihre Imaginationen nicht zuteil werden lassen und er wird sich vielleicht der bereits im Phaidros erwähnten, vernunftgeleiteten Weissagung ohne göttlichen Wahnsinn bedienen, die nicht mittels Imaginationen, sondern mittels gewisser Zeichen wie etwa bei der Vogelschau erfolgt. Insofern daher Menschen ohne philosophische Ambitionen als Medium besser geeignet sind, übernimmt schließlich auch die Interpretation der Weissagung in der Eigenschaft der Propheten ein anderes Sub_____________ 42 43
Vgl. oben S. 43f. Zum Konzept des Enthusiasmus bei Platon vgl. Büttner (2000), 255–365.
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jekt. Auch an diesem Text wird deutlich, dass es auf ein Zusammenwirken von Imagination und Interpretation ankommt, während beide Fähigkeiten isoliert eben nur unverstandene Dichtkunst bzw. unfruchtbare und besonnene Weissagungen hervorbringen. Natürlich hat Platon dennoch die Werke der Dichter geschätzt.
(f) Die Lust an der Imagination in Politeia IX zwischen Perversion und Verantwortung Die mit der Lust an der Imagination unvermeidlich einhergehende Macht der Imagination wirft das Problem der ethischen Verantwortung auf. Auf diese Weise ist ausgerechnet der Umgang mit den Imaginationen im Traum am meisten dafür verantwortlich, ob sich ein Mensch zum Tyrannen oder Philosophen entwickelt. Die Lusttheorie in Politeia IX bildet daher auch, neben den Gleichnissen, das ontologische Fundament für die sich daran anschließende Dichterkritik im zehnten Buch. Die schlimmsten, widergesetzlichen Begierden kämen nämlich im Traum zur zügellosen Selbstentfaltung, wenn der vernünftige Teil der Seele schlafe. Dann befreiten sich alle möglichen Imaginationen von üppigen Speisen und Getränken wie von Inzest und Sexualverkehr mit Mensch, Gott oder Tier. Um dies zu verhindern, sei es notwendig, den vernünftigen Teil der Seele vor dem Schlafen mit schönen Reden und Untersuchungen zu bewirten, bis er »zur Selbsterkenntnis mit sich selbst gelangt« (ei)j su/nnoian au)to\j au(t%= a)fiko/menoj) sei, den unvernünftigen Teil aber durch ein durchschnittliches Maß an Ernährung ruhig zu stellen, wie auch den mittleren Seelenteil, wenn er vom Zorn gegen jemanden aufgewühlt ist, zu besänftigen. Wenn sich also beide unteren Seelenteile ruhig verhielten, dann könne die Denkseele rein für sich betrachten, auch Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft wahrnehmen und »in diesem Zustand die Wahrheit am meisten berühren« (th=j t )a)lhqei/aj e)n t%= toiou/t% ma/lista a(/ptetai) (571b– 572b). Die technischen Einzelheiten des Traumes wurden bereits im Zusammenhang des im Timaios beschriebenen Sehvorgangs erläutert. Die an den verschiedenen Orten des Körpers stattfindenden Bewegungen bilden sich in der Leber ab und erzeugen ein Spiegelbild, welches wiederum von der eikasia aufgenommen wird. Auch hier liegt die gleiche Theorie zugrunde, wonach die Traumbilder vornehmlich aus den im Schlaf ungezügelt tätigen Begierden entstehen, während die Denkseele untätig im Schlafe verharrt. Die Freude an solchen Träumen bringt schließlich den Tyrannen hervor, der wie der Sophist in einer Welt der abscheulichsten Imaginationen lebt und durch diese Freude an Scheingütern auch selbst zugrunde geht. Im Gegensatz dazu erschafft der Philosoph durch die richtige Geisteshaltung einen Zustand, in dem er, wie etwa in der Weissagung, Wahrheiten über Traumbilder empfängt. In beiden Fällen ermöglicht der Schlaf, in dem die Kontrolle des Bewusstseins ausgeschaltet ist, eine Offenheit gegenüber den Imaginationen, sei es der ungezügelten Begierde oder der göttlichen Botschaften,
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die sowohl im positiven wie negativen Sinn durch die mit ihnen eigentümlich verbundene Lust den Charakter des Menschen unbewusst prägen. Auf diese Weise also gehört die Kontrolle der Träume zur obersten Aufgabe der Selbsterziehung. Wenn diese Kontrolle fehlt, ermöglichen die Imaginationen, insofern sie an sich in den abbildhaften und unbestimmten Bereich der ahoristos dyas gehören, den Begierden einen besonders großen Freiraum zur Entfaltung. Erst die Selbstkontrolle in Form der Ruhigstellung aller körpereigenen Bewegungen ermöglicht dagegen den Empfang göttlicher phantasmata, die den Menschen zur inneren Harmonie und zum Einklang mit der kosmischen Ordnung verhelfen. Vor diesem Hintergrund ist auch Platons Philosophie der Lust, die er im Anschluss in verschiedenen Schritten unter der Fragestellung entfaltet, mit welcher der fünf im Vorangehenden dargestellten Lebensformen (der philosophischen, timokratischen, oligarchischen, demokratischen und tyrannischen Lebensform) das höchste Glück verbunden sei, neu zu verstehen. Insofern auf diese Weise die »Lust« (h(donh/) von vornherein nach dem Kriterium der »Glückseligkeit« (eu)daimoni/a) bewertet wird, sind auch ihre Stufen in ontologischer Abhängigkeit von der Idee des Guten zu deuten. Dies trifft sich mit der Definition der Liebe im Symposion, die nach Diotima nicht allein auf die Schau des Schönen, sondern auf die Erzeugung im Schönen gehe (206e). Es geht also nicht bloß um Ästhetik, sondern entsprechend der Identität der Idee des Schönen mit dem Guten auch immer zugleich um eine Zunahme im Sein, also um Ontologie. Wir imaginieren das Schöne als das Ewige und Seiende, um uns darin selbst zu erhalten und zu verewigen. Je nach Fortschritt auf der Stufenleiter zur Idee des Schönen identifizieren wir das Schöne mit den Körpern, der Seele oder den Erkenntnissen und versuchen entsprechend, unsere Körper, unsere Tugenden in der Seele oder unsere Kenntnisse im logistikon nicht nur in uns selbst, sondern auch in den entsprechenden »Organen« (Körper, Seele, Geist) der anderen Menschen durch Kinderzeugung, politische oder literarische Geltungssuche oder mündlichen Unterricht in platonischer Dialektik »fortzupflanzen«. Diese Art der Selbsterhaltung, die eine Zunahme an Sein bedeutet, erzeugt entsprechend Lust, und zwar je nach Seinsstufe eine umso höhere. Doch leider sind wir dabei nicht immer erfolgreich, so dass wir uns an scheinbare Lüste halten, die nur Schaden erzeugen. So z.B. führt die Päderastie nicht zur Kinderzeugung, sondern zu all dem, was in der ersten Erosrede geschildert ist: Verarmung, Vereinsamung, jeglicher Art von Tugendverlust, Krankheit, Schwäche und Tod (Phaidr., 238e–241d).44 Dasselbe gilt grundsätzlich auch für den zweiten und ersten Seelenteil, so dass nun auch das neunte Buch der Politeia für jeden der drei Seelenteile eine pyramidal geordnete Hierarchie der Lüste annimmt, von denen die unteren immer mit Schmerz verbunden sind, während die oberen reine und wahre Lüste darstellen. Während ferner durch die Herrschaft des logistikon beim Philosophen sowohl das thymoeides als auch das epithymêtikon die ihnen eigentümliche, wahre Lust erlangen, _____________ 44
Siehe oben S. 41f.
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wird bei einer Leitung des epithymêtikon in den letzten drei Menschentypen, dem oligarchischen, dem demokratischen und dem tyrannischen, keiner der Seelenteile der ihm besten Lust teilhaftig, sondern nur der scheinbaren Lüste, welche Schmerzen nach sich ziehen. Entsprechend gibt es je nach dem Verhältnis der Seelenteile unzählige Zwischenstufen (resp., 577c–588a).45 Nach dem Timaios war es die Denkseele, die der Leber Lust bzw. Unlust durch Imaginationen und Bitterkeit bzw. Süße verursacht. Es liegt also im individuellen Ermessen jedes Einzelnen, sich über etwas zu erfreuen oder zu erbittern. Dies wird aber naturgemäß und nach der Diotimarede nach dem Prinzip der Selbsterhaltung erfolgen, welches sich an objektiv vorhandenen Gegebenheiten, die im platonischen Seinsaufbau grundgelegt sind, ausrichten muss. In diesem Sinn dienen Imaginationen also auch der Erziehung. Dies kann in Form der Selbsterziehung, wie Sokrates am Anfang des Buches die Kontrolle über die eigenen Träume empfohlen hat, aber auch intersubjektiv durch die Verwendung von Imaginationen in der Kunst zum Zweck der Erziehung erfolgen, wobei es also darauf ankommt, die richtigen Imaginationen den richtigen Bestrebungen zuzuordnen. Dies ist insbesondere das Anliegen der idealen Rhetorik in Phaidros 271d–272a und damit implizit das Anliegen des platonischen Dialogs.
Imagination und Innovation – ein Resümee Zusammenfassend stellt die Harmonie von doxa und epistêmê als den Hauptbestandteilen der dichotomischen Denkseele eine unabdingbare Voraussetzung für die Harmonie und Erkenntnisfähigkeit der Seele und somit für ihren Aufstieg dar. Insofern Imaginationen im untersten Bereich der doxa inbegriffen sind und Innovationen dem Begriff der epistêmê entsprechen, sind Imagination und Innovation als natürliche Komponenten der platonischen Philosophie unmittelbar daran beteiligt. Ist die am obersten Prinzip der Einheit orientierte Harmonie der Seelenteile gestört, arten die Imaginationen zu triebgesteuerten Phantasien (Phaidros) und die Innovationen zu sophistischen Denkoperationen (Sophistes) aus. Über den Imaginationen in der Kunst, die am besten unter Beistand der Götter durch philosophisches Wissen erzeugt werden, stehen die Imaginationen in Träumen, die unmittelbar durch die Götter in die Seelen transportiert werden (Timaios). Die Verbindung der Imaginationen mit der Lust fordert schließlich den verantwortungsvollen Umgang mit den phantasmata (Politeia). Platon darf mit Sicherheit als der innovativste Denker der Philosophiegeschichte gelten, obgleich er diesen Anspruch von sich gewiesen hätte. Denn zum Einen ist Innovation nach seiner Lehre nur die Wiedererinnerung dessen, was die Seele vor der Einkörperung geschaut hat. Insofern es sich bei dem unveränderlichen Wissen der stets sich gleich verhaltenden Ideen um ein zeitloses Wissen _____________ 45
Auch der Philebos müsste hier eigentlich einbezogen werden, doch ist dies aus Platzgründen nicht mehr möglich.
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handelt, dem die Menschen in früherer Zeit seiner Ansicht nach durch göttliche Eingebung näher gestanden haben, hält er seine Philosophie nicht für neues, sondern nur für verloren gegangenes, da einst ungeschriebenes Wissen. Die Tradierung in schriftlicher Form wäre ohnehin nur in Form von eidôla und phantasmata, und damit ungenau, möglich gewesen. In diesem Sinn stehen auch wir heute, gottverlassen, vor dem rätselhaften Werk des großen Philosophen voller Mythen und Bilder, die wir nicht zu einer einheitlichen Lehre zusammenzufügen wissen. Die eigentliche Erlangung der Ideenschau setzt zudem die göttliche Hilfe voraus. Eine solche göttliche Hilfe lässt sich nicht erzwingen, sondern kommt »plötzlich« (e)cai/fnhj, epist. 7, 341c). Dennoch können wir die Bedingungen für den Aufstieg schaffen. Die Schau setzt die vollständige Katharsis des Nus als des der Schau eigentümlichen Organs vom Körper und aller Seelenteile voraus. Wie der Philosoph die Seelenteile vor der Nachtruhe zum Empfang göttlicher phantasmata vorbereiten muss, so muss er dies erst recht bei Tage zum Empfang der Ideen, indem er nicht nur seine ganze Kraft im göttlichen Auge des Nus zur Einheit bündelt, sondern auch zur Gewohnheit in der alltäglichen Lebensweise die Einheit seiner Person in den den drei Seelenteilen zugeordneten Funktionen des Denkens, Handelns und der Lustempfindung bewusst einübt. »Dabei geht er zwar seiner gewohnten Tätigkeit nach, aber bei allem Tun hält er sich immer an die Philosophie und eine tägliche Lebensweise, die ihn bei innerer Nüchternheit in höchstem Maße lernbereit, gedächtnisstark und denkfähig macht« (epist. 7, 340d; Übersetzung: Howald). Eine solche originäre Besinnung auf eine ganzheitliche Philosophie und die darin erfahrbare Einheit mit unserem göttlichen Ursprung ist heute aktueller als je zuvor und kann zu genuinen und innovativen Leistungen zum Nutzen der gesamten Menschheit beitragen.
Imagination und Innovation in der Philosophie Platons
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Phantasia und Phantasie bei Aristoteles KLAUS CORCILIUS1
Aristoteles’ Definition der phantasia ist Teil einer umfassenden Theorie mentaler Leistungen in seiner Schrift De anima (Über die Seele). Einher mit dem wissenschaftlichen Anspruch geht allerdings ein gegenüber der normalsprachlichen Verwendung eingeengter Gebrauch des Ausdrucks: Im Griechischen vor und während seiner Zeit kann ›phantasia‹ sowohl objektiv die Weise bezeichnen, in der sich etwas nach außen hin zu erkennen gibt und erscheint, als auch subjektiv die Weise, in der jemandem etwas erscheint. Während Aristoteles durchaus weiterhin von der normalsprachlichen Verwendung Gebrauch macht,2 ist es ihm in seiner Theorie der phantasia nicht primär um Erscheinungen oder Eindrücke zu tun, sondern um ein Vermögen zu einer mentalen Leistung. Es ist das Vermögen, subjektive Eindrücke einer ganz bestimmten Art zu haben, nämlich alle diejenigen subjektiven Eindrücke, die ihrem Gehalt nach über das hinausgehen, was sich durch die Präsenz externer Wahrnehmungsgegenstände und deren unmittelbare Wirkung auf unsere Sinnesorgane erklären lässt. Aristoteles löst die Aufgabe auf minimalistische Art: Er definiert phantasia nicht als kognitives Vermögen, sondern als physiologisches Überbleibsel von Wahrnehmungsvorgängen im Körper. Diese Überbleibsel (phantasmata) verfügen allerdings über zwei ganz besondere Merkmale: Sie bewahren die repräsentationalen und kausalen Eigenschaften der Wahrnehmungen, aus denen sie hervorgegangen sind; sie können daher hervorgeholt, erneut wahrgenommen, und so in neue Verwendungskontexte gestellt werden, in denen ihre repräsentationalen und kausalen Eigenschaften neue Wirkung entfalten. Dies macht phantasia zu einem sehr wichtigen Teil von Aristoteles’ Theorie mentaler Leistungen. Phantasia ist wichtig für die Erklärung komplexer Wahrnehmungen, Träume, Antizipationen, Erinnerungen usw. bis hin zum menschlichen Handeln und Denken. Bei aller Wichtigkeit bleiben die ›Überbleibsel‹ aber passive Objekte der Kognition. Für ihre Wiederverwendungen sind sie stets auf ihnen externe Kontexte der Wiederverwendung angewiesen. Um nach_____________ 1 2
Mein Dank geht an Philipp Brüllmann und den anonymen Kommentator einer früheren Version dieses Kapitels. Insbesondere in der zweiten Verwendung. So etwa in De an. I 1, 402b23. Die beiden Verwendungsweisen sind nicht immer leicht auseinander zu halten.
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zuvollziehen, wie phantasia ›funktioniert‹, kommt daher viel darauf an, wie diese Kontexte sich gestalten. Im Folgenden stelle ich Aristoteles’ Diskussion der phantasia in De anima III 3 sowie ihre wichtigsten Verwendungskontexte kurz vor. Ich ende mit einer Betrachtung der Möglichkeiten, die uns das Aristotelische Modell dafür bietet, die Leistungen einer produktiven Phantasie zu erklären. Anmerkung zur Übersetzung. Vor dem gegebenen Hintergrund leuchtet ein, dass ›phantasia‹ in seiner terminologischen Bedeutung nur schwer zu übersetzen ist. Es handelt sich um einen Ausdruck, der sowohl von alltagssprachlichen Verwendungen im Griechischen, als auch von lexikalisch naheliegenden modernen Übersetzungen, wie zum Beispiel dem häufig gewählten ›Vorstellung‹, verschieden ist. Manche Autoren wählen ›Repräsentation‹ als Übersetzung.3 Dies scheint mir ein sachlich sehr attraktiver Vorschlag, der der terminologischen Bedeutung des Ausdrucks bei Aristoteles recht nahe kommt. Allerdings hat diese Übersetzung zwei Nachteile: Erstens wird damit lediglich der semantische (repräsentationale), nicht aber der für Aristoteles wichtige spezifisch physiologische Charakter der phantasia zum Ausdruck gebracht; zweitens meint ›Repräsentation‹ im gewöhnlichen Sprachgebrauch so viel wie ›für etwas stehen‹, ein phantasma kann dagegen auch einfach etwas präsentieren, ohne auf anderes zu verweisen. Im Folgenden verzichte ich daher auf eine Übersetzung. Mit ›phantasia‹ werde ich das Vermögen bezeichnen, aus der Wahrnehmung externer Gegenstände resultierende Bewegungen im Körper zu speichern, und mit ›phantasma‹ (bzw. dem Plural ›phantasmata‹) die aus der Aktivität dieses Vermögens hervorgehenden Bewegungen (›Überbleibsel‹) selbst. Es sei allerdings angemerkt, dass Aristoteles selbst sich nicht hundertprozentig an diesen Wortgebrauch hält. Häufig benutzt er phantasia auch dort, wo der Sache nach nicht das Vermögen, sondern die Bewegungen gemeint sind. Der Sache nach spielt die Unterscheidung bei ihm jedoch eine wichtige Rolle.
1. Kontext und Vorentscheidungen Die Diskussion in De anima III 3 dient dem Auffinden des Wesens der phantasia. Aristoteles beginnt, wie häufig, mit einer Stipulierung des Wortgebrauchs:4 Wenn also die phantasia das ist, gemäß dem wir sagen, dass uns ein bestimmtes phantasma entsteht – und zwar ohne es metaphorisch zu meinen –, [...] (De an. III 3, 428a1–2)
_____________ 3 4
Z.B. King (2009), 5. Ich lasse hier den größten Teil der einleitenden Diskussion des Kapitels in De an. III 3, 427a17– b29 unberücksichtigt. Dort geht es hauptsächlich um den Gegensatz von Wahrnehmen und Denken, der hier nicht von unmittelbarem Interesse ist.
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Unabhängig davon, als was sie sich im Laufe der Untersuchung erweisen wird – man kann sagen, dass phantasia dasjenige ist, was erklärt, dass wir phantasmata haben. Aristoteles kann sich hier auf die Suggestivität des sprachlichen Ausdrucks stützen. Der Ausdruck phantasma bezeichnet schon rein sprachlich das Resultat der Tätigkeit der phantasia als dem Vermögen zur Bildung von phantasmata.5 Und um die Definition genau dieses Vermögens geht es Aristoteles in De anima. Die Definition ist Teil seines wissenschaftlichen Projekts, die mentalen und biologischen Leistungen des Lebendigen mithilfe basaler Vermögen, den sogenannten Seelenvermögen zu erklären. Es ist aus diesem Grund, dass Aristoteles im obigen Text einen metaphorischen Sinn des Ausdrucks phantasma ausschließt. Es geht ihm um die phantasia im Kontext der wissenschaftlichen Erklärung mentaler Leistungen.
2. De anima III 3: Beschreibung der phantasia Aristoteles’ Vorgehen bei der Definition der phantasia ist weniger eindeutig, als man sich dies vielleicht wünschen würde. Dies liegt zunächst daran, dass nicht klar ist, was phantasia als mentale Leistung eigentlich sein soll. Aristoteles beginnt daher damit, phantasia mit anderen seelischen Vermögen zu kontrastieren, um sie dadurch in ihrem eigenen Charakter erkennbar zu machen. Resultat dieses ersten Teils der Diskussion ist, dass phantasia eine Reihe von Leistungen erbringt, die kein anderes Vermögen erbringt. Dies ist deswegen interessant, weil es zeigt, dass Aristoteles offenbar meint dafür argumentieren zu müssen, dass es sich bei der phantasia überhaupt um ein eigenständiges Vermögen handelt. Wie es scheint, war dies zu seiner Zeit keineswegs klar. Als Argument hat dieser erste Teil der Diskussion die Struktur eines (leider ziemlich umständlich durchgeführten) Eliminationsverfahrens. Es besteht aus fünf Schritten: Zuerst argumentiert Aristoteles, dass phantasia kein propositionales Denken im Sinne des vernünftigen Annehmens oder Meinens von Sachverhalten ist (noêsis kai hypolêpsis, doxa) (a), dann, dass sie kein Wahrnehmen (aisthêsis) _____________ 5
Hier ist es wichtig, das Resultat der Tätigkeit des Vermögens von dem dem Vermögen korrelierten Gegenstand zu unterscheiden. Der Umstand, dass phantasia (in der einen oder anderen Weise) ein phantasma produziert, bedeutet noch nicht, dass es einen spezifisch der phantasia als Vermögen zugeordneten Gegenstand der phantasia gibt. Aristoteles unterscheidet diese Dinge auch sprachlich: Das Resultat der Aktivität eines Vermögens bezeichnet er für gewöhnlich durch das ma-Suffix, den korrelierten Gegenstand durch die angehängte Endung des passiven Verbaladjektivs -on. Im Unterschied etwa zu Wahrnehmung und Denken, bei denen es jeweils einen korrelierten Wahrnehmungsgegenstand (aisthêton) bzw. Denkgegenstand (noêton) gibt, gibt es ein phantaston bei Aristoteles jedoch nicht. Das einzige (textlich übrigens keineswegs einheitlich überlieferte) Vorkommnis dieses Worts in De memoria 1, 450a24 (phantasta) meint nicht den spezifischen Gegenstand der phantasia, sondern »was wir wussten, gehört oder gelernt haben« (450a20–21), also alle möglichen Gegenstände subjektiver Erfahrung. Ross’ Edition der Parva Naturalia druckt es nicht.
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ist (b), dann, dass sie kein Wissen und keine infallible Prinzipienerkenntnis (epistêmê, nous) ist (c), dann (erneut!), dass sie keine Meinung (doxa) ist (d), und schließlich, dass sie auch keine Kombination aus Meinen und Wahrnehmen ist (doxa met’ aisthêseôs, doxa di’ aisthêseôs, symplokê doxês kai aisthêseôs) (e). Das Eliminationsverfahren, obwohl scheinbar rein negativer Natur, ist in Wahrheit bereits ein wichtiger positiver Bestandteil der Untersuchung. Für Aristoteles ergibt sich dadurch, wie gesagt, die Gelegenheit, sein Definiendum über die bloße Stipulierung der Wortbedeutung hinaus zu beschreiben.6 Dies ist wichtig, weil sich so im Zuge der Diskussion eine Reihe von wichtigen Eigenschaften und Fakten über phantasia ansammelt, die dann als eine Art Prüfstein für die später vorzuschlagende Definition dienen kann. Diese wird sich nämlich daran zu messen haben, ob sie in der Lage ist, die Fakten und Eigenschaften, die der phantasia im Zuge des Eliminationsverfahrens zugesprochen wurden, auf befriedigende Weise zu erklären. Das zunächst negativ scheinende Eliminationsverfahren etabliert also Fakten über die phantasia und generiert so Kriterien für eine gute Theorie der phantasia. Hier das Verfahren im Einzelnen: (a) Phantasia ist kein vernünftiges Denken im Sinne des Annehmens oder Meinens eines Sachverhalts, (i) weil wir uns phantasmata spontan ›vor Augen führen‹ können, und zwar unabhängig davon, ob sie wahr oder falsch sind. Was wir mit unserer Vernunft denken oder annehmen, ist dagegen nicht von uns abhängig, sondern von den Dingen selbst, und daher auch notwendigerweise entweder wahr oder falsch. Daher erklärt sich, (ii) dass wir das, was wir annehmen, auch glauben und deswegen geneigt sind, emotional darauf zu reagieren; z.B. geraten wir in Furcht, wenn wir etwas Schreckliches annehmen. Nicht so bei der phantasia: Wenn wir etwas Schreckliches vorstellen, ist es so »wie wenn wir das Schreckliche in einer Zeichnung betrachten« (427b23f.). (b) Phantasia ist kein Wahrnehmen, (i) weil wir auch dann sagen, dass uns etwas erscheint (phainetai ti), wenn wir gerade nicht wahrnehmen (etwa dann, wenn wir schlafen und träumen oder die Augen geschlossen halten). (ii) Wahrnehmung impliziert die äußerliche Gegenwart des wahrgenommenen Gegenstandes, phantasia gibt es dagegen auch dann, wenn das, was wir uns vorstellen, gerade nicht äußerlich präsent ist. (iii) Manche Tiere (die alle per definitionem über Wahrnehmung verfügen) haben keine phantasia.7 (iv) Die einfachsten Fälle von Wahrnehmungen sind »immer wahr«, phantasiai dagegen meistens falsch. Dies zeigt sich daran, dass wir dann, wenn wir nicht wissen, ob etwas wahr oder falsch ist, zu sagen pflegen: »es scheint (phainetai) der Fall zu sein«. Es ist auffällig, dass Aristoteles vorher, in seiner Argumentation gegen die Gleichsetzung von phantasia und Denken (a), die phantasia noch als unabhängig _____________ 6 7
Dabei hat Aristoteles, wie es scheint, auch die Meinungen seiner Vorgänger im Blick. Vgl. den Kommentar von Hicks (1907), ad loc. Dies ist ein textkritisch umstrittenes Argument. Die Beispiele, die Aristoteles gibt, sind zudem extrem schwer verständlich. Ich werde das Argument im Folgenden nicht weiter berücksichtigen (siehe Caston [1996] und Lorenz [2006]).
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vom Wahr- oder Falsch-Sein dargestellt hat, sie jedoch hier (b), beim Vergleich mit der Wahrnehmung, als »meistens falsch« bezeichnet. Wir brauchen ihm deswegen aber keine Unstimmigkeit zu unterstellen. Vielmehr scheint er seine Auffassung von Wahr und Falsch nur flexibel an den jeweils in Rede stehenden Gegenstand anzupassen: Während vernünftige Annahmen als Behauptungen über die Welt notwendig entweder wahr oder falsch sind, sind Wahrnehmungen für ihn in genau dem Sinne »immer wahr«, dass dasjenige, was die Wahrnehmung hervorruft – der wahrnehmbare Gegenstand – zu dem Zeitpunkt, an dem die Wahrnehmung erfolgt, notwendigerweise auch als externer und objektiv existierender Gegenstand ›da‹ ist, d.h. sich im Gesichtsfeld des Wahrnehmenden befindet. Wahrnehmungen sind also insofern »immer wahr«, als ihnen (i) immer ein externer Gegenstand korrespondiert, der kausal für die Stimulierung der Sinnesorgane verantwortlich ist (andernfalls käme es nicht zur Wahrnehmung). Da in Aristoteles’ Theorie im basalen Fall die externen Gegenstände der Wahrnehmung (Farbe fürs Sehen, Ton fürs Hören usw.) aber auch isomorph mit den durch sie verursachten Sinneswahrnehmungen sind, sind die Wahrnehmungsgehalte der einfachen Wahrnehmungen außerdem noch in dem spezifischeren Sinne »immer wahr«, dass sie (ii) »so wie« die Gegenstände sind.8 Phantasia dagegen ist in dem Sinne meistens ›falsch‹, dass sie nicht an die äußere Präsenz der von ihr präsentierten Gegenstände gebunden ist, d.h. sie kann etwas präsentieren, was kausal in diesem Augenblick gerade nicht auf die Sinnesorgane einwirkt. (c) Phantasia ist keine der infalliblen Erkenntnisformen ›Wissen‹ und ›Vernunft‹, weil sie im Gegensatz zu diesen wahr oder falsch sein kann. Für Aristoteles sind Wissen und Vernunft faktiv, phantasia jedoch nicht. (d) Phantasia ist nicht Meinung, weil wir, wenn wir etwas meinen, auch davon überzeugt sind. Überzeugt-Sein impliziert jedoch rationales Denken, über das viele nicht-rationale Tiere nicht verfügen, obwohl sie phantasia haben. (e) Phantasia ist auch keine Kombination aus Wahrnehmung und Denken. Aristoteles wendet sich hier gegen Platon, den er zwar nicht namentlich nennt, der in seinem Dialog Sophistes aber behauptet hatte, phantasia sei genau eine solche Kombination (264A, vgl. Tim. 52A, Phlb. 39B9). Aristoteles präzisiert die Behauptung Platons und fügt hinzu, dass dieser Theorie zufolge phantasia eine solche Kombination von Wahrnehmungsgehalt und Meinung ist, bei der sich beide auf den gleichen Gegenstand – den Wahrnehmungsgehalt – beziehen. Demnach haben wir eine phantasia, wenn wir das meinen, was wir wahrnehmen (428a27– b2). Dagegen spricht jedoch, dass wir phantasia auch von Dingen haben können, von denen wir gleichzeitig nicht der Meinung sind, sie seien wahr. So scheint (phainetai) die Sonne zwar »einen Fußbreit groß«, während wir aber gleichzeitig meinen, dass sie größer als die Erde ist (428b3f.). _____________ 8 9
Siehe unten, S. 78 für die von Aristoteles unterschiedenen Wahrnehmungstypen. In diesen Stellen scheint es, als würde Platon mit dem Ausdruck phantasia nicht ein Vermögen, sondern einen mentalen Zustand bezeichnen.
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Soweit das Eliminationsverfahren. Es lässt sich festhalten, dass phantasia mit keinem der genannten Vermögen identisch und auch keine Kombination aus ihnen ist. Im Verlauf der weitgehend negativen Diskussion wurden die folgenden Fakten über die phantasia generiert: Phantasia erklärt, dass wir phantasmata haben können. Sie scheint spontan, insofern als das Haben von phantasmata (in der einen oder anderen Weise) von uns, statt von der Welt außer uns, abhängen kann: Wir können uns etwas willentlich »wie eine Zeichnung« vorstellen. Phantasmata können uns aber auch im Schlaf erscheinen und sind dann unserer Kontrolle weitgehend entzogen. Sie können zwar wahr oder falsch sein, müssen jedoch, anders als Denken und Meinen, nicht entweder wahr oder falsch sein. Phantasia ist also nicht notwendig veridisch und erst recht nicht faktiv (immer wahr) so wie Wissen und Vernunft es für Aristoteles sind. Auch ist sie, anders als Wahrnehmung, nicht von der unmittelbaren kausalen Einwirkung eines extern präsenten Gegenstandes abhängig; phantasiai kommen häufig in Abwesenheit eines extern präsenten Gegenstandes vor und sind in diesem Sinne dann (»meistens«) ›falsch‹, dass sie die Welt nicht so wiedergeben wie sie tatsächlich ist.10
3. Phantasia in De anima III 3: Definition Nachdem die Fakten etabliert sind, definiert Aristoteles die phantasia folgendermaßen: Da aber, wenn dieses Bestimmte bewegt worden ist, etwas anderes von diesem bewegt werden kann, und die phantasia eine Art von Bewegung zu sein und nicht ohne Wahrnehmung vorzukommen scheint, sondern bei den (Lebewesen), die wahrnehmen, und auch Gegenstände betrifft, von denen es Wahrnehmung gibt; und da es möglich ist, dass eine Bewegung durch die Wirklichkeit der Wahrnehmung entsteht, und diese notwendig der Wahrnehmung gleich ist, (deswegen) dürfte diese Bewegung weder ohne Wahrnehmung möglich sein noch auch (Lebewesen) ohne Wahrnehmung zukommen; und das (Lebewesen), das sie hat, tut und erleidet ihr entsprechend vieles, und sie kann sowohl wahr als auch falsch sein. (428b10–17)
Phantasia ist definiert als Prozess bzw. Bewegung (kinêsis) in direkter kausaler Folge von Wahrnehmungsepisoden (»eine Bewegung durch die Wirklichkeit der Wahrnehmung [...]«). Es handelt sich um einen Bewegungsvorgang im Körper, der sich auf Wahrnehmungsvorgänge zurückführt und sowohl seinem Gehalt nach als auch in seinem kausalen Potential vollständig durch diese Vorgänge bestimmt ist. Das wiederum bedeutet, dass phantasmata – die Resultate der Tätigkeit der phantasia – auch einige wichtige Eigenschaften der Wahrnehmungen beibehalten, aus denen sie entstehen: Es sind Effekte von Wahrnehmungsepisoden, die die _____________ 10
Dass Aristoteles im Eliminationsverfahren auf die veridischen Eigenschaften abhebt, steht im Zusammenhang mit dem am Anfang des Kapitels besonders betonten Phänomen der Täuschung (êpatêsthai, De an. III 3, 427a33 ff.). Dies wird hervorgehoben von Caston (1996), der meint, es gehe Aristoteles mit der phantasia hauptsächlich um die Erklärung mentaler Missrepräsentation.
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gleichen Gegenstände präsentieren wie sie und auch die gleichen Wirkungen hervorbringen können. Es sind, mit einem Wort, gehalts- und wirkungsidentische Residuen von Wahrnehmungsvorgängen im Körper. Sie überdauern die sie verursachenden Wahrnehmungen und verbleiben im Körper (persistieren).11 Sie können wahr oder falsch sein; und die Lebewesen, die über sie verfügen, »tun und erleiden« vieles, was ihnen entspricht. Mit dieser Definition der phantasia12 macht sich Aristoteles nun daran, die Fakten und Beobachtungen, die sich im Verlauf der Diskussion angesammelt haben, zu erklären. Die veridischen Eigenschaften der phantasia Die veridischen Eigenschaften der phantasmata, zwar wahr oder falsch sein zu können, jedoch nicht wahr oder falsch sein zu müssen, lassen sich durch die Definition als gehalts- und wirkungserhaltende Wahrnehmungsresiduen recht einfach erklären: Wenn phantasmata im Körper verweilen, können sie auch dann, wenn der externe Wahrnehmungsgegenstand nicht mehr präsent ist, im Lebewesen gegenwärtig und somit ›falsch‹ in dem Sinne sein, dass sie einen Gegenstand ›zeigen‹, der nicht mehr da ist, und so die Welt nicht mehr adäquat abbilden (De an. III 3, 428a17–30; vgl. De insomn. 3, 461b22–30).13 Aristoteles geht bei der Frage nach den veridischen Eigenschaften der phantasia aber noch weiter ins Detail. Er durchmustert die veridischen Eigenschaften der verschiedenen Typen von Wahrnehmungsgegenständen, die er vorher in seiner Schrift Über die Seele _____________ 11
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Vgl. explizit 429a4. Aristoteles sagt, dass phantasmata von geringerer Intensität seien als die Wahrnehmungen, die sie verursacht haben (Rhet. I 11, 1370a28), und vergleicht sie mit Abdrücken der Bilder, die von Siegelringen im Wachs hinterlassen werden (De mem. 1, 450a27–32). Physiologisch betrachtet bestehen phantasmata in im Blut gespeicherten qualitativen Veränderungen (De insomn. 3, 460b28ff.; De mot. an. 7, 701b17–23; De insomn. 2, 459b1ff.). Es mag als problematisch angesehen werden, dass Aristoteles einerseits sagt, phantasmata seien Bewegungen – und damit zeitlich endliche Prozesse –, andererseits aber auch behauptet, sie würden im Körper persistieren. Hier ist kein Raum, um auf dieses Problem einzugehen. Hier noch einmal die Eigenschaften, die der phantasia in der Definition in De an. III 3 zugesprochen werden: (i) Sie führt sich kausal auf die Wirklichkeit einer vorgängigen Wahrnehmungsbewegung zurück (ebd., 428b10–14; 429a1f.). (ii) Sie verbleibt im Lebewesen, auch wenn der wahrnehmbare Gegenstand, der die Wahrnehmung verursacht hat, nicht mehr präsent ist (ebd., 429a4). (iii) Sie ist dem Gehalt nach vollständig von der sie bewirkenden Wahrnehmungsbewegung bestimmt (ihr »gleich«: ebd., 428b14, 429a5) und bewahrt diesen Gehalt (in der Regel). (iv) Sie bewahrt potentiell auch die kausale Wirksamkeit der ihr vorgängigen Wahrnehmung (ebd., 428b16f., 429a5–8). (v) Sie kann wahr oder falsch sein (ebd., 428b17–30). Für das Wahr- oder Falsch-Sein von Dingen (im Gegensatz zu Propositionen), vgl. Metaph. ! 29, 1024b21–24: »Dann gebraucht man (den Ausdruck) ›falsch‹ von solchen Dingen, welche zwar etwas Seiendes sind, aber in deren Natur es liegt, entweder nicht zu erscheinen (phainesthai), wie sie sind, oder als das, was sie nicht sind, z.B. Schattenriss, Traum; denn diese sind zwar etwas, aber nicht das, dessen phantasia sie erwecken. Dinge heißen also falsch in diesen Bedeutungen [...], weil sie die von ihnen hervorgerufene phantasia die phantasia eines nicht Seienden ist« (Übers. nach Bonitz [1995]).
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unterschieden hat, und überträgt sie auf die ihnen jeweils entsprechenden phantasmata. De anima II 6 hatte zwischen drei verschiedenen Typen von Wahrnehmungsgegenständen (aisthêta) unterschieden: eigentümliche (idia), gemeinsame (koina) und akzidentelle Wahrnehmungsgegenstände (kata symbebêkos). Die ihnen entsprechenden Wahrnehmungsarten verhalten sich in Bezug auf Wahrheit und Falschheit jeweils unterschiedlich: Wahrnehmungen von eigentümlichen Wahrnehmungsgegenständen sind in dem genannten Sinn von ›wahr‹ oder ›falsch‹ so gut wie immer ›wahr‹: Aristoteles meint, dass ich mich nicht darüber täuschen kann, ob ich eine Farbe sehe oder einen Ton höre. Und in dem Sinn, dass jede Sinnesmodalität an einen spezifischen Gegenstandstyp gebunden ist, der den Wahrnehmungsvorgang kausal bewirkt, ist die Wahrnehmung der eigentümlichen Gegenstände immer ›wahr‹, weil für jedes Wahrnehmungsvorkommnis trivialerweise ein entsprechender externer Wahrnehmungsgegenstand vorliegt. Phänomenaler Gehalt und kausale Wirkung des Wahrnehmungsgegenstands sind im Fall eigentümlicher Wahrnehmungen daher mehr oder weniger identisch. Bei den beiden anderen Typen von Wahrnehmungsgegenständen gestaltet sich das Verhältnis zur Wahrheit dagegen komplexer. Gemeinsame Wahrnehmungsgegenstände – d.h. Gehalte, die nicht einer spezifischen Sinnesmodalität, sondern einer Mehrzahl von ihnen zugeordnet sind; Aristoteles denkt hier z.B. an Bewegung, Stillstand, Ausdehnung, Kontur, Anzahl – erlauben eine größere Unabhängigkeit ihres Gehalts von der kausalen Einwirkung des externen Wahrnehmungsgegenstands. Grund dafür ist, dass Wahrnehmungsgehalte wie ›Anzahl‹, ›Bewegung‹, ›Ausdehnung‹ usw. nicht selber kausal auf die Wahrnehmungsorgane einwirken, sondern sich aus dem Zusammenspiel mehrerer und vielleicht auch modal unterschiedlicher eigentümlicher Wahrnehmungsgegenstände ergeben (vgl. De an. III 1, 425a14–20). Hier scheint die Möglichkeit der Fehlpräsentation erheblich größer. Schließlich unterscheidet Aristoteles als letzten Typ Wahrnehmungsgegenstand die sogenannte akzidentelle Wahrnehmung. In der Forschung ist umstritten, um was es sich dabei genau handelt; es scheint aber klar, dass er so etwas meint wie Assoziationen eines aktual wahrgenommenen Wahrnehmungsgegenstandes mit einem anderen Gegenstand, der gerade nicht kausal auf den Wahrnehmungsapparat einwirkt. Dies kann entweder ein Wahrnehmungsgegenstand oder ein Gegenstand des Denkens sein. Aristoteles’ Beispiel für eine akzidentelle Wahrnehmung ist, »dass dieses Weiße der Sohn des Diares ist« (418a20–24). Hier leuchtet ein, aus welchen Gründen sich die Möglichkeit ergibt, die Dinge falsch zu präsentieren. Der akzidentell wahrgenommene Gegenstand als solcher – im Beispiel ist dies die Assoziation einer Weißwahrnehmung mit dem Gedanken an den Sohn des Diares – affiziert uns nicht kausal (418a23f.); die Wahrnehmung von etwas Weißem mit dem Gedanken an den Sohn des Diares zu verbinden, ist vielmehr Resultat unser mentalen ›Konstruktion‹, und entsprechend fallibel ist der korrespondierende Wahrnehmungstyp. Aristoteles’ Gedanke ist nun, dass unsere phantasmata, je nachdem, ob sie der einen oder anderen Wahrnehmungsart entstammen, auch deren jeweilige veridische Eigenschaften übernehmen:
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Die Wahrnehmung der eigentümlichen (Wahrnehmungsgegenstände) ist wahr oder hat den geringsten Anteil am Falschen. Das zweite ist (die Wahrnehmung) dessen, was diesen akzidentell zukommt; und hier ist es bereits möglich, sich zu täuschen, denn darin, dass es weiß ist, irrt sie sich nicht, aber ob dies oder ein anderes das Weiße ist, darin liegt sie falsch. Das dritte ist (die Wahrnehmung) der gemeinsamen (Wahrnehmungsgegenstände) und der Dinge, die den akzidentellen Eigenschaften der eigentümlichen (Wahrnehmungsgegenstände) folgen, ich meine aber z.B. Bewegung und Ausdehnung, die den (eigentümlichen) Wahrnehmungsgegenständen akzidentell zukommen, (und) bezüglich derer man sich daher bei der Wahrnehmung am meisten täuschen kann. Die Bewegung, die durch die Wirklichkeit der Wahrnehmung entsteht, wird, je nachdem von welcher dieser drei Wahrnehmungsarten sie herrührt, unterschiedlich sein. Und zwar ist die erste wahr, wenn die Wahrnehmung gegenwärtig ist, die anderen hingegen können sowohl in An- als auch in Abwesenheit falsch sein, und zwar besonders, wenn der Wahrnehmungsgegenstand weit entfernt ist. (428b18–30)
Ein phantasma kann also wahr oder falsch in genau dem Sinne sein, dass es eine adäquate ›Momentaufnahme‹ der äußeren Realität liefert oder nicht. Dabei übernimmt es die veridischen Eigenschaften der Wahrnehmungsarten, auf die es sich zurückführt. Folgendes Bild ergibt sich: Da sie die Wahrnehmungen, die sie hervorbringen, überdauern, sind phantasmata auch der eigentümlichen Wahrnehmungen von dem Augenblick an falsch, in dem die äußerlichen Wahrnehmungsgegenstände nicht mehr in der Weise vorhanden sind, wie sie es zum Zeitpunkt des Wahrnehmungsvorgangs waren. Phantasmata von gemeinsamen und akzidentellen Wahrnehmungsgegenständen können aus den genannten Gründen dagegen schon während der Anwesenheit der externen Gegenstände falsch sein. Dies gilt mit erhöhter Wahrscheinlichkeit dann, wenn die Gegenstände weit entfernt oder aus sonstigen Gründen schwer fasslich sind. Damit scheint nun auch das schwierigste Faktum aus dem obigen Eliminationsverfahren erklärbar: Phantasia kann uns sogar dann als falsch erscheinen, während wir sie gerade ›haben‹, so wie es uns das Beispiel der Sonne lehrt, die uns einen Fuß groß scheint (phainetai), während wir doch gleichzeitig die rationale Überzeugung haben, dass sie größer ist als die Erde.14 Andere Eigenschaften der phantasia Was die Erklärung ihrer anderen Eigenschaften betrifft, so hat die Definition in De anima III 3 nur erwähnt, dass die Lebewesen, die über sie verfügen, vieles »tun und erleiden«, was der phantasia entspricht. Damit sind die Kontexte angesprochen, in denen phantasmata im Rahmen von Neuverwertungen durch externe Beweger eine Rolle spielen. Um genauer zu verstehen, auf welche Weise sie dies tun, ist es wichtig, sich über einige Eigenschaften ins Klare zu setzen, die phan_____________ 14
Dies erfordert allerdings eine kognitive Instanz im Lebewesen (die Vernunft), die diesem Eindruck widersprechen kann. Dieser Fall wird ausführlich diskutiert in De insomn. 2, 460b16–22.
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tasmata allein aufgrund des Umstandes zukommen, dass sie in die Kategorie der Bewegung bzw. physikalischer Prozesse (kinêsis) fallen, und die Aristoteles hier nicht eigens erwähnt, weil er in seiner Schrift über die Seele die Kenntnis seiner allgemeine Naturphilosophie, inklusive der dort vorgelegten philosophischen Analyse physikalischer Prozesse voraussetzt: Trägheit: Phantasmata sind so wie alle physikalischen Prozesse tendenziell träge. Es sind Bewegungen (kinêseis), und nicht aktive Ausgangspunkte von Bewegungen (kinounta). Um in Bewegung versetzt zu werden, bedürfen sie daher, wie alle physikalischen Bewegungen, außer ihnen liegender ›Beweger‹.15 Funktionale Unselbständigkeit: Dies ist gewissermaßen eine Eigenschaft zweiter Ordnung: Aristoteles spricht der phantasia nirgends einen eigenen Erkenntnisbereich zu. Phantasia ist für ihn gar kein kognitives Vermögen, das einen Gegenstand erkennen kann. Im Verlauf des Eliminationsverfahrens wurde u.a. auch ganz ausdrücklich für die These argumentiert, dass phantasia nicht zu den Vermögen gehört, kraft derer wir Dinge unterscheiden und »Wahres oder Falsches« feststellen. Vielmehr bedürfen phantasmata, um als wahr oder falsch erkannt werden zu können, externer kognitiver Vermögen. Damit dies geschehen kann, müssen die gespeicherten Wahrnehmungsbewegungen erneut erkannt, d.h. wahrgenommen werden (aisthêta onta: Insom. 2, 460a32–b3). Diesem Bild entspricht es, dass Aristoteles an keiner Stelle von einem spezifischen, der phantasia korrelierten Erkenntnisgegenstand (einem phantaston) spricht. Ein phantasma zu haben bedeutet daher durchaus nicht schon, auch in einem kognitiven Zustand zu sein. Dieses Fehlen eines eigentümlichen Erkenntnisgegenstandes unterscheidet phantasia von den genuin kognitiven Vermögen, die Aristoteles in seiner philosophischen Psychologie diskutiert: Wahrnehmung und Vernunft haben nicht nur spezifische kognitive Gegenstände, die ihnen und nur ihnen zukommen (das aisthêton und das noêton), sondern diese ihnen korrelierten Gegenstände definieren diese Vermögen auch (De an. II 4, 415a16–22.). Phantasia ist demgegenüber nicht über einen ihr korrelierten kognitiven Gegenstand, sondern kausal als gespeicherte Bewegung definiert, die zwar Träger von kognitiven Gehalten, also Gegenstand von kognitiven Vorgängen, nicht aber selber kognitiv ist. Die Art wie diese Gehalte im Körper vorhanden sind, könnte man etwa mit der Weise vergleichen, in der gespeicherte Bilder in einem (mehr oder weniger organisierten) Archiv vorhanden sind. Wir können sie uns zwar erneut hervorholen und bewusst machen, doch dafür bedarf es neuer intentionaler Kontext, die durch genuine Erkenntnisvermögen, d.h. durch Wahrnehmung oder Vernunft gestiftet sind. Phantasia ist in diesem Sinne funktional unselbstständig: um erneut wirksam zu werden, bedarf sie externer Kontexte.16 _____________ 15 16
Dafür, dass alle Bewegungen eines von ihnen verschiedenen Bewegers bedürfen, argumentiert Physik VIII 5. »Functional incompleteness«; vgl. Wedin (1988), 57. Die funktionale Unselbständigkeit und Trägheit der phantasia ist hauptsächliches Argument dafür, dass es sich bei der Aristotelischen phantasia nicht um ein genuines Seelenvermögen, sondern um einen physiologischen Nebenef-
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Rekonfigurierbarkeit: Phantasmata sind rekonfigurierbar, und dies in einem sehr umfassenden Sinn. Sie können nicht nur in neue Kontexte gestellt werden, d.h. in Bewegungssequenzen, die nicht identisch mit denen ihres kausalen Ursprungs sind, sondern sie können so wie ein Film auch neu aufgeteilt (geschnitten) und dann beliebig rekombiniert werden. Dies betrifft nicht nur die zeitlichen, sondern auch die qualitativen Aspekte: Es kann im Prinzip jedes Detail und jeder Aspekt eines einmal rezipierten Wahrnehmungsinputs herausgegriffen und mit anderen assoziiert werden. Die einzige Beschränkung liegt in den Grenzen, welche die physikalischen Eigenschaften des Materials (im Blut des Lebewesens gespeicherte qualitative Veränderungen) den Neusequenzierungen auferlegen.17 Aristoteles wird bei der Erklärung der verschiedensten seelischen Leistungen, sowohl kognitiver als auch motorischer, davon Gebrauch machen. Damit sind die wichtigsten Eigenschaften der phantasia genannt, und es ist angedeutet, auf welche Weise die Fakten, die sich im Laufe des Eliminationsverfahrens angesammelt haben, mithilfe der Definition erklären lassen: Phantasia ist das Vermögen phantasmata zu bilden. Dies sind Residuen von Wahrnehmungsvorgängen, die mit diesen gehalts- und wirkungsidentisch sind. Sie persistieren als qualitative Veränderungen im Körper und stehen dort für neue Kontexte zur Verfügung. Als solche verhalten sich phantasmata passiv, sind aber extrem flexibel und daher für alle erdenklichen Neusequenzierungen und Rekonfigurationen im Rahmen neuer intentionaler und motorischer Kontexte geeignet. Aristoteles beschließt seine Diskussion der phantasia in De anima III 3 mit der Feststellung, dass die Eigenschaften der phantasia damit vollständig aufgeführt sind: Wenn die phantasia also keine anderen als die besagten (Eigenschaften) hat,18 und dies das ist, was gesagt wurde, dann dürfte die phantasia eine durch die wirkliche
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fekt der Wahrnehmung handelt (der allerdings dann eine wichtige Rolle in der Erklärung mentaler Phänomene einnimmt); vgl. Loening (1903), 95; Welsch (1987), 386; Wedin (1988), 93f.; Frede (1992), 281; Caston (1996), 47; Corcilius (2008), 211ff. Die These der funktionalen Unselbständigkeit richtet sich gegen Interpretationen der Aristotelischen phantasia, die diese kognitiv aufwerten und mit ihr eigenen kognitiven Gehalten versehen. Ein besonders prominentes Beispiel ist Martha Nussbaums (1985, Essay 5) und David Furleys (1978) These von der interpretativen Funktion der phantasia, derzufolge phantasia kognitiv für das ›Sehen als‹ zuständig ist (ein Vorläufer dieser Auffassung ist Siwek [1930]). Gegen die interpretative Auffassung argumentiert, Busche (1997). Für andere Auffassungen, z.B. Frede (1992) und Hankinson (1990). Aristoteles ist Kontinuumsphysiker. Es gibt im Hinblick auf Teilbarkeit und Resequenzierbarkeit also keinerlei quantitative Beschränkungen. Qualitative Untergrenzen von Wahrnehmungsbewegungen werden diskutiert in De sens. 6. Dies ist die Lesart des ältesten Kodex E. Die meisten anderen Handschriften bieten verschiedene Versionen von »Wenn nun nichts anderes die besagten (Eigenschaften) hat als phantasia, dann [...]«. Die argumentative Struktur dieser Lesart ist jedoch äußerst unbefriedigend: Dadurch, dass nur X und nichts anderes über eine bestimmte Menge von Eigenschaften verfügt, folgt noch nicht, dass X durch diese Eigenschaften definiert ist; z.B. ist der Mensch nicht schon dadurch definiert, dass nur er allein Ohrläppchen hat und lachen kann. Wenn dies Aristoteles’ Verfahren wäre, würde er gegen etliche der von ihm selbst aufgestellten Definitionsregeln verstoßen (vgl. z.B. Top. VI 3, 140a32ff.). Für weitere Argumente, vgl. Wedin (1988), 28–30.
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Klaus Corcilius Wahrnehmung entstehende Bewegung sein. Und da der Gesichtssinn im höchsten Grade Wahrnehmung ist, hat sie (die phantasia) ihren Namen vom Licht (phaos) erhalten, weil es ohne Licht nicht möglich ist zu sehen. Und weil (die phantasiai) bleiben und den Wahrnehmungen gleichen, handeln die Lebewesen vielfach nach ihnen, die einen, weil sie keine Vernunft haben, wie die Tiere, die anderen, weil ihre Vernunft zuweilen durch Leidenschaft oder Krankheit oder Schlaf verdeckt wird, wie die Menschen. (428b30–429a8)
Phantasia19 erweist sich damit als eine Art psychisches Hilfsvermögen, als ein physiologischer Effekt der Wahrnehmung, der seine Wirkung erst dadurch entfaltet, dass die im Körper persistierenden (»bleiben« oben im Text) phantasmata für neue Verwendungskontexte zur Verfügung stehen (wobei Aristoteles oben im Text die motivationale Wirkung herausgreift: die »Lebewesen handeln vielfach nach ihnen«). Im Folgenden werde ich die verschiedenen Kontexte in aller Kürze vorstellen.
4. Kontexte der phantasia Die Kontexte, in denen phantasmata neu verwertet werden, lassen sich in zwei Gruppen teilen: intentionale und nicht-intentionale Kontexte. Beide führen sich auf Bewegungsursprünge zurück, die außerhalb der phantasia liegen. Nicht-intentionale Bewegungsursachen sind Bewegungen ganz ohne intentionale Dimension wie zum Beispiel thermische Veränderungen im Körper. Sie treten rein aufgrund physikalischer Notwendigkeit ein. So kann etwa ein warmer Ofen gespeicherte Wahrnehmungsreste eines Schlafenden in eine Bewegung versetzen, die von diesem dann als Traumsequenz rezipiert wird. Hierbei können exo- und endogene Umstände zu Beeinträchtigungen (z.B. Verzerrungen) führen und so zum Beispiel Traumbilder erzeugen, die erheblich von unserer Alltagserfahrung abweichen.20 In solchen nicht-intentionalen Fällen liegt der Sequenzierung der phantasmata keine Zweckursache zugrunde. Sie führt sich rein auf die Interaktionsgesetze der involvierten Prozesse und deren Materialeigenschaften zurück, d.h. der Wärme des Ofens, der physiologischen Beschaffenheit des Schlafenden und der Beschaffenheit seiner phantasmata: In solchen Fällen wird das miteinander »assoziiert«, was kausal aufeinander folgt. Damit kann Aristoteles Sequenzierungen von phantasmata auf subintentionalem Niveau erklären, ohne deswegen spezifisch psychologische Assoziationsgesetze bemühen zu müssen.21 _____________ 19
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Aristoteles ist hier terminologisch unpräzise. So spricht er manchmal von phantasia, und auch im Plural von phantasiai, als Bewegungen, wo er korrekterweise den Ausdruck phantasmata hätte verwenden müssen (vgl. seine eigenen Einlassungen in De an. III 3, 428a1f.). De somno 1, 454a19ff. Vgl. z.B. De mem. 2, 451b10–13, ex anankês: b18–23, und v.a. b22f.; zu den rein kausalen ›Assoziationsmechanismen‹ ohne Beteiligung der Vernunft, vgl. Lorenz (2006), 148–173. Für eine (sehr knappe) Diskussion psychologischer Assoziationsgesetze, vgl. De mem. 2, 452a5–b7.
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Anders bei intentionalen Neukontextualisierungen. Bei ihnen führt sich die Art und Weise der Sequenzierung nicht auf materiale Notwendigkeit, sondern darauf zurück, dass seelische Tätigkeiten in der einen oder anderen Weise für ihre Zwecke Gebrauch von phantasmata machen. Aristoteles nennt eine ganze Reihe solcher Kontexte: Erinnern, Wiedererinnern, Erwarten, Streben, Sich-etwasVorstellen sowie Denken und Sprechen. Es kommen noch weitere dazu, die sich zum Teil aber wohl auch auf diese zurückführen lassen (Mit-Sich-Zurate-Gehen, Emotionen haben).22 Die meisten dieser intentionalen Kontexte führt Aristoteles ausdrücklich auf seelische Vermögen (Erinnerung, Wiedererinnerung, Streben) als Bewegungsursachen zurück. Durch die Annahme, dass Tiere die Fähigkeit haben, phantasmata im Körper zu speichern,23 steht Aristoteles ein Mechanismus zur Verfügung, der es ihm erlaubt, komplexes tierisches, aber auch das vorrationale Verhalten von Kleinkindern durch phantasmata-Sequenzen zu erklären, ohne ihnen deswegen höherstufige Kognitionsformen (Rationalität) zuschreiben zu müssen. Im Folgenden beschränke ich mich auf die Rolle der phantasia für das Denken und die Ortsbewegung der Lebewesen. Weitere Kontexte werden in den sogenannten Parva naturalia, vor allem in den Schriften über die Erinnerung (De memoria) und über Träume (De insomniis) behandelt. Ortsbewegung: Die Persistenzannahme und die von den Wahrnehmungen ererbten kausalen Eigenschaften der phantasia sind wichtige Theorieelemente in Aristoteles’ Erklärung der Ortsbewegung der Lebewesen. Mit ihrer Hilfe kann er eines der erstaunlichsten Phänomene der animalischen Ortsbewegung erklären, nämlich wie es möglich ist, dass Lebewesen sich anscheinend spontan und ohne äußerlich erkennbares Bewegungsziel ganz von allein in Bewegung setzen. Wenn gespeicherte und reaktivierte phantasmata das Lebewesen mit bewegungsrelevanten Gehalten versehen, dann handelt es sich bei den Ortsbewegungen von Lebewesen nicht mehr um akausal spontane Bewegungen (wie offenbar viele von Aristoteles’ Vorgängern annahmen), sondern lediglich um zeitverzögerte Reaktionen auf perzeptive Stimuli. Es sind also nach wie vor Wahrnehmungen von externen Gegenständen, die die Lebewesen in Bewegung setzen, jedoch solche, die in den Lebewesen gespeichert und bei Bedarf wieder hervorgeholt werden (auf intentionale oder nicht-intentionale Weise). Dies ist die kausale Stellvertreterrolle der phantasia: phantasmata können die gleiche Wirkung auf das Lebewesen haben wie externe Wahrnehmungsgegenstände.24 Durch diese Annahme verschafft Aristoteles sich die Möglichkeit, neben den scheinbar spontanen Ortsbewegungen der Lebewesen auch viele andere Erinnerungs- und Antizipationsleistungen zu erklären. _____________ 22
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Ein Grenzfall ist das Assoziieren (vgl. Caston [1996], 41, Anm. 46), insofern es eine Gemeinsamkeit benennt, die auf alle genannten Kontexte zuzutreffen scheint (ähnliches gilt für das ›Handeln‹). Nicht alle, wie es scheint (vgl. An. post. II 19, 99b36f.). De mot. an. 7, 701b17–23; vgl. Corcilius (2008), 232f.
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Denken: Die Rolle der phantasia für das menschliche Denken ist nicht leicht zu bestimmen. Es wird hier deswegen bei einer nur summarischen Behandlung bleiben müssen. Aristoteles betont, dass menschliches Denken ohne phantasmata nicht stattfinden kann.25 Er betont aber auch, dass es sich nicht auf phantasmata reduzieren lässt.26 Phantasmata sind wichtig sowohl bei der Verursachung von Denkepisoden als auch bei der Repräsentation von Denkgehalten. Allerdings gibt es zu wenig einschlägige Texte, als dass Aristoteles’ Theorie sich in hinreichendem Detail rekonstruieren ließe. Es lässt sich aber mit einiger Sicherheit sagen, dass es eine solche Theorie gegeben hat27 und dass Aristoteles der Ansicht war, dass Denkgehalte durch auf bestimmte Weise prozessierte und so ›zubereitete‹ phantasmata repräsentiert werden.28 Was die Erklärung menschlicher Handlungen betrifft, so gibt die These von der kausalen Stellvertreterrolle Aristoteles die Mittel an die Hand, die kausale Effizienz menschlichen Denkens zu erklären: Phantasmata sind notwendig für die Repräsentation von Denkgehalten; da sie aber, wie wir gesehen haben, auch als kausale Stellvertreter für die Wahrnehmungen fungieren, aus denen sie hervorgegangen sind, ist anzunehmen, dass auch die phantasmata, die Denkgehalte repräsentieren, eine gewisse kausale Wirkung haben.29 Wie gestaltet sich die Prozessierung von phantasmata für die Repräsentation von Denkgegenständen? In den uns erhaltenen Texten diskutiert Aristoteles nur einen Fall ausdrücklich. Dies ist die Prozessierung derjenigen phantasmata, die der Repräsentation deliberativen Denkens dienen (phantasia bouleutikê): Die wahrnehmungsmäßige phantasia kommt, wie gesagt, auch bei den anderen Lebewesen vor, die beratungsmäßige dagegen bei denjenigen, die überlegen können. Nämlich (sich zu fragen) ob man dies oder jenes tun soll, ist bereits eine Leistung der Überlegung. Und es ist notwendig, dass sie (die Überlegung) mit einem einzigen misst: Sie sucht nämlich das Größere. Folglich ist sie fähig, aus mehreren phantasmata ein einziges zu machen. Dies ist auch die Ursache dafür, dass sie (die anderen Lebewesen) keine Meinung zu haben scheinen, (nämlich) dass sie nicht die aus einer Inferenz hervorgegangene (phantasia) haben, diese (Meinung) aber (hat) jene (phantasia). (De an. III 11, 434a5–12)
Hier ist kein Raum, die Passage im Detail zu besprechen.30 Klar scheint, dass Aristoteles glaubt, dass der Mensch sich u.a. durch seine phantasia vom Tier _____________ 25
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De mem. 1, 449b31–450a1; De an. I 1, 403a9; III 3, 427b15; III 7, 431a16f., b2; III 8, 432a8– 10. Zur Rolle materieller Faktoren bei der Erklärung von Denkvorgängen, vgl. Van der Eijck (1997). De an. III 8, 432a12–14. Corcilius (2009), 13. Vgl. etwa De an. III 11, 434a5–12; De mem. 1, 449b30ff.; für eine Interpretation des Verhältnisses von phantasia und Denken, vgl. Wedin (1988) und Caston (2009). Die Gehalte des Denkens sind als solche (d.h. ohne ihre mentalen Repräsentationen) weder materiell ausgedehnt noch effizient-kausal wirksam; De an. III 4, 429a21–b9 und De part. an. I 1, 641b4–10; vgl. Corcilius (2008), 208ff. De an. III 11, 434a5–12; vgl. Lorenz (2006), 205; Corcilius (2008), 228ff.
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unterscheidet: Die spezifisch menschliche phantasia zeichnet sich dadurch aus, dass sie solche phantasmata bilden kann, die aus der Fusion mehrerer phantasmata hervorgehen (im Text oben: »aus mehreren phantasmata ein einziges zu machen«). Zwar spricht Aristoteles hier lediglich von deliberativer (»beratungsmäßiger«) phantasia, und nicht generell von menschlicher phantasia. Es gibt allerdings gute Gründe, die Charakterisierung nicht auf Deliberationsvorgänge zu beschränken: Aristoteles gibt uns hier eine minimale Charakterisierung von Deliberationsvorgängen. Gleichzeitig damit behauptet er aber auch einen qualitativen Unterschied zwischen spezifisch menschlichen und tierischen phantasmata und arbeitet den Unterschied zwischen ihnen dort heraus, wo sie sich am wenigsten voneinander unterscheiden:31 Menschliche Deliberation besteht minimal in einer Gegenüberstellung zweier Dinge mit Bezug auf etwas Drittes, auf einen Standard, der es gestattet, festzustellen, welches der beiden einander gegenübergestellten Dinge »größer« ist. Da ›größer sein als‹ eine Relation, und kein natürlicher Gegenstand ist, den man als solchen wahrnehmen könnte, ist klar, dass er hier von der mentalen Repräsentation eines nichtnatürlichen Gegenstandes spricht. Sein Gedanke scheint folgender zu sein: Da es keinen wahrnehmbaren Gegenstand in der Welt gibt, der mit der Relation ›größer als‹ korrespondiert, mentale Repräsentationen (die phantasmata) laut Definition in De anima III 3 aber immer nur der Wahrnehmung entstammen, erfordert es bei Lebewesen, die in der Lage sind, nicht wahrnehmbare Gegenstände mental zu repräsentieren, die Fähigkeit, ihre phantasmata in einer solchen Weise zu prozessieren, dass ›Bilder‹ von solchen nicht-natürlichen Eigenschaften wie z.B. Relationen usw. dabei herauskommen. Die Fähigkeit, mehrere phantasmata zu einem einzigen zu machen, ist eine derartige Fähigkeit.32 Wichtig ist, dass diese fusionierten ›Bilder‹ nun nicht mehr in einer Abbildbeziehung zu den von ihnen repräsentierten Gegenständen stehen: Relationen und alle übrigen nichtwahrnehmbaren Eigenschaften können nicht abgebildet, sondern nur symbolisch repräsentiert werden. Aristoteles spricht in obiger Passage demnach über einen minimalen Fall symbolischer mentaler Repräsentation. Dass es ihm hier wahrscheinlich um mehr geht als nur um die Repräsentation menschlicher Deliberation, zeigt sich auch daran, dass er die besondere Formbarkeit menschlicher phantasia, die es zur Repräsentation der Gehalte deliberativen Denkens erfordert, mit der Fähigkeit in Verbindung bringt, Syllogismen zu bilden: Nur Lebewesen, die über eine phantasia verfügen, die flexibel genug ist, Fusionen mehrerer phantasmata zustande zu bringen, haben die Fähigkeit, Syllogismen zu bilden. Eine plausible Erklärung dafür ist, dass die Fusionierung _____________ 31 32
Vgl. Burnyeat (1980), 91, Anm. 29: »simplest achievement«. Man kann hier fragen, aus welchem Grund solche speziellen Repräsentationen nichtwahrnehmbarer Gehalte überhaupt erforderlich sein sollen. Die naheliegende Antwort ist, dass phantasmata für Aristoteles sowohl kausal als auch repräsentational notwendige Bedingung von Denkepisoden sind: Ohne sinnliche Assoziation in Form eines phantasma sind wir nicht in der Lage, den intelligiblen Gegenstand festzuhalten.
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von phantasmata eine repräsentationale Voraussetzung für das Bilden von Syllogismen und damit generell für menschliches vernünftiges Denken ist.
5. Aristoteles’ Phantasie Bei Aristoteles hat die außergewöhnliche Flexibilität spezifisch menschlicher phantasia nur indirekt etwas mit produktiver Phantasie zu tun. Dies liegt an der funktionalen Unselbständigkeit der phantasia, an dem Umstand, dass sie, um zu funktionieren, externer kognitiver und motivationaler Kontexte bedarf. Von daher kann phantasia nicht verantwortlich für produktive Akte sein. Phantasia ist aber wichtiger Bestandteil von Aristoteles’ zoologischer Erklärung tierischen und menschlichen Verhaltens, wobei wichtig ist, sich klar zu machen, dass dies bei ihm mentale Leistungen wie Erinnerung, Wiedererinnerung, Schlaf, Träumen, Ortsbewegung und viele andere mehr beinhaltet. Eine Theorie speziell der produktiven Phantasie als eines Ursprungs von Vorstellungen ist im Rahmen des Aristotelischen Projekts also gar nicht möglich. Es ist jedoch bemerkenswert, dass er die repräsentationalen Voraussetzungen speziell des menschlichen Denkens in einer Weise beschreibt, die den Ausdruck ›produktiv‹ durchaus rechtfertigen würde: Durch Fusion mehrerer phantasmata mentale Repräsentationen zu bilden, die nicht mehr in natürlichen Abbildrelationen zu den von ihnen repräsentierten Gehalten stehen, scheint ein genuin kreativer Akt, insofern dabei phantasmata erzeugt werden können, die mit keinem in der Natur gegebenen Gegenstand mehr korrespondieren. In diesem Sinn sind den phantasmata, die wir bilden, bei Aristoteles keine natürlichen Grenzen gesetzt. In seinem System sind die Autoren solcher Akte aber nie unsere phantasiai, sondern immer nur wir, d.h. der- oder diejenige, die die phantasmata für ihre Zwecke nutzen und in neue Kontexte stellen.33 Aristoteles liefert uns so zwar keine Theorie der produktiven Einbildungskraft, gibt uns aber alles, was wir brauchen, um die Leistungen einer solchen im Rahmen seiner zoologischen Theorie mentaler Leistungen zu erklären.
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Für die These, dass es sich bei den Bewegungsursachen für die Sequenzierungen von phantasmata im Rahmen von Denkvorgängen um Handlungskontexte handelt und also wir die Autoren unserer mentalen Repräsentationen sind, siehe Corcilius (2009).
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Plotins phantasia. Zur Theorie der Imagination WIEBKE-MARIE STOCK
Das Bildvermögen der phantasia Die phantasia, die imaginatio, die Einbildungskraft, sie ist, wie schon ihr Name zeigt, ein Bildvermögen; sie hat es mit Erscheinungen (phainesthai) und Bildern (phantasmata, imagines) zu tun. Die Erkenntnistheorie interessiert sich für sie als Erkenntnisvermögen neben Verstand, Erinnerung, Sinneswahrnehmung, ein Vermögen, dem vor allem vermittelnde Funktion zukommt; das Interesse der Ästhetik hingegen gilt der phantasia als ästhetischem Vermögen mit schöpferischer Kraft und kreativem Potential. Antike Theorien der phantasia sprechen ihr meist eine vermittelnde, keine aktiv schöpferische Rolle zu;1 oft erscheint dieses Vermögen sogar als gefährlich, da es trügerisch ist und falsche Bilder produziert; es ist ein »ambivalentes Seelenvermögen [...], das zwischen Sinneswahrnehmung und Denken vermittelt« 2. So hält beispielsweise Aristoteles sie für ein grundlegendes erkenntnismittelndes Vermögen, aber er weist auch darauf hin, dass die phantasia meist falsche Bilder schafft.3 Auch in weiteren Texten in Antike und Mittelalter ist diese Tendenz klar zu erkennen; erst später wird die phantasia als kreatives und auch als künstlerisches Vermögen entdeckt. Ein genauerer Blick in antike Theorien der Imagination zeigt jedoch, dass auch hier schon Ansätze zu erkennen sind, der phantasia eine weitergehende Funktion zuzusprechen.4 Als interessant erweist sich insbesondere der Neuplatoniker Plotin (205–270 n. Chr.), der der phantasia mehr als die traditionellplatonische niedrige Rolle zuspricht.5 In mehreren seiner Schriften befasst er sich im Kontext seiner Überlegungen zur Seele und ihren Funktionen, zu Geist, Denken, Wahrnehmung und Erinnerung auch mit der phantasia; ferner finden sich in seinen Schriften verschiedene Passagen, in denen ein Vorstellungsvermögen erkennbar wird, dem man kreatives Potential kaum wird absprechen können. _____________ 1 2 3 4 5
Vgl. Dillon (1986), 55. Vgl. Camassa u.a. (1989), 516. Vgl. Aristoteles, De an., III, 3. Siehe hierzu den Beitrag von Klaus Corcilius in diesem Band. Z.B. bei Philostrat, vgl. Camassa u.a. (1989), 516, 521. Vgl. Dillon (1986), 55, 62.
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Spiegel-Bilder Das Vorstellungsvermögen (phantastikon) gehört zu den Erkenntnisvermögen, es steht zwischen Denken und Wahrnehmung. Verschiedene Textpassagen, in denen das Vorstellungsvermögen erwähnt wird, stellen Verbindungen zwischen der Vorstellung und den unteren, nicht-rationalen Seelenvermögen her. In der Schrift I 8 [51] heißt es: »[…] eine Vorstellung […] entsteht durch den Anstoß von einem vernunftlosen Außending, und diesen Stoß nimmt die Seele auf durch das, was an ihr nicht unteilbar ist […].«6 Die Vorstellung ergibt sich aus einer Einwirkung von außen auf die unteren Seelenvermögen. Deutlicher wird die Anbindung der phantasia an diese Seelenvermögen und an die Wahrnehmung in Überlegungen aus der Schrift IV 4 [28]. Plotin diskutiert dort die »körperlichen Begierden (sômatikôn epithymiôn)«,7 die weder der Seele allein, noch dem Körper allein, sondern dem leibseelischen Ganzen zukommen. Er schreibt: […] die bewußt aufnehmende Wahrnehmung und die dem Leibe nahe Seele, die wir ›Natur‹ nennen, sie, die die Spur [der Seele] dem Leibe mitteilt, führen zur Vollendung, und zwar die ›Natur‹ das verdeutlichte Begehren, welches das Endergebnis des im Leibe anhebenden Begehrens ist, und die Wahrnehmung diese Vorstellung; und infolge dieser Vorstellung endlich verschafft die Seele dann entweder das Begehrte, der ja die Befriedigung obliegt, oder sie widersetzt sich und ist enthaltsam und kümmert sich nicht um den ›Urheber‹ des Begehrens, noch um das, was danach die Begierde hat.8
Vorstellungen dienen hier als Vermittler eines Begehrens aus dem Körper an die Seele. Erst durch die vermittelnde Vorstellung erfährt die Seele von dem Begehren des Körpers; sie kann entscheiden, ob sie das Begehren erfüllen oder zurückweisen will. Wenige Kapitel später fragt Plotin nach dem Ursprungsort des Zorns, und auch hier bringt er wieder Vorstellungen als Vermittler ins Spiel. Da sich der _____________ 6
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Plotin, Enn. I 8 [51] 15,18f. (Harder): !"#$"%&" '( )*+,- .*/,01 23456#7 '896$": '( $-# )*+,-# ':; $0< 0=> .µ6?0"E C F19C B,,G@, H# '- IG%:# I"µ(# $-# '0"?$6?6S >"E 0= )?0%896: 0T$6 $U V?3"#$: $L@ B):51µ&"@, 0T$6 $U µ6$; $"*% G"-+µD% "H-"% I# JG"#""K-". L8M$% µ'# &2 N)-O -D G/>*µ+ -"3-". Erinnerung (mnêmê) wird von Plotin als pathêma bezeichnet, das der Seele widerfährt. Harder übersetzt den Begriff mit ›Funktion‹ und setzt die aktive Funktion der Seele gegen die fließende Natur des Körpers. Dies wird jedoch der Bedeutung von pathêma nicht gerecht, die Übersetzungen »affection« (Brisson) und »experience« (Armstrong) erscheinen passender. Vgl. Plotin, Enn. IV 3 [27] 28,1–21. Vgl. hierzu Blumenthal (1971), 86f.
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dem Wahrnehmungsvermögen (aisthêtikon) kann die Erinnerung (mnêmê) nicht zugeschrieben werden, denn dann müsste sich das Wahrnehmungsvermögen auch an Gedanken erinnern, was unmöglich ist. Also wäre, fragt Plotin, vielleicht ein gemeinsames Vermögen anzunehmen, das Auffassen (antilêptikon), dem man die Erinnerung an beide zuschreiben sollte. Indessen nichts kann dem entgegenstehen, dass die Wahrnehmung für dasjenige, was sich ihrer erinnern soll, eine Vorstellung (phantasma) ist, und dass dem Vorstellungsvermögen (phantastikon) als einem vom Wahrnehmungsvermögen Verschiedenen die Erinnerung, das Festhalten zukommt.20
Die Lösung für das Problem der Erinnerung liegt in der Annahme eines anderen Vermögens, des Vorstellungsvermögens (phantastikon), das vom Wahrnehmungsvermögen verschieden ist und dem Erinnern zukommt; die Wahrnehmung sei schließlich, so Plotin, für das, was sie als Erinnerung festhalten soll, eine Vorstellung, ein phantasma. Das Vorstellungsvermögen kennzeichnet Plotin im Folgenden genauer: Dies ist es ja, in das die Wahrnehmung einmündet; ihm ist das Gesehene gegenwärtig, auch wenn die Wahrnehmung schon nicht mehr statthat. Wenn nun bei ihm die Vorstellung des schon nicht mehr Vorhandenen noch da ist, so ist das bereits eine Erinnerung. Bleibt sie nur kurze Zeit, so ist das Gedächtnis gering, bleibt sie lange Zeit, so ist der Mensch gedächtniskräftiger, weil dieses Vermögen in ihm stärker ist, so dass es nicht leicht sich wandelt und die Erinnerung abschüttelt und verliert. Folglich ist die Erinnerung dem Vorstellungsvermögen zuzuschreiben, und das Erinnern muss sich dementsprechend auf Vorstellungen beziehen.21
Das phantastikon ist der Ort, in den die Wahrnehmung mündet, d.h. der Zielpunkt der Wahrnehmung. Auch wenn die Wahrnehmung nicht mehr stattfindet, ist sie hier in Form von Vorstellungen gegenwärtig, und eben das ist Erinnerung. Was erinnert wird, sind also Vorstellungen. Das Wahrgenommene bleibt gleichsam als Bild im Gedächtnis, manches bleibt länger, anderes verschwindet schneller, je nach Stärke der Gedächtniskraft. Erinnern können wir uns aber nicht nur an Wahrnehmungen, sondern auch an Gedanken: Was aber ist es, das sich der Gedanken erinnert? Erinnert sich auch ihrer das Vorstellungsvermögen? Nun, wenn eine Vorstellung jeden Denkakt begleitet, so
_____________ 20 21
Plotin, Enn. IV 3 [27] 29, 22–24 (Harder): ! "#$%& '()*+,- ./ µ&0µ"&,*+"&.- .1 23+40µ2 56&.2+µ2 ,7&2-, '28 ./ 52&.2+'-'/ 9)): ;&.- .ZA".JA2G, [G µ< \]$R(G .A,@"µJ&0G E5,^+42- O@"+,-+4,^+2& .?-5".. @??* ;A0 < )1-2"., $%& @??* < 34. )*B2(C. ')3>?-5"., $%& )**Dµ() µE) '(>, ')3"?%µF%)1µ(G% !E *H$ '(>I 3*D3* !,, 73" 3# !(61µ()*) *H µ1)*) !,6(3%" )*B2("., '??A $%& %J2GB2(". $%3A GK3(0%. Vgl. Warren (1964), 84: »The two contrasted elements of our nature, the mental and the physical, can each at one time or another escape the consciousness of the living man. All of the states we normally call conscious occur when reason or sensation has reached imagination. The process whereby the soul acts so that it forms an image in the imagination is called antilepsis (IV 4, 13, 11–16).« Plotin, Enn. I 4 [46] 10, 3–6 (Harder): %H3#. !E L )*D. !"A 3> *H$ 8)(0;B2(" $%& < 5+6M /(0& %H3#) < /0# %J2GB2(C. $%& 7?C. ')3"?B5(C.; !(= ;A0 3# /0# ')3"?B5(C. 8),0;-µ% (N)%", (O/(0 3# %H3# 3# )*(=) $%& (N)%".
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Der Geist ist immer tätig, aber dies bedeutet Plotin zufolge nicht, dass uns dies immer bewusst ist. Es scheint, das Gewahren/Bewusstsein (antilêpsis) besteht darin und kommt dadurch zustande, daß der Denkakt sich zurückbiegt (reflektiert) und das tätige Denken an dem Lebensorgan/Leben der Seele gleichsam zurückgeworfen wird, so wie in einem Spiegel von der glatten und glänzenden Fläche, wenn sie im Ruhezustand ist.31
Plotin gibt eine doppelte Erklärung des Bewusstseins: Der Denkakt (noêma) wendet sich zurück, wird reflektiert und das tätige Denken spiegelt sich. Der Vergleich mit dem Spiegel wird im Folgenden dann weiter ausgeführt: So wie in derartigen Fällen nun bei Vorhandensein eines Spiegels das Abbild zustande kommt, ist aber der Spiegel nicht vorhanden oder nicht im richtigen Zustand, trotzdem doch das in Wirklichkeit vorhanden ist, von dem jederzeit ein Abbild entstehen könnte, so auch bei der Seele, wenn das in uns, in dem die Abbilder des Verstandes und des Geistes erscheinen, in Ruhe ist, so werden diese in ihm gesehen und gleichsam in sinnlicher Wahrnehmung erkannt mit der vorangehenden Erkenntnis, dass der Geist und der Verstand wirkt. Ist aber dieser Bereich zerbrochen durch die gestörte Harmonie des Körpers, so denken Verstand und Geist ohne Abbild und das Denken ist ohne Vorstellung. Es ist also denkbar, dass das Denken von der Vorstellung begleitet ist, wobei das Denken nicht Vorstellung ist.32
Basis für bewusstes Denken ist »das harmonische Gefüge des Leibes«; wird dieses gestört, kann der Spiegel der Vorstellung die Gedanken nicht mehr so widerspiegeln, dass sie ins bewusste Denken gelangen. Die Grundidee ist klar: In Enn. I 4, a late treatise (46), in the course of a discussion as to why we are not always conscious of the activity of nous within us, Plotinus presents phantasia as a mirror for intellectual activity (I 4, 10, 7ff.) which only performs properly when the ›surface‹ of the soul, so to speak, is unruffled by passion, and thus ›smooth‹. 33
Was aber genau ist mit der Idee einer Zurückwendung, einer Spiegelung oder auch einer Entfaltung gemeint? Es handelt sich wohl nicht – oder jedenfalls nicht primär ! um eine Selbstbewusstwerdung der Seele, sondern um die Grundlage für bewusstes Denken. Der Geist denkt immer, aber nur, wenn diese Gedanken ent_____________ 31 32
33
Plotin, Enn. I 4 [46] 10, 6–10 (Harder, leicht verändert): "#$ %&'"() * +),-./0'1 (2)#' "#$ 3-)(45#' +)#"6µ7,&),&1 ,&8 )&9µ#,&1 "#$ ,&8 :)(;3&8),&1 ,&8 "#,< ,= >?) ,?1 0@A?1 &B&) +7C45D),&1 76.'), E47(; :) "#,F7,;G 7(;$ ,= .(H&) "#$ .#µ7;=) *4@A6>&). Plotin, Enn. I 4 [46] 10,10–21(10–12 Harder; 12–21 Stock): I1 &J) :) ,&H1 ,&'&K,&'1 7#;F),&1 µL) ,&8 "#,F7,;&@ :3D)(,& ,= (MNC.&), µO 7#;F),&1 NL P µO &Q,C1 %A&),&1 :)(;3(-R 76;(4,') &S ,= (MNC.&) T) U), &Q,C "#$ 7(;$ 0@AO) *4@A-#) µL) U3&),&1 ,&8 :) *µH) ,&'&K,&@, V :µW#-)(,#' ,< ,?1 N'#)&-#1 "#$ ,&8 )&8 (X"&)-4µ#,#, :)&;Y,#' ,#8,# "#$ &B&) #X45/,Z1 3')[4"(,#' µ(,< ,?1 7;&,D;#1 3)[4(C1, \,' ] )&81 "#$ * N'6)&'# :)(;3(H. 4@3".#45D),&1 NL ,&K,&@ N'< ,O) ,&8 4[µ#,&1 ,#;#,,&µD)/) ^;µ&)-#) U)(@ (XN[.&@ * N'6)&'# "#$ ] )&81 )&(H "#$ U)(@ W#),#4-#1 * )F/4'1 ,F,(_ E4,( "#$ ,&'&8,&) U) ,' )&&H,& µ(,< W#),#4-#1 ,O) )F/4') 3-)(45#' &`" &a4/1 ,?1 )&94(C1 W#),#4-#1. Dillon (1986), 57f. Vgl. Blumenthal (1971), 89; Smith (1978), 295; Gritti (2005), 266. Anders Schibli (1989), 214, der den Spiegel als »our middle soul« bestimmt.
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faltet werden, wenn sie im Vorstellungsvermögen gespiegelt sind, denkt die individuelle Seele sie bewusst. Wenn der Spiegel da ist, entsteht ein Bild; ist er nicht da oder nicht im richtigen Zustand, so entsteht zwar kein Bild, jedoch ist die Präsenz dessen, was gespiegelt werden könnte, von der An- oder Abwesenheit des Spiegels nicht betroffen; der gespiegelte Gegenstand ist unabhängig vom Spiegel. Durch Unruhe des Körpers kann das Vorstellungsvermögen zerbrochen oder gestört werden; dann denken dianoia und nous ohne Bild (eidôlon), das Denken (noêsis) vollzieht sich ohne Vorstellung (phantasia). Denken wird also gemeinhin von einer Vorstellung begleitet, jedenfalls dann, wenn das Vorstellungsvermögen nicht gestört ist, aber es ist auch ein Denken ohne Vorstellung möglich – etwas, was Aristoteles wohl so nicht akzeptiert hätte.34 Während in IV 3 [27] nur vom noêma oder vom nous gesprochen wurde, erweitert Plotin dies hier auf die dianoia. Es geht also nicht mehr nur um Widerspiegelungen der höchsten geistigen Tätigkeit, sondern auch um Bilder des rationalen Denkens, das, diesen Ausführungen zufolge, auch nur in der Spiegelung zu Bewusstsein kommen kann. Die Formulierungen aus IV 3 [27], in denen von einer Entfaltung des noêma in den logos die Rede ist, könnten nahelegen, dass das dianoetische Denken als Entfaltung und Spiegelung des eingefalteten intuitiven Denkens zu begreifen ist.35 In der Schrift I 4 [46] aber geht es ganz explizit auch um Bilder des diskursiven Denkens. Damit diskursives Denken erinnert werden kann, muss es in bildlicher Form in das Vorstellungsvermögen aufgenommen werden; sonst wäre keine Erinnerung an Gedankengänge und Argumentationen möglich. Auch dieses Denken wird gehindert, wenn der Spiegel des Vorstellungsvermögens von Bildern aus dem Wahrnehmungsvermögen getrübt ist, wenn der Körper in Unruhe ist und zahlreiche Bildboten an die Seele sendet, die unruhig wird und nicht weiß, wie sie auf den Ansturm der Ansprüche reagieren soll. Stimmt aber, was Plotin hier in I 4 [46] schreibt, so ist auch dem Verstand (dianoia) ein unbewusstes Denken, ein Denken ohne Bilder zuzuschreiben. Wenn sich der Teil unserer Seele, in dem Bilder (eikonismata) des Denkens und des Geistes – dianoia und nous – erscheinen, in Ruhe (hêsychia) befindet, sehen wir diese und erkennen sie, gleichsam wie Sinneswahrnehmungen, aber mit dem vorangehenden Wissen, dass sie Wirkungen von nous und dianoia sind. Es handelt sich hierbei um eine Erkenntnis, die der Sinneswahrnehmung ähnlich ist, _____________ 34
35
Plotins weitere Ausführungen zu Aktivitäten, bei denen das Bewusstsein der Aktivität die Aktivität selbst schwächt, zeigen, dass in seinen Augen das fehlende Bewusstsein mitnichten grundsätzlich negativ zu bewerten ist (vgl. Plotin, Enn. I 4 [46] 10, 21–33). Das höchste Denken ohne Bewusstsein des Denkens, die nous-Werdung der Seele, steht über dem von Bewusstsein begleiteten Denken. Jedoch ist dieser Zustand, dieser Aufstieg nicht durch ein Zerbrechen oder die Störung eines bestimmten Seelenteils zu erreichen, auch nicht durch Magie oder Zauberei, sondern im geistigen Aufstieg. Das Vorstellungsvermögen des Philosophen soll nicht gestört werden, es wird vielmehr überschritten. Vgl. Smith (1978), 295f. Vgl. oben sowie die Überlegungen in Enneade IV 3 [27], 18, 1–7 wo die diskursive Überlegung (logismos) als Minderung der Selbstgenügsamkeit des Geistes präsentiert wird, als typisch für die Situation »hier«.
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eine Betrachtung von Bildern, die sich ebenso wie Bilder der Sinneswahrnehmungen in der Erinnerung befinden. Worin aber genau bestehen diese Bilder von Gedanken? In welcher Form erinnern wir uns an Gedanken? An mathematische Formeln erinnern wir uns vielleicht in bildlicher Form, in Form von Zeichnungen und Konstruktionen; Begriffe und Argumente haben wir in sprachlicher Form im Gedächtnis, vielleicht sogar in einem visuellen Bild der schriftlichen Form.36 Für die Denkerfahrungen, die das diskursive Denken überschreiten, findet Plotin in seinen Schriften immer wieder neue Bilder, die in Andeutungen und Rätseln zeigen, worin diese höchste Erfahrung des Denkens, die Einung besteht.37 Nur in solchen Bildern lässt sich von ihm überhaupt sprechen, und nur so kann sich die Seele an es erinnern.
Imagination mit/ohne pathos Als Vermittlerin zwischen Körper und Seele übermittelt das Vorstellungsvermögen Empfindungen, Leidenschaften, Begierden, Zorn etc. Der Übermittler einer Botschaft sollte aber, um sie gut zu übermitteln, nicht von ihr selbst betroffen sein, meint Plotin, sonst könne er sie nicht als treuer Bote überbringen.38 Wie steht es daher mit der Verbindung der Imagination zum pathos? [...] denn da wir die Vorstellung nicht als in unserer Verfügung stehend ansehen, können wir ja schwerlich die nach ihr Handelnden unter die selbständig Handelnden zählen; nein, wir verstehen unter der Vorstellung, die man im eigentlichen Sinne Vorstellung zu nennen hat, die erweckt wird aus den Affektionen des Lebens – durch Leere nämlich oder Gefülltsein an Nahrung und Trank werden jeweils neue Vorstellungen gleichsam geformt; wenn einer voll ist von Samen, hat er andere Vorstellungen als sonst, und so je nach der Beschaffenheit der Leibessäfte – diejenigen also, welche kraft derartiger Vorstellungen handeln, werden wir nicht unter das Handeln nach selbständigem Prinzip rechnen; [...].39
Vorstellungen in diesem Sinne entstehen aus den Widerfahrnissen, den Affektionen (pathêmata) des Leibes und gehören daher nicht zu dem, was in unserer
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Die Bilder der Gedanken können demnach Worte sein, sie müssen es aber nicht, wie Rizzerio (Rizzerio [2003], 100) schreibt: »On en déduit que, pour Plotin, l’image de la pensée intellectuelle est finalement la parole.« Vgl. hierzu z.B. Emilsson (2007), 191–193. Vgl. Plotin, Enn. IV 4 [28] 19, 28f. (mit Bezug auf die Wahrnehmung). Plotin, Enn. VI 8 [39], 3, 8–17 (Harder): !"#$ %&$ '() *&)'&+,&) -.% !*’ /µ0) #1)&2 345-)'#6 '-76 %&'’ &.'() 89:)'&6 ":6 ;) #-?+2-) '@>&2µ#); A33B 5B9 /µ#06 '() µC) *&)'&+,&), D) E) '26 %&$ *&)'&+,&) %F9,G6 #H"-2, '() !% '-I +Jµ&'-6 ':) "&KLµ@'G) !5#29-µ4)L) (%&$ 5B9 %#)J+#26 +,'G) %&$ "-':) *&)'&+,&6 -M-) A)&"3@''-F+2 %&$ "3L9J+#26 &N %&$ µ#+'O6 '26 +"49µ&'-6 E33& *&)'@P#'&2 %&$ %&K’ Q%@+'&6 "-2O'L'&6 R59:) ':) !) +Jµ&'2) '-76 %&'B 'B6 '-2&?'&6 *&)'&+,&6 !)#95-I)'&6 #-µ#)T
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Macht steht (to eph’hêmin).40 Pathos im Sinne eines Erleidens und pathos im Sinne einer Affektion sind hier eng verknüpft; Plotin »versteht Affekte als eine Art von Widerfahrnis«.41 Wer sich in seinem Handeln von ihnen leiten lässt, handelt nicht selbständig. Wird [...] die Begierde erregt, so tritt die Vorstellung des Objektes auf, gleichsam als eine Wahrnehmung, die Nachricht gibt und hinweist auf die Affektion und verlangt, daß man ihr folge und das Begehrte herbeischaffe [...].42
Über die Vorstellungen erhält die Seele Nachricht von den Bedürfnissen und Begehrlichkeiten ihres Leibes. Nun tritt oft nicht ein Bote allein vor sie, so dass sie in Ruhe entscheiden kann; vielmehr gerät sie in die Situation, von vielen verschiedenen Vorstellungen bedrängt zu werden,43 viele Urteile entstehen, was zu tun und was zu unterlassen ist; dies alles führt zu »Ratlosigkeit (aporia)«44, der beste Teil der Seele gleicht einem klugen Berater, der sich in einer lärmenden Ratsversammlung kein Gehör verschaffen kann.45 Das Bild, das Plotin entwirft, stellt die Vorstellungen (phantasiai) negativ dar; sie vermitteln Begierden und Zornanwandlungen, sie versetzen die Seele in Unruhe, hindern die Herrschaft des besten Seelenteils. Die Seele hat sich gegen die schädlichen Wirkungen dieses Ansturms von Vorstellungen zur Wehr zu setzen, will sie nicht Ratlosigkeit (aporia) riskieren. Ferner stören diese Bilder die Widerspiegelung von Gedanken und hindern uns so am bewussten Denken. Betrachtet man die Vermittlungsfunktion aber genauer, so zeigt sich, dass sie lebensnotwendig ist. Würde der belebte Körper seiner Seele nicht einmal Empfindungen von Schmerz und Hunger vermitteln können, so würde er sterben.46 Hieran erinnert auch der Name »Leben (to zên)«, mit dem Plotin in I 4 [46] das Vorstellungsvermögen bezeichnet. Der Berater der Ratsversammlung wäre nicht gut, wenn er schlechthin alle Boten, alle Begehrlichkeiten und Wünsche ignorierte oder zurückwies; als klug erweist er sich vielmehr, wenn er die richtigen Entscheidungen trifft, welche Wünsche zu erfüllen und welche abzulehnen sind. Hierfür muss er sich aber im Getümmel der Ratsversammlung durchsetzen, so dass seine Stimme gehört wird und nicht im lauten Geschrei der anderen untergeht. Höchstes Ziel ist die Haltung des Weisen, der von den Eindrücken nicht in _____________ 40
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Es handelt sich hier um andere Vorstellungen, als diejenigen, die in unserer Macht stehen, die zum eph’hêmin gehören, d.h. die Bilder, die wir vor unser geistiges Auge rufen können; vgl. Aristoteles, De an., III, 3, 427b17–20; Alexander von Aphrodisias, De an., 67,1f. Caluori (2008), 127. Plotin, Enn. IV 4 [28] 17, 11–14 (Harder): !"#$ %&' "( )*+,-µ."+/($ /+$.,0, 12,3$ 4 5#$"#67# "89"8- 8:8$ #;6,.6+< =*#%%32"+/> /#? µ.$-"+/> "8@ *A,8< =*#+"8@6# 6-$B*36,#+ /#? )/*8'7C3+$ "( )*+,-µ89µ3$8$D Vgl. Plotin, Enn. IV 4 [28] 17, 8f. Plotin, Enn. IV 4 [28] 17, 21 (Harder). Vgl. Plotin, Enn. IV 4 [28] 17, 21–27. Vgl. Plotin, Enn. IV 4 [28], 24, 1–9. Vgl. Caluori (2008), 132: »Denn es gehört zu den Aufgaben der Seele, sich um den Leib zu kümmern.« Dazu muss sie wissen, was er braucht, und eben dies erfährt sie durch die Vorstellung.
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gleicher Weise betroffen wird wie andere Menschen; die Eindrücke »dringen nicht jeweils bis in sein Inneres, die übrigen Eindrücke so wenig wie vor allem Schmerz und Unlust«47. Die Vorstellungen, die von Schmerzen oder Lust ausgelöst werden, gelangen dann gar nicht alle ins Bewusstsein der Seele; um dies zu erreichen, muss der Weise den Spiegel seiner Seele gewissermaßen nach oben wenden, den Gedanken entgegen, so dass sich das Bewusstsein hauptsächlich auf das Denken richtet und nicht auf die Wahrnehmungsbilder. Der Weise verstärkt also etwas, was bei der Wahrnehmung immer schon geschieht, dass nämlich gar nicht alle Eindrücke aufgenommen und erinnert werden.48 Hier ist das Vorstellungsvermögen eng mit den Passionen verbunden, es vermittelt sie der Seele. Jedoch spiegelt das Vorstellungsvermögen auch Gedanken und ragt so in den Bereich des apathês hinein. Deutlich wird die Grenzlage der Imagination auch, wenn man die Verbindung von Erinnerungen zum pathos genauer betrachtet. Bei der Erinnerung an einen Wutausbruch, bei dem Bericht von einer Situation, die einen zum Zorn gereizt hat, kann eben diese Erinnerung einen wieder in den Zustand des Zorns versetzen, aber sie muss es nicht. Jemand kann von einer Situation, in der er einen Wutausbruch hatte, berichten und sich dabei ereifern und gleich wieder zornig werden; offenbar wirken dann die Vorstellungsbilder, die aus der Erinnerung aufgerufen werden, auf den Körper ein und führen zu den entsprechenden körperlichen Symptomen. Ebenso möglich ist aber ein Bericht von derselben Situation, die nicht zu diesen Symptomen führt; in diesem Fall werden die Vorstellungsbilder distanziert und gelassen angesehen, sie werden nur betrachtet, sie haben aber keine körperlichen Konsequenzen.49 Vorstellungsbilder in der Erinnerung, die aus einem pathos oder verknüpft mit pathos entstanden sind, können also, wenn sie wieder aus der Erinnerung hervorgerufen werden, mit, aber auch ohne pathos betrachtet werden. Das Vorstellungsvermögen ist keineswegs notwendig mit dem pathos verknüpft, die Seele kann Bilder des pathos auch ohne pathos betrachten. Plotin schreibt: Wie aber [ist es mit der Erinnerung] an Freunde, an Frau und Kinder? An die Heimat und an das, an das sich der Edle nicht unpassend erinnert? Nun, das eine [d.h. das Vorstellungsvermögen] hat die Erinnerungen an diese wohl mit dem jeweiligen pathos, der andere [d.h. der Edle] ohne pathos. Das pathos war wohl von Anfang in jenem enthalten und die edleren pathê in der guten [Seele], sofern sie mit der anderen zusammen ist.50
Trotz der Bindung des Vorstellungsvermögens an Empfindungen ist – als eine höhere Form – eine Erinnerung ohne pathos möglich. An das, was einst Empfin_____________ 47
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Plotin, Enn. I 4 [46] 8, 11f. (Harder): !" µ#$%& '!( )*+, -./+'/ !0') '1 233/, !0') 435)&61 !0') '1 3789%:. Vgl. Plotin, Enn. IV 4 [28] 8, 1–21. Vgl. die ganz ähnliche Grundidee bei Aristoteles, der von Vorstellungen spricht, die Schreckliches zeigen, die wir aber wie Gemälde gerne und ohne Furcht betrachten (De an. III, 3, 427b23f.). Siehe hierzu den Beitrag von Klaus Corcilius in diesem Band. Plotin, Enn. IV 3 [27] 32, 1–6 (Stock).
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dungen ausgelöst hat oder was bei anderen Empfindungen auslöst, erinnert sich die gute Seele ohne pathos. Auf diese Weise würde sich wohl auch die vom Körper getrennte gute Seele an Geschehnisse des Lebens erinnern.51 In gleicher Weise verhält sich der Weise gegenüber den Vorstellungen der Affekte und Empfindungen, dem Schmerz beispielsweise. »Er wird ihn zur Kenntnis nehmen, ohne aber selbst (d.h. in seiner Seele) emotional davon betroffen zu sein.«52 Möglicherweise ist eben diese Bestimmung der höheren Form der Imagination die Lösung für das Problem der zwei Vorstellungsvermögen, das sich aus Plotins Überlegungen in der Schrift IV 3 [27] ergibt. Da Plotin der oberen und der unteren Seele Erinnerung zuspricht, muss es, vermutet er, zwei Vorstellungsvermögen geben.53 Als problematisch erweist sich aber die Frage, wie die Relation zwischen diesen beiden Vermögen auszusehen hat. Solange die beiden Seelen getrennt sind, mögen sie ja jede ein solches besitzen; sind sie aber vereinigt, bei uns im Menschendasein, wie soll es mit den beiden Vorstellungsvermögen stehen und in welcher der beiden Seelen findet die Erinnerung statt? Wenn in beiden, dann müssen die Vorstellungen jeweils doppelt sein; denn es kann ja nicht das Vermögen der einen auf das Gedachte, das der anderen auf das Wahrgenommene sich richten, denn dann ergäben sich zwei völlig getrennte Lebewesen, die nichts Gemeinsames miteinander hätten.54
Nähme man an, dass die eine Vorstellungskraft, die der unteren Seele, sich nur auf Wahrnehmungen richtet, die andere, die der oberen Seele, nur auf Gedanken, so wäre kein einheitliches Lebewesen gegeben. Es ist also nicht möglich, Plotins zwei Imaginationsvermögen als ›conceptual imagination‹ und ›sensitive imagination‹ zu deuten, wie Warren dies versucht.55 Gegenstand beider Vermögen muss _____________ 51 52 53 54
55
Vgl. Dillon (1986), 60; Warren (1965), 254. Caluori (2008), 138. Vgl. Plotin, Enn. IV 3 [27] 31,1f. (Harder): »Indessen, wenn die Erinnerung dem Vorstellungsvermögen zugehört, jede der beiden Seelen aber, wie ausgeführt, über Erinnerung verfügt, dann muß es zwei Vorstellungsvermögen geben.« Plotin, Enn. IV 3 [27] 31, 2–8 (Harder): !"#$% µ&' ()' ()*+, -./0"*+' 12304#+, -' 5& 06 +706 8+#’ 9µ:' 8;% 0< 5=( 2+$ 0>', +70;' -??>'40+,; @A µ&' ?+& ?@@+. A6/&%+ #/= /"#$*+&, B' 1C) D6@9' %E F8Gµ/*1* µ&µ17*%+&, ,@@’ ,*+%8$)1H5&* I6< %1J' @KL1H', IM N* O 425&'. !P%+ ;+< 0%& 61@@( 6+8’ +Q%9* 61&175& ;+< 6815%&>$+5& #$, 0%R %& I@@/S6/&, B' T)1H5+& %E ;-@@1'. U6/< ;+< F V/S+' %E* WS+ 68E' 1C#:* +"5>X%E* 61&Y5+', ,@@( @+Z[* 1\1' ]* L$*1&%1, /" Oµ=* F ^/J' #&’ _µµ-%`* I>$@1& 4+*a*+&. Dillon (1986), 61f.
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Künstler sind Wissende, sie haben eine Kenntnis der Schönheit und der logoi; der Künstler zeigt sich gleichsam als Philosoph, der aus dem Wissen heraus ein Werk vollbringt.
Schluss Plotins Theorie der Imagination stellt eine Besonderheit in der antiken Philosophie dar; seine Nachfolger haben sich meist einer orthodoxeren platonischen oder aristotelischen Deutung der phantasia zugewandt: Nevertheless, the concept of the imagination as receptive of noetic perceptions as well as of sense-perceptions does persist in the tradition, and leave the way open for a higher valuation of it among Renaissance Platonists.71
Diese höhere Wertung betrifft insbesondere ihre Funktion in Prozessen geistiger Erkenntnis: What his speculations have led to, for the first time, as far as we can see (our knowledge of Middle Platonic speculation is sadly deficient), is the opening of a rôle for phantasia as the servant of intellectual (and theological) speculation, such as was not open to it in traditional Platonism.72
Plotins Theorie der Imagination zeichnet sich aber nicht nur dadurch aus, dass er ihr diese Funktion als Helferin geistiger Spekulationen zuspricht, sondern auch in der Vielschichtigkeit seiner Konzeption.73 Plotin schreibt der Imagination eine Funktion bei geistigen Prozessen zu, aber er erhält auch ihre Funktion als Vermittlerin von pathê. Hierdurch erweist sich die Vorstellungkraft in Plotins Werk als überraschend vielschichtig. Sie ist ein Vermittlungsvermögen zwischen Körper und Seele, das sowohl lebensnotwendig ist als auch störend; sie ist eng an die Empfindung/Affektion, das pathos, gebunden, kann aber auch ohne pathos funktionieren. Jegliche Erinnerung und alles bewusste Denken beruht auf ihr. Nicht zuletzt ist sie involviert in geistige und künstlerische Tätigkeiten. Im Vorstellungsvermögen kreuzen sich passive und aktive Momente; Vorstellungen und Erinnerung erweisen sich als pathêma, als Widerfahrnis, aber Vorstellungen sind auch eph’hêmin, und schon in der Auswahl der in das Gedächtnis aufgenommenen Bilder steckt ein aktives Moment, das in der geistigen und künstlerischen Vorstellungstätigkeit zur Geltung kommt. Künstlerische und geistige Tätigkeiten werden hierbei parallelisiert; die Vorgehensweise des Philosophen, der ein geistiges Bild entwickelt, und eines Künstlers, der eine Statue schafft, ähneln einander, denn beide greifen auf das Bildreservoir der Vorstellungskraft zu und nutzen es kreativ. _____________ 71 72 73
Dillon (1986), 63. Dillon (1986), 57. Vgl. Blumenthal (1976), 51: »this wide variety of functions«.
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Zugleich ist die Vorstellungskraft das zentrale Verbindungsmittel von Seele und Körper: »a transmitter and mediator between the different sections of the soul«74. Damit Wahrnehmung zustande kommt, genügt nicht die Anwesenheit von Seele und Körper, vielmehr ist etwas »Drittes« nötig, das zwischen Körper und Seele vermittelt.75 Auch wenn Plotin an dieser Stelle die Imagination nicht ausdrücklich erwähnt, so ist doch klar, dass in diesem Vermittlungsprozess die Vorstellungen eine zentrale Rolle spielen, denn eben als Vorstellungen gelangen die Wahrnehmungen in die Seele. Auch alle Empfindungen des Körpers, Begehren und Zorn, werden der Seele über die Vorstellungskraft bewusst gemacht; hätte sie keine Vorstellungen, so entginge ihr, was ihren Körper bewegt und betrifft. Ohne sie gäbe es keinen lebendigen Körper, keine Verbindung von Leib und Seele. Daher trägt dieses Vermögen zu Recht den Namen »das Leben der Seele (to zên tês psychês)«.76
_____________ 74
75 76
Blumenthal (1976), 53. Vgl. Gritti (2005), 253: »ponte«; vgl. ebd., 254: »un trait d’union tra attività psichiche inferiori, quali sensazione et desiderio, e superiori, come il raggionamento discorsivo«; ebd., 254: »che essa non solo mette a disposizione della ragione i dati raccolti dai sensi, ma riduce a conoscenza quasi-sensibile i concetti intelligibili et così interviene anche nei rapporti tra intelletto et !"#$%"&; [...]«. Plotin, Enn. IV 4 [28] 23, 18–31 (Harder). Plotin, Enn. I 4 [46] 10, 8 (Stock): '( )*$ '*+ ,-.*+.
Plotins phantasia
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trovare cose non vedute. Naturnachahmung und Phantasie in Cennino Cenninis Libro dell’arte PETER SEILER
Anima enim facit novas compositiones, licet non faciat novas res; et secundum quod fingit interius, sic etiam depingit et sculpsit exterius Bonaventura, 3 Sent. 37, dubitum 11
Ceninno Cenninis Libro dell’arte gilt als früher Vorbote einer Theorie der Malerei, die den Begriff der Phantasie als einer Fähigkeit, die Neues bildet, ins Zentrum stellt.2 Als Beleg fungiert ein Passus aus dem ersten Kapitel: […] e quest’è un’arte che .ssi chiama dipingere, che conviene avere fantasia e hoperazione di mano, di trovare cose non vedute, chacciandosi sotto ombra di naturali, e fermarle con la mano, dando a dimostrare quello che nonne sia. E con ragione merita metterla a .ssedere in secondo grado alla scienza e choronarla di poexia. La ragione è questa: che’l poeta, con la scienza, per una che à, il fa degnio e .llibero di potere comporre e .llegare insieme sì e .nno come gli piacie, secondo suo volontà. Per lo simile, al dipintore dato è libertà potere comporre una figura ritta, a sedere, mezzo huomo mezzo cavallo, sì chome gli piace, secondo suo’ fantasia.3
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Liouba Popoff danke ich für engagierte und kompetente Hilfe bei der Literaturbeschaffung, Ursula Rombach für Verbesserungen und Ergänzungen der Übersetzungen lateinischer Textstellen und eine mehrfache kritische Lektüre des Textes. Flasch (1965), 295, Anm. 122. Bonaventura, Comm. in III. lib. Sent. dist. 37, dub. 1, hier: Bd. 3. Schlosser (1924), 79: »Cennini (führt) sehr merkwürdigerweise einen Faktor ein, der seine Kunst schon der unsrigen nähert, freilich schon in der Spekulation des späten Altertums seine Rolle spielt: die künstlerische Phantasie«. Vesco (1919), 71; Venturi (1925), 239; Prandi (1962), 364–365; Venturi (1964), 91; Boscovits (1973), 206 und 222; Kemp (1977), 369: »Cennini’s remarkable exploitation of fantasia almost certainly takes its immediate inspiration from medieval rather than first-hand classical sources. [...] possible medieval sources for Cennini’s ideas in no way diminish the precocity and novelty of his far-reaching claims.« Magagnato (1982), X–XII; Summers (1981), 37–38, 133; Gramaccini (1985), 202–203; Kemp (1997), 131 und 309–310; Warnke (1997), 259–260; Serchi, in: Cennini, Il libro dell'arte/Ed. Serchi (1999), 8; Kruse (2000), 309; Eusterschulte (2000), 798–799; Belting (2001a), 145; Wolf (2002), 236– 237; Kruse (2003), 81; Klier (2004), 54; Klier (2007), 18–20; Kruse (2010), 289–292. Cennini, Il libro dell'arte/Ed. Frezzato (2008), 62.
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Peter Seiler [...] und das ist eine Kunst, die man Malerei nennt, der es zukommt, Phantasie und Tätigkeit der Hand zu haben, um nicht gesehene Dinge zu finden, die sich unter dem Schatten der natürlichen (Dinge) verbergen, und um diese mit der Hand festzuhalten, und auf diese Weise zu zeigen, was nicht ist. Und mit Recht verdient sie (die Malerei) auf der zweiten Stufe (nach) der Wissenschaft zu sitzen und mit Poesie gekrönt zu werden. Der Grund ist dieser: dass der Dichter mit der Wissenschaft – deswegen hat er eine – würdig und frei ist, ja und nein zusammenzusetzen und verbinden zu können, wie es ihm gefällt, seinem Willen folgend. Auf ähnliche Weise ist dem Maler Freiheit gegeben, eine Figur zusammenzusetzen, aufrecht, sitzend, halb Mensch, halb Pferd, so wie es ihm gefällt, nach seiner Phantasie.4
Der Passus, der häufig als Cenninis »Malereidefinition« bezeichnet wird, enthält eine Reihe von Verständnisschwierigkeiten, die nicht zuletzt anhand der zahlreichen divergierenden Übersetzungen und Kommentierungen deutlich werden. Da diese aber gleichwohl in der vorherrschenden Gesamteinschätzung konvergieren, werden sie zumeist übergangen. Allen Interpretationen ist die Auffassung gemein, dass Cennini durch die Verbindung von fantasia und operazione di mano den Kerngedanken seines Malereiverständnisses zum Ausdruck bringt5 und dass er mit allem Nachdruck der kreativen Seite künstlerischen Schaffens (Erfindungsgabe und Erfindungsfreiheit) eine zentrale Rolle einräumt. Ein genereller Konsens besteht auch darin, dass antike Referenztexte für Cenninis Malereiverständnis relevant waren. Um welche es sich handelte und ob sich Cennini ihre Inhalte direkt durch eigene Lektüre oder durch indirekte Vermittlung aneignete, wird unterschiedlich beantwortet. Genannt werden Aristoteles,6 Philostrat,7 Horaz,8 Quintilian9 und Plinius10. Im Folgenden soll gezeigt werden, dass der Status, den Cennini der Phantasie einräumt, deutlich geringer ist als gemeinhin angenommen und seine Ausführungen zur Erfindungsfreiheit des Malers nicht ausreichen, um ihn als Vorläufer moderner Vorstellungen künstlerischer Kreativität einzustufen. Bereits die unmittelbar vorausgehenden Formulierungen, vor allem aber auch seine Äußerungen über verstandesgemäße, richtige Naturnachahmung geben _____________ 4 5
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Cennini, Il libro dell’arte, Übers. Löhr (2008), 10 (mit Änderungen). Zuletzt Gründler (2010), 74: »Es war Cennino Cennini, der die Phantasie in seinem Libro dell’arte zu Beginn des 15. Jahrhunderts positiv konnotierte und sie zum Ausgangspunkt der künstlerischen Tätigkeit werden ließ.« Kruse (2010), 289: »Die arte di dipingere erfordert zuallererst Vorstellungsvermögen (fantasia), ein Begriff den Cennini als erster nachantiker Autor in die Theorie der Malerei einführt [...].« Gramaccini (1985), 206; Kruse (2000), 310; Eusterschulte (2000), 798; Kruse (2010), 291, Anm. 47. Kruse (2003), 75, Anm. 66. Schlosser (1924), 80; Venturi (1925), 239; Magagnato (1982), X–XI; Bolland (1996), 469; Pardo (1997), 44, Anm. 18; Kruse (2000), 313; Eusterschulte (2000), 799; Pfisterer (2002a), 262; Kruse (2003), 75, 80 und 132; Kruse (2010), 291. Venturi (1925), 239; Venturi (1964), 91; Kruse (2000), 309; Kruse (2003), 74–75; Kruse (2010), 289–290, 291 Anm. 48. Gramaccini (1985), 206–207; Kruse (2000), 309–310; Kruse (2003), 74; Kruse (2010), 290.
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Anlass zu einer erneuten Lektüre des Libro und zur Revision der bisherigen Kommentierungen seines Malereiverständnisses. Der aus Colle Val d’Elsa stammende Maler fokussiert im ersten Kapitel seines Libro dell’arte nicht nur das Zusammenwirken von Phantasie und Hand als »Ausgangspunkt der künstlerischen Tätigkeit«.11 Die Malerei wird im Libro als wissensbasierte Kunst (scienza) präsentiert. Cennini reklamiert nacheinander zwei Erfordernisse für ihre Ausübung, wobei er jeweils dieselbe Wendung (»la quale conviene aver«) benutzt: an erster Stelle nennt er die Verbindung von Wissen und Handtätigkeit und erst an zweiter die Verbindung von Phantasie und Handtätigkeit. Im Anschluss an den Sündenfall und die Vertreibung der Stammeltern aus dem Paradies schildert Cennini die Einführung der arti bisognevoli, die einerseits alle auf der scienza (Philosophie) basieren, aber sich andererseits hinsichtlich ihres größeren oder kleineren Wissens (scienza) auch unterscheiden: Onde cognoscendo Adam il difetto per lui commesso, esendo dotato da Dio sì nobilmente sì come radice, principio e padre di tutti noi, rivenne di sua scienza di bisogno era trovare modo da vivere manualmente; e chosì egli incominciò con la zappa e Eva col filare; poi seguitò molt’arti bisognevoli e diferenziate l’una dall’altra, e fu ed è di magiore scienzia l’una che l’altra, ché tutte non potevano essere uguali: perché la più degnia è la scie[n]zia; apresso di quella, seghuitò alchune discendentii da quella, la quale conviene avere fondamento da quella, chon operazione di mano; e quest’è un’arte che .ssi chiama dipingere, che conviene avere fantasia e hoperazione di mano [...]12 Als nun Adam den von ihm begangenen Fehler erkannte und weil er von Gott als unser aller Wurzel, Ursprung und Vater so großzügig begabt worden war, kam er durch seine Weisheit darauf, dass es nottat, ein Mittel zu finden, um von der Arbeit Hände zu leben. Und so begann er mit dem Spaten und Eva mit dem Spinnen; danach ließ er viele notwendige und voneinander verschiedene Kunstfertigkeiten folgen, und es war und ist eine von größerem Wissensgehalt als die andere, denn alle konnten nicht gleich [darin] sein, denn die eine Wissenschaft ist die würdigste. Neben dieser folgt eine, welche von ihr abstammt, und ihrer als Grundlage bedarf, sowie der Tätigkeit der Hand; und das ist eine Kunst, die man Malerei nennt, für die es der Fantasie bedarf und des Hand-Werks [...].13
Die Wissenschaft der Malerei (scienza), die der Philosophie (la scienza)14 ihr Fundament verdankt und mit der Handtätigkeit (operazione di mano) verknüpft ist, erfordert Intellekt. Vom Intellekt (intelletto) und vom Verstand (ragione) des Malers ist im Libro dell’arte häufiger die Rede als von seiner Phantasie _____________ 11 12 13 14
Gründler (2010), 74. Cennini, Il libro dell'arte/Ed. Frezzato (2008), 62. Cennini, Il libro dell'arte/Übers. Löhr (2008), 10. Zur Bedeutung der Philosphie als der das durch die verschiedenen (freien) Künste erwerbbare Wissen vereinenden Wissenschaft sowie zu der Vorstellung der Stufen philosophischen Wissens siehe Kobusch (1989), 634 und bes. 637 zu Hugo von St. Viktor, der auch die mechanischen Künste einbezieht sowie Kruse (2000), 308 und Kruse (2003), 73 (mit Hinweis auf Brunetto Latini).
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(fantasia). Das zur Ausübung der Malerei erforderliche Wissen wird in den Kapiteln 5–189 in zahlreichen technischen Verfahren und Rezepten mit verstandesgemäßen Begründungen (ragioni) ausführlich dargelegt. Von der Phantasie bzw. von der Verbindung von Phantasie und Handtätigkeit ist dagegen nur noch an drei weiteren Stellen explizit die Rede (Kap. 27, 140, 173).15 Die nächstfolgende Stelle befindet sich in Kap. 27, d.h. innerhalb der Kapitelserie, die dem Zeichnen gewidmet ist und in der Cennini auch seine Auffassungen über Naturnachahmung darlegt (vor allem in Kap. 28). Die beiden übrigen betreffen das Zeichnen von Figuren in Vergoldungen und die Gestaltung von Farbkontrasten. Die Begrenzung der »Malereidefinition« Cenninis auf den eingangs zitierten Passus und die mit ihr einhergehende Ausblendung von Zeichnung (disegno), Naturnachahmung (ritrarre sempre del naturale) und Verstand (ragione, intelletto) ist die Hauptursache für die gängige Überbewertung der Phantasie bzw. ihrer kreativen (vermeintlich moderne Vorstellungen antizipierenden) Faktoren.
Erfindung und Naturnachahmung Bereits früh hat man versucht, Unklarheiten, die mit Cenninis teils umständlichen, teils stark verkürzten, teils durch begriffliche Mehrdeutigkeiten belasteten Formulierungen verbunden sind, semantisch zu präzisieren, wobei sich die Formulierungsvorschläge mitunter von dem tatsächlichen Wortlaut erheblich entfernten. Im deutschsprachigen Raum hat Albert Ilg mit seiner Übersetzung noch heute gängigen Vereinfachungen vorgearbeitet.16 Ilg übersetzte »di trovare cose non vedute« mit »um nie gesehene Dinge zu erfinden«,17 und deutete den Vorgang dadurch als Akt reiner Neuschöpfung, obwohl der unmittelbar folgende Nebensatz (»chacciandosi sotto ombra di naturali«) seinem Wortlaut nach auf bereits vorhandene »Dinge« hinweist, die aufgrund ihres Verborgenseins unter naturgemäßen Schatten ungesehen sind und nur mit der Hilfe von Phantasie und Handtätigkeit erfasst werden können (»conviene avere fantasia e hoperazione di mano di trovare cose non vedute [...] e fermarle con la mano«). Ohne die Frage aufzuwerfen, was Cennini mit (ungesehenen) Dingen konkret gemeint haben könnte, fasste _____________ 15 16
17
Cennini, Il libro dell'arte/Ed. Frezzato (2008), 80, 162, 197. Cennini, Il libro dell'arte/Übers. Ilg (1888), 4: »[...] weil die Weisheit das Allerwürdigste ist. Eine von dieser herkommende, welche auf ihre Grundlagen samt der Ausführung mit den Händen zurückzielt, ist eine Kunst, welche man Malerei nennt, welche zugleich mit der Ausführung der Hand Phantasie erfordert, um nie gesehene Dinge zu erfinden (indem man sie in die Hülle des Natürlichen steckt) und sie mit der Hand festzuhalten, indem als wirklich vorzustellen ist, was nicht vorhanden.« Cennini, Il libro dell'arte/Übers. Ilg (1888), 4; ebenso von: Dresdner (1968), 52; Kruse (2000), 308 und 309: »Im ersten Teil der Definition wird die Malerei als kreativer medialer Prozess definiert«; Kruse (2003), 73; Krüger (2001), 42 und 123; Wolf (2002), 237; Pfisterer (2002), 271; Pfisterer (2002a), 262; Kruse (2010), 289 – In der englischsprachigen Literatur findet man dagegen die u.a. in Cennini Ed. Thompson (1960), 1 vorhandene Übersetzung »to discover things not seen.«
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Ilg den erläuternden Attributivsatz »chacciandosi sotto ombra di naturali« als Hinweis auf ein Darstellungsverfahren für erfundene Dinge auf. Durch seine Übersetzung »indem man sie in die Hülle des Natürlichen steckt«18 präsentierte er das natürliche Verborgensein der Dinge als einen aktiven Vorgang des Verhüllens der Dinge durch den Maler, wobei er unter »Hülle des Natürlichen« (ombra di naturali) ganz allgemein die Erscheinungsformen (sichtbarer, vorhandener) natürlicher Dinge meinte. Das zeigt auch seine Übersetzung des letzten Teils des Satzes, dem er, nicht zuletzt aufgrund des bis vor wenigen Jahren in allen Editionen gebotenen Wortlauts (»dando a dimostrare quello che non è, sia« statt »quello che nonne sia«),19 glaubte, eine bezüglich ihres ontologischen Gehalts letztlich unklare Aussage über die angestrebte illusionistische Wirkung malerischer Erfindungen entnehmen zu können (»indem als wirklich vorzustellen ist, was nicht vorhanden«).20 Nach Ilgs Übersetzung hätte Cennini die Malerei als ein bildliches Darstellungsverfahren aufgefasst, das der integumentalen Poetik entspricht,21 und zugleich eine Bildwirklichkeit mit eigenem ontologischem Anspruch generiert.22 Die Vorstellung der Malerei als Medium einer mit Hilfe produktiver Phantasietätigkeit generierten poetischen Scheinwelt, einer Malerei, die sich nur äußerlich, lediglich um den Effekt der Wirklichkeitsillusion zu erzielen, an den sichtbaren Dingen der Natur orientiert, im Wesentlichen aber über eine umfassende, an Naturwahrheiten nicht gebundene poetische Lizenz verfügt, glaubte auch Venturi Cenninis »Malereidefinition« entnehmen zu können: _____________ 18
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Ebenso Brunello, in: Cennini, Il libro dell’arte/Ed. Magagnato/Brunello (1982), 4, Anm. 1; Pardo (1997), 44; Krüger (2001), 42 und 123; Pfisterer (2002), 271 und Pfisterer (2002a) mit modifizierter Übersetzung; Wolf (2002), 237. Thompson, in: Cennini, Il libro dell’arte/Ed. Thompson (1960), 1, übersetzt korrekt: »things not seen, hiding themselves under the shadow of natural objects«; ebenso Kruse (2000), 308: »Dinge [...], welche sich im Schatten der natürlichen Dinge verbergen (cacciandosi sotto ombra di naturali)«. Löhr (2008c), 167 kommentiert: »Sembra trattarsi [...] di un processo dell’evidenza che mostra anche ciò che esiste nella natura in modo latente e che prima non era visibile. Questo passo resta comunque di difficile comprensione.« Wenig sinnvoll ist die Annahme von Gramaccini (1985), 202, derzufolge »Zufallsbilder« in die Kategorie »nicht gesehene Dinge, die sich unter dem Schatten der natürlichen verbergen« gehören. Vgl. hierzu Cennini, Il libro dell'arte/Ed. Frezzato (2008), 62 mit Anm. 1. Zu dieser Emendation vgl. Anm. 36. Cennini, Il libro dell'arte/Übers. Ilg (1888), 4. Vgl. hierzu die in dieselbe Richtung gehenden Interpretationen von Pardo (1997), 44; Krüger (2001), 39–42; Wolf (2002), 237. Vgl. Kemp (1997), 131 und 310: »man fixiert und gestaltet mit der Hand Dinge, die man nicht mit Augen sah, und stellt sie als wirklich existierend dar, indem man ihnen den Schein des Natürlichen gibt«; Summers (1981), 41–55, bes. 51: »Thus by definition painting has the positive paradoxical goal of creating illusion in the full awareness that it is illusion.« Kruse (2000), 309, glaubte »eine mittelalterliche Ontologie der Malerei im Stile des Alanus de Insulis« feststellen zu können«, vgl. auch 311–312; ebenso Kruse (2003), 74; Krüger (2001), 123 (»das, was nicht ist, darzubieten, als sei es«; Wolf (2002), 237; Pfisterer (2002a), 263: »(man) stellt so das eigentlich Nicht-Existente als wirklich dar, indem man ihm den Schein des Natürlichen gibt«. Kruse (2003), 77. Zu Kruses problematischer Interpretation der Äußerungen des Alanus ab Insulis über Malerei siehe Anm. 39.
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Peter Seiler Questa definizione [...] grandeggia ne’secoli. Bisogna creare come la natura crea (cacciandosi sotto ombra di naturali) e non imitare ciò che la natura ha creato; anzi bisogna creare ciò che non si è mai veduto in natura (trovare cose non vedute). Bisogna illudere, bisogna che la fantasia si faccia realtà per l’illusione: ma bisogna pur sempre che l’arte rimanga realità fantastica. Per giungere a tanto Cennino può essere stato aiutato da Quintiliano: visiones quas !"#$"%í"& Graeci vocant, per quas imagines rerum absentium ita repraesentantur animo, ut eas cernere oculis ac praesentes habere videamur [VI,2,29]. Eppure, anche se l’influsso di Quintiliano sul Cennini fu reale, quale importanza nuova è assegnata all’idea applicandola alla pittura anzi che alle visioni! Una semplice osservazione di un fenomeno naturale diventa definizione di un’attività spirituale. A traverso tutto il Rinascimento non c’è più una voce così alta, una coscienza così cristallina del carattere creativo dell’arte. Sembra che un occhio vergine si affacci alla realità: mantiene l’idealità del passato e l’imprime nella realità che scopre, mantiene una sintesi che poi si sperderà. È così definita dal Cennini non l’arte in generale, ma un’arte che gli è cara: l’arte di Giotto.23
Venturi glaubte, mit der Formulierung »creare come la natura crea (cacciandosi sotto ombra di naturali) e non imitare ciò che la natura ha creato«, eine radikal neue, in der Renaissance nur zögerlich anerkannte Erweiterung der Lizenz der Phantasie beschreiben zu könnnen, obwohl Cennini sich mit allem Nachdruck zum Zeichnen nach der Natur (ritrarre sempre dal naturale) bekannte.24 Panofsky gelangte in seiner ein Jahr zuvor publizierten Studie Idea zu einer diametral entgegengesetzten Einschätzung. Er betonte, dass im Libro dell’arte Naturnachahmung »nicht nur im Sinne einer Parallelisierung«, sondern auch »im Sinne einer Bezugsetzung aufgefasst« wurde.25 Anders als Venturi sah er Cennini vorrangig als Protagonisten dieser neuen künstlerischen Einstellung zur Natur, deren Etablierung man bereits im 14. Jahrhundert vor allem als historische Leistung Giottos auffasste.26 Panofsky rekurrierte allerdings nicht auf das Kap. 1 des Libro dell arte, sondern auf das Kap. 88 (»El modo del ritrarre una montagnia del naturale«): Se vuoi pigliare buona maniera di montagnie e .cche paino naturali, togli di pietre grandi, che sieno scogliose e non pulite; e .rritra’ne del naturale, daendo i lumi e schuro secondo che .lla ragione t’acchonsente.27 Wenn du Gebirge in einer guten Weise zeichnen willst, welche natürlich scheinen, so nimm große Steine, rau und unpoliert. Und zeichne sie nach der Natur, indem du ihnen Licht und Schatten verleihst, je nachdem es Dir der Verstand erlaubt.28
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Venturi (1925), 239; ebenso Venturi (1964), 91; Magagnato (1982), XII; Chastel (1977), 32: »interpretation naivement ›moderniste‹« Dabei hat Venturi (1925), 240, Cenninis Forderung der Naturnachahmung durchaus wahrgenommen. Panofsky (1975), 22. Zur »imitatio naturae als Strukturanalogie« siehe auch Flasch (1965), 282– 284 und 304–305 (mit kritischen Einschänkungen zu Panofskys Auffassungen). Bialostocki (1963/1988), 65. Cennini, Il libro dell'arte/Ed. Frezzato (2008), 129. Cennini, Il libro dell'arte/Übers. Ilg (1888), 59 (mit Veränderungen).
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Für Panofsky bildete die in diesem wie auch in Kap. 28 zum Ausdruck gebrachte Einstellung zur Natur eine Kernaussage des Malereiverständnisses Cenninis, die ihn mit der »theoretischen und historischen Kunstschriftstellerei der italienischen Renaissance« verband: Es mag dem modernen Leser einigermaßen sonderbar anmuten, wenn der – im übrigen noch tief in mittelalterlicher Werkstattüberlieferung wurzelnde – Traktat des Cennino Cennini dem Künstler, der eine Gebirgslandschaft darstellen will, den wohlgemeinten Rat erteilt, sich Felssteine zu nehmen und sie in geziemender Größe und Beleuchtung abzumalen, – und doch bezeichnet diese Vorschrift den Anbruch einer neuen Kunstepoche. Es ist etwas durchaus Neues, wenn dem Maler angeraten wird, sich einem (wenn auch im vorliegenden Falle noch so merkwürdig gewählten) Modell gegenüberzustellen, wenn die Kunstheorie die der Antike anfangs selbstverständliche, vom Neoplatonismus ausgerottete und für das mittelalterliche Denken kaum mehr in Betracht kommende Vorstellung, dass das Kunstwerk eine modellgetreue Wiedergabe des Wirklichen sei, der tausendjährigen Vergessenheit entreißt, und nicht nur der Vergessenheit entreißt, sondern mit vollem Bewusstsein zum Programm erhebt.29
Es war Panofsky keineswegs entgangen, dass Cennini dem Künstler auch das Vermögen zubilligte, »sich abwandelnd und erfindend von der Wirklichkeit zu emanzipieren«, aber er verstand Cenninis Äußerungen zur Phantasie nicht als alleinigen Ansatz- und Angelpunkt seiner Kunstanschauung.30 Der Frage, ob, und wenn ja, wie Cennini Erfindungsfreiheit und Naturstudium in Einklang bringt, ist er nicht weiter nachgegangen. Sie betrifft direkt die Zuständigkeitsbereiche bzw. das Zusammenspiel von Phantasie und Verstand. Die neue Auffassung der modellgetreuen Naturnachahmung, die nicht länger nur berücksichtigt, »wie die Natur schafft«, sondern auch »was die Natur schafft«31 impliziert die ihr entsprechende »Forderung nach einer formalen und objektiven Richtigkeit«,32 und die Erfüllung dieser Forderung ist eine Angelegenheit des Verstandes. Für Cennini stand das außer Frage. Das zeigt bereits Kap. 88. In ihm ist nicht die Phantasie (fantasia), sondern der Verstand (la ragione) die Instanz, die Wirklichkeitsnähe und -illusion ermöglicht: Es wird ausgesagt, dass man Berge mit natürlichem Erscheinungsbild generieren kann (»montagnie [...] .cche paino naturali«), indem man sich eine Darstellungsmanier aneignet (»pigliare buona maniera«), die auf der vom Verstand so gut wie möglich gelenkten, zeichnerischen Nachahmung der Licht-Schatten-Verhältnisse natürlicher Modelle basiert. Bereits zuvor, in Kap. 85, wird die Kolorierung von Bergen als ebenfalls verstandesgemäßes Verfahren beschrieben.33 _____________ 29 30 31 32 33
Panofsky (1975), 23. Panofsky (1975), 31. Panofsky (1975), 22. Panofsky (1975), 24. Cennini, Il libro dell'arte/Ed. Frezzato (2008), 126: »Capitolo LXXXV Del modo del colorire una montagnia, in frescho o in seccho. Su vuoi fare montagnie in frescho e in seccho, fa’ un coloro verdaccio, di negro una parte, d’ocria le due parti. Digrada i colori, in frescho di biancho senza tempera, e in seccho con biancha e con tempera, et da’ lor quella ragione che dai a una
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Cennini rechnet bei der modellgetreuen künstlerischen Nachgestaltung der Erscheinungsformen von Naturdingen mit zwei Faktoren: Phantasie und Verstand, wobei zunächst nicht deutlich zu erkennen ist, wie er sich deren Zuständigkeitsbereiche vorstellt. Hierauf wird noch zurückzukommen sein.
Schatten und Bild Die Formulierung cose non vedute cacciandosi sotto ombra di naturali bedarf der Erläuterung, und zwar unabhängig davon, ob man sie wörtlich übersetzt (»nicht gesehene Dinge, die sich unter dem Schatten naturhafter Art verbergen«) oder – wie Ilg – annimmt, sie bringe bereits den zweiten Schritt malerischen Schaffens zum Ausdruck: die Wiederverwendung der gefundenen Formen (trovare) zur Darstellung erfundener (neu zusammengefügter) Dinge »unter dem Schatten der natürlichen« (comporre e legare insieme). Worin besteht die Analogie von Bild und Schatten? Der Schlagschatten als ein »natürliches Bild« eines Körpers ist nicht gemeint. Im Libro dell’arte ist nirgends von Schlagschatten die Rede, und zudem können sich cose non vedute nicht unter Schlagschatten verbergen. Auf die von Plinius überlieferte Entstehungsgeschichte der Malerei wollte Cennini daher wohl kaum hinweisen.34 Die im Libro an mehreren Stellen erörterten zeichnerischen und malerischen Verfahren des Schattierens (adumbare) lassen sich ebenfalls nicht als ein Verbergen nicht gesehener Dinge verstehen. Die ihnen zugewiesene Funktion besteht darin, in Umrissen erfassten Gegenständen die Erscheinungsform dreidimensionaler Körper zu verleihen.35 Schattierungen zeigen zwar etwas, das bei gemalten Figuren in Wirklichkeit nicht vorhanden ist – sie fingieren Körperrelief (riliveo di figure) –, aber selbst das wird nicht explizit thematisiert,36 und ebensowenig wird ihnen an irgendeiner Stelle zugleich die Funktion zugewiesen, Dinge zu verbergen.37 Mit den in Kap. 1 erwähnten »Schatten natürlicher Dinge, unter denen sich nicht gesehene Dinge verbergen« scheint Cennini auf Schattenvorstellungen philosophischer Provenienz zu rekurrieren, die für sein Verständnis von Malerei von Bedeutung waren.38 Da er das nur an dieser Stelle und zudem in aller Kürze sowie ohne klare begriffliche Distinktionen zum Ausdruck bringt, bleibt fraglich, in _____________ 34 35 36
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fighura di schuro o di rilievo. E quando ài a.ffare le montagnie che paiano più a lungi, più fa’ scuri i tuoi colori; et quando le fai dimostrare più a apresso, fa’ i colori più chiari.« Kruse (2003), 75 sowie Kruse (2010), 290–291 möchte dennoch eine Verbindung zu Plinius sehen; skeptisch auch Löhr (2008b), 172, Anm. 104. Zum Begriff rilievo vgl. Feser (2010), 276–278. Zu beachten ist in diesem Zusammenhang Frezzatos Emendation, derzufolge die Aufgabe der Malerei nicht darin besteht zu zeigen, »dass das, was nicht ist, sei« (che non è, sia), sondern dass sie zeigt, »was nicht ist« (quello che nonne sia). Cennini, Il libro dell’arte/Ed. Frezzato (2008), 62 u. Anm. 1. Pardo (1997), 44, meint dagegen von einem »adumbrare mentali concetti« sprechen zu können. Vgl. auch Löhr (2008b), 171–176, bes. 171 und Stoichita (1997), 48–67, 89. Vgl. Kemp (1997), 131.
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welchem Umfang er über den in der Tradition der platonischen Ideenlehre stehenden philosophischen Gehalt dieser Vorstellungen informiert war. Dass es sich um gängiges platonisches Erbe handelt, steht außer Frage. Gelehrten und philosophisch gebildeten Laien war die Vorstellung geläufig, dass die Malerei »die Schatten der Dinge« (d.h. ihre natürlichen Erscheinungsformen) im Medium der Malerei reproduziert.39 Sie kannten und äußerten freilich auch die mit ihr einher gehenden kritischen Vorbehalte gegenüber malerischer Naturnachahmung als einem nach dem Kriterium der Wahrheit minderwertigen Nachäffen der Natur bzw. der von ihr generierten Erscheinungen (Schatten).40 Aber es gab auch eine positive Sicht auf die »Schatten der Dinge«, mit der sich die Malerei in ein positiveres Licht rücken ließ. Sie basierte auf der für neuplatonisch und aristotelisch geprägte Theologen und Philosophen gleichermaßen fundamentalen Annahme, derzufolge die Natur als »Werkzeug einer fortwährenden Verwandlung der ideae oder exemplaria des göttlichen Verstandes in die kreatürliche Welt« fungiert,41 _____________ 39
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Alanus ab Insulis, Anticlaudianus I, vv. 122–125/Ed. Bossuat (1955), 60: […] hic hominum mores picturae gracia scribit: / sic operi proprio pictura fideliter heret, / ut res picta minus a vero deviet esse. /o nova picture miracula! transit ad esse / quod nihil esse potest! picturaque simia veri, / arte nova ludens, in res umbracula rerum / vertit, et in verum mendacia singula mutat. Der Passus zeigt, dass Alanus ab Insulis mit der Vorstellung vertraut ist, die Malerei äffe nur die Schatten (= natürlichen Erscheinungsformen) der Dinge nach. Bei den beschriebenen Gemälden des Palast der Natura handelt es sich jedoch nicht um von Menschenhand gemalte Bilder. Sie sind ebensowenig real wie der aus Gold, Silber und Edelsteinen errichtete Palast. Die in von der übermenschlichen Malerei in »Dinge« verwandelten »Schatten der Dinge« weichen daher nicht vom »wahren Sein« ab. Erfahrungen mit zeitgenössischer Malerei hat Alanus nicht thematisiert. Dieser Sachverhalt wurde vielfach nicht berücksichtigt, was zu problematischen Deutungen führte: Flasch (1965), 296: »Alanus ab Insulis (hat) das Schöpfertum des Künstlers wirklich gesehen und als ›Wunder‹ erfahren, aber nicht ohne den Verdacht, es sei doch Gaukelwerk, was da entstehe«; Summers (1981), 46: »Alanus ab Insulis (stresses) the potential for paradox in the illusions of painting«; Eco (1991), 161: »Zweifellos sagen die mittelalterlichen Autoren, wenn sie sporadisch über bildende Kunst nachdenken, die Dinge, die in den Systemen keinen Platz haben. Alanus ab Insulis ergeht sich [...] in Bewunderungsäußerungen wie der folgenden [...]«. Arnulf (2004), 414: »Dieser Abschnitt stellt im Grunde einen Exkurs über die Macht der Malerei dar.« Arnulf (2008), 147: »ein Diskurs über die Fähigkeiten der Malerei die Natur nachzuäffen, aber auch Erlogenes – gemeint sind antike Götter – wahr erscheinen zu lassen.« Vgl. auch Kruse (2000), 309; Kruse (2003), 77–78 und Kruse (2001), 137: »(Alanus) führt aus dem platonischen Dilemma und wird zum Garant einer neuen Malerei.« Vgl. dagegen Kobusch (2011), 145: »Schon die Beschreibung des Hauses der Natura atmet den Geist Platos. Hier ist der Unterschied zwischen dem defizienten Sein eines Abbildes und dem wahren Sein des Urbildes aufgehoben. Die Gemälde und Bilder der Dinge, die sonst nur Träume des Wahren sind, – hier sind an den Wänden im Haus der Natura sind sie das Wahre selbst. Die göttliche Kunst, die die Schatten der Dinge selber zu Dingen macht, zeigt die Grenzen der aristotelischen Logik auf (I, 214). Gerade von der Ontologie des Bildes her ist Plato der nächste Geistesverwandte: ›doch göttlicher träumt Plato mit tiefem Geist der Welt und des Himmels Geheimnis / und versucht den Sinn der Gottheit selbst zu erforschen‹ (I, 133).« Vgl. Bautier (1988), 85–86 mit Belegen für die negative Bedeutung von Phantasiebildern als umbrae. Zum Topos ars simia naturae siehe Panofsky (1975), 21, Anm. 88 und 24, Anm. 95; Janson (1952); Curtius (1978), 522–523; Kris/Kurz (1980), 116; Ginzburg (2006). Kablitz (1998), 312.
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und allen natürlichen Dingen eine Ähnlichkeit mit ihrem Schöpfer eingeschrieben ist, die zur Erkenntnis der göttlichen Schöpfung hinführen kann. So vertrat Bonaventura 1259 in seinem Itinerarium mentis in Deum die Auffassung, dass alle natürlichen Dinge und Geschöpfe Schatten, Widerhall und Gemälde der Ideen des Geistes Gottes sind, mittels derer die »sinnenbefangene Seele« durch »Sinnliches, das sie sieht, hindurchgeführt werde zum Geistigen, das sie nicht sieht.«42 Vor dem Hintergrund christlich-neuplatonischen Gedankenguts und seiner Bild- und Schattenmetaphorik gesehen sind die Schatten, von denen Cennini in Kap. 1 spricht, eine Metapher für körperliche Erscheinungsformen, und mit den cose non vedute wären demzufolge die ihnen zugrunde liegenden und in ihrer irdischen Hülle nicht (bzw. nicht deutlich) sichtbaren Urbilder, die göttlichen Ideen, gemeint. Mit seinem Rekurs auf die »nicht gesehenen Dinge« bringt Cennini zum Ausdruck, dass die Formen, die der Maler zeichnet, nicht rein manuell hervorgebracht werden: Das trovare cose non vedute fordert Intellekt und Phantasie. Durch sie vermag der Maler annäherungsweise, d.h. seinem Wissen und seinen Fähigkeiten gemäß, »Dinge«, d.h. begrifflich von ihm nicht näher bestimmte metaphysische Wahrheiten,43 zu zeigen, die in der sichtbaren Wirklichkeit der Naturdinge nicht vorhanden sind. Die aus der sinnlichen Wahrnehmung körperli_____________ 42
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Bonaventura, Itinerarium mentis in deum II,11/Ed. Kaup (1961), 88–90: [...] colligere possumus quod omnes creaturae istius sensibilis mundi animum contemplantis et sapientis ducunt in Deum aeternum, pro eo quod illius primi principii potentissimi, sapientissimi et optimi, illius aeternae originis, lucis et plenitudinis, illius, inquam artis efficientis, exemplantis et ordinantis sunt umbrae, resonantiae et picturae, sunt vestigia, simulacra et spectacula nobis ad contuendum Deum proposita et signa divinitus data; quae, inquam, sunt exemplaria vel potius exemplata, proposita mentibus adhuc rudibus et sensibilibus, ut per sensibilia, quae vident, transferantur ad intelligibilia, quae non vident, tanquam per signa ad signata. »Daraus können wir entnehmen, dass alle Geschöpfe dieser sinnenfälligen Welt die Seele des Betrachtenden und Weisen zum ewigen Gott hinführen, weil sie von diesem ersten, mächtigsten, weisesten und besten Prinzip, von diesem ewigen Ursprung, ewigen Licht, von dieser ewigen Fülle, von dieser, sage ich, schaffenden, abbildenden, ordnenden Kunst Schatten sind, Echo und Gemälde; Spuren sind sie, Statuen und Schaustücke, die uns vorgeführt werden, um Gott zu schauen, und Zeichen, die uns von Gott gegeben sind; ich möchte sagen, sie sind Abbilder oder besser Abgebildetes, vorgeführt einer noch ungebildeten oder sinnenbefangenen Seele, damit diese durch Sinnliches, das sie sieht, hindurchgeführt werde zum Geistigen, das sie nicht sieht, wie durch Zeichen zum Bezeichneten.« Vgl. hierzu Flasch (1965), 295 und für eine kurze Darstellung der Erkenntislehre des Bonaventura, Kobusch (2011), 265–272. Zu Bonaventuras bildtheoretischen Auffassungen siehe auch Ruth Wolff: »Das kreative Bild. Zur paradigmatischen Rolle des Siegels im Bilddiskurs Bonaventuras mit einem Vergleich zu Thomas von Aquin« (in Vorbereitung). Ich danke der Verfasserin für die Möglichkeit der Lektüre des Manuskripts. Da Cennini im ersten Kapitel zwischen trovare cose und comporre (cose) unterscheidet, ist es meines Erachtens unwahrscheinlich, dass er mit den unter den Schatten sich verbergenden Dingen nicht nur metaphysische Wahrheiten der göttlichen Schöpfung, sondern zugleich auch Erfindungen des Malers meinte. Anderer Auffassung sind u.a. Summers (1981), 493, Anm. 90; Pardo (1997), 44; Wolf (2002), 237 und zuletzt auch Löhr (2008b), 171: »Die Dinge, die sich im Schatten verbergen, die abstrakten concetti profaner Ausstattungsaufträge genauso wie die vom Intellekt erkannten metaphysischen Wahrheiten, in deren Dienst die religiöse Kunst steht, werden durch Züge des Zeichners fixiert (fermare) und gelangen wiederum durch den Schatten zur Anschauung.«
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cher Dinge hervorgegangenen mentalen Vorstellungen wurden in der mittelalterlichen Fakultätenpsychologie häufig als Bilder (picturae, species) oder in Anlehnung an die platonische Schattenmetaphorik ebenfalls als Schatten bezeichnet: als unkörperliche Bildschatten der körperlichen Dinge der irdischen Welt.44 Dante, der in der Divina Commedia vorgibt, jenseitige Wirklichkeit sinnlich wahrgenommen zu haben, bezeichnet daher in Par. 1,23 das, was ihm als Erinnerungsbild in seinem Kopf von seiner Jenseitsreise blieb, explizit als Schattenbild (ombra del beato regno).45 Die Divina Commedia ist das prominenteste Zeugnis dafür, dass die platonische Schattenmetaphorik nicht nur in theologischen und philosophischen Traktaten tradiert wurde. Ein weiteres Beispiel findet man in Purgatorio 12,61–69 in Verbindung mit der Beschreibung eines das zerstörte Troja darstellenden skulpturalen Reliefbilds. Es ist das letzte der Bodenreliefs, die Exempla der Superbia darstellen, die ebenso wie die Demuts-Reliefs in Anlehnung an den im Mittelalter geläufigen Topos deus artifex46 als Zeugnisse einer »jenseitigen Kunst« präsentiert werden: Vedea Troia in cenere e in caverne: o Ilïòn, come te basso e vile mostrava il segno che lì si discerne! Qual di pennel fu maestro o di stile che ritrasse l’ombre e’ tratti ch’ ivi mirar farìeno uno ingegno sottile? Morti li morti e i vivi parean vivi: non vide mei di me chi vide il vero, quant’ io calcai, fin che chinato givi. Und ich sah Troja in Schutt und Asche. O Ilion, wie sahst du doch heruntergekommen aus auf der Zeichnung, die dort zu erkennen ist! Welcher Meister des Pinsels oder des Stifts hätte so die Formen [wörtl. Schatten, PS] und die Linien darzustellen vermocht, die dort selbst den feinsten Kunstverstand zum Erstaunen brächten!
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Hugo von St. Victor: De unione corporis et spiritus, PL 177, 1854, Sp. 287d: Rationalis autem substantia incorporea lux est; imaginatio vero, inquantum corporis imago est, umbra est. Et idcirco postquam imaginatio usque ad rationem ascendit, quasi umbra in lucem veniens, et luci superveniens, inquantum ad eam venit, manifestatur, et circumscribitur; inquantum illi supervenit, obnubilat eam, et obumbrat, et insolvit, et contigit. »Die rationale Substanz ist das körperlose Licht, die Vorstellung aber, insofern sie Abbild des Körpers ist, der Schatten. Und demnach steigt die Vorstellung bis zur Vernunft auf, als ob der Schatten zum Licht kommt und über es kommt, sofern er zu ihm kommt, wird er sichtbar und klar umrissen, sofern er über es kommt, bewölkt und verschattet er es, löst es auf und befleckt es.« Vgl. hierzu Hamesse (1988), 168– 170. Vgl. hierzu Regn (2009), 375, der zwar annimt, dass hier in erster Linie ein »Vorstellungsmuster« der integumentalen Poetik aufgegriffen wird, aber gleichwohl hervorhebt, dass Dante den »Gegensatz zwischen Wahrheit und Erfindung [...] verwischt«. Vgl. Curtius (1978), 527–529; Kris/Kurz (1980), 64–86, bes. 78–86.
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Peter Seiler Tot schienen die Toten und lebend die Lebendigen. Auch wenn es wirklich gewesen wäre: Besser hätte es niemand sehen können, all das, worauf ich mit gebeugtem Kopf den Fuß setzte.47
Zwischen bildlicher Darstellung und dargestellter Wirklichkeit wird explizit unterschieden: das Bild wird als segno ausgewiesen.48 Der Täuschungseffekt bildlicher Illusion steht thematisch nicht im Zentrum.49 Die Bewunderung der übernatürlichen Kunst richtet sich (zunächst vordergründig) auf die Genauigkeit, mit der im zeichnerischen Entwurf »Tote« und »Lebendige« erfasst und deutlich unterschieden wurden. Es ist nicht von Hammer und Meißel, sondern von Pinsel und Stift die Rede, d.h. das Erstaunliche wird nicht der auf unkörperliche Schattengebung nicht angewiesenen Bildhauerarbeit, sondern dem zeichnerischen Entwurf zugeschrieben, und indem dieser als Produkt des Nachzeichnens von Schatten und Zügen beschrieben wird, ist das Bild zugleich als Medium der Sichtbarmachung göttlicher Ideen ausgewiesen. Die geistige Bildschärfe der göttlichen Kunst erlaubt es dem Betrachter zudem, mehr als die historische Wirklichkeit der Zerstörung Trojas zu erkennen. Der auf das gesamte Bild als Zeichen sich beziehende Vers »non vide mei di me chi vide il vero« ist doppeldeutig. Das TrojaReliefbild ist nicht nur ein perfekter Ersatz für Augenzeugenschaft, es offenbart zugleich die moralische Wahrheit des dargestellten Ereignisses: die Erkenntnis, dass Hochmut die Trojaner ins Verderben führte. Dass moralische Belehrung auf dem Weg zum Paradies der Zweck dieses wie auch der zuvor beschriebenen Reliefs ist, wird in der folgenden Aufforderung Vergils ironisch zum Ausdruck gebracht (Purg. 12, 70–72): Or superbite, e via col viso altero, figliuoli d’Eva, e non chinate il volto sì che veggiate il vostro mal sentero! Ja, bildet euch nur recht viel ein, macht weiter mit der stolzen Miene, ihr Kinder Evas, und nur nicht nach unten geschaut, ihr könntet ja erkennen, auf was für Abwegen ihr seid!50
Francesco di Bartolo da Buti hat in seinem Kommentar zur Divina Commedia die poetische Hintergründigkeit der Reliefbeschreibung Dantes nicht erfasst. Er verstand das Relief nicht als dichterische Fiktion einer die Vollkommenheit des deus artifex demonstrierenden jenseitigen Kunst, sondern erläuterte Dantes Verse ohne höhere semantische Erwartungen lediglich mit Standardwissen. Gemäß der mittelalterlichen Fakultätenpsychologie interpretierte er die Schatten als in die Skulpturen übertragene mentale Schatten (Vorstellungen) ihres Urhebers und bewertete ihren Erkenntniswert lediglich nach den Maßstäben menschlicher Kunst und Naturnachahmung. Bewunderungswürdige Kunstfertigkeit zeigt sich _____________ 47 48 49 50
Übers. Köhler (2011), 237. Vgl. hierzu Kablitz (1998), 348–349; Picone (2006), 98–99. Vgl. dagegen Belting (2001), 202. Übers. Köhler (2011), 239; vgl. zu dieser Stelle Kablitz (1998), 350.
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für ihn nur in der im Reliefbild manifesten Fähigkeit, Dinge ihren Eigenschaften gemäß (modellgetreu) präzise wiederzugeben.51 Diese Fähigkeit besäßen nur ingegni sottili und nicht die grossi ingegni. Die Überlegenheit des jenseitigen Bildes, das (durch eine miglior sembianza, Purg. XII, 22) einen ungetrübten, perfekten Zugang zur göttlichen Wahrheit ermöglicht, bleibt unkommentiert. Francesco Buti wird Dantes Versen inhaltlich nicht gerecht, aber seine Ausführungen sind gleichwohl als volkssprachliches Zeugnis für rudimentäre Kenntnisse der (neu)platonischen Schattenmetaphorik bzw. der mittelalterlichen Fakultätenpsychologie beachtenswert. Die in Cenninis Libro enthaltenen Ausführungen sind weniger klar und weisen zugleich noch stärkere Vereinfachungen auf als diejenigen Butis. Insbesondere sind seine Angaben zu semantischen Aspekten bildlicher Darstellung natürlicher Einzeldinge noch dürftiger. Seine unmittelbaren Quellen bleiben im Dunkeln. Dante und seine Kommentatoren rechtfertigen es, dem Wissensfundus der volkssprachlichen Dichtung und der Laienbildung Relevanz zuzuschreiben. Aber gebildete Geistliche (Franziskaner52) könnten als mündliche Vermittlungsinstanz ebenso im Spiel gewesen sein. Begriffliche Indizien sind rar, da Cennini einschlägige philosophische Fachtermini (similitudo, forma, materia, idea usw.) nicht verwendet. Aber man findet an zwei Stellen Anhaltspunkte dafür, dass mit trovare cose non vedute das über die sinnliche Wahrnehmung hinausgehende Erkennen der natürlichen Dinge durch den Verstand gemeint ist: Die erste Stelle befindet sich in Kap. 30. Es handelt sich um die einzige Formulierung, in der im Libro dell'arte der Begriff verità explizit zur Bestimmung der Darstellungsaufgabe verwendet wird. Cennini erörtert, wie man die Maße einer Figur präzise zeichnerisch erfasst: »conviene che con intelletto ti ghuidi; e troverai la verità, ghuidandotì per questo modo.«53 Zeichnerische Formfindung wird hier mit Wahrheitsfindung gleichgesetzt. Den zweiten Anhaltspunkt liefert der in der Rubrik des Kap. 23 verwendete Begriff sustanza: »In che modo poi ›torrer‹ la sustanza _____________ 51
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Buti, Commento/ND (1989), 285: »Dice dunque così il testo: ›Vedea‹; io Dante scolpita ne los spasso de la prima cornice, ›Troia‹ […] ›di pennel fu maestro‹; cioè fino dipintore, o ›di stile‹; cioè o disegnatore con stilo ne le tau[o]le, ›Che‹, cioè lo quale, ›ritrasse‹; cioè cavasse da quella scolpitura; e nota che propriamente si dice ›ritraere‹: imperò che l’apprensiva apprende, e poi che àe appreso l’obietto, ricava di dentro da sè, e produce fuora l’appresso, ›l’ombre‹; cioè l’ombrature che erano in quelle scolpiture, ›e li atti‹; cioè scolpiti in quello marmo; e pero dice: ›quivi‹; cioè ch’erano in quello luogo, ›Mirar‹; cioè meravilliarsi, ›farebbe‹; non ogni grosso dipintore e disegnatore, che di ciò pogo s’intenderebbe; ma lo fine dipintore e disegnatore: imperò che ritrarrebbe propriamente come stanno, ›ogni ingegno sottile‹? L’ingegni sottili sono quelli che cognosceno le proprie dipinture e disegnature, e non li grossi ingegni; e però si meravillierebbeno de la sottilliezza dell’arteficio.« Vgl. Löhr (2008b), 157. Vgl. hierzu Seiler (2012). Cennini, Il libro dell'arte/Ed. Frezzato (2008), 83. Zu beachten ist in diesem Zusammenhang auch die in Kap. 5 (65) enthaltene Aufforderung: »ti conviene avere l’ordine di potere incominciare a disegniare il più verit[e]vile.« Das Wort verità kommt in Kap. 161 nochmals vor (181), allerdings lediglich in einer Formulierung, die das Zutreffen einer Aussage unterstreicht: »Elli è verità che di tutti colori che adoperi in tavola poi adoperare in carta; ma voglionsi macinare sottilissimamente.«
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d'una buona fighura o designio con carta lucida«. Als substantia wurde in philosophischen Diskursen das dem menschlichen Intellekt zwar grundsätzlich als gegeben vorstellbare, aber nicht direkt, sondern nur mittels der Vorstellungsbilder der Phantasie partiell erfassbare unveränderliche Wesen eines (natürlichen) Dings verstanden.54 In diesem Sinne kommt der Begriff auch in Dantes Convivio (3,4,9– 10) vor. Der Passus ist zugleich aufschlussreich für das (von Cennini an keiner Stelle seines Libro erläuterte) Zusammenspiel von Phantasie und Intellekt: (9) Tornando adunque al proposito, dico che nostro intelletto, per difetto da la virtù de la quale trae quello ch’el vede, che è virtù organica, cioè la fantasia, non puote a certe cose salire (però che la fantasia nol puote aiutare, ché non ha lo di che), sì come sono le sustanze partite da materia; de le quali se alcuna considerazione [sanza] di quella avere potemo, intendere non le potemo né comprendere perfettamente. (10) Ed di ciò non è l’uomo da biasimare, ché non esso, dico, fue di questo difetto fattore, anzi fece ciò la natura universale, cioè Iddio, che volse in questa vita privare noi da questa luce; che, perché elli lo si facesse, presuntuoso sarebbe ragionare. (11) Sì che, se la mia considerazione mi transportava in parte dove la fantasia veniva meno a lo’ntelletto, se io non poteva intendere non sono da biasimare. Ancora, è posto fine al nostro ingegno, a ciascuna sua operazione, non da noi ma da l’universale natura; e però è da sapere che più ampi sono le termini de lo ’ngegno [a pensare] che a parlare, e più ampi a parlare che ad accennare. (12) Dunque se ’l pensiero nostro, non solamente quello che a perfetto intelletto non viene ma eziandio quello che a perfetto intelletto si termina, è vincente del parlare, non semo noi da biasimare, però che non semo di ciò fattori. (9) Zum Vorliegenden zurückkehrend, sage ich, dass unser Intellekt aufgrund des Mangels der Kraft, von der er das nimmt, was er sieht, die eine organische Kraft ist, nämlich die Phantasie, zu gewissen Dingen, wie es die von der Materie getrennten Substanzen sind, nicht hinaufsteigen kann, denn die Phantasie kann ihm nicht helfen, denn sie hat die Mittel nicht; auch wenn wir von diesen [Substanzen] ohne diese [Phantasie] irgendeine Vorstellung haben können, so können wir sie doch weder vollständig verstehen noch begreifen. (10) Und diesbezüglich ist der Mensch nicht zu tadeln, denn nicht er, sage ich, war der Gestalter dieses Mangels, sondern die allgemeine Natur, d.h. Gott, hat dies gemacht, der uns in diesem Leben dieses Lichtes berauben wollte; weswegen er dies so gemacht hat, zu ergründen wäre anmaßend. (11) Wenn meine Überlegung mich in eine Region geführt hat, wo die Phantasie dem Intellekt kaum beistand, so bin ich nicht zu tadeln, wenn ich nicht verstehen konnte. Weiter ist unserer Fähigkeit [und] jeder ihrer Handlungen eine Grenze gesetzt, nicht von uns, sondern von der allgemeinen Natur; und hierzu ist zu wissen, dass die Grenzen der Fähigkeit des Denkens weiter sind, als jene des Sprechens und jene des Sprechens weiter sind, als jene des Zeigens.
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Bormann/Franzen/Krapiec/Oening-Hanhoff, Art. »Form und Materie/Stoff«, Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 2, Sp. 977–1030; Halfwassen/Wald, Art. »Substanz/ Akzidens«, Bd. 10, Sp. 495–553, v.a. Sp. 495–521 (I. Antike, J. Halfwassen; II. Mittelalter, B. Wald); Hoffmann, Art. »Wesen«, Bd. 12, Sp. 621–649, bes. Sp. 622–634 (I. Antike, Red.; II. Mittelalter, T. Hoffmann).
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(12) Wenn also unser Denken nicht nur das, das nicht zum vollkommenen Intellekt gelangt, sondern auch das, das im vollkommenen Intellekt zu seinem Ende kommt, das Sprechen übertrifft, so sind nicht wir zu tadeln, denn nicht wir sind dessen 55 Gestalter.
Cennini lässt unerwähnt, dass der Intellekt Beistand von der Phantasie erhält, und er äußert sich auch nicht zu den Grenzen »des Zeigens« (accennare) oder zum Umfang dieses Vermögens im Vergleich zum »Sprechen« (parlare). Da es in Kap. 23 des Libro dell’arte vorrangig um die Beschreibung der Technik des Kopierens mit Hilfe von Transparentpapier (carta lucida) geht, gibt er nur einen beiläufigen Hinweis auf das, was er bereits in Kap. 1 als wesentlichen Grundzug der Malerei thematisierte: das Vermögen, zeigen zu können, was nicht (sichtbar) ist (»dimostrare quello che nonne sia«). Er war überzeugt, dass der vom Verstand angeleitete und mit jahrelang geschulter Hand präzise ausgeführte disegno einem zumindest partiellen Erfassen der sustanza gleichkam. Die Rede ist von einer »guten Figur« eines fertig ausgeführten Gemäldes, deren die Naturwahrheit somit »gut« festhaltenden disegno es mit feinem Stift möglichst präzise kopierend zu erfassen gilt. Dabei betont Cennini, dass es darauf ankomme, Schattenpartien, also Partien mit wenig prägnanten Linien, abstrahierend nachzuzeichnen (»cchosi gieneralmente tocchando alchune ombre, sì chome a .tte è possibile potere vedere e fare«).56 Das Kopieren mit dem technischen Hilfsmittel der carta lucida war für ihn eine den Intellekt involvierende Tätigkeit. Er schildert das Erfassen der Form nicht als simples mechanisches Faksimilieren, das nur einen sinnlichen Sehvorgang erfordert, sondern als einen Vorgang abstrahierender Formfindung, bei dem nur mit Hilfe des Intellekts ein substanzieller Wahrheitsbezug hervorgebracht werden kann.57
Begabung und Streben nach Wissen: »Lo’nteletto al disegno si diletta solo [...]« Dante lässt keinen Zweifel daran, dass Höchstgrade zeichnerischer Präzision ein ingegno sottile voraussetzen. Francesco Buti bekräftigte dies, indem er ausdrücklich feststellte, dass diese Fähigkeit nicht allen Menschen gegeben sei. Cennini hielt ebenso eine besondere Begabung für notwendig. Es ist hier auf das Kap. 2 hinzuweisen, in dem Cennini darlegt, wer seiner Auffassung nach am besten geeignet ist, Vollkommenheit in der Malerei zu erreichen. Neben den Kategorien animo gientile und amor naturale stehen Intellekt und das durch einen Meister _____________ 55 56 57
Dante, Das Gastmahl, Drittes Buch/Ed. Ricklin/Chevenal (1998), 29. Cennini, Il libro dell'arte/Ed. Frezzato (2008), 77–78. Das Bemühen um das genaue Erfassen der Substanz einer Figur richtet sich auf die Umrisse der Vorlage (»i contorni e ·lle stremità del disegno«); Schattierungen können nach der Wegnahme der »carta lucida« nach eigenem Belieben ergänzt werden (»e ·llevando poi la carta, poi tocchare d’alchuni bianchetti et rilievi sì chome tu ài i piaceri su«).
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vermittelte Wissen im Vordergrund. Von Phantasie ist in diesem Zusammenhang nicht die Rede, was erneut zeigt, dass diese nicht den alleinigen Angelpunkt seiner theoretischen Gedanken bildet. Sie ist wichtig, aber sie ist nicht die entscheidende Instanz. Capitolo II Come alchuni vegnono all’arte, chi per animo gientile e chi per guardagnio. Non sanza cagione d’animo gientile, alchuni si muovono di venire a quest’arte, piacciendoli per amore naturale. Lo ’nteletto al disegno si diletta solo, ché da .lloro medesimi la natura a .cciò gli trae, sanza nulla ghuida di maestro, per gientileza d’animo, e per questa dilettarsi. Seguitano a volere trovare maestro, e con questo si disponghono chon amore d’ubidenza, stando in servitù per venire a perfezion di ciò. Alchuni sono che per povertà e necessità del vivere seguitano, sì per guadagno e anche per l’amor dell’arte; ma sopra .ttutti, quelli da .cchommendare è quelli che per amore e per gentileza all’arte predetta venghono.58 Kap. II Wie einige zur Kunst gelangen, welche aus edler Gesinnung und welche des Gewinnes halber. Nicht ohne Anregung eines edlen Sinnes entschließen sich manche zu dieser Kunst zu gehen, indem sie aus natürlicher Liebe daran Gefallen finden. Der Verstand erfreut sich an der Zeichnung allein; aus natürlicher Neigung zu dem, was anzieht; ohne irgendeine Führung durch einen Lehrer, (nur) durch den Adel des Geistes und infolge des Erfreuens durch diesen. Zugleich werden sie danach streben, einen Meister zu suchen. Diesem unterordnen sie sich in Liebe zum Gehorsam, in Untergebenheit stehend, damit sie zur Vollkommenheit darin gelangen. Einige gibt es, welche aus Armut und Not des Lebens ihr folgen, also Gewinnes wegen und auch aus Liebe zur Kunst. Aber es sind über all diese hinaus, die zu rühmen, welche nur aus Liebe und edlem Sinn zu der genannten Kunst streben.59
Das Kapitel thematisiert natürliche Begabung und edle Gesinnung als Voraussetzungen für diejenigen, die Vollkommenheit in der Malerei erreichen wollen. Die Begriffe amor naturale und animo gentile lassen Beziehungen zur Dichtungslehre des dolce stil nuovo erkennen.60 Im Convivio hat Dante amor naturale und gentilezza erläutert. Sie bilden für ihn Voraussetzungen für die Liebe zur Wahrheit und sind somit für eine philosophische Poesie unerlässlich. Bei Cennini haben diese Begriffe eine vergleichbare Bedeutung. Das zeigt insbesondere der Satz: »Der Verstand erfreut sich an der Zeichnung allein [...]«. Mit ihm bringt Cennini zum Ausdruck, dass nicht eine natürliche Vorliebe zu einer handwerklichen Tätigkeit gemeint ist, eine Vorliebe, die ein individuelles Vergnügen fundiert, sondern eine besondere Begabung zu einer hochwertigen epistemischen Kompetenz. Aufgrund des substanziellen Wahrheitsbezugs des disegno ist mit der natürlichen Neigung des Intellekts zu diesem nichts anderes als ein Streben nach Wissen gemeint. So verstanden tritt mit dem Satz die Nähe zu philosophischem Schulwissen ins _____________ 58 59 60
Cennini, Il libro dell'arte/Ed. Frezzato (2008), 63. Cennini, Il libro dell'arte/Übers. Ilg (1888), 5 (mit einigen Änderungen). Vgl. hierzu Seiler (2012).
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Blickfeld. Dass alle Menschen von Natur aus nach Wissen streben, sagt Aristoteles am Anfang der Metaphysik. Seine Feststellung wurde vielfach kommentiert, wobei vor allem die Ursachen für den begrenzten Erfolg dieses menschlichen Strebens Aufmerksamkeit fanden. So auch bei Dante am Anfang des Convivio (1,1,1–5): (1) Sí come dice lo Filosofo nel principio de la Prima Filosofia, tutti li uomini naturalmente desiderano di sapere. La ragione di che puote essere ed è che ciascuna cosa, da providenza di prima natura impinta, è inclinabile a la sua propria perfezione; onde, acciò che la scienza è ultima perfezione de la nostra anima, ne la quale sta la nostra ultima felicitade, tutti naturalmente al suo desiderio semo subietti. (2) Veramente da questa nobilissima perfezione molti sono privati per diverse cagioni, che dentro al’uomo e di fuori da esso lui rimovono da l’abito di scienza. (3) Dentro da l’uomo possono essere due difetti e impedi[men]ti: l’uno da la parte del corpo, l’altro da la parte dell’anima. Da la parte del corpo è quando le parti sono indebitamente disposte, sì che nulla ricevere può, sì come sono sordi e muti e loro simili. Da la parte de l’anima è quando la malizia vince in essa, sì che si fa seguitatrice di viziose delettazioni, ne le quali riceve tanto inganno che per quelle ogni cosa tiene a vile. (4) Di fuori da l’uomo possono essere similemente due cagioni intese, l’una de le quali è induttrice di necessitade, l’altra di pigrizia. La prima è la cura familiare e civile, la quale convenevolmente a sè tiene de li uomini lo maggior numero, sì che in ozio di speculazione esser non possono. L’altra è lo difetto del luogo dove la persona è nata e nutrita, che tal ora sarà da ogni studio non solamente privato, ma da gente studiosa lontano. (5) Le due di queste cagioni, cioè la prima da la parte [di dentro e la prima da la parte] di fuori, non sono da vituperare, ma da escusare e di perdono degne; le due altre, avvenga che l’una più, sono degne di biasimo e d’abominazione. (1) Wie der Philosoph zu Beginn der Metaphysik sagt, wünschen alle Menschen von Natur aus zu wissen. Der Grund hiervon könnte sein und ist, dass jedes Ding, von der Vorsehung der ersten Natur geprägt, zu seiner eigenen Vervollkommnung neigt; weswegen, da die Wissenschaft, in der unser höchstes Glück besteht, die letzte Vervollkommnung unserer Seele ist, wir alle von Natur aus dem Verlangen nach ihr unterworfen sind. (2) In Wahrheit sind viele [Menschen] dieser edelsten Vervollkommnung wegen verschiedener Ursachen, die im Menschen selbst und außerhalb seiner, ihn vom Habitus zur Wissenschaft entfernen, beraubt. (3) Im Innern des Menschen können zwei Mängel und Hindernisse sein: Das eine von seiten des Körpers, das andere von seiten der Seele. Seitens des Körpers [besteht ein Hindernis], wenn die Teile ungenügend veranlagt sind, so dass er nichts empfangen kann, wie es bei Tauben und Stummen und ihnen Ähnlichen der Fall ist. Seitens der Seele [besteht ein Hindernis], wenn die Bosheit in ihr die Oberhand gewinnt, so dass sie sich zur Anhängerin lasterhafter Freuden macht, in denen sie soviel Täuschung erfährt, dass sie dadurch alles für niederträchtig hält. (4) Außerhalb des Menschen können ebenso zwei Ursachen ausgemacht werden, deren eine sich aus Notwendigkeit ergibt, die andere aus Faulheit. Die erste ist die Sorge um die Familie und um die Gemeinschaft, die gebührenderweise die größte Zahl der Menschen an sich fesselt, so dass sie nicht in der Ruhe des Betrachtens leben können. Die andere ist der Mangel des Ortes, an dem die Person geboren und ernährt worden ist, so dass eine solche [Person] jetzt nicht nur jedes Studiums beraubt sein dürfte, sondern auch weit entfernt von gelehrten Leuten. (5) Zwei
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Peter Seiler dieser Ursachen, d.h. die erste der (inneren und die erste der) äußeren Seite, sind nicht zu tadeln, sondern zu entschuldigen und der Vergebung würdig; die zwei anderen – die eine allerdings mehr, – sind des Tadels und der Verabscheuung würdig.61
Cennini fokussiert zwei äußere Hindernisse. Für ihn sind die Sorge um den Lebensunterhalt (povertà e necessità del vivere) sowie ein Mangel an Studium Beeinträchtigungen, die als äußere Ursachen die Ausübung der Malerei als Wissenschaft und die Erreichung von Vollkommenheit negativ beeinflussen. Er stuft diejenigen, die allein aus natürlicher Liebe zur Malerei gelangen als in höherem Maße geeignet ein, aber er sieht ebenso in Entsprechung zu Dantes Ausführungen keinen Anlass, diejenigen zu tadeln, die auch durch äußere Notwendigkeit, des Erwerbs wegen, zur Malerei gelangen. Innere, charakterliche Defizite vernachlässigt Cennini. So sieht er anders als Dante in der Faulheit (pigrizia) keine große Gefahr für die Bereitschaft, die unter Umständen vorhandene räumliche Entfernung zu qualifizierten Lehrern zu überbrücken. Er nimmt an, dass derjenige, der durch amor naturale zur Malerei neigt, auch ein hinreichend starkes Verlangen hat, sich einen Meister zu suchen. Da der Intellekt als entscheidende Triebkraft bei der Neigung zur Malerei im Spiel ist, besitzt das Streben nach Wissen für ihn ein sicheres Fundament. In diesem Zusammenhang wird zugleich deutlich, dass es Cennini fern liegt, natürliche Begabung zur Legitimation von Autodidaktentum heranzuziehen. Der Weg zur perfezione erfordert nach seiner Auffassung Begabung und Wissen. Dabei lässt er keinen Zweifel daran, dass der Gehorsam des angehenden Malers gegenüber dem Meister und seiner Lehre an erster Stelle steht. Im folgenden Kapitel werden weitere Sekundärtugenden gefordert.62 Das Wissen, das Cennini auf der »Reise zu dieser Wissenschaft« (der Malerei)63 ausbreitet, umfasst vor allem Werkstattrezepte und technische Verfahren. Ein Missverhältnis zwischen dem beanspruchten hohen Rang der Malerei als scienza und den erfassten Wissensbeständen ist unverkennbar. So betont Cennini in Kap. 29, es sei wichtig, dass der Maler sein Leben so führe, »als wenn er Theologie, Philosophie oder andere Wissenschaften zu studieren hätte«, aber er erläutert nur in wenigen Hinweisen, was es inhaltlich konkret bedeutet, dass das Finden und zeichnerische Festhalten der verità eine wissensbasierte Tätigkeit ist. Von »detaillierte(n) Anweisungen für ein Studium nach der Natur«64 kann nicht die Rede sein. Seine dürftigen Bemerkungen kann man kaum als Grundlage eines »versierten, empirisch ausgerichteten Naturstudiums« charakterisieren.65 Zu Recht wurde darauf hingewiesen, dass sie alles andere als geeignet waren, »um Künstlern die traditionelle, bibelabhängige Sicht auf den menschlichen Körper _____________ 61 62 63 64
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Dante, Das Gastmahl, Erstes Buch/Ed. Ricklin/Chevenal, (1996), 3–5 und die Kommentierung von Chevenal LI, LX. Vgl. hierzu Seiler (2012). Cennini, Il libro dell'arte/Ed. Frezzato (2008), 80: »il viaggio della detta scienza«. Eusterschulte (2000), 798; die Grenzen von Cenninis Naturstudium vernachlässigt auch Kemp (1997), 133: »Das hinter all diesen Anweisungen stehende übergeordnete Programm ist die wissenschaftliche Deduktion naturalistischer Effekte [...].« Eusterschulte (2000), 800.
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abzugewöhnen.«66 Was er in Kap. 30 und Kap.70 über die »richtige« Proportionierung von Figuren mitteilt, basiert auf mittelalterlichem Standardwissen. Selbständige Proportionsstudien und das Zeichnen nach menschlichen Modellen sind nicht vorgesehen. Nur die »vernunftlosen Lebewesen« (animali irrazionali) solle man, da sie »nie irgendein Maß« erkennen lassen, »soweit du kannst« direkt nach dem Naturmodell (del naturale) zeichnen.67 Noch dürftiger ist der anatomische Lehrstoff. Der Mann sei um eine Rippe ärmer als die Frau; seinen Penis soll man in der Größe darstellen, »die den Frauen gefällt«, und sein Hodenpaar »klein, von schöner Art und frisch.« Das unablässige Zeichnen nach der Natur (ritrarre sempre del naturale) wird zwar am Ende der zeichnerischen Grundausbildung als zentrale Aufgabe und Weg zum Erfolg (la trionfal porta) beschrieben, es besitzt aber eine geringere Tragweite, als die nachdrücklichen Bemerkungen suggerieren. Die Einbeziehung anderer Wissenschaften – wie sie Ghiberti forderte68 – spielt in dem vorrangig materialkundlichen und technikbezogenen Werk keine Rolle. Die in den Lehrgang nicht integrierten, sondern nachträglich angehängten Anleitungen zu Naturabgüssen (Kap. 181–189) waren kaum geeignet, den Mangel an wissenschaftlich fundierten Methoden empirischen Naturstudiums zu kompensieren. Vermutlich handelt es sich um einen Versuch, den steigenden Anforderungen des Naturstudiums Rechnung zu tragen. Der Hinweis auf die Qualität antiker Statuen ist angesichts der gegen Ende des 14. Jahrhunderts in Florenz zunehmenden Verbindungen zwischen Natur- und Antikenstudium nicht erstaunlich.
Das Zusammenspiel von intelletto und fantasia Die geistigen Fähigkeiten, die der Maler in hohem Maße mitbringen muss, um zur Erfassung der Naturwahrheit in der Lage zu sein, wurden im Anschluss an die antike Rhetorik mit dem Begriff ingenium bezeichnet.69 Der Begriff hatte vor allem bei Humanisten eine neue Konjunktur. In den poetologischen Reflexionen Petrarcas und Boccaccios ist von Phantasie nicht die Rede.70 Dass man bei Cennini fantasia statt ingegno vorfindet, hat man daher mit Quintilian,71 Philostrat72 _____________ 66 67 68
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Perrig (1994), 435. Perrig (1994), 429. Ghiberti, I commentarii/Ed. Bartoli (1998), 48: »Ancora bisognia avere conosciuta la disciplina della medicina, et avere veduto notomia, acciò che .llo scultore sappi quante ossa sono nel corpo hurnano, volendo comporre la statua virile, e sapere e muscoli sono nel corpo dello huomo e così tutti i nervi e legature sono in esso. Avere peritia de’ fatti d’astrologia, della terra; ancora del cielo avere notizia d’esso, i quali i Greci dicono climata, per sito della terra.« Vgl. Kemp (1977), 386–393. Vgl. Kemp (1977), 362. Venturi (1964), 91: »E qui il Cennini si giova forse del passo Quintiliano sulle visioni«; Chastel (1977), 32: »Quintilien – parallèlement à l’usage qu’en fait Dante.« Kruse (2000), 309. Schlosser (1924), 69: »Der Begriff der Phantasie als künstlerischen Agens, eine Erbschaft der ausgehenden Antike, werden wir noch weiterhin bei Cennini wiederfinden.« Einen allgemeinen Hinweis zu den Voraussetzungen der fantasia bei Cennini gibt Grassi (1985), 125: »Concetto
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oder mit Rekurs auf Dante als indirekte »Erbschaft der ausgehenden Antike« zu erklären versucht.73 Da die Annahme einer Kenntnis der beiden antiken Autoren mit Cenninis bescheidenem Bildungsniveau nicht zu vereinbaren ist, kommt am ehesten Dante in Frage. Relevant scheinen dessen Auffassungen jedoch nur, soweit sie mit denen der mittelalterlichen Fakultätenpsychologie übereinstimmen.74 Das inspirationstheoretische Konzept der alta fantasia (»Poi piovve dentro a l'alta fantasia« – Purg. XVII, 25),75 das in der Divina Commedia eine prominente Rolle spielt, findet bei Cennini keine Entsprechung.76 Mittelalterliche Erkenntnistheorien schrieben der phantasia (bzw. der imaginatio, sofern beide nicht gegeneinander abgegrenzt wurden) ein zweifaches Vermögen zu: ein reproduktives und ein kreativ-produktives.77 In der Hierarchie der Seelenvermögen beschrieb man sie als eine unerlässliche Vermittlungsinstanz zwischen der Sinneswahrnehmung _____________ 73 74
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che non assume qui, ovviamente, significato romantico, ma piuttosto quello premedievale agostiniano-plotiniano [...].« Schlosser (1924), 69; Chastel (1977), 32; Magagnato (1982), XI. Auf die mittelalterliche Fakultätenpsychologie verweist auch Löhr (2008c), 168: »Il Libro dell’arte si mostra vicino piuttosto a concezione della percezione e dell’intelletto tramandate sia dalla trattatistica ottica e medico-psicologica che dalla tradizione enciclopedica, anche se le vere fonti di Cennini sono difficili da determinare.« Dante, Purgatorio 17, 25/Ed. Köhler (2011), 330 (mit Kommentar). Vgl. auch Bundy (1927), 225–256, bes. 239–240; Gmelin Bd. 2, (1968), 273–274 und Köhler (2011), 330 sowie Summers (1981), 119–121. Kemp (1997), 131 nahm »derart hochgesteckte Ziele« an: »Im Namen des Künstlers fordert er die Anwendung der fantasia, der Einbildungskraft, die eine entscheidende Rolle in Dantes Bemühungen gespielt hat, sich der Erkenntnis höchster Wahrheiten zu vergewissern.« Zu Dante vgl. Kemp (1977), 362–363; 363: »his characterization of imagination as an agent of visionary truth« und 396: »Dante had transformed the fantasia of medieval faculty psychology into the highest inventive force in his poetry«. Von einer eingleisigen Transformation und Aufwertung des Begriffes fantasia bei Dante kann nicht die Rede sein. Vgl. die differenzierteren Ausführungen von Bundy (1927) 225–256. Bautier (1988), 82: »Phantasia et imaginatio ont cependant un champ sémantique similaire dans lequel nous discernons deux notions principales: l’›image‹ et la ›fonction imaginative‹. Dans le premier sens, ils expriment la représentation mentale d’une réalité sensible qui reproduit un objet connu ou qui recrée par similitude. Dérivant de cette notion s’articulent des acceptions secondaires: visions, nocturnes, songes, fantasmes, fantômes, illusions trompeuses, affirmations mensongères ou hérétiques. La seconde notion qui est au coeur des préoccupations de ce colloque, concerne la fonction de l’esprit qui imagine, qui reproduit et recrée. Elle est classée, selon les Théories scientifiques, comme le second des senses internes. Nous verrons que phantasia et imaginatio prennent l’une et l’autre le premier sens mais que phantasia sera très souvent chargée d’une valeur péjorative quasi absente des emplois d’imagination. En revanche chez les théologiens phantasia ne s’applique presque jamais à une faculté de l’âme alors que dans les textes scientifiques ou chez les traducteurs de textes arabes ou hébraiques, c’est deux fois sur trois phantasia qui qualifie le second des sens interne.« Zur Begriffsgeschichte von phantasia und imaginatio vgl. auch Flury (1988); Latham (1988); Spinosa (1988); Busa (1988); Hamesse (1988); Art. »Phantasia« (I. Antike, G. Camassa und E. Evrad; II. Byzanz, L. Benakis; III. Mittelalter und Renaissance, M. R. Pagnoni-Sturlese), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 7, Sp. 516–535. Vgl. Venturi (1964), 85–86 (Fantasia bei Dante); Harvard (1975); Summers (1987); Spruit (1996); Summers (1981), 129; die von Pfisterer (2002), 73–74, 271 angenommene »Gleichsetzung von ingenium und fantasia« bei Cennini lässt sich nicht belegen.
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und dem Verstand. Der menschliche Erkenntnisprozess führt von der sinnlichen Wahrnehmung der Dinge zuerst zur Imagination und dann zur rationalen begrifflichen Erkenntnis. Der menschliche Verstand nimmt die natürlichen Dinge nicht unmittelbar wahr, sondern immer nur die aus Sinneseindrücken hervorgegangenen Phantasiebilder (Schatten). Er ist, wie es auch Dante im Convivio darlegt, auf die Hilfe der Phantasie angewiesen.78 Mit dieser Art der Phantasietätigkeit und mit der Frage ihrer Zulässigkeit haben sich Theologen, insbesondere seit dem 12. Jahrhundert, intensiv befaßt. Als Beispiel ist (der von Dante im Paradiso 10,131– 132 mit besonderer Auszeichnung erwähnte) Richard von St. Viktor in diesem Zusammenhang geeignet, da er in De gratia contemplationis seu Benjamin Maior die Rolle der Phantasie bei der Erkenntnis natürlicher Dinge in seine Überlegungen einbezieht und dabei betont, dass die »im Geist erblickte Form« der sichtbaren Dinge im Grunde nichts anderes sei als ein gemaltes Bild (pictura) unsichtbarer Dinge: Nunc vero ad id redeamus unde digressi sumus, quomodo scilicet per rerum visibilium imaginationem adiuvemur ad rerum invisibilium investigationem. In eo enim exterior homo in investigationis suae cursu interiorem adiuvat, quo ei invisibilium imaginem per rerum visibilium imaginationem repraesentat. Et, dum ducatus sui officium explet, illuc istum similitudinum calle perducit, quo ille intrare non audet. Sic saepe famuli dominos suos in via usque ad regias fores praeeunt et tamen istis intro usque ad interiora palatii properantibus illi exterius subsistunt. Patet ergo, ut arbitror, quod superius iam diximus, quomodo hoc contemplationis genus esse quidem in ratione et secundam imaginationem intelligere debeamus, quia et invisibilia sunt, quae mente conspicimus, et tamen ex rerum visibilium similitudine illa nobis formamus. Quid enim dixerim rerum visibilium formam nisi quandam quasi rerum invisibilium picturam? Sit modo aliquis qui numquam leonem vidisse se dicat, quem tamen videre desiderat, si ei leonis imago in pictura aliqua convenienter expressa ostenditur, profecto qualem eum cogitare debeat ex eo quod videt statim admonetur. Denique secumdum lineamenta, quae superficietenus expressa considerat, solida membra et vivum animal sibi in mente format.79 Nun aber lasst uns zu dem, wovon wir abgeschweift sind, zurückkehren, nämlich wie wir durch die Vorstellung (imaginatio) der sichtbaren Dinge unterstützt werden bei der Untersuchung der unsichtbaren Dinge. Darin hilft der äußere Mensch im Lauf seiner Untersuchungen dem inneren, indem er das Bild der unsichtbaren Dinge durch die Imagination der sichtbaren vor Augen führt. Und indem er seine Führungsaufgabe wahrnimmt, führt er diesen auf dem Weg der Ähnlichkeiten, den jener nie zu betreten wagt. So gehen oft die Diener ihren Herren auf dem Weg bis zu den königlichen Pforten voran und bleiben dennoch, während jene in das Innerere des Palastes eilen, draußen stehen. Es ist also klar, wie ich meine, was ich schon weiter oben gesagt habe,
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L’ottimo commento della Divina Commedia, testo inedito d’un contemporaneo di Dante, 3 Bde. Pisa, 1827–1829, Bd. 2, 300: »La fantasia è quella virtù, la quale le forme, secondo loro similitudine, che l’uomo apprese per si sensi particulari, in tutto o in parte apprende.« Vgl. Art. »Fantasia«, Rak (1970), 793–794; Enciclopedia Dantesca, Bd. 3, 1971, 367–368, s.v. imaginare (Lanci), 368–369, s.v. imaginativa (Rak), 369–370, s.v. imaginazione. Richard von St. Victor, De contemplatione (Benjamin Maior), II, 18/Ed. Aris 1996, [44].
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Peter Seiler wie wir verstehen müssen, dass diese Art der Betrachtung in der ratio (im Verstand) und gemäß der imaginatio (der Vorstellungskraft) abläuft, weil auch die Dinge unsichtbar sind, die wir im Geist erblicken, und wir sie uns dennoch aus der Ähnlichkeit mit den sichtbaren Dingen formen. Was nämlich, möchte ich sagen, ist die Form der sichtbaren Dinge, wenn nicht gleichsam ein gewisses gemaltes Bild (pictura) der unsichtbaren Dinge. Angenommen jemand, der niemals einen Löwen gesehen hat, sagt sich, dass er dennoch einen zu sehen wünscht, der wird, wenn man ihm das Abbild eines Löwen auf irgendeinem gut gemachten Bild zeigt, in der Tat sofort aus dem, was er sieht, angewiesen, wie er sich einen zu denken hat. Schließlich formt er sich gemäß der Zeichnung, die er als oberflächlich ausdrückend betrachtet, die festen Gliedmaßen und das lebende Tier in seinem Geist.80
Entscheidend ist in beiden Fällen die Ähnlichkeit, die zwischen sichtbaren Dingen und ihren Abbildern im Geist wie auch zwischen unsichtbaren Dingen und ihren mithilfe sichtbarer Dinge generierten Vorstellungsbildern besteht. Richard von St. Viktor betont dabei ebenso die Distanz zwischen Dingen der äußeren Sinnenwelt und den inneren Vorstellungsbildern (quod in sua cogitazione sibi finxit interius), um das Bewusstsein für die Differenzen zwischen Sinneswahrnehmung, Imagination und Verstand wach zu halten: Cogita nunc quantum sit inter illud, quod videt exterius, et inter hoc, quod in sua cogitatione sibi fingit interius. Sic sane in hoc contemplationis genere longe a se distant invisibilia, quae in mente versamus, et ea, quae per imaginationem cernimus et tamen ad illa exprimenda ex istis similitudinem trahimus. Reddidimus quomodo potuimus rationem cur hoc genus contemplationis videatur esse in ratione et secundam imaginationem.81 Bedenke nun wie viel zwischen dem liegt, was er äußerlich sieht, und dem, was er sich innerlich in seinem Denken bildet. So weit freilich in dieser Art der Betrachtung die Dinge, die wir im Geist erwägen und die, die wir durch die Imagination sehen, von einander entfernt sind, und dennoch ziehen wir die Ähnlichkeit aus diesen um jene auszudrücken. Wir haben, so gut wir konnten, Rechenschaft abgelegt, warum diese Art der Betrachtung in der ratio und gemäß der Imagination zu sein scheint.82
Neben ihrem reproduktiven, die sinnlich wahrnehmbaren Dinge dem Verstand vermittelnden Vermögen vermag die Phantasie die von ihr erzeugten und in der memoria aufbewahrten Bilder neu zu kombinieren und dadurch neue Vorstellungsbilder hervorzubringen.83 _____________ 80
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Übers. Ursula Rombach. Siehe Aris (1996) 45–133 für eine Analyse des Traktats und der in ihm enthaltenen Erkenntnislehre und bes. 73–79 zu dem Zitat. Vgl. auch Meier (1988), bes. 48–49 und Kämmerlings (1994), 76–100. Übers. Ursula Rombach. Richard von St. Victor, De contemplatione (Benjamin Maior), II, 18/Ed. Aris (1996), [44]. Siehe hierzu Aris (1996), 25–27 (zu der bei Richard von St. Victor vorhandenen »Situierung des Menschen in der ›Dimension der Unähnlichkeit‹ – in regione dissimilitudinis«). Bundy (1927), 182–183 (Avicenna), 188–195 (Albertus Magnus: Unterscheidung von imaginatio und phantasia), 207 (Bonaventura), 212 (Maimonides), 217–218 (Thomas von Aquin: Revision der Unterscheidung von imaginatio und phantasia), 227–228, 231, 237 (Dante); vgl. Chenu
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Cennini hat sich Elemente der mittelalterlichen Fakultätenpsychologie angeeignet, wobei er die philosophische Terminologie weitgehend vernachlässigte und ihm vertrauteres oder angemessener erscheinendes Vokabular bevorzugte. Er bezeichnet »die unsichtbaren Dinge«, die der Maler bei dem Kopieren naturgetreuer Zeichnungen oder beim Zeichnen der Natur »findet«, und »im Geist erblickt« nicht als picturae, sondern aussschließlich als disegni. An ihnen erfreut sich der Intellekt, da die Suche nach Wahrheit das allem übergeordnete Ziel ist. Sie werden im Gedächtnis thesauriert oder, da sie der Maler durch operazione di mano festzuhalten vermag, auch in einer Zeichnungsmappe. Die disegni dienen als Formenfundus, dem die Darstellungsformen für Darstellungsaufgaben jeglicher Art entnommen werden können. Die produktive Verknüpfung von Dingen bezeichnet Cennini zur Unterscheidung von dem primären trovare (der Formen) der Dinge als comporre e legare insieme. Die Selektion basiert auf dem Prinzip der Ähnlichkeit. Somiglianza kommt als Begriff bei ihm nicht vor,84 aber der Libro dell’arte enthält konkrete Beispiele, die hinreichend aussagekräftig sind: Ähnlichkeit ist die Voraussetzung des bereits erwähnten Ratschlags, mithilfe der Zeichnung eines Steines zu einer natürlich aussehenden Gebirgsdarstellung zu gelangen. Dasselbe gilt auch für die Angaben dazu (Kap. 160), wie man einen Baum gestaltet, dass er aussieht, als sei er ein Baum des Paradieses (»lavorare alcuno albore che paresse degli albori di paradiso [...]«). Aufschlussreich ist ebenso die Anleitung zur Ausführung eines jugendlichen Gesichts. Sie soll die Fähigkeit vermitteln, alle Figuren zu malen, die sich hinsichtlich eines jugendlichen Gesichts ähneln, unabhängig davon, ob sie gesehene oder nicht gesehene Personen darstellten (»una testa di santa o santo giovane, sì chome è quello di Nostra Donna Santissima«85). In diesen wie in fast allen anderen Fällen steht die verstandesgemäße Anwendung wissensbasierter, lernbarer Verfahren der Formgebung im Vordergrund. Von einer Rolle der Phantasie ist lediglich in Kapitel 140 die Rede, in dem er Gravuren in Goldauflagen behandelt, eine Technik, die er in besonderer Weise schätzte: Questo granare, che io ti dico, è uno de' belli membri che abbiamo: e pòssi granare a disteso, come ti ho detto, e pòssi granare a rilievo; che con sentimento di fantasia e di mano leggiera tu poi in un campo d'oro fare fogliami e fare angioletti e altre figure che traspaiono nell'oro [...].86 Dieses Eingraben, wovon ich zu dir spreche, ist eine der schönsten Techniken, die wir besitzen. Du kannst flach gravieren, wie ich dir gesagt habe, und du kannst reliefartig gravieren.
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(1946), 593–602; Prandi (1962), 359–360; Summers (1981), 128–129 (Augustinus, Albertus Magnus, Thomas von Aquin); Eco (1991), 172 (Avicenna, Thomas von Aquin). In Kap. 181 wird jedoch die Naturnachahmung des »disegno mit ritrarre e simigliare chose di natural« beschrieben. Cennini, Il libro dell'arte/Ed. Frezzato (2008), 205. Cennini, Il libro dell'arte/Ed. Frezzato (2008), 113. Cennini, Il libro dell'arte/Ed. Magagnato/Brunello (1982), 143.
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Peter Seiler Du kannst mit Gespür der Phantasie und einer leichten Hand auf einem Goldgrund Blätterwerk, Engelchen und andere Figuren machen, welche im Golde glänzen.87
Cennini hat die reproduktiven und produktiven Tätigkeiten der Phantasie im ersten Kapitel zwar mit den Begriffen trovare und comporre unterschieden, aber die beiden Vermögen werden an keiner weiteren Stelle hinreichend deutlich ausgewiesen. Das betrifft auch den zitierten Passus. Welche der beiden Arten der Phantasietätigkeit Cennini hier meinte – und ob er überhaupt nur eine meinte –, ist nicht zu ermitteln. Die Verwendung des Verbs fare lässt einen eindeutigen Rückschluss auf das produktive Vermögen der Phantasie nicht zu, da man die Verbindung von sentimento di fantasia und mano leggiera im Libro dell’arte auch in Zusammenhang mit reproduktiver Phantasietätigkeit vorfindet: Das zeichnerische Erfassen der verità setzt nicht nur Intellekt, sondern auch eine geübte Hand voraus, eine mano leggiera, die es ermöglicht, subtile Feinheiten mit exakter Handtätigkeit (operazione di mano) zu erfassen. Auf jahrelanger Übung basierendes zeichnerisches Feingefühl (sentimento) erfordert nach Cennini (naturgegebene) Phantasie. Deutlich wird dies in Kapitel 27, in dem er darlegt, dass die präzise Nachahmung einer maniera nur möglich ist, wenn die Natur dem Maler ein Minimum an Phantasie »geschenkt hat«.88 Die Phantasie vermag nicht nur aus den Sinnesdaten Vorstellungsbilder zu generieren, sondern sie ist auch die Kraft, die die zeichnerische Feinmotorik ermöglicht, die man benötigt, um Vorstellungsbilder mit der Hand präzise festhalten zu können. Auf diese Auffassung scheint die Wortverbindung sentimento di fantasia hinzuweisen.89 Das Prinzip richtigen Zeichnens »Conviene che con intelletto ti guidi« (Kap. 30) ist mit der Erwähnung der Phantasie nicht außer Kraft gesetzt. Gemeint ist, dass »die Hand, die dem Intellekt gehorcht« (Michelangelo: »la mano che ubbidisce all’intelletto«)90, nur eine in vollkommener Weise geschulte Hand sein kann. Die operazione di mano basiert auf einem Zusammenspiel von fantasia und intelletto, bei dem die fantasia eine unerlässliche Hilfsfunktion und der intelletto die leitende Funktion erfüllt. Das Generieren und Kombinieren von »Engelchen und anderen Figuren« setzt jedoch auch die Neukombination im Kopf thesaurierter Formen, der disegni nella testa, und damit produktive Phantasietätigkeit voraus. Auch diese ist nicht losgelöst vom Intellekt, da sie auf wissenschaftlicher Grundlage erfolgt. Auf die Frage nach den Modalitäten der Zulässigkeit von Figuren- und Bildentwürfen, die auf dieser Art der Phantasietätigkeit basieren, ist nun näher einzugehen.
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Vgl. Cennini, Il libro dell'arte/Übers. Ilg (1888), 88–89 (mit Änderungen). Vgl. Kuhn (1991), 141: »daß du mit Gespür der Phantasie und von leichter Hand in einem Goldgrund Blätter machen kannst, Engelchen machen kannst und andere Figuren, die im Gold erscheinen.« Vgl. hierzu Seiler (2012). Vgl. hierzu Löhr (2008c), 174. Michelangelo, Non ha ‘ottimo artista alcun concetto/Ed. Frey (1964), 89.
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Erfindungsfreiheit auf wissenschaftlicher Grundlage (comporre e .lleghare) Die Malerei ist eine Kunst mit wissenschaftlichem Fundament. Das ist das zentrale Thema des ersten Kapitels. Die Phantasie steht nicht an erster Stelle. Über den Stellenwert ihrer kreativen Funktion äußert sich Cennini in Verbindung mit seiner Bestimmung des hohen wissenschaftlichen Rangs der Malerei: E con ragione merita metterla a.ssedere in secondo grado alla scienza e choronarla di poexia. La ragione è questa: che 'l poeta, con la scienzia, per una che à, il fa degnio e .llibero di potere comporre e .lleghare insieme sì e .nno come gli piace, secondo suo volontà. Per lo simile, al dipintore dato è libertà potere comporre una figura ritta, a sedere, mezzo uomo mezzo cavallo, sì come gli piace, secondo suo' fantasia.91 Und mit Recht verdient sie (die Malerei) auf der zweiten Stufe (nach) der Wissenschaft zu sitzen und mit Poesie gekrönt zu werden. Der Grund ist dieser: dass der Dichter mit der Wissenschaft – deswegen hat er eine – würdig und frei ist, ja und nein zusammenzusetzen und verbinden zu können, wie es ihm gefällt, seinem Willen folgend. Auf ähnliche Weise ist dem Maler Freiheit gegeben, eine Figur zusammenzusetzen, aufrecht, sitzend, halb Mensch, halb Pferd, so wie es ihm gefällt, nach seiner Phantasie.92
Der Passus folgt unmittelbar im Anschluss an die Feststellung, dass alle Künste (arti bisognevoli) ihre Grundlage der Philosophie verdanken, aber dennoch nicht ebenbürtig sind, da ihr Wissen (ihre scienza) unterschiedlich groß ist und ihre jeweilige Würde hiervon abhängt. Dass der Malerei ein Anrecht auf die zweite Stufe zustehe und zudem eine »Bekrönung mit Poesie«,93 wird nicht mit einer Darlegung konkreter Wissensbestände und ihrer Quantität oder Bedeutung begründet, sondern nur mit einem – anhand von Beispielen lediglich illustrierten – generellen Hinweis abgesichert: nach Cennini verfügen Dichter und Maler jeweils über eine scienza, die ihnen das Recht und die Würde verschafft, Dinge nach _____________ 91 92 93
Cennini, Il libro dell'arte/Ed. Frezzato (2008), 62. Cennini, Il libro dell’arte/Übers. Löhr (2008), 10 (mit Änderungen). Ilg in: Cennini, Il libro dell'arte/Übers. Ilg (1888), 4, übersetzte die »Krone von der Phantasie«; ebenso Schlosser (1924), 79; Kemp (1997), 131; Gramaccini (1985), 203; Eusterschulte (2000), 799; Pfisterer (2002a), 263; Blume (2003), 56; Löhr (2008), 10. Häufig wird die »Krönung durch die Poesie« als frühes Zeugnis des in späterer Zeit viel diskutierten Rangstreits von Malerei und Poesie angesehen. Diese Auffassung äußerte bereits Schlosser (1924), 80: »Der Malerei gebührt die zweite Stelle nach der Wissenschaft, neben und vor der Poesie«; vgl. auch Kuhn (1991), 146 mit der Übersetzung »die Krone vor der Poesie«, sowie zuletzt z.B. Scholz, Art. »Bild«, 646: »Hier klingt der Rangstreit der Künste an, in dem die Malerei ihre Leistungen von nun an immer höher veranschlagt.« Bätschmann/Alberti (2007), 30. Richtig ist jedoch die Übersetzung »mit Poesie«: Kruse (2000), 313 und Kruse (2003), 80: »mit Poesie«; Krüger (2001), 123: »als Poesie krönen«; Serchi, in: Cennini, Il libro dell'arte/Ed. Serchi (1999), 9: »al secondo posto, siede la pittura, che si corona di poesia«; Tarr (2003), 41: »to be crowned with poetry.« Malerei und Poesie werden von Cennini offenbar durchaus als ebenbürtig verstanden, auch wenn er lediglich die Malerei ausdrücklich auf die zweite Stufe nach der scienza platziert. Diese Auffassung äußert auch Magagnato (1982), VII.
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eigenem Gutdünken zu erfinden (comporre). Er war offenbar der Auffassung, dass dieser Hinweis ausreichendes Gewicht besäße und sich weitere Ausführungen erübrigten. Aufschlussreich ist das Motiv der Krönung, mit dem er das comporre der Maler nachdrücklich als nobelsten Teil ihrer Kunst ausweist. Bemerkenswert sind vor allem drei Punkte: (1) Cennini fasste die Erfindung der Maler als poetisches, d.h. ein Fiktionen generierendes Verfahren auf. (2) Er hielt die Einbeziehung der Poesie für geeignet, den hohen Ranganspruch der Malerei zu fundieren, obwohl sich sein Rangsystem an dem Maßstab rational fundierten Wissens orientiert und nach thomistisch-scholastischer Lehre der Poesie nur ein marginaler Wissensanspruch zuzubilligen war.94 (3) Er unternahm nicht den geringsten Versuch, in Analogie zu poetologischen Rechtfertigungen dichterischer Fiktionen malerische Fiktionen mit einer epistemischen Funktion (Belehrung durch die Vermittlung moralphilosophischer Wahrheiten) zu legitimieren. Insbesondere der letzte Punkt lässt vermuten, dass Cennini sich über die Tragweite und theoretische Brisanz seiner Aussagen nicht hinreichend im Klaren war bzw. dass er mit ihnen keine grundlegend neue, mit gängigen Vorstellungen nicht konform gehende Erweiterung der Zulässigkeit kreativer Phantasie anstrebte.
Bilder als poetische Fiktionen Die Aussage, dass das trovare cose non vedute dem Maler ermöglicht, Dinge zu zeigen, die nicht sichtbar vorhanden sind, beschreibt nach der im Vorausgehenden vorgeschlagenen Interpretation eine auf veritas zielende Formfindung und somit keine Erfindung von Fiktionen. Cennini äußert sich erst anschließend zur Fiktionalität von Gemälden. Er tut dies nicht explizit (das Verb fingere kommt nicht vor), aber indem er das Zusammenfügen von gefundenen Formen zu Gemälden als ein dem poetischen Schaffen analoges Verfahren ausweist, bringt er hinreichend deutlich zum Ausdruck, dass es sich bei den von Malern hervorgebrachten Komposita um Fiktionen handelt: um komposite figürliche Dinge, die natürlichen Dingen ähneln (.cche paiono naturali), aber in Wirklichkeit keine natürlichen Dinge sind. Die ontologische Bestimmung von Gemälden als Fiktionen war ein Grundpfeiler der traditionellen Bilderlehre. Isidor stellt in seinen Etymologiae (XIX, 16,5) prägnant fest: Pictura autem dicta quasi fictura; est enim imago ficta non veritas.95 Alles andere war nach christlicher Auffassung idolatrischer Irrglau_____________ 94 95
Zum Rang der Poesie in der thomistisch-scholastischen Lehre siehe Cheneval, in: Dante, Das Gastmahl, Erstes Buch/Ed. Ricklin/Chevenal/ (1996), XXIX; Kablitz (2009). Isidor von Sevilla, Etymologiarum sive originum libri XX, Lib. XIX,16,1/Ed. Lindsay (1987): De Pictura. Pictura autem est imago exprimens speciem rei alicuius, quae dum visa fuerit ad recordationem mentem reducit. Pictura autem dicta quasi fictura; est enim imago ficta, non veritas. Hinc et fucata, id est ficto quodam colore inlita, nihil fidei et veritatis habentia. Vnde et sunt quaedam picturae quae corpora veritatis studio coloris excedunt et fidem, dum augere contendunt, ad mendacium provehunt; sicut qui Chimaeram tricipitem pingunt, vel Scyllam hominem sursum, caninis autem capitibus cinctam deorsum. Picturam autem Aegyptii
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be. Das Herstellen von Bildern wurde trotz ihrer Fiktionalität als legitim eingestuft, weil man ihnen als Medien der Erinnerung einen positiven Nutzen zuschrieb: Pictura autem est imago exprimens speciem rei alicuius, quae dum visa fuerit ad recordationem mentem reducit. Entscheidend war der richtige Umgang mit Bildern und dazu gehörte nicht nur die grundsätzliche, zur Vermeidung von Idolatrie notwendige Unterscheidung von bildlicher Fiktion und Wahrheit, sondern auch die Unterscheidung von zulässigen Fiktionen und solchen, die als »Lügen« einzustufen und zu vermeiden waren. Cennini hat sich von traditionellen Auffassungen der christlichen Bilderlehre nicht entfernt.96 Ungewöhnlich und bemerkenswert ist nur, dass er die mit dem Verb comporre beschriebene analoge Verfahrensweise dichterischen und malerischen Schaffens zum Anlass nimmt, den Begriff poesia für die Charakterisierung der Malerei zu adaptieren. Bemerkenswert ist dies vor allem, weil er mit dieser Adaption zugleich einen (ungewöhnlich hohen) Ranganspruch verknüpft. Ohne eine Aufwertung der Poesie wäre dies nicht möglich gewesen. Dante rückt hier erneut ins Blickfeld. Dante hat sich von der thomistisch-scholastischen Geringschätzung der Poesie, die deren Fiktionen nur einen minimalen Wahrheitsgehalt zubilligte, distanziert. Im Convivio, in dem er die Gedichte seiner Frühzeit kommentierte, reklamierte er für die Poesie mit allem Nachdruck einen philosophischen Status. Cenninis Argumentation setzt dieses »Projekt einer philosophischen Poesie«, das von Boccaccio und Petrarca aufgegriffen und modifiziert wurde, voraus.97 Durch diese Aufwertung der Poesie erhält sein Rückgriff auf die ut pictura poesisTradition erst inhaltliches Gewicht. Cennini beachtet dabei nicht, dass seine Argumentation mit seiner zuvor geäußerten Vorstellung einer Ungleichheit aller Artes bezüglich ihrer jeweiligen scienza nicht ohne weiteres vereinbar ist. Er beschänkt sich in seinen Ausführungen darauf, die Feststellung zu erläutern, dass das poetische comporre ein Verfahren ist, von dem Maler und Dichter gleichermaßen Gebrauch machen. Eine Rivalität im Sinne des späteren Paragone ist nicht zu erkennen. Trotz der _____________
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excogitaverunt [...]. Isidor von Sevilla Übers. Möller (2008), 682: »Von der Malerei (Pictura). Die Malerei aber ist ein Bild, das den Anblick einer Sache ausdrückt, die, wenn man sie gesehen hat, den Geist zur Erinnerung zurückführt. Pictura aber heißt gleichsam fictura [Bildung, Erfindung, PS], es ist nämlich ein erfundenes Bild, nicht Wirklichkeit. Daher kommt auch fucata (geschminkt), d. h. mit unechter (fictus) Farbe bestrichen, was nichts an Glaubwürdigkeit und Wahrheit besitzt. Woher es auch einige Malereien gibt, die über die Körper, wie sie in Wahrheit sind, im Eifer der Farben hinausgehen und die Wirklichkeitstreue, während sie sich bemühen, diese zu vergrößern, in Täuschung verwandeln. Wie jemand, der eine dreiköpfige Chimäre malt oder Skylla mit menschlichem Oberkörper und unten mit Hundsköpfen gegürtet. Das Malen aber haben die Ägypter ausgedacht [...].« Warnke (1997), 260, vermutet dagegen, dass Cenninis »kunstheoretische Äußerung zur Phantasie [...] aller kirchlichen Funktionsbestimmung der Malerei widerspricht«. Cheneval (1996), XXXII; zu Boccaccio und Petrarca vgl. Kemp (1977), 356 und 385–386, 395 (»The visual arts thus take second place«). Die von Summers (1981), 38, und im Folgenden ebenso von Kruse (2000), 309 angedeutete Nähe Cenninis zu Boccaccio und Petrarca lässt sich nicht erhärten.
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unterschiedlichen Wortwahl »come gli piacie, secondo suo volonta« (beim Dichter) und »chome gli piace, secondo suo’ fantasia« (beim Maler) haben die beiden Formulierungen dieselbe Bedeutung.98 Für diese Lesart spricht auch die Begründung ihrer analogen Erfindungsfreiheit von Dichtung und Malerei. Wichtig ist bei beiden die Teilhabe an der scienza, d.h. sie verfügen über ein in der Philosophie (la scienza) fundiertes (gesichertes, vernünftiges) Wissen.99 Der Rekurs auf ihre scienza zeigt auch deutlich, dass hier keine über den Regeln ihrer jeweiligen Kunst stehenden künstlerischen Freiheiten reklamiert werden. Die Ebenbürtigkeit der Erfindungen von Dichter und Maler war kein neuer Gedanke. Bereits im späten 13. Jahrhundert hat Guilelmus Durandus ihn mit Berufung auf Horaz zum Ausdruck gebracht.100 Er hielt es für zulässig, dass Maler die biblischen Historien weitgehend nach ihrem Willen ausgestalteten: Sed et diverse ystorie tam novi quam veteris testamenti pro voluntate pictorum depinguntur; nam pictoribus atque poetis quelibet audendi semper fuit equa potestas.101 Auf ikonographische Freiheiten der Maler im Bereich der religiösen Bildkunst bezieht sich Jahrzehnte später Boccaccio, um die Freizügigkeiten seines Decamerone zu rechtfertigen (Decameron, Conclusione dell’autore, 6).102 Das _____________ 98
In philosophischen Diskursen bezeichnen Wille und Phantasie unterschiedliche Seelenvermögen und sie stehen vor allem zu Vernunft und Intellekt in unterschiedlicher Verbindung. Ramelow, Art. »Wille« (II. Mittelalter und frühe Neuzeit, 770–795, bes. 771, T.-A. Ramelow), Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 12. Da Cennini jedoch in seinem Libro dell’arte beide Begriffe als Synonyme verwendet, kann man auch im Kontext der Beispiele für die Erfindungsfreiheit der Dichter und Maler keine distinkte Bedeutung zuschreiben. Auch wenn man Cennini nicht unterstellen kann, ihm sei der Unterschied von Wille und Phantasie völlig entgangen, ordnet er hier die Kreativität von Malern und Dichtern keineswegs getrennten Seelenvermögen zu. Beide besitzen die Freiheit, die Produkte ihrer Phantasie nach eigenem Gutdünken im Rahmen ihrer scienza in ihren Werken zu verwenden. Tarr (2003), 41 versucht ohne hinreichende Anhaltspunkte Cenninis Begriffzuordnung mit Filippo Villani in Verbindung zubringen. Vgl. hierzu auch Löhr (2008c), 183. 99 Irreführend ist die Gleichsetzung von scienza und »Begabung« bei Pfisterer (2002a), 263; er übersetzt: »Ebenso wie der Dichter kraft seiner Begabung das volle Recht und die volle Freiheit hat [...].« 100 Chastel (1977), 33: »Plus précis, plus explicite ce pro voluntate annonce le sì come gli piace [...] de Cennini.« Kemp (1977), 368 »[Cennini] was using just such a medieval version«; vgl. auch Kemp (1997), 124; Summers (1981), 494, Anm. 93; Eco (1991), 161. Zur Rezeption der HorazStelle im Mittelalter vgl. die Literaturangaben bei Pfisterer (2002), 48, Anm. 31. 101 Guilelmus Durandus, Rationale divinorum officiorum I, 3, 22/Ed. Davril/Thibodeau (1995), CCCM 140, 42. 102 Boccaccio, Decamerone (Conclusione)/Ed. Branca (1996), IV, 910: »Sanza che alla mia penna non dee essere meno d’auttorità conceduta che sia al pennello del dipintore, il quale senza alcuna riprensione, o almen giusta, lasciamo ste che egli faccia a san Michele ferire il serpente con la spada o con la lancia, e a san Giorgio il dragone dove gli piace, ma egli fa Cristo maschio e Eva femina, e a Lui medesimo, che volle per salute della umana generazione sopra la croce morire, quando con un chiovo e quando con due i piè gli conficca in quella.« Übers. Brockmeier (2012), 846: »Außerdem sollte man meiner Feder keine geringere Fähigkeit als dem Pinsel des Malers zubilligen, der ohne jeglichen, wenigstens gerechten Tadel – lassen wir einmal beiseite, ob der den Heiligen Michael die Schlange mit dem Schwert oder mit der Lanze, den Heiligen Georg den Drachen, wo es ihm gefällt, treffen lässt – Christus als Mann und Eva als Frau
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Anliegen, den wissenschaftlichen Status der Malerei mithilfe der ut pictura poesis-Formel zu fundieren, ist jedoch bei beiden Autoren nicht vorhanden.
Die Beispiele freier Gestaltung Die Freiheit des Dichters wird als ein Zusammenstellen und Vereinen von »ja« und »nein« erläutert, die des Malers durch zwei Gestaltungsmöglichkeiten: die Freiheit, eine Figur aufrecht oder sitzend darzustellen sowie die Kombination von Menschen- und Pferdekörper. Die Freiheit des comporre wird also als Freiheit zur Hervorbringung von Fiktionen bestimmt. Zur Beziehung von Fiktionen und Wissen (scienza) erhält man keine weiteren Hinweise, obwohl diese explizit zur Begründung poetischer und malerischer Freiheit herangezogen wird. Erneut liefert Cennini nur das Gerippe einer Argumentation. Eine mögliche Quelle für das comporre e legare insieme von »ja« und »nein« ist die Divina Commedia. Im Purgatorio (10,55–63) thematisiert Dante anhand einer eigenen dichterischen Fiktion die synästhetische Wirkung bildkünstlerischer Erfindungen. Es handelt sich um das zweite von drei in diesem Gesang beschriebenen Reliefbildern, die in der Wand des Läuterungsbergs Beispiele der Demut darstellen: um den Tanz Davids vor der Bundeslade. Zweimal gebraucht Dante die Verbindung von »ja« und »nein«, um die Widersprüchlichkeit der durch dieses Relief ausgelösten unterschiedlichen Sinneswahrnehmungen zum Ausdruck zu bringen: Zunächst beschreibt er einen Widerspruch von Sehsinn und Gehörsinn, dann einen Widerspruch von Sehsinn und Geruchsinn: Era intagliato lì nel marmo stesso lo carro e’ buoi, traendo l’arca santa, per che si teme officio non commesso. Dinanzi parea gente; e tutta quanta, partita in sette cori, a’ due mie’ sensi faceva dir l’un ‚No’, l’altro ‚Si, canta’. Similmente al fummo delli ’ncensi che v’era intagliato, li occhi e ’l naso e al sì al no discordi fensi. Eingemeißelt in den Felsen war dort der Ochsenkarren, der die Heilige Lade zieht – seither scheut man ja ein Amt ohne Auftrag. Davor waren eine Menge Leute zu erkennen, aufgeteilt in sieben Chöre, und von meinen Sinnen sagte mir der eine:
_____________ darstellt, und Ihn selbst, der um der Menschheit Heil am Kreuz sterben wollte, einmal mit einem, dann wieder mit zwei Nägeln die Füße festnagelt.« Ein ähnlicher Passus zur Rechtfertigung künstlerischer Lizenz, der auch die profane Malerei berücksichtigt, ist im letzten Kapitel der Genealogie deorum gentilium enthalten. Boccaccio, Genealogie Deorum Gentilium XIV, 18/Ed. Branca (1998), VII–VIII/2, 1474. Vgl. Gilbert (1991), 56–61 und (1991a), 167– 196; Watson (1984), 60–64; Blume (2003), 53–55.
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»Sie singen ›ja‹« und der andere: »Ich höre aber nichts.« Ganz ähnlich erging es beim Weihrauch, der dort abgebildet war, den Augen und der Nase: Sie konnten sich nicht einigen.103
Es handelt sich bei diesem wie auch bei allen anderen im Purgatorio beschriebenen Reliefskulpturen um imaginierte Produkte einer übernatürlichen, den höchsten Perfektionsgrad erreichenden Bildkunst Gottes. Mit den Ambivalenzen der Sinneseindrücke, die durch das Relief, das die alttestamentliche Szene des demütigen David darstellt, hervorgerufen werden, fingiert Dante Vorzüge jenseitiger Kunst.104 Es läßt sich nicht klären, ob die im Libro dell’arte enthaltene Formel des comporre e legare insime si e no come gli piace direkt durch diese Bildbeschreibung angeregt wurde.105 Aber auch wenn es tatsächlich der Fall gewesen wäre, dann bliebe Cenninis Rückgriff auf Dante weitgehend unverständlich, da nicht deutlich wird, ob er das Si-e-No-Motiv dem Dichter zuordnete, weil es einer dichterischen Fiktion Dantes entstammte, oder ob er bezweifelte, dass menschliche Malerei diese geschilderten Wirkungen zu ihren höchsten Zielen rechnen sollte. Das erste der beiden Beispiele zur Erläuterung der Erfindungsfreiheit des Malers, der Hinweis auf die Variationsmöglichkeit, Figuren »sitzend oder aufrecht« darzustellen, stand in enger Verbindung zur malerischen Praxis.106 Modifikationen von Körperhaltungen gehörten zu den alltäglichen Kompositionsaufgaben, und waren bei Aufträgen gelegentlich auch Gegenstand vertraglicher Regelungen. So ließ sich z.B. Neri di Bicci derartige Gestaltungsspielräume ausdrücklich zusichern: »1462 darf er einen Heiligen Hieronymus ›kniend oder stehend, wie es mir gut scheint‹, 1473 einen Johannes ›entweder kniend oder stehend, wie es mir am besten erscheint‹, malen.«107 Die Entscheidung darüber, ob Maria und Johannes unter dem Kreuz stehen oder sitzen, ob der Erzengel Gabriel und Maria bei der Verkündigung stehen oder knien oder auch ob Josef alt und jung dargestellt wurde,108 beanspruchten Künstler als eine Domäne ihres Willens und ihrer Imagination. _____________ 103 Übers. Köhler (2011), 189. 104 Zu dieser Bildbeschreibung Dantes vgl. Kablitz (1998), 332. 105 Eine direkte Verbindung zu den von Summers (1981), 493, Anm. 91, aufgeführten Stellen bei Aristoteles, De anima, 427b20, 428a10, 432a10)/Ed. Ross (1956), Übers. Krapinger (2011), ist nicht zu erkennen. 106 Mit dem ersten Beispiel sind weder in Analogie zur Poesie rhetorische Figuren als Schmuck gemeint, wie Summers (1981), 88, annahm, noch »Zufallsbilder«, wie Gramaccini (1985), 202, glaubte annehmen zu können. Kritisch zu diesen Überlegungen äußert sich bereits Löhr (2008b), 171. Der deutliche Praxisbezug dieses Beispiels wird von Belting (2001a) nicht berücksichtigt: »Die Phantasie kommt, als Rechtfertigung der Kunst als Kunst, seltsamerweise erstmals bei dem Florentiner Werkstattpraktiker Cennino Cennini zu Ehren, übrigens ohne Bezug zur Kunstpraxis der Zeit um 1400.« 107 Warnke (1997), 260 und (1997a), 31 mit weiteren Beispielen. 108 Gerson entschuldigte mit dem Horaz-Dictum, dass von Deutschen Josef in aetate iuvenili dargestellt wurde (Opera omnia, Anvers 1706, III, col. 1352) zit. nach Schapiro, (1945), 182– 187.
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Das dritte Beispiel, das Kentaurenmotiv, das häufig ausschließlich Aufmerksamkeit findet, ähnelt zwar der Beschreibung der widernatürlichen Kreatur109, die Horaz in der ersten Zeile (zu Beginn) der Ars poetica imaginiert;110 es handelt sich aber keineswegs um ein »unausgewiesenes Horaz-Zitat.«111 Der römische Dichter verwendet das Mischwesen zudem als Negativbeispiel, um unzulässige, lächerliche Regelüberschreitungen zu kritisieren: Bereits Isidor von Sevilla adaptierte und modifizierte das Beispiel für seine Ausführungen zur Malerei, um zu verdeutlichen, dass übereifrige Maler Fiktionen hervorbringen, weil sie über die Körper, wie sie in Wirklichkeit sind (corpora veritatis), hinausgehen und sich zu Lügen hinreißen lassen (ad mendacium provehunt).112 Mutmaßungen darüber, ob Cennini bei dem Versuch Horaz als Authorität aufzurufen, ein grobes Missverständnis unterlief113 oder ob eine bewusste »antihorazische« Erweiterung der bildkünstlerischen Lizenz vorliegt,114 fehlt daher eine hinreichende Grundlage. Dass eine direkte Horaz-Referenz wenig wahrscheinlich ist, zeigen auch die Unterschiede zur Ars poetica: (1) Zwei der drei Erläuterungen kommen in Ars poetica nicht vor. (2) Der Kentaur, der als Ersatz für das Mischwesen der Ars poetica zu fungieren scheint, steht erst an zweiter Stelle der beiden dem Maler zugeordneten Beispiele. (3) Horaz erwähnt sein Mischwesen als Beispiel für einen Mangel an formaler Einheitlichkeit; Bücher, die solchen Gemälden ähnelten, seien wie Wahngebilde, die in Fieberträumen entstehen: sie entstünden aus einer Unkenntnis der Kunstregeln (si caret arte); im Libro dell’arte spielt die Forderung nach formaler und inhaltlicher Angemessenheit keine Rolle. Cennini fordert auch nicht das Recht, die Regeln der Kunst zugunsten der Phantasie auszublenden. Im Gegenteil: Er beruft sich auf die verstandesgemäßen Grundlagen der Malerei: Der Maler habe auf der Grundlage seiner scienza das Recht, auch Mischwesen wie den Kentaur zu erfinden. Mischwesen waren in der malerischen Praxis nicht unbekannt. Sie wurden freilich überwiegend in (dekorativen) Randbereichen (und nur in Sonderfällen in narrativen Bildern (Historien) verwendet. Dass sie auch von Cennini als grundsätzlich zulässig eingestuft wurden, macht ihn noch nicht zum künstlerischen Nonkonformisten und Bahnbrecher ungewöhnlicher künstlerischer Freiheiten.115 _____________ 109 Horaz, Ars poectica 1–2 (Übers. Färber [1985], 539): Humano capiti cervicem pictor equinam / iungere si velit – »Ein Menschenhaupt mit Pferdes Hals und Nacken: denkt euch, so schüfe es die Laune eines Malers.« 110 Schlosser (1924), 80: »unmittelbar« oder »auf einem Umwege« aus dem »vielgelesenen [...] Schulbuch bezogen«. 111 Vöhringer (2010), 25; ebenso nimmt Kruse (2003), 80, an, dass Cennini Horaz »zitiert«. 112 Vgl. hierzu Assunto (1961), 61–62. 113 Kruse (2000), 313 und Kruse (2003), 80; Puttfarken (2000), 50; Zweifel an einer direkten HoazKenntnis Cenninis äußert Löhr (2008b), 169 und Löhr (2008c), 183. 114 Wanke (1997a), 31 fasste die »Lizenz zu tierischen Drôlerien« als »antihorazische Erinnerung« auf; vgl. auch Warnke (1997), 259–260; vgl. auch Summers (1981), 51 und 133. 115 Boscovits (1973); Chastel (1977), 33: »La déclaration de Cennino ne concerne pas les programmes de la peinture; il ne revendique pas pour elle le droit de déployer des scènes mythologiques; la phrase a plutôt une valeur de principe. Mais alors, elle doit peut-être se com-
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fantasia, pratica und saper d’intelletto Der Libro dell'arte enthält eine Reihe von Beispielen für künstlerische Gestaltungsfreiräume, Lizenzen, die für Cenninis Verständnis des Verhältnisses von Phantasie und Intellekt/Wissen aufschlussreich sind. Von Entscheidungsfreiheit ist vor allem dann die Rede, wenn rationale Erwägungen nicht verbindlich vorgeben, was zu tun ist. Aus dem Wissensfundus, der zur Malerei als scienza gehört, ergeben sich Regeln und Verfahrensweisen, die grundsätzlich zu befolgen sind. Cennini fordert deshalb von denjenigen, die die Malerei erlernen wollen, die Sekundärtugend ubidienza (Kap. 2 und 3).116 Gelegentlich führen jedoch unter_____________ prendre par référence à quelque position contraire, qui serait d’actualité, comme une allusion que tout le monde pouvait comprendre à une discussion connue. [...] Mais enfin, quel besoin d’introduire les centaures? Sinon pour défendre une fois de plus la légitimité de l’art et des ornements de fantaisie contre ceux qui tiennent pour la règle ascétique et ›aniconiste‹ de SaintBernard. N’est-ce pas celui-ci qui, dans un texte appelé à un grand retentissement, jusqu’à SaintAntonin, Savonarole et au Cardinal Paeoletti, s’écriait: ›Quid facit illa ridicula monstroistas? Quid centauri? Quid semihomines?‹ [...] L’allusion au ›centaure‹, l’affirmation toute théorique sur ›sì come gli piace‹, a bien pu être depuis le XIIIe siècle une petite contre-attaque habituelle contre toute manifestation d’intolérance.« Mehr Gewicht glaubt Pfisterer (1996), 114, Cenninis Äußerung beimessen zu können: »Die radikalste Forderung deduziert jedoch zu Beginn des Quattrocento Cennino Cennini in seinem Lehrbuch der Malerei aus den ersten Zeilen der Horazschen Dichtkunst«. Überbewertet wird Cennninis Äußerung auch von Kruse (2003), 132: »Das theoretische Konzept des Capriccio ist bereits bei Cennino Cennini in nuce vorhanden«. 116 Obwohl Cennini ubidienza fordert, vermeidet er gleichwohl bei der Beschreibung der vielfältigen handwerklichen Tätigkeiten des Malers Formulierungen zu wählen, die explizit verdeutlichen, dass er vielfach etwas tun muss, weil er von Aufträgen und Auftraggebern abhängig ist. In Kap. 144 formuliert er den hiermit verbunden sozialen Anspruch: »E sappi ch ’l lavorare di tavola è proprio da gentile huomo, che co’ velluti indosso puoi far ciò che vuoi.« (Cennini, Il libro dell'arte/Ed. Frezzato [2008], 168); Frezzato weist in Anm. b auf eine ähnliche Bemerkung Leonardos, die jedoch im Kontext des Paragone von Malerei und Skulptur steht). Cenninis Bevorzugung und häufige Verwendung des Modalverbs »wollen« ist evident und lässt erkennen, dass es ihm generell wichtig ist, das Tun des Malers nicht als ein von äußeren sozialen Zwängen und Verbindlichkeiten bestimmtes Tun erscheinen zu lassen, sondern als eine weitgehend auf individuellen Willensentscheidungen des Malers basierende Tätgkeit, die lediglich den Regeln der arte di dipingere verpflichtet ist. So werden auch technische Anleitungen, wie man etwas machen soll, überwiegend mit Wendungen wie »Wenn du x machen willst, musst du y tun« zum Ausdruck gebracht: Kap. 16, 73; Kap. 17, 74; Kap 20, 76; Kap. 24, 78; Kap. 25, 79; Kap. 49, 98; Kap. 54, 100; Kap 55, 100; Kap. 56, 101; Kap. 57, 101; Kap. 58, 102; Kap. 59, 102; Kap. 60, 103; Kap. 62, 103; Kap. 62, 105, 107; Kap. 66, 110; Kap. 67, 110; Kap. 68, 116; Kap. 69, 117; Kap. 71, 118; Kap. 72, 120; Kap. 73, 122; Kap. 74, 122; Kap. 75, 122; Kap. 76, 123; Kap. 77, 123; Kap. 78, 124; Kap. 79, 124; Kap. 80, 124; Kap. 81, 124; Kap. 82, 125; Kap. 83, 125; Kap. 84, 126; Kap. 85, 126; Kap. 86, 127; Kap. 87, 127; Kap. 88, 129; Kap. 98, 134; Kap. 101, 135; Kap. 124, 151; Kap. 131, 155; Kap. 134, 156; Kap. 136, 159; Kap. 141, 162; Kap. 142, 164; Kap. 143, 165; Kap. 144, 166; Kap. 144, 169; Kap. 145, 169; Kap. 150, 173; Kap. 151, 174; Kap. 152, 175; Kap. 153, 176; Kap. 155, 178; Kap. 157, 179; Kap. 158, 179; Kap. 160, 180; Kap. 162, 183; Kap 163, 185; Kap. 170, 189; Kap. 172, 194; Kap. 173, 196; Kap. 174, 198; Kap. 174, 199; Kap. 175, 201; Kap. 179, 203; Kap. 180, 204; Kap. 182, 205, 206; Kap. 187, 210; Kap. 189, 211; Kap. 198, 212. An anderen Stellen steht statt se vuoi fare gelegentlich die Wendung per fare. (z.B. Kap. 21, 77). Formulierungen, die
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schiedliche oder sogar beliebig viele Wege zum Ziel, woraus sich für den Maler Wahlfreiheiten ergeben. Cennini weist auf solche Fälle der Wahlfreiheiten mit stereotypen Wendungen immer wieder hin: außer der bereits in Kapitel 1 vorkommenden Formel »chome ti piacie« gebraucht er auch »chome tu vuoi, secondo che vuoi, chome a .tte parrà« und andere.117 _____________ äußere Zwänge, Vorgaben und Abhängigkeiten implizieren sind nicht nur weit weniger häufig, sondern sie häufen sich in den Teilen des Libro dell’arte, die von Cennini nachträglich ergänzt wurden (Kap. 162–189). Vgl. hierzu Seiler (2012) 45–46: Kap. 67, 111: »Poi, secondo la storia o .ffighure che .dde’ fare [...]«; Kap. 72, 120: »Mo si à’ tu a .llavorare uno azurro biancheggiat [...]; Kap. 88, 135 Imprima impara a .ttagliare le stelle, tutte cholla righa; e dove l’ài a mettere [...]; Kap. 163, 183 Se tu havessi havere a lavorare in tela [...]«; Kap. 165, 185: »Se ài a . llavorare in zendad [...] / Se ài a disegnare di notte [...] / Se nonn-è sole, e ài a disegnar [...] / quel che ài a disegnare [...]; »dove ài a .ccholorire [...]«; Kap. 166, 186: »Se avessi a .llavorare in velluti [...]«; Kap. 166, 186; Kap. 167, 186: »Se chaso t’aviene d’avere a .llavorare in panno di lana [...]; Kap. 167, 187 dove ài a mettere d’oro [...]«; Kap. 169, 188: »Quando ti viene il chaso di fare alchuno cimieri o elmo [...] / E di questo giesso va’ ponendo e bozzando, dandogli quella forma o d’uomo o d’animale che abbi a .ffare, o d’uccielo [...]«; Kap. 171, 192: »E se t’avenisse a .ffare fighurette picchole [...]«; Kap. 174, 200: »E se pur ti venisse caso che per alcuno lavorio [...]«; Kap. 178, 202: »Troverrai alchuni che .tti faranno fare in tavola in verdi [...]«; Kap. 179, 203: »Usando l’arte, per alchune volte t’adiverrà avere a .ttigniere o dipingnere in carne [...]«. 117 Die Wahl- und Gestaltungsfreiheiten reichen von zeichnerischen Entwürden von Figuren und Historien bis hin zu technischen Einzelheiten: Kap. 1, 62: »sì chome gli piace, secondo suo’ fantasia«; Kap. 12, 70 »e torrai via quello che vorrai«; Kap. 13, 70: »Praticato che ài in questo essercizio un anno e più e meno, secondo che apetito, diletto, tu arai preso«; Kap. 14, 72: »e .ffa’ la temperatura grossa e sottile secondo che voi, o per disegniare o per iscrivere«; Kap. 15, 72: »e poi fare le tuo’ tinte o in rosetta, on in biffo, o in verde, o azurrine, o berettine, cioè colore bigie, o incarnate, o come ti piacie«; Kap. 17, 75: »Vero è ch’a ’lcuni piacie molto brunire pur su la carta tinta, cioè che .lla pietra da brunire la tocchi e cerchi perché l’abbi un poccho di lustro; poi fa’ chome a .tte piacie, ma ’l mio primo modo è migliore / fa’ chome tu vuoi«; Kap. 23, 78: »sì chome tu ài i piacieri su«; Kap. 24, 78: »Se la vuoi più lucida«; Kap. 29, 82: »o storia e .ffigura che vuogli ritrarre«; Kap. 33, 87: »e per lo simile può far de’ charbon grandi e de’ piccholi e far chome ti piacie, ché miglior charboni nonn-è al mondo«; Kap. 34, 87: »E disegnia sechondo che huoi«; Kap. 36, 88: »chome le piacie«; Kap. 62, 105: »Diliberati in te medesimo di quante ragioni tu vuoi azuri, o di tre, o di quattro, o di sei [...]«; Kap. 67, 113: »e’ ti paresse / secondo che a .tte paresse« (Ende der Kapitelserie zum Zeichnen); Kap. 38, 91: »Chome n’ài bisognio, tra’ne quel ch .tti pare, che ’l detto cholore« [eine Mischung von cinabrese und bianchozo PS] ti fa grande honore di cholorir vuolti, mani e igniudi in muro, chome detto ò, e talvolta ne può fare di belli vestiri, che in muro paiono di cinabro«; Kap. 67, 112: »Poi fa’ prima i tuo’ fregi o altre cose che voglia fare d’attorno; e .cchome a .tte convien«; Kap. 71, 118: »un vestire di qual vestir tu voi / o cchome tu vuoi«; Kap. 72, 121: »va’ colorire chome tu voi«; Kap. 78, 124: »o vuoi di nero, o voi di biffo, o vuoi di verde schuro«; Kap. 87, 127: »nella grandezza che vuoi / di quel colore tu voi«; Kap. 90, 130: »o vuoi chon ispugnia, o vuoi col pennello morbido et mozetto«; Kap. 103, 136: »Quando non vuoi adornare le tue figure di stagnio, puo’ adornare di mordenti«; Kap. 124, 151: »e andare prestamente a .rrilevare quello che vuoi«; Kap. 128, 153: »divise di que’ ragion che vuoi«; Kap. 132, 155: »Anchora si può fare la detta tempera inn- un'altro modo«; Kap. 137, 159: »E gli è vero che di verno tu poi mettere d’oro quando vuoi«; Kap. 140, 162: »disegna in sul campo dell’oro quello che tu vuoi fare, con stile d’argento, over d’otone«; Kap. 142, 164: »gratta qual tu voi«; Kap. 156, 170: »E .sse volessi drapparli d’oro, anche il puo’ fare«; Kap. 143, 164f.: »quel vestire che vuoi fare / il drappo che vuoi fare di quel cholor tu vòi«; Kap. 144, 166: »di quel colore che vuoi«; Kap. 167: »E per quest modo puoi fare de’
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Explizite Angaben dazu, welches geistige Vermögen in solchen Fällen als Entscheidungsinstanz fungiert, sind nur in sehr wenigen Fällen vorhanden. Zweimal rekurriert Cennini auf den Intellekt: Kapitel 144: »E per questo modo puoi fare de’ drappi assai e di più ragioni, secondo tuo intelletto e chome di ciò ti diletterai118 und Kapitel 170: »Qui fa’ intagliare fighure, animali, divise, fiori, stelle, rose, e d’ogni manieri che nello intelletto tuo disideri.«119 In Kapitel 172 fordert Cennini offenbar zur Absicherung einer guten Entscheidung zu einer religiösen Invokation auf: »e chol nome di Dio inchomincia leggiermente a disegnare con questa ghugiella quella fighura che voi fare«.120 In Analogie zu der in Kapitel 1 enthaltenen Verknüpfung »come ti piace, secondo tua fantasia« wären auch Hinweise auf die Phantasie möglich und zu erwarten gewesen. Cennini bringt jedoch nur in Kapitel 173 in Verbindung mit seinen Ausführungen zum Zeugdruck fantasia erneut ins Spiel. Die Rede ist von den Gestaltungsmöglichkeiten farblicher Kontraste. Unerwartet und eher beiläufig, aber gleichwohl mit dem Anspruch einer grundsätzlichen Erkenntnis, weist er der Phantasie an dieser Stelle eine relative Autonomie gegenüber dem intelletto zu. Sie fungiere als Vermögen, das es ermöglicht, in der künstlerischen Praxis Erfahrungswissen zu erwerben, das mit dem Wissen des Intellekts durchaus kompatibel sei. Das liege daran, dass jede Kunst von Natur aus über die Anlage zur Ausbildung von Fähigkeiten und Wohlgefallen verfüge:
_____________ drappi assai e di più ragioni, secondo tuo intelletto e chome di ciò ti diletterai«; Kap. 145, 168: »E sappi che’l lavorare di tavola è proprio da gientile huomo, che co’ velluti indosso puoi far ciò che vuoi«; Kap. 157, 178: »disegni fighure, fogliami, lettere, o quello che .ttu voi«; Kap. 163, 184: »e colorisci vestimenti, visi, montagne, casamenti, e quello che a te pare«; Kap. 164, 184: »disegna quello chevuoi«; Kap. 167, 187: »e metti di quell’oro o ariento che a.tte pare«; Kap. 170, 189: »Qui fa’ intagliare fighure, animali, divise, fiori, stelle, rose, e d’ogni manieri che nello intelletto tuo disideri«; Kap. 190: »E per questo modo ne fa’ quella quantità che voi«; Kap. 191: »con ciò che cholor tu vuoi«; Kap. 172, 193: »taglialo di quella quadra che vuoi / e chol nome di Dio inchomincia leggiermente a disegnare con questa ghugiella quella fighura che voi fare«; Kap. 173, 195: »in .lla quale vuole essere disegnata d’ogni ragion drappo di seta che vuoi, o di foglie o d’animali«; Kap. 196: »e va’ chompartendo di questo giallo o animali o fighure o .ffogliami, chome a .tte parrà«; Kap. 173, 197: »e più chiari e più scuri sechondo che a . tte parrà che per tua fantasia possa comprendere«; Kap. 174, 198: »e fanne per questo modo tanto che a .tte basti / mettila in luogho che asciughi bene, o vento o sole, chome a .tte piacie«; Kap. 177, 202: »o vuoi con colore nero, cioè di carbone di viti trito bene e temperato con uovo, o vuoi pure rossume d’uovo a l’albume insieme«; Kap. 179, 203: »I tuoi colori puoi fare temperati chon uovo; o vuoi, per caleffare, ad olio o con vernicie liquida«; Kap. 184, 206: »Abbia apparecchiato giesso bolognese, o vuoi volterrano«; Kap. 185, 209: »la predetta forma, overo impronta, tu .lla puoi buttare che metallo tu voi; mai o ti consiglia di ciera«; Kap. 187, 211: »e falla sodetta a.ttuo modo, sì chome ti pare«; Kap. 189, 211: »Abbi una chatinella meza d’acqua chiara o piena, come tu vuoi«; Kap. 212: »e asciugha la detta cienere al sole o .cchome tu vuoi.« 118 Cennini, Il libro dell'arte/Ed. Frezzato (2008), 167. 119 Cennini, Il libro dell'arte/Ed. Frezzato (2008), 189. 120 Cennini, Il libro dell'arte/Ed. Frezzato (2008), 193.
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Cap. 173 [...] Se .lla tela è negra la puoi lavorare d'un biavo ben chiaro, cioè biacha assai e poccho indacho, mischolato, macinato e temperato sechondo usanza che detto t'ò degli altri cholori. Se .lla tela è biava togli della biacha macinata e risecchata, e temperata sechondo il modo degli altri cholori. E gieneralmente, sechondo che truovi i champi, sechondo tu puoi trovare altri cholori svariati da quelli, e più chiari e più schuri sechondo che a .tte parrà che per tua fantasia possa chomprendere, ché .ll'una chosa t'insegnerà l'altra, sì per praticha e .ssì per saper d'intelletto. La ragione? Che ciascheduna arte di suo natura è abile e piacevole; che ne piglia se n'à, e simile per lo chontrario.121 Kap. 173 [...] Ist die Leinwand schwarz, so kannst du mit einem ziemlich hellen Blau arbeiten, das ist nämlich genügend Bleiweiss und ein wenig Indigo, vermischt, verrieben und a Tempera bereitet, nach dem Gebrauch, den ich dir bei den anderen Farben angegeben habe. Wenn die Leinwand lichtblau ist, nimm Bleiweiss, welches gemahlen und getrocknet und bereitet ist nach der Weise der anderen Farben. Und im Allgemeinen: je nachdem du die Grundfarbe vorfindest, kannst du andere abstechende wählen, mehr hell oder dunkel, wie es dir gutdünkt, und du nach deiner Phantasie verstehen kannst. Denn eine Sache lehrt nämlich die andere, so durch die Praxis und so durch das Wissen des Intellekts. Der Grund ist, weil jede Kunst ihrer Natur nach fähig und gefällig ist, wer danach strebt, erreicht sie, und umgekehrt.122
Das »Wissen des Intellekts« erfährt eine Ergänzung durch die Erfahrung der Praxis und diese wird durch das Wissen des Intellekts instruiert. Der Phantasie wird auch Entscheidungskompetenz zugebilligt und zwar in Fällen, in denen rationale Anleitung nicht ausreicht. Pratica und fantasia werden in diesem Zusammenhang gegenüber dem intelletto aufgewertet, ohne dass dessen Bedeutung und Autorität grundsätzlich in Frage gestellt wird.123 Eine Neigung, Bedenken gegenüber einer Überschätzung des saper dell’intelletto zu äußern, ist auch in Kap. 104 erkennbar. Hier stellt Cennini fest, dass man allein durch die Lektüre des Libro nicht zu einem guten Maler werden könne. Erforderlich sei Werkstattpraxis.124 Erneut betont er dies in Kapitel 67 in Verbindung mit Techniken der Inkarnatmalerei: »Ma veggiendo tu lavorare e pratichare la mano, ti sarebbe più avidente che vederlo per iscrittura.«125 Rein intellektuelles Buch- und Studierstubenstudium wird skeptisch beurteilt. Die idealen Leser seines Libro finden den Weg in die Werkstatt. Die Praxis erfordert nach Cennini die Tätigkeit der Phantasie. Phantasie hat hier _____________ 121 Cennini, Il libro dell'arte/Ed. Frezzato (2008), 197–198. 122 Cennini, Il libro dell'arte/Übers. Ilg (1888), 123–124. Vgl. den Kommentar von Frezzato, in: Cennnini, Il libro dell'arte/Ed. Frezzato (2008), 198, Anm. 208. 123 Cenninis Betonung des Stellenwerts der pratica dürfte auf Werkstatterfahrung basieren. Beachtenswert ist gleichwohl, dass Konzeptionen praktischen Wissens seit dem 14. Jahrhundert zunehmend von Gelehrten theoretisch reflektiert wurden. Siehe hierzu Lohr (2010), bes. 36–37; zum traditionellen Verständnis von usus, ars und scientia siehe Binding (1994), 967–980. 124 Vgl. hierzu Seiler (2012), 45. 125 Cennini, Il libro dell'arte/Ed. Frezzato (2008), 115; vgl. auch die Formulierungen: »Quando ài la praticha nella mano d’aombrare« (83); »sicchè sia praticho nel occhio tuo di non ghuastare li azzuri buoni per i chattivi« (106).
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im Wesentlichen die Bedeutung des modernen Begriffs »Intuition«.126 Gemeint ist sowohl die Fähigkeit durch intuitives Vorgehen Erfahrungswissen zu erwerben wie auch die Fähigkeit, intuitiv Entscheidungen zu treffen. Das Schaffen neuer Gemälde umfasst verschiedene Arbeitsschritte, für die Cennini vielfach intuitives Vorgehen für unerlässlich hält; die zeichnerische Entwurfstätigkeit, das comporre von figure o storie ist nur einer von mehreren solcher Arbeitsschritte. Das seltene Vorkommen des Begriffs Phantasie127 liegt nicht zuletzt wohl daran, dass er (im Werkstattjargon nicht verankert und) im Kontext der Malerei neu war. Um in der Praxis erforderliche intuitive Fähigkeiten zu bezeichnen, verwendet Cennini häufiger den ihm offenbar geläufigeren Begriff: sentimento, der allerdings eine spezifische Bedeutung hat.128 Sentimento setzt nach Cenninis Verwendung des Wortes die Mitwirkung der auf natürlicher Begabung basierenden Phantasie voraus, bezeichnet aber in erster Linie ein Vermögen, das durch operazione di mano erworben wird und (anders als die Phantasie) auch stetig erweitert werden kann. Die Malerei wird in Cenninos Libro dell’arte als eine auf Naturnachahmung basierende Kunst ausgewiesen. Ein perfekter Maler kann nur derjenige werden, der aus natürlicher Liebe (amor naturale) Gefallen an ihr findet und mit edler Gesinnung (animo gentile) bestrebt ist, sie gemäß ihrer Wissenschaft (scienza) auszuüben. Ihr rationales Wissen besteht nicht nur in technischem know how, sondern auch in philosophischen Wahrheiten. Dadurch erhält sie einen besonderen Rang unmittelbar unterhalb der Philosophie. Durch präzises Zeichnen von Naturdingen ist es dem Maler möglich, die ihnen inhärente, metaphysische Substanz zu finden und – soweit es ihm seine Fähigkeiten ermöglichen – zu fixieren. Die Formen (disegni), die er sich durch das trovare cose non vedute aneignet, sind keine Erfindungen, sondern besitzen Naturwahrheit. Nur durch seinen in jahrelanger Praxis des Zeichnens erworbenen Formenfundus erlangt er das Vermögen und die Freiheit, Dinge aller Art darzustellen. Gemälde mit Figuren und Historien (figure e storie) basieren auf der Neuzusammensetzung – dem comporre e .llegare insieme – naturwahrer Formen. Dieses Komponieren wird als poetischer Modus aufgefasst. Das reproduktive Zeichnen nach der Natur (ritrarre del naturale) wie auch die produktive Hervorbringung neuer Formverbindungen erfordern Phantasie und Intellekt. Cennini fasst Phantasie nicht einseitig als kreatives Vermögen auf, sondern im Anschluss an die mittelalterliche Fakultätenpsychologie als zweifaches Vermögen. Die von ihm reklamierte Lizenz zur freien _____________ 126 Vgl. Kobusch, Art. »Intuition« Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 4, Sp. 524–540. 127 Cennini, Il libro dell'arte/Ed. Frezzato (2008), 4, 27, 143, 189. 128 Cennini, Il libro dell'arte/Ed. Frezzato (2008), 81, Kap. 28: »chome inchominci aver qualche sentimento nel disegnare« (85), Kap. 31: »e seghuita, più volte andando chol tuo pennello, e ghuidalo con sentimero« (114), Kap. 67: »E così, con sentimento ricerchare tutto il viso« (119), Kap. 71: »assettando le pieghe con buon disegnio e sentimento« (159); Kap. 137: »schuoprilo piano, con sentimento« (162); Kap. 140: »che con sentimento di fantasia e di mano leggiera tu poi in un campo d’oro dare fogliami« (181), Kap. 160: »convien che per te medesimo adoperi sentimento in saperlo ben guidare« (200); Kap. 175: »onde di bisogno è provedersi con sentimento e con buona pratica.«
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Erfindung ist in seinem Verständnis der Malerei als scienza fundiert, und die Phantasie als Produktivkraft des Neuen wird in Synergie mit dem Intellekt des Künstlers gedacht. Direkte Rückgriffe auf antike Texte spielen im Libro dell’arte keine Rolle. Als Agent der Transformation antiken Erbes war Cennini alles andere als kreativ, aber er transferierte antikes Theoriegut, das bereits einen langen nachantiken Transformationsprozess durchlaufen hatte, in das Ambiente der spätmittelalterlichen Malerwerkstätten.
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Bildräume des Geistes. Nicolaus Cusanus und die Theorie mentaler Bilder in der Renaissance ANNE EUSTERSCHULTE
Nach Suidas ist die phantasia gleichsam ein ›Zustand des Lichts‹ (!"#$"%&! "#$) nämlich der ›Zustand der ins Licht gerückten Dinge‹ (! !"% !"#$%%"&% !"#'#(). [...] Platon nannte sie mitunter ›Malerei‹ (pictura), ich glaube deshalb, weil die Abbilder der äußeren Dinge in ihr gleichsam gemalt und ihre verschiedenen Erscheinungen geformt und nach Wunsch gestaltet werden, genau so wie auch die Maler, die verschiedenen, voneinander abweichenden Formen der Dinge abmalen. 1
Imago und imaginatio Die Auseinandersetzung mit dem Status der Imagination/phantasia (!"#$"%&!) als einer Seelenfunktion, der als Vorstellungstätigkeit das Hervorbringen mentaler Bilder zugeschrieben wird, führt auf eine lange, weit verzweigte Tradition der Aneignung und Neuinterpretation antiker Lehren. Insbesondere Aristoteles' Schrift De anima ist hier fraglos die grundlegende Referenzquelle, aus der sich die medizinisch-hirnphysiologische Erklärung der Seelenfähigkeiten in Anschluss an Galenos ebenso speist wie die Weiterentwicklung der Lehre von den Hirnventrikeln oder -sektoren zur Kennzeichnung funktional unterscheidbarer Leistungen der Imaginationstätigkeit in der arabischen Tradition (z.B. bei Avicenna). Auch für die Bestimmung des !"#$"%$&'(% als einer Funktion der !)'*+'#( im Neuplatonismus ist die Aristotelische Wahrnehmungs- und Vorstellungslehre die entscheidende Folie, um ein Seelenvermögen zu bestimmen, das zwischen den Verstandes- und Wahrnehmungstätigkeiten und damit zwischen intelligibler und _____________ 1
Pico della Mirandola, De imaginatione/Ed. Keßler (1984), 50/51. »Suidas« gilt als Verfasser der Suda, eines byzantinischen Lexikons, das auf das 10. Jahrhundert datiert wird und eine Kompilation aus Beiträgen antiker Zeugnisse bzw. Lexika darstellt. Vgl. zum Maler in der Seele Platons Philebos 39a–d.
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sensibler Welt vermittelt. Bei aller Differenz der erkenntnispsychologischen wie metaphysischen Voraussetzungen lässt sich hier ein Basiskonzept ausweisen, das im Mittelalter, nicht zuletzt unter dem Einfluss der arabischen Rezeption und Übermittlung antiker Quellen in lateinischen Übersetzungen, die Auseinandersetzungen um die Seelenfunktion der imaginatio nährt. Die erkenntnistheoretischen, vermögenspsychologischen wie medizinischen Analysen der Leistungsfähigkeit und Reichweite der Vorstellungskraft ziehen in Hinsicht auf die Wirkmacht der von dieser hervorgerufenen inneren Bilder eine moralphilosophische Problematisierung nach sich. In dem Maße, wie der Vorstellungstätigkeit die Fähigkeit beigelegt wird, affektiv wirkungsvolle, gleichsam unkontrolliert sich über die Wirklichkeit hinwegsetzende Bildszenarien in der Seele der Rezipienten zu evozieren, verstärken sich Vorbehalte gegenüber der Irrtumsfähigkeit, dem Trügerischen wie der sinnlichen Verführungskraft des Imaginierten. In der Auseinandersetzung des christlichen Mittelalters mit Konzepten der imaginatio werden die genannten Traditionsstränge theologisch transformiert. Stellt sich hier doch die Aufgabe, Ansätze der antiken Seelenlehren mit einer theologischen Metaphysik des einen Gottes in ein Verhältnis zu setzen, d.h. in den Rahmen der Offenbarungs- und Schöpfungstheologie einzubetten, die den Menschen einerseits als imago dei aus seiner Gottebenbildlichkeit bestimmt, damit aber gleichzeitig die eschatologischen Bedingungen der postlapsarischen Natur des Menschen einzubegreifen hat. Dies schlägt sich insbesondere auf die Konzeption der Seele und deren bilderzeugende Fähigkeit nieder. Maßgeblich werden hierfür Seelenkonzeptionen in Rekurs auf die lateinischen und griechischen Kirchenväter, insbesondere die Rezeption der Seelentheorie Augustins sowie der Einfluss des Ps.-Dionysios Areopagita. In mittelalterlichen Aneignungsweisen, und dies setzt sich bis in frühneuzeitliche Diskussionen fort, verflechten sich allerdings die Stränge eines sogenannten Augustinischen bzw. Ps.-Dionysisch gefassten christlichen (Neu)Platonismus.2 Darauf wird in Bezug auf Nikolaus von Kues zurückzukommen sein. Entscheidend ist jedoch zunächst einmal, dass im Zuge der christlichen Appropriation von Imaginations-Theorien eine Neubewertung der bilderzeugenden Vorstellungstätigkeit sowie des Status mentaler Bilder unter den Voraussetzungen einer theologisch gefassten Seelenlehre wirksam wird. Im Folgenden sei dies an der Geistmetaphysik des Cusaners und dessen Voraussetzungen exemplarisch ausgewiesen. Damit ist nicht zuletzt die Zielsetzung verbunden, eine in der Forschung immer wieder formulierte Auffassung einer kritischen Befragung zu unterziehen. So scheint es ein nahezu einhellig akzeptierter Befund, dass die von Aneignungsweisen der antiken Tradition durchdrungenen Auseinandersetzungen mit der imaginatio vom Mittelalter über die Renaissance bis in die Frühe Neuzeit, bei aller theoriespezifischen Differenzierung, durch die Grundauffassung gekennzeichnet _____________ 2
Vgl. Koch (1956/57), 117–133.
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werden können, dass mit dem Konzept der imaginatio/phantasia ein reproduktives Seelenvermögen gekennzeichnet wird. Reproduktiv oder in der geistigen Vergegenwärtigung wiederhervorbringend ist die Imagination, sofern sie für das Vermögen einer Aufnahme und Vergegenwärtigung von über die Sinneswahrnehmung vermittelten Wahrnehmungsbildern in Absenz der Wahrnehmungsgegenstände steht. Neben der rezeptiven und bewahrenden Fähigkeit (dem Gedächtnis/memoria) wird ihr weiterhin die Fähigkeit zugeschrieben, Vorstellungen neu zusammenzusetzen, d.h. kombinatorisch komplexe Vorstellungsbilder zu komponieren oder gar hybride Verbildlichungen zu fingieren (Traumbilder, Halluzinationen, Wahnvorstellungen, Chimären der künstlerischen Fiktion). Ausschlaggebend bleibt der Bezug auf konkrete Phänomene und damit die Auffassung, dass die Vorstellungskraft ohne äußere Eindrücke gar nicht tätig zu werden vermag. Sie ist abhängig von Sinneseindrücken und damit gebunden an die konkrete Dingwelt wie die körperlichen Organe. Folgt man diesem Befund, dann bewegen sich die Auseinandersetzungen um das Vermögen der Imagination in den Grenzen einer reproduktiven Vorstellungskraft und markieren in diesem Rahmen die Spielräume der poetischen Fiktion und Invention. Eine hiervon zu unterscheidende, künstlerische Imaginations- oder Phantasietätigkeit als Vermögen freier Bilderzeugung oder der Befähigung, neue Vorstellungswelten hervorzubringen, und damit die Charakterisierung einer produktiven Einbildungskraft oder gar eines schöpferischen Vermögens (Genie) wird vielfach als Charakteristikum kunsttheoretischer wie ästhetischer Debatten bestimmt, die um 1800 einsetzen.3 Danach ließe sich von einer theoretischen Explikation einer produktiven Einbildungskraft erst im Kontext der idealistischen Philosophie bzw. romantischen Kunsttheorie (etwa bei Kant oder Schelling, Coleridge u.a.) sprechen. With Kant and the German Idealists imagination becomes central to human understandig: the very possibility of knowledge depends on the synthesizing power of imagination which at some subconscious level orders and classifies our experience according to rules which exist in the mind independently of the external world. [...] Imagination is no longer simply a ›reproductive‹ faculty which forms images from preexisting phenomena, but a productive or creative power which autonomously frames and constructs its own image of reality.4
_____________ 3
4
Park (1984) 16–40, hier 40 in Bezug auf Bate (1968), 158–169, zit. 160. »Vor dem 18. Jh. haben Einbildungskraft und Imagination zu keiner Zeit im Zentrum ästhetischer Diskussionen gestanden. [...] Abgesehen von wenigen Ausnahmen wie Philostratos im 3. und Ficino im 15. Jh. gilt Picos negative Einschätzung der Einbildungskraft von der Antike bis ins 18. Jh.; Coleridges entschieden positive Beurteilung ist ebenso typisch für die letzten 250 Jahre.« Schulte-Sasse Art. »Einbildungskraft/Imagination« (2001), 88–120, hier 89f. Siehe hierzu die Ausführungen in der Einleitung dieses Bandes. Murray (1999), VIIf.
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Der hier exemplarisch wiedergegebenen Feststellung, dass eine produktive, kreative Kraft der Imagination, »which autonomously frames and constructs its own image of reality« erst im 18. Jahrhundert in der ästhetischen Theorie thematisch wird, ist sicherlich insofern zuzustimmen, als die Diskussionen um Imaginationsund Vorstellungstheorien in Zeugnissen der mittelalterlichen wie frühneuzeitlichen Tradition vornehmlich in erkenntnispsychologische bzw. -theoretische Analysen eingebettet und zudem theologisch fundiert sind. Unter diesen Maßgaben, d.h. im Blick auf das Erkenntnisinteresse, das die Auseinandersetzungen leitet, sind Debatten um die ›künstlerische‹ Dignität (im engeren Sinne) oder um die ›ästhetische‹ Dimension der Imagination von eher nebengeordneter Relevanz. Das aber heißt nicht, dass hier nicht wichtige Voraussetzungen für die Bestimmung einer künstlerischen Vorstellungskraft angelegt wären. 5 So ist etwa die Auseinandersetzung mit rhetorischen Konzepten einer bilderzeugenden Kraft der Seele, ihrer inneren Malerei, Versinnbildlichung und symbolgeleiteten Erkenntnisfähigkeit sowie mit der Wirkmacht innerer Bildszenarien (im Sinne der rhetorischen enargeia) nicht erst in der Renaissancerezeption antiker Rhetoriklehren wirksam, sondern bestimmt die frühchristliche Bibelhermeneutik ebenso wie kirchenväterliche Schriften zur Psychologie bzw. christlichen Anthropologie.6 Es stellt sich also die Frage, ob nicht das Konzept einer bilderzeugenden Bewusstseinstätigkeit mitsamt den Implikationen des Schöpferischen, eines nicht lediglich reproduktiven sondern produktiven Vergegenwärtigens in Form von inneren Bildern, Zeichen, Modellen, Wirklichkeitsauffassungen, die gar nicht beanspruchen, eine gegebene Welt gleichsam realitätsgetreu wiederzugeben, sondern eine eigenständige Auffassungsweise zur Darstellung bringen, weit vor dem ausgehenden 18. Jahrhundert verhandelt wird. Dazu bedarf es allerdings einer veränderten Frageperspektive, die nicht in erster Linie auf die Verwendungsweise des Terminus imaginatio gerichtet sein wird sondern auf mentale Bildräume als Ausdruck geistiger Produktivität. Es wird nun die Aufgabe sein zu zeigen, dass und wie sich, eingefügt in eine theologisch fundierte Erkenntnistheorie, Reflexionen auf das produktive bilderzeugende Potential der Seele gerade aus einer theologischen Perspektive konstatieren lassen. Dafür ist es notwendig, den Status von inneren Bildern bzw. der imaginativen Seelentätigkeit nicht allein vor dem Hintergrund der Rezeption und Transformation der antiken, sei es (neu-)platonisch, sei es aristotelisch geprägten Psychologie zu diskutieren. Entscheidender sind vielmehr die Voraussetzungen, die mit der christlichen, maßgeblich durch das trinitarische Seelenkonzept bei Augustin geprägten Psychologie wirksam werden.7 Erst in der Verflechtung von imaginatio-Theorien und imago-dei-Lehren – so die These, die hier exemplarisch anhand der Geistphilosophie des Nikolaus von Kues zu untermauern ist – wird eine Dynamik erkennbar, mit der das produktive, _____________ 5 6 7
Vgl. hierzu Haug (2002), 577–600 und in anderer Akzentuierung Berlinger (1994), 13–30. Vgl. hierzu Eusterschulte (im Erscheinen 2014). Vgl. hierzu in systematischer Darstellung Leinkauf (2010), 98–129.
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bilderzeugende Bewusstsein nobilitiert werden kann, weil sich gerade in dem unbegrenzten Potential des Geistes Bildräume entwerfen, über die sich ein theologisch gefasstes Konzept von Gottebenbildlichkeit manifestiert. In Hinführung auf den Cusaner lassen sich zwei Voraussetzungen artikulieren: 1. Die theologische Begründung und Legitimation einer Produktivität der menschlichen Seele richtet sich wesentlich auf die Geist-Seele oder die Funktion der mens – dies wird auch für andere Theorien eines Bildbewusstseins bzw. einer bilderzeugenden Bewusstseinstätigkeit der Renaissance kennzeichnend (z.B. bei Bovillus, Ficino, Bruno, Patrizi etc.). Die mentalen Bilder und Bildräume, um die es hier geht, sind im wahrsten Sinne des Wortes Ausdruck der Gestaltungskraft der mens, die in der und durch die phantasia wirkt. 2. Unter diesen Voraussetzungen haben wir es hier nicht mit imaginatioTheorien im strengen Sinne zu tun, sondern mit einem Typus von Geistphilosophie, der in engster Verbindung zu einer christologisch interpretierten, trinitarisch gedachten Struktur reflexiver Seelentätigkeit steht. Das heißt, erst wenn man dem christlichen Gedanken der Gottebenbildlichkeit der menschlichen Seele als imago dei Gewicht gibt und die innerseelische Reflexivität und Produktivität auf ihre trinitarischen, neuplatonisch dynamisierten Muster hin auslegt, ist der Weg geebnet, um eine Theorie mentaler Bilderzeugung zu verfolgen, die mit den Stichworten reproduzierend bzw. rekombinierend nicht hinreichend gefasst ist.
Phantasia – ins Licht gerückte Dinge In der vermutlich ersten, ausdrücklich der Imagination gewidmeten Schrift an der Schwelle des 16. Jahrhunderts, dem Traktat De imaginatione (1501) von Gianfrancesco Pico della Mirandola, wird die Aristotelische Wahrnehmungspsychologie sowohl in Hinsicht auf die Selbstmitteilung der Sinnesdinge, die erst das Wahrnehmungsvermögen aktualisieren, wie in Hinsicht auf den Intellekt als Vermögen der denkfähigen Seele, das über die Vorstellungsbilder die Wahrnehmungsgegenstände erkennt, mit der Selbstoffenbarung des Schöpfergottes an die Welt parallel geführt. Eine systematische Verknüpfung von imago dei-Lehre und imaginatio-Theorie lässt sich hier allerdings nicht konstatieren. So formuliert der Verfasser als definitorische Einführung in Rekurs auf Aristoteles: Jene psychische Fähigkeit, die die Griechen als phantasia bezeichneten, nennt man – nach den Bildern (imagines), die aufzunehmen und zu bilden (concipit et effingit) ihre Funktion ist – im Lateinischen imaginatio. Diese nimmt – vermittelt durch die fünf äußeren Sinnesorgane: Gesicht, Gehör, Geruch, Geschmack, Tastsinn – die Ähnlichkeiten oder Abbilder äußerer Dinge (rerum forinsecus similitudines speciesve) und mit ihnen einen überaus reichen Ertrag an Vorstellungen in sich auf (imaginationum seges uberrima). Denn alles, was zum Gegenstand der Sinneswahrnehmung wird, also alles Körperliche, das wahrgenommen und von einem Sinne erfaßt werden kann, produziert, seinen Möglichkeiten entsprechend, in Nachahmung der unkörperlichen, geistigen Natur ein ihm Ähnliches und Abbild seiner selbst (similitudinem atque imagi-
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Anne Eusterschulte nem sui quantum potest effundit ad imitationem incorporeae spiritalisque naturae). Die geistige Natur wiederum teilt – in Nachahmung Gottes, der in unbegrenzter, alles erfassender Güte alles geschaffen hat und ständig erhält – ihre Kräfte der niedrigeren Welt mit.8
Die von den sinnlichen Dingen ausgehenden species sind nach der Aristotelischen Lehre wahrnehmbare Formen, d.h. von der Materialität der Wahrnehmungsgegenstände gleichsam abgezogene (Wahrnehmungs-)Bilder. Als Vorstellungsbilder (phantasmata), auch unabhängig von einem konkreten Sehakt, enthalten sie sowohl die auf den singulären Wahrnehmungsgegenstand verweisenden wahrnehmbaren Formen wie die durch den Verstand abstrahierbaren allgemeinen oder intelligiblen Formen. Der Verstand ist somit darauf angewiesen, die Dinge vermittels solcher Vorstellungsbilder aufzufassen bzw. zu erkennen. Die Vorstellung (phantasia) ist der Transmitter, sofern sie als bilderzeugendes Vermögen (eidolopoietisch) die Gegenstände wie auf einer Zeichnung vor Augen stellt9 – so auch bei Gianfrancesco Pico della Mirandola. In der Vorstellungstätigkeit wirkt der Sehakt nach, denn »bildhaft Geschautes erscheint uns auch bei geschlossenen Augen«10 – allerdings birgt die Vorstellung damit auch die Möglichkeit der Falschheit. Allein über die Vorstellungsbilder erfaßt das Denken sowohl die auf den singulären Wahrnehmungsgegenstand verweisenden wahrnehmbaren Formen wie die allgemeinen, d.h. abstrahierbaren intelligiblen Formen.11 Dies ist die Voraussetzung einer wahren Erkenntnis und handlungsleitenden Beurteilung der tatsächlichen Dinge. Die ›bildliche‹ Vorstellungstätigkeit der imaginatio (phantasia) legt somit dem Vernunftvermögen Abbilder oder Ähnlichkeiten (species, similitudines) der die Sinne affizierenden körperlichen Dingen vor. »Für die denkfähige Seele sind die Vorstellungsbilder [phantasmata] wie Wahrnehmungsinhalte [aisth!mata]. Wenn sie aber etwas Gutes oder Schlechtes bejaht oder verneint, meidet sie es oder erstrebt es. Deshalb erkennt die Seele vernünftig nie ohne Vorstellungsbilder.«12 So die berühmte Aristotelische Wendung. Doch wenn auch die Vorstellung die Mittlerinstanz zwischen Sinneswahrnehmung und Vernunftaktivität ist bzw. letztere erst ermöglicht, ist sie gleichermaßen Quelle von Irrtümern und fordert das Vernunftvermögen der Seele heraus, sich nicht vom Anschein der Vorstellungen täuschen zu lassen. _____________ 8 9 10 11
12
Pico della Mirandola, De imaginatione/Ed. Keßler (1984), 50/51. Vgl. Aristoteles, De an. III 3, 427b20ff. Aristoteles, De an. III 3, 428a16. Die Übersetzung folgt im Weiteren der Ausgabe: Aristoteles/Ed. Seidl (1995). Aristoteles, De an. III 9, 432a (wie Anm. 10): »[...] so sind in den wahrnehmbaren Formen die intelligiblen (enthalten), sowohl die sogenannten abstrakten, als auch alles, was Verhältnisse und Eigenschaften der Sinnesdinge sind. Und deshalb könnte jemand ohne Wahrnehmung nicht lernen, noch auch begreifen. Und wenn man etwas betrachtet, dann muß man es zugleich mit einem Vorstellungsbild betrachten. Die Vorstellungsbilder sind nämlich wie die Wahrnehmungsobjekte, nur ohne die Materie.« Aristoteles, De an. III 7, 431a14ff.
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Weil bei den Griechen – so Gianfrancesco Pico della Mirandola – der Gesichtssinn als das wichtigste Wahrnehmungsvermögen erachtet worden sei, Sehen aber Licht voraussetze, habe sich diese enge Beziehung zum Licht (!"!) auf die griechische Bezeichnung für das von der Wahrnehmungstätigkeit bestimmte Vorstellungsvermögen (!"#$"%&") übertragen. Als Quellen für diese Auffassung kann er neben Aristoteles ein Zeugnis der Suda anführen, wonach das Vorstellungsvermögen auf den »Zustand der ins Licht gerückten Dinge [! "#$ %&$'($")$ !"#!$%]« weise. Diesen, wenngleich etymologisch nicht gedeckten, direkten Bezug vom Licht (!"!) auf die Benennung des Vorstellungsvermögens (!"#$"%&") stellt in der Tat auch Aristoteles her, wenn er die Bezeichnung phantasia aufgrund der engen Beziehung zu Wahrnehmungsakten über den Lichtschein bzw. das Licht als Bedingung des Sichtbarwerdens von Dingen herleitet.13 Über die Vorstellung werden die Dinge auch da ins Licht gesetzt oder sichtbar, wo die Wahrnehmung nicht mehr stattfindet bzw. der Gegenstand dem Gesichtsfeld entzogen ist. Die Gegenstände der Wahrnehmung werden in der Aktualisierung des Wahrnehmungsvermögens über Wahrnehmungsgestalten (species)14 als ›Sichtbare‹ erfahrbar. Nicht nur realisiert sich das Potential, gesehen zu werden, sondern ebenso wird das Sehenkönnen als potentielles Vermögen erst durch die äußere Affektion zu einem Sehen von etwas. Aristoteles expliziert diese Reziprozität von Vermögen und Aktualisierung in De anima über die Verhältnisrelation von dynamis und energeia. Wichtig ist hier zu betonen, dass die Einprägung der Wahrnehmungsgestalten, d.h. die In-formation als Rezeptionsvorgang, gleichwohl nicht rein passivisch zu verstehen ist, sofern die Aufnahme der abgezogenen, nicht-materiellen Sichtgestalt eine Aktivität des jeweiligen Sinnesorganes kennzeichnet, das die Wahrnehmungsgestalten in ihre Trägermaterie als Organ aufzunehmen in der Lage ist.15 Mit diesem Moment weist Aristoteles eine rein materialistische Sehtheorie zurück. Das aktuale Sehen als Auffassung der species geht über in die Vorstellungstätigkeit, die die sinnlich aufgenommenen äußeren Bilder (species) in vorgestellte mentale Bilder (phantasmata) überführt, die nun gleichsam vor dem inneren Auge sichtbar werden. Auch die phantasia ist somit als eine Tätigkeit bzw. das Aktualwerden eines Vermögens zu verstehen, das eine Verwandlung des Gesehenen mit sich bringt. _____________ 13 14
15
Vgl. Aristoteles, De an. III 3, 429a3f. Der lateinische Terminus species (für griech. #$%&!) steht hier für die Aufnahme der wahrnehmbaren Formen ('() "*+,-'() #*%()), die sich der Wahrnehmung (".+/-+0!), wie der Abdruck eines ehernen Siegelringes einprägen, d.h. die Abdruckgestalt ohne deren materiale Vorgegebenheit formt sich dem Wahrnehmungssinn ein. Der Sinn nimmt das eherne Zeichen auf, jedoch nicht sofern es Eisen ist. Vgl. Aristoteles, De an. II 12, 424a17ff. Vgl. den Kommentar von Seidl zu Aristoteles, De an. II 12, 424a17–424b18 (wie Anm. 10), 250f.
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Gianfrancesco Pico della Mirandola vergleicht dies mit einem Akt der Malerei16, »weil die Abbilder der äußeren Dinge (rerum species) in ihr gleichsam gemalt und ihre verschiedenen Erscheinungsweisen geformt und nach Wunsch gestaltet werden (pingantur rerum species, afformenturque effigies variae proque voto fabricentur)«.17 Malen, Umformen, nach Wunsch Ausgestalten, dies macht einen Aspekt deutlich, der im Weiteren von eminenter Wichtigkeit sein wird. Die Vorstellungstätigkeit formt das, was sie als Ähnlichkeitsbilder über die einzelnen Sinnesorgane aufnimmt, in synästhetische innere Vorstellungen um. Sie verleiht den Ähnlichkeitsbildern der singulären Dinge der Wahrnehmung eine Vorstellungsgestalt, stellt sie in ein von der Wahrnehmung abgelöstes Licht. Hier artikuliert sich, wenngleich bei Gianfrancesco Pico, der sich eng an Aristoteles anlehnt, nicht ausgeführt, ein wichtiger Aspekt: Wenn die Vorstellung nicht rein passivisch rezeptiv ist, sondern je schon eine konzeptive, gestaltverleihende Funktion besitzt (concipit et effingit, s.o.), die darüber hinaus der Malerei vergleichbar kompositorische Spielräume der Ausgestaltung besitzt, dann stellt sich die Frage, welche Rolle hierbei die rationalen bzw. intellektualen Seelenkräfte spielen bzw. wie sich diese vermittels der Vorstellungstätigkeit auf die ›Auffassung‹ (intentio) der Dinge auswirken. Wie verhalten sich also Sinneswahrnehmung, Vorstellungstätigkeit, Denkvermögen und Intellekt zueinander? Gianfrancesco Pico geht dieser Problematik nicht nach, die auf die innerhalb mittelalterlicher Theorien höchst brisante Intentionalitätsdebatte führt 18 und die Frage aufwirft, inwiefern die Vorstellung im strengen Sinne ›Abbilder‹ schlichtweg aufnimmt oder ob es sich bei dem, was die Vorstellungskraft bereithält, nicht je schon um ›Umbildungen‹ oder translative Bildgestalten handelt. Gianfrancesco Pico sieht seine Aufgabe mit der Schrift De imaginatione vornehmlich darin, auf die Gefahren der Imagination hinzuführen. Aussagekräftig ist seine Schrift dennoch, sofern sie über die Warnung vor den Irrtümern der Vorstellungstätigkeit die Zuschreibung eines spezifischen Fähigkeitsprofils artikuliert. Aristoteles‘ Ausführungen in De anima folgend beurteilt er die »Vorstellung (imaginatio)« – im Unterschied zu einer Wahrnehmung konkret gegenwärtiger Objekte, die unter der Voraussetzung unbeeinträchtigter Sinnesorgane stets wahr ist – als vielfach »nichtig und unstet (vana et oberrans) – ein Sachverhalt, um dessentwillen wir die Untersuchung der vorliegenden Schrift unternommen haben.«19 _____________ 16
17 18 19
Hier steht nicht nur Platons berühmte Philebos-Stelle im Hintergrund, sondern auch eine in der Kirchenväterliteratur zu verfolgende Tradition, die Seele als malerisches Vermögen zu fassen. Vgl. Carruthers (1998), 116–170. Pico della Mirandola, De imaginatione/Ed. Keßler (1984), 50/51. Vgl. hierzu die Studie von Perler (2004). Auch die Kontroversen um das Verhältnis von intellectus agens und intellectus possibilis, die in Aristoteles’ De anima in allerdings uneindeutiger Form angelegt sind, nimmt Gianfranceso Pico nicht zum Anlass einer Positionierung. Pico della Mirandola, De imaginatione/Ed. Keßler (1984), 52/53. Die kritische Haltung wird in der Forschung nicht zuletzt auf den Einfluss Savonarolas zurückgeführt.
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Was die Vorstellung kennzeichnet, ist ihr Vermögen, unabhängig von der Gegebenheit der Gegenstände, nicht nur Vergangenes wieder gegenwärtig vor Augen zu rufen, sondern ebenso Zukunftserwartungen in Vorstellungen zu repräsentieren, ja sogar Dinge bzw. Sachverhalte vorstellig zu machen, die der Natur bzw. dem, was in der natürlichen Welt als existenzmöglich gedacht werden kann, geradezu zuwiderlaufen. »Vorstellen können wir uns nach Belieben Dinge, die nicht existieren und auch nicht existieren können«.20 Mehrfach betont er diese gleichsam ungezügelten Prozesse einer bilderzeugenden Vorstellungstätigkeit, Dinge vorzustellen, die in keinem Korrespondenz- oder Abbildverhältnis zur Wirklichkeit stehen, sofern die Vorstellung auch »ohne äußeren Anstoß Bilder produziert (nullo etiam movente, prodit imagines)«21, die also nicht direkt auf einen Sinneseindruck rückführbar sind, sondern etwas vorstellen, »was von der Natur gar nicht geschaffen werden kann (a parente natura gigni non posse)«22 oder auf natürliche Weise nicht ans Licht käme (»imagines [...] quae etiam promi a natura in lucem nequeunt«)23. Die Vorstellung (imaginatio) kann als vis animae, wie Gianfrancesco Pico betont, nach Belieben mit den von der Sinneswahrnehmung bereitgestellten sinnlichen Sichtgestalten (species sensibiles) umgehen, sie in völliger Unabhängigkeit von den rezipierten Sinnesgegenständen frei verknüpfen, trennen und rekombinieren, sogar selbst Formen hervorbringen (formas promat ex sese) und ohnehin die sinnlich aufgefassten Ähnlichkeiten oder Eindrücke wahrgenommener Dinge gestalten und umwandeln (effingat omnes rerum similitudines impressionesque virium aliarum transmutet in alias), sofern sie als eine assimilative, sich alles anverwandelnde Fähigkeit bestimmt ist (potentia assimilandi cetera ad se ipsum).24 Hier liegt für den aristotelisch orientierten Verfasser gewissermaßen die Crux. Auf der einen Seite muss er die Bedeutung der Vorstellung als eines unerlässlichen Vermittlers zwischen Sinnlichkeit und Verstand, zwischen Wahrnehmungswelt und Erkenntnistätigkeit konzedieren. Ist doch nach Aristoteles »die rationale Seele [...] im Augenblick ihres Eintritts in den Körper wie eine leere Tafel, auf der noch nichts gemalt oder aufgezeichnet ist (veluti nuda tabula, in qua nihil pictum, nihil delineatum est).«25 Für Gianfrancesco Pico ist dies auch durch die platonische Auffassung, wonach die Seele vor aller Erfahrung, d.h. vor der Verkörperung, über die Teilhabe _____________ 20 21 22 23 24 25
Pico della Mirandola, De imaginatione/Ed. Keßler (1984), 54/55. Ebd., 56/57. Ebd., 52/53, vgl. 56/57. Ebd., 56/57. Ebd. Nichts könnte zum Gegenstand einer Erkenntnis werden, wenn nicht die Vorstellung die Sichtgestalten der äußeren Wahrnehmungswelt bereitstellte, weil es geradezu die Bedingung von abstraktiver Erkenntnis ist, dass es eine »Fähigkeit der Seele gibt, die die Ähnlichkeiten der Dinge aufnimmt und gestaltet (animae vim quae rerum similitudines et concipiat et effingat) und sie dem diskursiven Denken und dem betrachtenden Intellekt vorlegt«. Ebd., 58/59 und 62/63. Vgl. Aristoteles, De an. III 5, 430a.
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an unveränderlichen Ideen Wissen besitze, nicht zu entkräften. Denn die Tatsache, dass dieses Wissen um die Ideen in Vergessenheit absinken und erst vermittels der durch die Vorstellung gelieferten Bilder wieder in Erinnerung gerufen werden kann, weist die Vorstellungstätigkeit als notwendige Erkenntnisvoraussetzung aus. Das aber heißt auf der anderen Seite, dass alle menschlichen Handlungen, sofern sie auf Erkenntnisakte zurückgehen, mittelbar von der trügerischen Vorstellung abhängig sind. Gianfrancesco Pico della Mirandola geht es in seiner Zusammenführung von Definitionsansätzen zur Vorstellungstätigkeit der imaginatio/phantasia in keiner Weise darum, eine differenzierte Analyse der Interpretationsansätze zur Aristotelischen Seelenlehre vorzunehmen und etwa Kontroversen im Kontext der scholastischen Auseinandersetzung (etwa bei Albertus Magnus, Thomas von Aquin) mit Blick auf die umfassende Kommentartradition zu Aristoteles De anima aufzunehmen, den Diskussionen im Kontext der Rezeption arabischer Kommentatoren nachzugehen (Averroes, Avicenna) oder etwa (neu)platonische Indienstnahmen der Aristotelischen Seelenlehre zu diskutieren. Hinweise hierauf dienen allenfalls der Bekräftigung der erkenntnistheoretisch zentralen Funktion der Vorstellungstätigkeit. Entscheidend ist der auf Aristoteles gestützte Befund, dass richtige Erkenntnis die Bedingung tugendhaften Handelns ist. Wenn aber alle Erkenntnistätigkeiten auf Vorstellungen beruhen, werden diese zur Hauptquelle von philosophischen Irrlehren, Häresien wie amoralischen Haltungen und Fehlhandlungen bis hin zu einem potentiellen Verlust der menschliche Würde.26 Die ebenso zentrale wie riskante Phantasie bedarf somit einer strikten Regulierung, um nicht zu krankhaften Seelenzuständen, Lastern, Indoktrinationen, häretischen Haltungen/Handlungen zu verführen, kurzum zum Nährboden von Monstren (monstra) zu werden.27 Dies mag die Brisanz kennzeichnen, die dieses ambivalente Seelenvermögen in philosophisch-theologischen Diskussionen besitzt, zumal sich gerade in der kritisch beargwöhnten Verselbständigung imaginierter Bildszenarien, fingierter Wesen und Hybride ein Bewusstsein für die Wirkmacht eines Seelenvermögens ausspricht, mit dem auch die von den schönen Künsten, von Dichtung und Schauspiel ausgehenden Gefahren bis hin zur Idolatrie avisiert sind. Halten wir fest: Nach der Aristotelischen Psychologie nimmt die Vorstellungstätigkeit eine unerlässliche Mittlerfunktion zwischen Sinneswahrnehmung und rationalem Erkennen ein. Die in der Vorstellung bereitgehaltenen, abgezogenen Vorstellungsbilder sind Voraussetzung für ein rationales Erfassen der wesenhaften Formen der Dinge sowie einer Abstraktion in allgemeinen Begriffen. Doch dieser abstraktionstheoretische Ansatz wurde in der Rezeption keinesfalls rein rezeptiv-passivisch interpretiert. Deutlich werden mag dies, in Hinführung auf den Cusaner, an einer Interpretation des Boethius – des maßgeblichen Autors in _____________ 26 27
Damit knüpft er an die Dignitas-Rede seines berühmten Onkels Giovanni Pico della Mirandola an. Vgl. Pico della Mirandola, De imaginatione/Ed. Keßler (1984), 64ff.
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Hinsicht auf die lateinische Rezeption der Aristotelischen Erkenntnispsychologie28 –, die deutlich macht, wie sich in der Wirkungsgeschichte Aristotelische Psychologie und Platonische Ideenlehre durchaus verbinden lassen. Boethius legt dies in der kritischen Zurückweisung der stoischen Erkenntnislehre in De consolatione philosophiae konzise dar. Ausgehend von einer Unterscheidung von Sinneserkenntnis (sensus), Vorstellungskraft (imaginatio), Vernunft (ratio) und höchster Einsicht (intelligentia) nehmen die Sinne die mit der Materie gegebenen Sichtgestalten als Ausprägung eines je singulären Wahrnehmungsgegenstandes ›beurteilend‹ auf. In Ablösung von der konkreten materiellen Gegebenheit verfährt auch die Vorstellungskraft (imaginatio) urteilend. Erst die Vernunft (ratio) aber lässt jegliche materielle Bedingtheit, d.h. Gestalthaftigkeit hinter sich und fasst die individuierte Form selbst (species ipsa), um die wesenseigene Form eines individuellen Gegenstandes auf einen allgemeinen Begriff zu bringen. Am höchsten steht die (göttliche) Intelligenz, die allein in der Lage ist, die einfache Form in reiner Geistesschärfe anzuschauen. Diese überbegriffliche intellektuale Anschauung, die sich im göttlichen Sehen als Akt der Intuition bzw. Contuition vollzieht, weist auf einen Sehmodus allumfassender und instantaner Präsenz, d.h. auf eine unmittelbare Anschauung: ein Sehen mit dem Auge der Intelligenz (oculum intelligentiae). In dieser göttlichen, intellektualen Sichtweise findet die menschliche diskursive Erkenntnisbewegung ihre höchste Instanz. Boethius verwehrt sich in dieser Differenzierung der Erkenntnisvermögen ganz entschieden gegen eine rezeptiv-passivisch gefasste Erkenntnistheorie. Er betont die urteilende, d.h. vom Standpunkt des jeweiligen Erkenntnisvermögens erfolgende Anverwandlung eines Sinneseindruckes. Gerichtet ist dies vor allem gegen stoische Philosopheme und die Auffassung, die menschliche Erkenntnis sei einer duldsamen Prägemasse vergleichbar, so dass jede Erkenntnis von den äußeren Sinneseindrücken determiniert sei. Das bereits bei Aristoteles aufgegriffene Modell einer leeren Tafel wird hier polemisch gegen die Stoiker und deren Impressions-Verständnis gewendet, formuliert in der Auffassung, »es sei dem Geist (mens) / Von den Körpern von außen her / Bild und Sinne (sensus et imagines) so aufgeprägt (imprimi), / Wie der emsige Griffel oft / Auf die ebene Tafel, die / Noch von Zeichen nicht eine Spur / Auf sich trägt, seine Lettern setzt.«29 Durch die Annahme eines erleidenden Beschriftetwerdens von den äußeren Eindrücken oder einer völlig unbeteiligten Abspiegelung von Bildern der Dinge wird für Boethius vollständig die konstitutierende Funktion der Erkenntnisorgane verkannt. Es muss vielmehr je schon eine Urteilsfähigkeit gegeben sein, die im Akt des Sehens/Vorstellens einen Gegenstand als singulären konstituiert, die befähigt zu unterscheiden, einzuteilen und Geschiedenes zusammenzufügen etc. Dabei bestreitet Boethius, Aristoteles folgend, keineswegs die anstoßgebende, _____________ 28 29
Für den logischen Begriff der species (Art, Artgestalt) ist Boethius‘ Übersetzung der Isagoge des Porphyrios grundlegend. Boethius, De consol. philos., lib. V, 4c., v. 3–9/Ed. Gegenschatz/Gigon (1990), 254/255.
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gleichsam aufweckende Relevanz der Wahrnehmungsgegenstände. Doch ist ihm, platonisch gewendet, das Erleiden von außen geradezu die Provokation der Geisttätigkeit – ein Wachrufen. Die Erregung innerer Formen wird zur Grundlage einer handelnden Geisttätigkeit und Bedingung einer Erkenntnis, die ihr höchstes Ziel und den Maßstab jedweden Vernunfturteils in der überbegrifflichen göttlichen Anschauung, gleichsam vom Standpunkt des oculus intelligentiae findet. Diese Akzentuierung der Eigenaktivität des menschlichen Geistes und der konstitutiven Funktion menschlicher Geisttätigkeit sowie die Ausrichtung an einem göttlichen Erkenntnisstandpunkt mag uns nun auf den Cusaner und die Grundlegung einer bilderzeugenden Bewusstseinsfähigkeit führen.30 Was des Geistes Kräfte bewegt: Lebender Körper Empfänglichkeit; Wenn das Licht in die Augen fällt Und die Stimme im Ohre schallt. Dann erweckt auch des Geistes Kraft, Was an innerer Schau er trägt, Ruft zu gleicher Bewegung auf, Paßt es äußerem Eindruck an Und vermählt im Innern nun Der verborgenen Form das Bild.31
Designatio: Zeichen und Notationen Vor dem Hintergrund der Imaginationstheorie Gianfrancesco Picos und der skizzierten systematischen Problematik einer Gewichtung des Verhältnisses der Wahrnehmungs- und Vorstellungstätigkeit (Imagination) zur Vernunfttätigkeit sei nun eine nur wenige Jahre zuvor publizierte Schrift des Cusaners in den Blick genommen. In der Spätschrift Compendium aus dem Jahre 1464, mit der Nikolaus von Kues einen Abriss seiner Erkenntnistheorie gibt und zugleich einen vermittelnden Weg zwischen aristotelischen und platonischen Philosophemen aus offenbarungstheologischer Perspektive einschlägt, stellt sich die Frage nach dem Status der bilderzeugenden Bewusstseinstätigkeit unter transformierten Maßga_____________ 30
31
Nikolaus von Kues kehrt den Vergleich mit dem Siegelabdruck geradewegs um. Die Seele prägt im Vorgang des Sehens allen Gegenständen ihren Stempel auf: »Da nun in allen körperlichen Dingen die Seele als werkzeughafte Wurzel (radix instrumentalis) widerscheint, wird es nicht schwer für dich, sie in allen ihren sinnfälligen Zeichen aufzuspüren, da sie ja in diesen eine durch die Intelligenz eingeprägte Form ist wie der Siegelabdruck im Wachs. Alles, was man durch das Gehör wahrnimmt, trägt ihre Prägung [...]«. Nikolaus von Kues, De coniecturis pars I, cap. VII/Ed. Bormann (2002), Bd. 2, 34/35. Ac vires animi movens / Vivo in corpore passio, / Cum vel lux oculos ferit / Vel vox auribus instrepit. / Tum mentis vigor excitus, / Quas intus species tenet, / Ad motus similes vocans / Notis applicat exteris / Introrsumque reconditis / Formis miscet imagines. Boethius, De consol. philos. lib. V, 4c, v. 31–40/Ed. Gegenschatz/Gigon (1990), 256/257.
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ben. Zwar strengt auch der Cusaner eine Auseinandersetzung mit den einschlägigen Theoremen der Aristotelischen Psychologie an, doch kann eine Theorie abstraktiver Erkenntnis, innerhalb derer der imaginatio eine vermittelnde Rolle im Übergang der sensiblen species in intelligible species zukommen würde, gar nicht greifen, sofern Nikolaus von Kues einen Gottesbegriff zugrunde legt, der eine wesenhafte Erkenntnis der sinnlich erfahrbaren Dinge und somit eine abstraktive Erkenntnis der singulären wie allgemeinen Formen prinzipiell ausschließt. 32 Dies ist durch den Unendlichkeitsbegriff des Cusaners bedingt, der sich in mehrfacher Hinsicht aufschließen lässt. Das unendliche, alles Seiende übersteigende göttliche Eine (infinitas infinita), eine Einheit, die unendliche Möglichkeit und Wirklichkeit in eins fasst, d.h. alles Seinkönnen aktual in sich zusammenfaltet (complicatio), ist nicht nur selbst für das menschliche Verstehen unbegreifbar. In der Entfaltung (explicatio) in die unendliche Allumfassendheit des Universums wie der Präsenz als absolute Unendlichkeit in jeder singulären Entität ist sie für das menschliche diskursive Verstehen niemals präzise zu erfassen. Zwischen dem Unendlichen und dem Endlichen, so betont der Cusaner es z.B. in De docta ignorantia, besteht keinerlei Proportionalität.33 Eine wesenhafte Erkenntnis oder im Sinne der Aristoteliker eine abstraktive Erkenntnis der Form eines je einzelnen Wahrnehmungsgegenstandes kann daher gar nicht statthaben, weil sich in jedem singulären Seienden die ganze Unendlichkeit des göttlichen Grundes, in kontrakter, d.h. auf eine Darstellungsweise zusammengezogener Weise als Unendliches in dieser Gestalt zeigt. Diese Selbstmitteilung des Unendlichen in der singulären, einzigartigen Gestaltwerdung der geschaffenen Dinge weist somit immer über sich hinaus, sie bringt eine Seinsweise des Unendlichen in je spezifischer Gestalt zum Vorschein. Kein Gegenstand der sinnlich-körperlichen Welt kann in seinem vorgängigen Sein erkannt werden. Wir werden immer nur mit einer Ansicht des Unendlichen in endlicher Gestalt konfrontiert. Die Dinge, die uns als Wahrnehmungsgegenstände begegnen, besitzen den Status von Zeichen, Bildern, Sichtgestalten oder Ähnlichkeiten (signa, imagines, species, similitudines)34 des einen unendlichen Seins, das in dieser Gestalt sichtbar, fühlbar, wahrnehmbar etc. wird. »Alles vielmehr, was in irgendeiner Weise des Erkennens erfasst wird, bezeichnet jene vorgegebene Weise des Seins nur. Was erfasst wird, ist darum nicht das Ding selbst, sondern dessen Ähnlichkeiten, Bilder oder Zeichen (similitudines, species aut signa).«35 Die gesamte kreatürliche Welt ist von zeichenhafter Präsenz. Ausgedrückt ist damit aber nicht etwa eine platonistisch grundierte Abwertung einer schattenhaften, abbildhaft-nichtigen Erscheinungswelt. Vielmehr operiert der Cusaner auf _____________ 32 33 34
35
Vgl. van Velthoven (1977), 77. Vgl. Nikolaus von Kues, De docta ignorantia, cap. 3/Ed. Bormann (2002), Bd. 1. Nikolaus von Kues verwendet in seinen Schriften wie Predigten diese und andere ›Bildbegriffe‹ ohne große Trennschärfe. Vgl. Reinhardt (2002), 119–141, hier 121f. Nikolaus von Kues, Compendium, cap. 1, n. 1/Ed. Bormann (2002), Bd. 4, 2/3.
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der einen Seite mit der Zeichentheorie Augustins, auf der anderen Seite mit einer auf Ps.-Dionysius zurückgehenden, von Johannes Scotus Eriugena systematisch ausgeweiteten Auffassung eines symbolischen, mittelbaren Offenbarwerdens Gottes, der sich in Zeichen mitteilt, in diesen aber als verborgener Grund zugleich entzieht. Diese paradoxale Struktur einer lichthaften Gotterscheinung in unterschiedlichsten Ausdruckformen, Zeichen, Signalen, Ähnlichkeitsbildern, die ein selbst verborgenes unendliches Sein der Dinge ›anzeigen‹ oder ›ins Licht setzen‹, verleiht jedwedem sinnlich erfahrbaren Gegenstand in seinem Zeichencharakter einen Überschuss, ein Moment, das die Erfahrung transzendiert. Eine rational-diskursive, relationale Erkenntnisweise, wie sie nach Cusanus dem Menschen zu eigen ist, erfährt sich in ihrer Begrenztheit, denn das Unendliche, das sich im Einzelnen in einzigartiger Weise zeigt, kann begrifflich in keiner Weise eingeholt werden. Erkenntnisbemühungen bleiben damit immer konjektural, d.h. Annäherungsweisen. Ausgehend von dieser ontologischen Differenz zwischen einer zeichenhaften Präsenz der endlichen Dinge, in denen das unendliche göttliche Vermögen in einer Mannigfaltigkeit von Gestaltwerdungen offenbar wird, und dem selbst uneinholbaren göttlichen Existenzmodus selbst setzt der Cusaner anders an. Konfrontiert mit den über sich hinausweisenden zeichenhaften Dingen rezipiert der menschliche Verstand (vermittelt über Sinnlichkeit und Vorstellungskraft) die sinnlichen, natürlichen Zeichen nicht als Gegenstand abstraktiver Begriffserkenntnis noch tragen sich diese in der Seele wie auf einer Schreibtafel ab oder bilden sich in der Prägemasse des menschlichen Geistes ab. Vielmehr bildet der menschliche Geist sich die Dinge an, indem er die transgressiven Zeichen der Dinge seinerseits in ein menschenförmiges Notationssystem überträgt. Eben dies kennzeichnet die besondere, gottebenbildliche Natur der menschlichen Vernunft, dass er, der Mensch, »durch die Kraft seiner Vernunft (vis intellectualis), die natürlichen Erkenntnisbilder (species naturales) zusammenzusetzen und zu trennen und aus ihnen Erkenntnisbilder und Erkenntniszeichen der Vernunft und der Kunst (intellectuales et artificiales species et signa notionalia) zu schaffen«36 vermag. Die Einsicht in das bloß Näherungsweise aller rationalen menschlichen Erkenntnisbestrebungen und die damit verbundene Reflexion auf die Grenzen wie die spezifische modale Beschaffenheit menschlicher Erkenntnisweisen hat zwei Konsequenzen. Zum einen die Einschränkung jedes rational-diskursiven Erkennens auf einen Status des Vorläufigen oder Konjekturalen. Eingedenk des Unendlichen, das sich in jedem Endlichen als unendlicher, unbegrifflicher Seinsgrund zeigt, erweisen sich menschliche Erkenntnisvollzüge als Mutmaßungen, sofern sie niemals einen gegenstandsadäquaten Begriff erlangen. Rationale Erkenntnis ist damit auf einen symbolisch verfahrenden Modus der Annäherung eingeschränkt (symbolice investigare).37 _____________ 36 37
Nikolaus von Kues, Compendium, cap. 6, n. 18/Ed. Bormann (2002), 24/25. Vgl. Nikolaus von Kues, De docta ignorantia, cap. 11/Ed. Bormann (2002), Bd. 1.
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Zum anderen liegt in dieser Einschränkung auf die symbolische Investigation38 das Moment der Entgrenzung. Denn es macht die unendliche Leistungsfähigkeit des menschlichen Geistes aus, Zeichen, Bilder, Symbole hervorzubringen und damit Verstehensmodelle zu entwerfen, über die er nicht nur die Welt in einer dem menschlichen Erkenntnisvermögen entsprechenden Weise fasst, sondern gleichermaßen seines eigenen Potentials ansichtig wird. Mittels dieser Kunst der Verstehens- und Verständigungszeichen konstituiert die rationale Seele in produktiver Weise Weltsichten, Zeichen- und Begriffssysteme, Versprachlichungs- und Verschriftlichungsmodi, d.h. perspektivische, vom Standpunkt menschlicher Rationalität entworfene Zugriffe auf die Wahrnehmungs- und Erfahrungswelt. Was heißt das nun in Bezug auf den Zeichencharakter der seienden, kreatürlichen Dinge und die Frage der konkreten Gegenstandswahrnehmung kraft der menschlichen Geistseele?
Symbolische Investigation Unter den von Nikolaus von Kues formulierten metaphysischen Voraussetzungen bildet der menschliche Geist die wahrnehmbaren Dinge in den Sinnen wie der Vorstellungskraft weder ab noch ein, sondern es ist der bildproduzierende Geist des Menschen, der in seinem zeichensetzenden Vermögen (designatio) die Gegenstandswahrnehmung wie -vorstellung erst konstituiert. Das, was als göttliches Sichtzeichen in der geschaffenen Welt erfahrbar wird, wird in menschliche Erkenntniszeichen gefasst, d.h. in Bildern, Gestaltformen, Versichtbarungen oder begrifflichen Verähnlichungen/Zahlen verzeichnet, die sich nicht abbildlich zu den Dingen verhalten, sondern von der Sicht- und Bezeichnungsweise des menschlichen Geistes zeugen.39 Der Cusaner transformiert die Aristotelische Psychologie, deren Vermögensanalyse und Terminologie er im Compendium aufgreift, zeichentheoretisch. Einerseits greift er dabei ausdrücklich auf die Augustinische Zeichentheorie und die Unterscheidung von natürlichen und durch menschliche Setzung bestimmten Zeichen zurück. Andererseits verstärkt er den Zeichencharakter der gegebenen Dinge in Akzentuierung einer über sich hinausweisenden Dimension der zeichenhaften Dinge, die den verborgenen Schöpfer durchscheinen lassen, geradezu im Licht des Unendlichen erglänzen und damit im Sichtbaren das Unsichtbare sehen lassen.40 _____________ 38
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Der Cusaner spricht auch von einer symbolischen Jagd (venatio symbolica); vgl. Nikolaus von Kues, De coniecturis pars II, cap. X, n. 126/Ed. Bormann (2002), Bd. 2. Vgl. hierzu Platzer (2001) sowie Schwaetzer (2006), 83–95. Vgl. Nikolaus von Kues, Idiota de mente, cap. III, n. 72, cap. V, n. 85, cap. VII, n. 99/Ed. Bormann (2002), Bd. 2; vgl. Nikolaus von Kues, De coniecturis pars I, cap. 1, n. 5/Ed. Bormann (2002), Bd. 2; vgl. Nikolaus von Kues, De beryllo, cap. VI/ Ed. Bormann (2002), Bd. 3. »Das Licht zeigt sich in den sichtbaren Dingen nicht, um sich selbst sichtbar zu machen, sondern vielmehr, um sich unsichtbar darzustellen, weil ja in den sichtbaren Dingen seine Klarheit
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»Und mit größter Aufmerksamkeit nimmt er wahr, dass in jenen Zeichen das ewige Licht aufleuchtet (splendet lux aeterna et inaccessibilis), das allem Scharfsinn geistiger Schau unzugänglich ist.«41 Es ist der unfassbare Gott, der sich jedem Begreifen entzieht, aber zugleich in allem als Form des Seins aufscheint. Dieses göttliche Licht leuchtet auch in den geistigen Zeichen des menschlichen Vernunftvollzugs (in intellectuabilibus signis) auf, d.h. in den vernunftförmigen Aneignungsweisen der sichtbaren Zeichen oder Bilder. D.h. auch in der Transformation der sichtbaren in intellektuale Zeichen ›zeigt‹ sich das unbegreifliche Göttliche, ohne fassbar zu werden. Entsprechendes gilt von der menschlichen Vernunftfähigkeit selbst, die vom göttlichen Geist durchwirkt sich selbst unsichtbar bleibt und ihrer selbst allein über Spiegelungen, d.h. über ihre Hervorbringungen in Künsten, Techniken, Sprache und Schrift mittelbar ansichtig werden kann. Was sich zunächst ganz im Tenor von De anima II lesen lässt, wonach das Licht die Bedingung eines Sichtbarwerdens wie Ansichtigwerdens der Dinge ist, birgt hier lichtmetaphysische Konnotationen, die den Theophaniebegriff der Ps.Dionysius-Tradition aufrufen und damit den Offenbarungscharakter der sinnlichkreatürlichen Welt. Alle sinnfälligen Dinge sind (als Offenbarungsweisen Gottes) auf ein Erkanntwerden durch den Menschen angelegt, der seinerseits als vollkommenstes Sinnes- und Vernunftwesen eine Ausstrahlung des göttlichen Geistes ist. Sofern die kreatürlichen Dinge sich aber andererseits niemals so darbieten, wie sie in sich selbst sind, sondern immer nur aspektiv, »müssen die Dinge, die durch sich selbst nicht in die Erkenntnis eines anderen eingehen können, in diese durch ihre Bezeichnungen (designationes) eingehen.«42 Über eine solche Designation, eine planvolle Übertragung in Zeichen nach Maßgabe des menschlichen Verstehens, werden die Dinge zu Gegenständen des menschlichen Geistes: Die sinnlichen Gegenstände stellen sich im Medium des Lichtes der Sinneswahrnehmung in einer Multiplizität von Bildern (species) oder Zeichen (signa) dar. Diese flüchtigen, an die Gegebenheit des Gegenstandes in der Wahrnehmung gebundenen Sichtgestalten müssen ›annotiert‹ (annotari) werden, d.h. ihrerseits in Zeichen vermerkt werden, um durch eine solche Zurkenntnisnahme (notitia) bewahrt zu werden. Hier nun wird die Vorstellungskraft (virtus interior phantastica) wirksam: »In diesen Bezeichnungen der Zeichen (in signorum designationibus) bleiben also die Dinge in der inneren Vorstellungskraft bezeichnet, ähnlich wie die Wörter auf dem Papier geschrieben zurückbleiben, wenn sie nicht mehr ausgesprochen werden. Dieses Zurückbleiben kann man Gedächtnis nennen. Also sind die Zeichen
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nicht erfaßbar ist.« Nikolaus von Kues, De apice theoriae, cap. 8, Ed. Bormann (2002), Bd. 4, 14/15. Vgl. Nikolaus von Kues, De beryllo, cap. XXXVI/Ed. Bormann (2002), Bd. 3 in Bezug auf Paulus: Röm. 1, 19f.; vgl. Nikolaus von Kues, De visione dei, cap. VI/Ed. Gabriel (1989), Bd. 3. Nikolaus von Kues, Compendium, cap. VIII n. 24/Ed. Bormann (2002), Bd. 4, 34/35. Nikolaus von Kues, Compendium, cap. IV, n. 8/ Ed. Bormann (2002), Bd. 4, 12/13.
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der Dinge (signa rerum) in der Vorstellungskraft Zeichen der Zeichen in den Sinnen (signa signorum in sensibus).«43 Der Terminus Vorstellungskraft (virtus phantastica interior) wird hier gleichbedeutend mit dem der Imagination (imaginatio) verwandt. Wiederum Aristoteles folgend gilt auch für den Cusaner, dass sich nichts in der Vorstellungskraft befindet, was nicht zuvor in den Sinnen war. Entsprechend vollzieht sich die Erkenntnis als ein mehrstufiger Prozess der Translation von Zeichen: Ausgehend von den materiellen Dingen (materialia sensibilia) gehen in die Wahrnehmung sinnfällige Zeichen ein (signa sensibilia), die vermöge der Imagination als Vorstellungszeichen (signa phantastica) gefasst werden, um schließlich als Erkenntniszeichen (signa intellectualia) von der Vernunft verzeichnet zu werden. Ausdrücklich spricht auch der Cusaner davon, dass sich hier eine Übersetzung von Zeichen in Zeichen jeweils höherer Stufe vollzieht, so dass die Zeichen in jeweils abstrakterer Weise (abstractiora), d.h. von den materialen Gegebenheiten immer weiter abgezogener, formhafter (formalia) Weise präsent werden. Es ist die menschliche Vernunftauffassung, die ein ganz von allen materiellen Konnotationen gelöstes, rein formales Zeichen sucht, ein signum formale, das »die einfache Form eines Dinges (simplicem formam rei), die das Sein verleiht«, repräsentiert.44 Doch wenngleich auf terminologischer wie prozeduraler Ebene an die Aristotelische Erkenntnistheorie angelehnt, handelt es sich hier nicht um eine Abstraktionstheorie. Dies ist einerseits aus den oben bereits genannten Gründen ausgeschlossen: Die Gesamtheit der kreatürlichen Dinge ist ein vielgestaltiges Offenbarwerden des selbst unbegreiflichen Schöpfers, der sich ganz in jedem Einzelnen zeigt, gleichsam eine prismatische Brechung eines unbegreiflichen Lichtes in mannigfaltigsten Erscheinungsmodi. So materiefern und formhaft die Vergegenwärtigung in der menschlichen Erkenntnis auch sein mag, sie vermag die alles Sein begründende Form selbst stets nur annäherungsweise zu repräsentieren. Zum anderen wird hier aber noch ein weiterer Aspekt wichtig, der erklären mag, inwiefern die Imagination zwar einen zwischen sinnlichen und intellektualen Zeichen vermittelnden Status erhält, es aber gleichwohl die menschliche Vernunftfähigkeit ist, die eine zeichenhafte Repräsentation, Unterscheidung, Komposition und Rekombination der aufgefassten natürlichen Zeichen leistet. Die vis intellectualis ist die Instanz, die auf der Basis der Vorstellungszeichen selbst Bezeichnungs- oder Notationssysteme entwirft, innerhalb derer die zeichenhaft repräsentierten Dinge in einen Verweisungszusammenhang gestellt werden. Dies sind die mentalen Bildräume, um die es hier geht. Der Cusaner depotenziert damit nicht die Imagination als Schnittstelle zwischen sichtbarer Welt und mentaler Repräsentation. Vielmehr macht er deutlich, _____________ 43
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Nikolaus von Kues, Compendium, cap. IV n. 9/Ed. Bormann (2002), Bd. 4, 12/13. Hier liegt die Durchdringung von Kunst und Natur. Vgl. Nikolaus von Kues, Compendium, cap. IV n. 9–10/Ed. Bormann (2002), Bd. 4, 12/13– 14/15.
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dass in allen Akten der inneren Vergegenwärtigung bereits die Vernunft als synthetisierende Kraft wirksam wird. Betonung findet damit die aktive, gegenstandskonstituierende Funktion der Vernunft. Denn bereits in der Sinneseindrücke oder –data synthetisierenden Auffassung (attentio), dem Gewahrwerden eines Gegenstandes wirken in-formierende Sinnesdata und formierende Vernunftkraft ineinander. Das Sehen kommt durch eine gegenläufige und zugleich simultan zu verstehende Vernunftbewegung zustande. »Die eine ist einformend (informans), und ist eine Ähnlichkeit des Gegenstandes; die andere ist formend (formans) und ist eine Ähnlichkeit der Vernunftkraft. Formen und Einformen (formare et informare) ist ein gewisses Wirken. [...] Wenn daher der Gegenstand durch seine Ähnlichkeit einformt, geschieht dies auf natürliche Weise, nämlich durch die Vernunftkraft vermittels der Natur. Wenn aber die Vernunftkraft formt, macht sie dies durch ihre eigene Ähnlichkeit.«45 Sinnliche Rezeptivität und geistige Spontaneität sind gar nicht zu trennen, wenn es darum geht zu begründen, wie aus sinnlichen Eindrücken mentale Bilder geformt werden. Pointiert ausgedrückt: Nichts könnte vorgestellt werden, als mentales Bild vergegenwärtigt werden, wenn nicht je schon eine Aufmerksamkeit oder Gerichtetheit der Vernunft gegeben wäre. Die Seele »erkennt nur, wenn sie aufmerkt (attendat)«, d.h. der Ausstrahlung der sich mitteilenden Dinge muss eine Seelenaktivität korrespondieren, damit ein Sichtbarwerden von etwas als Bestimmtes, als Gegenstand überhaupt zustande kommt. »Da also das Sehen nur zustande kommt, wenn der Sehende seine Aufmerksamkeit (attentio) dem Glanz oder dem Hingewendetsein (intentio) zuwendet – die Vorübergehenden nämlich sehen wir nicht, wenn wir nicht aufmerksam sind – so kommt das Sehen offenbar durch das Hingewendetsein der Farbe (ex intentione coloris) und durch die zugewendete Aufmerksamkeit des Sehenden (ex attentione videntis) zustande.«46 Der sich veräußerlichenden Mitteilung der göttlichen Vernunft in den Naturdingen kommt die menschliche Vernunftbewegung, die gleichermaßen eine Ausdrucksform des göttlichen Wirkens ist, entgegen. Denn wenn die göttliche Vernunft in den sinnfälligen Dingen wie in lesbaren Schriftzeichen eine Mitteilungsintention signalisiert, so bedarf es eines Interpreten, der die Zeichen als Bedeutungsträger qualifiziert bzw. in einem Bedeutungssystem verortet.47 Die oben bereits angedeutete Problematik der Intentionalität und damit die Frage nach den Voraussetzungen dafür, etwas bewusst als einen Gegenstand wahrzunehmen, aus dem Strom der Sinnesreize als distinkten Gegenstand der _____________
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Nikolaus von Kues, Compendium, cap. XI, n. 35/Ed. Bormann (2002), Bd. 4, 46/47. Nikolaus von Kues, Compendium, cap. XIII, n. 40/Ed. Bormann (2002), Bd. 4, 51/52 und n. 41, 52/53. Das Beispiel der nicht bewusst wahrgenommenen Passanten greift der Cusaner wiederholt auf. »Die sinnfälligen Dinge sind nämlich die Bücher der Sinne, in denen die Absicht der göttlichen Vernunft (intentio divini intellectus) in sinnfälligen Gestalten beschrieben ist (in sensibilibus figuris descripta est), und die Absicht ist die Selbstoffenbarung des Schöpfergottes.« Nikolaus von Kues, De Beryllo, Cap. XXXVII, n. 66/Ed. Bormann (2002), Bd. 3, 82/83; vgl. zur intentio conditoris auch cap. XXXIII , n. 55/Ed. Bormann (2002), Bd. 3, 66ff.
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Wahrnehmung überhaupt aufzufassen, zu unterscheiden, zu bezeichnen etc., erfordert eine aktive Vernunftleistung.48 Und dies gilt gleichermaßen für den Vorstellungsakt wie das begriffliche Erfassen von etwas. Der Cusaner führt damit auf eine vor aller konkreten Sinneserfahrung gegebene Fähigkeit, eine Kraft der Seele, die in allen Auffassungsakten wirksam wird bzw. erst durch diese in Wirkung übergeht, aktual wird. Vorausgesetzt sind damit nicht platonische Ideen, die – denken wir nochmals an Gianfrancesco Picos Ansatz – unter dem Eindruck von Sinnesreizen gleichsam wiederaufgeweckt würden. Vielmehr handelt es sich hier um eine Bedingung möglicher Erfahrung, eine Erkenntnispotentialität der Seele, die als lebendige Kraft wirksam wird, wenn die intellektuale Erkenntnisfähigkeit sich auf die Sinne erstreckt.49 Der Cusaner charakterisiert diese Kraft auch als eine Urteilsfähigkeit. Dass sich aber in der menschlichen Vernunft ein solches distinguierendes, unterscheidendes, in Relation setzendes Vermögen zeigt, ist nicht nur Bedingung der bilderzeugenden, zeichengebenden mentalen Operationen des menschlichen Geistes sondern gleichermaßen Ausdruck einer Teilhabe am göttlichen Geist. Gottebenbildlichkeit zeigt sich in eben diesem Vermögen. »Daher wissen wir mit höchster Gewissheit (certissime scimus), daß wir alle Unterscheidungskraft, Erleuchtung und Vollendung (omnem discretionem et illuminationem atque perfectionem animalitatis nostrae) unserer Sinnenwesenhaftigkeit von jenem nicht sinnfälligen Licht haben.«50 Imaginative Erkenntnis im Sinne einer Konstitution mentaler Bilder, Zeichen (species, signa) und deren strukturale Organisation ist gebunden an eine Illumination, d.h. eine göttliche, erkenntnisermöglichende Kraft, die in den geistigen Operationen der Designation wirkt. Die Transformation der Aristotelischen Psychologie, die sich hier beobachten lässt, wird nicht zuletzt daran offenkundig, dass der Cusaner mit dem Begriff der species51 einen Terminus aufgreift, der in der lateinischen Aristotelesrezeption, sei es als wahrnehmbares eidos oder als hieraus zu abstrahierender Artbegriff, für die substanzielle Form eines Dings steht. Neben dieser logischen, dingontologischen Bedeutung hat der species-Begriff aber in den Schriften der Kirchenväter eine theologisch-ästhetische Konnotation und weist auf die Ausstrahlung und Lichtherrlichkeit Gottes, die sich in Anblick und Gestalt bzw. Schönheit (speciositas) als harmonische Formeinheit zeigt und darin auf die höchste Form weist – so etwa bei Augustinus. »Das veränderliche Sichtbare ist aber nicht einfach etwas _____________ 48
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»Der Abstieg des Verstandes zum Sinnending ist dasselbe wie der Aufstieg des Sinnendinges zum Verstand; denn etwas Sichtbares wird durch den Gesichtssinn nicht erreicht, wenn die Hinwendung des Verstandes (intensio intellctualis) fehlt. Das erfahren wir z.B., wenn wir einen Vorübergehenden nicht erkennen, weil wir uns etwas anderem zugewandt haben.« Nikolaus von Kues, De coniecturis pars II, cap. XVI, n. 157/Ed. Bormann (2002), Bd. 2, 184/185. In De coniecturis bezeichnet der Cusaner dies als Übergang von schlafender Möglichkeit (potentia dormitans) zu wacher Erkenntnis. Vgl. Nikolaus de Kues, De coniecturis pars II, cap. XVI, n. 159/Ed. Bormann (2002), Bd. 2, 186/187. Der Übergang von der Potentialität zur Aktualität der Intellekttätigkeit verläuft über Sinneswahrnehmung, Vorstellung, rationale Erkenntnis. Nikolaus von Kues, Compendium, cap. XIII, n. 43/Ed. Bormann (2002), Bd. 4, 54/55. Im Sinne von Bild, Sichtgestalt (species sensibilis) oder Erkenntnisbild (species intelligibilis).
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minderes, sondern bezeugt in der Schönheit des Anblicks (species) seiner überaus geordneten Beweglichkeit stillschweigend seinen Ursprung vom unaussprechlichen und unsichtbar schönen Gott.«52 Dieser species-Begriff eines Sichtbarwerdens des unsichtbaren Gottes, der sein erstes Offenbarwerden in Christus als species, forma oder imago Gottes findet, prägt sich in Verbindung Augustinischer und Ps.-Dionysischer Elemente insbesondere in Eriugenas TheophanieVerständnis aus. Nimmt man dies zusammen, deutet sich in der zeichen- bzw. bildtheoretischen Bestimmung von mentalen Akten eine christologische Implikation an. Um dies genauer darzulegen und zu klären, welche Konsequenzen dies für den Status innerer, mentaler Bilder hat und wie sich gerade über diesen Bildbegriff die Gottebenbildlichkeit des Menschen als imago dei ausweist, wenden wir uns nun einem berühmten Beispiel aus dem Compendium zu, das bildhaft in Szene setzt, inwiefern der menschliche Geist – die Aristotelische Wendung aufnehmend – in Bildern denkt.
Mentale Kosmographie Stellen wir uns also, der Anleitung des Cusanus folgend, die Seele eines perfekten Lebewesens (animal perfectum), das Sinne und Vernunft (sensus et intellectus) besitzt, wie einen Kosmographen (cosmographus) vor, der es unternimmt, die gesamte Welt in eine Zeichnung, eine mentale Kartographie zu übertragen. Voraussetzung hierfür ist zunächst die Aufnahme der sinnlichen Daten, d.h. der species sensibiles vermittels der aktivierten Sinneswahrnehmung. Denn der Kosmograph oder Verzeichner dessen, was ihm vermöge der Sinneswahrnehmung zugetragen wird, besitzt gleichsam »eine Stadt mit fünf Toren, nämlich den fünf Sinnen [...] durch welche Boten (nuntii) aus der ganzen Welt eintreten und vom gesamten Aufbau der Welt berichten (ex toto mundo denuntiantes).«53 Der Vergleich der Geist-Seele mit einer umgrenzten Stadt (civitas), deren Stadttore wie die Sinnesorgane extramentale, sinnliche Eindrücke als Botschaften aus der ›Außenwelt‹ einlassen, so dass die Sinnesorgane die Sinneswahrnehmung kanalisieren und unterschiedliche, als Boten fungierende Sinneseindrücke an das denkende Vermögen der Seele übermitteln, weist auf einen Transferprozess: Von den sensiblen, materialen Dingen abgelöste Sichtgestalten (species sensibiles) finden vermittels der Wahrnehmung in die Seele Eingang, um dort als Vorstellungsbilder verzeichnet zu werden. »Der Kosmograph sitzt da und zeichnet alle Berichte auf (cuncta relata notet), damit er die Beschreibung (descriptio) der gesamten sinnfälligen Welt in seiner Stadt aufgezeichnet besitze (ut totius sensibilis mundi descriptionem in sua civitate habeat designatam).« Voraussetzung der möglichst vollständigen Verge_____________ 52 53
Lutz-Bachmann (1995), Sp. 1318 in Bezug auf Augustinus, De civitate dei XI 4. Nikolaus von Kues, Compendium, cap. VIII, n. 22/Ed. Bormann (2002), Bd. 4.
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genwärtigung der extramentalen, sinnfälligen Welt ist ein Höchstmaß an Empfänglichkeit der Sinnesorgane für die an die Tore der Stadt dringenden Sinneswahrnehmungen. Nichts ist im Verstand, was nicht durch die Sinne vermittelt würde. Dieser Aristotelische Ansatz wird auch hier wirksam. »Daher bemüht sich der Kosmograph mit allem Eifer, alle Tore offenzuhalten und ständig die Berichte von immer neuen Boten zu vernehmen und seine Beschreibung immer wahrer zu gestalten.«54 Die in-formative Mitteilungsbewegung ausgehend von den Phänomenen (die ja ihrerseits Offenbarungen der göttlichen Selbstmitteilung in der kreatürlichen Welt sind), die sich über die Sinne als Nachrichten vermitteln, ist die eine entscheidende Grundlage umfassender Erkenntnis. Dass es sich hier aber, wie oben bereits betont, in keiner Weise um eine Abstraktionstheorie handelt, wird an dieser Stelle schon allein daran deutlich, dass sich der Cusaner mit dem Vergleich der Seele mit einer Stadt in eine vor allem auf Augustins Seelenlehre zurückweisende Tradition stellt. Sie führt auf die Theorie des inneren Menschen (homo interior).
Boten der Sinnenwelt: mittere nuntios radios oculorum Rufen wir uns Augustins Problematisierung der Bedingung menschlicher Selbsterkenntnis in den Confessiones in Erinnerung, eine Selbstbefragung der Seele. Die menschliche Seele, die um das Wissen des Grundes ihrer selbst ringt, kann dieses Wissens nur unter der Bedingung einer Teilhabe an der göttlichen Erleuchtung innewerden. Diese Gottesgewissheit und –liebe aber ist ihr zugleich ein tiefes Rätsel. Was ist es, das im inneren Menschen in einer mentalen Synästhetik von Erfahrungsmodi erstrahlt, erklingt, immerdar duftet, schmeckt, die Seele umarmt, in zeitloser Gegenwart immerdar gefällt? Augustinus entfaltet an dieser Stelle die Unterscheidung von äußerem und innerem Menschen. Auf der fragenden Suche nach dem göttlichen Grund des Selbst wendet sich der Suchende der sinnlichen Erfahrungswelt wie der eigenen Innenwelt zu, und hier kommen die Sinne als Boten (nuntii) ins Spiel. Was von beiden ist’s, wo ich meinen Gott erfragen soll, nach dem ich auf Leibes Weise schon auf der Suche war von der Erde bis zum Himmel, soweit ich nur als Boten die Blicke meiner Augen schicken konnte (quousque potui mittere nuntios radios oculorum meorum)? Aber besser ist, was innen ist. Denn alle Boten meines Leibes brachten Meldung (renuntiabant omnes nuntii corporales) bis dorthin in das Ich, das waltet und urteilt über die Antworten (praesidenti et iudicanti de responsionibus) des Himmels und der Erde und aller Dinge in ihnen, als sie sagten: nicht wir sind Gott und ›Er ist’s der uns erschaffen hat‹. Der innere Mensch (homo interior) ward es inne durch den Dienst des äußern; ich, der Innenmensch, ward es inne, ich, das Seele-Ich, durch das Sinnenwesen meines Leibes.
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Nikolaus von Kues, Compendium, cap. VIII, n. 22/Ed. Bormann (2002), Bd. 4, 32/33.
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Anne Eusterschulte Ich fragte die Weltenmasse nach meinem Gott, und sie gab mir zur Antwort: ich bin es nicht, doch geschaffen hat mich Er.55
Die sinnlichen Botschaften, mit denen sich die geschaffene Welt mitteilt bzw. vermittels derer sich die Herrlichkeit des Schöpfers offenbart, sprechen die Seele gleichsam an, sie sind Botschaften einer Verkündigung Gottes. Die entscheidende Instanz aber, diese Übermittlungen aufzunehmen und zu beurteilen, ist der Verstand, der hier wie ein Richter über die Sinnesinformationen wacht. Wenngleich die Dinge allen in gleichem Aussehen (species) erscheinen: »Rede stehen diese Dinge nur dem Frager, der auch Urteil hat [...] die allein verstehen es, die das Vernommene von draußen drinnen (foris intus) mit der Wahrheit, die dort ist, zusammenbringen.«56 Beredt werden die über Botenfunktionen der sinnlichen Wahrnehmung vermittelten, erscheinenden species erst durch den Zugriff der Urteilskraft, die ihrerseits auf eine tiefere Wahrheit verwiesen ist. Hiermit kommt die christologische Fundierung, die göttliche Weisheit (divina sapientia, logos, verbum dei = Christus) als selbst uneinholbarer Erkenntnisgrund des inneren Menschen und damit die Gottebenbildlichkeit zur Sprache. Der Cusaner schreibt sich in diese augustinische Seelenlehre ein. Es geht hier um eine innere Aufstiegsbewegung zu Gott. Bedingung von Selbsterkenntnis ist die urteilende Erkenntnis der Sinneswahrnehmungen, die ihrerseits Mitteilungsformen, Offenbarwerden des Schöpfergottes in der kreatürlichen Welt sind. Aber im Vollzug dieser Selbst- und Welterkenntnis wird der Erkennende zugleich der göttlichen Kraft der Seele inne. Im X. Buch der Confessiones steht diese Selbstüberschreitung der Seele auf ihren inneren Erkenntnisgrund in unmittelbarem Zusammenhang mit den im Folgenden durchschrittenen weiten Gefilden und Hallen des Gedächtnisses, dem Thesaurus unzähliger, von den Sinnen zugetragener Bilder. In diesem mentalen Innenraum der memoria liegen alle Bilder der Dinge für den Geist bereit. Wie aber, so Augustins Frage, sind die äußeren Erscheinungsweisen der Dinge zu inneren Bildern geworden und was ermöglicht es, sie herbeizurufen und vor dem inneren Auge in mentaler Sinnlichkeit lebendig werden zu lassen, zu rekombinieren, neue Bilder oder auch Zukunftsvisionen hervorzubringen und dies mit wundersamer Schnelligkeit?57 Was ermöglicht es weiterhin, erlernte Sachverhalte, begriffliche Wissensgegenstände, die nicht bildlich vermittelt sind, innerlich zu vergegenwärtigen? So wundersam und unerklärlich all diese Vorgänge in den ungeheuren Räumen des Gedächtnisses (in aula ingenti memoriae)58 für die sich selbst befragende Seele sind, sie weisen auf die urteilenden, einteilenden, zusammenfügenden und besondernden Akte des Denkens. Cogito, »das heißt aus der Zerstreuung sammeln, was _____________ 55 56 57 58
Aurelius Augustinus, Confessiones/Ed. Bernhart (1987), X 6, 9, 500/501. Ebd., X 6, 10, 500/501. »Denn diese Dinge gelangen ja nicht selbst ins Gedächtnis, nur ihre Bilder (imagines) werden mit wunderbarer Schnelligkeit erfaßt, wie in wunderbaren Kammern aufgehoben und beim Erinnern wunderbar hervorgeholt.« Ebd., X 9, 16, 510/511. Ebd., X 8, 14, 506/507.
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ja unter Denken eigentlich zu verstehen ist (ex quadam dispersione colligenda, unde dictum est cogitare).« Denkoperationen, ein inneres Schauen dessen, was ungeordnet im Gedächtnis gesammelt ist, konstituieren überhaupt erst die Gegenstände, indem wir »nun denkend gleichsam zusammenlesen und mit hingespanntem Geiste (animadvertendo) uns bemühen, daß es im nämlichen Gedächtnis, wo es vordem verstreut und unbeachtet abseits lag, nun gleichsam zur Hand liege und einem allbereits gewöhnten Blick des Geistes (intentio) leicht sich erbiete.«59 Worauf es hier ankommt ist, dass das Denken als ein aktives Konstituieren von Erkenntnisgegenständen gefasst wird, sei es der ›Bilder‹ von sinnlichen Wahrnehmungsgegenständen, sei es der in sprachlicher Form bedeuteten, erlernten Wissensgegenstände. Denken ist als eine Form des Gewahrseins oder der gerichteten Aufmerksamkeit (animadvertio, attentio, intentio) bewusste Vergegenwärtigung eines Gegenstandes und damit intentional. Dass aber das Denken aus dem zerstreut gegebenen Vorrat von mentalen Gehalten etwas als ein Bestimmtes zu vergegenwärtigen vermag, weist auf die Einwohnung der göttlichen Weisheit in der Seele. Dieser Hintergrund ist für das Verständnis der KosmographenVorstellung des Cusaners basal. In Rekurs auf die Boten-Metapher lässt sich weiterhin auf den von Augustinus beeinflussten, am karolingischen Hof wirkenden Gelehrten Alkuin (9. Jahrhundert) verweisen. In De animae ratione betont er, wie Augustin in den Confessiones, die staunenswerte Geschwindigkeit der Geistseele, die über die von den Boten (per quosdam nuntios) der Sinneswahrnehmung vermittelten Eindrücke instantan mentale Bilder zu figurieren (figuras formare) fähig ist, um diese im Schatzhaus der Memoria zu bewahren.60 Die Übertragung der Sinneseindrücke in Bilder und die freie Rekombination zu kompositen, komplexen mentalen Bildern wird auch hier zu einem Indikator der Geisttätigkeit des Menschen. An einer Stelle seiner Schrift verdeutlicht Alkuin dieses Verfahren mit der inneren Vergegenwärtigung einer Stadt. So ist die menschliche Geistseele nicht nur in der Lage, eine wahrgenommene Stadt in einem mentalen Bild zu vergegenwärtigen, sondern auch eine unbekannte, niemals sinnfällig gewordene Stadt (z.B. Jerusalem) innerlich vor Augen zu stellen: ex notis enim speciebus fingit ignota. Diese Verfahrensweise des Geistes, alles in innere Bilder zu übersetzen, gleichsam in Denkfiktionen, ist für Alkuin ein Zeugnis eines göttlichen Vermögens bzw. einer Wirkkraft der menschlichen Natur (Dei potentia et naturae efficacia), unter unterschiedlichsten Voraussetzungen Gegenstände im Denken über Bilder zu vergegenwärtigen und zu erkennen.61 Diese mentalen Bilder und Bildarchitekturen übertragen nicht nur sinnliche Daten in mentale Figurationen, sondern sind zudem _____________ 59 60
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Ebd., X 11, 18, 512/513–514/515. Alcuin, Liber de animae ratione 7, 624A. Vgl. hierzu ausführlich Carruthers (1998). Nicht die Vorstellungskraft oder die Memoria ist im strengen Sinne die bildproduzierende Instanz sondern die Vernunfttätigkeit, die durch diese Seelenvermögen wirkt. Nicht zuletzt der Hinweis auf die Schnelligkeit, bei Augustin wie Alkuin, deutet darauf hin, daß die einzelnen Translationsbewegungen lediglich in heuristischer Distinktion beschreibbar sind. Alcuin, Liber de animae ratione 7, 624A–C.
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ein Mittel der bildlichen Vergegenwärtigung des Unbegrifflichen, Unbekannten.62 Sie weisen gleichermaßen auf einen Erkenntnisbilder evozierenden Denkvollzug wie auf eine Erkenntnismethode. Dass dies in besonderem Sinne auch auf das Cusanische Bild der Stadt zutrifft, wird jetzt zu zeigen sein. Es ist die sich selbst begrifflich uneinholbare, unsichtbare Geist-Seele, die sich im Prozess einer Erkenntnis als produktiv bilderzeugende Potentialität selbst gegenwärtig wird. Verbunden ist dies zugleich mit einer Aufforderung an den Leser, dieses Vor-Augen-Entstehen der Stadtanlage performativ mitzuvollziehen. Hier liegt ein rhetorisch-mnemotechnischer Zug im Sinne der enargeia: Das Stadtmodell führt in bildhafter Veranschaulichung eine Anleitung vor Augen, die Geisttätigkeit in Analogie zur göttlichen Schöpfertätigkeit zu fassen. Doch verwiesen sei zuvor noch auf eine dritte, wichtige Referenzquelle für das Kosmographen-Modell des Cusaners. Johannes Scotus Eriugena nimmt in seiner Schrift Periphyseon/De divisione naturae, mit der Nikolaus von Kues vertraut war, den Vergleich der Seelentätigkeit mit einer Stadt auf. Es geht an dieser Stelle darum, die biblisch bezeugte Gottebenbildlichkeit der menschlichen Natur über die trinitarische Struktur der Seelentätigkeit auszuweisen. So gibt es für Eriugena keine Natur, »deren Bestand nicht unter die drei Bestimmungen fiele, welche wir als Wesenheit, Kraft und Wirksamkeit (essentia, virtus, operatio) bezeichneten.«63 Wie aber drückt sich die Tripersonalität von Vater, Sohn und Geist in ihrer substanzialen Ungeschiedenheit in der menschlichen, nach dem Bildnis und Gleichnis der Schöpfers beschaffenen Seele aus?64 Hier wird schon deutlich, dass die Entsprechung auf eine ›Ebenbildlichkeit‹ der Seele in Bezug auf drei Momente einer selbstreflexiven Bewegung zielt65, aus der ein Hervor_____________ 62
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»The products of fantasy and memory are the matrix and materials of all human thought. That is what Alcuin says here, following his master [Augustinus, A.E.] And these thought-devices, these fictions by which we can grasp God (or any concept) in our mind, are constructions that someone can hear, smell, taste, touch, and above all see mentally.« Carruthers (1998), 120. Num nobis uisum est nullam naturam esse quae non in his tribus terminis intelligatur subsistere qui a Graecis ut saepe diximus !"#$% &"'%($# )')*+$% [!"#$%, &'(%µ)*, +(,-./)%] appellantur, [hoc est] essentia virtus operatio. Iohannis Scotti Erivgenae, Periphyseon (De Diuisione Naturae), lib. II/Ed. Sheldon-Williams (1972), 92; Übersetzung in: Noack (1994), lib. II, cap. 23, 173, Vgl. auch Iohannis Scotti Erivgenae, Periphyseon (De Diuisione Naturae), lib. II 23/Ed. Sheldon-Williams (1972), 94. Vgl. Nikolaus von Kues, De venatione sapientiae, cap. XXXI, n. 93/Ed. Bormann (2002), Bd. 4. Non aliorsum nisi ut quaeramus pro uiribus quomodo trinitas nostrae naturae trinitatis creatricis imaginem et similitudinem [in se ipsa] exprimat, hoc est quid [in ea] conuenientius patri et quid filio quid sancto spiritui adiungendum [conuenientius dico quamuis enim conuenienter nostra naturae trinitas tota totius diuinae trinitatis imago est. Iohannis Scotti Erivgenae, Periphyseon (De Diuisione Naturae), lib. II 23/Ed. Sheldon-Williams (1972), 94f. Nihil mihi probabilius occurrit quam ut patris imaginem essentia, filii uirtus, spiritus sancti operatio nostrae naturae accomodet. Iohannis Scotti Erivgenae, Periphyseon (De Diuisione Naturae), lib. II 23/Ed. Sheldon-Williams (1972), 96.
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bringungsgeschehen erklärbar wird.66 Entsprechend der göttlichen koessentialen Trias von Wesenheit (Vater/essentia), Kraft (Sohn/virtus) und Wirksamkeit (Geist/operatio) sieht Eriugena diese Dreiheit in der menschlichen Seele in der Relation von Intellekt, Ratio und Sensus gegeben67, wobei mit letzterem nicht ein äußeres Sinnesvermögen, sondern ein innerer Sinn, die dianoia, kennzeichnet ist.68 Allein dieser innere Sinn ist konstitutiv für das operative Vermögen der Seele (operatio), denn im Unterschied zum äußeren, körpergebundenen und damit vergänglichen Sinn ist der innere ein Wesensmoment der tätigen Geistseele. Um diese Differenz zu verdeutlichen, beruft sich Eriugena u.a. auf die Auffassung Augustinus’, wonach der äußere Sinn so etwas wie ein Unterhändler oder Vermittler dessen sei, was die Sinneswerkzeuge aufnehmen. Hier kehrt der Vergleich mit einem Boten wieder.69 Mit dieser Unterscheidung zwischen innerem und äußerem Sinn distinguiert Eriugena die konstitutiven, koessentialen Momente der Seele – Denken (nous/intellectus), Vernunft (logos/ratio), innerer Sinn (dianoia/sensus interior) – von der äußeren leibgebundenen Sinneswahrnehmung. »In diesen dreien aber besteht die Wesendreiheit der nach dem Bilde Gottes geschaffenen Seele; denn sie besitzt Denken, Vernunft und innern oder wesenhaften Sinn, während der äussere Sinn, den wir das Band des Körpers und der Seele genannt haben, als Grundlage die ihm eigenthümlichen Werkzeuge gewissermassen als Wächter des Sinnes besitzt, sofern in den sogenannten fünf Sinnen, dem Sehen, Hören, Riechen, Schmecken und Fühlen, der Sinn gehütet und wirksam ist.«70 Hier nun wird der Vergleich der trinitarischen Seele mit einer Stadt aufgerufen, die mit der äußeren Wahrnehmungswelt über die Botendienste der Sinne und den hierüber wachenden äußeren Sinn verbunden ist. Der äußere Sinn wird aber nach Eriugena nicht deshalb ein fünffacher genannt, weil er fünffach geteilt wäre. Vielmehr handelt es sich hier um einen einfa_____________ 66 67 68
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Ebd. famosissima nostrae naturae trinitate quae in intellectu et ratione et sensu intelligitur. Ebd., 98. Sensum autem dico non exteriorem sed interiorem. Nam interior coessentialis est rationi atque intellectui. Ebd., 98. Sensus est sensibilium rerum ›!"#$"%&"‹ per instrumenta corporis assumpta«, similiter naturae animae non uidetur eum coniungere sed uelut internuntium corporis et animae constituere. Ebd., 98. Der kritische Apparat von Sheldon-Williams weist die Rekurse auf Aurelius Augustinus, De genesi ad litteram, III 5, 7. PL XXXIV 282; Aurelius Augustinus, De musica, VI 10, PL XXXII 1169 aus. Vgl. auch Aurelius Augustinus, De quantitate animae, XXIII 41; PL XXXII 1058; cf. Aurelius Augustinus, De musica, VI 5. In his tribus essentialis trinitas animae ad imaginem dei constitutae subsistit. Est enim intellectus et ratio et sensus qui dicitur interior et essentialis, exterior uero quem corporis et animae copulam diximus AIS!HSIS [vocatur], instrumenta autem in quibus possidet "&%'($()&" quasi "&%'(%*+% $()&" hoc est sensus custodiae, in eis enim sensus custoditur et operatur. Iohannis Scotti Erivgenae, Periphyseon (De Diuisione Naturae)/Ed. Sheldon-Williams (1972), II 23, 98; vgl. ebd. I 54, 162. Die gegebene deutsche Übersetzung von Noack (1994), lib. II, cap. 23, 176 lässt die Hinführung von griech. aisthesis (sinnliche Wahrnehmung) über die aistheteria (Sinnesorgane) zu aistheseos teria (Wächter der Sinneswahrnehmung), d.h. die Akzentuierung einer teresis (Bewachung) kaum noch erkennen.
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chen, eingestaltigen Sinn, der im Herzen seinen Sitz hat. »Fünffach heisst er aber desshalb, weil er durch ein fünffaches Werkzeug des Körpers, gleichwie durch fünf Thore einer Stadt, die aus den Eigenschaften und Grössenbestimmungen der äussern Welt stammenden Bilder der sinnlichen Dinge auf äusserer Sinnesgrundlage innerlich aufnimmt und wie ein Thürhüter und Zwischenträger das von ausenher Zugeführte dem vorsitzenden inneren Sinn gleichsam anmeldet.«71 Der äußere Sinn ist Wächter über die Sinneswerkzeuge (Stadttore) und Zwischenhändler. Er nimmt die Ähnlichkeiten dessen, was äußerlich mit dem Körper aufgenommen wurde (Größen, Eigenschaften), als Bilder auf und legt sie dem inneren Sinn vor. Das Wesen der Seele, die sich trinitarisch aufschließen lässt, ist gefasst als Bewegung, die sich in drei Modi der Hinrichtung auf Gott fassen lässt: non aliud est nostrae naturae esse et aliud moueri.72 Das Denken nous/intellectus ist als Wesenheit ousia/essentia die vorzüglichste stabile Bewegung, ein Kreisen um Gott, der alles übersteigt: Es ist dies die höchste Form der Selbstbewegung der Seele. Die Denkbewegung der Vernunft logos/ratio entsprechend der virtus/dynamis ist Hinordnung auf die uranfänglichen Ursachen, die im schöpferischen Logos beschlossen liegen. Die Bewegung der dianoia/des sensus interior bzw. der operatio/energeia aber ist ein Durchschauen der sichtbaren wie unsichtbaren Wirkungen dieser ersten, uranfänglichen Ursachen.73 Die dritte Bewegung (die des inneren Sinnes) ist für Eriugena74 eine komposite Bewegung, sofern sie sich einerseits den durch den externen Sinn vorgelegten sinnlichen Zeichen zuwendet, diese aber im Gegenzug re-formiert und als Wirkungen auf rationale Gründe zurückführt. Tertius motus est ›compositus, per quem quae extra sunt‹ anima ›tangens ueluti ex quibusdam signis apud se ipsam uisibilium rationes reformat‹. Diese dianoetische, operative Aneignung der von außen vermittelten Vorstellungsbilder (phantasias) birgt eine doppelte Struktur. Einerseits ist es ein Prozess der Auffassung der Vorstellungsbilder oder Zeichen in der Weise eines Sammelns, Unterscheidens, Ordnens; andererseits und im gleichen Zuge ein Prozess, die rationalen Gründe derjenigen Dinge, die in den Vorstellungsbildern vermittelt gegenwärtig sind, sich selbst anzuverwandeln und als rationale Gründe zu vergegenwärtigen.75 _____________ 71
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per quinquepertitum corporis instrumentum ueluti per quasdam cuiusdam civitatis portas sensibilium rerum similitudines ex qualitatibus et quantitatibus exterioris mundi uenientes [caeterisque quibus sensus exterior formatur] interius recipiat et ueluti ostiarius quidam internuntiusque ea quae extrinsecus introducit praesidenti interiori sensui annuntiet. Iohannis Scotti Erivgenae, Periphyseon (De Diuisione Naturae)/Ed. Sheldon-Williams (1972), II 23, 99; vgl. ebd. I 54, 162. Übersetzung in: Noack (1994), lib. II, cap. 23, 176f. Iohannis Scotti Erivgenae/Ed. Sheldon-Williams (1972), II 23, 100. Vgl. ebd. In der Unterscheidung der drei Seelenbewegungen nimmt Eriugena Ansätze von Maximus Confessor auf. Vgl. Maximi Confessoris Ambiguorum Liber sive des variis difficilibus locis SS. Dionysii Areopagitae et Gregorii Theologi, PG 91 (1865), 1112D ff. Vgl. Iohannis Scotti Erivgenae/Ed. Sheldon-Williams (1972), 106ff.
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Diese dritte Bewegung – den platonischen Terminus der dianoia aufnehmend76 – ist in Bezug auf den Cusaner entscheidend, denn hier deutet sich nicht nur der Status einer spezifischen geistigen Vorstellungstätigkeit/phantasia an, sondern insbesondere die Bedeutung mathematischer Modelle und Versichtbarungen/Symbolisierungen als Denkform. Der Neuplatoniker Proklos, dem der Ansatz Eriugenas vermittelt über Ps.-Dionysius verpflichtet ist, versteht in seinem Euklid-Kommentar die Mathematik als eine propädeutische, dianoetische Denkweise, sofern sie das Auge ganz von den sinnlichen, körpergebundenen Eindrücken abführt und mittels ihrer Versichtbarungsmodelle zur Schau des Einen überführt.77 Phantasia und dianoia stehen hierbei in einem Bedingungsverhältnis. Die phantasia ist vermittelndes Seelenvermögen, sofern sich in ihr die mathematischen, geometrischen Operationen der dianoia verräumlichen. Die ausdehnungslosen mathematischen Figuren, die dem Denken (dianoia) als Ideen innewohnen, werden mittels der phantasia in eine Verräumlichung überführt. »Das Heraussetzende oder Hervorbringende [...] ist die dianoetische Denkkraft, der aufnehmende Ort dieser Entfaltung aber die phantasia [...]; nur in ihr und mit ihr zusammen kann sie sich vollziehen.[...] Sie ›entwirft‹ oder ›projiziiert‹ ihrerseits die in sie hervorgegangenen Ideen oder seienden Begriff in die Seinsweise der Teilung oder des Raumes und der Gestalthaftigkeit.«78 Dieses Vermögen einer extensionalen Ausbildung mathematischer Figuren kennzeichnet ein aktiv versinnlichendes, in anschauliche Gestalt versetzendes Vermögen der phantasia, ihre kreative, räumlich-bildgebende Funktion, die dem Denken in der figurativen Ausfaltung symbolisch vor Augen führt, was es in sich unanschaulich birgt. Allerdings mit dem Ziel, das Denken wie in einer spiegelbildlichen Selbstansicht auf sich zurückzuwerfen. Dieses Verständnis der phantasia/imaginatio als Ort einer mentalen, räumlichen Projektion innergeistiger Formen in mathematischen Figuren ist auch für die symbolische Mathematik des Cusaners entscheidend. Die Entfaltung in konjekturale Verräumlichungsformen sind Bedingung einer Selbstvergegenwärtigung des Geistes und weisen über die mentale Veräußerung den Weg einer Überschreitung hin auf die gestaltlosen, ausdehnungslosen innergeistigen Formen. Sie fungieren als mentale Versichtbarung des Unsichtbaren im Geist selbst. Dass der Erkenntnisvollzug der Geist-Seele (intellectus, animus bzw. mens)79 ständige Bewegung um den ineffablen Gott ist und zugleich ein innerseelischer Aufstieg, führt uns nun zurück zum Kosmographen-Modell des Cusaners. _____________ 76
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Dianoia kennzeichnet im Liniengleichnis (Platon, Resp. VI 510b–e u. 511d–e) ein Denken oder eine Erkenntnisform, die zwischen dem Meinen (doxa) und dem Wissen (episteme) situiert ist. Beispielhaft hierfür ist das Verfahren der Mathematiker, die sich auf Hypothesen stützen und sich praktischer Veranschaulichungen (z.B. geometrischer Modelle) bedienen, um über die bildlichen Schemata auf die Ideen selbst zu führen. Vgl. Proklos: In Eucl. 20, Zeile 15–26/Ed. Friedlein (1873/ND 1967); hierzu Beierwaltes (1985), 268. Ebd., 259. Ebd., 110.
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Im Innern der Stadt Denn der Cusanische Kosmograph, der Verzeichner alles dessen, was über Sinne und Vorstellungstätigkeit Eingang in die Geistseele gefunden hat, trägt, nachdem er »eine Gesamtaufnahme (designatio) der sinnfälligen Welt fertiggestellt hat«, alles »in rechter Ordnung und in den entsprechenden Größenverhältnissen auf eine Karte (mappa) ein.«80 Mit dem Vergleich mit einer Welt-Karte oder einer kartographischen Aufzeichnung81 der über die Sinneswahrnehmung gewonnenen Daten wird der Transformationsprozess, der sich im Erkennen vollzieht, abermals deutlich. »Erkennen nämlich ist Messen (Cognoscere enim est mensurare).«82 Eine solche Karte der gesamten sinnlichen Welt folgt keinem Abbildungsanspruch im Sinne einer Abspiegelung oder realitätsgetreuen Wiedergabe. Die notwendige Disproportionalität des endlichen, mathematisch vermessenden Denkens zur Unendlichkeit macht aber den spezifischen Charakter der Gesamtkarte umso deutlicher. Die Kartierung weist auf eine Übertragungsleistung, mit der raumzeitlich erfahrene Wahrnehmungsdaten in eine zweidimensionale, plane Darstellungsform überführt werden und zugleich in einer Maßstäblichkeit verzeichnet werden, die dem Anspruch einer Repräsentation von Größenverhältnissen, Relationen bzw. Ordnungsstrukturen folgt. Im verkleinerten, komprimierten Maßstab und von einem spezifischen Betrachterstandpunkt entworfen bietet sie einen Aufriss im Kleinen. Die formalisierte Codierung verzeichneter Bezugspunkte und die relationale Strukturierung, gleichsam das mathematische Raster, mit dem die Karte die ›Welt‹ in ein Zeichen- und Orientierungssystem überführt, zeugen von einem abstraktiven Verfahren. Die Maßhaltigkeit und Maßstäblichkeit der Karte wirft die Frage nach dem Maß auf, das den Ordnungsstrukturen der sichtbaren Welt und deren Übertragungsweise in einer relationalen Zeichenstruktur nach Art einer Karte zugrunde liegt. Eben dieses vorgängige Maß ist der menschliche Geist (mens) – ein Terminus, der sich nach Nikolaus von Kues vom Messen (mensurare) herleitet. Nun geht es hier, und das ist für den Bildbegriff entscheidend, nicht um konkrete kartographische Darstellungsmethoden – diese sind hier lediglich der explikative Vergleichshorizont der Analogie –, sondern um eine mentale Kosmo- und Kartographie. Der Blick des Cusanischen Kosmographen wendet sich von der Erfassung der informierenden Dingwelt auf sich selbst, richtet sich in innergeistiger Meditation auf die Vernunftfähigkeit. Was wird an der Fähigkeit der mathematischen Designation, wie sie der menschliche Geist zu leisten vermag, deutlich? Wenn der Kartograph, so der Cusaner, seinen inneren Blick (intuitus internus) dem _____________
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Nikolaus von Kues, Compendium, cap. VIII, n. 23/Ed. Bormann (2002), Bd. 4, 32/33. Die Entwicklung der zeitgenössischen Kartographie sowie Cusanus‘ Auseinandersetzung mit kartographischen Methoden – etwa über seine Freundschaft zu Paolo dal Pozzo Toscanelli – ließen sich dazu als Hintergrund in Erinnerung rufen. Hier geht es mir aber um die zeichentheoretischen, geistphilosophischen Implikationen des Weltkarten-Vergleichs. Nikolaus von Kues, De beryllo, cap. XXXIX, n. 71/Ed. Bormann (2002), Bd. 3, 90/91.
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Schöpfer der Welt (conditor mundi), Weltbaumeister (artifex) und Grund (causa) von allem zuwendet, wird er gewahr, dass dieser nichts von dem ist, was, durch die Sinne ihm zugetragen wird, sondern vielmehr dasjenige, was der sinnfälligen Welt begründend vorausgeht. Denn nach »der Auffassung des Kosmographen verhält er sich in vorgängiger Weise so zur ganzen Welt, wie er selbst als Kosmograph zur Karte, und entsprechend dem Verhältnis der Karte zur wahren Welt betrachtet er (mente contemplando) in sich selbst als dem Kosmographen den Schöpfer der Welt und schaut so mit seinem Geiste die Wahrheit im Bild (in imagine veritatem) und im Zeichen den Bezeichneten (in signo signatum).«83 Hiermit wird eine Verschränkung von strukturellen Analogien präsentiert, die auf den menschlichen Geist als imago dei zuläuft und zugleich die designative, eine Zeichenwelt hervorbringende Potentialität des menschlichen Geistes begründet. So wie der unerfassbare, absolut transzendente Gott sich in der kreatürlichen Welt produktiv in Zeichen seiner Schöpferkraft mitteilt, so ist auch der menschliche Geist als vorgängige Ursache einer zeichensetzenden Selbstveräußerung produktiv und in dieser schöpferischen Selbstmitteilung in Zeichen manifestiert sich die Gottebenbildlichkeit. Die unendliche Potentialität des vorgängigen göttlichen Grundes ›zeigt‹ sich in der Welt und bleibt doch in der Zeichenhaftigkeit des Kreatürlichen selbst unsichtbar, ein Erscheinen des Nicht-Erscheinenden. Entsprechendes gilt von der menschlichen Geisttätigkeit, die sich in der zeichensetzenden, mentalen Produktivität entfaltet und sich damit in ihrer Potentialität gegenwärtig wird, ohne dass der Geist sich selbst zu umfassen, erfassen vermöchte. »So bleibt auch die Vernunft des Menschen (hominis intellectus) in sich eins und unsichtbar (invisibilis), stellt sich aber in ihren verschiedenen Künsten und durch ihre verschiedenen Kunsterzeugnisse auf verschiedene Weise sichtbar dar, wenn sie auch bei allem diesen für jeden Sinn gänzlich unerkannt bleibt (omni sensui penitus incognitus).«84 Gleichwohl führt die Selbstvergegenwärtigung des menschlichen Geistes über Versichtbarungs- oder Veräußerungsformen zu einer Selbsterkenntnis. Denn die Kartierungen, d.h. die Notations- oder Verzeichnungssysteme, die der messende Geist nach seiner Maßgabe entwirft, lassen ihn sich selbst als Zeichen der göttlichen Schöpferkraft gewahr werden. Eben dies macht das Verhältnis der Karte zur Welt deutlich. Haben wir doch gesehen, dass hier ein Transfer von materialen Dingen (Zeichen der göttlichen Schöpferkraft, die über ihre Strahlkraft, ihren Sprachcharakter von dem über sie hinausweisenden Grund zeugen) über sinnliche Zeichen, Vorstellungszeichen zu intellektualen Zeichen stattfindet, so dass die Karte eine spezifisch menschliche Auffassungsweise darstellt und damit weniger Zeugnis von der Beschaffenheit der Welt als vielmehr von einer nach Maßgabe des menschlichen Geistes konstituierten Weltsicht geben. »Und daher entdeckt er in sich selbst das erste und nächste Zeichen des Schöpfers, in dem die schöpferische Kraft mehr als in irgendeinem andern bekannten Sinnenwesen aufleuchtet. _____________
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Nikolaus von Kues, Compendium, cap. VIII, n. 23/Ed. Bormann (2002), Bd. 4, 32/33. Nikolaus von Kues, Compendium, cap. VIII, n. 24/Ed. Bormann (2002), Bd. 4, 34/35.
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Das geistige Zeichen ist das erste und vollkommenste Zeichen des Schöpfers von allem«.85 So ist die Karte einerseits Ausdruck des je nur mutmaßlichen, symbolischen Charakters menschlicher Welterfassungsformate, die sich dem unendlichen Gott immer nur in Entwürfen annähern (sei es in mathematischen Aufmaßen, in der Grammatik von Sprach- und Schriftzeichen, der Strukturierung wissenschaftliche Modelle, Symbolisierungsformen etc.). Andererseits aber zeugen gerade diese designativen, konjekturalen Weltsichten von einem spezifischen schöpferähnlichen Vernunftpotential, das in seiner Entwurfsfähigkeit gleichermaßen unausschöpflich ist, sich immer weiter annähern kann und sich in eben dieser Bewegung in seinem Vermögen zeigt. So wie in allen kreatürlichen, sinnfälligen Dingen Gottes unermessliches Seinkönnen in Aktualisierungsmodi aufscheint, die Dinge also sinnliche Zeichen des Schöpfers sind, so zeigt sich über die Hervorbringungen der menschlichen Vernunft, die ihrerseits eine Ausstrahlung der göttlichen Vernunft ist, der Zeichenstatus des menschlichen Geistes, dessen Vermögen, die vis creativa, sich entwurfsweise dem Einen anzunähern, eine immerwährende Bewegung darstellt. Der menschliche Geist ist eine viva imago86 des Schöpfergeistes oder ein lebendiger Spiegel (speculum vivum).87 Er nimmt nicht schlichtweg die Sichtzeichen der kreatürlichen Welt auf, sondern transliteriert diese in Zeichensetzungen des menschlichen Geistes. Wie sich der göttliche Geist in der geschöpflichen Welt offenbart und in seiner unendlichen Potentialität sichtbar wird, ebenso manifestiert sich in den Zeichen- und Symbolsystemen die Produktivität des menschlichen Geistes in einer unabschließbaren Vervollkommnungsbewegung. »Und es fallen Meister und Meisterschaft zusammen im Wesen als dem lebendigen Bild der unendlichen Kunst (ut in imagine viva artis infinitae), das sich, wenn es angeregt ist, der göttlichen Wirklichkeit immer ohne Ende gleichgestaltiger machen kann, wiewohl die genaue Übereinstimmung mit der unendlichen Kunst stets unerreichbar bleibt.«88 Er wird in seinen bildlichen, zeichensetzenden Verfahren seiner selbst ansichtig, d.h. erfährt sich selbst in seiner gottähnlichen Potentialität. Man könnte auch sagen, die kraft der göttlichen Schöpfung in die Sichtbarkeit getretenen Zeichen werden rückübersetzt in formale, geistige Zeichen und damit in der menschlichen Reflexion rückgeführt auf ihren divinen Grund. Der Cusaner spricht in Hinsicht auf dieses assimilative Begriffsbildungsvermögen auch von einer viva flexibilitas, der geistigen Kraft einer Bildsamkeit, die sich, völlig abgelöst von den sichtbaren Dingen, den geistigen Formen selbst, die er in sich kraft der Teilhabe an der göttlichen Weisheit (sapientia dei, Christus als innerer logos) vorfindet, angleichen kann, indem er mathematische Begriffe ausbildet.89 Der _____________
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Ebd., 32/33. Vgl. Nikolaus von Kues, De visione dei, cap. IV/Ed. Gabriel (1989), Bd. 3. Vgl. Nikolaus von Kues, Idiota de mente, cap. V, n. 87/Ed. Bormann (2002), Bd. 2, 42/43. Die absolute göttliche Schöpferkunst (ars divina, ars infinita, ars creatrix), veräußert sich im Bild ihrer selbst, d.h. im Bild (imago) des menschlichen Geistes. Vgl. ebd. XIII, n. 148, 112/123. Nikolaus von Kues, Idiota de mente, cap. XIII, n. 149/Ed. Bormann (2002), Bd. 2, 114/115. Vgl. Nikolaus von Kues, Idiota de mente, cap. VII, n. 104/Ed. Bormann (2002), Bd. 2.
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göttliche Geist offenbart sich so in einer angeborenen Urteilsfähigkeit des menschlichen Geistes, der, durch die äußeren Sinnesdinge aufgeweckt, angeregt und in Staunen versetzt, in Bewegung kommt und in sich selbst dieses eingeschriebene Gesetz (die sapientia divina) liest, auslegt, als lebendige Urteilsfähigkeit (lex scripta viva bzw. die viva descriptio aeternae et infinitae sapientiae) auf alles außerhalb seiner Befindliche anwendet.90 Eben dies ist ein produktiver und nicht reproduktiver Vorgang. Die beurteilende Auffassung des Sichtbaren ist zugleich eine Gestaltgebung, ein operativer Vorgang, mit dem der Geist sich die Dinge anbildet, indem er sich in ihnen abbildet. Sie erhalten geistförmige Gestalt. In diesem Sinne besitzt der Geist eine virtus fingendi. Denn wie sich der göttliche Geist in den Dingen mitteilt, sich in den geschöpflichen Zeichen multiplikativ ausstrahlt, um vermittels der menschlichen Geisttätigkeit auf sich rückgewandt zu werden, so wird der menschliche Geist seiner gottebenbildlichen Kraft erst über die lebendige Bewegung einer Selbstveräußerung, d.h. über das Hervorbringen in Ausformungen seiner Kraft ansichtig. »In sich selbst nämlich findet der Geist, der die freie Fähigkeit zum Entwerfen hat (concipiendi liberam facultatem), die Kunst, den Entwurf auszuführen. Sie soll jetzt ›Meisterschaft des Gestaltens‹ (fingendi magisterium) genannt werden.« Denn wie ein Töpfer, Drechsler oder ähnlicher Handwerker verleiht er einer Materie die geistig entworfene Form, die in allen Konkretisierungen, in allen begrifflichen Fassungen aber nur aspektiv bzw. konjektural in Erscheinung treten kann. »Daher kann die immaterielle und geistige Form in keiner Materie wahrhaftig, so wie sie ist, gestaltet werden. Aber alle sichtbare Form wird ein Gleichnis und Bild der wahren und unsichtbaren Form bleiben, die im Geist als der Geist selbst existiert.«91 Hier haben wir es nicht mit Imaginationen oder Vorstellungsbildern im engeren Sinne zu tun, sondern mit mentalen Versichtbarungen der Geisttätigkeit, der Selbstentfaltung der vis notionalis92 in einen geistigen Raum von Begriffsbildungen. Die Manifestation in begrifflichen Zeichen lässt sich gerade am Beispiel der Karte, vergleichbar der göttlichen Schöpfertätigkeit, als Entwerfen einer geistigen Architektur (Stadt) begreifen, die sich von intellektualem Entwurf in sinnliche Zeichen bzw. materiale Zeichnungen überträgt – gleichsam bis zur Genese einer konkreten Kartenzeichnung, mittels derer das Eine sich in seinen Versichtbarungen als produktive Ursache erst auf sich selbst beziehen kann.93 Indem der Cusaner wie bei der Weltkartenanalogie die zeichnerische, malerische Entfaltung der menschlichen Vernunft veranschaulicht, wird zugleich der Aspekt des Prozessualen wie des Sich-Entwerfens unterstrichen. Dieses Geist_____________ 90 91 92 93
Vgl. Nikolaus von Kues, Idiota de mente, cap. V, n. 85/Ed. Bormann (2002), Bd. 2. Nikolaus von Kues, De ludo globi I, n. 44/Ed. Bormann (2002), Bd. 3, 46/47–47/49. Nikolaus von Kues, De ludo globi II, n. 80/Ed. Bormann (2002), Bd. 3. In Entsprechung zur Unsichtbarkeit des Schöpfergottes können wir »die wunderbaren Werke der Vernunft an Städtebauten, Schiffen, Kunstwerken, Büchern, Gemälden und dergleichen mehr sehen, und die Vernunft dennoch nicht mit unserem Gesichtssinn erreichen«. Nikolaus von Kues, De non-aliud, cap. XXIII/Ed. Gabriel (1989), Bd. 2, 546/547.
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konzept einer gottebenbildlichen Produktivität, die sich in der Veräußerung als Grund und Maß des Hervorgebrachten erst erfährt und sich damit zugleich als erstes Zeichen des Schöpfers begreift, verdeutlicht der Cusaner auch in anderen Schriften immer wieder. Vorzugsweise sind es mathematische Konzeptualisierungen, an denen dieses Verhältnis von göttlichem und menschlichem Geist demonstriert wird.94 An der mathematischen Entfaltung aus einem Punkt wird die metaphysische Begründung aus einer transzendenten, geistigen, nicht körperlichen Einheit, die komplikativ das Hervortreten in eine räumliche Dimensionalität erst begründet, nach- und mitvollziehbar und analog als eine mentale Extension in mathematischen Zeichen beschreibbar.95 Hier kommt die dianoia, das operative Denken des Einen über mathematische Symbole im Verständnis des Proklos, zum Tragen.
Trinitarische Seelenbewegung In der trinitarischen Seelenstruktur, die der Cusaner in Rekurs auf Augustin, Ps.Dionysius und vermittelt über Eriugena zugrundelegt, wird die Gottebenbildlichkeit als geistige Prozessform in ihren Momenten beschreibbar. Vielfach greift der Cusaner auf die Struktur von essentia – virtus – operatio 96, auf das Verhältnis von essentia – sapientia – voluntas97 oder unitas – aequalitas – connexio98 zurück, um anhand der innergöttlichen, tripersonalen Wesensstruktur die erzeugende Bewegung des menschlichen Geistes in ihren Momenten auszuweisen. In De non-aliud wird die Wirkkraft des Heiligen Geistes (spiritus) zur Bedingung der Erkenntnisfähigkeit des menschlichen Geistes (mens), d.h. hieraus erst begründet sich die Schöpferkraft im Bereich der begrifflichen Zeichen, denn »der vernünftige Geist (mens)« ist »Abbild jenes Geistes (imago spiritus) [...] Und jener Geist, der aus seiner eigenen Kraft zu allem vordringt, durchforscht alles und bildet sich Begriffe und Ähnlichkeitsbilder (notiones atque similitudines) von allem. Ich sage, er schafft (creat), da er die begrifflichen Ähnlichkeiten der Dinge _____________ 94
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Gott wird Geist (spiritus) genannt, so der Cusaner in De non-aliud, »weil er, da er unkörperlich ist, nicht wie ein Körper von Raum eingeschlossen ist. Das Unkörperliche steht nämlich vor dem Körperlichen, das Unräumliche vor dem Räumlichen, das Unzusammengesetzte vor dem Zusammengesetzten. [...] So betrachtet der [menschliche, A.E.] Geist (mens) vor der zusammengesetzen Linie den unzusammengesetzten Punkt. Der Punkt ist ein Zeichen, die Linie hingegen ein Bezeichnetes.« Nikolaus von Kues, De non-aliud, cap. XXIV/Ed. Gabriel (1989), Bd. 2, 550/551f. Vgl. Nikolaus von Kues, De docta ignorantia I, cap. XI, n. 32/Ed. Bormann (2002), Bd. 1, 44/45: »Da uns zu den göttlichen Dingen nur der Zugang durch Symbole als Weg offensteht, so ist es recht passend, wenn wir uns wegen ihrer unverrückbaren Sicherheit mathematischer Symbole bedienen.« Vgl. Nikolaus von Kues, De venatione sapientiae, cap. XXXI, n. 93/Ed. Bormann (2002), Bd. 4. Vgl. etwa Nikolaus von Kues, Idiota de mente, cap. XIII, n. 149/Ed. Bormann (2002), Bd. 3. Vgl. Nikolaus von Kues, Idiota de mente, cap. VI, n. 95/Ed. Bormann (2002), Bd. 3; Nikolaus von Kues, De docta ignorantia I, cap. X, n. 27/Ed. Bormann (2002), Bd. 1.
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nicht aus irgendeinem Anderen macht, sondern – so wie der Geist, der Gott ist, die Washeiten der Dinge auch nicht aus Anderem macht – aus sich oder dem Nicht-Anderen.«99 Dabei handelt es sich, auch dies sei nochmals betont, weder um rein metaphorische oder illustrative Analogsetzungen produktiver Prozesse (Schöpfung: geistige Produktivität des Menschen), sondern um Versuche, einer metaphysisch begründeten Beziehung kraft der Gottebenbildlichkeit des Menschen Ausdruck zu geben. In den menschlichen Versichtbarungssystemen geistiger Produktivität setzt sich der göttliche Schöpfungsakt gleichsam in der Geistförmigkeit des menschlichen Schaffens fort. Neben der Mathematik bzw. arithmetischen wie geometrischen Modellen, die diese Entfaltung aus einer selbst überbegrifflichen, koinzidentalen Einheit in eine intelligible und in letzter Hinsicht räumlich versichtbarte Vielheit vorführen und als Vollzugsform geradezu den Mitvollzug der Rezipienten zu provozieren, greift der Cusaner vielfach den Vergleich mit Sprachstrukturen, d.h. einer kraft menschlicher Vernunft entworfenen sprachlichen Diskursivierung der Welt auf. Weiterhin sind es immer wieder Rätselbilder, komplexe Metaphoriken und Symbole, bis hin zu konkreten Bildern oder Naturphänomenen (Magnet, Karfunkel, Spiegel, Diamant u.v.m.), anhand derer der Cusaner die Produktivität des menschlichen Geistes sowohl ›zeigt‹ wie herausfordert. 100 Denn nicht nur geht es darum, den menschlichen Geist bzw. dessen Selbstentfaltung in mentalen Bildoder Zeichenräumen als gottähnliche Vollzugsform auszuweisen, sondern gleichermaßen, den Mitvollzug der Rezipienten zu provozieren.101 Wiederholt wird der/die Leser/in in den Texten des Cusaners aufgefordert, sich etwas vorzustellen, in der Betrachtung geistig zu verfolgen, selbst Entwurfsleistungen zu vollziehen. Die Unterschiedlichkeit der dabei gewählten methodischen Zugänge und Konzeptualisierungen der Geisttätigkeit mag überdies den konjekturalen Charakter aller Vergegenwärtigungsformen oder Designationsmodi unterstreichen, die jeweils aspektiv die Produktivität des lebendigen Geistes als imago dei ins Licht setzen.
Konzeptualisierungen des Geistes Ein Hintergrund, vor dem der Cusaner in seinen Schriften Gesprächspartner, Adressaten, Leser/innen aufruft, sich über ein dargelegtes Beispiel des göttlichen Grundes, der in der menschlichen produktiven Geisttätigkeit wirksam wird, _____________ 99 Nikolaus von Kues, De non-aliud, cap. XXIV/Ed. Gabriel (1989), Bd. 2, 554/555. 100 »Wir tun also nichts, was unserem Vorhaben fremd wäre, wenn wir mit Hilfe dürftiger Bilder aufsteigen«. Nikolaus von Kues, De beryllo, cap. X, 11/Ed. Bormann (2002), Bd. 3, 14/15. 101 Vgl. Nikolaus von Kues, De beryllo I/Ed. Bormann (2002), Bd. 3, 2/3: Der Weg zur visio intellectualis: »Damit ich dem Leser möglichst klar einen Begriff (conceptum) hiervon vermittle, will ich daher einen Spiegel und ein Rätselbild an die Hand geben [...] Es wird auch in der Macht eines jeden liegen, die zugrunde gelegte Verfahrensweise auf jeden Forschungsbereich anzuwenden und auszudehnen.«
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innezuwerden, ist die symbolische Theologie des Ps.-Dionysius: »Dionysius, ein Großer unter den Theologen, setzt voraus, daß es dem Menschen unmöglich ist, außer durch die Führung sinnlicher Gestalten (sensibilium formarum ductu), zur Vernunft-Einsicht des Geistigen (ad spiritualium intelligentiam) aufzusteigen«.102 Gott (theos), der sich begrifflich nicht fassen lässt (excellit omnem conceptum), unaussprechlich (ineffabile) bleibt, hat aber gleichsam selbst einen symbolischen Weg der Erkenntnis vorgegeben, in der Weise wie er sich selbst zeigt, ausspricht, mitteilt. Aussprechen bedeutet ja, einen inneren Begriff (conceptum intrinsecum) durch lautliche oder andere figürliche Zeichen (vocalibus aut aliis figuralibus signis) nach außen hin auszusagen. Wenn man von einem Ding kein Bild begreift (cuius igitur similitudo non concipitur), dann bleibt sein Name unbekannt. [...] Der Gott Suchende möge daher aufmerksam bedenken, daß in diesem Namen theos gleichsam ein Weg eingefaltet ist, auf dem Gott gefunden wird, damit man ihn erreichen kann. Theos kommt von theoro, das heißt ›ich sehe‹ und ›ich laufe‹. Laufen muß der Suchende mitttels des Sehens, um zu dem alles sehenden Gott vordringen zu können. Die Schau trägt ein Bild des Weges in sich, auf dem der Suchende voranschreiten soll. Wir müssen also die Natur der sinnlichen Schau vor dem Auge der vernunfthaften Schau ausbreiten und uns daraus eine Leiter für den Aufstieg bilden (Opportet igitur, ut naturam sensibilis visionis ante oculum visionis intellectualis dilatemus et scalam ascensus ex ea fabricemus).103
So setzt auch das Compendium mit der Anleitung dazu an, eine Auffassung (conceptum) von Gott, dem Former aller Dinge (formator omnium) zu bilden und zwar in Entsprechung zu dem des Geistes (mens).104 Der Terminus conceptum weist hier auf eine begriffliche Erfassungsweise, ein stets konjekturales Konzept, sofern die Gegenstände, auf die sich die von Cusanus formulierte Aufforderung bezieht, selbst fernab einer exakten begrifflich-diskursiven Aussagbarkeit stehen. Wir haben es hier mit Anleitungen zu einer Auffassungsweise zu tun, um zu einem conceptum des Geistes und hierüber von Gott zu gelangen, der selbst und unmittelbar nicht begriffen werden kann, sondern, wie es an anderen Stellen von Nikolaus betont wird, nur in nichtergreifender Weise (incomprehensibiliter comprehendere)105 erfasst werden kann bzw. nur berührend (attingere) auf dem Wege einer symbolischen Investigation. Der Geistbegriff (die mens) birgt, wie gezeigt, christologische bzw. logostheologische Implikationen. Hier liegt die Verbundstelle, um das Verhältnis von göttlicher und menschlicher Geisttätigkeit zu begründen. Die Aufforderung und Anleitung, Gottes gestaltgebende Schöpfungstätigkeit in Entsprechung zur menschlichen Geisttätigkeit zu konzipieren, führt auf die bilderzeugende Fähig_____________
102 Nikolaus von Kues, De non-aliud, cap. XIV/Ed. Gabriel (1989), Bd. 3, 498/499. 103 Nikolaus von Kues, De quaerendo deum, cap. I/Ed. Gabriel (1989), Bd. 2, 570/571. 104 Nikolaus von Kues, Compendium, cap. 7, 21/Ed. Bormann (2002), Bd. 4, 30/31. »So bilde dir einen Begriff (conceptum) vom Former aller Dinge, entsprechend dem, wie du ihn vom Geist bildest« 105 Vgl. Nikolaus von Kues, De docta ignorantia, III c. 12/Ed. Bormann (2002), Bd. 1.
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keit, Tätigkeit und Funktion der Seele. Doch erst die vom Geist durchwirkte, operativ geformte imaginatio eröffnet diesen Weg. Das imaginativ vergegenwärtigende Vermögen ist sowohl Voraussetzung der informierenden Hinrichtung der Welt auf den menschlichen Geist (intentio dei) wie der formierenden Hinwendung eben dieses Geistes (intentio mentis) auf die ihm zeichenhaft begegnende Welt. In der Verschränkung erst106 realisieren sich die Seelenvermögen. Die Imagination, in der die Geisttätigkeit des sich mitteilenden, informierenden Gottes wie des formierenden, konzipierenden menschlichen Geistes ineinandergreifen, lässt sich somit aus zwei Richtungen als Schnittstelle zwischen Versichtbarung und Vergeistigung verstehen. Sie vermittelt über die Wahrnehmung die Zeichen der sichtbaren Welt an den menschlichen Geist. Dies ist, wie wir gesehen haben, keine Impressions- sondern eher eine Provokationstheorie. Konfrontiert mit den Vorstellungsbildern der Dinge, dem sinnlich vermittelten Offenbarwerden der göttlichen Schöpferkraft in der Natur, wird die schlummernde Vernunftfähigkeit der menschlichen Seele aktiviert, sich die Dinge nach Maßgabe der ihr apriorisch gegebenen Erkenntniskraft anzueignen, sie sich in intelligiblen species anzuformen. Die Unterscheidung, Trennung und Kombination bzw. Komposition von natürlichen Erkenntnisbildern (species) ist ausdrücklich nicht Tätigkeit einer Funktion der Imagination, sondern fällt in den Bereich intellektualer Akte (vis intellectualis). Die Anformung der Natur in der menschlichen Kunst ist aber zugleich eine Ausformung in mentalen Konzeptualisierungsformen, in Verbildlichungen und Versinnlichungen bis hin zur materialen Versichtbarung. Man mag hier nochmals an Eriugenas Versuch denken, den sensus interior/phantasia im Sinne der operativen Funktion der dianoia zu bestimmen, eines inneren Sinnes, der zwar bis in den äußeren Sinn hineinwirkt, aber ›körperunabhängig‹ als Vermögen der trinitarischen Seele gedacht werden muss und insbesondere mathematischen Operationen zugrundeliegt. Die imaginatio als Vorstellungskraft (virtus imaginativa), welche die von der Materie bzw. den sinnlichen Sichtgestalten abgelösten Bilder als phantasmata aufnimmt und memorativ bereithält, kann für den Cusaner nicht das Vermögen produktiver Bilderzeugung und damit einer prozessualen Verähnlichung mit dem göttlichen Geist sein. Das ist schon deshalb unvorstellbar (inimaginabile), weil die Vorstellungskraft stets an das Sinnliche gebunden bleibt, »weil die Vorstellungskraft ihre Grenze im Quantum hat (in quanto terminatur)«107, d.h. zwar immaterielle Bilder repräsentiert, diese jedoch extensional begrenzt fasst, als Gestalten terminiert vergegenwärtigt. Dies aber steht in keiner Entsprechung zu ihrem unbegrenzten, überbegrifflichen Gegenstand. Non enim imaginatio attingit noncorporeum.108 Das Wesenhafte Gottes, das in den Dingen aufleuchtet und im menschlichen _____________
106 Dargestellt an der ›Figura P‹ in: Nikolaus von Kues, De coniecturis/Ed. Bormann (2002), Bd. 2. 107 Nikolaus von Kues, De ludo globi, II n. 67/Ed. Bormann (2002), Bd. 3, 74/75. 108 Nikolaus von Kues, De quaerendo deum, cap. V/Ed. Gabriel (1989), Bd. 2, 604/605.
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Geist lebendig wirksam wird, kann in der Vorstellung nicht ohne eine quantifizierende Gestaltgebung vergegenwärtigt werden. Damit erfüllt die Vorstellung aber zugleich die Aufgabe, in umgrenzenden Bildern, Zeichen, Symbolen einen Weg zu einer unumgrenzten Schau dessen zu bahnen, was keinerlei Quantität, keine Grenze, keine definite Gestalt oder Größe besitzt. Die Vorstellungskraft zeigt in Bildern, was jenseits der Bildhaftigkeit liegt. Sie fungiert als ein Medium der Symbolisierung, mittels dessen der Geist sich ausformt, um sich auf sich selbst zurückzuwenden und damit letztendlich auf den göttlichen Grund, dessen Bild er ist. So schwierig es auch ist, diese imaginative Dimension der Geistseele genau zu fassen, entscheidend wird doch der Versuch, in der Geisttätigkeit ein operatives Wirkprinzip zu denken. »Die Vorstellung hilft also dem ihr verbundenen Geist (Imaginatio igitur adiuvat mentem sibi coniunctam). [...] Es ist ganz sicher, daß ein Einsichtiger aus den Phantasiebildern (ex phantasmatibus) der unvergänglichen Dinge Anschauung schöpft. Es sind aber Phantasiebilder (phantasma), welche die Einbildungskraft (imaginatio) bietet. Von daher unterstützen die feinfühligen Vorstellungen schneller den, der überlegt (ratiocinanti) und die Wahrheit sucht. Wenn unser Geist nämlich nicht die Vorstellung brauchte, um zur Wahrheit, die die Vorstellung übersteigt, die er (doch) allein sucht, zu gelangen – gleich wie ein Springer über den Graben den Stock – , wäre er in uns nicht mit der Vorstellung verbunden.«109 Die Vorstellung ist aber nicht bloß eine ›Krücke‹ sondern vielmehr ein Medium, das zum Übersprung verhilft, d.h. zu einem Überschreiten des Sichtbaren über das Versichtbarte.
Resumée Für den Cusaner liegen im menschlichen Geist (mens) selbst die erkenntniskonstituierenden Bedingungen einer bildhaften, symbolischen, in zeichenhaften Verähnlichungen sich offenbarenden Erkenntnis, die als Weg einer symbolischen Investigation den Überstieg in eine intuitive (oder contuitive)110 Selbst- und Gotteserkenntnis bahnt. Sie löst sich von den sinnlichen, hinführenden Bildern, um »mit geschlossenen sinnlichen Augen besser sehen«111 zu können. Jede Vergegenwärtigung in konjekturalen Bildern, Zeichen, Notationen beruht auf einer Leistung, die sinnliche Rezeptivität und geistige Spontaneität voraussetzt, wobei die Geisttätigkeit konstitutiv für jedwede Wahrnehmung, Vorstellung, rationale Erkenntnis ist. In diesem Sinne lässt sich hier sehr wohl von einer produktiven bilderzeugenden Tätigkeit des Geistes (mens) »according to rules which exist in the mind independently of the external world«112 bzw. von mentalen Bildern sprechen. _____________ 109 110 111 112
Nikolaus von Kues, De ludo globi, II, n. 88/Ed. Bormann (2002), Bd. 3, 100/101. Contuitio im Sinne einer Gesamtschau, eines Alles-in-Eins-Sehens. Nikolaus von Kues, De ludo globi, II, n. 101/Ed. Bormann (2002), Bd. 3, 116/117. Vgl. Murray (1991), VIIf.
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Allerdings kann dieser Ansatz nicht unabhängig von der theologischen, trinitaren Seelenstruktur gelesen werden. Die erkenntnistheoretische Bedingung geistiger Entwurfsfähigkeit und Produktivität ist die imago dei-Lehre. Beim Cusaner sind es vor allem Ansätze eines christlich interpretierten Neuplatonismus (so etwa Proklos‘ Parmenides- und Euklidkommentar) bzw. paganer Weisheitslehren (so etwa in Rekurs auf den ›hermetischen‹ Asclepius und die Vorstellung des Menschen als deus secundus113 ) sowie neuplatonisch interpretierte theologische Lehren (Augustin, Ps.-Dionysius Areopagita, Eriugena), über die sich Momente des Gottesbegriffs auf den Begriff des menschlichen Geistes übertragen. Auf der Basis der Gottebenbildlichkeit lässt sich so gleichsam eine negative Theologie und Theophanie des menschlichen Geistes formulieren sowie eine Theorie einer schöpferähnlichen Entfaltung von mentalen Notationssystemen. Während sich dieser geistphilosophische Ansatz von einer im weitesten Sinne aristotelisch gefassten Imaginationstheorie weitgehend ablöst, lässt sich doch gerade an der theologisch-philosophischen Reflexion auf die bilderzeugende Tätigkeit der Seele, wie sie Nikolaus von Kues auslotet, eine Nobilitierung des imaginativ-produktiven Geistes konturieren, die im Renaissanceplatonismus (so explizit bei Ficino, Bruno) nachhaltig wirkt. Die Phantasie wird zum innerseelischen Reflexionsmedium im Sinne einer erkenntnisnotwendigen Brechung des Geistes in der Multiplizität von mentalen Bildern oder Darstellungsformen wie zum Modus einer Entfaltung des Unsichtbaren im Sichtbaren. Damit erhalten die solchermaßen geistigen Imaginationen oder Symbolisierungsmodi einen transzendierenden Charakter. In den Vorstellungen liegt die Möglichkeit einer Überschreitung des Vorstellbaren.
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113 Vgl. Nikolaus von Kues, De beryllo, cap. 6, n. 7/Ed. Bormann (2002), Bd. 3; Nikolaus von Kues, De doctra ignorantia, cap. 2, n. 2/Ed. Bormann (2002), Bd. 1.
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TEIL 2
Venus – Mars – Adonis. Imagination und mythopoetische Innovation URSULA ROMBACH
Es ist eine wahre Lust, die Werke dieses jungen, kräftigen, wollüstigen, glücklichen Römers in Überfluss und Liebe und Freude hier zu betrachten. Wilhelm Heinse1
Für Eberhard 1525 beschloss Federico II. Gonzaga, Markgraf von Mantua, die Errichtung einer Villa Suburbana für sich und seine Geliebte Isabella Boschetti am Standort der gräflichen Stallungen auf der Isola del Te am Rand der Sümpfe vor den Toren Mantuas. Der mit dem Bau beauftragte Architekt, Giulio Romano, ein Schüler Raffaels, stellte innerhalb von 18 Monaten den Rohbau der eingeschossigen Villa fertig (Abb. 0). Zahlreiche Räume sind mit Szenen der römischen Mythologie und Geschichte dekoriert, die die Schwerpunktthemen der beiden Bauphasen markieren: Lust und Macht.2 Im Zuge der ersten Dekorationsphase bis Ende 1528 wurden die Räume an der Nordseite von der Camera di Ovidio bis zur Sala dell Aquile fertiggestellt und auch die Camera di Psiche mit Fresken ausgestattet.3 Neben Giulio Romano arbeiteten wohl nach seinen Entwürfen und Zeichnungen vor allem Benedetto Pagni da Pesca und wie im Fall des Frescos Mars verfolgt Adonis Rinaldo Mantovano.4 _____________ 1 2
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Heinse, Die Aufzeichnungen Frankfurter Nachlass/Ed. Bungarten (2005), 1653. Hartt (1958), 107 geht von zwei Dekorationsphasen 1527–1529 und 1530–1535 aus. In der ersten Phase wurde neben der Camera oder Sala di Psiche auch am Atrio delle Muse, der Sala delle Metamorphosi, der Sala dei Cavalli und der Sala dei Venti gearbeitet vgl. hierzu Hartt (1958), 108–113. In der zweiten Bauphase nach Eheschließung und Ernennung zum Herzog durch Kaiser Karl V. im Jahr 1530 fehlen erotische Elemente fast ganz. Im Mittelpunkt stehen jetzt mythische wie historische exempla virtutis des Herrschers. Siehe hierzu Verheyen (1977), 33. Verheyen (1977), 8. Hartt (1958 ), Bd. 1, 126; Verheyen (1977) 3–16 zu Arbeitsverteilung und Bauablauf.
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Über die Fresken der Camera di Psiche urteilte Hartt: »Only in those few sections [...] which Giulio executed himself does the quality of painting match the brillance of invention«.5 Bei der Deutung des Bildprogramms stellen sich aber gerade bezüglich der inventio immer noch Fragen nach inhaltlicher Kohärenz und Sinnstiftung, in der sich die Szenen aus Amor und Psyche mit mythischen Episoden aus den Metamorphosen des Ovid, des Alexanderromans oder der Hypnerotomachia Poliphili zu einer geschlossenen Raumaussage verbinden.6 Angesichts der innovativen Bildfindungen eingebettet in ein singuläres Raumkonzept wird die Rolle der künstlerischen Imagination in Relation zu den aufgerufenen antiquarischen Wissensbeständen im Prozess der Antikentransformation auf verschiedenen Diskursebenen relevant. Zu untersuchen gilt es, welche Rolle der Imagination bei der transmedialen, mythopoetischen Transformation des antiken Stoffes zukommt, wie die Relation von Imagination und Wissen in der bildkünstlerischen Darstellung selbst reflektiert wird, wie sich Imagination und Funktionalisierung im Dienst des neuen Raumkonzepts gegenseitig bedingen, und schließlich in wieweit die Imagination im Bruch mit der Tradition und etablierten Deutungskanones ein innovatives Transformationsexperiment generiert.
1. Imagination und Transformation: Das Fresko als mythopoetisches Transformationsprodukt Die Camera di Psiche liegt in der Nordostecke des rechteckigen Baus mit Fenstern zur Gartenseite (Abb. 1).7 Der Raum, im unteren Teil mit Ledertapeten bespannt, ist in den oberen Wandteilen der Süd- und Westwand, den Lünetten und der Decke mit Fresken der Amor und Psyche-Geschichte nach Apuleius dekoriert, nach der die Camera auch
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Hartt (1958), Bd. 1, 107. Hartt (1958) 132, 135–139 versucht den Saal als neuplatonischen Aufstieg von der unbeseelten Materie, über die Monster gebärende fleischliche Lust, die Reinigung durch Schmerz und labor zur Idee der Liebe zu deuten, räumt aber ein, dass die Fresken von Bacchus und Ariadne, Pasiphaë, Polyphem, dem Bad von Venus und Mars, der Vertreibung des Adonis und vor allem Jupiter und Olympias nur schwer zu kontextualisieren seien. Ein Dilemma, das sich auch durch den Verweis auf die Vertreibung des Thelyphron aus dem Haus der Witwe, die Apuleius, Metamorphosen 2,26,8 erzählt, nicht lösen läßt. Von Interesse ist dabei der Blick auf eine Exedra, die den nördlichen Abschluss des Gartens bildete. Der Baubeschreibung Jacopo Stradas ist zu entnehmen, dass der heute sichtbare Baukörper möglicherweise auf eine Vorgängerarchitektur des 16. Jahrhunderts rekurriert, bei der es sich um eine »unvaulted exedra« gehandelt habe. Vgl. Verhayen (1977), 109–110. Strada, Descrizione, fol. 57r–58v (1567).
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benannt ist.8 Hinzu treten Darstellungen des Polyphem mit Acis und Galatea über dem Kamin an der Ostwand, gerahmt von Olympias und Zeus (links) und Pasiphaë (rechts) jeweils über den Fenstern (Abb. 2), sowie an der Nordwand Venus und Mars im Bade (links) Bacchus und Ariadne (Mitte) und Mars verfolgt Adonis (rechts) (Abb. 3).9 Das Fresko Mars verfolgt Adonis zeigt die Schnittstelle zweier Affären der Liebesgöttin Venus auf ihrem kritischen Kulminationspunkt: der göttliche Liebhaber Mars verfolgt eifersüchtig den Menschenjüngling Adonis mit gezücktem Schwert, während Venus, Mars am Schlagarm zurückhaltend, versucht das Schlimmste zu verhindern. Die Darstellung dieses Sujets aus dem mythologischen Repertoire um die drei in Liebe entbrannten Protagonisten ist – zumal für ein Großformat – innovativ und singulär. So zeigen z.B. die im vorangegangenen Jahrzehnt entstandenen großformatigen Venus-Adonis Bilder wie das Fresco an der Nordwand der Sala delle Prospettive in der Farnesina (1511/12) oder Sebastiano del Piombos’ Morte di Adone (1512) den Tod des Jünglings10 oder das ruhende Paar.11 Einige Schlaglichter auf die literarische Transformationsgeschichte des Mythos vom Tod des Adonis und seiner allegorischen Deutungen können die Genese dieser mythopoetischen Innovation stärker konturieren. Bis ins 4. Jh. n. Chr. erzählt der Mythos, dass der junge, wunderschöne und von Venus wie Proserpina heiß geliebte Adonis auf der Jagd durch einen wilden Eber getötet wurde. So berichtet Bion von Smyrna um 100 v. Chr. in seinem Epitaph auf Adonis: Der holde Adonis liegt droben im Wald, zerfleischt sind seine Weichen, die weißen, vom weißen Eberzahn; nun liegt er da, verscheidend, zu Kypris Kummer. [...] Kypris mit offenen Haaren, in schwarzem Gewand, ohn’ Schleier und Schuh, stürmt durch das Waldesdickicht. Es reißen die Dornen die Eilende wund und kosten am Götterblute.12
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Die Geschichte von Amor und Psyche wurde in 23 Szenen auf 8 Oktagone, 12 Lünetten, 2 Wandbilder mit der Hochzeitsfeier und die Decke mit der Hochzeitszeremonie verteilt. Vgl. hierzu Hartt (1958), 130–132. Verheyen (1977), 24–26. Ewering (1993); Frommel (2003); Ausst.-Kat. Sebastiano del Piombo 1485–1547 (2008) hier Tod des Adonis 134. So ist von der 1516 von Giulio Romano ausgeführten Bemalung des Stanzino da Bagno des Kardinal Bibbiena im Vatikan mit zahlreichen Venusdarstellungen nur die Zeichnung in der Albertina erhalten, die das rastende Liebespaar zeigt. The Illustrated Bartsch/Ed. Strauss, vol. 26, (1978); Hartt (1958) 278–279; Jones/Penny (1983), 192, 193; Ferino Pagden/Zancan (1989), 124–125; Oberhuber (1999), 182, 183; Haja, (1990), 56–57; Mitsch (1993), 182–184. Bion von Smyrna, Epitaph auf Adonis/Ed. Wilamowitz-Moellendorf (1900), 7–10, 19–22; Bion of Smyrna, The Fragments and the Adonis/Ed. Reed (1997).
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Die wirkmächtigste Version des Narrativs bietet Ovid im zehnten Buch seiner Metamorphosen.13 Adonis, der gegen den ausdrücklichen Rat der ihn liebenden Venus auf die Jagd geht, wird von einem rasenden, von ihm selbst angeschossenen Eber tödlich verwundet. Venus, die Böses ahnend in ihrem Schwanenwagen fliegend den Geliebten sucht, findet ihn sterbend und erwirkt die Verwandlung seines Blutes in eine Anemone. Durch die Transformation des Mythenschlusses gelingt Ovid nicht nur die Integration der Adonis-Geschichte in den Kanon seiner Aitia, seine Version des Mythos wird nicht nur für die literarische Tradition kanonisch, sondern liefert zugleich die Schlüsselszenen der bildkünstlerischen Darstellung. Aber weder bei Ovid noch bei Properz14, Cornutus oder Hygin15 werden Mars oder das Motiv der Eifersucht erwähnt.16 Stattdessen bietet Cornutus als erster mit Verweis auf den ägyptischen Isis-Kult und in Analogie zu Demeter und Persephone17 eine naturphilosophische Deutung des Adonis-Todes und rekurriert zugleich auf den Mythenstrang, der vom alternierenden Aufenthalt des Adonis bei Venus und Proserpina zu berichten weiß. Dieser den Wechsel der Jahreszeiten metaphorisierende Rhythmus resultiert als Schlichtung aus dem Streit der beiden Göttinnen um die Anwesenheit des schönen Geliebten. Wie der Samen ein halbes Jahr in der Erde ruht, so geht Adonis ein halbes Jahr in die Unterwelt, um im nächsten Frühjahr zu Venus zurückzukehren, d.h. wiedergeboren zu werden.18 Vielfache Bezüge zum ägyptischen Isis-Osiris-Mythos sind nachweisbar: wie Adonis wird auch Osiris als Symbol der Feldfrucht verstanden, dessen Begrabenwerden und Wiederaufleben verbunden mit regelmäßigen Festen und Riten den Jahresrhythmus Acker bauender Gemeinschaften symbolisiert. 19 Die Spuren _____________ 13 14
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Ovid, Met. 10, 503–739. Properz, Elegien 2,13b, 53–56: testis, cui niveum quondam percussit Adonem/ venantem Idalio vertice durus aper;/ illis formosus iacuisse paludibus, illuc/ diceris effusa tu, Venus isse coma. Hygin, Fabulae 248: Qui ab apro percussi interierunt: Adonis Cinyrae filius [...]. Apollodor erwähnt in seiner Bibliotheke 3,183, dass Adonis durch den Eber sterben musste, weil Artemis, die Göttin der Jagd, ihm zürnte, spricht aber nicht von Eifersucht. Ovid lässt Venus in der Verwandlungsszene ihre Konkurrenz zu Proserpina andeuten. Ovid, Met. 10,728–731: at cruor in florem mutabitur. an tibi quondam / femineos artus in olentes vertere mentas / Persephone, licuit, nobis Cinyreius heros / invidiae mutatus erit? »Doch dein Blut wird zur Blüte sich wandeln. Wenn es dir vergönnt war, einst, Persephone, weibliche Glieder in duftende Minze umzugestalten, wer will es mir dann missgönnen, den Helden, Cinyras’ Sohn verwandelt zu haben.« Cornutus, De natura deorum 28,6: »Im Mythos heißt es, dass Hades die Tochter der Demeter entführt habe, weil die Samen für eine gewisse Zeit unter der Erde verschwinden. Hinzu erfunden wurden die Niedergeschlagenheit der Göttin und ihre Suche [nach der Tochter] im ganzen Kosmos. Auch bei den Ägyptern weist nämlich der von Isis gesuchte und gefundene Osiris auf etwas Derartiges hin sowie bei den Phöniziern Adonis, der abwechselnd für 6 Monate über und unter der Erde ist und der so genannt wurde, weil Demeters Frucht allen gefällt (hadeîn). Es heißt, dass ein Eber ihn verwundete und tötete, weil Schweine Saat verwüstend zu sein scheinen oder man will auf die Pflugschar (h!nis) hinweisen durch welche der Samen unter der Erde verborgen wird. Es sei aber so festgesetzt worden, dass Adonis für die gleiche Zeit bei Aphrodite und bei Persephone bleiben soll aus dem Grund den wir erwähnt haben.« Merkelbach ("2001), 37–44.
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dieses Transformationsstranges lassen sich bis zur Hypnerotomachia Poliphili verfolgen, die zum unmittelbaren Quellenumfeld des hier behandelten Freskos gehört. Der zweite Holzschnitt zur Venus-Adonis-Episode zeigt die Liebesgöttin in der Pose der den Horos (Harpokrates) stillenden Isis.20 Und auch das erst im 4. Jh. n. Chr. in der literarischen Tradition auftauchende Eifersuchtsmotiv zwischen Mars und Adonis mag auf den Rivalenmord zwischen Seth und Osiris zurückgehen.21 Im Servius Auctus, dem die mittelalterliche Tradition bestimmenden VergilKommentar, findet sich eine Bemerkung zu Vergils Ecloge 10,18, Mars habe in einen Eber verwandelt Adonis getötet: Adoni [...] quem quia Venus adamavit Mars in aprum transfiguratus occidit.22 Firmicius Maternus macht in seiner Schrift De errore religionum profanarum das bei Servius implizite Motiv der Eifersucht und Konkurrenz explizit: »Mars aber, in Art und Gestalt eines Wildschweins verwandelt, durchbohrte, um den ersten Platz in der Liebe der Venus zu erringen, den Jüngling, der sich unvorsichtig auf ihn stürzte.«23 Allein der griechische Rhetoriker Aphthonios, ebenfalls im 4. Jahrhundert, bietet in seinen Progymnasmata eine Transformation der narratio, in der die Verwandlung in einen Eber entfällt und der eifersüchtige Mars in persona auf den jungen Adonis losschlägt. Als Venus diesem zu Hilfe eilt, verletzt sie ihren Fuß an Dornen, ihr Blut färbt die Rosen, die bis dahin weiß waren, rot. Wer die Schönheit der Rose bewundert, der soll an die Verletzung der Venus denken. Nach Adonis verzehrte sich die Göttin, Mars nach ihr, und die Göttin bedeutete für Adonis das Gleiche wie für Venus Mars: Der Gott liebte die Göttin, und die Göttin folgte dem Menschen. Ihre Liebesglut war die gleiche, wenn auch ihre Abstammung verschieden war. Aus Eifersucht beschloss Mars, Adonis aus dem Weg zu räumen, in der Meinung, mit dem Tod des Adonis werde auch die Liebe der Venus vergehen. Deshalb verwundete er Adonis. Als Venus das erfahren hatte, eilte sie sich, diesem Hilfe zu bringen, kam in ihrer Eile der Rose zu nahe, geriet an die Dornen und wurde an der Fußsohle durchbohrt.
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Colonna, Hypnerotomachia Poliphili, Bd. 1, 369; Merkelbach (!2001), 17–18. Merkelbach (!2001), 3–10. So auch die Deutung des Mythos bei Ammianus Marcellinus, Res Gestae XIX 1,11: Feminae [...] miserabili planctu in primaevo flore succisam spem gentis solitis fletibus conclamabant, ut lacrimare cultrices Veneris saepe spectantur in sollemnibus Adonidis sacris, quod simulacrum aliquod esse frugum adultarum religiones mysticae docent. »Die Frauen riefen in jammervollem Klagen unter dem üblichen Weinen, dass die Hoffnung des Stammes in der Frühlingsblüte abgeschnitten sei, so wie man die Verehrerinnen der Aphrodite oft bei den üblichen Feiern für Adonis sehen kann; die mystischen Religionen lehren, dass dies ein Abbild des Reifens der Früchte sei.« Und Hieronymus, Comm. in Ezech. c. 8,14, Corpus Christianorum Latinorum LXXV 99: Eadem gentilitas huuiscemodi fabulas poetarum, quae habent turpitudinem, interpretatur subtiliter interfectionem et resurrectionem Adonidis planctu et gaudio prosequens, quorum alterum in seminibus, quae moriuntur in terra, alterum in segetibus, quibus mortua semina renascuntur, ostendi putat. Serv. Auctus ad Verg. eclog. 10,18: »Adonis, den, weil Venus ihn liebte, der in einen Eber verwandelte Mars tötete.« (Übers. der Verf.) Firmicius Maternus, De errore 9: Mars enim in porci silvestris speciem formamque mutatus, ut sibi primas partes in Amore Veneris vindicaret, incaute contra se ruentem percutit iuvenem.
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Ursula Rombach So floss Blut aus der Wunde und veränderte die Farbe der Rose zu seiner eigenen. Denn die früher weiße Rose färbte es rot, wie man sie nun sieht. 24
Aphthonios bietet die Geschichte in seiner rhetorischen Lehrschrift als Exemplum des !"#$%µ& !'&µ&(")*+, der dramatischen Erzählung, und weist dem Hergang des mythischen Aitions zur Rotfärbung der Rose damit dramatisches Potenzial zu. Hierzu lässt er Mars ohne Verwandlung in einen Eber als unmittelbaren Rivalen um die Gunst der Venus zum Mörder an Adonis werden und transponiert die blutende Verletzung der Venus, die bei Bion zur Suche nach dem toten Geliebten gehört, in die Dreiecksgeschichte zwischen Venus, Mars und Adonis, wodurch die Liebe der Venus im verzweifelten Versuch, Adonis zu Hilfe zu kommen, in Szene gesetzt wird. Diese Junktur der affektgesteuerten Handlung um den Tod des Adonis mit dem Rosen-Aition sollte als Transformation des Mythos jedoch lange singulär bleiben. Denn schon Nonnos in seinen Dionysiaca präferierte wieder die Ovidkompatible Variante einer Verwandlung des Mars in einen Eber, behielt aber das Eifersuchtsmotiv bei.25 In den Saturnalia des Macrobius, dessen naturphilosophische Allegorese der Ovid-Narration bestimmend wurde für das Mittelalter, steht Adonis für die Sonne, die vom Eber, also dem Winter, getötet wird, und in dieser Zeit in die südliche Hemisphäre hinabsteigt. Auch wird man nicht bezweifeln, dass Adonis die Sonne sei, betrachtet man die Religion der Assyrer, bei denen einst der Kult der Venus Architis und des Adonis in höchster Blüte stand, den nun die Phönizier pflegen. Die Naturgelehrten nämlich pflegen die obere Hemisphäre nach Venus zu benennen, die untere aber nach Proserpina. Also wird bei den Assyrern oder Phöniziern die Göttin trauernd eingeführt, weil die Sonne auf ihrem jährlichen Lauf durch die 12 Tierkreiszeichen auch in die untere Hemisphäre eintritt, da von den 12 Tierkreiszeichen 6 im oberen, 6 im unteren Teil angesiedelt werden. Und wenn sie in den unteren sich befindet und so die Tage kürzt, glaubt man die Göttin trauere, da die Sonne gleichsam durch den Raub eines zeitweisen Todes verloren ging und von Proserpina zurückgehalten werde, die wir die Göttin des unteren Erdkreises und der Antipoden nennen. Und man soll glauben, dass Adonis der Venus zurückgegeben wurde, da die Sonne, nachdem die sechs Zeichen der unteren Sphäre überwunden sind, wieder beginnt die Hemisphäre unseres Kreises mit sich mehrendem Licht und länger werdenden Tagen zu erleuchten. Dass Adonis aber von einem Eber getötet worden sei, erzählen sie, weil sie in diesem Tier das Bild des Winters sehen, da der Eber struppig und rau feuchte, schlammige mit Reif bedeckte Orte liebt und sich vor allem von der Winterfrucht Eichel nährt; al-
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Aphthonios, Progymnasmata II 5. (Übers. der Verf.) Nonnos, Dionysiaca 41, 208–211: »Nur das Entzücken der Wildschweine wollte sie gar nicht zur Kenntnis nehmen; sie wusste genau als Prophetin, dass Ares in eines Ebers Gestalt, vor Eifersucht rasend, mit schneidenden Hauern, tödlichen Gifthauch versprühend, Adonis umbringen würde.«
Venus – Mars – Adonis
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so ist der Winter wie die Verwundung der Sonne, die deren Licht und Wärme für uns mindert, was bei Lebewesen beides durch den Tod geschieht [...].26
Dieser Deutung folgten Remigius von Auxerre in seinem Kommentar zu Martianus Capella ebenso wie der Mythographus Vaticanus III, der Ovide moralisé oder Berchorius in seinem Ovidius Moralizatus.27 Erst Boccaccio, der Adonis zum König von Zypern und Gatten der Venus transformiert, deutet in seiner Genealogia deorum gentilium neben dem Eber eine andere Mordvatiante an, benennt sie aber nicht: »Adonis war der König von Zypern und der Gatte der Venus und wurde der Venus – wie auch ich denke – durch einen Eber oder einen anderen Tod entrissen.«28 Entscheidend für die mythopoetisch innovative Bildfindung in der Camera di Psiche jedoch wurde die Wiederentdeckung des Aphthonios-Textes und die Übersetzung seiner rhetorischen Progymnasmata ins Lateinische.29 Die erste Edition und Übersetzung des Volltextes der Progymnasmata durch Giovanni Maria Cattaneo erschien im Jahre 1507. In der 1499 erschienenen Hypnerotomachia Poliphili findet sich aber bereits die narratio von Venus, Mars und Adonis, die seit Gombrich mit Text und Holzschnitt als Quelle für das Fresko Mars verfolgt Adonis angegeben wird.30 Im Textvergleich zeigen wörtliche Übernahmen, dass Francesco Colonna auf die Übersetzung des Angelo Poliziano zurückgriff, der im 11. Kapitel seiner Miscellaneorum libri schon 1489 in Florenz eine lateinische Fassung des Aphthonios-Exemplum von Venus, Adonis und dem eifersüchtigen Mars publizierte, die möglicherweise stärker als bisher als Referenztext der innovativen bildkünstlerischen Umsetzung des Mythos im Palazzo del Te in Betracht zu ziehen ist (Abb. 4).31 Die aus der literarischen Überlieferung des antiken Referenzbereichs transformierte mythologische Szene ist eingebettet in ein imaginiertes Garten-RaumEnsemble der Aufnahmekultur. Seiten und Bildhintergrund nimmt eine Renaissance Gartenarchitektur ein, deren Zentrum eine Exedra bildet, in deren fünf Ni_____________ 26 27
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Macrobius, Saturnalia 1,21,1–5. Remigius von Auxerre, Commentum in Martianum Capellam 14,16 (94); 74,13. (200); Mythographus Vaticanus III 11,17; Ovide Moralisé Lib. X, vv. 1960–2093, 2438–2493, 3678– 3809; Petrus Berchorius, Ovidius Moralizatus Lib. X, Fab. XII. Boccaccio, Gen. deor. gent. 2,53: fuit igitur Adon rex Cypri et Veneris maritus ego etiam seu apro seu alia nece Veneri subtractum reor. Ein Blick in den Renaissance Rhetoric Short-Title Catalogue (!2003) von Lawrence D. Green, 27–32, belegt für die Zeit zwischen 1507 und 1670 mit der 6 Seiten langen Liste der Editionen und Übersetzungen nicht nur die große Verbreitung und Konjunktur der Schrift, sondern weist auch führende Humanisten als deren Herausgeber und Übersetzer aus, so z.B. Agricola oder Conti. Zum Aufbau der Progymnasmata siehe Patillon (2008), 56–58. Colonna, Hypnerotomachia Poliphili, Bd. 1, 366. Vgl. Gombrich (1986), Hypnerotomachiana 125–132; Beluzzzi (1998), 388–389; Verheyen (1977), 25. Angeli Politiani Miscellaneorvm libri, Centvria Vna, Basel 1522, Cap. 11, 18f. Das RosenAition des Aphthonios findet sich davon unabhängig in Kapitel 11,17 der Geoponica, 20 Büchern über Landwirtschaft geschrieben für Konstantinos VII Porphyrogenetos (912–959), die 1539 als De re rustica von Alexander Brassicanus ins Lateinische übersetzt wurden.
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schen antike Statuen, drei weibliche und zwei männliche aufgestellt sind. Die pergolaartige Kuppelkonstruktion gibt den Blick frei auf belaubte Bäume. Die Architektur des Bildhintergrundes als Zitat der Gartenansicht zu verstehen, die sich dem Betrachter aus den Fenstern in der Ostwand bot, scheint angesichts der referierten Beschreibung Stradas durchaus legitim. Neben der für die Villa Suburbana typischen Verschränkung von Innen- und Gartenraum wird die im Bildvordergrund imaginierte Handlung so mit der Villa selbst und ihren Bewohnern in unmittelbaren Zusammenhang gesetzt. In der Mitte der Exedra, auf der Nahtstelle zwischen Bildhinter- und Vordergrund sieht man einen von einer Brunnenfigur bekrönten Brunnen, aus deren geschultertem Krater spärlich Wasser fließt und dessen Schale von nackten, erotenhaften Figuren getragen wird und mit Bocksköpfen verziert ist. Reizvoll wäre die Deutung dieser Figur als Adonis, zumal androgyne Körperformen auf Deutungsmuster des Adonis als Hermaphrodit verweisen könnten.32 Im Vordergrund dieses »Bühnenbildes«, dessen Durchgänge rechts und links den Raum für den schnellen Auftritt und Abgang der Darsteller offen lassen, sehen wir die hochdramatische Verfolgungsjagd im Augenblick der Krisis, wie ein still vom plot point eines Films. Betrachtet man Fresko und mögliche Bildquellen genauer, erweisen sich Dynamisierung und Dramatisierung der möglichen Text- und Bildvorlagen als wichtigste Transformationsleistung der bildkünstlerischen Imagination: Vorneweg Adonis, vom Jäger zum Gejagten geworden, stellt er sich nicht zum Kampf, sondern sucht barfuß sein Heil in der Flucht und konterkariert damit die virtus Adonidis bei Ovid. Schon im Orphischen Hymnus als androgyn beschrieben, zeigt die Imagination des Adonis bei Giulio Romano eine Synthese antiker und zeitgenössischer Attribute, um das Bild des weichen, effeminierten Jünglings zu erzeugen: mit schulterlangen, blonden zerzausten Locken, angetan mit kurzem, locker gegürtetem Chiton, das Renaissancebarrett eines Jünglings auf dem Kopf, den schreckgeweiteten Blick auf den Verfolger zurückgewandt, streckt er im Lauf – wie eine fliehende Daphne – die Arme dem rettenden rechten Bildrand entgegen. Er, der Mensch, wird vom Gott in des Wortes wahrster Bedeutung bloßgestellt: sein Gesäß ist vom im Lauf hochfliegenden Chiton enthüllt, er wird dem Gespött des Betrachters preisgegeben, wie Venus und Mars in ihrer Nacktheit unter dem Netz des Vulkan dem Gespött der Götter. Wie das herab gerutschte Oberteil des Venusgewandes, das den Blick auf die enthüllte Brust der Venus frei gibt, vermitteln diese Details neben der Suggestion von Geschwindigkeit vor allem die eroti_____________ 32
Der Orphische Hymnus 56,5 beschreibt Adonis »als weiblich und männlich zugleich« und »zauberhaft anzusehen«. Trapp (2003), 62 zur Feminisierung des Adonis als männlicher Schönheitskonstruktion entlang femininer Schönheitsideale. Zu berücksichtigen ist hier nicht zuletzt die Tradition, die auf eine durch die Schenkelwunde symbolisierte homoerotische Beziehung zwischen Mars und Adonis verweist. Vgl. Baudy (1986) und Merkelbach (!2001), 46. Der Kopf der Brunnenfigur weist zudem gewisse Ähnlichkeiten mit dem Adonis von Capua auf.
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sche Dimension des Freskos, die neben dem Blick auf teils entblößte Körper auch ein imaginatives »überrascht werden in flagranti« suggerieren könnte. Ihm folgt Mars dicht auf den Versen. Auf dem Tuch, das von Adonis’ Schulter geglitten ist und das den geringen Abstand zwischen den beiden markiert, steht schon sein sandalenbewehrter Fuß. Die Kopie einer heute in der Eremitage befindlichen Zeichnung im Gabinetto Nazionale delle Stampe in Rom zeigt die Szene in dem Augenblick, da das Tuch Adonis von der Schulter rutscht. 33 Die Imagination des Mars verkörpert den betont maskulinen Gegenentwurf zu Adonis: transformiert wird die Gewandung eines römischen Feldherren, ohne jedoch auf die erotische Komponente zu verzichten, da sich auch unter dem Harnisch der muskulöse Körperbau des Kriegsgottes abzeichnet. Den Helm mit wehender Helmzier auf dem kurz gelockten braunen Haar, streckt er die Linke nach dem davon eilenden Rivalen aus. Hatte er das Tuch schon ergriffen, als Venus, wiederum ihm folgend, ihn an Schulter und Schwert führender Rechter zurückhielt? Er wendet den Kopf und schaut sie unwillig und fragend ob ihres Eingreifens an: Ein Augenblick der Intimität im rasenden Geschehen (Abb. 5). Dass Giulio Romano mit der Figur des Mars und seinem Gesichtsausdruck als Spiegel der Seelenbefindlichkeit experimentierte, dem auch die Hypnerotomachia Poliphili mit der Beschreibung cum vultuosa facia et indignata et cum angore d’animo besondere Aufmerksamkeit widmet, zeigt die Petersburger Zeichnung (Abb. 6), die einen völlig anderen Mars präsentiert: den Kopf in Laufrichtung, den Finger im Harpokrates-Gestus im Mund, wirkt er nicht weniger lächerlich als Adonis. Venus bildet in vollem Lauf mit bauschigem, herab geglittenem Gewand und wehendem, nur von einem einfachen Band gehaltenem Haar, gefolgt von einem Eros, das retardierende Element des Dramas. Mit entsetzt wie zum Schrei geöffnetem Mund und flehendem Blick sucht sie Mars vom Schlimmsten abzuhalten. Ihre göttlichen Attribute fehlen bis auf Amor, der köcherbewehrt ihr zu Füßen mitten im Tumult (Abb. 7) sitzt und damit nicht nur auf die Vorgeschichte des Dargestellten verweist, da Amor selbst mit seinem Pfeil Venus in Liebe zu Adonis entflammte,34 sondern auch auf das Aition in dieser Mythentransformation: er präsentiert die vom Blut aus dem verletzten Fuß der Göttin rot gefärbte Rose. Als Referenztext dieser Imagination des Mythos wird meist die Hypnerotomachia Poliphili Francesco Colonnas angesprochen, wo dem an einem Brunnenbecken rastenden Paar Nymphen die Geschichte von Venus, Mars und Adonis erzählen, die sich eben an diesem Ort zugetragen habe.35 _____________ 33
34 35
Beluzzi (1998), 388, Abb. 244. Eine Kopie findet sich im Gabinetto Nazionale per la Grafia, Neapel, Inv. Nr. FN 9147. Ovid, Met. 10, 524–528: iam placet et Veneri matrisque ulciscitur ignes./ Namque pharetratus dum dat puer oscula matri,/ inscius exstanti destrinxit harundine pectus:/ laesa manu natum des reppulit; altius actum / vulnus erat specie primoque fefellerat ipsam. Colonna, Hypnerotomachia Poliphili, Bd. 1, 366–367.
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Vergleicht man Fresko mit Text und Holzschnitt der Hypnerotomachia in Bezug auf die dargestellte Handlung, lassen sich jedoch wesentliche Unterschiede konstatieren. Il quale tumolo disseron le nymphe essere del venatore Adone in quel loco dal dentato apro interempto; et in questo loco etiam similmente la sancta Venere, uscendo di questo fonte nuda, in quelli rosarii lancinovi la divina sura per soccorrere quello, dal zelotypo Marte verberato cum vultuosa facia et indignata et cum angore d’animo. Questa tale historietta se vedea perfectamente inscalpta in uno lato per lango del sepulchro et il filio Cupidine recogliere poscia il purpurissimo sangue in uno cortice di ostrea, subiungendo chel quel divino cruore era reposito in quel sepulchro cum il cinere cum omni sancto rito collocato [...].36
Die Szene spielt am Grab des Adonis, dessen Todesursache die Nymphen mit dem Angriff des Ebers eindeutig benennen. An gleicher Stelle sei Venus einmal, nackt aus dem Bad in der ebendort befindlichen Quelle steigend, Adonis zu Hilfe geeilt, den der eifersüchtige Mars verprügelt habe, wobei sie sich an den Rosensträuchern die Fußsohle verletzt habe (Abb. 8). Diese Geschichte sei auf dem Relief des Sarkophags des Adonis dargestellt. Der die Ekphrasis illustrierende Holzschnitt zeigt denn auch links die einem oktogonalen Becken nackt entstiegene Liebesgöttin, die in die Rosen gerät, und durch eine runde Inschriftentafel mit der Aufschrift A!ONIA getrennt, Mars, der auf der rechten Seite auf den abwehrend den linken Arm hebenden Adonis eher mit einem Stock, als mit einem Schwert einschlägt. 37 Venus ist zwar als laufend erkennbar, der unmittelbare Bezug zur Szene rechts wird jedoch durch die Tafel unterbunden. Ebenso getrennt werden der Tod des Adonis und die Konfrontation mit Mars, die narrativ nur durch ein vages etiam similmente an den Ort gekoppelt werden. Anders als bei Aphthonios besteht keine kausale Verknüpfung. Colonna transformiert das bei Polizian vorgefundene Narrativ, um es in den ovidischen Traditionsstrang zu integrieren, da er den Bezug zu den literarischphilosophischen Deutungsebenen von Tod und Wiedergeburt beibehalten will, wie die Beschreibung der thronenden Venus als stillender Isis zeigt. Dazu übersetzt er das griechische "#$%%& (alt: "#$''&), das schlagen, besiegen, treffen, verwunden bedeuten kann, mit verberare, schlagen, züchtigen, die bei Aphthonios klar formulierte Mordabsicht des Mars entfällt. _____________ 36
37
»Dieses Grab, so sagten die Nymphen, sei das des Jägers Adonis, der an diesem Ort von einem Eber mit den Stoßzähnen getötet wurde, und an diesem Ort habe sich gleichermaßen die heilige Venus, nackt aus dieser Quelle steigend, in diesen Rosen die heilige Fußsohle durchbohrt, um jenem zu Hilfe zu kommen, der vom eifersüchtigen Mars geschlagen wurde, mit erregter und finstrer Miene, und mit Unruhe im Herzen. Dieses Geschichtchen sieht man vollkommen eingemeißelt in einer Langseite des Sarkophags, und dass der Sohn Cupido versucht das dunkelpurpurrote Blut in einem Muschelgefäß aufzufangen, und dass das göttliche Blut zusammen mit der Asche in heiligem Ritus in diesem Sarkophag beigesetzt wurde.« (Übers. der Verf.) Vgl. die Darstellung des am Boden liegenden Adonis, der von Mars geschlagen wird, auf dem Sarkophag in Tizians Himmlischer und Irdischer Venus.
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Die Episode in der Hypnerotomachia bietet zudem kein Rosen-Aition. Das Blut der Venus färbt keine Rosen, sondern wird von Cupido aufgefangen, um mit der Asche des Adonis gemeinsam bestattet zu werden. Er hält zwar keine gefärbte Rose, aber anders als in Polizianos Aphthonios-Übersetzung hat Cupido hier überhaupt Anteil an der Handlung. Ebenfalls entspricht der oben bereits erwähnte Gesichtsausdruck des Mars cum vultuosa facia et indignata et cum angore d’animo dem Wortlaut der Hypnerotomachia. Andererseits lassen sich auch wichtige Übereinstimmungen zwischen dem Fresko und der Polizian-Übersetzung des Aphthonios feststellen: Qui rosae pulchritudinem demiratur, plagam Veneris consideret. Amabat Adonin dea, Mars ipsam. Quodque dea foret Adonidi, Veneri Mars erat. Deus deam adamabat, deaque hominem sequebatur. Par cupido, tametsi genus dispar. Perimere Adonin Mars zelotypus tendebat, finem putans amoris, Adonidis necem. Ferit Adonim Mars. Accurrit auxilio Venus, festinans in rosas incidit, ac se spinis implicuit, ita pedem perforatur, qui vulnere manarat cruor, de se rosam coloravit. Sic rosa, quae prius candida, quid nunc cernitur, facta.38
Anlass der Erzählung ist nicht das Adonis-Grab, sondern das Rosen-Aition, im Zentrum steht die Dreiecksgeschichte Gott liebt Göttin, Göttin liebt Mensch, wobei der kunstvolle Chiasmus quodque dea foret Adonidi, Veneri Mars erat, Zielrichtung und Intensität der Leidenschaften zugleich markiert. Zum gezückten Schwert des Freskos stimmt die klare Mordabsicht des Mars im Aphthonios Text, und die Entscheidung Polizians !"#$$% mit ferire wiederzugeben, das nicht nur stoßen, schlagen, sondern auch erschlagen, töten bedeuten kann.39 Venus eilt zu Hilfe,40 verletzt sich an den Rosen, die ihrem göttlichen, aus Liebe vergossenen Blut ihre Farbe verdanken. Wer auch immer für die inventio des Freskos bzw. der gesamten Camera Sorge trug, möglicherweise war auch hier Pietro Aretino involviert,41 mag die imaginative Verschmelzung und Kombination beider Quellen im Sinne der Raumkonzeption angeregt haben. _____________ 38
39 40 41
Aphthonios, Progymnasmata II, 5 übersetzt in Angeli Politiani Miscellaneorvm libri ed. Miscomini Florenz 1489, hier Ausgabe Angeli Politiani Miscellaneorvm Centvria Vna, Basel 1522, Cap. 11, 18f.: »Wer die Schönheit der Rose bewundert, soll der Wunde der Venus gedenken. Die Göttin liebte Adonis, Mars sie selbst. Was die Göttin für Adonis war, war Mars für die Göttin. Der Gott liebte die Göttin und die Göttin folgte dem Menschen. Die Begierde gleich, verschieden die Abstammung. Der eifersüchtige Mars beschloss, Adonis zu töten, da er glaubte, der Tod des Adonis würde auch das Ende der Liebe bedeuten. Mars erschlug Adonis. Venus eilte diesem zu Hilfe und trat im Lauf in Rosen und verletzte sich an den Dornen, durchbohrte sich so den Fuß, dass aus der Wunde Blut quoll, das die Rose färbte. So wurde die Rose, die vorher weiß war, das, was wir nun sehen.« (Übers. der Verf.) Giovanni Maria Cattaneo entschied sich in seiner Übersetzung für vulnerare, was einen tödlichen Ausgang offen lässt. Vgl. Czapla (2004), 227; Kraus (2007), 52–67. Mit den Verben accurrere und festinare wird der Dynamik auch in der Polizian-Übersetzung größere Bedeutung beigemessen als in der Hypnerotomachia. In den Lettere sull’Arte sind einige Briefe Aretinos an Federigo II überliefert, die Bauhergang und Ausstattung der Villa betreffen.
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Weder jedoch die Übersetzung Polizianos noch die Hypnerotomachia – geschweige denn ihr Holzschnitt – suggerieren die dramatische Enge, ja Hautnähe, die Giulio Romano der Verfolgungsjagd durch ihre Verdichtung im Typus einer Fluchtszene verliehen hat. Anders als die Texte imaginiert der Künstler den Augenblick vor dem Streich durch Mars und schafft so eine mythopoetische Innovation: eine imaginierte dramatische Handlung, die keine literarische Quelle bietet, wird im Augenblick der Peripetie, dem Moment höchster Spannung und Dynamik festgehalten. Imagination und bildkünstlerische Umsetzung transformieren das literarische Referenzmaterial im Dienst des Bildprogramms einer individuellen Raumkonzeption, indem sie es durch Dramatisierung und Dynamisierung auf das Wesentliche reduzieren: Raserei aus Eifersucht. Treffend bezeichnete Jacqueline Burckhardt Giulio Romano als »Regisseur einer verlebendigten Antike«.42
2. Wissen und Imagination: Das Fresko als Medium künstlerischer Selbstreflexion. Die entscheidende Rolle bei der medienübergreifenden Transformation des antiken Mythos kommt der Dramatisierung und Verlebendigung als konstitutivem Teil der Imagination zu. Nur die imaginative Kraft des Künstlers vermag – hier die Macht der Liebe wie der Eifersucht veranschaulichend – die toten Artefakte der Antike zum Leben zu erwecken und damit eine neue Antike zu schaffen. Dieses Programm wird im Fresko selbst thematisiert. Hierzu gilt es, sich dem Bildhintergrund zuzuwenden. In den fünf Nischen der Exedra sind nach Art eines Antiquariums antike Statuen aufgestellt, drei weibliche, zwei männliche, von denen die beiden männlichen sowie eine der weiblichen Statuen fragmentiert erhalten vorgestellt werden. Sie rekurrieren auf die archäologischen Funde und das antiquarische Wissen um die res sacrae. Dass es hierbei nicht nur um Dekoration, sondern um das Abrufen von Wissensbeständen und ihrer Konnotationen geht, zeigt bereits die erste Figur auf der linken Seite, die als Typus einer Venus Pudica klar erkennbar ist. In dieser Nische positioniert, weist die originale Blickrichtung auf das Geschehen im Vordergrund, das die Statue jedoch mit entsetztem Gesichtsausdruck zu verfolgen scheint. Eine Statue dieses Typus stand, wie eine Zeichnung von Andreasi belegt, in einer Nische der Loggia dei Marmi im Palazzo Ducale, war im höfischen Kontext nicht nur bekannt, sondern auch präsent.43 Wahrscheinlich lässt sich auch die zweite weibliche Statue rechts archäologisch verorten und als Venus identifizieren, weist sie doch starke Ähnlichkeit mit der Venus auf dem Mantuaner Adonis-Sarkophag auf, der sich seit 1771 im Palazzo Ducale befindet (Abb. 9). Faltenwurf, Armhaltung bzw. Bruchstelle am _____________ 42 43
Burckhardt (1994). Beluzzi (1998), Bd. 1, 172, Anm. 67; Burckhardt (1989), 413.
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Oberarm sowie der Kontext könnten trotz der veränderten Kopfhaltung darauf hinweisen. Vielfach, so von Gentile da Fabriano, Giovanni da Franco oder Amico Aspertini und nicht zuletzt von Pisanello (Abb. 10) gezeichnet, war der Sarkophag gut bekannt und stand in Rom, bis ihn Vespasiano Gonzaga für seine Residenz in der Idealstadt Sabbioneta erwarb. Zudem findet sich in der Druckgraphischen Sammlung der Katharina Prestel als Nr. 9 des Praunschen Kabinetts eine seitenverkehrte Radierung einer braunen Federzeichnung, die man Giulio Romano zuschrieb und die erst 1995 Girolamo da Carpi zugewiesen wurde. Dieser Sarkophag zeigt anders als das Fresko die ovidische Narration des Todes des Adonis durch den Eber bei der Jagd. Diese Venusstatue wäre damit nicht nur die imaginierte Transformation eines Hochreliefs zur Statue, sondern zugleich ein transmedialer Verweis auf das Wissen um die Heterogenität der mythologischen Überlieferung und ihrer allegorischen Deutungsmodelle. Des weiteren ließe sich der Jüngling rechts mit Reif oder Binde im längeren Haar als Adonis ansprechen, der Balteus der zweiten männlichen Figur könnte auf eine Identifikation als Mars hindeuten,44 d.h. es stünden die heidnischen Götterstatuen in der Exedra des Bildhintergrundes, deren verlebendigte Imaginationen im Bildvordergrund als Protagonisten der innovativen Handlung fungieren. Die leblosen antiken Statuen setzen, nicht zuletzt durch ihren teils fragmentierten Zustand, die künstlerische Imagination in Gang, die sie als Zeichen der Macht der Liebe zum Leben erweckt. Dazu bedienen sich die Agenten der Transformation der antiken Texte als zweiten Mediums der Referenzkultur wie einer Romanvorlage für das »Drehbuch« ihres eigenen Mediums: der Malerei. Die Artefakte werden lebendig, der Plot der Texte wird kombiniert, dramatisiert und dynamisiert. Die Brunnenfigur im Zentrum der Darstellung kann als »Fleisch gewordene Skulptur« wie eine Leseanweisung und Deutungsanleitung des Freskos verstanden werden: ihr Körper hat – wie im Pygmalion-Mythos – bereits die Farbe menschlichen Inkarnats, das aus dem Krug strömende Wasser symbolisiert Bewegung, sie steht lasziv, aber unbeweglich auf ihrem Sockel. Bei den Figuren in der Handlungsebene im Bildvordergrund ist die Verlebendigung in der künstlerischen Imagination vollendet: sie sind nicht nur mit Attributen ausgestattet, sondern als personae charakterisiert und im Rahmen der mythologischen Handlung durch die Liebe körperlich, mimisch und emotional in Bewegung gesetzt. Dabei postuliert der künstlerische Regisseur die Freiheit, seine personae auch im spielerischen Spannungsverhältnis zum Wissensbefund kreieren zu dürfen. Ruft der archäologische Befund mit dem Typus der Venus Pudica den Zusammenhang von Schönheit und Scham auf oder mit der Venus vom Mantuaner Sarkophag den Tod des Adonis und dessen allegorisch-naturphilosophische und astrologische Deutungsmuster, so stehen diese im Gegensatz zum ausschließlich affektgesteuerten Geschehen der mythopoetischen Handlungsebene. _____________ 44
Beluzzi (1998), Bd. 1, 172–173.
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3. Imagination und Funktion: Das Fresko im Raumkonzept Nach den bisherigen Überlegungen stellt sich die Frage nach der Intention bei der imaginativen Neuschöpfung dieser mythologischen Szene von Venus, Mars und Adonis, ihrer Funktion und ihrem Geltungsanspruch, die eng mit der bisher ungeklärten Frage nach dem Gesamtkonzept des Bildprogramms in der Camera di Psiche verbunden ist.45 Welche Mythen zeigen die anderen Fresken des Raumes? Gibt es zwischen ihnen ein tertium comparationis, das einerseits ihre Kombination zur Ausschmückung dieser Camera erklärt und damit helfen kann zu verstehen, warum man sich bei der Darstellung von Venus und Adonis gegen die Narration des Ovid und für Aphthonios entschied? Den größten Teil der Wand- und Deckenflächen nimmt die Erzählung von Amor und Psyche nach Apuleius ein, der nach Art des alexandrinischen Romans gestaltete Abenteuer und errores von Amor und Psyche zur glücklichen Hochzeit gegen die Macht der neidischen und erzürnten Venus erzählt. Der vielfach erläuterte Zyklus soll hier nicht im Einzelnen erörtert werden.46 Zu bedenken ist jedoch die Funktion dieser Erzählung im Roman des Apuleius: sie dient als Erzählung in der Erzählung und soll die von ihrem Verlobten am Tag der Hochzeit durch Räuber getrennte Charite durch das Schicksal von Amor und Psyche, die nach vielen Widerständen doch zueinander finden, trösten und mit Hoffnung auf ein eigenes Happy End erfüllen. Doch Charites Schicksal wird anders verlaufen: der für sie in ehebrecherischer Liebe (adulterina Venere) entflammte Thrasyllus wird ihren Ehemann aus Eifersucht auf der Rehjagd töten, als er von einem Eber angegriffen wird, statt ihm gegen das Untier zu Hilfe zu kommen.47 An die Stelle der Dreiecksgeschichte Charite – Tlepolemus – Thrasyllus in den Metamorphosen treten in der Raumkonzeption der Camera di Psiche berühmte Dreiecksgeschichten und Eifersuchtsdramen der Mythologie. Das nach Ovids Metamorphosen geschaffene Fresko des Polyphem über dem Kamin erzählt die Dreiecksgeschichte vom Unhold Polyphem, der sich unsterblich in die Nymphe Galatea verliebt, die ihrerseits den wunderschönen Jüngling Acis liebt. Als Polyphem die beiden in flaganti erwischt, erschlägt er seinen Rivalen mit einem Felsblock. Acis ruft Galatea zu Hilfe, der nichts anderes bleibt, als sein Blut in einen Fluss und ihn in einen Flussgott zu verwandeln.48 Pasiphaë, an der Ostwand rechts, Gattin des Minos, bekam wie alle Töchter des Sol die Rache der Venus zu spüren, da ihr Vater den Ehebruch der Venus mit Mars an Vulkan _____________ 45 46
47 48
Verheyen (1977), 18–25. Zum Versuch einer allegorischen Deutung mit Bezug auf den Apuleius-Kommentar des Philippus Beroaldus siehe Hartt (1958), 132–134, eingepasst in das Programm einer neuplatonischen Ascensio, siehe Hartt (1958), 117. Apuleius, Metamorphosen 8,3. Zu Analogien der Rahmenhandlung der Metamorphosen und dem Mars/Eber-Adonis Narrativ oder dem von Seth und Osiris siehe Merkelbach (!2001), 444– 446. Ovid, Met.13, 738–897.
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verraten hatte.49 Sie wurde zur Liebe zu einem Stier verdammt, für den sie in eine von Daedalus geschaffene Kuhhülle schlüpfte, damit er sie bespringen konnte. Ehemann Minos musste tatenlos zusehen und die Frucht der Liaison, den Minotaurus, im Labyrinth verbergen.50 Das Fresko Bacchus und Ariadne rekurriert auf die von Theseus ausgenutzte und zurückgelassene Ariadne, die in den Armen des Weingottes Erfüllung findet.51 Venus und Mars im Bade stehen für das Dreiecksverhältnis Venus, Mars, Vulkan52, und Mars verfolgt Adonis für das Eifersuchtsdrama des Kriegsgottes und des schönen Jägers um die Göttin der Liebe. Der verzweifelte Ausruf der Galatea: »Gütige Venus, wie groß ist deiner Herrschaft Gewalt!« könnte als Motto dieses Raumes dienen.53 Alle antiken Figuren der Camera erscheinen durch die alma Venus verlebendigt, deren Wirkmacht die Imagination des Künstlers ins Bild setzt. Die Aufstellung einer erotisierenden Venus-Statue, wie Pietro Aretino sie dem Markgrafen avisiert, hätte dieses Raumensemble perfekt abgerundet, ist aber nicht zweifelsfrei nachweisbar.54 Vor allem der Anteil an Ehebrüchen und in Mord endenden Dreiecksgeschichten ist für einen Raum, den der Markgraf, glaubt man dem Text der umlaufenden Bauinschrift, zur »Wiederherstellung der Kraft in Muße« hatte erbauen lassen, sehr hoch.55 Ein Blick auf die private Situation Federigos kann den historischen Kontext erhellen.56 Im Jahr 1528, in dem auch die Camera di Psiche dekoriert wurde, eskalierte das über Jahre bestehende Dreiecksverhältnis zwischen Federigo, seiner Verlobten Maria Paleologa und seiner Geliebten »Isabella nova«. Mit der Begründung, die Familie seiner Verlobten habe seine Geliebte vergiften lassen wollen, und dem politisch-diplomatischen Schachzug der Freilassung zweier Gefangener erwirkte Federigo schließlich im April von Papst Clemens VII. das breve zur Annullierung seines bereits seit 1517 bestehenden, aber nie in einer Hochzeit realisierten Ehevertrages mit Maria Paleologa, da diese Verbindung in Wahrheit _____________ 49 50
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Vgl. z.B. Ovid, Met. 4, 169–174; Mythographus Vaticanus I 43. Zur reichen Tradition dieses Mythos siehe Rombach/Seiler, Venus. Transformationen einer Göttin. Ein Handbuch (in Vorbereitung). Zur Geschichte der Pasiphaë Ovid, Met. 8, 130–133, 154–156; bei Hygin, Fabulae 40, wird die Vernachlässigung der Opfer an Venus durch Pasiphaë als Grund der Bestrafung angegeben: Pasiphae Solis filia uxor Minois sacra deae Veneris per aliquot annos non fecerat. Ob id Venus amorem infandum illi obiecit, ut taurum amaret. Zum Labyrinth für den Minotaurus Ovid, Met. 8, 155–169. Ovid, Met. 8, 171–182. Ovid, Met. 4, 17–189. Ovid, Met. 13, 758–759: pro quanta potentia regni / est, Venus alma, tui! Pietro Aretino an Federigo II, Bief vom 6. Oktober 1527: »Credo che M. Jacopo Sansovino rarissimo vi ornarà la camera d’una Venere si vera e si viva, che empie di libidine il pensiero di ciascuno; che la mira.« Siehe Verheyen (1972), 61, Anm. 56. FEDERICUS.GONZAGA.II.MAR.V.S.R.E.ET.REIP.FLOR.CAPITANUS.GENERALIS HONESTO.OTIO.POST.LABORES.AD.REPARANDAM.VIRT.QUIETI.CONSTRUI.MANDAVIT. Verheyen (1977), 25. Verheyen (1977), 19–21. Vgl. die Gegenposition bei Gombrich (1980), 70–71, der den Einfluss biographischer Aspekte auf die Raumkonzeption ablehnt.
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politisch uninteressant geworden war. Andererseits war aus der Dauerliaison zu der verheirateten Isabella Boschetti, deren Gatte ebenfalls 1528 ermordet wurde, ein Sohn namens Alexander hervorgegangen. Bedenkt man, dass Federigo den Palazzo del Te für sich und Isabella errichten ließ, erklärt sich vor diesem Hintergrund nicht nur die Bedeutung des letzten noch nicht erwähnten Freskos in der Camera di Psiche, das die Zeugung Alexanders durch Jupiter-Ammon und Olympias und damit den Betrug an Philipp von Makedonien zeigt, sondern auch die Tatsache, dass die Programminschrift des Raumes mit dem Namenszug des Markgrafen eben unter diesem Fresko beginnt.57 Die Beispielreihe der Dreiecksgeschichten kulminiert in der Analogisierung des Markgrafen mit Zeus selbst. Legt man als Raumkonzept die Darstellung der Macht der Liebe zugrunde, die trotz aller Widrigkeiten von Eifersucht und Mord zum Happy End von Amor und Psyche führt, erklärt sich die Entscheidung für den Adonismythos in der Transformation des Aphthonios gegen die wirkmächtigere Fassung des Ovid, da sich erstere imaginativ an die nicht selten tödlich endenden anderen Dreiecksgeschichten adaptieren ließ. Die »dramatische Erzählung« des Aphthonios bekommt eine Bühne: die künstlerische Imagination generiert die dynamische Spannung, die die Konfrontation von Liebe und Eifersucht verlebendigt. Diese mythopoetische Innovation bedeutete den Bruch mit der ovidischen Tradition des Mythos und seiner literarisch-philosophischen Allegorese.
4. Imagination und Innovation: Das Fresko als Transformationsexperiment Mythopoetische Imagination und bildkünstlerische Umsetzung erweisen sich im Fresko Mars verfolgt Adonis in ihrer Innovationskraft zweifach grenzüberschreitend: Sie nehmen dem Adonis-Mythos die Anschlussfähigkeit an kanonisierte Deutungszusammenhänge von Tod und Wiedergeburt, Natur und Jahreslauf und laden ihn stattdessen mit menschlicher Emotion auf: der Raserei aus Eifersucht. Damit werden nicht nur literarisch-philosophische, sondern auch ethisch-soziale Kanones gesprengt. Der Traditionsbruch endet im Transformationsexperiment. Denn so oft der Text des Aphthonios im 16. und 17. Jahrhundert auch ediert und übersetzt wurde, ihm war weder eine bildkünstlerische noch eine literarische Traditionsbildung beschieden. Im Gegenteil. Betrachtet man die maßgeblichen Mythographen des 16. Jahrhunderts, präsentiert keiner von ihnen mehr die unmittelbare Konfrontation zwischen Mars und Adonis. Giraldi betont in seinen Historiae deorum gentilium, Adonis sei von ei_____________ 57
Die Transformationsgeschichte der legendären Zeugung Alexanders des Großen durch Zeus(Jupiter)-Ammon reicht in der Romantradition von Pseudo-Kallisthenes über Leo Archipresbyter und die Historia de Preliis bis in die mittelterliche lateinische und volkssprachliche Alexander-Dichtung. Zu diesem Traditionsstrang siehe Ross (1988), 5–65.
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nem Eber getötet worden, den Mars geschickt habe,58 und garantiert so die Kompatibilität mit der ovidischen Mythentradition. Besonders aufschlussreich sind die bewusste Negation und Umdeutung des Natale Conti in seinen 1551 erschienenen Mythologiae, der diese Version des von Mars aus Eifersucht geschickten Ebers – wider besseres Wissen – direkt der Autorität des Ovid unterstellt.59 Im weiteren Verlauf des Venus-Kapitels verwendet Conti, obwohl er zu den oben erwähnten Übersetzern der Progymnasmata des Aphthonios gehörte, diese Quelle ohne den Autor zu nennen und transformiert den Text, indem er auch in der narratio des Rhetoriklehrers den von Mars aus Eifersucht geschickten Eber als Todesursache des Adonis unterstellt, das übrige Aition aber unverändert belässt.60 Es gab dennoch solche, die sagten, dass nicht Adonis auf den Eber losgestürzt sei, sondern der Eber Adonis angegriffen habe und dass dies auf Geheiß des Mars geschehen sei. Denn da Mars Venus liebte, Venus aber den Adonis liebte und ihm folgte, dachte Mars, dass er alle Liebe der Venus auf sich vereinen könne, wenn er Adonis aus der Mitte verdrängte, und dass Venus, als sie Adonis zu Hilfe eilte, nachdem Mars den Eber auf ihn gehetzt hatte, sich den Fuß am Dorn der Rose verletzte und dadurch die früher weiße Rose rote Farbe bekam.
Vincenzo Cartari schließlich berichtet 1556 in seinen Imagini im Zusammenhang mit der Einfärbung der Rosen lediglich davon, Mars habe Adonis aus Eifersucht töten wollen und Venus sei zu Hilfe geeilt.61 Den Tod des Adonis führt auch bei Cartari der Eber herbei, wobei seine Berufung auf Macrobius zugleich als Verweis auf die naturphilosophische Deutungsebene gelesen werden kann.62 Diese Beispiele mögen zur Illustration der Bemü_____________ 58
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Giraldi, Historiae deorum gentilium, fol. 350: Adonim interemptum fabulae ferunt, apri dente inuidia Martis immisso unde et Venus suem semper est abominata, [...]. »Die Geschichten berichten, dass Adonis getötet worden sei durch die Hauer eines Ebers, den Mars aus Eifersucht geschickt habe, und daher habe Venus das Schwein immer verabscheut.« (Übers. der Verf.) Conti, Mythologiae IV, 207: Enimvero postea Martis invidia ab apro immisso caesus est, ut ait Ovidius lib. 10 Metamorph. »Später aber wurde er durch die Eifersucht des Mars von einem Eber getötet, wie Ovid in seinem 10. Buch der Metamorphosen sagt.« (Übers. der Verf.) Conti, Mythologiae V 286: Fuerunt tamen qui dixerint non ipsum quidem Adonim in aprum irruisse, sed ab apro impetum factum fuisse in Adonim, et id Martis consilio contigisse. Nam cum Mars Venerem, Venus Adonim amaret et sequeretur, ratus est Mars omnes Veneris amores posse in se converti, si Adonim de medio sustulisset; atque illi apro immisso cum Venus opem ferre properaret pede a spina rosae vulnerato purpureum colorem rosae, cum prius esset candida, datum fuisse fabulantur. Cartari, Le imagini de i dei de gli antichi CXIII: Le quali non furono però sempre colorite, anzi da principio erano tutte bianche, ma furono tinte poi dal sangue di questa Dea una volta ch'ella, correndo per dare aiuto allo amato Adoni, quale voleva uccidere Marte divenutone geloso, pose i piedi sopra le acute spine delle bianche rose e ne fu punta gravemente, et il sangue che ne uscì fu cagione che da indi in poi nacquero le rose colorite. Cartari, Le imagini de i dei degli antichi XV: Facevasi oltre di ciò un simulacro di Venere simile à quello che nel monte Libano si vedeva, il quale haveva un manto intorno, che cominciando col capo lo copriva tutto, e pareva stare tutto mesto, e sconsolato, e con mano pure av-
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hungen der sonst der Vollständigkeit und Zitattreue verpflichteten Mythographen genügen, den direkten Angriff des Mars auf Adonis zugunsten der ovidischen Tradition zurückzudrängen und vor allem den Eber wieder in den Todesmythos einzubeziehen, da mit ihm die naturphilosophisch-allegorische Deutung seit Macrobius untrennbar verbunden war. Für die bildkünstlerische Imagination des Freskos im Palazzo del Te lässt sich Analoges konstatieren: sie bleibt singulär. Selbst Giorgio Ghisi, der Mitte des 16. Jahrhunderts zahlreiche Fresken des Palazzo del Te in seinen Kupferstichen festgehalten hat,63 nahm das Fresko Mars verfolgt Adonis nicht in seine Sammlung auf, sondern wählte für die Umsetzung des Rosen-Aitions in Verbindung mit der Liebesgeschichte von Venus, Mars und Adonis eine Vorlage von Luca Penni, der sich wiederum auf die französische Übersetzung der Hypnerotomachia Poliphili bezog, in der sich Venus nicht den Fuß, sondern den Oberschenkel an den Dornen verletzt.64 Und das obwohl, oder vielleicht gerade weil er selbst an den Arbeiten im Palazzo del Te beteiligt war und das Fresko Giulio Romanos gekannt haben muss (Abb. 11).65 Räumlich getrennt, sieht man im Bildvordergrund die nackte, stehende in der Quelle badende Venus, die sich am erotisch zwischen den Schenkeln und bis zur Scham reichenden Rosenbusch verletzt, wobei ihr Blut bereits die erste Rose rot färbt, sie jedoch noch eine weiße in der Hand hält. Die Göttin wendet den Kopf dem Bildhintergrund zu, wo Mars in voller Wehr mit erhobenem Stock hinter Adonis herläuft, der mit erhobenen Armen flieht, während Amor, der Urheber allen Übels, im Vordergrund schläft. Die Bildunterschrift leitet das intendierte Verständnis des Kupfers: Mortiferis spinis toto sum corpore laesa. / Purpurea estqu. meo sanguine facta rosa: Dulcis amor causa est: sed nil mea vulnera curo / Eripiam crudis dum puerum manibus. Von tödlichen Dornen bin ich am ganzen Körper verletzt, und rot ist die Rose von meinem Blut geworden. Süße Liebe ist der Grund: aber ich achte nicht auf meine Wunden, während ich den Jungen den grausamen Händen entreiße. (Übers. der Verf.)
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volta nel manto sosteneva la cadente faccia, e come dice Macrobio credeva ognuno che la vedeva che le lagrime gli cadessero da gli occhi, e quivi si mostrava Venere cosi addolorata per la morte di Adoni ucciso da un cinghiale. Per la quale cosa furono guardati alcuni di come sacri chiamati le feste Adonie, et allhora le donne universalmente per la Città mettevano alcune imagini simili à corpi morti su certi letticiuoli fatti a posta, e quelle come fossero persone pur dinanzi morte piangendo portavano alle sepolture. Zu Stichen des Giorgio Ghisi aus dem Palazzo del Te siehe Verheyen (1977), 118: Amor und Psyche; 120: Gefangene; 126: Herkules, Sklaven im Triumphzug, die Parzen; 132: Geburt des Memnon, Satyrn bei Tisch, Krankheit. Giorgio Ghisi nach Luca Penni, Venus und die Rose, Kupferstich, Bez. L./PENIS/.R./.IN.–G MAF/1556, Rijksprentenkabinet, Amsterdam; vgl. Ausst.-Kat. Venus. Bilder einer Göttin (2001), 265. Jacopo Strada betont sogar sein Wirken in der Camera di Psiche. Siehe Verheyen (1977), 117.
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Im Zentrum der Bildaussage steht die Intensität und erotische Wirkmacht der Liebe der Venus zu Adonis, die Rose ist Metapher für die Liebe selbst, die durch sie zugefügten Verletzungen sind der Liebe Wunden, einer den ganzen Menschen beherrschenden, den eigenen Schmerz gering achtenden Liebe. Die im Fresko imaginierte dramatische Rettungsszene ist als Absichtserklärung in die Bildunterschrift verbannt, die Färbung der Rose erhält durch die Stelle der Verwundung die erotische Konnotation der Defloration. Der Konflikt der beiden Kontrahenten wird, wie in der Hypnerotomachia, keinen tödlichen Ausgang haben und dient wie das Rosen-Aition als Mittel, die Kraft der Liebe, die jedes Leid für den Geliebten erträgt, zu exemplifizieren.66 Als eines der seltenen Zeugnisse der Rivalität von Mars und Adonis kann auch der Jahreszeitenzyklus von Francesco Albani von 1616 in der Villa Borghese gelten, wo auf dem Tableau des Herbstes im Vordergrund Venus und der Jäger Adonis als ruhendes Paar vereint sind, und von der Auseinandersetzung der beiden Rivalen als Reminiszenz nur der mit dem Streitwagen den Himmel querende Mars bleibt, der aus weiter Ferne mit dem Schwerte droht.67 Dabei hatte zur Entstehungszeit des Freskos Mars verfolgt Adonis wohl 1528 die Konjunktur großformatiger Venus-und-Adonis-Darstellungen gerade erst begonnen. Alle späteren bildkünstlerischen Transformationen aber greifen, wie schon Sebastiano del Piombo zuvor, auf die Kernszenen der ovidischen Darstellung zurück, wodurch Mars aus dem Geschehen verschwindet. Zum Bildthema werden vor allem die drei entscheidenden Phasen der Narration: Erstens die Harmonie: Venus und Adonis als in Liebe ruhendes Paar im Schatten eines Baumes,68 zweitens die Peripetie: Adonis bricht gegen den Rat der Venus zur Jagd auf69 und drittens die Katastrophe: der Tod des Adonis,70 der alle naturphilosophisch-allegorischen Deutungsebenen eröffnet, die bis auf die ägyptischen Kulte _____________ 66
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Eingang in das Kunsthandwerk fand diese Darstellung im für Adonis passenden Kontext der Jagd. Ein Pulverhorn im Louvre aus der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts zeigt mittig das Zentralmotiv der sich umwendenden und verletzenden Venus mit dem schlafenden Amor zu ihren Füßen. Poire à poudre, Paris, Musée du Louvre, Département des Objets d’Art, Inv. Nr. OA 2278, Abb. in: Cordellier/Penni (2012), 124–125, Fig. 121. Francesco Albani, Jahreszeitentondi, Villa Borghese, Rom. Siehe hierzu grundlegend Flemming, (1996). Hendrik Goltzius, Venus und Adonis, 1614, Bayerische Staatsgemäldesammlung, Alte Pinakothek, München, Abb. in: Ausst.-Kat. Holländischer Klassizismus in der Malerei des 17. Jahrhunderts (2000), Kat.-Nr. 2. Oder Paolo Veroneses Venus und Adonis im Kunsthistorischen Museum, Wien, Inv. Nr. GG_1527. E.g. Tizian, Venus und Adonis, Madrid, Museo del Prado, 1553–1554, Abb. in: Pedrocco (2000), 228. Oder Peter Paul Rubens, Venus und Adonis, 1638–1639, New York, Metropolitan Museum of Art, Abb. in: Oppenheimer (1999), Tafel XVI. oder Hans von Aachen, Venus und Adonis, um 1580/1585, Braunschweig, Herzog Anton Ulrich-Museum, Abb. in: Ausst.-Kat. Amors Pfeil. Tizian und die Erotik in der Kunst (2003), Kat.-Nr. 20. E.g. Paolo Veronese, Venus und Adonis, Madrid, Museo del Prado, um 1580, Abb. in: Ausst.Kat. Annibale Carracci’s Venus, Adonis & Cupid (2005), 29, Abb. 7.
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von Isis und Osiris bzw. den Innana-Ischtar und Dumuzi-Tammuz-Kult zurückgehen.71 Dem Fresko in der Sala di Psiche, das den dramatischen Augenblick rasender Eifersucht imaginiert, fehlt im Gegensatz zu Darstellungen der Szenen der Ovidischen Version jede weitere Anschlussfähigkeit an kanonisierte allegorische oder ethischen Deutungsebenen. Die künstlerische Imagination Giulio Romanos füllt mit Dynamisierung, Dramatisierung, ja Inszenierung der narrativen Handlung einschließlich der Schöpfung der agierenden personae die Leerstellen des Referenztextes, die Leser wie darstellenden Künstler zum imaginativen Spiel einladen. Seine mythopoetische Imagination adaptiert den Plot im Sinne des Raumkonzeptes: das daraus resultierende Maß an erotischer Individualisierung limitiert zugleich den Geltungsanspruch der Bildaussage. Die spezifisch konditionierte Konstruktion seiner Mythosvariante und ihre bildkünstlerische Imagination generieren ein mythopoetisches Transformationsprodukt, das durch seine Abkoppelung von der philosophisch-literarisch fundierten Allegorese, die dem heidnischen Mythos das Überleben in der christlichen Literatur gesichert hatte, auch im 16. Jahrhundert nicht zu einer Typenbildung führen konnte. Die aus der Synergie von Wissen und Imagination geschaffene innovative Bildfindung erweist sich als ein Transformationsexperiment, bei dem der Anfang zugleich das Ende markiert.
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Merkelbach (!2001), 40–44.
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Abbildungsnachweis Abb. 0: Belluzzi, Amedeo, Palazzo Te a Mantova / The Palazzo Te in Mantua (Mirabilia Italiae), Atlante, Modena 1998, 22. Abb. 1: Belluzzi, Amedeo, Palazzo Te a Mantova / The Palazzo Te in Mantua (Mirabilia Italiae), Atlante, Modena 1998, 245. Abb. 2: Belluzzi, Amedeo, Palazzo Te a Mantova / The Palazzo Te in Mantua (Mirabilia Italiae), Atlante, Modena 1998, 246, Abb. 462. Abb. 3: Belluzzi, Amedeo, Palazzo Te a Mantova / The Palazzo Te in Mantua (Mirabilia Italiae), Atlante, Modena 1998, 245, Abb. 461. Abb. 4: Belluzzi, Amedeo, Palazzo Te a Mantova / The Palazzo Te in Mantua (Mirabilia Italiae), Atlante, Modena 1998, 274, Abb. 502. Abb. 5: Belluzzi, Amedeo, Palazzo Te a Mantova / The Palazzo Te in Mantua (Mirabilia Italiae), Atlante, Modena 1998, 275, Abb. 504. Abb. 6: Belluzzi, Amedeo, Palazzo Te a Mantova / The Palazzo Te in Mantua (Mirabilia Italiae), Atlante, Modena 1998, 388, Abb. 244. Abb. 7: Belluzzi, Amedeo, Palazzo Te a Mantova / The Palazzo Te in Mantua (Mirabilia Italiae), Atlante, Modena 1998, 275, Abb. 505. Abb. 8: Colonna, Francesco, Hypnerotomachia Poliphili, hg. und kommentiert v. Giovanni Pozzi/Lucia A. Ciapponi, 2 Bde., Padua 1980, 367. Abb. 9: Die antiken Sarkophagreliefs, Bd. 12,1: Die mythologischen Sarkophage; 1, Achill, Adonis, Aeneas, Aktaion, Alkestis, Amazonen, hg. v. Bernard Andreae, Berlin 1999, I, Taf. 47, Kat. 55. Abb. 10: Zanker, Paul/Ewald, Björn Christian, Mit Mythen leben. Die Bilderwelt der römischen Sarkophage, München 2004, 19, Abb. 13. Abb. 11: Ausst.-Kat. Venus – Bilder einer Göttin, Alte Pinakothek München, 1. Februar– 22. April 2001, Köln, Wallraf-Richartz-Museum, 14. Oktober 2000–7. Januar 2001, Antwerpen, Koninklijk Museum voor Schone Kunsten, 20. Mai–15. August 2001, München 2001, 265, Kat. Nr. G7.
»The new Poete«. Imagination des Widersprüchlichen in Spensers Garden of Adonis, oder: Einladung zur Spekulation VERENA OLEJNICZAK LOBSIEN
Proem Edmund Spenser (ca. 1554–1599) ist, das hat Richard Helgerson 1978 in einem einflussreichen Beitrag mit guten Gründen behauptet, Englands erster professioneller Dichter.1 Auch wenn seine literarische Aktivität ihm nicht als hauptsächlicher Broterwerb diente, so bekennt er, der ein Gehalt als humanistisch gebildeter, leitender Regierungsbeamter, nicht zuletzt in der Verwaltung der irischen Kolonien, bezog, sich doch zur Poesie als zu seiner eigentlichen Berufung. Bereits darin liegt eine innovative, mindestens unkonventionelle Geste. Denn für seine dichtenden Zeitgenossen – Männer wie Sidney, Harington, Lodge – ist das Literarische kein Beruf. Es ist ein Zeitvertreib, ein spielerischer Luxus, den sich der gentleman nebenher erlaubt, für den man sich aber eher entschuldigt. Sich mit allzu großem Einsatz der Kunst zu widmen, ist auch tonangebenden Humanisten wie Roger Ascham eher suspekt. Ehrgeizige junge Intellektuelle wie Lily, Pettie, Greene oder Gascoigne, die dennoch mit ihren literarischen Erzeugnissen an die Öffentlichkeit treten, stilisieren sich daher regelmäßig zu verlorenen Söhnen, die nach vorübergehenden poetischen Verirrungen nunmehr entschlossen sind, sich ernsthaft in den Dienst von Krone und Nation zu stellen, anstatt Zeit und Energie auf derlei Prodigalität zu verschwenden. Die Poesie, die sie schreiben, erscheint so als Frucht tadelnswerten Müßiggangs und – da idleness für die Zeitgenossen einer jener Zustände ist, die die regellose und überschießende Aktivität der Imagination begünstigen,2 – zugleich als Frucht _____________ 1 2
Helgerson (1978), 893–911, hier: 902. Vgl. auch Helgerson (1990), wo er noch prägnanter den Konflikt zwischen den politischen Implikationen pastoraler und heroischer Modi herausstellt, in den Spenser durch die entschlossene Verwirklichung seines eigenen Karriereprogramms gerät. Schon in diesem Mißtrauen wird der frühneuzeitliche Generalverdacht gegen die Imagination spürbar. Dass Müßiggang der Seele schadet, ist bereits im Mittelalter topisch. Dass er insbesondere die Imagination in ungute Bewegung versetzt, pointiert die Renaissance: Michel de Montaigne weiß um diese gefährlichen Ambivalenzen der Muße und artikuliert sie in seinem Essay
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eines grundsätzlich verdächtigen Seelenvermögens. Anders Spenser, der wiederholt die Dichtung gegen potentielle Vorwürfe genau dieser Art verteidigt. Er hebt ihren Wert, ihre Dignität und ihre Wirkung hervor, aber auch die nicht enden wollende Mühe und technische Kunstfertigkeit, die die Bedingungen ihrer Vervollkommnung sind.3 Dabei unterstellt er sich mehrfach und nachdrücklich der für die Abfolge der Werke geltenden normativen Progression in Gestalt der rota Virgilii, die dem jungen Dichter ein Fortschreiten von der Pastorale zur heroischen Dichtung vorschreibt. Er unterscheidet sich damit nicht nur von der apologetischen Rhetorik seiner Zeitgenossen. Sondern er nimmt zum einen ernst, was die Theoretiker der kontinentalen Renaissance, aber auch die englischen Poetiken der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts dem Dichter an Leistungen zutrauten, die über den bloßen Unterhaltungwert hinausgehen – wie z.B. die Präsentation mantisch-visionärer Einsicht, wie sie in der Antike einem vates zugeschrieben wurde.4 Zum anderen stellt er sich so mit einiger Emphase in eine Reihe mit lateinischen, italienischen, französischen poetae laureati, von Vergil über Petrarca, Tasso, Ronsard, Ariost, die, nach bescheidenen Anfängen im Medium der Hirtendichtung fortschreiten zum großen Heldenepos von nationaler Bedeutung. Helgersons Einschätzung ist prinzipiell zuzustimmen. Eine bedeutende innovative Leistung Spensers in seinem kulturellen Kontext liegt gewiss in seiner Legitimierung literarischer Aktivität als eines in öffentlichen Diensten stehenden gentleman würdig. Indirekt mag man darin bereits einen Ansatz zur Rechtfertigung der Erzeugnisse der künstlerischen Imagination sehen, erscheint diese doch offiziell, auch im philosophischen und medizinischen Diskurs regelmäßig als marginalisierte facultas – täuschungsanfällig, hinsichtlich ihrer Erzeugnisse potentiell kritikwürdig und nur als Handlangerin der vernünftigen Vermögen akzeptabel. Aber lenkt man den Blick von Fragen nach den kulturellen und politischen Umständen der Professionalisierung und der typischen Karrieremuster elisabetha_____________
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»De l’oisiveté« (I, viii, in: Montaigne, Œuvres complètes, 33–34). Wie geläufig dieses Bewußtsein bei den Zeitgenossen ist, zeigt sich auch bei Shakespeare – etwa darin, dass das Kraut, aus dem Oberon die Liebesdroge gewinnt, die in A Midsummer Night’s Dream soviel Verwirrung stiftet, den ironisch-suggestiven Namen »love-in-idleness« trägt (Shakespeare, A Midsummer Night’s Dream, 2.1.168). »The New Poet thus had his task clearly laid out for him. He had to redefine the limits of poetry, making it once again (if in England it had ever been) a profession that might justifiably claim a man’s life and not merely the idleness or excess of his youth.« (Helgerson [1978], 894). Genau diese Diskrepanz zwischen der Hochschätzung der Dichtung in poetologischen Texten und ihrer defensiven Geringschätzung in den Paratexten derer, die sie im englischen 16. Jahrhundert praktizieren, ist der Ansatzpunkt für Helgersons Argumentation. Zu den erratischen Bewegungen innerhalb der Theoriebildung in den bildenden Künsten der kontinentalen Renaissance, die die künstlerische inventio mal mehr, mal weniger an Vorstellungen und Konzepte kreativer, innovativer Einbildungskraft annähern, vgl. Kemp (1977), 347–398; zur Gesamtproblematik einer frühneuzeitlichen imaginativen Praxis, die sich in deutlicher Nicht-Entsprechung zum poetologischen, psycho-physiologischen und philosophischen Diskurs bewegt, siehe auch V. O. Lobsien/E. Lobsien (2003).
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nischer Dichter stärker auf die Ästhetik, die ihren Werken eingeschrieben ist, so ergibt sich die Schwierigkeit zu zeigen, was es ist, das in den Texten selbst dafür sorgt, dass das Neuheitspathos, das hier so kühn angeschlagen wird, eben mehr ist als eine bloße Proklamation oder lediglich ein provozierendes self-fashioning, hinter dem sich zuletzt doch eine Fortsetzung überkommener Kunsttraditionen verbirgt, eine Rhetorik, mit der sich maskiert, was man schon kennt. Meine Überzeugung ist, dass Spenser in seinen Texten tatsächlich eine Weise der emulatio des Vergilischen Paradigmas praktiziert, der es gelingt, der imaginatio eine innovative Kraft abzugewinnen, die nicht als Tagtraum eines müßigen Hirns oder als wahnhafte Phantasterei abgetan werden kann, sondern beanspruchen darf, zu Einsichten zu führen, die die Bereiche dessen erweitern, was die Fakultätenlehre üblicherweise der Einbildung zugesteht. Um zu ermessen, wie problematisch das erscheinen musste, ist es nützlich, sich die vermutlich berühmteste Imaginationskritik der Zeit ins Gedächtnis zu rufen. Shakespeare legt sie in A Midsummer Night’s Dream dem Herzog Theseus, einer der mächtigen wiewohl eher obtusen Figuren in diesem Drama, in den Mund: The lunatic, the lover, and the poet Are of imagination all compact: […] The poet’s eye, in a fine frenzy rolling, Doth glance from heaven to earth, from earth to heaven, And as imagination bodies forth The forms of things unknown, the poet’s pen Turns them to shapes, and gives to airy nothing A local habitation and a name. (5.1.7–17)
Allerdings sagt Theseus mehr, als er beabsichtigt – seine Rede ist, ebenso wie das Stück insgesamt, nicht zuletzt ein Beleg dafür, dass die Imagination eben nicht nur Symptom des Wahnsinns, Begleiterin der Liebestollen und Agentin gefährlicher Täuschung ist, sondern tatsächlich »More than cool reason ever comprehends« (5.1.6) vor Augen zu führen vermag. Aber Shakespeare mag über Theseus’ unreflektierte Orthodoxien spotten – sein Stück wird ziemlich genau zwanzig Jahre nach Spensers erstem Auftreten als »new Poete« und ungefähr zeitgleich mit dem Erscheinen seiner Faerie Queene in den 1590er Jahren auf die Bühne gebracht, kann also bereits von Entwicklungen profitieren, die mit The Shepheardes Calender, dem ersten Werk, mit dem sich Spenser als Dichter präsentiert, ihren Anfang nehmen. Ich will versuchen, die Innovativität der Spenserschen Poesie in drei Schritten zu verdeutlichen: (1) indem ich skizziere, worin die proklamierte Neuheit liegen kann, die Spenser im Shepheardes Calender beansprucht; (2) in einer Andeutung
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der grundlegenden Neuerung, aber auch eines tiefgreifenden strukturellen Problems in seinem gewaltigen Hauptwerk The Faerie Queene; und (3) indem ich einen zentralen Ort in der Faerie Queene, den Adonisgarten, als paradoxalen Raum innovativer Imagination und gleichzeitiger Antiketransformation untersuche.
1. Proklamation des Neuen Die Pastoraldichtung The Shepheardes Calender, mit der Edmund Spenser 1579 an die literarische Öffentlichkeit tritt, ist eingebettet in eine Reihe von Paratexten: ein in Triplets gereimter envoy, ein poetisches Sendschreiben, das zugleich als Widmung an Philip Sidney dient; eine kurze Prosaempfehlung an Spensers Freund Gabriel Harvey, die um Patronage für den (anonymen) Autor des nachfolgenden Gedichts bittet und ihn als »new Poete«5 bezeichnet; sodann ein ausführlicher poetologischer Geleitbrief, der angeblich aus der Feder des bis heute nicht identifizierten »Verie special and singular good frend E. K.« (hinter dem sich möglicherweise Spenser selbst verbirgt) stammt, mit einem Postskript an Harvey; eine Zusammenfassung des »generall argument« des Buchs, die vor allem gattungstheoretische, kalendarische, mythologische und historische Erwägungen anstellt. Schließlich ist der Text dieses »new worke«6 begleitet von ausführlichen, gelegentlich irreführenden und offenbar in ihrer ›humanistischen‹ Gelehrsamkeit nicht immer ganz ernst gemeinten Glossen und Annotationen, ebenfalls von »E. K.«, die sich als Hilfestellung beim Verständnis dieser in vieler Hinsicht ungewohnten Dichtung anbieten. Schon hierin deutet sich ein charakteristisches Profil der poetischen Selbststilisierung Spensers an: Er tritt auf in einer Mischung aus Anonymität, Versteckspiel, Maskierung hinter wechselnden auktorialen Medien und personae, aber zugleich mit dem Fanfarenstoß der Neuheit – als »this our new Poete«,7 in bescheidener Verkleidung und doch mit einem hohem Ehrgeiz, der sich auch in der semantischen Steigerung der Implikationen von »new« über ›unbekannt‹ (»uncouth«) bis hin zu ›neu‹ im heutigen Sinne von ›originell‹ oder ›modern‹ bemerkbar macht. Worin besteht dieser Innovationsanspruch? Dem Geleitbrief des »E. K.« lassen sich vor allem drei Arten von Argumenten entnehmen: sprach- und kulturpolitische, karriereprogrammatische und im engeren Sinne poetologische. So versteht sich das Unternehmen zunächst als Versuch der Restauration der Volkssprache Englisch, »our Mother tonge« mit ihren »good and naturall English words«, und ihrer Wiedereinsetzung zum Medium der Poesie;8 in expliziter Anknüpfung bei Chaucer und in seiner ausdrückli_____________ 5 6 7 8
The Shepheardes Calender wird zitiert nach: The Yale Edition of the Shorter Poems of Edmund Spenser (1989), hier: 13. Ebd., 19. Ebd., 13. Ebd., 16.
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chen Nachahmung, zudem in Kontinuität zu Autoren der italienischen Renaissance ebenso wie der französischen Pleiade ab 1549. Das Englische, bislang zugunsten des Lateinischen geradezu enterbt (»almost cleare disherited«), soll wieder für die Dichtung tauglich und produktiv werden. Damit verbindet sich auch eine Rechtfertigung der – in der Tat völlig neuartigen – auffälligen, pseudomittelalterlichen Archaismen in Spensers Text. Diese mögen zwar durch ihre »straungenesse« gelegentlich frappieren, aber solch entautomatisierende Effekte seien nicht nur legitim im Blick auf Ernst und Gewicht der verhandelten Sachen, sondern wirkten auch authentifizierend, da sie ja der »rusticall rudenesse of shepheards« vollkommen angemessen seien9 – ein zweifaches decorum. Zudem fungiere das kunstvoll ungehobelte Medium als Mittel, die Schönheit, Schlichtheit und Ordnung der Themen und ihrer Behandlung hervorzuheben. Ja, dieser Gegensatz zwischen vermeintlich Barbarischem (»naturall rudeness«) und ›Hohem‹ (»the dainty lineaments of beautye«) sei geradezu notwendig, um die komplexe Wirkung einer discordia concors (»disorderly order«) zu erzielen.10 Damit sind wir aber, mit cusanisch-neuplatonischem Zungenschlag,11 bereits bei der Vergilischen Programmatik eines Möchtegern-Laureaten. Denn diese »pastorall rudenesse«12 des »new Poete« ist ja nichts als die schäferliche Pose dessen, der demnächst das große englische heroische Epos vorlegen wird. So rechtfertigt sich auch die Einfachheit der Autor-persona Colin Clout als bloße Bescheidenheit des Anfangs. In niederer Schäfergestalt ist es ihm möglich, unter dem Deckmantel des Simplen und (noch) Unberühmten Großes von macht- und konfessionspolitischer Tragweite zu verhandeln – »to unfold great matter of argument covertly«.13 Diese Strategie ist in ihrer bewussten Aufnahme und _____________ 9 10
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Ebd., 14. »But all as in the most exquisite pictures they use to blaze and portraict not onely the daintie lineaments of beautye, but also rounde about it to shadow the rude thickets and craggy clifts, that by the basenesse of such parts, more excellency may accrew to the principall; for oftimes we fynde ourselves, I knowe not how, singularly delighted with the shewe of such naturall rudenese, and take great pleasure in that disorderly order. Even so doe those rough and harsh termes enlumine and make more clearly to appeare the brightnesse of brave and glorious words.« (ebd., 15). Ich komme auf die Möglichkeit einer Ästhetik des Widerspruchs bei Spenser, die von Nikolaus von Kues, insbesondere seinem Theorem einer coincidentia oppositorum inspiriert ist, am Schluss meines Beitrags zurück. Ebd., 13. Ebd., 18. – Das gibt im übrigen William Empsons definitorischer Formel für die Zentralstrategie der Pastorale recht: Sie sei »a process of putting the complex into the simple« (Empson [1935], 53, vgl. 23). Und es verknüpft aufs engste den strukturellen Platonismus von Pastorale und Allegorie; vgl. auch die Argumentation Sir Philip Sidneys in Verteidigung der (Vergilschen und, wie es scheint, Spenserschen) Pastorale: »Is it then the Pastoral poem which is misliked? […] Is the poor pipe disdained, which sometime out of Meliboeus’ mouth can show the misery of people under hard lords or ravening soldiers, and again, by Tityrus, what blessedness is derived to them that lie lowest from the goodness of them that sit highest; sometimes, under the pretty tales of wolves and sheep, can include the whole considerations of wrong-doing and patience; sometimes show that contentions for trifles can get but a trifling victory […].«
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Annahme des Archaischen und in ihrer Übertragung auf englische Verhältnisse neu und gibt sich doch zugleich als traditionell aus. Denn sie kann sich auf die großen antiken Vorbilder – Theokrit, Vergil – ebenso berufen wie auf Petrarca, Boccaccio, Mantuanus, Sannazaro und Marot. Sie alle haben als gleichsam noch nicht flügge Dichter im Medium der Pastorale begonnen, bevor sie die Schwingen zum episch-heroischen Höhenflug breiteten:14 […] following the example of the best and most auncient Poetes, which devised this kind of wryting, being both so base for the matter and homely for the manner, at the first to trye theyr habilities: and as young birdes, that be newly crept out of the nest, by little first to prove theyr tender wyngs, before they make a greater flyght. So flew Theocritus, as you may perceive he was all ready full fledged. So flew Virgile, as not yet well feeling his winges. So flew Mantuane, as being not full somd [sic]. So Petrarque. So Boccace; So Marot, Sanazarus, and also divers other excellent both Italian and French Poetes, whose foting this Author every where followeth, […] So finally flyeth this our new Poete, as a bird, whose principals be scarce growen out, but yet as that in time shall be hable to keepe wing with the best.
Auch in dieser emulativen Einreihung des ›neuen‹ Werks in die Ränge vorangegangener Laureaten verknüpft »E. K.« Innovation freilich mit Autorisierung. Das Neue erscheint aus dieser Perspektive als Element in einer Traditionskette der Besten. Das Nachfolge-Argument, mit dem der Shepheardes Calender auf der untersten Stufe der rota Virgilii einsortiert wird, erlaubt dem Dichter beispielsweise, sich, wie schon Vergil, kritisch auf die zeitgenössische politische Gegenwart zu beziehen bzw. die eigene Kirchen- und Klerussatire nach Petrarcas Bucolicum Carmen oder den Eklogen (Adolescentia, 1486) des Baptista Spagnuoli ›Mantuanus‹ zu modellieren. Aber die Realisierung dieser Nachfolge in den nachfolgenden Gedichten vollzieht sich nicht ohne Bitterkeiten, im enttäuschenden Verlauf oder Ausgang schäferlicher Liebesangelegenheiten wie in der doch eher dürftigen Anerkennung, die die Hirten für ihre poetischen Mühen erfahren.15 Zudem ergibt sich aus der hier angelegten und im Shepheardes Calender punktuell auch verwirklichten Möglichkeit, zwei Arten der Allegorie, politischhistorische und Allegorie der Ideen, miteinander zu verquicken, eine strukturelle Spannung, die aus der Schäferdichtung hinüberreicht in die heroische Poesie des Spenserschen Epos, The Faerie Queene. Die poetologisch-programmatische Legitimierungsstrategie bringt so von der Pastorale her auch in der epischen Dichtung Hirten und Helden in einen engen Kontakt. Philip Sidney fand die generische Mischung nach dem additiven Modell der Tragikomödie nicht weiter anstößig: _____________
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(Sidney, A Defence of Poetry, 94, 33–95, 6). Zum Gesamtkomplex der Pastorale s. Alpers (1996); zur pastoralen Imagination, mit weiteren theoretischen Referenzen, vgl. auch V. O. Lobsien/E. Lobsien (2003), 87–167. Spenser, Shepheardes Calender, 18–19. Ein Beispiel hierfür wäre die »October«-Ekloge (Spenser, Shepheardes Calender, 170–183). Hier tritt der Hirt Cuddie auf, »[…] the perfecte paterne of a Poete, which finding no maintenaunce of his state and studies, complayneth of the contempte of Poetrie, and the causes thereof« (»Argument«, 170, orig. kursiv).
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»Some […] have mingled prose and verse, as Sannazzaro and Boethius. Some have mingled matters heroical and pastoral. But that cometh all to one in this question, for, if severed they be good, the conjunction cannot be hurtful.«16 Aber Sidney ist kein unbefangener Anwalt in dieser Angelegenheit, denn seine eigene Arcadia verfährt ebenso. Bei Spenser treten, so scheint es jedenfalls, die Unvereinbarkeiten, die sich bei seiner Produktion neuer Formationen bemerkbar machen, schärfer hervor.
2. Pastorale und heroische Strukturen in der Faerie Queene The Faerie Queene, Spensers Versepos in sechs Büchern (jedes von ihnen in Aeneis-Länge),17 schickt sich zunächst, in der ersten Stanze des Proems zum ersten Buch, ausdrücklich an, das einzulösen, was der Dichter mit seinem pastoralen Einsatz im Shepheardes Calender in Aussicht stellte: Lo I the man, whose Muse whylome did maske, As time her taught, in lowly Shephards weeds, Am now enforst a farre unfitter taske, For trumpets sterne to chaunge mine Oaten reeds: And sing of Knights and Ladies gentle deeds, Whose praises having slept in silence long, Me, all too meane, the sacred Muse areeds To blazon broade emongst her learned throng: Fierce warres and faithfull loves shall moralize my song. (FQ 1. Proem. 1)
Der Sprecher gibt sich als der zu erkennen, dessen Muse ihm zuvor lediglich eine Schäferdichtung (wiewohl autorisiert durch die Vergilische Pose, die die »Oaten reeds«18 andeuten) abverlangt hatte, dem dieselbe ›heilige‹ Instanz nun aber gebietet, sich in einem anderen Metier, dem heroischen Gesang zur Feier der »gentle deeds« zu unrecht vergessener Ritter und ihrer Damen, zu versuchen. Genau dieses Programm führt der Dichter auch aus – und er realisiert es genau so, wie er es hier ankündigt: indem er es in seinem Gesang ›moralisiert‹, d.h. allegorisiert. Eben darin liegt auch eine zentrale Dimension der Innovativität der Faerie Queene. Anders als Dante, Ariost, Tasso legt Spenser nicht schlicht ein Epos vor, das ein großes, vielleicht, wie der Orlando Furioso (eines seiner direkten _____________ 16 17
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Sidney, A Defence of Poetry, 94, 25–29. The Faerie Queene wird zitiert nach den im Literaturverzeichnis aufgeführten neuen Einzelausgaben. Stellenangaben erscheinen im folgenden direkt nach dem jeweiligen Zitat, nach dem Muster (FQ Buch. Canto. Strophe, Zeile). Die Hirtenflöte, angeblich aus Haferstroh, als wohl berühmtestes aller pastoralen Attribute, modelliert nach Vergils erster Ekloge (1,1–2: Tityre, tu patulae recubans sub tegmine fagi | siluestrem tenui Musam meditaris auena; Vergil, Eclogues, 43).
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Vorbilder) romanzenhaft-fantastisches Narrativ bietet. Sondern er schreibt eine multidimensionale, gigantische Allegorie19 und überträgt damit das Prinzip der Pastorale, die sich genötigt sah, die Dinge verhüllt unter »covert vele« bzw. in »shadowes light« (FQ 2. Proem. 5, 2) zur Sprache zu bringen, auch auf das opus magnum des nach höherem Dichterruhm greifenden prospektiven Laureaten. Denn im englischen Kontext steht auch die großformatige Fiktion – und diese vielleicht in besonderem Maße – unter hohem Legitimationsdruck. Dem begegnet Spenser, indem er sein Werk als didaktisch wertvoll auszuweisen sucht. Er formuliert ein doppelt adressiertes Bildungsprogramm. In einem an Sir Walter Raleigh gerichteten auktorialen Geleitbrief kündigt er zum einen an, er wolle im Sinne des höfischen Ideals kulturbildend wirken: »The generall end therefore of all the booke is to fashion a gentleman or noble person in vertuous and gentle discipline«. Dies wiederum suche er nicht durch Predigt oder diskursive Vorschrift und keineswegs nur durch die beispielgebende Erzählung von tugendhaften Personen und deren Taten ins Werk zu setzen, sondern wirksam werden zu lassen durch die Inszenierung und Vorführung von »good discipline […] clowdily enwrapped in Allegoricall devises«.20 Dass die Protagonisten jedes der sechs Bücher jeweils ›aristotelische‹ Tugenden21 verkörpern – Holinesse, Temperaunce, Chastity, Friendship, Justice, Courtesie –, markiert erst die offenkundigste Dimension dieses Grundprinzips. Als allegorisches ist aber sein Werk auch und zugleich an die Königin adressiert. Ihr ist es nicht nur zugeeignet, sondern der Dichter lässt sie auch auftreten – wiederum »shadow[ed]«,22 in unterschiedlichen allegorischen Gestalten (Belphoebe, Britomart, Gloriana…). Dabei bleibt nicht aus, dass Elisabeth I. in solchem Auftreten auch Verhaltens- und Handlungsvorschläge gemacht werden; ein in vielfacher Hinsicht riskantes Unterfangen. _____________ 19
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Möglicherweise setzt er darin wiederum Tendenzen fort, die sich – allerdings höchstens andeutungsweise – auch schon in Vergils Eklogen finden (cf. die ›messianische‹ Ekl. 4; zur Auslegungstradition vgl. die Kommentare in Vergil, Bucolica, und Vergil, Eclogues). Die zitierte Ausgabe druckt den Brief an Raleigh am Ende jedes Einzelbandes ab; vgl. Spenser, FQ 2, 224–228, hier: 225, 226. So im Brief an Raleigh: »[…] I labour to pourtraict in Arthure, before he was king, the image of a brave knight, perfected in the twelve private morall vertues, as Aristotle hath devised, the which is the purpose of these first twelve bookes […] So in the person of Prince Arthure I sette forth magnificence in particular, which vertue for that (according to Aristotle and the rest) it is the perfection of all the rest, and conteineth in it them all, therefore in the whole course I mention the deedes of Arthure applyable to that vertue, which I write of in that booke. But of the xii. other vertues, I make xii. other knights the patrones […]« (FQ 2, 226–227). Spensers programmatische Zuschreibung der Tugenden zu Aristoteles hat in der Forschung zu umfangreicher Diskussion Anlaß gegeben, da sich die Spenserschen Tugenden offenkundig so nicht in der Nikomachischen Ethik finden. Siehe zu den mutmaßlichen Quellen unter anderem die von A. C. Hamilton edierte Ausgabe des Textes (Spenser, The Faerie Qveene, »General Introduction«, 4–5) und die Zusammenfassung der Diskussion in Horton (1990), der auch die vielfach abgeleitete und vermittelte Aristoteles-Kenntnis Spensers unterstreicht: »Spenser’s literary-critical Aristotelianism was likely secondhand and, like his Aristotelian moral philosophy, adulterated by syncretists and systematizers.« (59). Ebd., 226.
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Es fragt sich, ob und wie diese Kombination von höfisch-heroischer Materie mit einem im Vorgängerwerk als pastoral markierten Verfahren mit seinen Implikationen von rustikaler humilitas (wie kokett auch immer), Kunstlosigkeit, Primitivität, Ursprünglichkeit gelingen kann. Und es zeigt sich, dass entgegen der Ankündigung im ersten Proem die Vergilische Hirtenflöte keineswegs gänzlich von den zum Kampfe rufenden Fanfaren abgelöst wird. Im Gesamtwerk erklingt sie an den unterschiedlichsten Stellen immer wieder – wohl weniger, weil der Dichter sich der selbstgewählten großen Aufgabe doch nicht gewachsen fühlte (»a farre unfitter taske«), als weil offenbar die Enttäuschungen, die der für das ehrgeizige Vorhaben gewählte neue Modus bereithält, noch bitterer sind als die des poetischen Hirtenlebens. Am bestürzendsten zeigt sich das im sechsten, dem letzten vollständigen Buch der Faerie Queene. Hier gerät ausgerechnet der Ritter der Courtesie, Calidore, anstatt seine höfische Quest ruhmreich zuendezubringen, in eine Schäferwelt, in der er sich nahezu verliert. Mehr noch: nicht nur für ihn selbst hat sein Versagen ungute Folgen, die ein überaus ungünstiges Licht auf die von ihm verkörperte Zentraltugend des Höfisch-Heroischen fallen lassen. Auch die pastorale Welt erfährt, ohne dass er es verhindern kann, ein verheerendes Ende. Der Schaden ist doppelt. Weder Hirten- noch Heldenleben führt hier zum Glück. Vor allem erscheinen sie in einer zentralen Episode nicht nur inkompatibel, sondern wechselseitig destruktiv: Auf dem der Venus heiligen Mount Acidale spielt ausgerechnet Colin Clout, aus dem Shepheardes Calender wohlbekannter Protagonist pastoraler Poesie und Autor-persona, den Grazien zu einem überirdisch schönen Ringtanz auf, der sich obendrein keineswegs um die Herrscherin von Faerie, sondern um seine Geliebte dreht. Aber der Moment himmlischer Harmonie wird von Ritter Calidore zerstört, der wie ein tölpelhafter, durch und durch unhöfischer Actaeon in die Szene hineinplatzt. Der Missklang, verursacht durch den Helden, dessen unglückseliges Fehlverhalten an die Stelle perfekten pastoralen Einklangs tritt, antizipiert die Katastrophe, in der die Pastoralwelt untergeht – wiewohl sie noch ein allerletztes Mal in den apokalyptischen Mutabilitie Cantos aufgerufen wird, die das ›unvollständige‹ siebente Buch23 bilden. Dort allerdings kehrt auch die Actaeon-Geschichte (mit anderen Protagonisten, aber ebenso fatalem Ausgang) wieder, und auch der amöne Ort, an dem sie sich zuträgt, wird ein weiteres Mal zerstört.24 Mindestens ein Kennzeichen der Poesie des »new Poete« in seinem Hauptwerk ist die latente und gegen Ende immer deutlicher zu Tage tretende Sprengkraft des minderen Genus. _____________ 23 24
Buch Sieben besteht aus nur wenigen Gesängen: den sog. Mutabilitie Cantos 6 und 7 und den lediglich zwei Stanzen des ausdrücklich als »vnperfite« bezeichneten Canto 8. Zu einer ausführlicheren Lektüre dieser Episoden siehe V. O. Lobsien (2012); zu den Mutabilitie Cantos vgl. auch V. O. Lobsien (2013). Die Groß-Parallelismen, die den Text in der hier angedeuteten Weise strukturieren, werden einläßlich untersucht in der klassischen Studie von Nohrnberg (1976).
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Helden- und Hirtenmodi vertragen einander anscheinend doch nicht so gut, wie Sidney meinte. Weil Rittern und Ritterinnen, mindestens frühneuzeitlichen, die pastorale Muße und die damit verbundene Anregung der Phantasie schlechter bekommt als Schäfern? Dafür spräche unter anderem die Imaginationskarikatur in der House-of-Alma-Episode in Buch Zwei.25 Oder vielleicht auch, weil die Überlegenheitsansprüche des Heroischen buchstäblich nicht so tief wurzeln wie die der ländlich-natürlichen Pastorale? Oder auch, weil die Neue Poesie und die ihr zugrundeliegende Imaginationskonzeption sich noch auf andere Weise legitimieren müssen als durch die einfache, additive Verklammerung des generisch Unverträglichen? Dieser Gedanke soll nun vor allem im Hinblick auf die Transformationen – und Kollisionen – antiker Philosopheme, die eine solche poetologische Selbstbegründung voraussetzt und ins Spiel bringt, in der Lektüre einer anderen Episode aus der Faerie Queene, die in Vorbereitung des Eklats auf Mount Acidale ebenfalls einen Venus-Ort zum Gegenstand hat, noch etwas weiter verfolgt werden.
3. Der Adonisgarten als Ort innovativer Imagination – wahre Heimat des »new Poete«? Der Adonisgarten, der in Canto 6 des Dritten Buchs beschrieben wird, ist ein Garten sui generis. Er ist kein Ort für Besucher, kein Lust- und kein Verführungsort, obwohl er über die Geschichte von Venus und Adonis an eine Verführung, mindestens an die Mythologie einer ungleichen und unglücklich endenden Liebe – und nicht zuletzt an deren pastorale Dimensionen – erinnert.26 Vielmehr ist er zunächst ein Ort des Ursprungs in einem offenkundigen Sinn. Er ist eingebettet in die genealogische Erzählung von Zeugung, Geburt und Aufwachsen der Zwillinge Belphoebe und Amoret. Er wird im unmittelbar vorausgehenden Canto aber auch eingeleitet durch die Schilderung von Belphoebes pastoral-sylvanem Wohnort (FQ 3.5.35; 39–40) und den Beginn von Timias’ unglücklicher Liebe zu ihr: Das Tableau, in dem Belphoebe sich in tiefem Mitleid über den »In his left thigh« (FQ 3.5.20, 7) schwer verwundeten Knappen von Prince Arthur beugt, ähnelt der Vorstellung der über ihren Adonis trauernden Venus.27 Der Garten ist also Teil eines heroischen Kontexts, dessen Exploration auch im nächsten Canto wieder aufgenommen wird; er bildet einen zentralen Ort in der Gesamtkomposition des Dritten Buchs, das von den Taten der (verkleideten) Ritterin _____________ 25
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Besonders prägnant in der imaginatio-Figur des Phantastes (aber siehe auch hierzu V. O. Lobsien [2013]); vergleichbar erscheint auch Phaedria auf ihrem Idle Lake, oder der leicht korrumpierbare Phaon. Ein Sujet, das auch Shakespeare, allerdings in weitgehender Verweigerung des Allegorischen, in einer 1194-zeiligen Dichtung aufgreifen wird (Venus and Adonis, in: The Complete Sonnets and Poems, 2002, 171–236). Zu Venus und Adonis siehe auch den Beitrag von Ursula Rombach in diesem Band. Zu dieser Korrespondenz vgl. auch Nohrnberg (1976), 597f. (zum Adonisgarten insgesamt vgl. bes. 502–568).
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Britomart berichtet und überdies im Untertitel beansprucht, eine allegorische »Legend […] of Chastity« zu bieten. Über die mythologischen Resonanzen der Verwandlung des unrettbar verblutenden Geliebten in eine Blume und über die Assoziation der Göttin mit Verlust, Tod und Transformation der Liebe, die damit in den Vordergrund treten, werden jedoch weder heroische Großtaten noch Aspekte tugendhafter Enthaltsamkeit thematisiert. Vielmehr werden auch die dunkleren Seiten der Venus aufgerufen. Diese tragen aber in den frühesten erhaltenen Beispielen der antiken Pastoraldichtung zentral zur Selbstbegründung des Modus als einer Dichtung des Ursprungs bei. So etwa in der dem Bion zugeschriebenen »Klage um Adonis«, die Teil des kultischen Festgesangs bei der alljährlichen Adonisfeier gewesen sein könnte; ebenso in Theokrits Idyll XV, das in einem Mimos darstellt, wie alexandrinische Frauen zum Adonisfest aufbrechen, und ein Klagelied um Adonis zitiert, das bereits viele der Motive enthält, die bei Spenser wiederkehren, so die Assoziation mit der Fruchtbarkeit des Gartens, Anspielungen auf Adonis’ Rolle als Mittler zwischen Ober- und Unterwelt oder auch auf seine jährliche Wiederauferstehung. Den englischen Humanisten waren Aspekte der antiken Adonisfeierlichkeiten mindestens redensartlich vertraut: Erasmus führt Adonidis horti bereits in der ersten Ausgabe seiner Adagiorum collectanea (Paris 1500) mit; der Topos kommt auch bereits in früheren Parömiensammlungen vor.28 Erasmus’ Archäologie des Gemeinplatzes hebt indes – über Hinweise auf Pausanias, Platon, Plutarch und Theokrit – weniger die Fertilitätsassoziationen als gerade die Trivialität, Kurzlebigkeit und Vergänglichkeit der in wenigen Tagen zur Blüte gelangenden antiken Adonisgärtchen hervor und trägt ihm so eine weitere Ambiguität ein. Spenser wird die vanitas-Topik, die sich in diesem Zusammenhang nahelegt, in seiner Version allerdings nicht weiter verfolgen. Eminent wichtig und im Vergleich zu dieser humanistischen Aufladung des Topos ungleich relevanter für die zu besprechende Episode der Faerie Queene erscheint die Verquickung von Liebe, Tod und Dichtung aber im Hinblick auf die Partnerin des Adonis im ersten Idyll des Theokrit, in dem unter anderem der Liebestod des berühmten Hirten und unvergleichlichen Sängers Daphnis besungen wird.29 Ihm eifert aller Hirtengesang _____________ 28
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Siehe Erasmus von Rotterdam, The Adages of Erasmus, hier: 31–32. Gerade der redensartlich anmutende Plural, »Gardins of Adonis«, wird auch von Spenser im gereimten Argument, das jedem Canto vorausgeschickt wird und ihn zusammenfaßt, verwendet und scheint die topische Dimension zu unterstreichen; so zu Canto 6: »The birth of fayre Belphoebe and | Of Amorett is told. | The Gardins of Adonis fraught | With pleasures manifold.« Vgl. hierzu – und zu der Schwierigkeit, Sterben und Tod des Daphnis zu deuten – Hunter (1999): »The nature of Daphnis’ death […] remains a tantalising puzzle.« (66). Hunters Kommentar legt im einzelnen dar, weshalb sich darüber, warum und woran der unübertreffliche Sänger zugrundegeht, aus dem Text keine widerspruchsfreie Auskunft gewinnen läßt. Daphnis leistet, so scheint es, Aphrodite und dem Eros trotzigen und erbitterten Widerstand; er bietet insbesondere der Aphrodite die Stirn, indem er sie an ihre Liebe zu Adonis erinnert, die mit dem Tod des Geliebten endete; aber er selbst scheint ebenfalls in Liebesdingen ungeschickt und unglücklich – so sehr, dass sich seine »bittere Liebe« nur im Tod vollenden läßt (Zeile 93; s. Theokrit, Gedichte, 14–15). Mein besonderer Dank gilt Thomas Poiss (SFB-Teilprojekt B7, »Über-
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nach. Zugleich wird damit der Anfang pastoraler Poesie mit einem spektakulären Tod verknüpft, in den die Göttin und ihr Sohn Eros unklar aber unbestreitbar verwickelt sind. Auf diese Weise tun sich erste Hintergrunddimensionen des Adonisgartens auf. Sie erscheinen pastoral-literarisch, führen autorisierende und potentiell metapoetische Elemente mit, halten aber Suggestionen von dauerhafter Fruchtbarkeit und Vergänglichkeit in mehrdeutiger Balance. Sie vertiefen sich bald durch philosophisch-metaphysische Aufladungen. Denn dies ist auch ein Ursprungsort im emphatischen Sinn eines ›ersten‹ Orts: »[…] there is the first seminary | Of all things, that are borne to live and dye, | According to their kynds.« (FQ 3.6.30, 4– 6). Hier beginnt und endet das Leben aller Lebewesen entsprechend ihrer jeweiligen Spezies. Der Garten ist ein Versuch, dieses Mysterium, zugleich das philosophische Problem der Lebendigkeit, vielleicht auch der Unsterblichkeit, allegorisch zu präsentieren. Das Hauptinteresse gilt dabei den Übergängigkeiten zwischen Diesseits und Jenseits, den bio-logischen Verwandlungen, die sich darin vollziehen, und der Vorstellung endloser Generativität, die sich damit einstellt. Der Garden of Adonis ist paradiesisch; er ist Aphrodites »joyous Paradize, | Wher most she wonnes, when she on earth does dwell« (FQ 3.6.29, 1–2). Dieses irdische Paradies wird als von der Natur geschaffenes vorgestellt: »So faire a place, as Nature can devize« (FQ 3.6.29, 3). Wo genau in Griechenland oder auf Zypern dieser paradiesische Ort liegt, weiß der Erzähler nicht anzugeben, aber er weiß, dass er alle anderen »pleasant places« übertrifft (FQ 3.6.29, 6). Diese Vortrefflichkeit ist wieder markiert durch gehäufte pastoral-amöne Topik versetzt mit Elementen, die aus Beschreibungen des Goldenen Zeitalters geläufig sind (natürliche Fülle und Überfluss, fortwährender Frühling, Gleichzeitigkeit von Blüte und Ernte, freie Liebe ohne Gewalt, Zwist oder Eifersucht bei Mensch und Tier, schattige Haine, Blumenpracht und Vogelgesang):30 »For here all plenty, and all pleasure flowes« (FQ 3.6.41, 4). Alles erscheint hier auf Lebendigkeit und Fortpflanzung angelegt, durchaus mit hedonistischen Aspekten (»Franckly each Paramor his leman knowes«, FQ 3.6.41, 7). Diese prokreative Aktivität vollzieht sich überall im Garten; sie konzentriert sich jedoch an Peripherie und Zentrum dieses offenbar zirkulären Orts, und dort realisiert sie sich auf je unterschiedliche Weise und in unterschiedlicher allegorischer Wendung. Die Vieldeutigkeit, die daraus resultiert, ist indes nicht auf Eindeutigkeit reduzierbar. Über die Grenze des Gartens wacht »Genius«, eine Art Janus, mit einer »double nature« ausgestattet. Die Tore, die er hütet, sind ebenfalls »double gates«, die gleichzeitig Einlass und Ausgang gewähren (FQ 3.6.31–32). Tag und Nacht umdrängen ihn »A thousand thousand naked babes«, die geboren werden wollen und die er, nachdem er sie mit Leibern bekleidet hat, in ihr sterbliches Leben entlässt. Nach ihrem Tod kehren sie wieder in den Garten zurück, werden _____________ 30
setzung der Antike«), der mir die Nuancierungen der Unbestimmtheit in Theokrits Gedicht mit philologischer Eindringlichkeit erneut vor Augen geführt hat. Vgl. FQ 3.6.41–42.
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dort erneut eingepflanzt und wachsen heran, bis es an der Zeit ist, dass sie Genius einmal mehr »into the chaungefull world agayne« entsendet (FQ 3.6.32–33). Das Leben wird hier als Kreislauf vorgestellt – »So like a wheele arownd they ronne from old to new« (FQ 3.6.33, 9). Für die Allegorese ergeben sich gerade aus der imaginativen Stimmigkeit dieser Vorstellung metaphysische Schwierigkeiten. Die Permanenz des von Genius in Gang gehaltenen Kreislaufs beruht nicht zuletzt darauf, dass, wenn wir die »naked babes« als Seelen verstehen, diese im Laufe der Äonen durch eine Vielzahl unterschiedlicher Körperlichkeiten wandern können. Ganz beliebig scheinen diese allerdings nicht zu sein; Genius stattet die Seelen teils nach Lust und Laune, teils nach Vorschrift mit Materie (»sinfull mire«, FQ 3.6.32, 7) aus. Zudem sind es nicht nur die Seelen, sondern auch die Leiber und ihre Formen, die in den Beeten des Gartens herangezogen werden: »Infinite shapes of creatures there are bred« (FQ 3.6.35, 1). Aber vielleicht ist das noch zu dualistisch gedacht. In der Schilderung vorgeburtlicher und postmortaler Existenz ist, versucht man, die Aspekte zusammenzusehen, eine Wechselseitigkeit zwischen Seelischem und Leiblichem impliziert. Sie sorgt dafür, dass zwischen beiden eine Entsprechung besteht. Es gibt zwar ausreichend Materie (»matter«, FQ 3.6.37, 2), die Stofflichkeit, mit der Genius die »babes« bekleidet; ja, dieses Ungeformte erscheint unerschöpflich: »An huge eternal Chaos, which supplyes | The substaunces of natures fruitfull progenyes« (FQ 3.6.36, 8–9). Aber es scheint keine körperlosen Seelen zu geben; sie bedürfen wohl des Stoffes, um sich zu realisieren. Das klingt nun gut hylemorphistisch; mit den entsprechenden Konsequenzen: Die einzelnen Wesen entstehen und vergehen, während ihre Art (»kynd«) und der Stoff, aus dem ihre Körperlichkeit besteht, bleibt. Ist hier von unsterblichen Seelen also gar keine Rede? Den Formen in diesem zunächst durchaus aristotelisch31 anmutenden Garten wird auf den zweiten Blick doch einiges mehr zugetraut, als sie aus hylemorphistischer Sicht eigentlich bräuchten. So sind nur einige von ihnen für vernunftbegabte Seelen geeignet: »Some fitt for reasonable sowles t’indew« (FQ 3.6.35, 5). Das beinhaltet wohl umgekehrt auch eine formative Energie, mit der sich die menschliche Seele ihrem Leib ›einwohnt‹. Zwar wachsen auch die Formen nach Arten geordnet heran (»every sort is in a sondry bed«, FQ 3.6.35, 3), aber es sind hier durchaus auch neue, unbekannte Arten vorgesehen (»uncouth formes, which none yet ever knew«, FQ 3.6.35, 2). Vor allem aber wird spätestens hier deutlich, dass diese Passagen nicht nur nicht restlos in philosophische Stimmigkeit übersetzbar sind, sondern überdies Widersprüche grundsätzlicher Art mitführen. In der Forschung hat man argumentiert, dass es die »Keimkräfte« aller Dinge und Lebewesen (griech.: logoi spermatikoi, lat.: rationes seminales) sind, deren Heranwachsen hier gezeigt wird.32 Das macht die zugrundeliegende metaphysische Konzeption und die antiken Modelle, die hier gegebenenfalls herangezogen _____________ 31 32
Vgl. hierzu auch Horton (1990) und Aristoteles’ Physik, Buch I, Kapitel 9 (191b 35–192b 1); der Hinweis auf die Physik bei Horton, 59. Siehe Nohrnberg (1976), 519–554; er schließt sich hier Hankins (1971) und Ellrodt (1960) an.
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werden, allerdings nicht viel eindeutiger. Denn die Keimkräfte werden von den Stoikern als materielle Kräfte bestimmt, durch die die Weltvernunft die Dinge gestaltet, von Plotin und seinen Nachfolgern aber als primär immateriell und psychisch. James Nohrnberg schlägt sich in seiner großen Spenser-Studie mit guten Gründen und zahlreichen Belegen vor allem auch aus den Werken der Renaissance-Neuplatoniker auf die Seite derer, die die Keimkräfte an dieser Stelle in erster Linie neuplatonisch, also als bildende Form, unstoffliche Gestalt oder formatives Prinzip verstanden wissen wollen. Sie berufen sich dabei unter anderem auf Formulierungen aus Plotins Enneade V 9 (6 und 9), in denen die Keimkräfte ›ganz als Form‹ bestimmt werden.33 Auch Enneade III 8, 1–5 könnte hier einschlägig erscheinen: Wie bei Spenser der Garten auf das Wort des Allmächtigen hin alles Lebendige wachsen und sich vermehren lässt,34 so wird dort der Natur produktives Schaffen, poiein, zugeschrieben. Sie wird verstanden als eine Wirkkraft, die aus der eigenen Lebendigkeit Lebendiges »glanzvoll und erfreulich« hervorbringt und es, indem sie ihm logoi spermatikoi mitteilt, rational strukturiert.35 Man könnte nun meinen, dass das neuplatonische Potential dieser Zeilen für einen unwiderstehlichen ›Zug zur Höhe‹, das erwartbare Aufstiegspathos und eine _____________ 33
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Dabei sollte sogleich hervorgehoben werden, dass in Plotins Denken keineswegs einem schlichten Körper-Seele-Dualismus das Wort geredet wird. Beide, Körper und Seele, besitzen für Plotin zwar unterschiedlichen Seinsrang, aber sie sind einander nicht fremd, sondern affin. Vielmehr werden sie, nicht viel anders als bei Spenser, auf suggestive Weise als einander benachbart vorgestellt; der eine gleichsam aufnahmelustig für die andere; einerseits fähig und willens, beseelt zu werden, geeignet zur Einwohnung andererseits. Das Verhältnis ist eines der Korrespondenz und der gegenseitigen Modellierung (vgl. Enn. VI 4, 15, auch III 8, 1–5). Dieses Spielen zwischen Materiellem und Immateriellen – bei einer unbestreitbaren Privilegierung des Immateriellen – scheint geradezu ein Merkmal der neuplatonischen Auffassung der Keim- oder Bildekräfte zu sein, und in Spensers Garten der Lebewesen lassen sich neben und im augenscheinlichen Hylemorphismus Spuren dieser Vorstellung eines gleichsam naturwüchsigen fashioning durch die Energien des Seelischen beobachten. – Die Enneaden werden zitiert nach Plotin, Ausgewählte Schriften. Vgl. FQ 3.6.34, 2–6: »[…] of their owne accord | All things, as they created were, doe grow, | And yet remember well the mighty word, | Which first was spoken by th’Almighty lord, | That bad them to increase and multiply«. Sie schafft kraft der ihr eigenen Rationalität: »[…] das, was in den Lebewesen und Pflanzen produktiv ist, [sind] die rationalen Strukturen […]; d.h. daß die Natur eine rationale Struktur ist, die als ihr Erzeugnis eine weitere rationale Struktur produziert, welche dem ihr Zugrundeliegenden zwar etwas von sich mitteilt, dabei aber selbst [unverändert] bleibt.« (Enn. III 8, 2). Diese rationalen Strukturen sind die logoi spermatikoi; die Natur selbst ist ebenfalls eine große rationale Struktur, produktive Wirkkraft, »eine bestimmte Art Leben« und als solche ihrer selbst bewußt: »Nun ist sie aber Schauen und Gegenstand des Schauens, denn sie ist rationale Struktur. Es ergibt sich also: Dadurch, daß sie Schauen, Gegenstand des Schauens und rationale Struktur ist, dadurch ist sie produktiv, insofern sie das Genannte ist. Folglich hat sich für uns der Schaffensprozeß als Schau herausgestellt; denn er ist das fertige Produkt einer Schau, und zwar einer Schau, die [unverändert] bleibt und nichts anderes praktisch tut, als daß sie dadurch, daß sie Schau ist, produktiv schafft.« (Enn. III 8, 3). Das, was sie zustande bringt, ist das von ihr Geschaute; es ist »glanzvoll und erfreulich« (Enn. III 8, 4).
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entsprechende Dominanz des Geistigen sorgte. Das ist jedoch nicht der Fall. Erst am Schluss seines Epos wird Spenser diese Implikationen der hier undeutlich aufgerufenen Vorstellung einer schöpferischen Natur weiter entfalten und ihre neuplatonischen Dimensionen ausdrücklich gegen die Zumutungen einer auf Dauer gestellten Veränderlichkeit (Mutabilitie) tiefer ausloten. Mischte sich im Adonisgarten schon in der Beschreibung seiner peripheren Bereiche aristotelischhylemorphistische Metaphysik mit pythagoreischen Seelenwanderungs-Ideen,36 so treten in den nächsten Stanzen weitere, deutlich materialistische Suggestionen hinzu. Denn die endlose Fülle der Gestalten, die die Geschöpfe annehmen können, hat ihren Grund offenbar ebensosehr in ›poietischer‹ Naturwüchsigkeit wie in der Unerschöpflichkeit des Stofflichen und in der Ewigkeit der formlosen und ungeordneten Materie, die in der ›Gebärmutter‹ der Welt vorgehalten wird: For in the wide wombe of the world there lyes, In hatefull darknes and in deepe horrore, An huge eternal Chaos, which supplyes The substaunces of natures fruitfull progenyes. All things from thence doe their first being fetch, And borrow matter, whereof they are made, Which whenas forme and feature it does ketch, Becomes a body, and doth then invade The state of life, out of the griesly shade. That substaunce is eterne, and bideth so, Ne when the life decayes, and forme does fade, Doth it consume, and into nothing goe, But chaunged is, and often altred to and froe. (FQ 3.6.36, 6–37, 9)
Erschienen eben noch die nach leiblicher Gestalt verlangenden und formativen Seelen als das im Wandel Konstante, so ist es nun die naturalistisch-epikureisch schillernde Materie, die überdauert, während sich ihre Gestalten fortwährend verändern und dem Werden und Vergehen unterworfen sind. Daran ändert auch _____________ 36
Auch diese sind allerdings neuplatonisch lesbar. Bei Macrobius, dessen Commentarii in Somnium Scipionis als eine der wichtigsten Vermittlungsinstanzen des antiken Neuplatonismus für den lateinischen Westen gelten, finden sich folgende Beschreibungen einer allmählichen (vorgeburtlichen) Einkörperung der Seelen in einem Durchgang durch die planetarischen Sphären (der allerdings, anders als bei Spenser, als Abstieg vorgestellt wird): »[…] the soul that from its lofty pinnacle of perpetual radiance disdains to grasp after a body and this thing that we on earth call life, but yet allows a secret yearning for it to creep into its thoughts, gradually slips down to the lower realms because of the very weight of its earthy thoughts. It does not suddenly assume a defiled body out of a state of complete incorporeality, but, gradually sustaining imperceptible losses and departing farther from its simple and absolutely pure state, it swells out with certain increases of a planetary body: in each of the spheres that lie below the sky it puts on another ethereal envelopment, so that by these steps it is gradually prepared for assuming this earthy dress. Thus by as many deaths as it passes through spheres, it reaches the stage which on earth is called life.« (I.11, 11–12 in: Macrobius, Commentary on the Dream of Scipio, 133; vgl. auch ebd. I. 12, 13–15).
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die Terminologie von Form und Substanz nichts, die gleich darauf wieder auf das generative Geschehen projiziert wird (»The substaunce is not chaungd, nor altered, | But th’only forme and outward fashion;« FQ 3.6.38, 1–2). Aus dieser Sicht erscheint der Stoff ewig, die Form dem Verfall und der Alterierung geweiht (»For formes are variable and decay, | By course of kynde, […]«, FQ 3.6.38, 6– 79). Die irritierende Vielfalt der aufgerufenen Aspekte und die systematische Unvereinbarkeit der Bruchteile metaphysischer Fundamente, auf denen die Konzeption des Garden of Adonis instabil zu ruhen scheint, nehmen im Fortgang des Textes eher noch zu. Ein Resultat dieser Veruneindeutigung ist eine beunruhigende ideologische Offenheit. Im Zentrum des Gartens befindet sich auf dem mit wenig subtiler Suggestivität benannten ›Venusberg‹ das blumenumrankte Heiligtum, in dem sich Venus der Liebe ihres Adonis erfreut. Durch die vorausgegangene allegorisierende Betrachtung von Werden und Vergehen, von pränataler und postmortaler Erneuerung im endlosen, durch Genius regulierten Kreislauf des Lebens ist die nun anschließende Rede von der Liebe der Göttin zu ihrem gestorbenen, gleichwohl wieder lebenden, als ewig junger Gott wiederkehrenden Gefährten vorbereitet. Dabei spart Spenser auch hier ein emphatisches, theologisch gehaltvolles Auferstehungskonzept zugunsten einer pagan-mythischen Figur zyklischer Wiederkehr aus. Adonis ist kein Christus, sondern der junge Gott des antiken Adoniskults, dessen Leben sich alljährlich mit dem Leben der Natur und ebenso zwangsläufig wie dieses erneuert. Aber er bietet nun eine Formel an, die ganz am Ende der Faerie Queene in den apokalyptischen Cantos of Mutabilitie wiederkehren wird.37 So heißt es von Adonis, seinem Fortund Überleben am Mittelpunkt des Gartens: And sooth it seemes they say: for he may not For ever dye, and ever buried bee In balefull night, where all thinges are forgot; All be he subject to mortalitie, Yet is eterne in mutabilitie, And by succession made perpetuall, Transformed oft, and chaunged diverslie: For him the Father of all formes they call; Therfore needs mote he live, that living gives to all. (FQ 3.6.47)
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So in den Worten der rebellischen Titanin Mutabilitie – »[…] all that moveth, doth mutation love« (FQ 7.7.55, 8) – und als Zugeständnis und gleichsam vorletztes Wort des Dichters: »For, all that moveth, doth in Change delight« (FQ 7.8.2, 6). Und auch Nature, die als Richterin über die Ansprüche von Change auftritt, scheint ihr zunächst zuzustimmen: »[…] all things stedfastnes doe hate | And changed be […]« (FQ 7.7.58, 2–3). Aber das ist eben nicht das letzte Wort; vielmehr wird ein Aufstieg zur Vollkommenheit durch Wandel postuliert und damit zuletzt ein neuplatonisch-christliches Modell ins Recht gesetzt. Zu den Einzelheiten der in den Mutabilitie Cantos vorgeschlagenen Lösung vgl. V. O. Lobsien (2013).
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Der Unterschied von Leben und Tod ist damit nicht beseitigt, aber ihr Gegensatz ist aufgehoben in der Vorstellung ihres auf Dauer gestellten Wechsels. ›Ewig‹ erscheinen hier Transformation und Wandel; die Permanenz ist Resultat des Wandels, zugleich bringt das auf Dauer sich wandelnde Leben des Adonis fortwährenden Wandel hervor. Nicht nur ist die Materie formbar, der Stoff ›von Natur aus‹ zur Form geneigt, sondern dieser Prozess unausgesetzter Alterierung ist das Wesentliche und das in seiner Dynamik bleibende Prinzip des Lebens. Sein Prinzip ist Adonis. Als »Father of all formes« ist er eine in seiner Sterblichkeit unsterbliche Gottheit, deren Prokreativität in überdauernder Transformativität besteht. Selbst fortgesetztem Wandel unterworfen, besetzt er hier die Stelle der poietisch schaffenden Natur. Als Lebensspender »eterne in mutabilitie« verkörpert er zugleich das Prinzip des Gartens als seminarium mundi, »first seminary | Of all things«, Ursprungsort aller Kreaturen und Zielort nach ihrem Tod. Er erscheint so im Zentrum des Gartens in unauflöslicher geistig-materieller, seelischstofflicher, transzendent-immanenter Doppeltheit. Die paradoxe Formel »eterne in mutabilitie« bringt zeitlich Ewigkeit und Vergänglichkeit, räumlich Entgrenzung und Begrenzung, metaphysisch Einheit und Vielheit, Einförmigkeit und Vielgestaltigkeit, Idealität und Stofflichkeit, Jenseitiges und Diesseitiges auf einen Punkt – mindestens proklamiert sie ein solches Übereinkommen. Damit entstehen jedoch zahlreiche weitere Paradoxien. Wie der gesamte Garden of Adonis ist auch dieser Bedeutungspunkt semantisch völlig überdeterminiert, zudem durchzogen von naturphilosophischen Widersprüchlichkeiten: Hier wird Adonis als ›Vater aller Formen‹ angesprochen, während zu Anfang dieses Cantos das Haus der Venus als ihr Ursprung identifiziert worden war (»house of goodly formes and faire aspects | Whence all the world derives the glorious | Features of beautie, and all shapes select«, FQ 3.6.12, 2–4). Wie also verhalten sich (mythologisch vorgegebene) Adonische Sterilität und ›Venerische‹ Fruchtbarkeit zueinander? Hier wird Adonis zur Verkörperung eines Prinzips ewiger Transformativität erklärt, aber eben noch hatten wir zur Kenntnis genommen, der Stoff solcher Metamorphose sei ewig. Zwar lebt Adonis hier nun in ewiger Lust (»Joying his goddesse, and of her enjoyd«, FQ 3.6.48, 2), aber der Eber, der ihn einst tödlich verletzte, lebt ebenfalls noch: Er ist von Venus in einer Felsenhöhle direkt unter dem Berg eingesperrt worden und bleibt so mitten in diesem Lustgarten.38 Zuvor hatten wir erfahren, dass Genius als Hüter der Schwelle zum _____________ 38
Nicht nur die Beteuerung, niemand könne das gefangene Tier befreien, ruft sofort die Vorstellung eben dieser Möglichkeit auf den Plan, befände sie sich doch völlig in Übereinstimmung mit dem Schicksal einer überraschend großen Zahl anderer Monstren in Spensers Epos (das prominenteste unter ihnen sicher das Blatant Beast, das die Helden der letzten Bücher vergeblich verfolgen). Diese können ebenfalls nur vorübergehend unschädlich gemacht werden und tauchen wiederholt zur Unzeit wieder auf. Zudem legt eine Unklarheit in der pronominalen Referenz vom Ende einer zum Beginn der nächsten Strophe zusätzlichen Nachdruck auf die irritierende gleichzeitige Gegenwart des Venus-Geliebten und seines tödlichen Feindes: »In a strong rocky Cave, which is they say, | Hewen underneath that Mount, that none him losen may. || There now
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Garten dafür sorgt, dass die nach Geborenwerden verlangenden Wesen mit entsprechender Form bekleidet werden, nun erscheint Adonis als Formgeber. Wie verhalten sich die beiden Instanzen zueinander? Verwaltet der eine den Formenschatz, den der andere austeilt? Gewiss ist dies ein Schlüsselort. Aber er erschließt potentiell zuviel. Könnten genau darin seine ästhetische Vollkommenheit und seine imaginationshistorische Brisanz liegen? Ist dies ein Merkmal der Neuen Poesie? Die Grundfigur des Adonisgartens ist die Figur der Allegorie: ein zeigendes Verbergen und ein verbergendes Zeigen. Aber was genau wird in dieser Allegorie des Lebensbeginns gezeigt, was verborgen? Die sichtbarmachende Verhüllung erscheint hier als eine Darstellungsstrategie, bei der allegorische Transparenz in eine überbordende, widersprüchliche, nicht genau bestimmbare Vieldeutigkeit umschlägt. Die semantische plenitudo dieses Gartens ist nicht zu kontrollieren, ohne dass man sie schmälerte. Damit aber handelte man dann wiederum seinem Prinzip zuwider. Es nimmt auch eigentlich nicht so sehr die Verrätselung zu; eine völlig änigmatische Allegorie wäre ja eben keine perfekte und könnte den Vollkommenheitsansprüchen gerade dieses Autors kaum genügen. Vielmehr scheint es eher die offen zutageliegende Überfülle an metaphysisch aufgeladenen Reichtümern, ihre Anhäufung systematisch heterogener Topoi zu sein, die die literarische Perfektion dieser Episode ausmacht. Deren ideologische copia erzeugt weder den Eindruck obskurer Hyperkomplexität, noch ruft sie den Verdacht wahnhafter, melancholiegefährdeter Überflutung einer müßigen Imagination nach dem Muster des in seiner Kammer eingeschlossenen Phantastes auf den Plan.39 Sie bringt einen Exzess an ›guten‹, gehaltvollen Deutungsmöglichkeiten zur Geltung – allerdings mit einer philosophisch wie ästhetisch einigermaßen unorthodoxen Streuwirkung. Didaktisch lässt sich allegorische Dichtung dieser Art nicht mehr einzäunen. Sie führt in unwegsames Gelände. Es dürfte auch schwerlich gelingen, sie politisch oder heroisch-exemplarisch nutzbar zu machen. Mindestens hier und dann erneut am Schluss des Spenserschen Epos spielt zudem der pastorale Modus, der stärker auf Kontemplation und Reflexion als auf praktisches (geschweige denn heldenhaftes) Handeln setzt, nochmals seine Überlegenheit aus. Im Kontext des Heroischen werden wiederholt Orte angelegt – und der Adonisgarten ist nur einer von ihnen –, von denen aus sich eine Perspektive auf die langwierigen Handlungsbögen des Heldischen gewinnen lässt. Damit konstituiert sich der Text als Imaginationsraum, und das heißt auch: als Raum einer wechselseitigen Beobachtung vermeintlich eindeutiger Setzungen und ihrer semantischen Anreicherung. Kann aber eines aus der Sicht des anderen gesehen werden, dann werden auf diese Weise auch dessen Geltungsansprüche potentiell relativiert. Aus genau diesem ebenso konfusen wie fruchtbaren Zwischenraum, in dem die Bedeutungen sich vervielfältigen und gleichsam wuchern, erwächst, so _____________ 39
he [ – der Eber? Adonis?] lives in everlasting joy | With many of the Gods in company« (FQ 3.6.48, 8–49, 2; Hervorh. V. O. Lobsien). Vgl. FQ 2.9.49–52.
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scheint es am Ende der nach Innovativität fragenden Lektüre, die Neue Poesie. Vor allem Buch Sechs wird die hier schon sich andeutenden Möglichkeiten einer ›Pastoralisierung des Heroischen‹ noch weiter ausloten. Aber schon im Adonisgarten bringt Spensers Dichtung die generischen Modi in Spannung und erzeugt neben zahlreichen Schwierigkeiten produktive Kontradiktionen. Sie erweist sich damit als eine, die nicht so sehr Antworten auf außertextuell drängende Probleme – Heiratspolitik der Königin, Beziehungen zu den kontinentalen, insbesondere römisch-katholischen, Staaten, Kolonialpolitik in Irland, Konfessionalisierung, Bildung und Verhalten der Eliten, usw. – bereithält, sondern Fragen sehr grundsätzlicher Art aufgibt. Diese sind kaum abweisbar, wenn man versucht, den philosophischideologischen Spuren, die der Text auslegt, nachzugehen und sie abschließend nochmals zusammenzusehen. Dabei überrascht vor allem die Unabgestimmtheit der antiken Bestände. So erschien das Tun sowohl des Adonis (»eterne in mutabilitie«) als auch des Genius, der den abertausenden »babes« ununterbrochen die ihnen gemäße Leiblichkeit anlegt und die abgelebten Greise wieder in den Garten einlässt, einerseits gut hylemorphistisch lesbar. Auf der anderen Seite stand aber der Annahme einer ewigen, alles überdauernden Materie die Vorstellung einer poietischen, dynamisch formativen, rationale Strukturen hervorbringenden, dabei Ausgang und Rückkehr befördernden Natur entgegen, die in der Lage ist, den ewigen Wechsel zu akkommodieren, ja zum immer Besseren zu führen. Diese eher neuplatonisch anmutende Naturvorstellung scheint vorwegzunehmen, mindestens zu beginnen, was Spenser in der massiven Allegorisierung von »Dame Nature« in den Mutabilitie Cantos konsequent zuendeführt. Neben dieser ideologischen Großkonkurrenz aristotelischer und platonischer Modelle konnten wir auch eine gleichzeitige Präsenz stoischer und epikureischer Momente feststellen. Dieses Nebeneinander von Unvereinbarem auf der Ebene der Implikationen ergibt sich nicht zuletzt daraus, dass der Text nur einzelne Aspekte aus den ins Spiel gebrachten Systemen auswählt und diese mit anderen rekombiniert. Die Streuwirkung solcher Reduktion gepaart mit Reorganisation hat allerdings zur Voraussetzung, dass wir nicht nur die selegierten Elemente wahrnehmen, sondern uns (in Imitation des zeitgenössischen gelehrten Lesers) auch an ihre ursprüngliche Einbettung, damit an ihre systematische Tragweite erinnern lassen. Erst dann kommen sich die Modelle auch prinzipiell ins Gehege; dann beginnen die semantischen und propositionalen Kollisionen Funken zu sprühen. Auf der Ebene des Vorgestellten bleibt das Ganze ungleich konsistenter, wiewohl auch nicht gänzlich widerspruchsfrei. Topologisch erscheint der Garten nicht nur möglich, sondern auch schön und interessant; sowohl die Vorstellung eines Ein- und Ausgang regelnden Genius als auch die eines auf Dauer gestellten Liebesverhältnisses von Venus und Adonis sind auf den ersten Blick nicht unplausibel. Als erster Ort, als Produkt einer Imagination des Anfangs und des wiederkehrend neuen Lebens, eines natürlichen Hervorgehens und Vergehens, als
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Darstellung eines überaus fruchtbaren Ortes im pastoralen Modus ist der Garten in seinen großen Zügen durchaus stimmig. Er gewinnt zusätzliche, genuin poetische Konsistenz am Schluss des Epos; wenn er sich mit den Mutabilitie Cantos zu einem großen Parallelismus zusammenschließt, lassen sich diese letzten Strophen doch als Imaginationen des Endes, der Vervollkommnung und des letztgültigen Urteils einer metapoetisch überhöhten Natur verstehen. Im Vergleich mit den Mutabilitie Cantos ist der Adonisgarten allerdings weniger offenkundig selbstreflexiv. Erst der Versuch der Allegorese, zu dem er anstiftet und ohne den er ja auch hermetisch bleiben muss, führt in das Gestrüpp seiner philosophischen und poetologischen Bedeutungen. So bleibt als zentraler Effekt und Ergebnis der transformativen Imagination, die hier am Werk ist, der Eindruck eines Zuwenig und eines Zuviel – zu wenig an poetischer Autoreferentialität, zu viel an heterogenem philosophischen Gepäck. Der Garden of Adonis lässt sich als Allegorie primärer Fülle lesen, seine kopiose Ästhetik als Einlösung der im Shepheardes Calender in Aussicht gestellten concordia discors, mit dem Versprechen weiterer Wandelbarkeit, aber vor allem begleitet von der Frage nach dem Grund einer Einheit, in die sich seine Vielstimmigkeit einfalten ließe. Verfolgt man die Spuren weiter, die er auf der Ebene des Gesagten legt, dann verstrickt man sich auf der Ebene des potentiell Gemeinten in Gegensätzen und Kontradiktionen, die nicht aufgehoben werden. Der Garten ist also nicht nur ein poetischer Raum, in dem bereits Gedachtes und Gesagtes widergespiegelt würden. Vielmehr bildet er einen Imaginationsraum. Sein Betreten führt vor Ungelöstes und in Bereiche des nicht Ausgemachten. Mehr noch: Seine widersprüchliche Vielheit ist geradezu eine Einladung zur Spekulation über deren mögliche Einheit und den im Text nicht angegebenen Ort eines nur spekulativ erreichbaren Punktes, an dem die Gegensätze zusammenfallen. Aber er nötigt auch nicht zu einer ›cusanischen‹ Lektüre.40 Metaphysisch wie poetologisch bleibt er offen. Gelesen als Allegorie einer allelopoetischen Imagination, kann der Garten in der Tat als Programm unendlicher Alterierung erscheinen – »eterne in mutabilitie«. Aber auch diese Auslegung ist nicht zwingend. Die Suggestivität der Adonisformel ist eben erst der Anfang einer poetischen Figur, deren Ende noch aussteht und die erst am Schluss des Werks die Gestalt eines letzter Vollkommenheit zustrebenden Wandels gewinnt. Hier gilt es also zunächst, diese imaginative Matrix zu beschreiben, ihre Diskrepanzen als Aufgaben für die weitere Lektüre zu registrieren und in ihrer Potentialität wahrzunehmen. Spensers Projekt einer Neuen Poesie offeriert uns im Adonisgarten den poetologisch aufladbaren Entwurf eines antik unterfütterten seminarium mundi. Das kann als Saatbeet des Neuen erscheinen. In den Optionen, die dieser Entwurf eröffnet, in der Spannung, in der er sie belässt, und in der Radikalität, mit der an dieser Stelle die Befriedigung und Bestimmtheit eines Abschlusses vorenthalten werden, mag diese Neue Poesie innovativer erscheinen, _____________ 40
Der Gedanke an Nicolaus Cusanus als Patron Spenserscher Ästhetik ist durchaus nicht abwegig; vgl. Levao (1990); zur coincidentia oppositorum auch Leinkauf (2006), bes. 89–102.
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als wir das für die Frühe Neuzeit anzunehmen gewohnt sind. Mindestens ist sie unübersehbar Produkt einer Imagination, deren schöpferische Energien das Zerrbild des Phantastes in seinem Überflutetwerden von schlechter Bildlichkeit weit überschießen. Gleichwohl lässt sie uns zuletzt doch in eben dem Zwiespalt, den auch Philip Sidneys Defence of Poetry in einer zentralen Passage eröffnet und kommentiert:41 Neither let it be deemed too saucy a comparison to balance the highest point of man’s wit with the efficacy of nature; but rather give right honour to the heavenly Maker of that maker, who having made man to His own likeness, set him beyond and over all the works of that second nature: which in nothing he showeth so much as in poetry, when with the force of a divine breath he bringeth things forth surpassing her doings – with no small argument to the credulous of that first accursed fall of Adam, since our erected wit maketh us know what perfection is, and yet our infected will keepeth us from reaching unto it.
Die große Renaissancegeste, mit der dichterische und natürliche Kreativität zunächst ineins gesetzt werden und in der der (neue?) Poet als alter deus auftreten kann, wird im gleichen Atemzug antiklimaktisch zurückgenommen. Der quasigöttliche Odem, der dem Dichter zugetraut wird und mit dem er die Werke der Natur schöpferisch-innovativ zu überbieten vermag, reduziert sich im zweiten Teil der Sidneyschen Satzperiode zum ebenso armseligen wie anmaßenden ›Witz‹, zu einem bloßen Einfallsreichtum, der die Vollkommenheit, die jede Neuerung anzustreben hätte, zwar ahnt, aber unter den Bedingungen der gefallenen Menschennatur nicht zu verwirklichen vermag. Spensers Faerie Queene kann man als in diesem Sinne gescheiterte Ambition auffassen. Der Dichter, der sich als Weltenschöpfer geriert, erzeugt Widersprüche, die er mit den Mitteln dieser Welt nicht entwirren kann, sondern die über sich hinaus in einen Bereich der Spekulation verweisen. Für uns mag diese aus zeitgenössischer Sicht unausweichliche Korruptheit allen menschlichen Unterfangens noch ein anderes, produktives Gesicht gewinnen. Die anfechtbare und stets angefochtene Imagination mag sich als Erzeugerin eines in sich heterogenen und konfusen, aber gerade in seiner Überschüssigkeit fruchtbaren poetischen Innovationspotentials rehabilitieren lassen. Die ›goldene‹ Welt42 eines Adonisgartens zu imaginieren ist eines – sie freilich allegoretisch so zu vervollkommnen, dass sie sich nicht nur zu einer ästhetisch befriedigenden Schlussfigur fügt, sondern zwingend und zwanglos in eine gute Handlung übersetzt, bleibt mutigen (und bei Spenser auch geduldigen) Lesern überlassen.
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Sidney, Defence of Poetry, 79, 17–26. Vgl. ebd., 78, 22–34.
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»… dass sich entweder die Musik oder die menschliche Natur verändert hat«. Zu einem Argument der Camerata fiorentina PHILIPP BRÜLLMANN
In the field of music, however, humanism operated indirectly because musicians and critics were inspired by only the idea of Greek music as the ancient authors described it, not its sound.1 (C.V. Palisca)
1. Einleitung Wenn es um den Zusammenhang zwischen ›Transformationen der Antike‹, ›Entstehung des Neuen‹ und ›Imagination‹ geht, dann erscheint der musikalische Humanismus im Italien des 16. Jahrhunderts als ein besonders vielversprechendes Untersuchungsgebiet.2 Dies hat mit der besonderen Situation zu tun, der sich die Humanisten im Fall der Musik gegenüber sahen. Die ihnen zugänglichen Quellen gaben zwar umfassenden Einblick in die antike Theorie der Musik. Sie berichteten über Facetten des musikalischen Alltags, über die Bedeutung der Musik in Religion und Kultur sowie über weitere Aspekte der musikalischen Praxis. Mit Blick auf die Musik selbst blieben diese Quellen aber stumm. Den zahllosen Äußerungen über Musik standen gerade einmal vier Beispiele notierter Musik gegenüber, deren Entzifferung zudem erhebliche Schwierigkeiten bereitete.3 _____________ 1 2
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Palisca (2006), 1. Zum Thema Humanismus und Musik nach wie vor grundlegend: Palisca (1985). Vgl. außerdem den Beitrag von Paolo Sanvito im vorliegenden Band. Es handelt sich um vier dem Kretischen Dichter Mesomedes (2. Jh. n. Chr.) zugeschriebene Hymnen, die über byzantinische Manuskripte in den Westen gelangt waren (vgl. Palisca [1985], 25–27). Drei davon wurden 1581 von Vincenzo Galilei in dessen Dialogo della musica antica, et della moderna publiziert. Eine sehr übersichtliche Zusammenstellung und Transkription der überlieferten griechischen Musik bietet West (1992), Kap. 10; die Mesomedes-Hymnen erscheinen hier als Nr. 16–19.
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Es dürfte also kaum überraschen, dass das Phänomen einer imaginierten Antike im Fall der Musik eine wichtige Rolle spielte, wichtiger vielleicht als in Bereichen, in denen sich die Antikebegeisterung auf eine Überlieferung von Theorie und Praxis richten konnte, wie etwa in Rhetorik oder Architektur. Ebenso wenig dürfte es überraschen, dass Versuche, die antike Theorie auf die Musik der jeweiligen Gegenwart zu beziehen, mit zum Teil erheblichen Transformationen der Antike verknüpft waren. Und insofern der musikalische Humanismus oft mit der Forderung nach einer Reform der musikalischen Praxis einherging, kann es außerdem kaum verwundern, dass der Begriff des Neuen in den entsprechenden Debatten überaus präsent gewesen ist. Das bekannteste Beispiel für jene Forderung geht zweifellos auf die sogenannte Camerata fiorentina zurück, einen informellen Kreis von Adligen, Musikern und Gelehrten, der in den 1570er und -80er Jahren im Palast Giovanni Bardis, des Conte di Vernio, in Florenz zusammenkam.4 Die Mitglieder der Camerata, unter ihnen prominent die Komponisten Vincenzo Galilei und Giulio Caccini,5 hatten sich die Schaffung einer neuen Musik auf die Fahnen geschrieben, welche Ziele und Wirkungen der antiken Musik wiederbeleben sollte – ein Unternehmen, das sich nicht nur in theoretischen Äußerungen niederschlug, sondern auch in kompositorischen Versuchen, die allerdings nur teilweise überliefert sind. An dieser Stelle ist eine Zwischenbemerkung nötig. Es gibt eine Reihe interessanter Verbindungslinien zwischen den Aktivitäten der Camerata fiorentina und den ersten Experimenten zur neuen Gattung der Oper um 1600.6 Und insge_____________ 4
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Der umfassend gebildete Giovanni Bardi (1534–1612), Spross einer Bankiersfamilie, spielte im Florentiner Musikleben der 1580er Jahre eine wichtige Rolle. Er trat u.a. als Organisator höfischer Festlichkeiten, als Dichter und als Komponist von Zwischenaktmusiken (sogenannten intermedi) in Erscheinung (vgl. Pirrotta [1982], Kap. 5). Eine englische Übersetzung wichtiger theoretischer Zeugnisse der Camerata sowie eine konzise Einführung in das Thema bietet Palisca (1989a); für den zentralen Dialogo della musica antica, et della moderna, vgl. Galilei (2003) mit Paliscas Einleitung. Vincenzo Galilei (ca. 1520–1591), der Vater Galileo Galileis, war ursprünglich Lautenist und Komponist, wandte sich aber dann zunehmend der Musiktheorie zu. Von ihm stammen die umfassendsten Äußerungen zur Musikanschauung der Camerata fiorentina. Der Sänger und Komponist Giulio Caccini (1551–1618) gilt v.a. aufgrund seiner Sammlung Le Nuove Musiche (1601/02) als eine der zentralen Figuren für die Entwicklung der sogenannten »Monodie«, also des solistischen, am Sprachduktus orientierten Gesangs über einer einfachen, akkordischen Begleitung. Er ist außerdem Komponist der Frühoper Euridice (1600) auf einen Text von Ottavio Rinuccini. Explizit hergestellt wird dieser Zusammenhang von Giulio Caccini, der sowohl in der Widmung der Euridice als auch im Vorwort zu Le Nuove Musiche auf die Camerata verweist. Caccinis Äußerungen müssen allerdings im Kontext der Auseinandersetzung um die Frage gesehen werden, wer als ›Erfinder‹ der neuen Stils gelten darf (vgl. hierzu: Pirrotta 1982, Kap. 6). Verkompliziert wird die Situation außerdem dadurch, dass einige Personen, die für die frühe Oper eine wichtige Rolle spielten, allen voran Jacopo Peri (1561–1633) und Jacopo Corsi (1561–1602), zwar dem Umfeld der Camerata zugerechnet werden, eine offizielle Mitgliedschaft aber nicht nachzuweisen ist, zumal Peri und Corsi – letzterer in den 1590er
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samt scheint es verlockend, das entscheidende Ausdrucksmittel dieser neuen Gattung, das Rezitativ, als eine Einlösung der durch die Camerata formulierten Forderungen zu begreifen.7 Wie groß der Einfluss der Camerata auf die Entwicklung der Oper tatsächlich gewesen ist und inwiefern sich deren Überlegungen konkret in der Musik ihrer Zeit niederschlagen, ist in der Forschung allerdings sehr umstritten. Die lange Zeit gängige Auffassung von der ›Erfindung‹ der Oper durch die Camerata fiorentina wird so jedenfalls kaum noch vertreten; und es ist sicher angemessener, von einem vielschichtigen Prozess auszugehen, in dem unterschiedliche Faktoren zusammenkommen.8 Im vorliegenden Kontext ist es jedoch nicht nötig, zu diesen Fragen genauer Stellung zu beziehen. Weder sollen hier Thesen zur Geschichte der Oper oder des Rezitativs formuliert werden, noch Thesen über die Rolle der Antike-Rezeption für die Entstehung und Entwicklung dieser musikalischen Gattungen. Stattdessen werden wir uns allein auf die theoretischen Äußerungen der Camerata konzentrieren, die unbestreitbar von dem Anliegen zeugen, eine neue Musik zu schaffen. Es soll versucht werden, die Art der Auseinandersetzung mit der Antike und die dabei verwendeten Argumente besser zu verstehen. Kommen wir noch einmal auf das eingangs erwähnte Problem zurück, dass die Musik der Antike verloren war. Für die Ziele der Camerata war dies zunächst zweifellos ein ›praktisches‹ Problem, da sich die angestrebte Wiederbelebung der Antike nicht auf konkrete Beispiele stützen konnte. Es war aber auch ein Problem der Funktion, die eine Referenz auf antike Autoren überhaupt haben konnte. Denn wie können kompositorische Entscheidungen durch Bezug auf antike Quellen legitimiert werden, wenn diese Quellen sich gewissermaßen im falschen Medium bewegen und ihre Ausführungen nicht durch Klangbeispiele untermauert werden können? Die antike Musik musste imaginiert werden.9 Interessant ist nun, dass wir in den schriftlichen Zeugnissen der Camerata fiorentina Beispiele einer bewussten und ›argumentationsgestützen‹ Imagination der Antike finden. Ein solches Beispiel soll im Folgenden herausgegriffen werden. Ich werde ein Argument vorstellen, das zuerst in einem Brief des philologischen Mentors der Camerata, Girolamo Mei, an Vincenzo Galilei auftaucht und das dann in Abhandlungen Bardis (Discorso sopra la musica antica, e ‘l cantar bene, ca. 1578) und Galileis (Dialogo della musica antica, et della moderna, 1581) aufgenommen wird.10 Anhand dieses Arguments möchte ich nicht nur das Phänomen der imaginierten Antike in den Blick nehmen. Ich _____________ 7 8
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Jahren selbst Leiter einer musikalischen Akademie – zur Blütezeit der Camerata noch verhältnismäßig jung waren. Zur »Theorie des Rezitativs«, vgl. Palisca (1989b), zum Antikebezug: Pöhlmann (1969). Vgl. für eine kurze Darstellung dieser Faktoren: Abert (1994), 10–25, für die Rolle der Musik im Theater der Renaissance: Pirrotta (1982), für das Beispiel Monteverdi: Leopold (21993), Kap. 1. Daran hat sich, nebenbei bemerkt, bis heute wenig geändert; vgl. etwa die vom »Klangleib« der griechischen Sprache ausgehenden Überlegungen von Thrasyboulos Georgiades (1958 u.ö.). Für Bardis Discorso, vgl. Palisca (1989a), Kap. 4.
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möchte auch darstellen, inwiefern wir es mit einer Transformation der Antike zu tun haben und wie Imagination und Transformation hier zusammenhängen. Dass dadurch kein umfassendes Bild gezeichnet wird, ist offensichtlich. Ich hoffe aber einige Aspekte zu beleuchten, die für den eingangs genannten Themenkomplex relevant sind, und außerdem eine Richtung anzudeuten, die eine weitergehende Untersuchung nehmen könnte.
2. Meis Argument (I): ein ›Schluss auf die beste Erklärung‹ Zunächst einige Bemerkungen zum Kontext:11 Um das Jahr 1570 beginnt Vincenzo Galilei, bereits als Protegé des Grafen Bardi, an einem musiktheoretischen Kompendium zu arbeiten, das in erster Linie auf Gioseffo Zarlinos Istitutioni harmoniche (1558), dem wichtigsten musiktheoretischen Werk des 16. Jahrhunderts, beruhen sollte. Bei seiner Auseinandersetzung mit Zarlinos Thesen, etwa zu den Tonarten und zur Intonation mehrstimmiger Vokalmusik, stößt Galilei auf eine Reihe von Schwierigkeiten, die ihn dazu veranlasst, sich eingehender mit der Musiktheorie der Antike zu befassen. Da er sich jedoch nicht in der Lage sieht, die Widersprüche in den ihm zugänglichen Quellen aufzulösen – Galilei kann kein Griechisch –, wendet er sich 1572 an einen anerkannten Experten auf diesem Gebiet: den in Rom lebenden, aus Florenz stammenden Philologen Girolamo Mei.12 In den folgenden Jahren kommt es zu einem intensiven Austausch zwischen Galilei, Bardi und Mei. Die rund 30 Briefe Meis, von denen fünf erhalten sind,13 werden auch im Kreis der Camerata diskutiert. Sie beeinflussen entscheidend das Bild, das sich die Camerata von der Musik der Antike macht; und sie bewirken, oder begünstigen zumindest, die endgültige Abwendung Galileis von seinem Lehrer Zarlino, die in eine heftige, öffentlich geführte Debatte mit diesem mündet. Anstatt das »Compendio« zur Musiktheorie seiner Zeit zu beenden, verfasst Galilei den Zarlino-kritischen Dialogo della musica antica, et della moderna, der als theoretisches Manifest der Camerata fiorentina gelten darf. _____________ 11 12
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Vgl. zum Folgenden: Palisca (1954) und (1960), 1–85, sowie Paliscas Einleitung zu Galilei (2003). Girolamo Mei (1519–1594) erhielt seine philologische Ausbildung u.a. bei dem Florentiner Professor für Moralphilosophie und antike Rhetorik Piero Vettori (1499–1585), dem er bei dessen Edition antiker Tragödien und bei der Kommentierung der Aristotelischen Poetik assistierte. (Ebenso wie Giovanni Bardi gehörten Vettori und Mei später der Accademia degli Alterati an – Mei allerdings wohl nur als korrespondierendes Mitglied.) Meis opus magnum ist das De modis musicis antiquorum libri IV (vollendet ca. 1574), eine umfassende Darstellung der antiken Musiktheorie auf der Basis aller damals zugänglicher Quellen, deren viertes Buch auch V. Galilei bekannt gewesen ist. Im Gegensatz zu Zarlino und Galilei war Mei kein ausgebildeter Musiker, was seine Perspektive auf den Gegenstand zweifellos geprägt hat. Sie sind zugänglich in Palisca (1960). (Die folgenden Zitate und Seitenangaben beziehen sich auf diese Ausgabe.) Eine englische Übersetzung des hier behandelten Briefes mit Anmerkungen findet sich in Palisca (1989a), Kap. 3.
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Meis erster Brief, datiert auf den 8. Mai 1572, enthält neben Antworten auf konkrete Fragen Galileis eine etwas umfangreichere, zwölfseitige ›Abhandlung‹ (89–104). In ihr argumentiert Mei für die These, dass die Musik der Griechen einstimmig gewesen sei, dass also auch in Werken für Ensembles alle Teilnehmer gleichzeitig ein und dieselbe Melodie vorzutragen hatten.14 Etwas vereinfacht lassen sich Meis Ausführungen als Entfaltung eines Arguments verstehen, wobei das Interessante (und vielleicht Überraschende) darin liegt, dass dieses Argument nicht auf einer unmittelbaren Auseinandersetzung mit den Quellen beruht, sondern auf einem ›Schluss auf die beste Erklärung‹. Ausgangspunkt dieses Schlusses ist die Beobachtung, dass die antiken Autoren der Musik eine starke Wirkung auf die Affekte zuschrieben. Gegeben, dass dies zutrifft, stellt sich die Frage, welche Eigenschaften Musik eigentlich haben muss, um diese Wirkung zu entfalten. Meis Antwort: Sie muss, auch bei chorischem Gesang, einstimmig sein und sich am gesprochenen Text, am Gestus der Stimme, die redet, an Sprachrhythmus und Sprachmelodie, orientieren. (Das heißt, sie muss jene Eigenschaften haben, die später die Monodie auszeichnen.) Die dieser Antwort zugrunde liegenden Annahmen werden von Mei wiederholt als ›naturwissenschaftlich‹ gekennzeichnet. Eine Erklärung der emotionalen Wirkung der Musik müsse von Prinzipien ausgehen, die »natürlich« und »unveränderlich« seien, statt »erfunden« und »variabel«.15 Um seine These von der Einstimmigkeit der antiken Musik zu stützen, formuliert Mei also die Grundzüge einer naturwissenschaftlichen Musikpsychologie. Erst dann weist er darauf hin, dass die antiken Quellen überdies keine Hinweise auf artifizielle Mehrstimmigkeit enthielten. Weder würden sie Ausdrücke für die unterschiedlichen Stimmen eines polyphonen Satzes kennen (95) noch über die ›imperfekten‹ Konsonanzen Terz und Sexte sprechen, die – nach Meis etwas eigenwilliger These – erst dann zum Gegenstand der Theorie werden, wenn man aufgrund der Forderungen der Polyphonie16 dazu gezwungen ist, sich mit ihnen zu beschäftigen (95f., 103f.).17 _____________ 14 15
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Diese zwölf Seiten bilden die Grundlage des 1602 von Pier del Nero postum veröffentlichten Discorso sopra la musica antica e moderna; vgl. Palisca (1960), 9f. E questi fondamenti e principii è necessario che siano naturali e saldi; e non trovati di altri, e variabili (G. Mei, Brief an V. Galilei, 08. Mai 1572, 91). (Ich danke Paolo Sanvito für seine Hilfe bei der Übersetzung aus dem Italienischen.) Der Ausdruck ›Naturwissenschaft‹ wird hier in einem weiten Sinn gebraucht und soll keine These zur Geschichte der modernen Naturwissenschaften im engeren Sinn beinhalten. Es geht lediglich um die Beobachtung, dass Mei (i) beansprucht, Aussagen über die Natur zu fällen, die (ii) als solche einen besonderen Status beanspruchen, und dass er dabei (iii) eine deutliche Neigung zum Rückgriff auf empirische Belege zeigt. Mit ›Polyphonie‹ ist jene Form der Mehrstimmigkeit gemeint, in der die einzelnen Stimmen als unabhängige und im Prinzip gleichberechtigte melodische Linien aufgefasst werden. Das Gegenmodell ist ein ›homophoner‹ Tonsatz, der sich im einfachsten Fall in eine melodietragende Oberstimme und eine akkordische Begleitung gliedert. Nach antiker Auffassung galten ausschließlich die Intervalle der Oktave, Quinte und Quarte, also jene Intervalle, deren Verhältnis sich durch die Zahlen eins bis vier darstellen lässt (Oktave 1:2, Quinte: 2:3, Quarte 3:4), als konsonant (symphônon), alle anderen dagegen als dissonant (diaphônon). Diese Beschränkung ist insbesondere vor dem Hintergrund eines pythagoreischen
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Betrachten wir die musikpsychologischen Ausführungen Meis etwas näher. Wie begründet er die auf den ersten Blick eigenartige Auffassung, dass nur einstimmige, nicht aber polyphone Musik eine emotionale Wirkung entfalten kann? Im Zentrum der Begründung steht, grob vereinfacht, die These, dass eine wesentliche Eigenschaft der menschlichen Stimme in ihrer Tonhöhe zu suchen sei, genauer: in ihrer Fähigkeit, Töne unterschiedlicher Höhe zu artikulieren (91). Aus dieser These gewinnt Mei zwei weitere: (i) Ein Kontrast in der Tonhöhe ergibt einen Kontrast in der Wirkung. Hohe und tiefe Töne haben, als wesentlich verschieden, einen entgegengesetzten Effekt auf die menschliche Psyche; denn sie werden, so Mei, durch konträre »Bewegungen« (movimenti) verursacht: hohe Töne durch schnelle Bewegungen, tiefe Töne durch langsame (91f.). (ii) Unterschiedliche Tonhöhen entsprechen unterschiedlichen inneren Zuständen, wie sie durch die menschliche Stimme ausgedrückt werden; genau dazu hat nämlich die Natur den Tieren, und vor allem dem Menschen, die Stimme verliehen (91). Dieser Unterschied lässt sich für Mei an der Erfahrung ablesen (92f.). Es sei allgemein bekannt, welche Affekte durch welche Stimmlage zum Ausdruck kommen. Hohe Töne stünden für Aufregung, tiefe für Niedergeschlagenheit, mittlere für Ruhe und Maß.18 (In einer Randbemerkung überträgt Mei diesen Kontrast auf das Tempo: im langsamen Sprechen manifestiere sich Trägheit, im schnellen Aufregung.) Außerdem würde jemand, der sich in einem bestimmten Affekt wie etwa dem der Trauer befindet, seine Stimmlage in der Regel nicht verlassen (98). Die expressiven Eigenschaften und die affektive Wirkung der menschlichen Stimme hängen für Mei eng zusammen. Die unterschiedlichen Tonhöhen seien »Symbole und Zeichen« (segni e note) jener Affekte, die natürlicherweise durch sie ausgedrückt werden; und es sei klar, dass die Seele in den entsprechenden Affekt gerät, wenn sie mit diesen Symbolen und Zeichen konfrontiert werde (92). Der entscheidende Schritt zur Kritik der Mehrstimmigkeit besteht in der weiter gehenden These, dass sich Stimmen unterschiedlicher Tonlagen – und das heißt, wie gesagt: Stimmen, die sich in einer wesentlichen Hinsicht unterscheiden – gegenseitig in ihrer Wirkung behindern oder abschwächen. Wenn die antike Musik polyphon gewesen wäre, so Mei, dann hätte sie nicht jene Effekte haben können, die ihr einhellig zugesprochen werden; denn in diesem Fall hätten hohe und tiefe Stimmen gleichzeitig gesungen (91f.). Illustriert wird diese These der wechselseitigen Abschwächung durch eine Reihe von Beispielen, deren naturwissenschaftlich-experimenteller Anspruch _____________
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Weltbilds relevant, in welchem die sogenannte Tetraktys, die »Vierheit«, »im logischen und anschaulichen wie eben auch im hörbaren Bereich regiert« (Staab 2010, 112), so dass die Unterscheidung zwischen Konsonanz und Dissonanz eine kosmologische Begründung erfährt. Für die neuzeitlichen Rezipienten der antiken Theorie stellte diese Beschränkung dagegen ein Problem dar; schließlich wurden im polyphonen Satz auch die große und kleine Terz sowie die große und kleine Sext als konsonant behandelt, die Quarte dagegen eher als eine Dissonanz. Es ist interessant, dass der Nicht-Musiker Mei kein Problem darin sieht, die imperfekten Konsonanzen aus der Theorie auszuschließen. Mei verweist an dieser Stelle auf Platons Ablehnung der extremen Tonarten (tonoi) (93).
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kaum zu übersehen ist: (i) Wenn man gleiche Anteile von sehr heißem und sehr kaltem Wasser vermischt, dann verlieren nicht nur beide Anteile ihre thermische Wirkung. Es entsteht zudem ein Gemisch, das weder die Fähigkeit hat, etwas zu erhitzen, noch die Fähigkeit, etwas zu abkühlen (93). (ii) Wenn eine Säule mit gleicher Kraft und aus gleicher Distanz in entgegengesetzte Richtungen gezogen wird, dann bleibt sie stehen. Wirken die Kräfte dagegen alle in eine Richtung, fällt die Säule um (97). (iii) Wenn in einer Menschenmenge einige Leute weinen, andere lachen, einige sich still unterhalten, andere streiten und wieder andere im Vollrausch tanzen, dann wird eine Person, die sich dieser Menge anschließt und die ›neutral‹ gestimmt ist, bloß Verwirrung empfinden. Dagegen wird dieselbe Person, wenn sie in eine Menschenmenge gerät, in der alle den gleichen Affekt zum Ausdruck bringen, es sehr schwer haben, diesen Affekt nicht auch zu empfinden (98). Auch die These der wechselseitigen Abschwächung wird von Mei auf das Problem unterschiedlicher ›Geschwindigkeiten‹ in den einzelnen Stimmen übertragen (98f.) und um das Problem mangelnder Textverständlichkeit erweitert: Über all diese Hindernisse muss gleichsam an die Spitze die ungeordnete Verwirrung, Vermischung und das Zerreißen der Wörter gesetzt werden. Darum kann die Kraft des Gedankens, der darin vielleicht wirksam ausgedrückt wird, nicht zum Intellekt des Hörers vordringen, wie es sogar die Sänger oft bemerken. Wäre der Text aber gut zu verstehen, dann könnte er allein bereits einen Affekt in jemandem bewegen und hervorrufen.19
Betrachtet man diese Skizze aus einer eher systematischen Perspektive, dann fällt zweierlei auf. Erstens erscheint Meis Argument ausgesprochen vielschichtig. Es hat den Anschein, als würden hier unterschiedliche musikpsychologische Modelle zusammengeführt, die mit sehr unterschiedlichen Typen von Belegen arbeiten. So spricht Mei (a) von der Stimme als einem natürlichen Mittel, Emotionen auszudrücken; und er weist darauf hin, dass wir diese Emotionen oft mitempfinden, wenn wir mit ihrem Ausdruck konfrontiert werden. Zugleich versucht Mei (b) seinem Argument eine naturwissenschaftlich-kausale Grundlage zu geben. Er kennzeichnet die Geschwindigkeit der »Bewegung« als Ursache der Tonhöhe; und er verknüpft entgegengesetzte Ursachen mit entgegengesetzten Wirkungen. Es finden sich aber auch (c) Hinweise auf eine eher semiotische Konzeption des Musikverstehens. Immerhin bezeichnet Mei Töne als Symbole und Zeichen der Affekte; und es ist wichtig zu sehen, dass dieser Ansatz weder mit einer expressiven noch mit einer kausalen Theorie musikalischer Affekte in eins fällt. Dass Mei zudem (d) den Aspekt der Textverständlichkeit zur Sprache bringt und darauf _____________ 19
[S]opra i quali tutti inpedimenti quasi come capo si dee massimamente porre la disordinata perturbazione et mescuglio e cincistiata [i.e. cincischiata] de le parole. onde non si lascia penetrare al intelletto di chi ode la virtù del concetto che in esse è perventura efficacemente espresso, si come ne la raccolgono bene spesso anche essi medesimi che le cantato, il quale però quando bene fusse compreso, potrebbe esso da per se solo essere atto à commovere et generare affetto in altrui (G. Mei, Brief an V. Galilei, 08. Mai 1572, 99).
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hinweist, dass bei mangelnder Textverständlichkeit dessen Inhalt den Intellekt des Hörers gar nicht erreicht, weist wiederum in eine andere Richtung. Ein Schrei, ein Seufzer, ein Lachen können Emotionen ausdrücken, sie können als Zeichen von Emotionen wahrgenommen werden, und sie können eine kausale Wirkung entfalten, ohne dass sie einen Text transportieren müssten. – Es ist schwer zu sagen, ob Meis These zur Einstimmigkeit überhaupt eine einheitliche Theorie der Emotionen oder eine einheitliche musikpsychologische Auffassung zugrunde liegt.20 Die zweite Auffälligkeit liegt in Meis eigentümlicher Fokussierung des Aspekts der Tonhöhe, die sachlich gesehen nicht unbedingt einleuchtet. Dass die Unabhängigkeit der Stimmen eines polyphonen Satzes einer einheitlichen Wirkung entgegensteht, scheint nachvollziehbar. Ebenso, dass ein Text, der nicht verstanden wird, keine Wirkung haben kann, die auf seinem Inhalt basieren würde. Insgesamt erscheint ein musikalischer Ablauf, der primär von satztechnischen Regeln bestimmt wird, das heißt von Regeln, die den Zusammenklang der Stimmen und das Verhältnis ihrer Fortschreitungen betreffen, kaum geeignet, irgendetwas unmittelbar zum Ausdruck zu bringen. (Mit dieser Beobachtung ist die Frage nach der Hierarchie von Wort und Ton angesprochen, die in den weiteren Debatten eine so wichtige Rolle spielen wird.21) Mei scheint jedoch zu behaupten, dass das zentrale Problem der Vokalpolyphonie im gleichzeitigen Erklingen unterschiedlicher Stimmlagen besteht. Dies würde aber auch auf homophone Sätze zutreffen, in denen die gerade genannten Schwierigkeiten weitgehend entfallen. Streng genommen stellt sich Meis Problem der Gleichzeitigkeit von hoch und tief sogar dann ein, wenn alle Stimmen die gleiche Melodie im Oktavabstand singen. Wir werden weiter unten auf diese Auffälligkeiten zurückkommen. Was bereits jetzt klar sein dürfte, ist, inwiefern wir es hier mit einer bewussten Imagination der Antike zu tun haben. Mei versucht gar nicht erst, seine These von der Einstimmigkeit der griechischen Musik durch einen direkten Hinweis auf die Quellen zu belegen. Angesichts der Überlieferungslage erscheint ein solcher Versuch auch wenig aussichtsreich. Stattdessen nähert er sich dem Thema indirekt. Er bedient sich einer Argumentationsform, die es ermöglicht, von einer Beobachtung auf das zu schließen, was sich nicht beobachten lässt. Und er bedient sich Aussagen über die Natur, um eine Lücke in der Überlieferung zu schließen.
3. Meis Argument (II): Imagination und Transformation Meis Argument steht für einen besonderen Zugang zur Antike, einen Zugang, der sich etwas überspitzt auf die Formel ›Naturwissenschaft statt Quellenforschung‹ bringen ließe. Worum es dabei geht, wird besonders deutlich in der Paraphrase _____________ 20 21
Vgl. jedoch Palisca (2006), 188f., mit Literatur. Das bekannteste Beispiel ist wohl die Debatte zwischen Giovanni Maria Artusi auf der einen und Claudio und Giulio Cesare Monteverdi auf der anderen Seite. Vgl. Tomlinson (1987), 21– 30 für eine Einführung.
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des Arguments, die sich in Vincenzo Galileis Dialogo della musica antica, et della moderna findet (1581, 81f.). Galilei schreibt: Trotz des Gipfels der Vollkommenheit, den die moderne Musik erreicht hat, hört man weder, noch sieht man das geringste Zeichen jener Wirkung, welche die antike Musik aufwies; noch liest man, dass sie diese Wirkung vor 50 oder 100 Jahren gehabt hätte, als sie noch nicht so verbreitet und den Menschen vertraut war. […] Daraus folgt notwendigerweise, dass sich entweder die Musik oder die menschliche Natur verändert hat gegenüber dem, was sie einst war.22
Da sich die menschliche Natur seit der Antike nicht verändert hat – so dürfen wir den Gedankengang wohl fortsetzen –, können wir davon ausgehen, dass die Musik der Antike in entscheidender Hinsicht anders war als die der Moderne. Die Unveränderlichkeit der Natur wird in Anspruch genommen, um eine gesicherte Aussage über die Musik der Antike zu gewinnen. Wie bereits erwähnt, erscheint dieser naturwissenschaftliche Zugang besonders geeignet für eine Situation, in der die Antike imaginiert werden muss. Er hat jedoch noch zwei weitere wichtige Merkmale. Erstens verweist er auf die Natur als Instanz musiktheoretischer Argumente. Gerade im Dialogo spielt diese Instanz eine entscheidende Rolle, zeigt doch Galilei insgesamt eine ausgeprägt empirische Haltung gegenüber musikalischen Fragen. (Ein oft zitierter Beleg für diese Haltung ist seine experimentelle Überprüfung des Zusammenhangs zwischen der Tonhöhe einer Saite und dem Gewicht, mit dem sie gespannt wird. Galilei findet heraus, dass das Frequenzverhältnis der Oktave [1:2], anders als seit der Antike behauptet, nicht durch Gewichte des Verhältnisses 1:2, sondern durch solche des Verhältnisses 1:4 erzeugt wird.23) Zweitens ermöglicht – und legitimiert – der Bezug auf das Natürliche eine Loslösung von der gegenwärtigen musikalischen Praxis, aus deren Perspektive beispielsweise die Monodie als etwas Primitives und Unvollkommenes erscheinen muss (wir werden darauf zurückkommen). Es scheint einen Zusammenhang zu geben zwischen der Berufung auf die Natur als Autorität und dem Anliegen einer grundlegenden musikalischen Reform. Eines darf jedoch nicht übersehen werden: Der besondere, ›objektive‹ Zugriff auf die Antike ist nicht nur in einen bestimmten Diskussionskontext eingebunden und von diesem abhängig (dies dürfte kaum überraschen). Er ist zudem mit unterschiedlichen Transformationen der Antike verknüpft. Diese Transformationen sollen im Folgenden etwas näher betrachtet werden.
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[C]on tutto il colmo d‘ eccellenza della musica prattica de moderni, non si ode ò pur vede hoggi vn minimo segno di quelli che l‘ antica faceua; ne anco si legge che ella gli facesse cinquanta ò cento anni sono quando ella non era così commune & familiare à gli huomini […]: la onde necessariamente si conclude, ò che la musica, ò che la humana natura si sia mutata da quel primo suo essere (Galilei, Dialogo, 81). Vgl. Palisca (1961), 120ff., sowie Paliscas Einleitung zu Galilei (2003), insbes. xxviiff.; vgl. außerdem Walker (1978), Kap. 2, und Mancosu (2006) mit weiterer Literatur.
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3.1 Zwei Gemeinplätze Beginnen wir mit folgender Beobachtung: Die Thesen, die Meis Argument zugrunde liegen, sind nicht völlig neu. Sie beruhen vielmehr auf einer Gegenüberstellung, die sich in unterschiedlichen Debatten des 16. Jahrhunderts nachweisen lässt24 und in zwei ›Gemeinplätze‹ gefasst werden kann: (1) Die antike Musik hatte eine starke Wirkung auf die menschliche Psyche. Sie war insbesondere dazu in der Lage, Affekte gezielt hervorzurufen oder zu beruhigen. Die Musik der Gegenwart hat diese Wirkung dagegen nicht. (2) Dieser Unterschied in der Wirkung ist vor allem darauf zurückzuführen, dass die Musik der Gegenwart auf die eine oder andere Weise ›komplexer‹ ist als die Musik der Antike. Vergleicht man diese Gemeinplätze mit den antiken Quellen, so erscheinen sie zunächst als Ausdruck eines eher selektiven und damit bereits transformierenden Blicks auf die Antike. Denn die zur Zeit Meis zugänglichen Texte zur ›EthosTheorie der Musik‹25 – dies sind in erster Linie Platons Politeia, Timaios und Nomoi, Aristoteles‘ Politik und Poetik, Aristeides Quintilianus‘ De musica sowie die gleichnamige Schrift des Ps.-Plutarch – bieten ein wesentlich vielschichtigeres, differenzierteres Bild.26 Weder besteht hier Einigkeit über die Wirkung der Musik – vielmehr wird oft gerade die Uneinigkeit thematisiert –, noch würden alle Autoren das Hervorrufen von Emotionen als Kern dieser Wirkung beschreiben.27 Nehmen wir zum Beispiel die Erläuterungen im dritten Buch der Politeia. Platon zweifelt zwar nicht daran, dass Musik starke Emotionen hervorrufen kann; er hält dies aber eher für ein Problem. In seinen Augen sind Emotionen dem irra_____________ 24
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Zentral sind hier die musikalischen Reformbestrebungen im Kontext der Gegenreformation; vgl. für einige Beispiele und Literatur: Palisca (2006), Kap. 6. Vgl. hierzu Palisca (1985), Kap. 2: »The Rediscovery of the Ancient Sources«. Übrigens macht Mei am Ende des hier behandelten Briefes umfassende Angaben zu den von ihm eingesehenen Quellen. Der Gedanke, dass Musik den Charakter formen kann, ist zentral für die antike Musikanschauung; er gehört aber zweifellos zu deren änigmatischeren Aspekten. Der Ursprung der Ethos-Theorie ist wohl in kulturellen Praktiken zu suchen, überliefert sind jedoch bestenfalls Versuche einer nachträglichen Systematisierung, Erklärung und Nutzbarmachung dieser Praktiken, v.a. zum Zweck der Erziehung. Da diese Versuche stets vor dem Hintergrund bestimmter Annahmen und Zielsetzungen geschehen und zudem meistens von Philosophen, nicht von Musiktheoretikern verfasst sind, ist es keine Überraschung, dass uns in den entscheidenden Quellen weder ein einheitliches Bild der Theorie noch Einigkeit über den Einfluss der Musik entgegentritt. Vgl. für einen Überblick: Lippman (1963) und West (1992), 246–253, für eine ausführlichere Untersuchung: Anderson (1966). Eine englische Übersetzung der relevanten Texte (mit Anmerkungen) bietet Barker (1984) und (1989). Diese Uneinigkeit kommt v.a. in Aristoteles‘ Politik VIII zum Ausdruck (s. z.B. VIII 5, 1339a14ff.). Vgl. aber auch Aristeides Quintilianus: De musica, Buch II, sowie dazu: Barker (1989), 457f., FN 1.
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tionalen Teil der Seele zuzurechnen, dessen Stärkung der Tugend, die als Herrschaft des vernünftigen Seelenteils aufgefasst wird, abträglich ist.28 Die positive Wirkung der Musik, um die es in Politeia III geht, muss daher anders gefasst werden. Grob vereinfacht liegt sie darin, dass sich bestimmte Eigenschaften einer ›richtigen‹, sorgfältig auszuwählenden Musik auf die Seele des Hörers übertragen, wie etwa »Wohlgestaltetheit« (euschêmosynê) oder – im Timaios – »Harmonie« (harmonia).29 Zudem sieht Platon eine enge Verbindung zwischen ästhetischem und ethischem Wohlgefallen, zwischen der Freude an schönen Werken und der Freude an tugendhaftem Handeln.30 (In den Nomoi, und dann vor allem bei Aristoteles, ist die Situation anders. Hier wird das gezielte Hervorrufen von Emotionen durchaus als Teil der Erziehung betrachtet, zum Beispiel als eine Art emotionales Training.) Erscheint die Konzentration auf den Aspekt der emotionalen Therapie einerseits als eine Verkürzung der antiken Ethos-Theorie, spielt andererseits der skizzierte Kontrast bereits in den antiken Quellen zur Musik eine zentrale Rolle. Bei genauerem Hinsehen wird in den beiden Gemeinplätzen ein antikes Moment aufgenommen und auf das Verhältnis von Antike und Gegenwart projiziert, was ebenfalls eine Transformation der Antike bedeutet. Nach allem, was wir wissen, durchlief die griechische Musik am Ende des 5. Jahrhunderts v. Chr. einen grundlegenden Wandel, der bei vielen Beobachtern auf starken Widerstand gestoßen ist.31 Interessanterweise sind es gerade die Texte zur Ethos-Theorie, in denen dieser Widerstand besonders klar zum Ausdruck kommt. (Man denke etwa an Damon von Oas generelle Warnung vor musikalischen Neuerungen, die Platon zum Ausgangspunkt seiner musikpädagogischen Argumente in der Politeia nimmt.32) Die Kritik an den Exzessen ›neuer Musik‹ – Exzessen, die sich durchaus unter dem Stichwort der Komplexität zusammenfassen lassen – und die Aufforderung, die musikalischen Mittel zu beschränken, um deren Wirkung zu kontrollieren oder gar erst wiederzugewinnen, gehören zu den Leitmotiven dieser Texte. Die auf die Ethos-Theorie zurückgreifenden Autoren des Humanismus übernehmen jene Kritik oft explizit und wenden sie gegen die Musik ihrer Gegenwart. Ein anschauliches Beispiel bietet Carlo Valgulios Proömium zur lateinischen Übersetzung von Ps.-Plutarchs Dialog De musica (Brescia, 1507), laut Palisca »the most widely read of any of the Greek sources«.33 Ps.-Plutarchs De musica wird in der Regel auf das 1.–2. Jh. n. Chr. datiert, stellt aber eine Kompilation aus wesentlich ältereren Quellen wie Aristoxenos von _____________ 28 29 30 31 32 33
Vgl. Resp. X, 605c–607a. Vgl. z.B. Resp. III, 401d–402a, sowie Tim. 47c–e. Vgl. außerdem Halliwell (2002), Teil I, und Pelosi (2010). Für eine umfassende Darstellung dieses Aspekts, vgl. Richardson Lear (2006). Vgl. zu diesem Thema: Barker (1984), Kap. 7 und 8 (zu Aristophanes); West (1992), 356–372. Resp. IV, 424c; zu Damon von Oa, vgl. Barker (1984), 188f., sowie Wallace (2004). Palisca (1989a), 14. Zur Person Valgulios, vgl. Palisca (1985), Kap. 5; für ein Faksimile und eine englische Übersetzung des Proömiums mit einigen Anmerkungen, vgl. Palisca (1989a), Kap. 2; zu V. Galileis Rezeption von Valgulio und De musica, vgl. ebd. 14, FN 2.
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Tarent und Herakleides Pontikos (beide 4. Jh. v. Chr.) dar. Die Bedeutung dieses Textes liegt nicht so sehr in den Informationen zur Theorie der Musik, sondern eher in denen zur Musikpraxis und – vor allem – zur antiken Geschichte sowie Geschichtsschreibung der Musik.34 Entscheidend für den vorliegenden Kontext ist nun, dass De musica die Geschichte der Musik konsequent als die eines Verfalls beschreibt und dass sie diesen Verfall in erster Linie an einer zunehmenden Anreicherung der musikalischen Mittel‚ zum Beispiel an der Erweiterung des verwendeten Tonmaterials und an der Erhöhung der Saitenzahl der kithara, festmacht. (Für ein besonders anschauliches Beispiel sei auf die Klage der allegorischen Mousikê über ihren Missbrauch verwiesen: eine Passage aus Pherekrates‘ Komödie Cheiron, die Ps.-Plutarch in 1141d–1142a zitiert.35) Valgulios Proömium dient primär zur Erklärung einiger zentraler Begriffe aus De musica sowie zu einer Verteidigung der Intervallauffassung des Aristoxenos.36 Eingeleitet wird es jedoch mit einer Paraphrase der antiken Kritik an neuer Musik, die dann – relativ unvermittelt – in eine Kritik an der Musik um 1500 mündet. Die »Musik unserer Zeit«, so Valgulio, lasse nicht nur die nötige Sorgfalt in der Auswahl der Texte vermissen; sie sei zudem wertlos, wenn sie nicht die Fähigkeit habe, die Seele nach der Forderung Theophrasts in eine bestimmte Richtung zu lenken. Auch Mei sieht in der Vokalpolyphonie seiner Zeit eine konsequente Fortsetzung der in den antiken Quellen skizzierten Verfallsgeschichte. In einem wenig überzeugenden, aber umso bezeichnenderen Gedankengang transformiert er die Kritik an der Erweiterung des Tonvorrats in eine Kritik am polyphonen Satz: Diese Verfälschungen [hier spricht Mei noch von der Musik der Antike, unter Verweis auf Platons Nomoi, Ph. B.] wurden dann jeden Tag immer größer, vor allem nach der Einführung von Instrumenten mit vielen Saiten, wie Orgeln, Spinetten, Cembali, Lauten und insgesamt allen, die durch eine Vielzahl von Tasten oder Saiten eine Vielzahl von Stimmen (Tönen) aufweisen. Wer glaubte, dass sich daraus unsere Art und Gewohnheit, viele und sehr unterschiedliche Gesangsmelodien gleichzeitig zu singen [also die Vokalpolyphonie, Ph. B.], entwickelt hat, wäre damit nicht weit von der Wahrheit entfernt.37
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Eine englische Übersetzung mit Anmerkungen bietet Barker (1984), Kap. 15. Für weitere Beispiele, vgl. 1136b; 1137a–1138c; 1140b–f; 1142b–d; 1144f u.a. Grob vereinfacht geht es darum, dass Aristoxenos, im Gegensatz zur pythagoreischen Tradition, Intervalle nicht als Zahlenverhältnisse definierte, sondern als Vielfache eines ›kleinsten‹ Intervalls (vgl. Barker 2007, Kap. 1). Nach diesem Ansatz lässt sich z.B. ein Ganzton problemlos in zwei gleich große Halbtöne unterteilen, was für Anhänger der ›temperierten Stimmung‹ (wie V. Galilei) einen attraktiven Ansatz darstellte. Aristoxenos war v.a. aufgrund der Kritik in Boethius‘ De institutione musica III in Verruf geraten. Valgulio ist der erste, der eine Verteidigung unternimmt. Da le quali corrutele fattosi poi ogni di maggiori, e spezialmente dopo l‘ uso introdottosi di questi strumenti di tante corde, come organi spinette gravicembali liuti, et in somma tutti quelli che per mezzo de molti tasti ò assai corde hanno gran numero di voci. chi credesse che finalmente ne havesse havuto origine questa nostra maniera e costume di cantare insieme tante e si
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Fassen wir kurz zusammen. In den antiken Quellen zur Ethos-Theorie haben wir es mit einer Idealisierung der ›alten‹ (und einer Kritik der ›neuen‹) Musik zu tun. Diese wird von humanistischen Autoren aufgenommen und in eine Idealisierung der Antike (bei gleichzeitiger Kritik der Gegenwart) transformiert. Der Nachvollzug dieser Transformation kann unter anderem dabei helfen, die eigentümliche Doppelrolle zu erklären, welche die Antike in den Äußerungen von, zum Beispiel, Girolamo Mei und Vincenzo Galilei spielt. Die ›Musik der Alten‹ ist zugleich Gegenstand kritischer Forschung (es sollen objektive Aussagen darüber getroffen werden, wie sie sich angehört hat) und Ideal (es wird vorausgesetzt, dass sie die erstaunlichen Wirkungen, die ihr zugeschrieben wurden, tatsächlich hatte). Genau dies ist in antiken Texten, wie der Politik des Aristoteles, bereits vorgeprägt.38 Anhand dieser kurzen Bemerkungen zu den beiden ›Gemeinplätzen‹ sollte verdeutlicht werden, dass der Kontrast, der in Meis Argument aufgemacht wird, nicht nur der Communis Opinio seiner Zeit entspricht, sondern auch eine Transformation der Antike bedeutet. Zwei Fragen schließen sich an: (1) Was genau ist nun das Besondere an Meis Argument? (2) Welche weiteren Transformationen sind mit ihm verbunden? (1) Besonders an Meis Argument ist m.E. die Einbindung in einen Schluss auf die beste Erklärung. Die allgemein anerkannte Gegenüberstellung von antiker Musik als psychologisch ›wirksam‹ und neuer Musik als psychologisch ›wirkungslos‹ wird von Mei dazu genutzt, eine gesicherte Aussage über die Gestalt der antiken Musik zu formulieren. Wie oben ausgeführt, liegt es nahe, diese Strategie mit der Situation einer bewusst imaginierten Antike in Verbindung zu bringen sowie mit dem Anliegen einer Reform der musikalischen Praxis. (2) Mei stützt sein Argument auf eine Hintergrundtheorie, die es ihm erlaubt, den Kontrast von Antike und Moderne – radikaler, als es sonst geschieht – auf den Kontrast von Einstimmigkeit und Polyphonie zuzuspitzen. Diese musikpsychologische Hintergrundtheorie ist aber ihrerseits das Ergebnis einer Transformation, und zwar nicht nur wegen der genannten Zuspitzung und nicht nur weil eigentlich alle musikpsychologischen Ansätze aus Meis Argument bereits in
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diverse arie di canto agevolmente non crederebbe forse cosa tutta lontana de la verità (G. Mei, Brief an V. Galilei, 08. Mai 1572, 114). Tatsächlich nimmt Mei eine ganz ähnliche Haltung ein wie Aristoteles, der angesichts der Uneinigkeit über die Wirkung (dynamis) der Musik (Pol. VIII 5, 1339a14f.) versucht, von empirischen Beobachtungen auszugehen, wie etwa von der, dass alle Begeisterung (enthousiasmos) empfinden, wenn sie die Melodien des Olympos hören (1140a8–12; vgl. a21– 23; a39ff.); vgl. auch die Vorgehensweise von Aristeides Quintilianus in De musica II 17. In diesem Zusammenhang ist aufschlussreich, dass V. Galilei bei seinem Referat der erstaunlichen Wirkungen antiker Musik ausdrücklich nicht auf musiktheoretische Schriften verweist, sondern auf die »würdigsten und berühmtesten Schriftsteller außerhalb des musikalischen Berufs, die die Welt jemals besaß« (da piu degni & famosi scrittori fuor della professione de Musici, che mai habbia hauuto il mondo: Dialogo, 80). Evtl. schlägt sich hier die erwähnte ›Doppelrolle‹ in einer Unterscheidung der Quellen nieder.
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antiken Texten zu finden sind.39 Sie ist es vor allem, weil die antike Musikpsychologie überhaupt nicht auf den Gegensatz von Ein- und Mehrstimmigkeit zugeschnitten ist. Es scheint paradox: Gerade wenn (weil) Mei Recht hat und die antike Musik im Wesentlichen einstimmig gewesen ist, ist von der auf diese Musik bezogenen Ethos-Theorie kein direktes Argument gegen die Polyphonie zu erwarten. Um ein solches Argument zu gewinnen, bedarf es einer Transformation der Antike. Diese Transformation soll im Folgenden nachgezeichnet werden. Dazu werden wir zunächst einen Blick auf das zweite Buch aus Gioseffo Zarlinos bereits erwähnten Istitutioni harmoniche werfen, die im Hintergrund von Meis Ausführungen stehen und die einen ganz anderen Blick auf die Antike offenbaren.40 3.2 Einfachheit, Einstimmigkeit und die Theorie der Tonarten In Gioseffo Zarlinos monumentalen Istitutioni harmoniche spielen Bezüge auf die Antike in unterschiedlichen Kontexten eine Rolle. Uns interessieren hier die ersten Kapitel aus Buch II, die Bemerkungen zur antiken Musikpraxis und zur emotionalen Wirkung der Musik enthalten. Ausgangspunkt ist die Feststellung, dass die Musik der Alten im Vergleich zur gegenwärtigen Musik – Zarlino orientiert sich in erster Linie an den Kompositionen seines Lehrers Adrian Willaert (ca. 1490–1562) – »einfach, roh und arm an Konsonanzen« (semplice, rozza, & pouera di consonanze) gewesen sei; denn nicht nur hätten die verwendeten Instrumente einen geringen Tonvorrat gehabt, die griechischen und lateinischen Autoren hätten zudem die Intervalle der Terz und der Sexte nicht als konsonant anerkannt, obwohl diese doch »für all jene sehr angenehm, liebreich, klingend, süß und harmonisch sind, deren Gehör – soweit man das sagen kann – nicht verdorben ist«.41 In Zarlinos Augen ist die Musik der Antike »unvollkommen« (imperfetta), weil sie die zur Verfügung stehenden Mittel nicht völlig ausschöpft. Die Feststellung der Unvollkommenheit antiker Musik führt auf die Frage, ob die Berichte von deren erstaunlicher Wirkung nicht unglaubwürdig sind: _____________ 39
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Bereits ein kurzer Blick auf die in Abschnitt 2 skizzierten musikpsychologischen ›Modelle‹ zeigt, dass eine einfache Zuordnung Meis zur Aristotelischen Tradition – wie auch immer diese genauer zu bestimmen wäre – problematisch ist. Zwar trifft es z.B. zu, dass die positive Beurteilung der emotionalen Kraft der Musik und die Betonung des Ausdrucksaspekts eher auf Aristoteles als auf Platon verweist (v.a. auf den Aristoteles der Poetik). Zugleich ist es aber Platon, bei dem sich der Gedanke findet, dass die Melodiebildung von der Prosodie und der menschlichen Stimme ausgehen müsse (s.u., FN 53). Es wäre eine eigene Untersuchung wert, alle Spuren zu verfolgen, die von den genannten Modellen zu den antiken Texten führen (wobei auch Ps.-Plutarch und Aristeides Quintilianus berücksichtigt werden müssten). Über das Anliegen der vorliegenden Untersuchung würde eine Beschreibung dieses Transformationsprozesses aber weit hinausgehen. Vgl. zu Meis Kritik an der Musik seiner Zeit: Palisca (1960), 70–75. Le quali sono tanto dilleteuoli, vaghe, sonore, soaui, & harmoniose a quelli, che non hanno corrotto il senso dell‘ vdito, quanto dir si possa (G. Zarlino, Istitutioni II 1, 59).
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Wenn die Musik der Alten so unvollkommen war, wie ich oben auseinandergesetzt habe, dann erscheint es nicht glaubhaft, daß die Musiker in den Gemütern der Menschen solche Wirkungen hervorrufen konnten, wie man in den Geschichtsbüchern erzählt. Denn man liest, daß die Musik manchmal ein Gemüt zornig stimmte, dann wieder es mäßigte, es nun zu Trauer, dann aber wieder zum Lachen oder zu anderen Empfindungen bewegte. Dies scheint umso weniger glaubhaft, da die Musik doch in unseren Zeiten eine solche Vollkommenheit erreicht hat, daß sich kaum etwas Besseres erhoffen läßt, ohne daß sie [andererseits] eine der genannten Wirkungen hervorriefe. Daher könnte man eher behaupten, daß die moderne Musik, und nicht die der Alten unvollkommen ist.42
In seiner Antwort auf diese Frage versucht Zarlino nachzuweisen, dass die als unvollkommen gekennzeichneten Eigenschaften der antiken Musik ihrer psychologischen Wirkung nicht entgegenstehen, sondern, im Gegenteil, diese eher befördern. Dabei nennt er im Wesentlichen drei Faktoren: (1) Die Musik der Antike wurde in der Regel so vorgetragen, dass entweder ein Sänger von einem Instrument begleitet wurde oder mehrere Sänger einander abwechselten.43 Auf diese Weise war gesichert, dass die Texte der Gesänge stets verstanden wurden und so ihre Wirkung entfalten konnten: Denn wenn die wunderbaren Wirkungen damals durch die Musik hervorgerufen wurden, so war sie noch auf die oben geschilderte Weise vorgetragen worden, das heißt, nicht mit vielen Vokal- und Instrumentalstimmen, so wie es heute üblich ist, wo man häufig nur noch lärmende Stimmen vernimmt, die mit instrumentalen Klängen vermischt sind, wo man ohne Überlegung und Rücksicht [auf die anderen Stimmen] singt, wo man die Worte so entstellt ausspricht, daß nur Lärm zu vernehmen ist. Eine Musik, die so aufgeführt wird, kann auf uns überhaupt keine Wirkung ausüben, die des Erinnerns wert wäre. Wenn die Musik jedoch mit Überlegung und mehr nach antikem Brauch vorgetragen wird, indem man also auf einfache Weise, zum Klang der Lyra oder Leier oder eines ähnlichen Instruments, einen Stoff singt, der in ausführlicher Erzählung von einem komischen, tragischen oder ähnlichen Thema handelt: dann sehen wir ihre Wirkungen. […] In Wahrheit erfreut uns die einfache Musik im allgemeinen mehr als diejenige, die mit großer Kunstfertigkeit komponiert ist und mit vielen Stimmen gesungen wird.44
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Ma se la Musica antica (come di sopra hò mostrato) haueua in se tale imperfettione, non par credibile, che i Musici potessero produrre ne gli animi humani tanti varij effetti, si come nelle historie si racconta: Percioche si legge, che alle volte muoueuano l‘ animo all’ ira, alle volte dalla ira lo ritirauano alla mansuetudine, hora induceuano al pianto, hora al riso, ouero altre simili paßioni. Et tanto meno par credibile, perche essendo ella hoggidi ridutta a quella perfettione, che quasi di meglio non si può sperare, non si vede che faccia alcuno delli sopradetti effetti; Onde più tosto si potrebbe dire, che la moderna, & non l‘ antica fusse imperfetta (G. Zarlino, Istitutioni II 4, 62; Übers. Fend). Im Dialogo wird sich V. Galilei explizit auf dieses Argument Zarlinos beziehen (1581, 86). Zarlino spricht außerdem von Chören. Es ist aber nicht ganz klar, ob er sich die Chormusik als polyphon vorstellt. Percioche se per la Musica anticamente erano operati tali effetti, era anco recitata nel modo, che di sopra hò mostrato, & non nel modo, che si vsa al presente, con vna moltitudine di parti, & tanti cantori & istrumenti, che alle volte non si ode altro che vn strepito de voci mescolate
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(2) Daran anschließend: Die antiken Dichter-Komponisten waren sehr sorgfältig in der Auswahl ihrer Texte. Sie nahmen stets gewichtige und gelehrte Stoffe als Themen: »die Ehre der Götter (wie etwa in den Hymnen des Orpheus), die erhabenen Taten der Sieger bei den olympischen, pythischen, nemeischen oder isthmischen Spielen (wie etwa in den Oden Pindars), oder Hochzeitsgesänge (vergleichbar denjenigen Catulls)«.45 Dagegen würde die Musik der Gegenwart auf Texte komponiert, die »tadelnswerte und schmutzige Worte« enthielten, welche »oft die züchtigen Gedanken der Zuhörer verderben«.46 (3) Die im engeren Sinn musikalischen Elemente der Komposition, also die »Harmonie« aus instrumentalen und vokalen Tönen und der Rhythmus beziehungsweise das Metrum, waren in der Antike so eingerichtet, dass sie den Effekt der Worte verstärkten.47 Um die Wirkung vor allem der Harmonien zu erklären, entwirft Zarlino eine psychologisch-physiologische Skizze, die auf die Lehre von den ›Körpersäften‹, die sogenannte Temperamentenlehre, zurückgreift48 und das für die Emotionen verantwortliche Verhältnis der Körpersäfte mit jenem Verhältnis in Verbindung bringt, das die Harmonien kennzeichnen soll: [Jede Empfindung besteht] in einem gewissen Verhältnis von warm und kalt, feucht und trocken, je nach stofflicher Anlage. Wenn jene Empfindungen erregt werden, so strömt eine der genannten Eigenschaften in eine andere aus. So wie bei der Empfindung des Zorns das Heiße und Feuchte überwiegt, und darin die Ursache dieses Antriebs liegt, so dominiert bei der Empfindung der Furcht das Kalte und Trockene, und
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con diuersi suoni, & un cantare senza alcun giudicio, & senza discrettione, con vn disconcio proferir di parole, che non si ode se non strepito, & romore: onde la Musica in tal modo essercicata non può fare in noi effetto alcuno, che sia degno di memoria. Ma quando la Musica è recitata con giudicio, & più si accosta all‘ vso de gli antichi, cioè ad vn semplice modo, cantando al suono della Lira, del Leuto, o di altri simili istrumenti alcune materie, che abbiano del Comico, ouer del Tragico, & altre cose simili con lunghe narrationi; allora si vedeno li suoi effetti; […] Et che sia il vero, che la Musica più diletti vniuersalmente quando è semplice, che quando è fatta con tanto artificio, & cantata con molte parti (G. Zarlino, Istitutioni II 9, 75; Übers. Fend). Le Lodi delli Dei, come sono quelle, che si contengono ne gl‘ Hinni di Orfeo; i fatti illustri de gli huomini vittoriosi ne i giuochi Olimpici, Pitij, Nemei, & Isthmij; come sono quelle, che si contengono nelle Odi di Pindaro; ouer cantauano cantilene nuttiali, simili à quelle di Catullo (G. Zarlino, Istitutioni II 5, 65; Übers. Fend). Ma ben si ode il contrario, che le vituperose et sporche parole, contenute nelle lor cantilene, corrompeno spesse volte gli animi casti de gli vditori (G. Zarlino, Istitutioni II 7, 70; Übers. Fend). In Istitutioni harmoniche II 7 nennt Zarlino vier Aspekte, die für die psychologische Wirkung der Musik relevant sind: (i) die »Harmonie« (Harmonia) aus instrumentalen oder vokalen Tönen, (ii) den Rhythmus (Numero) bzw. das Metrum (Metro), (iii) den Inhalt des Textes, (iv) das »vorbereitete Subjekt« (Soggetto ben disposto), d.h. den Hörer, der eine Empfindung in sich aufnehmen kann (1558, 71). Entscheidend ist, dass nach der Auffassung Zarlinos alle vier Aspekte zusammenwirken müssen und dass insbesondere die im engeren Sinn musikalischen Mittel (i) und (ii) erst in Verbindung mit (iii) und (iv) ihre eigentliche Wirkung entfalten. Zur Temperamentenlehre, vgl. Palisca (2006), Kap. 10.
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die Sinne ziehen sich zusammen. […] Falls jedoch der Überfluß auf ein Mittelmaß gebracht wird, so entsteht eine Wirkung in der Mitte, die tugendhaft, ja sogar lobenswert ist. Die gleiche Anlage besitzen die Harmonien. Daher sagt man, die phrygische Harmonie besitze die Eigenart, den Zorn anzustacheln […]. Daß dies so ist, erkennt man an den jeweiligen Veränderungen des Gemüts, wenn man jene Harmonien vernimmt. Mit Sicherheit bestehen daher in den genannten Qualitäten dieselben Verhältnisse wie in der Harmonien; denn jede Wirkung muß eine eigene Ursache haben. Bei den gerade erwähnten Qualitäten, wie auch in den Harmonien, liegt sie in der Proportion.49
Hält man nun Meis und Zarlinos Argumente nebeneinander, dann fallen zunächst einige Gemeinsamkeiten ins Auge. Ebenso wie Mei folgt Zarlino den beiden in 3.1 umrissenen Gemeinplätzen. Er stellt fest, dass der Musik seiner Zeit die emotionale Wirkung fehlt, welche ihr in der Antike zugeschrieben wurde; und er bringt den Unterschied in der Wirkung mit der ›Einfachheit‹ der antiken Musik in Verbindung, wobei er sogar – ähnlich wie später Mei – auf den Aspekt der Stimmenzahl zu sprechen kommt. Außerdem versucht auch Zarlino, seine Ausführungen durch wissenschaftliche Erwägungen zu stützen. Er formuliert die Grundzüge einer Musikpsychologie, die dabei helfen soll, die wunderbaren Effekte antiker Musik zu erklären.50 Allerdings sieht Zarlino das Verhältnis zwischen antiker und moderner Musik unter völlig anderen Vorzeichen als Mei. Während dieser nämlich, wie schon Valgulio, die in den antiken Quellen skizzierte Verfallsgeschichte bis in die Gegenwart fortschreibt und daher eine grundlegende Reform der Musik für nötig hält, begreifen die Istitutioni die Musik der Gegenwart als »vollkommen« (perfetta). Die beiden Autoren gehen also offensichtlich von diametral entgegengesetzten Begriffen musikalischer Vollkommenheit und musikalischen Fortschritts aus, die wiederum auf entgegengesetzten Auffassungen des Zwecks beruhen, dem die Musik zu dienen hat.51 Dementsprechend ist auch die Zielsetzung Zarlinos eine _____________ 49
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[C]iascuna di esse consiste in vna certa proportione di calido & frigido; & di humido & secco, secondo vna certa dispositione materiale; di maniera che quando queste paßioni sono fatte, sempre soprabonda vna delle nominate qualità in qualunque di esse. Onde si come nell‘ Ira predomina il calido humido, cagione dell‘ incitamento di essa; cosi predomina nel Timore il frigido secco, il quale induce il ristrengimento de i spiriti. […] se non che quando tali soprabondanze si riducono ad vna certa mediocrità, nasce vna operation mezana, che non solo si può dire virtuosa, ma anco lodeuole. Questa istessa natura hanno etiandio le Harmonie; onde si dice, che l‘ Harmonia Frigia hà natura di concitar l’ira […] & questo si vede nella diuersa mutatione dell‘ animo, che si fa quando si ode coteste Harmonie. Per la qual cosa potemo tener per certo, che quelle proportioni istesse, che si ritrouano nelle qualità narrate, si ritrouano anco nelle Harmonie: essendo che di vn solo effetto non gli è se non vna propria cagione, la quale nelle qualità già dette, & et nelle Harmonie; è la Proportione (Zarlino, Istitutioni II 8, 73; Übers. Fend, modifiziert). Laut Fend ist Zarlino wahrscheinlich der erste, der diesen Versuch einer »rationale[n] Wundererklärung« unternimmt; vgl. seinen Kommentar in Zarlino (1989), 218, mit den entsprechenden Hinweisen auf Vorläufer wie Johannes Tinctoris und Franchino Gaffurio. Übrigens befasst sich auch Mei in dem hier behandelten Brief mit dem Einwand der ›Unvollkommenheit‹ antiker Monodie (100–104). In seiner Entgegnung weist Mei u.a. darauf
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ganz andere als die Meis (und der Camerata). Ihm geht es nicht darum, die antike Musik ernsthaft ›wiederzubeleben‹, was aus seiner Perspektive wohl einen Rückschritt bedeuten würde, sondern lediglich darum, ihr den Respekt jener Kritiker zu verschaffen, die sie aufgrund ihrer Einfachheit herabsetzen. Besonders augenfällig wird dieser Unterschied in der Zielsetzung, wenn man das Verhältnis zwischen Einfachheit und emotionaler Wirkung bei den beiden Autoren etwas genauer in den Blick nimmt. Auch hier findet sich eine Umkehrung der Vorzeichen. Zarlino nimmt die Einfachheit der antiken Musik, die er vor allem anhand literarischer Quellen belegt, als gegeben an und stellt die Wirkung zumindest hypothetisch infrage. Er behandelt die der Ethos-Theorie zugrunde liegenden Berichte als Legenden, deren Wahrheitsgehalt mit Hilfe einer psychologischen Theorie zu prüfen sei. Mei dagegen nimmt die Wirkung als gegeben an – er behandelt jene Berichte so, wie ein Naturwissenschaftler Aussagen über empirische Beobachtungen behandeln würde – und versucht von hier aus, für die Einfachheit der antiken Musik zu argumentieren. Wie ausgeführt, benötigt er die psychologische Theorie, um gesicherte Aussagen über die antike Musik zu gewinnen. Hier wird noch einmal deutlich, welch entscheidende Rolle das Anliegen einer bewussten Imagination der Antike für das Verständnis von Meis Argument spielt und wie wichtig es ist, dessen Form zu berücksichtigen. Die wesentliche Transformation besteht in der Einbettung gängiger Thesen in einen Schluss auf die beste Erklärung. Daran anschließend lässt sich ein weiterer, wichtiger Unterschied erkennen, der mit dem Status der Einstimmigkeitsthese in Meis Argument zusammenhängt und der ebenfalls auf eine Transformation verweist. Wenn Zarlino über die Einfachheit der antiken Musik spricht, dann scheint er einen eher weiten und unspezifischen Begriff der Einfachheit im Sinn zu haben. Er erwähnt die Ein- oder Geringstimmigkeit als einen Faktor, hält diesen aber vor allem mit Blick auf die Textverständlichkeit für relevant. Und er stellt keinen direkten Zusammenhang zwischen der Einstimmigkeit und der auf dem Begriff der »Harmonie« fußenden Musikpsychologie her. (Letzterer scheint es primär darum zu gehen, die Aufnahme des Textinhalts zu gewährleisten.) Ganz anders Mei: Er vertritt einen spezifischen Begriff von Einfachheit als Einstimmigkeit. Zwar erwähnt er die Bedeutung des Textes, der verstanden werden müsse; im Zentrum seines Arguments steht aber, wie wir gesehen haben, der Aspekt der Tonhöhe. Dass dieser Unterschied mit den zugrunde gelegten (musik-) psychologischen Annahmen zusammenhängt, ist offensichtlich. Zarlinos Modell ähnelt dem, das wir in 3.1 anhand von Politeia, Buch III, skizziert haben. Es geht darum, dass sich bestimmte Eigenschaften der Musik – Zarlino spricht von »Proportionen« (proportioni) – auf die Seele des Hörers übertragen und diese gewissermaßen aufnahmefähig machen. Für Mei dagegen drückt die Musik, ähnlich der menschlichen Stimme, etwas aus, das vom Hörer mitempfunden wird. In einer gängigen _____________ hin, dass der Umgang mit den antiken genera, also den drei grundlegenden Arten, die Tonhöhen einer Melodie zu strukturieren, ausgesprochen komplex gewesen sei.
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Gegenüberstellung könnte man sagen, dass Zarlino eher dem Vorbild Platons folgt (harmonia als Proportion), Mei eher dem des Aristoteles (sympatheia).52 Dies ist nicht völlig falsch, wird allerdings der Komplexität der antiken Situation kaum gerecht53 und trifft auch nicht den entscheidenden Punkt. Dieser lässt sich erst erkennen, wenn wir Meis Interpretation der antiken Tonarten in den Blick nehmen.54 Girolamo Mei gehört zu den Musikforschern der Renaissance, die erkannt haben, dass die antiken Tonarten (harmoniai, tonoi) etwas grundlegend anderes sind als die acht sogenannten Kirchentöne, mit deren Hilfe das Repertoire der mittelalterlichen Choräle geordnet wurde und die auch für die Musik des 16. Jahrhunderts noch verbindlich sind. Dieser Unterschied war vor allem durch die Autorität des Boethius verdeckt worden, dessen auf antiken Quellen beruhende Erläuterungen zu den toni mehr oder weniger unreflektiert auf die mittelalterlichen Verhältnisse übertragen wurden.55 In einer groben Vereinfachung – einer Vereinfachung, die ausblendet, dass die antike Konzeption selbst einer komplexen Transformationsgeschichte unterlag56 – lässt sich der Kontrast folgenderma_____________ 52
53
54 55 56
Vgl. Palisca (1960), 43: »If we were to select the two ancient philosophical works most influential in forming the thinking of Zarlino and Mei, they would certainly be, for Zarlino, the Timaeus of Plato, which he knew in the Ficinian version cited in the Istitutioni, and for Mei, the Poetics of Aristotle. In their opposite leanings Zarlino and Mei reflected a split in sixteenth century aesthetic thinking. On the one side there was the cult of beauty, harmony and proportion, of divinity and love, and on the other, beginning particularly around 1550, the adherence to the theories of imitation and emotional purgation and to the affections–psychology which was now emerging.« Ein Beispiel: Einerseits scheint Zarlinos Betonung der Rolle des Textes an Platon anzuschließen, dessen Musikkonzeption von einer Einheit aus Wort (logos), »Harmonie« (harmonia, d.h. Disposition der Tonhöhen einer Melodie) und Rhythmus (rhythmos) ausgeht, wobei die beiden zuletzt Genannten dem Wort zu »folgen« hätten (akolouthein; vgl. Resp. III, 398cd); in Aristoteles‘ Konzeption der Musik ist vom logos dagegen keine Rede (vgl. Pol. VIII 7, 1341b23f.). Andererseits ist es gerade Platon, der, wie dann Mei, von der menschlichen Stimme und der Prosodie ausgeht (Resp. III, 399ab), während Aristoteles von »Abbildern« (homoiômata) der Emotionen und Tugenden spricht, die in Harmonie und Rhythmus anzutreffen seien (Pol. VIII 5, 1340a18–21). Vgl. zu diesem Thema Brüllmann (2013). Vgl. Palisca (1960), 47–58. Für einen Abriss, vgl. Palisca (1985), Kap. 11. Diese kann hier freilich nicht ausführlich dargestellt werden (eine gute Einführung bieten: Barker 1984, 163–169; Barker 1989, 1–27; West 1992, Kap. 6; für eine umfassende Darstellung, vgl. Barker 2007). Die folgende Skizze soll aber wenigstens andeuten, wie komplex die Situation ist, mit der sich die neuzeitlichen Anhänger der Ethos-Theorie konfrontiert sahen: (1) Ursprünglich, im 6. und frühen 5. Jh. v. Chr., handelte es sich bei den sogenannten harmoniai wahrscheinlich um musikalische Idiome oder ›Stile‹. Es ist nicht bekannt, durch welche Eigenschaften sich diese harmoniai genau auszeichneten. Wahrscheinlich gehörten dazu bestimmte melodische und rhythmische Wendungen sowie der Rückgriff auf einen eingeschränkten Tonvorrat; es dürfte aber noch weitere Aspekte gegeben haben, die für den einer harmonia zugesprochenen Charakter verantwortlich waren. (2) Im späten 5. und frühen 4. Jh. v. Chr. treffen wir auf den Versuch einer systematischen Erfassung der harmoniai, die vor allem mit dem Namen des Damon von Oa verknüpft ist und auf die sich offenbar Platon und Aristoteles, unsere wichtigsten Quellen für die Ethos-Theorie der Musik,
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ßen auf den Punkt bringen: Während sich die Kirchentöne in erster Linie durch die Struktur der verwendeten Tonleiter unterscheiden, unterscheiden sich die antiken tonoi, zumindest in der Bedeutung des Ausdrucks tonos, an der sich Mei orientiert, durch das Tonhöhenniveau, auf dem sich eine gleich strukturierte Skala jeweils befindet. Der Unterschied zwischen den Kirchentönen entspricht also in etwa dem zwischen Dur und Moll, der Unterschied zwischen den tonoi in etwa dem zwischen, zum Beispiel, C-Dur und D-Dur.57 Nähert man sich Meis Argument vor diesem Hintergrund, dann wird einiges besser verständlich, als wenn man nur den Unterschied zwischen dem Konzept der harmonia (verstanden als Proportion) und dem der sympatheia im Blick hat. Zunächst wird verständlich, weshalb Mei eine Musikpsychologie entwirft, die primär um den Aspekt der Tonhöhe kreist, was uns bei der ersten Lektüre seines Arguments eher irritiert hat. Nach antiker Auffassung sind es vor allem die Tonarten, denen eine psychologische Wirkung zuzusprechen ist; und wenn man mit Mei den Unterschied der Tonarten primär als den zwischen ›hoch‹ und ›tief‹ begreift, dann liegt es nahe, diesen Parameter in den Mittelpunkt der Musikpsychologie zu rücken.58 Daran anschließend wird verständlich, weshalb Meis Argument eine Brücke von der psychologischen Wirkung zur Einstimmigkeitsthese zu schlagen vermag, die beispielsweise Zarlino nicht zur Verfügung steht. Da Zarlino Harmonien als Proportionen definiert, hat die Frage der Stimmenzahl für ihn nichts mit dem psychologischen Effekt der Harmonien zu tun. Mei kann hingegen darauf verweisen, dass die Polyphonie zwangsläufig mit einer Vermischung von _____________
57
58
beziehen. Die Unterscheidung geschieht hier zum einen anhand der Struktur der jeweils verwendeten ›Tonleiter‹, was eine Ausblendung anderer und für das Ethos evtl. entscheidender Charakteristika mit sich bringt; zum anderen finden wir eine Kennzeichnung einzelner harmoniai als »hoch« (syntonos) oder »tief« (aneimenos, chalaros), die auch Platon im dritten Buch der Politeia aufgreift (398c–399a). Bei dieser Kennzeichnung geht es wahrscheinlich nicht um das Phänomen der Transposition, sondern eher um die Frage, wie sich die für eine harmonia typischen Melodien zur tessitura des Sängers verhalten, d.h. ob sich die Melodie eher im oberen, mittleren oder unteren Bereich des zur Verfügung stehenden Ambitus bewegt (so jedenfalls West 1992, 178f.; vgl. Aristoteles, Pol. VIII 7, 1342b20–23). (3) Die Systematisierung der harmoniai wird im 4. Jh. v. Chr. fortgesetzt und erscheint nun als der Versuch, die unterschiedlich strukturierten Tonleitern als Ausschnitte einer umfassenden Skala zu begreifen. Das Hauptaugenmerk liegt hier auf dem Aspekt der Intervallverhältnisse, der v.a. für das Umstimmen der Instrumente relevant ist. Allerdings wird die Situation dadurch verkompliziert, dass nun auch von sogenannten tonoi die Rede ist, welche zwar einerseits die Namen der harmoniai erhalten (also »Dorisch«, »Phrygisch« usw.), andererseits aber nicht immer für Tonleitern unterschiedlicher Struktur stehen. Es gibt eine Verwendungsweise des Ausdrucks tonos, nach der dieser eine Transposition der gleich strukturierten Skala auf unterschiedliche Tonhöhenniveaus meint. Vgl. Meier (32000), 11–19 für eine knappe und sehr hilfreiche Darstellung. Die Vorstellung, dass bestimmte tonoi »höher« sind und andere »tiefer«, resultiert aus der Beschränkung des Ambitus, die bei der analogen Unterscheidung zwischen C-Dur und D-Dur freilich nicht gegeben ist. Zu Meis umfassenden Untersuchungen, vgl. Palisca (1985), 303–314. »Mei believed that the emotional effect of the tonoi depended largely on the location of the mese, or middle note, of a tonos and therefore on the height of the melody within a singer’s range« (Palisca [2006], 90).
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›hoch‹ und ›tief‹ einhergeht. Und schließlich wird verständlich, inwiefern Meis Transformation der Antike darin besteht, dass er seine Auffassung der Tonarten gegen die Polyphonie wendet, was in den antiken Quellen so überhaupt nicht vorgesehen ist.
4. Schlussbemerkung Durch die etwas genauere Betrachtung von Meis Argument sollte ein Schlaglicht auf einige Aspekte geworfen werden, die für die Fragestellung des vorliegenden Bandes relevant sind. Der musikalische Humanismus des 16. Jahrhunderts befindet sich aufgrund der Quellenlage in der Situation, Antike imaginieren zu müssen. Dies gilt insbesondere, wenn er eine Reform der musikalischen Praxis, eine ernsthafte Wiederbelebung der antiken Musik anstrebt, wie es etwa bei der Camerata fiorentina der Fall ist. Meis Argument ist deshalb so interessant, weil es bereits durch seine Form auf die Situation einer reflektierten Imagination verweist. Im Prinzip verfährt Mei so wie jemand, der von Beobachtungen des Sternenhimmels auf ein heliozentrisches Weltbild oder von unseren Sinneseindrücken auf die Existenz einer Außenwelt schließt. Der Vergleich mit Zarlinos Istitutioni harmoniche sollte andeuten, inwiefern gerade diese Form das Besondere an Meis Argument ist, und nicht dessen inhaltliche Annahmen. Dabei sehen wir, dass der durchaus zeittypische Naturbezug in Meis Argument eine besondere Gestalt annimmt. Die Natur dient ihm als Instanz, allerdings nicht, um Legenden zu überprüfen oder Autoritäten zu hinterfragen, sondern um einen bestimmten, unabhängigen Zugang zur Antike zu haben.59 Die Pointe dieses Zugangs besteht darin, dass die Aussagen über die antike Musik deshalb beanspruchen, wahr zu sein, weil sich die Natur seit der Antike nicht verändert hat. Gleichwohl ist dieser Zugang mit erheblichen Transformationen der Antike verknüpft, die hier nur angedeutet werden konnten. Meis Argument funktioniert nur, wenn bestimmte Elemente der antiken Theorien herausgegriffen, andere ausgeblendet werden und wenn bestimmte Begriffe – darunter so grundlegende ästhetische Kategorien wie die der musikalischen Einfachheit oder Vollkommenheit – in einer bestimmten Weise verstanden werden. Vielleicht könnte man diese Transformationen so auf den Punkt bringen, dass alles dem Anliegen unterstellt wird, die Eigenschaften der antiken Musik als konträr den Eigenschaften der gegenwärtigen Musik zu imaginieren. Es geht Mei eben nicht nur darum zu zeigen, dass die Musik der Antike einstimmig war und Gefühle zum Ausdruck brachte. Es geht ihm darum zu zeigen, dass die Musik der Antike einstimmig war _____________ 59
So werden die antiken Autoren gleichsam auf einem Umweg zu Autoritäten. Vgl. hierzu auch die Geschichte des Platonischen Slogans, dass die Musik Dienerin des Wortes zu sein habe: Pöhlmann (2010), 60–63.
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statt polyphon und dass sie dem Ausdrucksprinzip unterlag statt Regeln des Tonsatzes. Wenn man diese Spur weiterverfolgt, kommt man, so denke ich, zu einem tieferen Verständnis der Art und Weise, in der humanistische Autoren unter Bezug auf die Antike für die Schaffung einer neuen Musik argumentierten.60
_____________ 60
Für Anmerkungen und Kritik bedanke ich mich herzlich bei Hartmut Schick, Cornelia Wilde und den beiden Gutachtern dieses Bandes.
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Die Accademia Olimpica in Vicenza. Humanistische Antikeforschung im Zeichen der Erneuerung der Künste: Musiktheorie, Rhetorik und Architektur PAOLO SANVITO
Einleitung Der vorliegende Beitrag betrachtet die Antike-Forschungen einiger Humanistengenerationen ab der Mitte des 16. Jahrhunderts in ihrer Verbindung mit dem gleichzeitigen Ringen um eine neue Gattung der darstellenden Künste: die italienische Frühoper. Dazu werden Debatten über die aristotelische Rhetorik, die Harmonielehre, die phantasia und die Optik in ihrer Entwicklung und ihrem Verhältnis zur theatralen Aufführung neu analysiert, wobei die Aktivitäten der 1556 gegründeten Accademia Olimpica in Vicenza im Mittelpunkt stehen sollen. Zudem werden die Transformationen angedeutet, die mit der Inanspruchnahme antiker Theoreme bei der Etablierung einer neuen Gattung einhergehen. Das materielle Ergebnis dieser Transformationen, die sich durch das Aufkommen neuer ästhetischer Visionen und Positionen abzeichnen, ist in erster Linie in der Errichtung neuer musikalischen Aufführungsorte nachzuweisen, die sich als spezifische Sondergattung definieren lassen. Einer dieser Aufführungsorte, und der früheste erhaltene von ihnen, ist das Olimpico genannte Theater der Accademia Olimpica, das ebenfalls mit Blick auf das Verhältnis von Transformation und Innovation betrachtet werden soll. Die zahlreichen, bis zum heutigen Tag richtungweisenden Studien über die allmähliche Entstehung und Definition der Gattung Oper von Edward Elias Lowinsky und vor allem von Claude Victor Palisca haben gezeigt, dass vor den 1580er Jahren kein wirklicher Neubeginn in der europäischen Musik- und Theatergeschichte stattgefunden hat. In diesem Jahrzehnt herrschte – nach lang andauernden Unbestimmtheiten und vielfachen Meinungsverschiedenheiten der Experten – in den ausschlaggebenden musikalischen Kreisen Italiens allmählich ein Konsens darüber, dass die aristotelische Ästhetik und der wissenschaftliche Empirismus die Menschheit zu einer ästhetischen Erneuerung, was Palisca eine »new
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era of enlightenment« nannte, führen würden.1 Dieses Zitat Paliscas mag zuerst unverhältnismäßig klingen, ging es doch ›nur‹ um die Oper; wie unten zu zeigen sein wird, hat es aber seine Berechtigung. Der angedeutete, im Folgenden näher zu erläuternde Paradigmenwechsel vollzog sich infolge lebhafter Debatten, an denen solche bekannten Musiker und Theoretiker wie Giovanni Maria Artusi, Claudio Monteverdi, Vincenzo Galilei, Girolamo Mei, Carlo Gesualdo, Giulio Caccini, aber auch der weniger bekannte Giulio Cesare Monteverdi2 teilnahmen; einige von ihnen, wie Gesualdo, Galilei und Caccini, taten dies speziell in den einführenden Texten ihrer Partiturausgaben. Musiktheoretisch wurde allerdings schon seit Mitte des Jahrhunderts eine Abkehr vom transzendentalen Harmoniedogmatismus des nunmehr überholten Pythagorismus befürwortet. Die frühneuzeitlichen Tonsysteme, in denen ausschließlich ausgewählte Intervalle und eine beschränkte kontrapunktische Freiheit zugelassen waren, sollten durch innovative Experimente mit einer Erweiterung des Intervallvorrats ersetzt werden. Es lässt sich anhand zahlreicher Quellenzeugnisse beweisen, dass in den Schriften dieser Autoren grundsätzlich eine Verbindung zwischen der Darstellung der Leidenschaften (mit den Mitteln der Dichtung, der Rhetorik oder durch die Künste als Ganzes) und der Wiederbelebung des Aristotelismus hergestellt wurde. In diesem Zusammenhang erlangte das Bemühen um eine Wiederbelebung der antiken Pathos-Theorien in Italien eine hohe Relevanz.3 Diese Wiederbelebung war offensichtlich eine imaginierte Vergegenwärtigung antiker Konzeptionen. Palisca hat die Neubewertung des Aristotelismus (schon 1959 in einem bahnbrechenden Artikel; detaillierter in der Monographie von 1989)4 treffend so charakterisiert, dass der große Theoretiker Vincenzo Galilei (ca. 1520–1591) die Notwendigkeit einer Rückkehr zu jenen Maßstäben sah, die Aristoteles einer kultiviertzivilisierten Musik verordnet hatte – einer Musik, die sich einer freien Menschheit
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Palisca (1959), 84: »and the victory of this cause seemed inevitable«. Paliscas Studien zu diesem epochalen Umbruch begleiteten ihn bis zu seinen letzten Lebensjahren: hier seien mindestens die ausführliche kommentierte Anthologie Documents (Palisca [1989]) und sein spätes, posthum erschienenes Werk Music and Ideas (Palisca [2006]) genannt, in Letzterem speziell das Kapitel Theories of the Affections and Imitation, 179ff. Nach Arnold Denis, im Lemma Giulio Cesare Monteverdi, kuratierte dieser die »Scherzi musicali (1607)« seines Bruders Claudio Monteverdi, »each with a three-part ritornello«, die »are very similar in style to the rest of the volume (edns in Tutte le opere di Claudio Monteverdi, ed. G.F. Malipiero, x, Asolo [1929], 58ff). He is more important for the fact that he edited that volume and in doing so included as a Dichiaratione a detailed explanation of Claudio’s ideas« (facs., ibid., 69ff.; Engl. Übers. in: Strunk [1950], 405ff.). Zitiert nach: www.oxfordmusiconline.com/subscriber/article/grove/music/19023?q=Giulio+Cesare+Monteve rdi&search=quick&source=omo_gmo&pos=1&_start=1#firsthit. (1.2.2014). Dabei kann nicht übersehen werden, dass sich die neuen Definitionen von Kunstwahrnehmung mit einer Neubetrachtung der phantasia-Begriffe überschnitten. Palisca (1989) speziell über diesen Problemkreis.
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ziemt.5 Dabei beschränkte sich der genannte Paradigmenwechsel, wie zu zeigen sein wird, nicht ausschließlich auf die Musiktheorie, sondern erfasste unterschiedliche Disziplinen, und dies offensichtlich auf mindestens zwei Ebenen. Zum einen setzte sich der wissenschaftliche Empirismus in den Naturwissenschaften immer mehr in allen gelehrten Institutionen durch, speziell unter dem Einfluss der damals experimentierfreudigen Universitäten wie Padua. Zum anderen fand parallel dazu eine Neubetrachtung der aristotelischen Ästhetik statt, inklusive der philosophischen aisthêsis-Theorie, und dies sogar in Künstler- und Literatenzirkeln. Beides, und meiner Meinung nach nicht allein die Harmonielehre, leitete die genannte Aufklärungsära ein. Die Wissenschaften, die in einer solchen umfassenden Erneuerung des Systems der Künste involviert waren, waren die Ästhetik, die Harmonielehre, die Rhetorik, die Mathematik, die Optik und die Astronomie; sie alle erleben in den Jahrzehnten ab der Mitte des 16. Jahrhunderts bis zur Formulierung der Frühoper einen essentiellen Schub. Es ist an der Zeit, sie im Kontext dieser spezifischen Zeitspanne zu betrachten und zueinander in engere Verbindung zu setzen. Privilegierter Betrachtungsgegenstand für eine solche Wende im Spätcinquecento sind, ad evidentiam, die großen Vereinigungen der progressivsten Humanisten und Forscher der Zeit: die Akademien (wie die Olimpica) die größtenteils aus Dozenten der lokalen Universitäten (insbesondere Paduas als einer der wichtigsten des Landes) bestehen. Durch das Studium dieser Institutionen kann man die Ergebnisse der neuen Bestrebungen und die Debatten, die in den großen Vereinigungen der Akademien geführt wurden, am besten erschließen.
1. Die historische Funktion der Vicentiner Akademien am Übergang zwischen Spätrenaissance und frühem Barock Wenn man den Blick auf die Situation in der Republik Venedig richtet, ist unverkennbar, dass sich hier ab 1556 vornehmlich eine Institution mit der Formulierung der neuen Grundhaltungen hervortat und manchmal sogar philosophischästhetische Parameter dafür entwickelte. Dies geschah zwar auch in anderen akademisch-wissenschaftlichen Institutionen in der Region, eine besondere Rolle spielte aber die Accademia Olimpica (die spätere Gründerin des gleichnamigen Musiktheaters Olimpico) in Vicenza, nicht nur in Reichweite der Metropole Venedig selbst gelegen, sondern auch in Nachbarschaft von Padua, der vermögendsten Universität Italiens. Im genannten Jahr 1556 war in Vicenza bereits eine andere, stärker literarisch orientierte Akademie gegründet worden: die dei Costanti,6 deren Auspizien schon 1557 durch die großzügige Widmung des Werkes Della eloquenza durch den Paduanisch-Venezianischen Humanisten Daniele Barbaro _____________ 5 6
Palisca (1959), 84: Galilei »saw a desperate need for a return to the standards Aristotle had set for a music worthy of free men«. Zorzi (1969), 253.
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(1514–1570) günstig zu sein schienen. Ebenfalls vielversprechend entwickelte sich die Olimpica: 1557 stellte ihr ein frühes Mitglied, der Paduanische Professor für innere Medizin Alessandro Massaria (1510–1598), die neue Übersetzung der Terenzischen Andria für eine Uraufführung in italienischer Sprache zur Verfügung. Die Akademie dei Costanti war wohl streng aristokratisch: nur Patrizier konnten die Mitgliedschaft beantragen, während die Olimpica einen »carattere democratico« hatte.7 1568 wurde erstere jedoch aufgelöst, und viele ihrer ehemaligen Mitglieder wechselten in die Olimpica; fortan blieb deren führende Position unangefochten.8 Die Konfrontation mit den neuen ästhetischen Ideen hatte im venezianischen Aristotelismus allerdings schon früher eingesetzt: Sowohl die ältere Academia Venetiana in der Hauptstadt als auch die laufenden Vorlesungen an der philosophischen Fakultät in Padua hatten ähnliche musiktheoretische Fragen behandelt, obwohl die Venetiana keinen akademischen Status besaß (im Übrigen gab es in Venedig, im Gegensatz zu Padua, damals auch keine Universität, nur die sogenannten Scuole). Die Untersuchungen dieser gelehrten Kreise zur Harmonielehre, zur Rhetorik und zur Musikwahrnehmung (d.h. nach den alten Griechen, zur aisthêsis der Musik) können zumindest einen Teil des kulturellen Klimas wiedergeben, in dem die Formulierung der neuen Gattung des Musiktheaters und die Reform des Begriffs von Musik überhaupt stattfand. Die Wahrnehmungstheorie stand in unmittelbarem Zusammenhang mit den Versuchen einer Etablierung neuer Begriffe der darstellenden Künste (in der Musik wie im Bühnenspiel), deren Anliegen die künstlerische Vortäuschung von Wirklichkeit in Optik, d.h. durch die Perspektive und die visuelle Präsentation, und Akustik, d.h. durch den Klang, bzw. die Musik, war. Die von der Akademie in Vicenza beabsichtigte, unmittelbare Verbindung der antiken Gattung mit dem Ideal einer Realisierung von modernen tragischen Inszenierungen ist jedoch noch nicht zur Genüge erforscht worden. Auch die Rolle des rhetoriktheoretischen Diskurses ist kaum untersucht worden; ähnliches gilt für die Theorie der Tragödie, bezüglich derer man überspitzt fragen könnte, ob es sich nicht sogar ausschließlich um eine »Gattungsmythologie« handelte, die noch keine praktische Anwendung im Bühnenbetrieb oder auch in der literarischen Praxis gefunden hatte. Tragödienschriftsteller sind vor 1500 nicht nachgewiesen und auch danach sehr selten; die programmatische Eröffnung des entsprechenden Diskurses erfolgt erst durch den Vicentiner Giangiorgio Trissino (1478– 1550; Verfasser, in Vicenza selbst, des früh verbreiteten Dialogs La poetica [1529], später erweitert durch La quinta e la sesta divisione della poetica [1562]) und den schon erwähnten Barbaro. Weite Abschnitte des Werkes Trissinos9 beschäftigen sich mit der Definition der Tragödie und handeln sogar von den Besonderheiten der Sophokleischen Thebanischen Trilogie. Letztere sollte schließ_____________ 7 8 9
Zorzi (1969), 257. Maylender (1929), II, 115. Speziell: Trissino, La quinta e la sesta divisione della poetica (1562), 13.
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lich um 1585 als Uraufführungswerk für die Eröffnung des Olimpico gewählt werden. Die Akademie versammelte sich jedenfalls 1556 zum ersten Mal unter Einbeziehung von Mitgliedern der Familie Trissino mit dem explizit ausgesprochenen Ziel, die Theaterpraxis in Vicenza neu zu beleben. Schon ein Jahr später, um 1557, wurden diese Absichten mit der Aufführung der oben genannten Terenzischen Andria in einem »vero e proprio teatro«, das aus diesem Anlass von Palladio, dem späteren Schöpfer des Teatro Olimpico, für die Accademia errichtet worden war, erstmals in die Tat umgesetzt.10 Die Vertiefung und Erweiterung des Interesses an den darstellenden Künsten nahm in den Jahren danach sogar deutlich zu: zumindest bis zu den späten 1570er Jahren, für die von Guthmüller festgestellt wird, dass nunmehr und bis zum Ende ihrer Tätigkeit »le attività più importanti« für die Akademie die »rappresentazioni teatrali« seien.11 Doch damit ist noch nicht alles über die akademischen Bestrebungen gesagt. Das Studium der Quellen von und über die Akademie eröffnete dem Verfasser einen zum Teil unerwarteten Einblick in die tieferen Beweggründe für diesen großartigen Zusammenschluss von Intellektuellen, der innerhalb des gesamten venezianischen Staates in vielfältigen Kulturkreisen wirksam war. Von Beginn an sprach sich die Akademie in besonderem Maße für die Wiederbelebung des antiken Theaters und seiner Formen aus, was schon an und für sich eine mutige, nonkonforme Positionierung innerhalb der zeitgenössischen venezianischen Kultur darstellte. Theater als literarische Gattung hatte in der Tat kaum eine Tradition, und die frühen, schüchternen Versuche aus dieser Zeit im übrigen Italien ließen noch nicht ahnen, was die Musiktheorie der 1580er Jahre erreichen würde. Als gelehrte Versammlung lokaler Patrizier hatte die Akademie jedoch nicht nur Interesse am Theater bzw. machte sich die Veröffentlichung einzelner dramatischer Schriften zur Aufgabe.12 Vielmehr verfolgte sie als erste in Italien, und zwar noch in vortridentinischer Zeit um 1556 (bezeichnenderweise im Jahr der anspruchsvollen Veröffentlichung der Vitruv-Ausgabe, mit Palladios Holzschnitten, bei Marcolini in Venedig), mit der Unterstützung ihres »Anhängers« Daniele Barbaro und ihres Präsidenten (principe), des Mathematikers und Ingenieurs Silvio Belli, zusätzlich jene Wissenschaften, die im aristotelischen Sinne als »edler« galten: die »quadrivialen«. Offensichtlich befand sich schon sehr früh für das 16. Jahrhundert eine beeindruckende Zahl von mathematischen, astronomischen und auch astrologischen Werken in Vicenza – die natürlich auch benutzt wurden. Dadurch _____________ 10
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Zorzi (1969), 264: »nella corte della sede accademica [Sitz der Accademia Olimpica P.S.] presa in affitto dal Todeschini a Porta Nuova«, jedoch ohne, dass Reste dieses Gebäudes überkommen seien. Guthmüller (1996), 39. Sophokles und Euripides waren im hellenophilen Venedig dieser Zeit ohnehin schon in vollständigen Neuausgaben herausgekommen. Diese Drucke gehören zu den ersten in Europa nachgewiesenen Ausgaben. Der Bibliothekskatalog der Akademie führt sie vollständig auf – von den Beständen der Bibliothek Bertoliana in Vicenza ganz zu schweigen, so dass eine entsprechende editorische Tätigkeit nicht nötig war.
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zeichnete sich die Akademie als einer jener Orte Italiens aus, an denen die aktuellen Kulturdebatten präsent gewesen sind.13 Schon Peter Schiller hat in seiner Dissertation von 1985 wichtige Inventarseiten aus Bartolomeo Ziggiottis Memorie sull’Accademia Olimpica veröffentlicht.14 Schillers Verzeichnis der Buchbestände aus dem Gründungsjahr 1556 führt auf, dass ein Franzose, Ludovico Lance,15 anlässlich der Akademie-Gründung ein Horoskop erstellte. Dieser war fortan lector der Mathematik an der Akademie. Sein Nachfolger im Amt war (ab dem 8. März 1557) nach Schiller ein »gewisser Iseppo Moletti, Professor der Astrologie«. Dies war kein Geringerer als Giuseppe Moleto, der Ordinarius für Mathematik in Padua und Vorgänger auf dem gleichen Lehrstuhl von Galileo Galilei.16 In dieser frühen Phase sind die Buchbestände der Akademie noch nicht von der Zensur bedroht gewesen. Aus einer nur 55 Werke umfassenden Liste von 1556 geht hervor, dass besonders relevante Schriften bei den Akademikern in Gebrauch waren, wie z.B. Euklid (vier Exemplare), Ptolemäus’ Almagest, ein Vitruvio (die Edition von Barbaro, Venedig 1556), weitere gängige astronomische Traktate, (Tabula Alphonsi, zahlreiche des Apianus), Sebastian Münsters Horologiographia,17 Werke des Hans Stöfflers, des Oronce Finés, Peuerbachs (zweifach), eine Ptolemeo La Geografia, Polybius über die Militärkunst,18 und viele andere. Schiller hebt hervor, dass sich die Akademie anscheinend fast obsessiv mit himmelskundlichen Werken beschäftigte: Er kommt auf einen Anteil der astronomischen und astrologischen Bücher von 58%.19 Die Anschaffung vor allem der astronomischen Bücher stellte immer ein großes Wagnis dar. Beispielsweise gehörte Regiomontanus (Johann Müller von Königsberg) zur ersten Klasse der indizierten Autoren. Dennoch hat sein Della significatione de pianeti (Venedig 1578) neben anderen Schriften in Venedig (Marciana) und in Padua die Zeiten überdauert.20 Dass kurz vor den 1550er Jahren das Werk des Kopernikus in Italien be_____________ 13
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Der zwar sehr verdienstvolle und gewöhnlich gut informierte, ausführliche Band von Stefano Mazzoni über die Geschichte des Olimpico wird in dieser Hinsicht einer befriedigenden Beschreibung der Situation des gesamten »olympischen« Unternehmens leider nicht gerecht. Dieses Manuskript mit den wichtigsten Versammlungsprotokollen der Akademie befindet sich in der heutigen Biblioteca Bertoliana in Vicenza. Schiller (1985), 21 (dort die Bibliotheks-Katalogeinträge bis 44). Recherchen über die Person und Herkunft von Lance blieben bisher ohne Ergebnis. Schiller (1985), 21. Moletos Identität bleibt Schiller verschlossen, u.a. auf Grund der dialektalen Entstellung des Vornamens Giuseppe in der Quelle. Dadurch wird allerdings die für die Baukunst zentrale Rolle des Uhrenbaus, der im antiken Rom zur Architektur gehörte, klar hervorgehoben (nach diesem Konzept zerfiel die Architektur in drei Bereiche: Gebäude, Uhren und Maschinen). Dessen Anschaffung ist mit Sicherheit auf das Interesse des Mitglieds Palladio zurückzuführen. Schiller (1985), 44: »Ich stelle fest, daß von insgesamt 55 Büchern, die sich auf 40 Titel verteilen, 25 direkt die Himmelskunde betreffen. Das macht einen Anteil von 45%. Zählt man, was sinnvoll ist, die Titel hinzu, die sich propädeutisch oder ergänzend mit Mathematik und Geometrie beschäftigen, so kommt man mit 32 Büchern auf [...] 58%«. Exemplare der genannten Werke sind in der Biblioteca Marciana inVenedig erhalten.
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kannt war und Eingang in wissenschaftliche Kreise, vor allem an der Universität Padua und bei den venezianischen Humanisten, gefunden hatte, ist gesichert;21 auch der ›olympische‹ Akademiker Moleto verwendet es in seinen Tabulae.22 Weitere Inventare aus dem darauffolgenden Jahrzehnt zeigen, dass die Akademie eine weitgehend aufgeklärte Anschaffungspolitik betrieb und auch nach dem Trienter Konzil noch gegenüber der ersten Liste gewagtere, problematischere oder gar verbotene Texte benutzte oder besaß. Wie Ranzolins neuestem Archivalienverzeichnis der Akademie zu entnehmen ist,23 enthält das Fasc. 3 Libro C, mit den Inventari 1567–1581, auf f. 1r das »Inventar der verbotenen Bücher. In dem der Text auf der gesamten Seite gelöscht und unleserlich gemacht wurde. In den Randglossen: Von verbotenem Verfasser, das Buch selbst auch verboten, aber unter Vorbehalt zugelassen; es wurde vom Pater Inquisitor zerrissen [1567]«. Leserlich geblieben ist nur der Eintrag für »Doi libri dell’Ingenio dell’horologi«, eines davon könnte für den zumindest schon 1556 verzeichneten Sebastian Münster stehen (Eintrag Nr. 12) – der Titel des zweiten Buches bleibt ungewiss.24 Die Bibliothek der Akademie ist ein paradigmatisches Beispiel für die maßgebliche Rolle der Naturwissenschaften in einem Übergangsprozess. Sie zeigt, dass die Naturwissenschaften, in der Akademie wie anderswo, die tradierten, bislang maßgeblichen Systeme durch den wirkungsvollen Einsatz neuer Systeme transformierten, was allerdings manchmal unabhängig von der ›Gültigkeit‹ bzw. der wissenschaftlichen Zuverlässigkeit der neu eingeführten Parameter geschah. In allen Fällen führten die Naturwissenschaften zu einem neuen Weltsystem und erzwangen, eindringlich oder geschmeidig, dessen Akzeptanz. Auch die Optik gehörte zu den vornehmlichen Interessensgebieten der Akademie. Aus dem ambrosianischen Codex R. 123 sup. mit dem fascicolo Lettera e progetto di Angelo Ingegneri per lo spettacolo inaugurale dell’Olimpico25 gewinnen wir Daten über das Projekt zum Bau eines antikisierendes Musiktheaters in Vicenza sowie über die technischen Vorrichtungen, die zu seiner späteren Reali_____________ 21
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Dies ist z.B. spätestens ab seiner Rezeption in der Toskana um 1550 durch Francesco Giuntini, Professor für Astronomie in Florenz, Pisa und Siena, dann definitiv um 1573 mit der Veröffentlichung von dessen Speculum astrologiae, quod attinet ad iudiciariam rationem natiuitatum [...] (Lyon), in der explizit die kopernikanischen Tafeln Verwendung finden, der Fall. Der zweite Teil des Werkes trägt tatsächlich einen Titel mit einem eindeutigen Verweis auf Kopernikus. Vgl. Gingerich (1973) und (1978). Beide Astronomen vergleichen die Tabulae alphonsinae mit den kopernikanischen, von Erasmus Reinhold veröffentlichten (1550 und 1551). Ranzolin (1989), 23: »Inventario dei libri proibiti. Il testo dell’intera pagina è stato reso volutamente illeggibile. Nelle note a margine: Di Autor prohibito et esso libro prohibito, ma è stato concesso videatur; fu stracciato dal padre inquisitore« [1567]. Weiterhin sind in diesem Fascicolo aufgeführt: »3v Elenco libri dell’Accademia«, wobei die Ausradierung leider diese Seite teilweise unlesbar macht, und »4r–5r. Inventario libri di astronomia e astrologia compilato dal segretario Fausto Machiavelli – 9 maggio 1568«. Leider ist auch dieses nicht überliefert oder jedenfalls Ranzolin nicht bekannt. Biblioteca Ambrosiana, Abschnitt des Ms., [s.d., wohl post 6. Mai 1584], in: Tragoedia Vicentina intitolata l’Edipo di Sofocle, secolo XVI, Cod. R. 123 sup., cc. 283r–298r.
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sierung studiert oder vorbereitet wurden.26 Darin geht es insbesondere um die Realisierung komplexer Perspektiven und multipler Bühnen (bekanntlich sind insgesamt fünf Bühnenzeichnungen des Vincenzo Scamozzi aus dieser Phase erhalten, die tatsächlich alle verschieden sind). Scamozzi, der Vollender des Akademie-Theaters, betrieb gleichzeitig zum Theaterbau von Vicenza, und vielleicht sogar davon angeregt, die Optikstudien, die er in seinen verschollenen Traktat zur Perspektive einfließen ließ. Das Studium der verschiedenen Wissenschaften, die auf die eine oder andere Weise mit der Sinneswahrnehmung zusammenhängen und für deren Potenzierung, folglich auch für die illusionistische Darstellung durch Bühnenvorrichtungen, nützlich sind, war offensichtlich ein Anliegen der Akademiker: oben angeführt wurden die Akustik, die Optik, die Harmonielehre und die Astronomie als Betrachtung des Kosmos (die Rhetorik galt als Untersuchung der Prinzipien des Vortrags). Deshalb ist an dieser Stelle auch die Rolle zu betrachten, die die fächerübergreifende Theorie der Wahrnehmung (aisthêsis) für die Transformationen griechischer Musiktheorie spielte, welche zu Lebzeiten der genannten Akademiker und Gelehrten stattfand und auf einen starken, wahrnehmungsfundierten Empirismus hinauslief. Aisthêsis, ein Begriff der in der philosophischen Reflexion vor allem als Ergänzung zur Vernunft, zum nous, relevant ist, spielt bereits im klassischen Griechenland, bei Aristoteles, zwei unterschiedliche Rollen: Sie wird in De anima III 3, 427b29 als von der Vernunft verschieden (heteron) betrachtet; gleichzeitig gilt sie in physischen bzw. naturwissenschaftlichen Kontexten als die Fähigkeit, empirische Phänomene wahrzunehmen und zu quantifizieren, abzumessen. Das Wahrnehmen und die davon abgeleitete Fähigkeit der Wahrnehmung wird für die Beschreibung von visuellen und auditiven Phänomenen in Anspruch genommen. Die aisthêsis wird aus diesen Gründen entweder als natürliche Wahrnehmungsfähigkeit oder als Eigenschaft des spekulativen Denkens begriffen. Sie taucht dementsprechend auch in der harmonisch-musikalischen Theorie immer wieder auf. Jede neue Musiktheorie, die für die Wiederaufnahme der Grundideen des Aristoxenos plädierte, musste gleichzeitig zu einer höheren Wertschätzung der empirischen Wahrnehmung führen. Für den einflussreichen Harmonietheoretiker Aristoxenos selbst hatte die auditive Wahrnehmung von Natur aus Vorrang vor der mathematischen Rationalisierung der Töne und Intervalle nach Zahlenverhältnissen; er lehnte sogar die Anwendung von proportionalen Verhältnissen bei _____________ 26
In Accademia Olimpica, Archivio, busta 2, fasc. 10, libro segnato L, c. 37r, wird auf Scamozzis Bühnenkulissen für die Inszenierung des Ödipus hingewiesen, welche eine Stadt darstellten; hier ließ sie die Beleuchtung, die ausdrücklich als sehr kostspielig (£. 550 in argento) bezeichnet wird, dreidimensional »wie Naturszenen« (dipinta al naturale) erscheinen (»L’artificio dell’illuminazione fu bellissimo, mentre non apparivano in nessun luogo li lumi: il che diede gran stupore ad ogn’uno; e ne discorre anco Angelo Ingegneri. Discorsi dell’illuminaz.e del Teatro, e Regola di essa«, ein verschollenes Werk). Scamozzi erbat im Mai 1585 den Akademie-Principe, Angelo Caldogno, um eine Zeichnung des Theaters, die er in seinem Traktat über die Perspektive abdrucken wollte (ebenda, 37v).
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der Bildung von Harmonien (Konsonanzen) und Skalen ab. Natürlich bereitete dies auch den Boden für die frühmodernen Kontrapunkt- und Harmonielehren wie diejenige des Galilei. Das Anliegen einer empiristischen, gewissermaßen ›anomalistischen‹ Harmonielehre, im Gegensatz zu einer rein mathematisch-rationalen, ergab sich in den Abhandlungen der akademischen Kreise Paduas zu dieser Disziplin beinahe notwendig. Wie jede akademische Einrichtung, damals wie heute, hatte die Universität die Erforschung und den Aufschluss neuer Bereiche des Wissens zum Ziel und sie erreichte dies durch die Aktualisierung der aisthêsisKonzepte und zugleich des Aristoxenismus, was unweigerlich zu einer Neuformulierung der bisherigen, althergebrachten Musiktheorie führte. Einige Aspekte, die für diese neue Wendung der (unter anderem) paduanischen Positionen relevant sind, sollen im folgenden angeführt werden. A) Eine Rekonstruktion der harmonischen Systeme des antiken Griechenland war zu jener Zeit, wie es aus den Unterschieden in den Auffassungen der zahlreichen, im Folgenden heranzuziehenden Theoretiker hervorgeht, ein gewagtes, praktisch zum Scheitern verurteiltes Unternehmen. Die Übersetzung und Überarbeitung des Begriffs der aisthêsis fand gleichwohl die ungeteilte Aufmerksamkeit der Musiktheoretiker, die ihn aus dem Gedankengut der Antike übernahmen und in den zeitgenössischen Traktaten aktualisierten. Seine semantischen Koordinaten wurden schon ab dem 5. Jh. v. Chr. ausgiebig behandelt, wie z.B. im Harmonicum introductorium des Kleoneides (dessen Lebensdaten nach wie vor umstritten sind), durch Platon, Aristoteles und durch den unmittelbaren Aristotelesschüler Theophrast.27 B) Insbesondere Letzterer betrachtete die »seelische Bewegung« als Wirkung der Musik.28 Aufschlussreich ist diesbezüglich, dass der Ausdruck harmonia sich sogar bereits in spätarchaischer griechischer Zeit auf die semantische Ebene einer harmonischen Ordnung, z.B. im Weltall, hatte beziehen können oder direkt auf den Weltlauf, dies schon mit Empedokles von Agrigent und Heraklit von Ephesos. Später, im klassischen Athen, heißen die Tonarten in musikalischer Terminologie auch, anscheinend mit einer metonymischen Wandlung, »Harmonien«. C) In der frühen Neuzeit, schon 1497, hat Giorgio Valla in der Metropole Venedig eine Übersetzung des Harmonie-Traktates von Kleoneides, der als Schüler
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Theophrast war ebenso wie die beiden anderen Philosophen bereits Ende des 15. Jahrhunderts durch die Aldine-Ausgaben in Venedig (1495–1498) bekannt. Dazu außerdem vgl. Wille (1967), 461–463. Theophrast, Fragment 89, (1964), mit lat. Übersetzung, 436–439: »!"# $% &'()* +,* µ-.()/,*, /"01()* +,* 2.3,* 4 /#+’ 5678.()0 9)0-µ:01 +;0 $)< +< 6=>1 /#/;0, [...] +,* µ-.()/,* &'()* ?0. Haec autem musicae est natura una, ut commotio sit animi, qua incommoda ab affectibus profecta removeri possunt«. Diese Stelle wird von Wimmer als »Porphyr. ad Ptolemaei Harmonica« erkannt. Weiter: »’@(+) 9