Pietismus und Neuzeit Band 46/47 – 2020/2021: Ein Jahrbuch zur Geschichte des neueren Protestantismus [1 ed.] 9783666500114, 9783525500118, 9783525559154


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Pietismus und Neuzeit Band 46/47 – 2020/2021: Ein Jahrbuch zur Geschichte des neueren Protestantismus [1 ed.]
 9783666500114, 9783525500118, 9783525559154

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Pietismus und Neuzeit

PuN 46/47 43

Pietismus und Neuzeit ein einjahrbuch jahrbuchzur zurgeschichte geschichtedes des neueren neuerenprotestantismus protestantismus

band46/47 43 band

ISBN 978-3-525-50011-8 978-3-525-55915-4

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PIETISMUS UND NEUZEIT EIN JAHRBUCH ZUR GESCHICHTE DES NEUEREN PROTESTANTISMUS Im Auftrag der Historischen Kommission zur Erforschung des Pietismus Herausgegeben von Manfred Jakubowski-Tiessen, Anne Lagny, Fred van Lieburg, Christian Soboth, Udo Sträter und Jonathan Strom Band 46/47 – 2020/2021

VANDENHOECK & RUPRECHT

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2023 Vandenhoeck & Ruprecht, Robert-Bosch-Breite 10, D-37079 Göttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis,Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau,V&R unipress und Wageningen Academic. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Satz: Satzpunkt Ursula Ewert GmbH, Bayreuth Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2197-3180 ISBN 978-3-666-50011-4

Inhalt Nachrufe. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 Beiträge Stefanie Siedek-Strunk: Gewalt im religiösen Kontext: Die Buttlarsche Rotte oder Evische Sozietät. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 Bernd Roling: Mittelalterliche Mystik im Kreuzfeuer des Pietismusstreites: Der Wittenberger Theologe Martin Chladni (1669–1725) und seine Auseinandersetzung mit der Frauenmystik des Hochmittelalters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38 Brigitte Klosterberg: Leser und Empfänger hallischer Bücher in Züllichau und in Schlesien im 18. Jahrhundert. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 Oliver Kruk: „der völlig und gänzl[iche] Ruin und Untergang der so weit und breit in gantz Europa bekannten Zunnerischen Handlung“? Ein buchhandelsgeschichtlicher Akteur um 1700 . . . . . . . . 108 Christoph Schmitt-Maaß: Das „schöne Buch“ des Pasquier Quesnel: Die Réflexions morales sur le Nouveau Testament in pietistischer Perspektive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 Otto Teigeler: Eine „curieuse Materie“. Zinzendorfs Wochenschrift Der Parther (1725) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 Sabine Wolsink: Magnetismus und Somnambulismus als Erklärungsrahmen für Wunder in der Theologie August Tholucks. . . . . . 186 Rezensionen Ulrich Gäbler: Aufbrüche. Ausgewählte Aufsätze zur Geschichte des europäischen und amerikanischen Protestantismus. Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2022: Hartmut Lehmann . . . . . . . . . . . . . . . 207

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Pietismus Handbuch. Hg. v. Wolfgang Breul (in Zusammenarbeit mit Thomas Hahn-Bruckart). Tübingen: Mohr Siebeck 2021: Hartmut Lehmann. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210 Fundamentalismus als ökumenische Herausforderung. Hg. v. Jennifer Wasmuth. Leiden, Paderborn: Brill/Ferdinand Schöningh 2021: Hartmut Lehmann. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 Hans-Martin Kirn u. Adolf Martin Ritter: Pietismus und Aufklärung. Stuttgart: Kohlhammer 2019 (Geschichte des Christentums IV,2): Thea Sumalvico. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 Alles in Allem. Die Gedankenwelt des mystischen Philosophen Jacob Böhme: Denken · Kontext · Wirkung. Hg. v. den Staatlichen Kunstsammlungen Dresden, Claudia Brink u. Lucinda Martin. Dresden: Sandstein 2017. Grund und Ungrund. Der Kosmos des mystischen Philosophen Jacob Böhme: Aufsatzband. Hg. v. den Staatlichen Kunstsammlungen Dresden, Claudia Brink und Lucinda Martin. Dresden: Sandstein 2017: Claudia Neumann. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228 Die Hungarica Sammlung der Franckeschen Stiftungen zu Halle. Alte Drucke 1495–1800. 2 Bde. Hg. v. Brigitte Klosterberg und István Monok, bearbeitet von Attila Verók. Budapest: MTA Könyvtár és Információs Központ 2017: Frank Krauss. . . . . . . . . . . . . . 231 (1) „Mit kräfftigen Gesängen die Gemeinde GOttes zu erbauen“. Das Lied der Reformation im Blickpunkt seiner Rezeption. Hg. v. Wolfgang Hirschmann, Hans-Otto Korth u. Wolfgang Miersemann. Halle/Saale, Wiesbaden:Verlag der Franckeschen Stiftungen, Harrassowitz Verlag 2018 (Hallesche Forschungen, 52): Dirk Rose. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234 (2) „Mit kräfftigen Gesängen die Gemeinde GOttes zu erbauen“. Das Lied der Reformation im Blickpunkt seiner Rezeption. Hg. v. Wolfgang Hirschmann, Hans-Otto Korth und Wolfgang Miersemann. Halle/Saale, Wiesbaden:Verlag der Franckeschen Stiftungen, Harrassowitz Verlag 2018 (Hallesche Forschungen, 52): Franziska Seils . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 238 Die Kantate als Katalysator. Zur Karriere eines musikalischliterarischen Strukturtypus um und nach 1700. Hg. v. Wolfgang Hirschmann u. Dirk Rose. Berlin, Boston: De Gruyter 2018 (Hallesche Beiträge zur Europäischen Aufklärung, 59): Andreas Waczkat. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 243

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Hallesche Pastoren in Pennsylvania, 1743–1825. Eine kritische Quellenedition zu ihrer Amtstätigkeit in Nordamerika. Bd. 1: Lebensläufe und Diarien. Hg. v. Mark Häberlein [u. a.]. Bearb. v. Wolfgang Splitter [u. a.]. Halle/Saale, Wiesbaden:  Verlag der Franckeschen Stiftungen, Harrassowitz Verlag 2019 (Hallesche Quellenpublikationen und Repertorien, 15.1). Hallesche Pastoren in Pennsylvania, 1743–1825. Eine kritische Quellenedition zu ihrer Amtstätigkeit in Nordamerika. Bd. 2: Lebensläufe und Diarien. Hg. v. Mark Häberlein [u. a.]. Bearb. v. Wolfgang Splitter [u. a.]. Halle/Saale, Wiesbaden:Verlag der Franckeschen Stiftungen, Harrassowitz Verlag 2019 (Hallesche Quellenpublikationen und Repertorien, 15.2): Jan Stievermann. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 247 Katharina Krause: Bekehrungsfrömmigkeit. Historische und kultursoziologische Perspektiven auf eine Gestalt gelebter Religion. Tübingen: Mohr Siebeck 2018 (Praktische Theologie in Geschichte und Gegenwart, 23): Juliane Engelhardt. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256 Johannes Moosdiele-Hitzler: Konfessionskultur – Pietismus – Erweckungsbewegung. Die Ritterherrschaft Bächingen zwischen „lutherischem Spanien“ und „schwäbischem Rom“. Neustadt an der Aisch:VBKG 2019 (Arbeiten zur Kirchengeschichte Bayerns, 99): Andreas Flurschütz da Cruz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258 Thomas Ruhland: Pietistische Konkurrenz und Naturgeschichte. Die Südasienmission der Herrnhuter Brüdergemeine und die Dänisch-Englisch-Hallesche Mission (1755–1802). Herrnhut: Herrnhuter Verlag 2018: Sünne Juterczenka. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262 Paul Peucker: Herrnhut 1722–1732. Entstehung und Entwicklung einer philadelphischen Gemeinschaft. Leiden, Göttingen: Brill, Vandenhoeck & Ruprecht 2021 (AGP, 67): Hartmut Lehmann. . . . . . . . 265 Jan-Hendrik Evers: Sitte, Sünde, Seligkeit. Zum Umgang hallischer Pastoren mit Ehe, Sexualität und Sittlichkeitsdelikten in Pennsylvania, 1742–1800. Halle/Saale, Wiesbaden:Verlag der Franckeschen Stiftungen, Harrassowitz Verlag in Kommission 2020 (Hallesche Forschungen, 57): Terence McIntosh. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 269 Valentin Wendebourg: Debatten um die Bibel. Analysen zu gelehrten Zeitschriften der Aufklärungszeit. Tübingen: Mohr Siebeck 2020 (Beiträge zur historischen Theologie, 193): Thea Sumalvico. . . . . . . . . . 272

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Ekaterina Emeliantseva Koller: Religiöse Grenzgänger im östlichen Europa. Glaubensenthusiasten um die Prophetin Ekaterina Tatarinova und den Pseudomessias Jakob Frank im Vergleich (1750–1850). Köln: Böhlau 2019 (Lebenswelten osteuropäischer Juden, 17): Anna Briskina-Müller . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 278 Ute Gause: Töchter Sareptas. Diakonissenleben zwischen Selbstverleugnung und Selbstbehauptung. Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2019: Michael Czolkoß-Hettwer. . . . . . . . . . 285 Helge-Fabien Hertz: Evangelische Kirchen im Nationalsozialismus. Kollektivbiografische Untersuchung der schleswig-holsteinischen Pfarrerschaft. 3 Bde. Bd. 1: Thesen, Grundlagen und Pastoren; Bd. 2: NS-Konformität; Bd. 3: NS-Nonkonformität. Berlin, Boston: De Gruyter 2022: Hartmut Lehmann. . . . . . . . . . . . . . . 290 Pietismus-Bibliographie Christian Soboth und Paulien Wagener: Pietismus-Bibliographie . . . . . . 295 Register Ortsregister. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 329 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331

Beiträgerinnen und Beiträger. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345

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Nachrufe Johannes Wallmann (21. Mai 1930 – 2. Januar 2021) In Erfurt geboren, studierte Johannes Wallmann Theologie in (Ost-) Berlin, in Tübingen und wieder in Berlin. Gerhard Ebeling und vor allem Hanns Rückert gewannen Einfluss auf Wallmanns Entscheidung für die Kirchengeschichte. Dabei vermied er die gängigen Pfade der Forschung, – nicht zuletzt, um sich einen von ideologischen Restriktionen möglichst freien Raum zu erschließen. So wurde weder die Reformationsgeschichte noch die Kirchengeschichte seit der Aufklärung, sondern das in der Forschung weitgehend vernachlässigte 17. Jahrhundert Wallmanns Arbeitsgebiet. Seine Dissertation galt dem „Theologiebegriff bei Johann Gerhard und Georg Calixt“ (1961). Hatte Wallmann die Promotion noch von Ost-Berlin aus in Zürich abschließen können, ließ der politische Kurs der DDR keinen Zweifel daran, dass in diesem Staat für ihn keine Zukunft lag. Die Flucht in den Westen führte ihn zunächst an seinen Studienort Tübingen und zur dortigen Lutherforschung, dann an die neugegründete Universität Bochum, wo er sich 1968 habilitierte und 1970 eine Professur für Kirchengeschichte übernahm, der er trotz konkurrierender Rufe bis zu seiner Emeritierung treu blieb. Für die Habilitation wählte Wallmann wieder das 17. Jahrhundert, wandte sich aber nun dem Pietismus zu. Philipp Jakob Spener und die Anfänge des Pietismus (1970) wurde als eine auf ihrem Gebiet bahnbrechende Arbeit ein Eckpfeiler der neueren Pietismusforschung. Mit diesem seither in zweiter Auflage (1986) erschienenen „Standardwerk“ und einer Reihe begleitender Aufsätze zu Forschungsgeschichte und Forschungsstand leistete Wallmann zugleich vieldiskutierte und heute weithin zum Konsens erhobene Beiträge zum Konzept des Pietismusbegriffs. Eine knappe Gesamtdarstellung erschien als Faszikel Der Pietismus (1990) des Handbuchs „Die Kirche in ihrer Geschichte“, weitere Auflagen separat in der Reihe UTB (2005, 2019). Noch weiter als kirchengeschichtliches Lehrbuch für Studierende verbreitet ist Wallmanns Kleine Kirchengeschichte Deutschlands seit der Reformation, die mittlerweile in einer siebenten Auflage vorliegt. Die zahlreichen Aufsätze Wallmanns erschienen seit 1995 gesammelt in vier thematisch konzipierten Aufsatzbänden, deren Titel zugleich Forschungsschwerpunkte Wallmanns benennen: Theologie und Frömmigkeit im Zeitalter des Barock (Tübingen 1995), Pietismus-Studien (Tübingen 2008), Pietismus und Orthodoxie (Tübingen 2010), Von der Reformation bis zur Gegenwart (Tübingen 2019).

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Spätestens seit dem Luther-Jubiläum 1983 galt ein besonderes Interesse Wallmanns dem Verhältnis von Juden und Christen, nicht zuletzt unter der Fragestellung der Rezeptionsgeschichte von Luthers „Judenschriften“. 2019 erschien unter dem Titel Die Evangelische Gemeinde Theresienstadt. Zum Umgang der evangelischen Kirche mit ihrer Geschichte ein Sammelband, der sechs Aufsätze Wallmanns aus den Jahren seit 1983 zum Thema „Kirche und Judentum“ enthält. Wallmann war seit 1977 Mitglied im Herausgeberkreis unseres Jahrbuchs „Pietismus und Neuzeit“; Band 21 (1995) erschien als Festschrift für Johannes Wallmann zum 65. Geburtstag und enthält auch ein Schriftenverzeichnis für die Jahre bis 1995. Ebenso war Wallmann Mitglied und der erste Vorsitzende im Wissenschaftlichen Beirat des Interdisziplinären Zentrums für Pietismusforschung in Halle. Ein von Wallmann 1985 begonnenes Editionsprojekt zur Pietismusforschung, das gegenwärtig noch läuft, ist die Edition der Briefe Philipp Jakob Speners, von der inzwischen 14 Bände erschienen sind. Hermann Wellenreuther (23. Juni 1941 – 3. April 2021) Hermann Wellenreuther, geboren in Freiburg i. Br., hatte an den Universitäten Heidelberg und Köln studiert und dabei seinen wissenschaftlichen Schwerpunkt in der frühneuzeitlichen Geschichte Englands und Nordamerikas entwickelt. Nach der Promotion und der Habilitation jeweils in Köln war Wellenreuther von 1983 bis zu seiner Emeritierung im Jahre 2006 Professor für deutsche, britische, amerikanische und atlantische Geschichte der Frühen Neuzeit an der Universität in Göttingen. Er veröffentlichte eine Vielzahl bedeutender Studien vor allem zur amerikanischen Geschichte, unter denen die insgesamt rund 3000 Seiten umfassenden ersten vier Bände der von ihm mitherausgegebenen Geschichte Nordamerikas in atlantischer Perspektive (2000–2016) hervorragen. Wellenreuthers Interesse an der Geschichte des Pietismus galt vor allem dessen transatlantischen Beziehungen. Er war Mitglied der Historischen Kommission zur Erforschung des Pietismus in den Jahren 1992 bis 1998 und wieder von 2003 bis 2016, von 1995 bis 1998 auch im Geschäftsführenden und Planenden Ausschuss und im Publikationsausschuss. Nach dem Tod von Kurt Aland (1994) trat Wellenreuther in die Herausgeberschaft der bisher von diesem edierten Korrespondenz Heinrich Melchior Mühlenbergs. Aus der Anfangszeit des deutschen Luthertums in Nordamerika ein, die bis dahin in vier Bänden in der Reihe „Texte zur Geschichte des Pietismus“ erschienen war, und brachte im Jahre 2002 den fünften und letzten Band dieser Edition, umfassend die Jahre 1777 bis zu Mühlenbergs Tod 1787, zum Druck. Mühlenberg gewidmet war auch ein Symposium in den Franckeschen Stiftungen im August 2011, dessen Beiträge Wellenreuther gemeinsam mit Thomas Müller-Bahlke und Gregg Roeber unter dem Titel The Transatlantic World

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of Heinrich Melchior Mühlenberg in the Eighteenth Century in der Reihe „Hallesche Forschungen“ (Bd. 35: 2013) herausgab. Ebenfalls 2013 erschien die Studie Heinrich Melchior Mühlenberg und die deutschen Lutheraner in Nordamerika 1742–1787.Wissenstransfer und Wandel eines atlantischen zu einem amerikanischen Netzwerk in der Reihe „Atlantic cultural studies“. Doch auch anderen transatlantischen Aktivitäten pietistischer Provenienz galt Wellenreuthers Interesse. So gab er gemeinsam mit Carola Wessel unter dem Titel Herrnhuter Indianermission in der Amerikanischen Revolution die Tagebücher des Herrnhuter Missionars David Zeisberger aus den Jahren 1772 bis 1781 heraus (Selbstzeugnisse der Neuzeit, 3. Berlin 1995; englische Übersetzung 2005). Einen weiten Horizont pietistischer Mission in geografischer und zeitlicher Dimension öffnete Wellenreuther dann in seinem Artikel Pietismus und Mission.Vom 17. bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts für den vierten Band (Glaubenswelt und Lebenswelten) der „Geschichte des Pietismus“ (2004). Ein neues großes Projekt zur Erforschung der deutschen lutherischen Gemeinden in Nordamerika wurde ab 2013 von Mark Häberlein,Thomas MüllerBahlke und Hermann Wellenreuther initiiert: Hallesche Pastoren in Pennsylvania, 1743–1825. Eine kritische Quellenedition zu ihrer Amtstätigkeit in Nordamerika. In der Reihe „Hallesche Quellenpublikationen und Repertorien“ erschienen in den Jahren 2019 bis 2021 insgesamt sieben Bände der Edition, die dann mit einem, umfangreiche Register enthaltenden, achten Band im Jahre 2022 abgeschlossen wurde. Dazu fand in den Franckeschen Stiftungen ein Symposium „Neues aus dem amerikanischen Weinberg“ statt, in dessen Rahmen Wellenreuthers gedacht und seine großen Verdienste um die Erforschung der transatlantischen Beziehungen gerade auch des Pietismus von Kollegen und Schülern gewürdigt wurden. Martin Brecht (6. März 1932 – 23. Juli 2021) Martin Brecht stammte aus Württemberg (geboren in Nagold). Wesentliche Phasen seiner Ausbildung und frühen akademischen Laufbahn hat er an der Universität Tübingen verbracht. Dort habilitierte er sich 1964 über den württembergischen Reformator Johannes Brenz, gab in der Folgezeit eine Reihe von dessen Werken heraus und publizierte seither zahlreiche wichtige Beiträge zur Reformationsgeschichte, kulminierend in seiner dreibändigen, weithin rezipierten Lutherbiografie (1981–1987; seither weitere Auflagen). Zugleich galten seine Aktivitäten und Publikationen der württembergischen Kirchengeschichte und besonders der Geschichte des Pietismus. 1975 wurde er auf die Professur für Neuere Kirchengeschichte an der Universität Münster berufen, wo er bis zu seiner Emeritierung lehrte. Seit dieser Zeit (1975) war Brecht Mitglied der Historischen Kommission zur Erforschung des Pietismus, von 1982 bis 1992 auch deren stellvertretender Vorsitzender in der damaligen Sektion West, danach bis 1998 auch der neu konsti-

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tuierten Gesamtkommission. Ferner wirkte er bis 2010 im Geschäftsführenden und Planenden Ausschuss sowie im Publikationsausschuss der Kommission und war auch (Mit-)Herausgeber von Publikationsreihen der Historischen Kommission wie den „Arbeiten zur Geschichte des Pietismus“ (AGP) und den „Texten zur Geschichte des Pietismus“ (TGP), in welcher Reihe er zuvor an der Edition der Tagebücher von Philipp Matthäus Hahn (TGP VIII, 1 u. 2: 1979 u. 1983) beteiligt war. Von Band 4 (1977/78) an, dem Neustart unseres Jahrbuchs „Pietismus und Neuzeit“ (PuN) nach drei vorhergehenden Bänden der Jahre 1974 bis 1976, amtierte Martin Brecht bis 1991 als Geschäftsführender Herausgeber von PuN. Bd. 24 (1998) war unter dem Titel Beiträge zur Geschichte des württembergischen Pietismus als Festschrift Gerhard Schäfer zum 75. und Martin Brecht zum 65. Geburtstag gewidmet. In seiner Laudatio auf Brecht betonte Hartmut Lehmann dessen Verdienste um die Pietismusforschung, besonders auch als verantwortlicher Herausgeber und Mitherausgeber der vierbändigen „Geschichte des Pietismus“ (1993–2004), der mit eigenen fundierten Beiträgen einsprang, als für bestimmte Kapitel des ersten Bandes vorgesehene Autoren ausfielen und ihre Texte nicht lieferten. Ebenso brachte er den zweiten Band zum Druck anstelle des 1990 verstorbenen Herausgebers Klaus Deppermann. 1995 und 1997 erschienen Brechts Ausgewählte Aufsätze in zwei Bänden: der erste der Reformation gewidmet, der zweite dem Pietismus. Im Vorwort zu diesem Band erläuterte Brecht: „Die thematischen Abteilungen lassen einigermaßen sichtbar werden, wo die bisherigen Schwerpunkte meiner Forschungen zum Pietismus lagen. Ein früher Ansatzpunkt war Johann Valentin Andreae. Von ihm her ergab sich der Schritt zu Philipp Jakob Spener. Sodann hat mich die Theologie Johann Albrecht Bengels immer wieder beschäftigt.   Als überraschend weites und fruchtbares Feld erwiesen sich die Philipp Matthäus Hahn betreffenden Quellen […]. Wer aus der Geschichte des württembergischen Pietismus herkommt oder sich auf sie einläßt, gerät schließlich auch in die Erweckungsbewegung hinein.“ Zu Johann Valentin Andreae publizierte Brecht auch weiterhin (Göttingen 2008). Aus dem Jahre 2015 datiert dann eine Autobiografie Brechts: Umgeben und berührt von Geschichte. Stationen auf meinem Lebensweg. Hans Schneider (20. Juli 1941 – 25. Dezember 2022) Hans Schneider, in Marburg geboren, hatte in Marburg, Zürich und Göttingen studiert. Nach der Habilitation (1981) über die Herrnhuter in der Wetterau war Schneider zunächst Professor an der Augustana-Hochschule in Neuendettelsau, seit 1988 dann bis zu seiner Emeritierung 2006 Professor für Kirchengeschichte an der Universität Marburg. Schneider war Mitglied der Historischen Kommission zur Erforschung des Pietismus, Mitglied in deren Geschäftsführendem und Planendem Ausschuss

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und im Publikationsausschuss, in den Jahren 2005 bis 2015 auch dessen Vorsitzender. 2005 bis 2016 war er zugleich Geschäftsführender Herausgeber der „Arbeiten zur Geschichte des Pietismus“ und Mitherausgeber der „Texte zur Geschichte des Pietismus“. Dem Herausgeberkreis unseres Jahrbuchs „Pietismus und Neuzeit“ hat er seit 1989 angehört. Ebenso war er Mitglied und über Jahre auch Vorsitzender im Wissenschaftlichen Beirat des Interdisziplinären Zentrums für Pietismusforschung in Halle. Vor allem als Pietismusforscher bekannt, hat Schneider, der nach dem Studium zunächst Assistent bei Bernd Moeller in Göttingen war, nie sein Interesse an der Erforschung der Reformation verloren. Großes Aufsehen in Fachkreisen hat es erregt, als er zu einem bislang als abschließend erforscht geltenden Thema der Reformationsgeschichte, nämlich Luthers Romreise, aufgrund akribischer Quellenstudien neue Fakten, eine neue Datierung und eine neue Interpretation vorlegen konnte (2009). In der Pietismusforschung sind es vor allem drei Themenbereiche, mit denen sich Schneider besonders intensiv befasst hat und zu denen er eine Fülle von maßgeblichen Publikationen vorgelegt hat. Das sind zunächst Zinzendorf und die Herrnhuter Brüdergemeine. Weithin bekannt ist Schneiders Mitwirkung am Bibliographischen Handbuch zur Zinzendorf-Forschung (1987). In der Reihe „Kleine Texte des Pietismus“ (KTP 9, 2005) edierte Schneider Zinzendorfs Sonderbare Gespräche. Neben weiteren Beiträgen und Lexikonartikeln (z. B.TRE 36, 2004, 691–697) ist vor allem auch sein Engagement als Herausgeber der „Texte zur Geschichte des Pietismus“ zu nennen. Sodann sind es Forschungen und Publikationen zu Johann Arndt, die Schneider intensiv vorangetrieben hat. In seinem Aufsatzband Der fremde Arndt. Studien zu Leben,Werk und Wirkung Johann Arndts (1555–1621) (AGP 48, 2006) berichtet Schneider, wie er eher zufällig über eine Anfrage, ob er nicht „den immer wieder behaupteten, aber nie nachgewiesenen Einfluß der makarianischen Homilien auf Johann Arndt überprüfen“ könne, seine Forschungen zu Biografie und Werk Arndts begonnen hat, die ihn dann zu immer neuen Erkenntnissen über diese vermeintlich bekannte, letztlich aber noch „fremde“ Persönlichkeit geführt haben. Der dritte große Bereich, in dem Schneider intensiv forschte und publizierte, ist die Geschichte des sogenannten „radikalen Pietismus“. In Band 8 dieses Jahrbuchs (1982), das mit dem thematischen Schwerpunkt „Der radikale Pietismus“ erschien, veröffentlichte Schneider einen umfangreichen Beitrag Der radikale Pietismus in der neueren Forschung (15–42), dem im nächsten Band ein zweiter Teil folgte (PuN 9, 1983, 117–151). Nach dieser gründlichen Sichtung der Literatur kam Schneider zu dem Schluss: „Der radikale Pietismus erweist sich bei einer Betrachtung der neueren Forschungsgeschichte noch weitgehend als terra incognita et inexplorata. Die Aufgabe einer gründlichen Erkundung ist mehr als nur ein Hobby für Liebhaber kirchengeschichtlicher Exotik und Sammler theologischer Kuriositäten; eine genaue Kenntnis des radikalen Pietismus ist nicht allein unerläßlich, um ein zutreffendes Bild von der Gesamter-

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scheinung des Pietismus zu gewinnen, sondern kann auch für das kirchengeschichtliche Verständnis des 17. und 18. Jahrhunderts nicht entbehrt werden“ (PuN 9, 150f). Auf der Grundlage seiner umfassenden Kenntnis der Forschungslage schrieb Schneider dann für die vierbändige „Geschichte des Pietismus“ die Kapitel Der radikale Pietismus im 17. Jahrhundert (Bd. 1, 1993, 391–437) und Der radikale Pietismus im 18. Jahrhundert (Bd. 2, 1995, 107–197). Ein besonderes Interesse Schneiders galt Leben und Werk Gottfried Arnolds. Nicht alle seine Publikationen über Arnold sind leicht zu finden. So berichtete er über Goethes Begegnung mit Gottfried Arnolds Kirchen- und Ketzerhistorie unter dem Goethe-Zitat „Mit Kirchengeschichte, was hab‘ ich zu schaffen“ bei einem Symposium über „Goethe und der Pietismus“ in Halle 1999; der Beitrag erschien in dem ebenso betitelten Sammelband, den Schneider gemeinsam mit dem Germanisten HansGeorg Kemper 2001 in den „Halleschen Forschungen“ herausgab. Ein Jahr später erschien Schneiders Edition von Arnolds Die Erste Liebe in der Reihe „Kleine Texte des Pietismus“ (KTP 5, 2002). Anlässlich der Emeritierung von Hans Schneider fand 2007 in Marburg ein Symposium statt, dessen Beiträge unter dem Titel Der radikale Pietismus. Perspektiven der Forschung in den „Arbeiten zur Geschichte des Pietismus“ (AGP 55, 2010) publiziert wurden. Der letzte Beitrag in diesem Band ist ein „Rückblick und Ausblick“ Schneiders, der weitere Anregungen gibt und mit den oben zitierten Worten aus PuN 9 endet. für die Nachrufe: Udo Sträter

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Vorwort Der neue Pietismus und Neuzeit-Band 46 hat auf sich warten lassen, aber das Warten hat sich gelohnt. Neben einem buch- und verlagsgeschichtlichen Schwerpunkt mit Beiträgen zu Lesern und Empfängern hallischer Bücher in Schlesien im 18. Jahrhundert, zur Zunnerischen Buchhandlung um 1700 und zu Übersetzungen und Kommentaren jansenistischer Bücher in pietistischen Kontexten sowie zu Zinzendorfs (erstem) Zeitungsprojekt Der Parther von 1725 schreiten weitere Aufsätze die historische und thematische Bandbreite des Pietismus und seiner Erforschung aus: beginnend mit einer kritischen Relektüre der Dokumente zur Buttlarschen Rotte um 1700 und ihrer Bewertung in der jüngeren Forschung, einer Auseinandersetzung mit mittelalterlicher Frauenmystik im Kontext des von dem Wittenberger Theologen Martin Chladni betriebenen Streites um den Pietismus, und Mitte des 19. Jahrhunderts zur Indienstnahme von Magnetismus und Somnambulismus in der Theologie August Tholucks. Im Einzelnen: Gegen die bis in die gegenwärtige Pietismusforschung (nach) wirkende Romantisierung und Verharmlosung der Buttlarschen Rotte oder Evischen Sozietät fordert und expliziert der Beitrag von Stefanie Siedek-Strunk, Gewalt im religiösen Kontext: Die Buttlarsche Rotte oder Evische Sozietät, eine radikale Dekonstruktion und kritische Relektüre der theologisch verbrämten Erklärungen und Begründungen Eva von Buttlars und ihrer Anhängerinnen und Anhänger für den lebensbedrohlichen körperlichen Missbrauch und die sexuelle Ausbeutung abhängiger Frauen. Im Schatten des zeitgenössischen Rollenverständnisses, das einer Frau ein solches (Sexual-)Verhalten nicht zutraute, erschuf sie eine totalitäre Gemeinschaft der Angst, der Gewalt und des sexuellen Missbrauchs. Eine Pietismusforschung, so urteilt die Verfasserin, die dies nicht klar benennt, laufe Gefahr, die Opfer der Buttlarschen Rotte in der Historiographie erneut zu diskreditieren. In seinem Beitrag Mittelalterliche Mystik im Kreuzfeuer des Pietismusstreites: Der Wittenberger Theologe Martin Chladni (1669–1725) und seine Auseinandersetzung mit der Frauenmystik des Hochmittelalters erweist Bernd Roling, dass sich laut Chladni der Status der Inspiration, den Hildegard von Bingen und Birgitta von Schweden für sich in Anspruch nahmen und nicht selten zeitgenössisch zugeschrieben bekamen, autoritätsverachtender Selbstanmaßung, intellektueller Hybris sowie mangelnder Kenntnis der Glaubenslehre wie der Heiligen Schrift verdankt haben – ein Ergebnis dämonischer Einflüsse und melancholischer Gestimmtheit. Freilich, so folgert Roling, habe Chladni nicht Hildegard und nicht

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Birgitta im Visier gehabt, sondern hinter den Heroinnen der Vergangenheit gefährliche gegenwärtige Gegner: Robert Barclay, Antoinette Bourignon, Hans Engelbrecht und nicht zuletzt Johann Conrad Dippel. Das Übel musste mit jener Wurzel gemeinsam ausgerottet werden, wie Chladni forderte, auf die es unter umgekehrten Vorzeichen auch Chladnis Kontrahent Gottfried Arnold hatte zurückführen wollen: nämlich mit der Religiosität des katholischen Mittelalters. Laut Brigitte Klosterberg verraten die im Projekt „Halle und Züllichau als Pietismus- und Bildungszentren“ vorrangig ermittelten Büchertitel der Verlage aus Halle und Züllichau und ihr Nachweis an Standorten in deutschen und polnischen Bibliotheken nur wenig, etwa durch Marginalien oder Provenienzeinträge, wie sie im 18. Jahrhundert gebraucht wurden und durch wen sie in die Büchersammlungen gekommen waren. Der vorliegende Beitrag Leser und Empfänger hallischer Bücher in Züllichau und in Schlesien im 18. Jahrhundert beruht auf dem von der Verfasserin in dem von ihr herausgegebenen Buch Bibliographischer Nachweis der Drucke des Waisenhausverlags zu Halle (1698–1806) in Sulechów (Züllichau) und Cieszyn (Teschen) erprobten Zugang, der über die Distribution der Bücher, ihren Gebrauch und ihre Leser und Leserinnen Auskunft geben kann: indem zeitgenössische Quellen aus Züllichau ausgewertet und die Verteilerlisten der Halleschen Berichte mit den Biogrammen der Leser und Leserinnen aus Züllichau und Schlesien präsentiert werden. In seinem Beitrag „der völlig und gänzl[iche] Ruin und Untergang der so weit und breit in gantz Europa bekannten Zunnerischen Handlung“? Ein buchhandelsgeschichtlicher Akteur um 1700 will Oliver Kruk am Beispiel Johann David Zunners bzw. Johann Adam Jungs den Mehrwert einer mikrohistorischen Arbeit zu Buchhandlungen und Verlagshäusern der Frühen Neuzeit, insbesondere im 18. Jahrhundert aufzeigen: Aspekte wie die familiäre Dimension von Buchhandel und Unternehmensführung, der Stellenwert pietistischer Literatur in der Zeit um 1700 sowie der Einfluss jüdischer Kaufleute und die Bedingungen von deren Kooperation mit christlichen Verlagen sollen das Bild vom Buchmarkt der Zeit wesentlich ergänzen. „Neue“ Quellengattungen (über Messkataloge und Veröffentlichungslisten hinaus) und sozialgeschichtliche Ansätze sollen Synergieeffekte mit anderen Fächern und Teilgebieten der Geschichtswissenschaft schaffen und Interdisziplinarität hier beispielsweise auf dem Gebiet der jüdischen Kultur- und Sozialgeschichte und der Pietismusforschung ermöglichen. Das Interesse des Pietismus am Jansenismus untersucht Christoph SchmittMaaß in seinem Beitrag Das „schöne Buch“ des Pasquier Quesnel: Die Réflexions morales sur le Nouveau Testament in pietistischer Perspektive. Dieses Interesse äußerte sich nicht nur darin, dass Pietisten jansenistisches und antijansenistisches Schrifttum systematisch sammelten, exzerpierten und kommentierten, um sich selbst gegenüber der lutherischen Orthodoxie zu verorten wie auch von katholischen und unionistischen Protagonisten abzugrenzen. Insbesondere die Übersetzungen waren neben philologischen und theologischen Aspekten auch von politischen Überlegungen geprägt, wie das Beispiel der nie abgeschlossenen

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fragmentarischen Quesnel-Übersetzung durch Balthasar Köpke belegt. Der Tod Quesnels, nach Cornelius Jansenius und Antoine Arnauld der „dritte Gründer“ der Jansenismus, im Jahr 1719 motivierte eine ganze Reihe von Übersetzungen und Denkschriften, leitete aber auch eine Historisierung des Jansenismus-Streits und Marginalisierung der Jansenismus-Rezeption im pietistischen Umfeld ein. Otto Teigeler untersucht in seinem Beitrag Eine „curieuse Materie“. Zinzendorfs Wochenschrift Der Parther 1725 Zinzendorfs reich dokumentiertes erstes und wenig erfolgreiches Zeitschriften-Projekt Der Parther. Der von Zinzendorf mit Bedacht gewählte Titel Der Parther soll laut Teigeler eine Kampfansage an die Familie und an den sächsischen Staat gewesen sein, um mit der Hit-andRun-Taktik der historischen vorderasiatischen Ethnie der Leserschaft sein Vorgehen zu erläutern und sich zugleich Mut zu machen. Die Parther-Metapher bestätigt die offene Denkdimension des jungen Zinzendorfs, die sich in den Schulaufsätzen in Halle ankündigte (René Descartes, Pierre Bayle) und sich in der Tropenidee und der darauf fußenden Gründung der mährischen Flüchtlingssiedlung Herrnhut ihren historischen Platz schuf. Der Bezug auf die Parther impliziert die Vorstellung, dass ein gleichberechtigtes Nebeneinander verschiedener Gruppen lebensfähig ist und „siegreicher“ sein kann als ein straff organisiertes Imperium. Der erste journalistische Versuch Zinzendorfs scheiterte wegen der übereilten Durchführung des Projekts und weil der Anspruch an die Leserschaft zu hoch war. Ob Zinzendorf aus dem ersten journalistischen Versuch verlegerische und inhaltliche Konsequenzen zog, wäre an dem bereits nach sechs Monaten erfolgten zweiten Versuch, dem Socrates, zu überprüfen. In ihrer Analyse Magnetismus und Somnambulismus als Erklärungsrahmen für Wunder in der Theologie August Tholucks vertritt Sabine Wolsink die Ansicht, dass Tholuck Magnetismus und Somnambulismus apologetisch eingesetzt hat, um so die Historizität und Glaubwürdigkeit der Bibel, insbesondere der Evangelien und damit die der christlichen Lehre zu verteidigen. Das hat er aber nicht aus einer völlig rationalistischen Perspektive heraus getan, die alle Wunder natürlich zu erklären und damit zu leugnen versucht. Das bedeutet, dass der Theologe nicht zu letzten alles erklärenden Antworten kommen kann und sollte. Tholuck hat Magnetismus und Somnambulismus benutzt, um eine Grenze zwischen biblischen und außerbiblischen Wundern, in der Kirche, in anderen Traditionen, zu ziehen. Damit hat bei ihm der Diskurs eine andere Funktion als zum Beispiel bei Justinus Kerner und den Theologen aus dem Umkreis von Gustav Werner, die den Magnetismus als Mittel ansahen, die Menschen wieder zum Evangelium zu führen. Rezensionen, Bibliographie und Register komplettieren den Band. Für die redaktionelle Mitarbeit sei Sophia Marie Schnoor, Paulien Wagener und Lukas Jentsch herzlich gedankt.

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Mit diesem Band übernehme ich – kommissarisch und interimistisch – von Udo Sträter das Amt des Geschäftsführenden Herausgebers. Die Historische Kommission zur Erforschung des Pietismus und die Herausgeberschaft des Jahrbuches danken Udo Sträter für die geleistete Arbeit. für die Herausgeber: Christian Soboth

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Beiträge

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Stefanie Siedek-Strunk

Gewalt im religiösen Kontext: Die Buttlarsche Rotte oder Evische Sozietät 1. Einleitung und Forschungsstand Die Buttlar und ihre Rotte sind ein gotteslästerlicher Haufen, die sich der schändlichen Sektiererei, Vielweiberei, unzüchtiger fleischlicher Ausschweifung, Verstümmelung, ja sogar dem Morden hingegen haben.1

Die Überlieferungen zu der im Jahr 1670 in Barchfeld bei Schmalkalden geborenen Eva Margarethe von Buttlar (1670–1721) und ihrer im Volksmund als ‚Buttlarsche Rotte‘ betitelten Anhängerschaft haben ihre Faszination bis in die Gegenwart hinein bewahrt. Fragmente aus den nicht nur im zeitgenössischen Verständnis skandalös anmutenden Geschehnissen, die in der sonst eher verschlafenen Grafschaft Wittgenstein zum Ende des Jahres 1704 zur Verhaftung Eva von Buttlars und einiger ihrer Gefolgsleute führten, haben – wie das obige Zitat zeigt – auch Einzug in die aktuell so beliebten Genres des Historienromans und des pseudowissenschaftlichen Sachbuchs gefunden.2 Abseits dieser populären Aufbereitung stützt sich die über Eva von Buttlar existierende, zumeist kirchgeschichtlich konnotierte, Forschung auf eine überschaubare Anzahl an Quellen. Zeitlich konzentriert sich diese Forschung auf die Mitte des 19. Jahrhunderts und, bedingt durch das Entstehen der modernen Pietismusforschung sowie den hier angesiedelten Forschungsschwerpunkt Radikalpietismus, auf die 90er Jahre des 20. Jahrhunderts.3 Die 1998 von Willi Temme vorgelegte   Claudia Weiss: Rattenfängerin. München 2016, 205.   Roland Adloff: Evens Buch. München 2001; Werner Helmut: Geheimbünde von Frauen.Von der Antike bis in die Neuzeit. Königswinter 2011. 3   In Auswahl: Max Goebel: Geschichte des christlichen Lebens in der rheinisch-westphälischen evangelischen Kirche. Bd. 2. Koblenz 1852, 800f.; E.F. Keller: Die Buttler’sche Rotte, ein merkwürdiges Seitenstück zu den neu entdeckten Muckern in unsern Tagen. In: ZHTh 15, 1845, 74–153; Wilhelm Barthold: Die Erweckten im protestantischen Deutschland während des Ausgangs des 17. und der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, besonders die Frommen Grafenhöfe. In: Historisches Taschenbuch 3/3 und 3/4. Leipzig 1852 und 1853. Hg. v. Friedrich Raumers. Darmstadt 1968, 129–320 u. 169–390. Barbara Hoffmann: Radikalpietismus um 1700. Frankfurt/ Main, New York 1996. Einen wissenschaftlich umstrittenen Kontrapunkt, da in Berücksichtigung der Quellenlage und Durchführung der Quellenkritik mit Mängeln behaftet, setzt: Thomas Hoeren: Pietismus vor Gericht. Der Prozeß gegen die Buttlarsche Rotte (1705). In: JWKG 89, 1 2

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Dissertation Krise der Leiblichkeit. Die Sozietät der Mutter Eva (Buttlarsche Rotte) und der Radikale Pietismus um 1700 bildete den vorläufigen Abschluss dieser Forschung. Temme führt eine Vielzahl an zeitgenössischen Quellen, wie etwa die Akten des Wittgensteiner Gerichtsverfahrens zur Buttlarschen Rotte mit den Erkenntnissen der jüngeren Forschung zusammen, wodurch differenzierte Perspektiven auf Personen und Abläufe ermöglicht werden. An Temmes Publikation knüpft dieser Aufsatz deshalb an.4 Gerade wegen der von Temme vorgelegten umfassenden Darstellung der sozialen Strukturen der Buttlarschen Rotte sowie der für diese herangezogenen theologischen Begründungen überrascht es, dass sich weder hier noch bei den wissenschaftlichen Veröffentlichungen anderer Autorinnen und Autoren zur ‚Buttlarschen Rotte‘ bzw. zur ‚Evischen Sozietät‘ Überlegungen und Ansätze finden lassen, die die für die Gruppierung charakteristische Tendenz zur Ausübung körperlicher Gewalt und sexuellen Missbrauchs der weiblichen Mitglieder als solche in den Blick nehmen. Angesichts der in der Gruppierung alltäglichen Praktiken wie Beziehungsanarchie, Inzest, Säuglingsmord und der gezielt herbeigeführten Sterilisation von gebärfähigen Frauen verwundert dies. Anstelle einer Analyse dieser prägnanten Hinweise auf eine vordergründig religiös konnotierte, dabei jedoch totalitär ausgerichtete und somit den Missbrauch der weiblichen Mitglieder fördernden Gemeinschaft zieht sich die etablierte Pietismusforschung auf die Bewertung der Buttlarschen Rotte als ein Sonderphänomen des Radikalpietismus zurück, das durch religiöse Überhitzung in Synergie mit einer auf der Mystik Böhmes basierenden, fehlgeleiteten Theologie getragen worden sei. Diese Verengung der Perspektive scheint der gängigen Wahrnehmung des Pietismus als einer, wenn auch in Teilen extravaganten, so doch mit der Aufklärung verwandten, und dadurch in ihrer Wirkung grundsätzlich positiv gedeuteten, Reformbewegung geschuldet zu sein.

2. Zur religiösen Toleranz in der Region Wittgenstein Den Weg in das Wittgensteinische fanden Eva von Buttlar und ihre zu diesem Zeitpunkt etwa zwanzig Personen zählende Gefolgschaft über Graf Henrich Albert zu Sayn, den die Gruppe, nachdem sie wegen unsittlichen Verhaltens aus dem hessischen Allendorf ausgewiesen worden war, erfolgreich um Hilfe ersucht hatte.5 Die Grafschaften Sayn-Wittgenstein-Berleburg (Regierungssitz 1995, 27–46. Die jüngste Veröffentlichung zum Thema ist die auf dem wissenschaftlichen Stand von Temme (siehe hierzu Anm. 4) aufbauende, klare und komprimierte Darstellung von Ulf Lückel: Die Sozietät der Eva Margaretha von Buttlar in Wittgenstein und ihr merkwürdiges Treiben. In: Jahrbuch Westfalen – Westfälischer Heimatkalender. N.F. 69, 2015, 251–257. 4   Willi Temme: Krise der Leiblichkeit. Die Sozietät der Mutter Eva (Buttlarsche Rotte) und der radikale Pietismus um 1700. Göttingen 1998, 452. 5   Keller, Die Buttler’sche Rotte [s. Anm. 3], 80f.

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Berleburg) und Sayn-Wittgenstein-Hohenstein (Regierungssitz Laasphe), waren unter Zeitgenossen für die von den Regierenden, eben der Gräfin Hedwig Sophie zu Sayn-Wittgenstein-Berleburg,6 deren Sohn, den ab 1712 regierenden Graf Casimir,7 und Graf Henrich Albert zu Sayn-WittgensteinHohenstein,8 praktizierte religiöse Toleranz bekannt. Letztere schloss weitgehende Sympathien für nonkonforme religiöse Ideen, inklusive der damit einhergehenden alternativen Lebensmodelle, ein. Die Fürsten ermunterten Minderheiten, die wegen ihres religiösen Bekenntnisses verfolgt wurden, zu einer Ansiedlung in ihren Gebieten.9 Diese großzügige Asylgewährung war nicht nur religiösen, sondern auch ökonomischen Interessen geschuldet. So hatte die Grafschaft Wittgenstein, eine von eher rauem Klima geprägte und für den Getreideanbau wenig günstige Region,10 im Dreißigjährigen Krieg etwa die Hälfte ihrer Einwohner verloren. Noch 1675 muss für das Territorium Berleburg von einer Besiedlung durch lediglich 200 Bauern- und Bürgerfamilien in der Grafschaft und 80 Haushalten in der Residenz ausgegangen werden.11 Aus der Summe dieser ungünstigen Gegebenheiten resultierte dann auch die finanziell angespannte Situation in der Doppelgrafschaft, die trotz der intensiven Werbung um Exulanten nicht spürbar verbessert werden konnte.12 Um die Attraktivität der Region für die religiös Verfolgten zu steigern, gewährte Heinrich Albrecht ihnen mehrjährige Steuer- und Zinsbefreiungen, außerdem wies

6  Hedwig Sophie Gräfin zu Sayn-Wittgenstein-Berleburg, geb. Gräfin zur Lippe-Brake (1669–1738), regierte Sayn-Wittgenstein-Berleburg als Vormund für ihren Sohn Casimir von 1694 bis 1712. 7   Casimir Graf zu Sayn-Wittgenstein-Berleburg (1687–1741), regierte ab 1712 bis zu seinem Tod Sayn-Wittgenstein-Berleburg. 8   Graf Henrich Albert zu Sayn-Wittgenstein-Hohenstein (1658–1729), regierte von 1710 bis zu seinem Tod Sayn-Wittgenstein-Hohenstein. Für den Grafen finden sich, neben der hier verwendeten Vornamenkombination, auch die Form Heinrich Albert und Henrich Albrecht. 9   Marcus Meier: Die Schwarzenauer Neutäufer. Genese einer Gemeindebildung zwischen Pietismus und Täufertum. Göttingen 2008, 144. 10   Zum bäuerlichen Wirtschaften in Wittgenstein vgl. Werner Wied: Im Zeitalter des absoluten Fürstenstaates vom ausgehenden 17. bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts. In: Erndtebrück, ein Heimatbuch des obersten Edertales. Bd. 1. Erndtebrück 1977, 236–370, 254f. 11   Hans-Jürgen Schrader: Literaturproduktion und Büchermarkt des radikalen Pietismus. Johann Henrich Reitz’ „Historie Der Wiedergebohrnen“ und ihr geschichtlicher Kontext. Göttingen 1989, 178. 12  Graf Gustav Otto von Sayn-Wittgenstein-Hohenstein (1633–1700), der Vater Heinrich Albrechts, versuchte das Fürstentum durch Falschmünzerei zu sanieren. Der Versuch schlug fehl, darf jedoch als Indiz für die verzweifelte finanzielle Situation im Territorium gelten.Vgl. Temme, Krise [s. Anm. 4], 188. Schrader weist darauf hin, dass die Zuwendung der regierenden Familien zum Radikalpietismus ein Ergebnis ihrer – im Vergleich zu anderen Adelshäusern – doch ärmlichen Lebensart und Hofführung gewesen sei: „Ihren Angehörigen war bei gänzlicher politischer Bedeutungslosigkeit zur Zeit des Hochabsolutismus höfischer Prunk fast völlig versagt. Zu ihrer Selbstbestätigung, ja überhaupt zu sinnstiftender Tätigkeit, stand ihnen kaum ein anderes Feld als das religiöser Profilierung offen.“ (Schrader, Literaturproduktion [s. Anm. 11], 179).

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er den Neuankömmlingen Land zu.13 Die Bodenzuteilungen reichten zwar für die Subsistenzwirtschaft auf den kargen Böden im Wittgensteiner Land nicht aus, jedoch war es möglich, in der Köhler- oder Waldwirtschaft ein Zubrot zu verdienen.14 Diese Kombination aus größtmöglicher religiöser Freiheit und der Aussicht auf ein sicheres Auskommen erzielte Wirkung. So geht die Forschung allein für den Ort Schwarzenau, der um 1700 nur aus wenigen Häusern und einem kleinen Anwesen bestand,15 von über dreihundert zugezogenen Separatisten im Jahr 1710 aus, Gleiches gilt für Berleburg.16 Damit ist es wahrscheinlich, dass die Zahl der religiösen Nonkonformisten die der alteingesessenen Bevölkerung überstieg.17 Durch die zuvor erläuterten Maßnahmen der Landesherren gedieh in den beiden Grafschaften Wittgensteins ab dem Ende des 17. Jahrhunderts ein nuancenreicher, extravaganter, um nicht zu sagen schillernder Separatismus, der sich hier, begünstigt durch die geographische Abgeschiedenheit der Region, „gewissermaßen unter Laborbedingungen“18 entwickeln konnte.19 Die Erwartung der unmittelbar bevorstehenden Endzeit, gespeist aus der nahenden Jahrhundertwende, kennzeichnete den Wittgensteiner Radikalpietismus.20 Die Grafschaften wurden von Oktober 1699 bis Ende April 170021 zum Zentrum des Chiliasmus, dessen Anhänger sich die „Neuordnung aller Verhältnisse“22 erhofften. Sie hielten enthusiastische Versammlungen ab, während derer die „Teilnehmer oft so erregt waren, daß sie ihrer Sinne nicht mehr mächtig waren.“23 Zeitgenossen nennen als Schlüsselfiguren24 den Mystiker Hochmann von Hochenau, Johann

  Schrader, Literaturproduktion [s. Anm. 11], 179. Meier, Die Schwarzenauer Neutäufer [s. Anm. 9], 143. 14   Meier, Die Schwarzenauer Neutäufer [s. Anm. 9], 143. 15   Meier, Die Schwarzenauer Neutäufer [s. Anm. 9], 154. 16   Johannes Wallmann: Der Pietismus. Göttingen 2005, 172. 17   Hans Schneider: Der radikale Pietismus im 18. Jahrhundert. In: Geschichte des Pietismus. Bd. 2: Der Pietismus im achtzehnten Jahrhundert. Hg. v. Martin Brecht. Göttingen 1995, 107–197, hier 124. 18   Johannes Burkardt u. Michael Knieriem: Die Gesellschaft der Kindheit Jesu-Genossen auf Schloss Hayn. Hannover 2002, 16. 19  Willi Temme betont den Zusammenhang zwischen den, im Vergleich zu anderen Fürstenhöfen, bescheidenen Verhältnissen der Wittgensteiner Landesherren und deren Hingezogenheit zum Pietismus. Die Tendenz zu dieser Art Frömmigkeit könnte ihren Ursprung in den Bemühungen haben, einen Identitätsverlust auszugleichen, der durch die Enge und die Kargheit des Lebens an den verarmten Fürstenhäusern ausgelöst wurde (vgl. Temme, Krise [s. Anm. 4], 189). 20   Schneider, Der radikale Pietismus im 17. Jahrhundert [s. Anm.17], 420. 21   Heinz Renkewitz: Hochmann von Hochenau. Quellenstudien zur Geschichte des Pietismus (1670–1721). Witten 1969, 91. 22   Schneider, Der radikale Pietismus im 17. Jahrhundert [s. Anm. 17], 421. 23   Renkewitz, Hochmann von Hochenau [s. Anm. 21], 117. 24   Pfarrer Konrad Schlierbach (1658–1731) hinterließ im Kirchenbuch der an das Wittgensteiner Land angrenzenden Pfarrei Dodenau/Hessen einen undatierten Bericht über radikalpie­ tistische Aktivitäten in der Nachbargemeinde. Vgl. hierzu: Hans Schneider: Ein zeitgenössischer Bericht über den Wittgensteiner Pietismus zu Beginn des 18. Jahrhunderts. In:Von Wittgenstein 13

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Heinrich Horche,25 den Schweizer Samuel König,26 dessen Freund Carl Anton Püntiner27 und Johann Henrich Reitz.28 Erst im Frühsommer des Jahres 1700 gelangten die Gläubigen zu der Einsicht, dass die Endzeit vorerst nicht anbrechen werde, wenn auch Einzelne, wie Hochmann von Hochenau, noch bis zum Jahr 1706 die baldige Ankunft Christi erwarteten.29 Die aufgeheizte Stimmung beruhigte sich etwas, doch tat die nicht eingetroffene Prophezeiung dem Wirken der religiösen Freigeister und der Anziehungskraft der Grafschaft auf diese keinen Abbruch.

3. Der Weg der Buttlarschen Rotte ins Wittgensteinische Es war dieser religiöse Nährboden, den Eva von Buttlar und ihre Gefolgschaft im Wittgensteinischen vorfanden. Die Gruppe hatte vor ihrer Übersiedlung in diese ländliche Region eine beinahe drei Jahre währende Phase der Rastlosigkeit durchlaufen.Versuche der Gruppe, sich im Thüringischen Erfurt sowie im Hessischen Allendorf und im Residenzstädtchen Usingen eine dauerhafte Heimat zu schaffen, waren aufgrund des Konfliktpotenzials, welches das von den Bürgerinnen und Bürgern als promiskuitiv empfundene Sozialverhalten der Gruppe in sich barg, stets nach wenigen Wochen gescheitert.30 Auch im Wittgensteinischen tat man sich mit der Buttlarschen Rotte nicht leicht. Schon nach wenigen Wochen erregte die Gruppierung das Ärgernis der Laaspher Bürger, worauf Graf Henrich Albrecht dieser eine verlassene Glashütte in der gleichnamigen winzigen Ortschaft etwa 15 km von Laasphe entfernt zur Pacht anbot.31 Ob nun, wie Temme annimmt, die Gruppierung spätestens zum Jahresbeginn 1703 oder, folgt man den Ausführungen Hoffmanns, erst im Sommer des Jahres in Glashütte Quartier bezog, ist an dieser Stelle nicht von Belang.32 Doch kam

in die Welt. Radikale Frömmigkeit und religiöse Toleranz. Hg. v. Johannes Burkardt u. Bernd Hey. Bielefeld 2009, 125–156. 25  Johann Heinrich Horche (1652–1729), Pfarrer, ab 1690 Professor an der reformierten Hohen Schule zu Herborn. 26   Samuel König (1671–1750), der schweizerische Theologe und Enthusiast, wurde im „Berner Pietistenprozess“ aufgrund von theologischen Differenzen aus dem Pfarramt entlassen, seine Staatsbürgerschaft wurde ihm aberkannt. Vgl. hierzu: Rudolf Dellsperger: Die Anfänge des Pietismus in Bern. Quellenstudien. Göttingen 1984, 93f. 27   Dellsperger, Anfänge [s. Anm. 26], 84f. 28   Eine umfassende Beschreibung der Ereignisse in Berleburg zur Jahrhundertwende liefert Renkewitz, Hochmann von Hochenau [s. Anm. 21], 88–146. 29   Marcus Meier verweist auf die theologische Schwerpunktverschiebung der philadelpischen Bewegungen nach dem Ausbleiben der Apokalypse.Vgl. Meier, Die Schwarzenauer Neutäufer [s. Anm. 9], 174. 30   Temme, Krise [s. Anm. 4], 161–177 und Hoffmann, Radikalpietismus [s. Anm. 3], 36–39. 31   Hoffmann, Radikalpietismus [s. Anm. 3], 39. 32   Hoffmann, Radikalpietismus [s. Anm. 3], 39; sowie Temme, Krise [s. Anm. 4], 201.

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es hier in Glashütte zu einer ersten Begebenheit, welche die Toleranz des Landesherren Graf Henrich Albert auf die Probe stellte.

4. Die Kindstötungen in Berleburg-Glashütte Gleich zwei Frauen aus der nun etwa 50 Mitglieder umfassenden Gruppierung um Eva von Buttlar33 gebaren in Glashütte Kinder, die bereits nach wenigen Lebensmonaten verstarben, da sie aufgrund des von der Gruppe ausgeübten sozialen, religiös unterfütterten Drucks, nur unzureichend von den Müttern versorgt worden waren. Marta Catharina Hartmann, eine der betroffenen Mütter, sagte in dem 1704 gegen Eva von Buttlar geführten Prozess sinngemäß aus: Eva und „Consorten“ hätten ihr zu verstehen gegeben, dass ihnen von Gott eingegeben worden sei, Kinder nicht an der Mutterbrust zu stillen. Sie habe dies aber doch getan, was in der Gruppe große Missbilligung ausgelöst habe.34 Anders lagen die Dinge bei der ebenfalls in Glashütte niedergekommenen Anna Sidonia von Callenberg. Diese hatte sich zunächst von Eva von Buttlar gelöst, da sie eine Liebesbeziehung zu einem außenstehenden Mann eingegangen war. Eva von Buttlar hatte Anna Sidonia vor diesem Mann gewarnt, erlaubte ihr aber nach dem Fehlschlagen der Verbindung, trotz einer bestehenden Schwangerschaft, die Rückkehr nach Glashütte. Nach der Geburt weigerte sich die junge Mutter standhaft, das Kind zu versorgen, da sie angeblich durch den Vorgang des Stillens starke Gewissensbisse erleide. Das Kind starb nach vier Wochen und wurde in Glashütte im Garten beigesetzt.35 Temme erklärt das Verhalten Callenbergs damit, dass diese „wahrscheinlich mit den Normen der Gesellschaft so stark identifiziert war, daß es ihr selbst ohne explizit ausgesprochenen Verbots unmöglich war, das ‚Hurenkind‘ zu nähren“.36 Auch das Kind von Marta Catharina Hartmann wurde, obgleich, innerhalb der Gruppierung gezeugt, als ‚Hurenkind‘ angesehen, die Mutter analog dazu als ‚Hure‘ bezeichnet. Das Kind entstammte einer Verbindung mit dem Gruppenmitglied Eobanus Treffurt, einem ehemaligen Lohgerber. Während Marta Catharina sich als die Ehefrau Treffurts betrachtete, schien dieser das Verhältnis anders zu bewerten. Nach der Geburt des Kindes verhielt er sich gegenüber der Mutter abweisend. Auch dem Kind gegenüber hegte Treffurt keine Gefühle, so schlug er vor, dieses mit einem Gemisch aus Asche und Wasser zu ernähren.37 Das Verhalten Treffurts bewirkte, dass die Mutter der Gemeinschaft in Glashütte

 Vgl. bei Hoffmann, Radikalpietismus [s. Anm. 3], Tabelle 3, 308f.   Temme, Krise [s. Anm. 4], 202. 35   Keller, Die Buttler’sche Rotte [s. Anm. 3], 102. 36   Temme, Krise [s. Anm. 4], 206. 37   Temme, Krise [s. Anm. 4], 204. 33 34

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den Rücken kehrte. Dem Säugling war damit nicht geholfen, er verstarb wenig später, wenn auch außerhalb von Glashütte. Im zeitgenössischen Verständnis waren ‚Hurenkinder‘ lebende Beweise für den gesellschaftlich geächteten Akt des sexuellen Verkehrs zwischen Unverheirateten. In ihnen manifestierte sich der Verstoß gegen Sitte, Anstand und Moral. Formal betrachtet konnte die Buttlarsche Rotte diese abfällige Bewertung der Mutter sowie des unehelich gezeugten und geborenen Kindes nicht für sich in Anspruch nehmen, da man sich der weltlichen Institution Ehe nicht verpflichtet fühlte – eine Perspektive, die im radikalpietistischen Milieu durchaus verbreitet war.38 Auch war es in der in der Gruppierung üblich, ja sogar vorgeschrieben, die Sexualpartner zu wechseln.39 Tatsächlich jedoch teilte man die in der Frühen Neuzeit übliche und alltägliche Stigmatisierung unehelicher Kinder, obwohl man sich des zeitgenössischen Verständnisses von Ehe als unabdingbarer Voraussetzung für eine sexuelle Beziehung zwischen Mann und Frau eigentlich entledigt hatte.

5. Die Praxis der Frauenbeschneidung Über die Regeln, die der Hierarchie der Gruppe um Eva von Buttlar zugrunde lagen, sowie über die Art und Weise, wie die Menschen zusammenlebten bzw. miteinander geschlechtlich verkehrten, lässt sich bei Temme Genaueres erfahren. Gleiches gilt für die Theologie, die dem kommunenähnlichen sozialen Konstrukt, welches Eva von Buttlar errichtet hatte, den Bedeutungszusammenhang lieferte. Sexuelle Kontakte waren, sofern sie innerhalb der Peer-Group stattfanden, frei von Sünde und somit erlaubt.40 Der Beischlaf mit der Mutter Eva ging über diesen Aspekt noch hinaus, da der männliche Part, gemäß dem Verständnis der Gruppierung, durch diesen Akt gereinigt und wiedergeboren wurde. An dieser Stelle muss angemerkt werden, dass Eva von Buttlar, als sie im Jahr 1695 den Geschlechtsverkehr erstmalig unter dieser religiösen Prämisse vollzog, sie dies mit ihrem zu diesem Zeitpunkt etwa 14-jährigen Pflegling, Johann Georg Appenfeller tat.41 Ehemalige Mitglieder bezeichneten die Wahl der Sexualpartner in der Gruppierung als „bald bey diesen, bald bey jenem in der Paradiesischen Freyheit“,42 und weiter, „daß sie würcklich mit einander

  Temme, Krise [s. Anm. 4], 195–201.   Christian Thomasius: Vernünfftige und Christliche aber nicht Scheinheilige Thomasische Gedancken Und Erinnerungen Uber allerhand Gemischte Philosophische und Juristische Händel. Dritter Theil. Halle 1725, 422. 40   Temme, Krise [s. Anm. 4], 135. 41   Temme, Krise [s. Anm. 4], 38f. Appenfeller und von Buttlar heirateten im Jahr 1705. Nach siebenjähriger Ehe verstarb Appenfeller am 28.03.1712 in Altona.Vgl. Hoffmann, Radikalpietismus [s. Anm. 3], 47. 42   Zit. n. Temme, Krise [s. Anm. 4], 139. 38 39

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hureten, und was noch das ärgste ist, so sagten sie, das wäre der Weg der Reinigung“.43 Dass Eva von Buttlar sexuelle Beziehungen nicht nur im Kreise ihrer Anhängerschaft pflegte, sondern diese vielmehr durch Kontakte mit Außenstehenden auch ohne lange Anlaufphasen komplementierte, belegen die Schilderungen des Theologiestudenten Carl Anton Püntiner über dessen erste Begegnung mit Eva von Buttlar. Püntiner berichtete, er habe diese aufgesucht, um sie wegen ihres despektierlichen Verhaltens zu rügen, sei dann aber durch das Gebet derart ergriffen gewesen, dass er seinen Platz verlassen und Eva von Buttlar umarmt habe, worauf man sich in der folgenden Nacht gleich dreimal „fleischlich vermenget“ habe.44 Dass die Zeugung von unehelicher Nachkommenschaft, also von ‚Hurenkindern‘, unter diesen Bedingungen nahezu zwingend war, muss Eva von Buttlar samt ihrer Anhängerschaft bewusst gewesen sein. Dagegen argumentiert Temme, dass ein so natürlicher und alltäglicher Vorgang wie die Geburt eines Säuglings in der Gruppierung schlicht nicht vorgesehen gewesen sei, weshalb es keine Konzepte für diesen Fall gegeben habe, woraus folgerichtig der Tod der Kinder resultierte. Zugleich räumt Temme eine in der Gruppierung herrschende feindliche Stimmung gegenüber den Neugeborenen ein, die es diesen nahezu unmöglich gemacht habe, „dagegen anzuleben“.45 Diese Interpretation Temmes wirkt nicht nur im Blick auf den Tod der Säuglinge relativierend, sie verstellt zudem den Blick auf das eigentlich Naheliegende: Die Nichtakzeptanz der in freier Liebe unter den Mitgliedern der Gruppe gezeugten Kinder aus Gründen der Konkurrenzvermeidung, initiiert von Eva von Buttlar, mittels der Aktivierung gesellschaftlicher Stigmata wie ‚Hure‘ und ‚Hurenkind‘ für Mutter und Neugeborenes. Diese Strategie überrascht, da sie sich einer Sexualmoral eben aus der Mitte jener Gesellschaft bediente, deren Konventionen die Mitglieder der Buttlarschen Rotte belächelten und ablehnten. Doch offenbar waren diese Stigmata sittlicher Regulierung so tief im Denken und Handeln der Beteiligten verwurzelt, dass es für Eva von Buttlar keine Mühe darstellte, diese für ihre Zwecke zu nutzen. Ein weiteres Indiz für die von Buttlar praktizierte Konkurrenzvermeidung stellt die in der Buttlarschen Rotte praktizierte ‚Beschneidung‘ der weiblichen Mitglieder dar, die sich von dem modernen Verständnis einer Beschneidung deutlich unterschied. Informationen über diese extravagante Form der Verstümmelung des weiblichen Körpers bieten eine Vielzahl von Berichten Betroffener, die sich – wenn auch nur in Teilen erhalten – in den Akten zu dem 1704 bis 1705 geführten Gerichtsverfahren im Fürst-Wittgensteinischen Archiv in Bad Laasphe befinden. Kopien dieser Akten wurden 1706 mit weiteren Gerichtsakten aus dem 1706 in Paderborn gegen die Buttlarsche Rotte angestrengten

  Temme, Krise [s. Anm. 4], 139.   Temme, Krise [s. Anm. 4], 181. 45   Temme, Krise [s. Anm. 4], 204. 43 44

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Prozess nach Halle/Saale gesandt, wo sie zu einem späteren Zeitpunkt verloren gingen.46 Abschriften und Zusammenfassungen der Prozessakten haben sich in dem Werk des aus Leipzig stammenden Wegbereiters der Frühaufklärung Christian Thomasius (1655–1728) erhalten.47 Bereits 1702, als Eva von Buttlar samt ihrer Anhängerschaft noch in Erfurt weilte, berichteten zwei Zeugen, dass die Tochter von Georg Christoph Uckermann, Cunigunda, während ihrer Zugehörigkeit zur Buttlarschen Rotte die „Bähr-Mutter im Leibe zerquetscht“ worden sei und dass diese Handlung innerhalb der Gruppierung als „Beschneidung“ bezeichnet werde.48 Uckermann selbst präzisierte das Geschehene dann während der Verhandlung in Wittgenstein. Nachdem er seine Tochter aus dem Haus der Buttlarschen Rotte befreit habe,49 hätte diese ihm gestanden, dass neben Justus Gottfried Winter,50 einem Gründungsmitglied der Gruppierung, auch Sebastian Ichtershausen, ein weiterer Vertrauter Eva von Buttlars, ihr zunächst zwei Finger, später dann die ganze Hand vaginal eingeführt hätten. Dies sei insgesamt 15 Mal geschehen.51 Dorothea Elisabeth Cronomus wurde während ihrer dreijährigen Zugehörigkeit zur Buttlarschen Rotte ebenfalls der ‚Beschneidung‘ unterzogen. Während des Gerichtsverfahrens gab diese am 5. Dezember 1704 in Schwarzenau zu Protokoll, dass sie mit der ‚Beschneidung‘ einverstanden gewesen sei, da Winter ihr zugesichert habe, dass sie hierdurch gereinigt werde und weiterhin auch rein bleibe. Obgleich sie ihre Regel gehabt hätte, habe ihr Winter die Hand vaginal eingeführt und die ‚Beschneidung‘ vorgenommen, worauf es zu Blutungen gekommen wäre, die von starken Schmerzen begleitet gewesen seien.52 Nach der ‚Beschneidung‘ musste die Frau für lange Zeit das Krankenlager hüten, wobei es zunächst unklar blieb, ob sie den Eingriff überleben würde.53 Detaillierter zum Ablauf der ‚Beschneidung‘ äußerte sich 1704 die aus dem Berleburgischen stammende Anna Elisabeth Krümer, die sich der Prozedur während ihrer Zugehörigkeit zur Buttlarschen Rotte unterzogen hatte. Eva von Buttlar habe sie in ein separates Zimmer gebracht und auf ein Bett gelegt, worauf Justus Gottfried Winter „sie mit der Hand in ihre Scham gegriffen, und wehre mit großer Schmerzen dieses zugegangen. Herauff auch etwas Geblüth von ihr gegangen Sie hette wohl acht Tage davon Schmerzen gehabt.“54 Als letztes Beispiel für die Durchführung der ‚Beschneidung‘ und deren Konsequenzen für die betroffenen Frauen soll ein bei Temme abgedruckter Reisebericht aus dem Umfeld des Grafen Maximilian Heinrich von Wied  Temme, Krise [s. Anm. 4], 26.   Siehe hierzu Thomasius, Gedancken [s. Anm. 39]. 48   Thomasius, Gedancken [s. Anm. 39], 218–220. 49   Thomasius, Gedancken [s. Anm. 39], 318. 50   Zu Gottfried Winter vgl. Hoffmann, Radikalpietismus [s. Anm. 3], 24. 51   Thomasius, Gedancken [s. Anm. 39], 318. 52   Thomasius, Gedancken [s. Anm. 39], 273. 53   Thomasius, Gedancken [s. Anm. 39], 297. 54   Thomasius, Gedancken [s. Anm. 39], 272. 46 47

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Runkel angeführt werden.55 Dieser schildert, in Übereinstimmung mit den vorausgegangenen Beschreibungen, dass die Frauen auf ein Bett gelegt und fixiert wurden. Die Vertrauten Eva von Buttlars, namentlich Sebastian Ichtershausen und Justus Gottfried Winter, versuchten die ängstlichen Frauen zu beruhigen: Sie sollten sich nicht fürchten, denn Jesus käme, um sie von ihren Sünden zu reinigen. Denn um die jeweilige Frau als ‚Neuen Menschen‘ zu erschaffen, müsse der ‚Alte Adam‘ (nach der in der Buttlarschen Rotte gepflegten Vorstellung wohnhaft in der Gebärmutter der Frau und Verursacher ihrer sexuellen Lust)56 in ihr abgetötet werden. Sie sollten nur getrost u. standhaftig seyn, es wäre nur umb eine kleine Zeit, so wären sie von allen Sünden gereinigt. Darauff habe einer von Anfang mit dem einen Finger, nachgehends mit dem 2ten u. so fort, biß er mit der ganzen Hand hinein kommen, durch die Scham zu ihnen gegriffen, und ihnen dermaßen im Leib herumbgefahren, daß sie ihre 5. Sinne nicht gehabt, und also nichts rechts sagen könnten, ausser daß sie große Schmerzen empfunden, auch einige 4. Wochen lang den Blutfluss behalten. Eine andere Frau, so vorhero Kinder gehabt, und sich hernach beschneiden lassen, hat gesagt, daß sie viel lieber wieder 10. Kinder gebehren, als einzigmal dergleichen Schmerzen außstehen wollten.57

Aus welchen Beweggründen unterzogen sich die Frauen dieser schmerzhaften und entwürdigenden Prozedur? Weder die Gerichtsakten noch andere zeitgenössische Quellen geben Auskünfte über eine – im Vorfeld der ‚Beschneidung‘ – gegenüber den betroffenen Frauen ausgeübte körperliche Gewalt. Doch gilt dies auch in psychischer Hinsicht? Auf die in der Gruppe wirksamen sozialen Strukturen und deren Potential zur Konstituierung psychischer Abhängigkeiten lassen die Quellen nur wenige Rückschlüsse zu. Hinzu kommt, dass das postmoderne Verständnis von psychischer Gewalt nicht ohne Weiteres auf die Frühe Neuzeit übertragbar ist.58 Es steht vielmehr die Frage im Raum, ob zur Zeit der Buttlarschen Rotte überhaupt ein Bewusstsein für psychische Gewalt und deren Auswirkungen auf die Opfer existierte. Erschwert wird die Identifizierung psychischer Gewalt in der Buttlarschen Rotte auch durch den Umstand, dass das Sprechen über Gemütsbewegungen wie Trauer, Liebe oder Glück ebenso wie über Sinneserfahrungen, z. B. Schmerz, sexuelle Lust, aber

55   Graf Maximilian Heinrich von Wied-Runkel in Begleitung einiger Reisegefährten stattete der Wohnstätte der Buttlarschen Rotte in Saßmanshausen im Frühjahr 1704 einen Besuch ab. Vgl. Max Goebel: Geschichte des christlichen Lebens in der rheinisch-westphälischen evangelischen Kirche. Bd. 2. ND Gießen 1992, 790. Zu dem Besuch Wied-Runkels existiert ein Bericht, verfasst durch einen seiner Begleiter. Einsehbar im HStA Weimar, im Nachlaß Zollmann Nr. 17, 9.9‘. In Auszügen abgedruckt bei Temme, Krise [s. Anm. 4], 353f. 56   Ausführlich zu dieser Theorie vgl. Temme, Krise [s. Anm. 4], 376. 57   Thomasius, Gedancken [s. Anm. 39], 354. 58  Vgl. hierzu Maike Christadler: Gewalt in der Frühen Neuzeit – Positionen der Forschung. In: Gesnerus 64, 2007, 231–245.

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auch Riechen und Schmecken in der Frühen Neuzeit schlicht nicht üblich war. Ausgenommen hiervon waren negative Emotionen wie Ärger oder Zorn, die sich in der frühneuzeitlichen Gesellschaft deutlich einfacher artikulieren ließen.59 Berücksichtigt man all dies, dann bleibt die von Temme getroffene Aussage, dass sich die betroffenen Frauen aufgrund der nicht stattgefundenen körperlichen Repressalien der ‚Beschneidung‘ freiwillig unterzogen hätten, höchst strittig.60 Die Reaktion der ‚verschnittenen‘ Dorothea Elisabeth Cronomus in der direkten Konfrontation mit Justus Gottfried Winter – der die Quetschung der Gebärmutter bei ihr vorgenommen hatte – während der Gerichtsverhandlung gegen die Buttlarsche Rotte am 12. Dezember 1704 in Berleburg spricht hier eine deutliche Sprache. Die Frau konnte vor Gericht, nunmehr in der Gegenwart Winters und über zwei Jahre nach den Ereignissen, die von ihr bereits am 5. Dezember 1704 im Vorfeld des Prozesses zu Protokoll gegebene Fassung des Erlebten wohl aufgrund der damit verbundenen psychischen Belastung nicht wiederholen.61 Die ebenfalls ‚verschnittene‘ Anna Martha Heußin, Witwe von Creutzburg, litt nach dem Prozedere offensichtlich unter einem Trauma. Sie musste streng überwacht werden, da sie in Erfurt aus dem Fenster in die Gera zu springen versucht hatte.62 Die Frau gestand einem Bekannten, „daß, wann sie die Augen nur geschlossen, sey Eva alle mahl für ihr gestanden mit einer glüenden Zunge, und einem Becher in der Hand, wie die Babylonische Hure in der Offenbahrung Johannis“.63 Auch Clara Elisabeth von Callenberg, die gemeinsam mit ihren vier Schwestern zur Gefolgschaft der Eva von Buttlar zählte, diese jedoch im Frühjahr 1703 mit der jüngsten Schwester Anna Dorothea verließ,64 beurteilt in ihren Erinnerungen, aufgezeichnet durch ihren späteren Ehemann, den Quietisten Charles Hector de Saint George Marquis de Marsay, die Zeit in der Gruppierung als negativ. Sie habe bereits in Erfurt großen Widerwillen wie auch Furcht gegenüber den Mitgliedern der Gruppierung empfunden und sich dem hier üblichen promiskuitiven Umgang mehr und mehr entzogen. Die Buttlarsche Rotte deutete die Distanzierung Anna Dorothea von Callenbergs als „Ärgernüß u. Abneigung, so sie ob der Geistlichen Vertrautheit schö[p]ffte, mit welcher sie untereinander lebten von der Verderbnüß herkäme, so in ihr wäre, u. [diese] machte, daß sie alle ihre unschuldige Thaten vor böse ansahe“.65 59   Maren Lorenz: Tiefe Wunden. Gewalterfahrungen in den Kriegen der Frühen Neuzeit. In: Gesellschaft – Gewalt – Vertrauen. Jan Philipp Reemtsma zum 60. Geburtstag. Hg. v. Ulrich Bielefeld [u. a.]. Hamburg 2012, 332–354, hier 337. 60   Temme, Krise [s. Anm. 4], 169. 61   „… sie wäre aber in solchem Zustand gewesen, daß sie weiter nicht eigentlich sprechen könnte …“ Vgl. Thomasius, Gedancken [s. Anm. 39], 319. 62   Thomasius, Gedancken [s. Anm. 39], 297f. 63   Thomasius, Gedancken [s. Anm. 39], 298. 64   Temme, Krise [s. Anm. 4], 224f. 65   Siehe hierzu den Lebenslauf Clara Elisabeth von Callenbergs, in: Leben des Charles Hector St. George de Marsay und seiner Gattin, von ihm selber, Kopie 1769 im Archiv der Evangelischen

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Callenberg stürzte diese perfide Interpretation ihrer Gefühlslage durch die Gruppe in tiefe Verzweiflung, die bis hin zu Selbstmordgedanken reichte. Auch wenn die Schilderungen Callenbergs in die Tradition der Gattung der pietistischen Autobiografie fallen66 und somit eine tradierte Art der Selbstdarstellung vorausgesetzt werden muss, vermag man die den Beschreibungen zugrunde liegende seelische Not durchaus zu erahnen. Diese in das Reich der Phantasie zu verweisen oder allein mit einer religiösen Überspanntheit zu erklären, diskreditiert die Opfer in der Historiographie erneut.

6. Die vertragliche ‚Übergabe‘ einzelner Mitglieder an ‚Mutter Eva‘ Eine der wenigen Beschreibungen über das Leben in der Buttlarschen Rotte aus der Sicht eines Unbeteiligten findet sich in dem bereits angesprochenen, 1704 angefertigten Bericht über einen Besuch des Grafen Wied-Runkel in Saßmannshausen.67 Der Begleiter des Grafen berichtet hier, dass der Gesellschaft sofort ins Auge gefallen sei, daß diese Menschen übel, bleich und zerstört in den Gesichtern aussahen und fast sämmtlich etwas gelbes, gelbe Hemden, Strümpfe oder Caminsole am Leibe hatten. Kaum da wir uns niedergesetzt, trat die sogenannte Mutter Eva in die Stube, ging mit vielen frechen und leichtfertigen Mienen zwischen uns durch, und, nachdem sie den Major Hackenburg gegrüßt, setzte sie sich oben neben ihrem Bette auf einen kleinen Stuhle nieder, und redete kein Mensch von ihnen Allen das geringste Wort, so daß es eine gute Zeit ganz still war.68

Die Mitglieder hatten nicht nur zu schweigen und in Stille zu verharren, wenn sich Mutter Eva zu Gesprächen mit Außenstehenden herabließ, sondern von Justus Gottfried Winter und Anna Sidona Callenberg liegen auch s.g. ‚Übergaben‘ vor. Faktisch Verträge, die, wie im Falle Callenbergs, biografisch konnotiert sein konnten, jedoch im Kern darauf abzielten, die ‚Übergebenen‘ mittels der in der Buttlarschen Rotte entwickelten Theologie radikal in deren Strukturen einzubinden, womit selbstredend der Verzicht auf Selbstbestimmung einherging. Sidonia Callenberg ‚übergab‘ sich nicht nur an Eva von Buttlar, sondern zusätzlich und explizit an Justus Gottfried Winter und Johann Georg

Kirche im Rheinland in Düsseldorf, BM 4/1: Hier wortgetreu zit. n. Temme, Krise [s. Anm. 4], 162f. 66  Siehe hierzu das Kapitel „Pietistisch-bürgerliche Identität durch Schreiben und Lesen: Selbstdeutung, Zeugnis und Exempel“ bei Ulrike Gleixner: Pietismus und Bürgertum. Eine historische Anthropologie der Frömmigkeit Württemberg 17.-19. Jahrhundert. Göttingen 2005, 119–208. 67  Vgl. Goebel, Geschichte 1992 [s. Anm. 55], 790. 68   Goebel, Geschichte 1992 [s. Anm. 55], 801.

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Appenfeller:69 „Vater, Mutter, Bruder, worin sie wahrhafftig, das Bilde des einigen Gottes spiegelt, ach! Daß ich nur Gott in ihnen recht lieben, ehren und fürchten könnte, so wie ichs erkenne, aber ich thue in allem das Gegenteil“.70 Mochte Callenberg an ihrem persönlichen Verhältnis zur ‚Buttlarschen Trinität‘ noch arbeiten, so hatte sie dieser ihr Vermögen spätestens mit der ‚Übergabe‘, wie vor ihr bereits Winter71 und alle weiteren ‚Kinder‘, übereignet. Ebenso wie die ‚Übergabe‘ Winters schließt auch die Callenbergs mit dem Versprechen, die Buttlarsche Rotte niemals zu verlassen und deren Ordnung und Gesetze stets zu achten.72 Temme konstatiert hierzu, dass das Leben der Mitglieder völlig durch Eva von Buttlar bestimmt worden sei: Weder hätten diese gegen den Willen Evas handeln noch deren Anordnungen und Entscheidungen in Frage stellen können. Die Doktrin der Buttlarschen Rotte habe u. a. darin bestanden, den Willen und die Persönlichkeit ihrer Mitglieder zu brechen.73

7. Plädoyer für eine historiographische Revision Bei dem zuvor in Auszügen Beschriebenen handelt es sich durchweg um bereits bekannte Forschungsergebnisse. Das Quellenmaterial, insbesondere das in den Ausführungen von Thomasius enthaltene, wurde von der Pietismusforschung mehrfach ausgewertet und hinsichtlich der Bedeutung der Buttlarschen Rotte für die Erforschung des sog. Radikalpietismus interpretiert. Dabei markieren die Versuche der Beurteilung und Verortung der Buttlarschen Rotte, ob nun im religiösen oder im sozialen Kontext, ein breites Spektrum, das von Missbilligung74 bis zur Stilisierung Eva von Buttlars als frühneuzeitliche Ikone

69   Johann Georg Appenfeller, ehemaliger Zögling und bereits im Alter von 14 Jahren ihr Sexualpartner, stieß im Oktober 1704 in Saßmannshausen zur Buttlarschen Rotte. In der Sozietät übernahm Appenfeller die Rolle des Sohnes in der von Callenberg beschriebenen personifizierten Trinität, die durch Winter als Vater und von Buttlar als Mutter komplettiert wurde.Vgl. Temme, Krise [s. Anm. 4], 241 u. 244. 70   Thomasius, Gedancken [s. Anm. 39], 306. 71  Aus der ‚Übergabe‘ Winters: „Ich habe mich übergeben und übergebe mich nochmahls, und ist noch mein beständiger und ewiger Vorsatz, ihr und der Gemeinde mit meinem Geist, Seele, Leib,Willen und allen Kräften und auch meiner irrdischen Haabseeligkeit also, daß ich nur der Gemeinde seyn und bleiben will, in alle Ewigkeit, nicht mehr mir und meinem Willen, sondern ihr und ihrem Willen zu leben und zu sterben.[…] und so ich etwa durch schnöde Eigenheit und Furcht vor dem Leiden aus alleiniger Liebe des Fleisches und Bluts untreu werden und von der Gemeinde abgehen wollte, muß und will ich ausgetilget seyn aus dem Buch des Lebens, kann und will kein Theil an GOTT und seinen Anschauen haben, darf und will auch nicht den geringsten Heller wiederhaben von meiner irrdischen Haabseligkeit, so in die Gemeinschaft übergeben.“ (Thomasius, Gedancken [s. Anm. 39], 301f.) 72   Thomasius, Gedancken [s. Anm. 39], 307. 73   Temme, Krise [s. Anm. 4], 254. 74   Albrecht Ritschl: Geschichte des Pietismus. Bd. 1. Bonn 1880, 417–427.

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der sexuellen Emanzipation der Frau reicht.75 Barbara Hoffmann sieht in dem häufigen Wechsel der Sexualpartner der Eva von Buttlar eine „geistleibliche Paarbeziehung in der Kontinuität von Heilsvermittlung durch Berührung, die zu jeder Zeit von beiden Geschlechtern praktiziert wurde und die auch der Weihe der Priester und Pfarrer durch Handauflegen durch den Bischof zugrunde liegt“.76 Herausstechend im Falle Buttlars sei die Ausformung einer Theologie, in deren Zentrum nicht nur eine Frau stünde, sondern sogar die Reinigung und Erlösung des Mannes durch diese Frau mittels der sexuellen Vereinigung mit ihr.77 Temme beklagte in einem 1991 erschienenen Aufsatz zur Buttlarschen Rotte ein bestehendes Forschungsdesiderat bezüglich der Fragestellung, „in welcher Weise man bei Eva von Buttlar als von einer Führerin (Critchfield) sprechen kann und welche sozialen Motive sie zum Heraustreten aus ihrer angestammten Rolle als Ehefrau und Hofdame veranlaßt haben“. 78 Zudem, so Temme, spiegele sich auch in der Person von Buttlars „das Phänomen der Frau als religiöse Führerin“ als Teil der „Identitäts- und Funktionsproblematik der Frau im verarmten Adel und im Bürgertum des frühen 18. Jahrhunderts“.79 Diese durchweg positive Bewertung Eva von Buttlars gerade durch die Pietismusforschung vermag nur auf den ersten Blick zu überraschen. Die eingehende Analyse der Forschung zur Buttlarschen Rotte zeigt auf, dass diese auf eine Perspektive zurückzuführen ist, die Eva von Buttlar als eine in ihrer Epoche einzigartige, exotische und noch dazu zentrale Protagonistin eines theologisch begründeten Szenarios begreift. Diese Perspektive verstellt den Blick auf die sozialen Prozesse in der Buttlarschen Rotte, wodurch das offen Daliegende, nämlich die systematische Misshandlung der weiblichen Mitglieder und die Kindstötungen, tatsächlich übersehen oder zumindest marginalisiert wird. Lediglich der Autor einer angelsächsischen Veröffentlichung ringt sich im Zuge der Beschreibung der durch die Buttlarschen Rotte praktizierten Frauenbeschneidungen zu der Formulierung durch: „This brutal practice that victimized women was practiced by a group that in many ways also promoted female power, an unusual combination that heigthened the growing controversy concerning the society.“80 Dies ist die einzige Stelle in den wissenschaftlichen Untersuchungen zur Gruppierung um Eva von Buttlar, wo eine Kategorisierung 75  Vgl. Richard Critchfield: Prophetin, Führerin, Organisatorin: Zur Rolle der Frau im Pietismus. In: Die Frau von der Reformation zur Romantik. Die Situation der Frau vor dem Hintergrund der Literatur- und Sozialgeschichte. Hg. v. Barbara Becker-Cantarino. Bonn 1980,112–137, hier 122. 76   Hoffmann, Radikalpietismus [s. Anm. 3], 169. 77   Hoffmann, Radikalpietismus [s. Anm. 3]. 78   Willi Temme: Die Buttlarsche Rotte – Ein Forschungsbericht. In: PuN 16, 1990, 53–75, hier 74. 79   Temme, Rotte [s. Anm. 78], 74.. 80   Aaron Spencer Fogleman: Jesus is female. Moravians and Radical Religion in Early America. Philadelphia, PA 2007, 35.

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der weiblichen Mitglieder als Opfer vorgenommen, wenn auch im Folgenden nicht weiter vertieft wird. Auf der Basis der hier gebotenen Überlegungen ist von eindeutigen Hinweisen auf eine frühneuzeitliche Gruppierung zu sprechen, die unter dem Deckmantel einer kruden und fehlgeleiteten Bibelinterpretation primär die Interessen der Führungsriege und hier im Besonderen diejenigen Eva von Buttlars bediente. Eine wichtige Rolle dürften dabei, neben der Auslebung eines im zeitgenössischen Verständnis als promiskuitiv empfundenen Sexualverhaltens, handfeste wirtschaftliche Gründe gespielt haben. Denn von Buttlar bemächtigte sich spätestens mit der vertragsähnlichen ‚Übereignung‘ der Mitglieder deren Vermögens, das auch nach einem – mit dem Tod gleichgesetzten – Ausscheiden bei Eva von Buttlar verblieb. Auch das Prozedere der Frauenbeschneidung passt in diesen Kontext, denn dieses zielte nicht, wie von der Gruppierung beteuert und in der Pietismusforschung oftmals unreflektiert kolportiert, auf eine Reinigung der Frauen ab, sondern schlicht auf deren Sterilisierung,81 und, falls nötig, auf die Tötung eines eventuell vorhandenen Embryos.82 In Bezug auf die geschilderten Säuglingstötungen resümiert Temme gewiss richtig, dass die Kinder im Alltag der Buttlarschen Rotte keinen Platz gehabt hätten, doch wirkt die angeführte Erklärung, dass es den Beteiligten an Konzepten zur Kindererziehung gemangelt habe, apologetisch konstruiert.83 Die nächstliegende und damit wahrscheinlichste Begründung für die in der Buttlarschen Rotte praktizierten „Beschneidungen“, Abtreibungen und Kindstötungen liegt vielmehr in der  Vermeidung von Konsequenzen, die ein Kind, das aus einer Beziehung zwischen einem ‚wiedergeborenen‘ Mann und einer ‚gereinigten‘ Frau hervorgegangen wäre, hervorgebracht hätte. Dessen Existenz hätte die Herrschaft der Eva von Buttlar – deren erstes und einziges Kind erst 1713 geboren und im Übrigen von ihr direkt als Messias bezeichnet wurde84 – über die Gruppierung auf gleich mehreren Ebenen in Gefahr gebracht. So wäre neben der denkbaren theologischen Überhöhung des ‚fremden‘ Nachwuchses, auch die Notwendigkeit für Eva von Buttlar entstanden, die ihr gegenüber stets und vollständig erbrachte 81   Zu diesem Schluss kommen auch Lückel, Sozietät [s. Anm. 3], 254, und Temme, Krise [s. Anm. 4], 354. An dieser Stelle drängt sich die Frage auf, warum Cunigunda Uckermann, gemäß der Aussage ihres Vaters, durch Winter gleich 15 Mal (vgl. ebd., 169) dem Beschneidungsprozedere unterzogen wurde, wenn dieses angeblich ausschließlich aus Gründen der einmaligen Reinigung geschah. Die Wahrscheinlichkeit, dass Winter sich auf diese perverse Art zum einen an der wehrlosen Frau sexuell befriedigte bzw. und zum anderen bewusst die Fortpflanzungsorgane Uckermanns irreversibel schädigte, scheint um einiges höher. Auch besteht die Möglichkeit, dass es sich hierbei um wiederholte Abtreibungen bzw.Versuche von Abtreibungen handelte. 82   Siehe hierzu auch Temme, Krise [s. Anm. 4], 168. 83   Temme, Krise [s. Anm. 4], 204. 84  Eva von Buttlar gebar ihr erstes und einziges Kind, Georg Gottfried Appenfeller, am 8.04.1713 in Altona, im Alter von 42 Jahren. Das Kind wurde 13 Monate nach dem Tode von Johann Georg Appenfeller geboren, den Eva Maria von Buttlar unter Eid als Vater angegeben hatte. Warum Eva von Buttlar in den Jahren zuvor keine Kinder zur Welt brachte, bleibt vorerst unklar.Vgl. Hoffmann, Radikalpietismus [s. Anm. 3], 47.

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Aufmerksamkeit der Mitglieder mit dem Kind zu teilen, wodurch sich zwangsläufig eine Konkurrenzsituation ergeben hätte. Ein solches Szenario gedachte die egozentrisch agierende Eva von Buttlar freilich mit allen Mitteln zu vermeiden, da hierdurch ihr allumfassender Herrschaftsanspruch womöglich gefährdet worden wäre. Diese Gefahr hätte im Besonderen in Bezug auf die Mütter und Väter der Kinder bestanden, die nun neben Eva von Buttlar einen weiteren Menschen mit emotionaler, aber auch finanzieller Aufmerksamkeit hätten bedenken müssen. Auch bringt die Geburt eines Kindes oftmals den Effekt einer Prüfung der eigenen Lebensumstände mit sich, verbunden mit der Abwägung zukünftiger Entwicklungen. Dies alles wären Prozesse gewesen, die nicht nur Änderungen in der Struktur der Gruppierung bedingt, sondern langfristig auch ihre Stabilität gefährdet hätten. Zudem wäre es denkbar gewesen, dass die in der Buttlarschen Rotte geborenen Kinder zu einem späteren Zeitpunkt ihr Erbe beansprucht hätten, oder dieses durch die Eltern für die Kindererziehung und Ausstattung zurückgefordert worden wäre.

8. Fazit Im Zuge der Kontrollausübung über die Gruppe und der naheliegenden Intention, die sexuellen Freizügigkeiten zu bewahren, übte Eva von Buttlar in Gemeinschaft mit Justus Gottfried Winter und Johann Georg Appenfeller psychischen und physischen Druck besonders auf die in der Buttlarschen Rotte lebenden Frauen aus. Mittels ihrer christlich unterfütterten Ideologie, die massiv auf die Persönlichkeiten der bereits finanziell, aber auch sozial von der Gruppierung abhängigen Frauen einwirkte, rang man diesen ein formales Einverständnis zur ‚Beschneidung‘ ab, deren Resultat die angebliche Tötung des in der Gebärmutter wohnhaften Alten Adams, des Verursachers des weiblichen Sexualtriebs, sein sollte, womit zugleich eine Reinigung von aller Sünde einhergehe.85 Dieses Ritual verdeutlichte nicht nur den Grad der Unterwerfung der betroffenen Frauen, sondern auch den unbedingten Willen der Führungsriege, diese rigoros einzufordern. Das Ritual der Sterilisierungen der gebärfähigen Frauen in der Buttlarschen Rotte demonstriert mehr als alles andere die Dominanz der Eva von Buttlar und die von ihr gehegte Geringschätzung der weiblichen Mitglieder der Gruppe. Gerade unter diesem Gesichtspunkt bedarf die angebliche Freiwilligkeit, mit welcher die weiblichen Mitglieder den sexuellen Umgang mit den Männern der Buttlarschen Rotte pflegten, einer differenzierten Betrachtung. Die Berichte der Clara Elisabeth Callenberg und der Anna Martha Heußin, Witwe von Creutzburg, sprechen diesbezüglich eine deutliche Sprache.

  Temme, Krise [s. Anm. 4], 355.

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Die Pietismusforschung muss sich die Frage gefallen lassen, ob es sich bei der Buttlarschen Rotte nicht vielmehr um einen Zusammenschluss manipulativer Individuen handelte, die ihre Neigungen und Interessen auf dem Rücken von in Abhängigkeit gebrachten Personen auslebten, als um ein exotisches Phänomen eines letztlich positiv zu würdigenden Radikalpietismus. Die in der Pietismusforschung durchaus verbreitete Vermeidung des pejorativen Terminus ‚Buttlarsche Rotte‘ und dessen Substituierung durch euphemistisch konnotierte Bezeichnungen wie ‚Evische Sozietät‘, ‚Sozietät der Mutter Eva‘ oder ‚Gesellschaft der Eva von Buttlar‘ begünstigen dabei die Romantisierung und Verharmlosung der Gruppierung. Die schwülstigen, kaum zu ertragenden Erklärungen und Begründungen Eva von Buttlars und weiterer maßgeblich am Geschehen Beteiligter können als „abenteuerliche Herleitungen“86 interpretiert werden, vielleicht sind sie aber tatsächlich eine düsterere Eulenspiegelei, der es im Laufe der Jahrhunderte gelungen ist, den massiven, lebensbedrohlichen körperlichen Missbrauch und die sexuelle Ausbeutung abhängiger Frauen durch einen theologisch anmutenden Vorhang zu verdecken. Zwar hat die Pietismusforschung bezüglich ihrer Einschätzung Eva von Buttlars als einzigartiger Frauengestalt ihrer Zeit grundsätzlich Recht, doch muss die Frage gestellt werden, ob von Buttlar dieses Attribut aufgrund ihres religiösen und promiskuitiven Lebensstils zugeordnet werden kann oder ob hier eine Neubewertung mit dem Schwerpunkt einer übersteigerten Sexualität von Buttlars vorgenommen werden muss, welche sie zum Nachteil ihrer weiblichen Gefolgschaft und ohne Rücksicht auf V   erluste ausübte. Entlarvend ist an dieser Stelle, dass eine solche Einschätzung von Buttlars vermutlich längst vorgenommen worden wäre, wäre sie männlichen Geschlechts gewesen. An dieser Stelle gelingt der Protagonistin Eva von Buttlar ein bis in die Gegenwart wirksames Täuschungsmanöver, das seinesgleichen sucht: Im Schatten des zeitgenössischen Rollenverständnisses, das einer Frau eine solche Art der Berechnung, aber auch ein solches Sexualverhalten schlichtweg nicht zutraute, erschuf sie eine totalitäre Gemeinschaft der Angst, der Gewalt und des sexuellen Missbrauchs. Eine Pietismusforschung, die dies nicht klar benennt, läuft Gefahr, um eines positiven Pietismus-Narrativs willen die Opfer der Buttlarschen Rotte in der Historiographie erneut zu diskreditieren.

  Lückel, Sozietät [s. Anm. 3], 254.

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Bernd Roling

Mittelalterliche Mystik im Kreuzfeuer des Pietismusstreites: Der Wittenberger Theologe Martin Chladni (1669–1725) und seine Auseinandersetzung mit der Frauenmystik des Hochmittelalters 1. Einleitung Es gehört zu den Begleiterscheinungen des Luthertums, dass die Beschäftigung mit dem Mittelalter immer eine ambivalente Note besitzen musste.1 Seitdem Matthias Flacius Illyricus (1520–1575) im Gefolge der Magdeburger ‚Zenturien‘ in seinem Catalogus nach den ‚Wahrheitszeugen‘ gesucht hatte, die das historische Präludium der Reformation von der dekadenten papistischen Kirche und ihrer Degeneration unterscheiden sollten, ließen sich Kirchengeschichte und Apologetik nur schwer voneinander trennen.2 Flacius selbst gab eine Prophezeiung Hildegards von Bingen (1098–1179) heraus, deren Wert für die eigene Zeit vor allem darin bestehen sollte, dass sie den Untergang des Papsttums in Aussicht stellte.3 Immer auch fungierte die Auseinandersetzung mit der Zeit vor 1500 als Kampfplatz, auf dem sich das Für und Wider der eigenen Zeit zu entscheiden hatte. Seit Martin Luther (1483–1546) sich auf Johannes

1   Die vorliegende Studie ist innerhalb des Projektes „Late Medieval and Early Modern Libraries as Knowledge Repositories, Guardians of Tradition and Catalysts of Change“ (Academy of Finland and University of Jyväskylä no. 307635, 2017–2021) entstanden. Mein Dank geht an Outi Merisalo und Benjamin Wallura (Jyväskylä), außerdem an Dorothee Huff (Tübingen). 2   Zur Aufarbeitung der mittelalterlichen Literatur allgemein und der Satire im Besonderen bei Matthias Flacius Illyricus s. Thomas Haye: Der Catalogus testium veritatis des Matthias Flacius Illyricus – eine Einführung in die Literatur des Mittelalters? In: Archiv für Reformationsgeschichte 83, 1992, 31–47; Gerlinde Huber-Rebenich: Die Rezeption der mittellateinischen Satire bei Matthias Flacius Illyricus. In: Epochen der Satire.Traditionslinien einer literarischen Gattung in Antike, Mittelalter und Renaissance. Hg. v. Thomas Haye u. Franziska Schnoor. München 2008, 173–190. Grundlegend zu den ‚Magdeburger Zenturien‘ ist Harald Bollbuck: Wahrheitszeugnis, Gottes Auftrag und Zeitkritik. Die Kirchengeschichte der Magdeburger Zenturien und ihre Arbeitstechnik. Wiesbaden 2014, dort zur Wertung des Mittelalters im Besonderen 370–383. 3   Matthias Flacius Illyricus: Duae veteres prophetiae de pia ecclesiae Dei instauratione ad nostra tempora pertinentes. Magdeburg 1550, dort 5f.

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Tauler (1300–1361) berufen und seine Sympathie für die Theologia deutsch artikuliert hatte, musste diese Ambivalenz auch die Lektüre der Mystiker des Mittelalters begleiten.4 Hatten nicht auch Johann Arndt (1555–1621) und Philipp Jakob Spener (1635–1705) oder Jacob Böhme (1575–1624) die Schriften Taulers mit der gleichen Begeisterung gelesen?5 Ihre Lektüre konnte nicht ohne Folgen bleiben. Die Urteile, die über die Mystiker gefällt wurden, fielen auf die Gegenwart zurück und positionierten ihre Leser in unterschiedlichen Lagern; die Einschätzung, mit der eine Katharina von Siena (1347–1380) oder Elisabeth von Schönau (1129–1164) bedacht wurde, war selbst Produkt einer Weltanschauung, die polarisieren konnte, egal, wie sie ausfiel. Es war so kein Wunder, dass die mittelalterlichen Mystiker und Visionäre auch in das Fahrwasser der Streitigkeiten um den Pietismus gerieten und ihre Lektüre instrumentalisiert werden musste. Dass die Fehlentwicklungen, die zu den populären, zeitgenössisch sogenannten ‚Schwärmern‘ des 17. Jahrhunderts, den Quäkern, Jeanne-Marie Guyon (1648–1717) oder Antoinette Bourignon (1616–1680), führten, schon in der Spätantike ihren Ausgang nahmen, war die Kernthese des Greifswalder Professors Ehregott Colberg (1659–1698) gewesen,6 dessen Hermetisch-platonisches Christentum 1690 erschienen war.7 Andere Lutheraner wie Adam Rechenberg (1642–1721), Speners Schwiegersohn, der in Leipzig als Verteidiger der Pietisten

4  Die enorme Reichweite Taulers, dessen Corpus das protestantische Denken begleiten konnte, soll hier nicht nachgezeichnet werden, zur frühneuzeitlichen Überlieferung jetzt AnnKristin Badel: Medienwechsel und Medienwandel in der Überlieferung der Tauler-Predigten. Berlin 2019, 297–362, als Studien zur Rezeption im frühen Protestantismus z. B. Volker Leppin: Die fremde Reformation. Luthers mystische Wurzeln. München 2016, 11–34. 5   Ein Beispiel der Tauler-Lektüre Johann Arndts gibt Elke Axmacher: Johann Arndts Himmelfahrtspredigt nach Johannes Tauler. In: PuN 40, 2014, 123–133, und auch kurz dies.: Johann Arndt und Paul Gerhardt. Tübingen 2001, 4–7; zu allgemeinen Hintergründen bei Arndt auch Thomas Illg: Ein anderer Mensch werden. Johann Arndts Verständnis der imitatio Christi als Anleitung zu einem wahren Christentum. Göttingen 2011, 55–104. 6   Ehregott Daniel Colberg: Platonisch-Hermetisches Christentum, Begreiffend Die Historische Erzehlung vom Ursprung und vielerley Secten der heutigen Fanatischen Theologie, unterm Namen der Paracelsisten, Weigelianer, Rosencreutzer, Quäcker, Böhmisten, Wiedertäuffer, Bourignisten, Labadisten und Quietisten (2 Bde.). Frankfurt 1690. Eine zweite Aufl. erschien 1710. Ähnlich im schwedischen Umfeld z. B. auch der streng lutherische Greifswalder Theologe Conrad Tiburtius Rango: Neue Quäckerey in der Quietisterey, das ist Kurtze Beschreibung des Ursprungs, Lehre, und jetzigen Zustandes der alt-neuen Schwärmerey der Quiestisten. Frankfurt 1688, passim, oder später Anders Winbom u. Halvardus Aerenius: Dissertatio academica de enthusiasmo theologico. Uppsala 1736, dort bes. §§ 7–10, 6–17. 7  Zu Colberg und seinem Hauptwerk z. B. Hans Schneider: Das ‚Platonisch-hermetische Christentum‘ – Ehregott Daniel Colbergs Bild des frühneuzeitlichen Spiritualismus. In: Hermetik. Literarische Figuren zwischen Babylon und Cyberspace. Hg. v. Nicola Kaminski [u. a.].Tübingen 2002, 21–42, und Friedrich Vollhardt: ‚Pythagoreische Lehrsätze‘. Schwärmerkritik und Konsensdenken bei Daniel Colberg, Heinrich Wilhelm Clemm und Friedrich Christoph Oetinger. In: Offenbarung und Episteme. Zur europäischen Wirkung Jakob Böhmes im 17. und 18. Jahrhundert. Hg. v. Wilhelm Kühlmann u. F.Vollhardt. Berlin 2012, 363–383, hier bes. 364–374.

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galt, oder Jacob Thomasius (1622–1684) waren ihm in diesem Urteil schon vorangegangen.8 Von der ‚fanatischen Theologie‘ eines Hermes Trismegistos und Pythagoras (570–510 v.Chr.) hatte ein direkter Weg zu Pseudo-Dionysios und seiner Einheitsphilosophie geführt, von ihm aber weiter ins Mittelalter, zu Tauler und den Ekstatikern und Schwärmern der Gegenwart, die man als Enthusiasten apostrophierte.9 War es Zufall, so hatte Colberg gefragt, dass ein Quäker wie Robert Barclay (1648–1690) sich auf Bernhard von Clairvaux (1090– 1153) und Bonaventura (1221–1274) hatte berufen können?10 Binnen kurzer Zeit war Colberg fast zu einem Klassiker geworden, der zu Nachfolgewerken führte.11 Gottfried Arnolds (1666–1714) Unpartheyische Ketzergeschichte, die 1699 zum ersten Mal erschienen war, sollte die Kontroverse über die Mystiker des Mittelalters noch weiter komplizieren, hatte Arnold doch das harsche Urteil seiner Kollegen nicht geteilt, sondern die Vertreter der mittelalterlichen Spiritualität nicht nur würdigen wollen, sondern sie trotz gelegentlicher Skepsis ausdrücklich zu Vorgängern der gegenwärtigen Pietisten erhoben.12 Über die enorme Kritik, mit der Arnolds Blick auf die Kirchengeschichte von Seiten orthodoxer Protestanten wie Ernst Salomon Cyprian13 (1673–1745) oder Johann Friedrich Corvinus (1648–1721) bedacht wurde,14 ist bereits ebenso ausgiebig geforscht worden wie über die Auseinandersetzung Arnolds mit dem Traditionsgut des Mittelalters.15 Arnold hatte dem aszetischen Schrifttum des Mittelalters nicht

8   Als Beispiel Adam Rechenberg u. Svante Gustav Dietz (resp.): De origine theologiae mysticae schediasma historicum. Leipzig 1690, dort zu den fanatici der Gegenwart § 28, fol. C3vf.; dazu noch enorm kenntnisreich Jacob Thomasius: Origines historiae philosophicae et ecclesiasticae. Hg. v. Christian Thomasius. Halle/Saale 1699 (erste, noch weitaus knappere Aufl. 1665), §§ 52–55, 98–147. 9   Colberg, Platonisch-Hermetisches Christentum [s. Anm. 6], c. 1–2, 1–131. 10   Colberg, Platonisch-Hermetisches Christentum [s. Anm. 6], c. 1, 76. 11   Als Beispiel Friedrich Christian Bücher: Menses pietistici. Die Tieffe des Satans in dem Hermetisch-Zoroastrisch-Pythagorisch-Platonisch-Cabalistischen Christentum der Pietisten (Zwölf Teile). Danzig 1705–06. 12   Gottfried Arnold: Unparteyische Kirchen- und Ketzer-Historie (2 Bde.). Frankfurt 1699. 13   Ernst Salomon Cyprian: Allgemeine Anmerkungen über Gottfried Arnolds Kirchen- und Ketzerhistorie, worinnen bescheidenlich und gründlich erwiesen wird, dass Arnold, vermöge seiner vorgefaßten Meynungen, nothwendig partheyisch hat schreiben müssen. Helmstedt 1700; dazu C. Scott Dixon: Faith and History of Enlightenment. Ernst Salomon Cyprian, Gottfried Arnold and the History of Heretics. In: The Journal of Ecclesiastical History 57, 2006, 33–54. 14   Johann Friedrich Corvinus: Corpus doctrinae oder Fürbildung der Lehre von der wahren und falschen Pietät oder Gott-Seeligkeit (3 Bde.). Frankfurt 1701, dort als Bd. 3 mit eigener Seitenzählung die Gründliche Untersuchung der so genannten Unpartheyischen Kirchen- und Ketzerhistorie und einiger anderer Schrifften Gottfried Arnolds. Noch viele weitere vergleichbare Schriften sind entstanden. 15   Eine Zusammenfassung der Arnoldschen Aufarbeitung mittelalterlicher Spiritualität liefert Peter C. Erb: Pietists, Protestants, Mysticism.The Use of Late Medieval Spiritual Texts in the Work of Gottfried Arnold (1666–1714). Metuchen 1989, passim; ergänzend dazu z. B. Hanspeter Marti: Jesuiten im Blickfeld des radikalen Pietisten Gottfried Arnold. Konfessionalistische Abgrenzung

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erst in seinen Irrungen des gutgläubigen Menschen einen großen Raum gegeben.16 Sein Leben der Gläubigen hatte ihn von Nikolaus von der Flüe (1417–1487), dem er auch das pseudo-eckardsche Traktat von der Abgeschiedenheit zuschrieb, über Katharina von Genua (1447–1510) und Angela von Foligni (1248–1309) direkt zu aktuellen und äußerst umstrittenen Visionären des 17. Jahrhunderts wie Hans Engelbrecht (1599–1642) geführt.17 Die Vitae patrum hatte Arnold unter anderem um ein Leben Bernhards von Clairvaux und Johannes Taulers erweitert, die den Geist der Wüstenväter, wie Tauler glaubte, weitergetragen hatten.18 Die Historie der mystischen Theologie, die Arnold 1703 vorgelegt hatte, um seine Ketzergeschichte anzureichern, bot eine wahre Prozession von mittelalterlichen Mystikern, Visionären und platonisierenden Theologen, die als Zeugen einer nie abgebrochenen Tradition der Innerlichkeit ins Feld geführt wurden. Von Dionysios dem Areopagiten über die Hesychiasten ließen sich in diese große Linie des entgrenzenden Denkens auch Bruno der Kartäuser (†1101), Bernhard von Clairvaux,Wilhelm von St.Thierry (†1148), Aelred von Rievaulx (1110–1167), die Viktoriner und Bonaventura einordnen, aber auch Gertrud von Helfta (1256–1301), Mechthild von Magdeburg (1207–1282) und Johannes Tauler, über dessen Predigten Arnold auch zu Meister Eckhart (1260–1328) geführt worden war.19 Eine Menge von vermeintlich begnadeten Gottsuchern und vor und mystisch-spirituelle Solidarität. In: Gottfried Arnold. Radikaler Pietist und Gelehrter. Hg. v. Antje Mißfeldt. Jubiläumsausgabe von und für Dietrich Blaufuß und Hanspeter Marti. Göttingen 2011, 106–129. 16   Gottfried Arnold: Die Abwege oder Irrungen und Versuchungen gutwilliger und frommer Menschen, aus Beystimmung des gottseeligen Alterthums angemercket. Frankfurt 1708, dort vor allem 1. Buch, c. 10–12, 200–270; und ebenso auch ders.: Wahre Abbildung des inwendigen Christenthums, nach dessen Anfang und Grund, Forgang oder Wachsthum und Ausgang oder Ziel dargestellet. Frankfurt 1709, dort auch (ohne Seitenzählung) der programmatische Autoritätenkatalog in der Vorrede. 17   Gottfried Arnold: Leben der Gläubigen oder Beschreibung solcher Gottseligen Personen, welche in denen letzten 200 Jahren sonderlich bekandt worden. Halle 1701, dort zu Bruder Nikolaus 13–49, zu Katharina von Genua 241–294, zu Angela de Foligni 294–328, zu Hans Engelbrecht 621–683. Allgemein zu Engelbrecht in Kürze Bernd Roling: „Wie in eine Weinsuppe getunkt“: Selbstauslegung und Autorisierung in den Visionen Johann Engelbrechts. In: Gesicht und Handschrift.Transzendente Begründung und Authentifikation in mittelalterlichen Visionen. Hg. v. Julia Weitbrecht u. Andreas Bihrer. Berlin 2023, 145–170. 18   Gottfried Arnold:Vitae patrum, oder Leben der Alt-Väter und anderer Gottseliger Personen. Halle 1718, Dritter Theil, c. 2, 5–12, c. 4, 16–59, zu Bernhard in Auszügen auch ders.: Auserlesene Sendschreiben derer Alten zum gemeinsamen Nutzen gesammlet und verteutscht. Frankfurt 1700, 524–597. 19   Gottfried Arnold: Historie und Beschreibung der mystischen Theologie oder Geheimen Gottes-Gelehrtheit, wie auch derer alten und neuen Mysticorum (2 Bde.). Frankfurt 1703, dort c. 18–22, 361–464; und vorher schon lateinisch ders.: Historia et descriptio Theologiae mysticae seu Theosophiae arcanae et reconditae itemque veterum et novorum mysticorum. Frankfurt 1702, c. 18–22, 268–345. Zeitgleich war auch Arnolds Übersetzung des Canticum-Kommentars der Madame Guyon erschienen, dazu Gottfried Arnold: Etliche vortreffliche Tractätlein aus der Geheimen Gottes-Gelehrtheit. Frankfurt 1706, dort Traktat I. Eine allgemeine parallel angelegte Würdigung der Marie de l’Incarnation und Jeanne Guyon liefert für das 17. Jahrhundert z. B.

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allem Gottsucherinnen bot sich dem Leser dar, von der Spätantike bis zu den Pietisten der eigenen Gegenwart.20 Direkt auf Arnolds Verherrlichung der begnadeten Frauen reagierte der Wittenberger Theologie Johann Heinrich Feustking (1672–1713), der mit seinem Gynaeceum haeretico-fanaticum auf fast siebenhundert Seiten einen regelrechten Anti-Katalog zu Arnolds Werken verfasst hatte. Weibliche Mystik erschien hier, alphabetisch geordnet, wie ein in der ganzen Kirchengeschichte fassbarer unterirdischer Schwelbrand der Häresie, der Besessenheit, der falschen Prophetie und der Auflehnung gegen die Autorität des Klerus und der Heiligen Schrift, der von den spätantiken Häresien über die Visionärinnen des Mittelalters, die Beginen bis zu den Quäkerinnen der eigenen Zeit und Antoinette Bourignon reichte.21 Wie erfolgreich das Modell Arnolds trotz seiner Kritiker war, zeigt im Anschluss an Arnold vor allem Gerhard Tersteegen (1697–1769). Die Auserlesenen Lebensbeschreibungen des reformierten Pietisten, die ausschließlich Leitbilder für die eigene Zeit bieten wollten, enthalten nicht nur eine Vita der Gertrud von Helfta, der Katharina von Genua und der Angela von Foligno, sondern im dritten Band auch Gestalten wie Hildegard von Bingen, Elisabeth von Schönau, Juliana von Norwich (1342–1413), Franz von Assisi (1181–1226), Heinrich Seuse (1295/97–1366) und Johannes vom Kreuz (1542–1691).22 Sie alle waren für den Protestanten ebenso der Lektüre würdig wie der direkten Imitation. Dass eine deutsche Übersetzung der pseudo-albertinischen Schrift De adhaerendo Deo sich von Seiten Tersteegens noch anschließen konnte, war nur folge-

Marie Florine Bruneau:Women mystics confront the modern world. Marie de l’Incarnation (1599 –1672) and Madame Guyon (1648–1717). New York 1998, passim. 20   Ausführlich zu Arnolds Aufarbeitung der weiblichen Mystik des Mittelalters und zur Replik Feustkings Adelisa Malena: „Gefährliche Nähe“. Die Rezeption der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen weiblichen Mystik im Radikalpietismus und in der antipietistischen Polemik. In: Gender im Pietismus. Netzwerke und Geschlechterkonstruktionen. Hg. v. Pia Schmid. Halle/ Saale 2015, 157–176, bes. 165–173. 21   Johann Heinrich Feustking: Gynaeceum haeretico-fanaticum, oder Historie und Beschreibung der falschen Prophetinnen, Quäckerinnen, Schwärmerinnen und anderen sectirischen und begeisterten Weibes-Personen, durch welche die Kirche Gottes verunruhiget worden, sambt einem Vorbericht und Anhang, entgegen gesetzet denen Adeptis Godofredi Arnoldi. Frankfurt 1704, dort z. B. zu Katharina von Genua, 308–314, zu Gertrud von Helfta, 314–317. Ein Ergänzungswerk mit einer systematischen Erörterung des ‚Schwärmertums‘ folgte als ders.: Mataeologica fanatica, oder ausführlicher Bericht von den neuen Propheten, die sich erleuchtete und Gottsgelehrte nennen, Religion, Lehre und Glauben. Leipzig 1708. 22   Gerhard Tersteegen: Auserlesene Lebens-Beschreibungen Heiliger Seelen, in welchen, nebst derselben merckwürdigen äussern Lebens-Historie, hauptsächlich angemercket werden die Inneren Führungen Gottes über sie und die mannigfaltige Außtheilungen seiner Gnaden in ihnen, wobey viele wichtige Nachrichten in allen Ständen des Christlichen Lebens vorkommen (3 Bde.). Essen 31784–86 (zuerst Frankfurt 1733–35), Bd. 1, dort z. B.VI. Stück, Gertrud von Helfta, 366–412, Bd. 2, X. Stück, Katharina von Genua, 226–304, XI. Stück, Angela von Foligni, 305– 379, Bd. 3, XIV. Stück, Heinrich Seuse, 53–90, XV. Stück, Katharina von Siena, 91–149, XVI. Stück, Franz von Assisi, 150–206, XXIII. Stück, Hildegard von Bingen, 475–508, XXIV. Stück, Elisabeth von Schönau, 509–526, XXV. Stück, Mechthild von Hackeborn, 527–545.

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richtig.23 Tersteegen war in seiner Bewunderung für die Frömmigkeit des Mittelalters weitergegangen als viele seiner katholischen Zeitgenossen. Pietisten wie ihre Gegner hatten ein Interesse daran, die Mystiker für ihre Zwecke geltend zu machen, sei es, um sich selbst zu legitimieren, sei es um die Gegenseite zu diskreditieren. Der Kampf der Gegenwart war auch ein Kampf um die Deutungshoheit über die Vergangenheit. Dass Colberg mit seiner Fundamentalkritik an den mittelalterlichen Visionären und der spekulativen Theologie ebenso wenig allein war wie mit seinem Versuch, eine negative Traditionslinie aus ihnen abzuleiten, zeigt die Figur, die im Zentrum dieser Studie stehen soll, Martin Chladni. Martin Chladenius, wie er auch genannt wurde, stammte familiär aus Ungarn und hatte nach der ersten Schulausbildung in Sorau und Meißen in Wittenberg studiert. Zunächst als Pfarrer in Ubigau und Jessen tätig, wurde er 1710 Professor für Theologie in Wittenberg,24 an der über mehrere Dekaden vorher Valentin Ernst Löscher (1673–1749) die prägende Figur gewesen war.25 Einer von Chladnis Söhnen war der heute weitaus bekanntere Theologe Johann Martin Chladni (1710– 1759).26 Chladni war ein angesehener Prediger und trat als Bibelkommentator und Verfasser von umfangreichen theologischen und pastoralen Handbüchern in Erscheinung.27 Seine eigentlichen Arbeitsfelder waren die Kirchen- und Dogmengeschichte und die Auseinandersetzung mit den Pietisten und Chilias-

23   Gerhard Tersteegen: Das Anhangen an Gott, ein Unterricht des Albertus Magnus, gewesenen Bischoffs zu Regensburg. Germantown 1764. Auch Tersteegen sollte sich der Schriften der Jeanne-Marie Guyon annehmen, dazu ders.: Die Heilige Liebe Gottes und die Unheilige NaturLiebe, aus dem Französischen der Madame I. M. B. verteutschet, Solingen 1751. 24   Als Person hat Chladni bisher kaum Interesse auf sich ziehen können, unter den wenigen Einlassungen zu ihm Walter Friedensburg: Geschichte der Universität Wittenberg. Halle/Saale 1917, 551–553, 570; und mit einem Werkregister, aus dem sich etliche Titel nicht mehr verifizieren lassen, [anonym:] Art. „Chladny, Martin“. In: Allgemeines Gelehrten-Lexicon 1, 1750, 1880f. Seine umfangreiche Bibliothek verzeichnet Apparatus librarius Martini Chladenii. Wittenberg 1726. 25   Grundlegend zu Löscher sind noch immer von Moritz Engelhardt: Valentin Ernst Löscher nach seinem Leben und Wirken. Durmersheim 2011 [ND der Ausgabe Dorpat 1856] und von Martin Greschat: Zwischen Tradition und neuem Anfang.Valentin Ernst Löscher und der Ausgang der Orthodoxie. Witten 1971. 26   Eine kurze biographische Skizze Johann Martin Chladnis liefert Anna Coreth: Art. „Chladni, Johann Martin“. In: NDB 3, 1957, 206f. 27   Unter diversen Titeln z. B. Martin Chladni: Der verklärte Jesus oder Zwölff ausführliche Betrachtungen über die Historie der Verklärung Christi, mit zwölff geistlichen Oden. Leipzig 1709; ders.: Das Unschuldige Frolocken in den Hütten der Gerechten, das ist: Drey Evangelische Jubel-Predigten, welche an dem Drey-Tägigen Jubel-Fest anno 1717 zu Wittenberg gehalten. Wittenberg 1717; ders.: Erbauliches Hand-Büchlein gläubiger Beter. Wittenberg 1721; ders.: In­ stitutiones homileticae, regulis et observationibus luculentissimis instructae largissimisque exemplis illustratae.Wittenberg 1724; ders.: Institutiones exegeticae, regulis observationibus luculentissimis instructae largissimisque exemplis illustratae. Wittenberg 1725; und schon postum ders.: Institutiones Theologiae moralis, regulis et observationibus luculentissimis instructae.Wittenberg 1726; ders.: Institutiones passionales. Schneeberg 1732.

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ten, die er, wie sich zeigen wird, auch über den Rückgriff auf die Vergangenheit führen wollte. Im Folgenden soll zunächst ein Einblick in die Schriften gegeben werden, die Chladni gegen diverse religiöse Neuerer verfasst hatte. Standfest war er hier dem lutherischen Glauben verpflichtet. Der zweite Teil dieser Studie gebührt dann Chladnis kritischer Auseinandersetzung mit zwei mittelalterlichen Mystikerinnen, Birgitta von Schweden (1303–1373) und Hildegard von Bingen. Beide werden mit Blick auf ihre mögliche Inspiration, ihre Rechtgläubigkeit und den Wert ihrer Schriften überprüft. Konnte ein Christ der eigenen Zeit aus ihnen einen spirituellen Gewinn ziehen? Um die Einlassungen Colbergs wie Arnolds wissend, schlägt sich Chladni mit Nachdruck auf die Seite des ersten. Nicht nur eine bisher unbekannt gebliebene Episode im Streit um den Pietismus soll auf diese Weise gewürdigt werden, sondern auch ein Kapitel der frühen protestantischen Kirchengeschichtsschreibung jenseits von Arnold, dem bisher keinerlei Aufmerksamkeit geschenkt wurde.

2. Eingekreist von Fanatikern: Chladnis Konfrontation mit dem ‚Schwärmertum‘ Über einen Zeitraum von fast zwanzig Jahren nutzte Martin Chladni in Wittenberg das Medium der Universitätsdisputation, das er mit Titeln im dreistelligen Bereich bedient hat, um breitflächig die freigeistigen Bewegungen seiner Zeit, die Suche nach Innerlichkeit und religiöser Emanzipation, ins Blickfeld zu nehmen und als häretisch zu verurteilen. Innerhalb der schillernden pietistischen Gemengelage des frühen 18. Jahrhunderts musste, wie es scheint, fast jede quietistische oder chiliastische Initiative so früher oder später in den kritischen Blick des Wittenberger Theologen geraten. Dass Chladni in seiner Kritik mehr als einmal die angemessene Wissenschaftlichkeit vermissen ließ und seine akademischen Schriften weniger der Widerlegung als der Polemik dienten, wundert sicher nicht. Wie viele seiner streng lutherischen Kollegen sah er sich umzingelt von Irrtümern. Entscheidender Leitbegriff, unter dem sich für ihn, wie für viele andere vor ihm, ein Großteil der zeitgenössischen Devianzen bündeln ließ, war der Enthusiasmus, die Schwärmerei der fanatici. Er verband nicht nur als zentrale Eigenschaft die Häresien der eigenen Epoche miteinander, sondern als wichtigstes Merkmal auch die Schwärmer und Mystiker der Vergangenheit. Martin Chladnis Arbeiten lesen sich wie eine Zusammenfassung aktueller Kontroversen. Zu den vielen exemplarisch traktierten Opponenten des wahren Christentums gehörten für den Wittenberger Quäker wie Robert Barclay, der in seiner Apology of True Christian Divinity, wie Chladni behauptet, den Erlöser auf eine Geistsubstanz reduziert hatte, ähnlich wie der Chladni zutiefst verhasste Jacob Böhme.28 Beiden verwandt war, wie eine weitere Disputation des Witten28   Martin Chladni u. Constantin F. Hansch (resp.): Dissertatio theologica de cognitione Christi secundum carnem ex 2. Corinth,V, 16.Wittenberg 1711, §§ 13–14, 17–19; vgl. Robert Barclay: An

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bergers zeigen kann, der friesische Anhänger Johann Georg Gichtels (1638– 1710), Anton Christian Römeling (1675–1752), der in seiner Herausführung aus Babel die Inkarnation, wie Chladni behauptet, ebenfalls ausschließlich auf die spirituelle Ebene beschränken wollte. Waren hier die Heilsgeschichte und der Wert der Passion nicht elementar in Frage gestellt?29 Zu den fanatici waren für Chladni auch wiedertäuferische Bewegungen zu zählen, wie der Sozinianer Georg Schomans (1530–1591) und sein fragwürdiger Katechismus und die breite der Front der Apokalyptiker, Chiliasten und Apologeten einer Allversöhnung.30 Im Jahre 1715 widmete Chladni dem zeitgenössisch als Origenist gescholtenen Johann Wilhelm Petersen (1649–1727) eine ganze Abhandlung,31 die ihm in fast allen Bereichen eine grobe Verletzung des protestantischen Glaubens zum Vorwurf macht;32 eine zweite Disputation Chladnis behandelt Petersen im Kreise anderer henotici und Ireniker, zu denen er auch Johann Konrad Dippel (1673–1734), Johann Winckler (1642–1705) aus Hamburg und den Philalethes Irenophilus Samuel Strimesius (1648–1730) zählen möchte.33 Weder eine vorschnelle Einigung mit Reformierten, noch Annäherungen an die Katholiken waren im Sinne des wahren Luthertums, wie Chladni wiederholt festhält.34

Apology for the True Christian Divinity, as the same held forth and preached by the People, called Scorn Quakers. London 41701, Proposition XIII, 448f. 29   Martin Chladni u. Johann Daniel Bodenburg (resp.): Disquisitio theologica de ΝΑΟΦΘΟΡΑ seu violatione templi mystici. Wittenberg 1712, § 12, 17f.; dazu für Chladni Christian Anton Römeling: Nachricht von seiner von Gott geschehenen völligen Herausführung aus Babel, das ist Vorstellung des ganzen Verlaufs, wie er seines Dienstes entsetzet und wie es damit zugegangen. Frankfurt 1710, c. 6, 373–410. Zur Gestalt Römelings z. B. Gottfried Mai: Die niederdeutsche Reformbewegung. Ursprünge und Verlauf des Pietismus in Bremen bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts. Bremen 1979, 229–239. 30   Martin Chladni u. Wenzelaus Sigismund Gerhard (resp.):Vindicias baptismi Evangelico-Lutherani adversus novatorum conatus, disquisitioni subjicit. Wittenberg 1712, §§ 8–12, 6–10. 31   Zur Eschatologie Petersens, die für Chladni wie für viele seiner Zeitgenossen ein rotes Tuch war, unter vielen z. B. Wilhelm Schmidt-Biggemann: Philosophia perennis. Historische Umrisse abendländischer Spiritualität in Antike, Mittelalter und Früher Neuzeit. Frankfurt 1998, 573– 585; Marcus Meier: Der bekräftigte Origenes. Origenesrezeption im radikalen Pietismus. In: PuN 31, 2005, 137–142; oder Dieter Breuer: ‚Der bekräfftigte Origines‘ – Das Ehepaar Petersen und die Leugnung der Höllenstrafen. In: Heterodoxie in der Frühen Neuzeit. Hg. v. Hartmut Laufhütte u. Michael Titzmann. Tübingen 2006, 413–424. 32   Martin Chladni u. Johann Christian Frank (resp.): Trifolium infaustum Chiliasmi, Deismi et Apocatastatismi Atheismo non inimicum contemplandum sistit. Wittenberg 1715, passim. 33   Martin Chladni u. Christoph Ludwig Stieglitz (resp.): Disputatio theologica qua Philadelphismum recens ecclesiae nostrae oblatum. Wittenberg 1712, dort Sectio I, 3–20; ebenso zum Chiliasmus z. B. Martin Chladni u. Moritz Wilhelm Wagner (resp.): De computo Dei in salvandis electis, ex Rom. IX, 27–28. Wittenberg 1712, § 23, 25f. 34   Programmatisch auch als Rede zur Semestereröffnung Martin Chladni: De differentia apostolorum, prophetarum et doctorum. Wittenberg 1719, passim; Martin Chladni u. Wilhelm Steinbach (resp.): Dissertatio theologica anti-pontifica de haeresibus antiquis falso nobis imputatis. Wittenberg 1711, passim; Martin Chladni u. Heinrich August Andreae (resp.): Disputatio theologica inauguralis de summo gradu tentationum spiritualium ad oraculum Paulinum 2. Cor. XII. 7. 8. 9. Wittenberg 1723, § 18, 31–34.

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Allgemein war jeder Form von ‚Theologia experimentalis‘ und Separation mit Mißtrauen zu begegnen.35 Um den aktuellen Verirrungen in der Lehre beizukommen, musste der Theologe, wie Chladni ebenfalls glaubt, sich auch der Vergangenheit zuwenden. Ähnlich wie sein Zeitgenosse Colberg, auf dessen Hermetisches Christentum und seine Vorgängerwerke sich Chladni wiederholt beruft, findet der Wittenberger die ersten Verantwortlichen für die lange Erfolgsgeschichte des Schwärmertums schon in der Spätantike. ‚Fanatische‘ Ideen, so zeigt er in einer weiteren Disputation, hatte schon der christliche Platoniker Synesios von Kyrene (370–412) entwickelt. Es war daher kein Zufall, so Chladni, dass sich auch Barclay, wenn er die Existenz eines ‚Seelenfunkens‘ belegen wollte,36 auf eine Gestalt wie Synesius als Autorität beziehen konnte.37 Musste man sich nicht, wie Chladni betont, wenn man einen zeitgenössischen selbsternannten Propheten wie Johann Warner von Bockendorf (†1665) ins Auge fasste,38 unwillkürlich an die apokalyptischen Bewegungen des Mittelalters erinnert fühlen, an die Spiritualen und Joachim von Fiore (1130/35–1202)? War ein erheblicher Teil der zeitgenössischen Jenseitssehnsucht daher nicht auf pagane oder katholische Transferleistungen bzw. auf katholische ‚Schwärmer‘ zurückzuführen?39 Neben der scheinbaren Unfähigkeit, katholische Relikte zu tilgen oder zumindest ihren Einfluss einzudämmen, konstatiert Chladni noch einen weiteren fundamentalen Fehler. Oberste Autorität des Gläubigen war die Heilige Schrift; sie allein durfte für ihn Quelle der Inspiration und Offenbarung sein.40 Immer wieder jedoch hatten sich die Christen nicht mit dieser Quelle zufriedengeben wollen, nach weiteren Instrumenten der ‚Begeisterung‘ gesucht und Autoritäten außerhalb der Bibel den Status der Inspiration zugestanden. Exemplarisch

35   Martin Chladni u. Gottfried Seyfried (resp.): Disputatio theologica de fidei probatione divina, qua occasione oraculi I. Petr. I, 7. orthodoxam sententiam sistit. Wittenberg 1720, § 8, 31f. 36  Barclays Apology, ein Klassiker in inspirierten Kreisen, war bis zum Beginn des 18. Jahrhunderts nicht nur wiederholt in die deutsche Sprache übersetzt worden, sondern kursierte auch in einer lateinischen, französischen, spanischen und schwedischen Fassung. Eine umfangreiche Widerlegungsschrift der Apology lag vor in Gestalt von Anton Seyfried: Anti-Barclaius, id est Examen Apologiae, quam non ita pridem Robertus Barclaius, Scoto-Britannus, pro Theologia vere Christiana edidit, institutum in gratiam Evangelicorum. Hamburg 1683. Chladni hatte das Werk Anton Reisers: De origine, progressu et incremento Antitheismi seu Atheismi epistolaris Dissertatio, ad clariss. virum Theophilum Spizelium, Augustanum. Augsburg 1669 zur Hand gehabt. 37   Martin Chladni u. Christoph Richter (resp.): Theologumena Synesii Cyrenensis eruditorum disquisitioni subiicit. Wittenberg 1713, dort zu Barclay § 17, 33–35; dazu auch Barclay, An Apology [s. Anm. 28], Proposition V, 140–144. 38   Zu Johann Warner von Bockendorf, der den Dreißigjährigen Krieg prophetisch begleitet hatte, Jürgen Beyer: Lay Prophets in Lutheran Europe (c. 1550–1700). Leiden 2017, 93–97. 39   Martin Chladni u. Johann J. Rühr (resp.): Dissertatio theologica de metu diei extremae apud heterodoxos aut intempestivo aut nullo, ad oraculum Paulinum 2. Thess. II, 1. 2. 3. Wittenberg 1711, §§ 27–28, 35.  40   Martin Chladni u. Christian Teuerlein (resp.): Dissertatio theologica de damnis et emolumentis ex controversia circa theologiam impiorum. Wittenberg 1713, Positio IV, § 5, 24f.

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verhandelt Chladni diese Hybris anhand der protestantischen ‚Konvulsionäre‘, die Maximilien Misson (1650–1722) in seinem Théâtre sacré des Cévennes anhand von kamisardischen Selbstzeugnissen so markant geschildert hatte: Ekstasen, willkürliche Eingebungen, Visionen, aber auch rotierende Körper und bizarre Bußpraktiken hatten diese fanatici, denen manche Zeitgenossen alle Züge von Epileptikern zuschrieben, umgetrieben.41 Der Wittenberger stützt sich in seiner Auseinandersetzung mit ihnen auf aktuelle Kontroversschriften, wie sie die Berliner Johannes Lysius (1675–1716) und Johannes Porstius (1537–1597) vorgelegt hatten,42 setzt sich aber auch kritisch mit ihnen auseinander.43 Zugleich galt es, wie Chladni noch hinzufügt, auch aktuelle Ekstatiker wie Thomas Bromley (1629–1691) in den Blick zu nehmen, deren Praktiken sich, wie er glaubte, nur wenig von denen der Kamisarden in den Cevennen unterschieden. Laut Chladni hatten sich alle angemaßt, die Offenbarung zu erweitern, und zugleich die lutherischen Theologen der eigenen Zeit als theologi carnales abqualifiziert.44 Seine 41   Martin Chladni u. Daniel Rosenfeld (resp.): ΠΝΕΥΜΑ ΑΠΝΕΥΣΤΟΝ sive inspiratos sine spiritu, ex Epist. Iudae, v. 19. dissertatione theologica. Wittenberg 1715, dort bes. Aphorisma II, 25–28; dazu François Maximilien Misson: Le théatre sacré des Cevennes, ou récit de diverses merveilles nouvellement opérées. London 1707; und deutsch ders.: Heiliger Schau-Platz Der Landschafft Cevennes, oder Historische Erzehlung vieler Wunder, welche in Franckreich unter den Cevennern in der Provinz Languedoc vor kurtzer Zeit geschehen, und durch Gerichtlich-beschworne Aussagen und andere Zeugnisse erwiesen sind. Frankfurt 1712. 42   Johannes Lysius: Wahrhafftige Erzehlung Dessen, was daselbst mit einigen so genandten Inspirirten vorgegangen, auf Gutbefinden der obern andern zur Warnung und Vorsichtigkeit aufgesetzet. Berlin 1715; und Johannes Porstius: Historische Nachricht und aufrichtige Prüfung der so genannten Inspirierten, allen und jeden Seelen zur Warnung mitgetheilet. Berlin 1715. 43   Chladni/Rosenfeld, ΠΝΕΥΜΑ ΑΠΝΕΥΣΤΟΝ [s. Anm. 41], Aphorisma IV, 34–38. Chladni hatte Lysius’ eher versöhnlichen Ansatz, der, Wahrhafftige Erzehlung, 75f., eine unmittelbare göttliche Eingebung nicht ausschließen wollte, harsch kritisiert. Der Berliner Theologe sah sich zu diversen Entgegnungstraktaten genötigt, auf die Chladnis Schüler Christoph Stieglitz wieder reagierte, dazu Johannes Lysius: Bescheidene Schutz-Schrifft wider die falschen Beschuldigungen und unbescheidene Zunöthigungen, damit Martinus Chladenius, seine neuliche Disputation De Inspiratis sine Spiritu, angefüllet. Berlin 1715; Christoph Ludwig Stieglitz: Abgenöthigte Antwort auf Herrn Johann. Lysii Pastoris zu St. Georgen an Berlin Wiederholte Schrifft und die darinnen vorgetragene neue Lehre von den Unmittelbahren Offenbahrungen. Wittenberg 1716; ders.: Nothwendige Erinnerung an Herrn Joh. Lysium wegen seiner so genandten Bescheidenen Schutzschrifft, sammt beygefügten Lehrsätzen Mart. Chladenii. Frankfurt 1716; ders.: Abgenöhtigte Zweyte Schutz-Schrifft wider Herrn Martini Chladenii, der Heil. Schrifft D. und P. P. zu Wittenberg, Falsche Beschuldigungen und unbescheidene Zunöthigungen, zu hoffentlich völliger Endigung es durch ihn erregten Streits von Unmittelbahren Offenbahrungen, der so genandten Nothwendigen Erinnerung, welche er jüngsthin ausfertigen lassen. Frankfurt 1716; ders.: Kurtze Vorstellung, warum er sich mit dem Autore der so genannten nothwendigen Antwort über dem von dem Wittenbergischen Professore, Herrn D. Martino Chladenio, erregten Streit von Unmittelbahren Offenbahrungen, ferner einzulassen Bedencken trage. Frankfurt 1716. 44   Chladni/Rosenfeld, ΠΝΕΥΜΑ ΑΠΝΕΥΣΤΟΝ [s. Anm. 41], Aphorisma IV, 35f.; dazu schon in deutscher Sprache Thomas Bromley: Gründliche Anmerckungen von denen Offenbahrungen, welche man ausserordentliche zu nennen pfleget, samt vorläuffiger Erzehlung der mancherley Arten derselben, durch welche Gott sich den Menschen von Anfang der Welt her hat pflegen zu offenbahren. O.O. 1714.

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ideologische Negativfolie besaß die Praxis der willkürlichen Inspiration, die sich über die Bibel meinte hinwegsetzen zu können, im Katholizismus. Worauf beruhte die völlig kontingente Macht des Papstes, Menschen postum zu Heiligen zu erheben, wenn nicht auf einem irregeleiteten Glauben an Inspiration?45 War es nicht diese absurde Selbstüberschätzung, die Annahme, der Heilige Geist würde auch jenseits der Bibel wirken, die auch offenkundig moralisch zweifelhafte Charaktere wie Thomas Beckett (1118–1170) in den Stand der Heiligkeit hatte heben können?46 Auch im Protestantismus hatte sich über das Leitmotiv der Inspiration und die fehlende Abgrenzung zu den Papisten ein irregeleitetes Verständnis von Heiligkeit etabliert, wie Chladni glaubt, das in seinem Zuschnitt der alten, so fatalen katholischen Typologie der Heiligkeit verpflichtet war. Repräsentativ für diesen fundamentalen Irrtum erscheint Chladni in einer weiteren Disputation eine Gestalt, die im pietistischen Milieu Deutschlands längst zum Klassiker geworden war, Pierre Poiret (1646–1719). Der Franzose hatte nicht nur unter Rückgriff auf Laurentius Surius (1522–1578) spätmittelalterliche Aszetiker und Mystiker wie Johannes Tauler, die Theologia deutsch oder Thomas von Kempen (1380– 1471) wieder fruchtbar machen wollen,47 sondern sich auch für gegenwärtige Begnadete wie Hans Engelbrecht oder Antoinette Bourignon eingesetzt, die auch Arnold und die Familie Petersen in Bewegung versetzt hatte.48 Chladni schien Poirets Schriften,49 vor allem dessen umfangreiche Dogmatik, die Oeco-

45   Martin Chladni u. Anton G. Moehring (resp.): Dissertatio theologica de sanctis factitiis testibus enthusiasmi in papismo sufficientissimis. Wittenberg 1712, dort bes. § 15–17, 21–24. 46   Martin Chladni u. Anton G. Moehring (resp.): Dissertatio theologica [s. Anm. 45], dort bes. § 19, 25f., hierzu für Chladni auch Friedrich Spanheim: Historia saeculi X. In: Opera omnia (3 Bde.). Leiden 1701–03, 1441f. 47   Unter vielen Beispielen als kursierende Werke Pierre Poiret: La Theologie germanique, avec un traitté de l’amour de Dieu. Amsterdam 1676; und ders.: Kempis commun, ou les quatre livres de l’imitation de Jesus Christ. Amsterdam 1683 (auch deutsch 1714); ders.: La theologie de l’amour, ou la vie et les oeuvres de Sainte Catharine de Genes. Köln 1691. 48   Unter diversen Traktaten, die in Europa kursierten, z. B. in deutscher Sprache Pierre Poiret: Der Jungfrau Antoinette Bourignon innerliches und äußerliches Leben, aus ihren eigenen Zeugnissen zusammengezogen. Amsterdam 1684; aber auch aus Katharina von Genua ders.: Die Reinigung der Seelen vor und nach dem Tode, unpartheylich bezeuget und bewähret in zweyen kurzen Tractätlein. O.O. 1711. 49   Eine Synopse des theologischen Hauptwerkes Poirets, der Oeconomie divine, liefert z. B. Gustav A. Krieg: Der mystische Kreis. Wesen und Werden der Theologie Pierre Poirets. Göttingen 1979, 103–143; zu seiner Auseinandersetzung mit der Mystik des Mittelalters außerdem Marjolaine Chevallier: Pierre Poiret et la mystique. In: Zur Rezeption mystischer Traditionen im Protestantismus des 16. bis 19. Jahrhunderts. Hg. v. Dietrich Meyer. Köln 2002, 177–201; Ralph Häfner: Pierre Poiret et la ‚science de saints‘: La problème de l’evidence de la contemplation mystique face à la ‚Querelle de pur amour‘. In: XVIIe siècle, 64, 2012, 131–140.

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nomia divina,50 und seine Geschichte der Mystik, die Bibliotheca mysticorum selecta,51 mit erheblicher Empörung gelesen zu haben. In den Jahren 1718 und 1719 legte er eine umfangreiche Disputation mit dem Titel De sanctis non sanctis Poiretanis vor, die mit Poiret abrechnen sollte und als deutliche Warnung an seine Zeitgenossen gedacht war.52 Es war nicht die erste lutherische Antwort auf die Zumutungen gewesen, die der Franzose geboten hatte, und es sollte, wie die Einlassungen Joachim Langes (1670–1744) und anderer zeigen, auch nicht die letzte bleiben.53 Chladni hatte vor allem die kurz vorher erschienenen Widerlegungen Poirets und Bourignons vorliegen, die Johann Wolfgang Jäger (1647– 1720) kurz vorher in Umlauf gebracht hatte.54 Chladnis eigener Begriff von Heiligkeit war eng umrissen; als ‚heilig‘ ließen sich jene redempti und vocati apostrophieren, die im Glauben gerechtfertigt, als Mitglieder der wahren Kirche ohne Enthusiasmus und sekundäre Inspiration durch das Studium der Heiligen Schrift den Weg zu Gott gefunden hatten. Bei Poirets Heiligen, allen voran Antoinette Bourignon, dagegen handelte es sich um ‚monströse Separatisten‘.55 Der Reihe nach sichtet Chladni Thesen Poirets und seiner Gewährsleute, darunter der englische Böhme-Anhänger John Pordage (1607–1681), dazu der heute kaum noch bekannte Niederländer Jacob Brill, dessen Werke gerade ins Deutsche übersetzt worden waren, und natürlich Poirets Prophetin Bourignon. Pordage und Brill hatten den Fehler gemacht, so Chladni, auch Platon, Hermes Trismegistos und anderen paganen Autoritäten eine tinctura coelestis zuzugestehen.56 Ergebnis war ein dogmatischer indifferentismus gewesen, der weder sie

  Pierre Poiret: L’Oeconomie Divine, ou Système universel et démontré des Oeuvres et des desseins de Dieu envers les hommes (6 Bde.). Amsterdam 1687. Auch eine deutsche, englische und lateinische Übersetzung waren erschienen. Chladni liegt die lateinische Ausgabe vor, nämlich ders.: Oeconomiae divinae libri sex, in quibus Dei erga homines proposita, agendi rationes, atque opera demonstrantur (2 Bde.). Frankfurt 1705. 51   Pierre Poiret: Bibliotheca mysticorum selecta, tribus constans partibus. Amsterdam 1708; dort die bio-bibliographische ‚Epistola de principiis et characteribus‘, dort z. B. zu Tauler 108–114, zu Katharina von Genua 135–141, zu Johannes Engelbrecht 153–157. 52   Martin Chladni, Christian G. Eccart (resp.) u. Christoph Stoll (resp.): Dissertatio theologica de sanctis poiretianis non sanctis. Wittenberg 1718–19. 53   Einen ganzen Katalog von Einzeldisputationen zu Poiret liefert nach Chladni Joachim Lange: Dissertationum Antipoiretianarum dodecas. Halle 1719–22, der insgesamt 24 gegen den Franzosen gerichtete Arbeiten enthält. Aktuell zur Auseinandersetzung Langes mit Poiret Simon Grote: Domesticating Religious ‚Fanaticism‘ in Eighteenth Century Germany. A Tale of Two Books. In: Church History and Religious Culture, 98, 2018, 111–138, passim. 54   Johann Wolfgang Jäger: Examen theologiae novae et maxime Celeberrimi Dn. Poireti, eiusque magistrae Mad. de Bourignon per praecipuos fidei Christianae religionis articulos. Frankfurt 1708; und dazu z. B. Johann Wolfgang Jäger u. Christoph Caspar Osiander (resp.): Nova purgatio animae post mortem, excocta in cerebro Mad. Bourignon et Petri Poireti extracta ex fumo infernali. Tübingen 1716. 55   Chladni/Eccart/Stoll, De sanctis poiretianis [s. Anm. 52], Pars I, §§ 1–5, 1–9. 56   Chladni/Eccart/Stoll, De sanctis poiretianis [s. Anm. 52], Pars I, §§ 6–12, 9–18; dazu für Chladni Poiret, Oeconomia divina [s. Anm. 50], Bd. 2, Liber III, 716–721; John Pordage: Göttliche und Wahre Metaphysica, oder Wunderbahre, durch eigene Erfahrung erlangte Wissenschafft Der 50

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noch ihre Anhänger als ‚Heilige‘ qualifizieren konnte.57 Ihre Ignoranz gegenüber dem Evangelium teilten sie mit anderen Schwarmgeistern wie Caspar Schwenckfeld (1490–1561). War es Zufall, so Chladni, dass Poiret selbst eine katholische Mystikerin wie Theresa von Avila (1515–1582), die in ihren Schriften leidenschaftlich gegen den Protestantismus polemisiert hatte, als Gottesgelehrte preisen konnte?58 Auch die historischen Verdienste des Erlösers, die nur durch den Glauben an ihn rechtfertigen konnten, und die Reichweite der Passion hatten Poiret oder Pordage weitgehend in Abrede gestellt und stattdessen eine spirituelle Lesart der Erlösung nahegelegt.59 Der Gipfel war sicher, so Chladni, die Wiedereinführung des Fegefeuers, für die sich Bourignon ausgesprochen hatte. Lagen hier nicht Belege genug vor, um zu dokumentieren, zu welch absurden Konsequenzen eine Selbstermächtigung des Gläubigen im Enthusiasmus führen musste?60

3. Der Enthusiast und die ‚Einkehr‘:Versuch einer Definition Chladni brachte seine Fundamentalkritik an jeder Form von ‚Schwärmerei‘ in einer eigenen programmatischen Schrift auf den Punkt, die im Jahre 1722 erschien. Sie liest sich wie ein Anforderungskatalog, vor dem auch die mittelalunsichtbaren und ewigen Dinge, nemlich von denen Unsichtbaren Welten, als Der Göttlichen, der Ewigen Natur, der Englischen, der Hölle und Paradißischen, ihren Einwohnern, deren Regierung, Gestalt, Sprache, Verrichtung und andern Wundern, dergleichen noch nie ans Licht gekommen, so lang die Welt gestanden (3 Bde. in Teilbänden). Frankfurt 1715, Bd. 3, c. 14, 760–765; und der eher obskure Jacob Brill: Ein freyer Mensch im Geist, der wahrhafftig frey gemacht ist von dem Vater, durch den Sohn, in dem Geist. O. O. 1715, 18f. Zur Gestalt Brills und der Verbreitung seiner Schriften Winfried Schröder: „Spinozam tota armenta in Belgio sequi ducem“. The Reception of the Early Dutch Spinozists in Germany. In: Disguised and overt Spinozism around 1700. Hg. v. Wiep van Bunge u. Wim Klever. Leiden 1996, 157–170, hier 159f. 57  Der indifferentismus war einige Jahre vorher in Wittenberg behandelt worden, zunächst in Disputationen, dazu z. B. Gottlieb Wernsdorf u. Reymund Johann Harpff (resp.): De indifferentismo religionum disputabit.Wittenberg 1707; dann in einer ganzen Monographie als Gottlieb Wernsdorf: Brevis et nervosa de indifferentismo religionum commentatio. Wittenberg 1716; dort auch zu den von Chladni genannten Figuren Dissertatio I, 68–83. Chladni hatte die Arbeit vorgelegen. 58   Chladni/Eccart/Stoll, De sanctis poiretianis [s. Anm. 52], Pars I, §§ 18–19, 27–29; dazu Poiret, Oeconomia divina [s. Anm. 50], Bd. 2, Liber IV, 188–190; und zu Theresa von Avila ders.: Bibliotheca mysticorum selecta [s. Anm. 51], dort die ‚Epistola de principiis et characteribus‘, 129–135. Viten der Heiligen Theresa waren reichlich verfügbar, als Beispiel Francisco de Ribera: Vita B. Matris Teresa de Jesu, Carmelitarum excalceatorum et excalceatarum fundatricis, in quinque libros distincta. Köln 1620, dort zu Theresas Kampf gegen die lutherische Häresie Liber II, c. 1, 107. 59   Chladni/Eccart/Stoll, De sanctis poiretianis [s. Anm. 52], Pars II, §§ 17–18, 21–25; dazu Poiret, Oeconomia divina [s. Anm. 50], Bd. 1, Liber III, 791–793; Pordage, Göttliche und Wahre Metaphysica [s. Anm. 56], Bd. 3, c. 13, 733–736. 60   Chladni/Eccart/Stoll, De sanctis poiretianis [s. Anm. 52], Pars II, §§ 28–35, 39–46, dazu Poiret, Oeconomia divina [s. Anm. 50], Bd. 2, Liber V, 460.

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terlichen Seherinnen zu bestehen hatten, bzw. an dem sie scheitern mussten.61 Es lohnt sich daher, diese Arbeit genauer ins Auge zu fassen. Ausgangspunkt der Definition von ‚Enthusiasmus‘ sind für den Wittenberger Theologen die Festschreibungen, die der englische Platoniker Henry More (1614–1687) in seiner Dissertatio de Enthusiasmo vorgelegt hatte und die der Lutheraner kritisch überprüft.62 More hatte, wie Chladni referiert, zwei Formen der Devianz unterschieden, in die der Gottesfürchtige abzugleiten drohte, den Enthusiasmus und den Atheismus.63 Beide waren enger miteinander verwandt, als es auf den ersten Blick schien. Mit den Variationen des Atheismus hatten sich unter den Lutheranern und Reformierten, wie Chladni weiß, schon viele seiner Vorgänger auseinandergesetzt,64 darunter Jenkin Thomas Philipps (†1755),Theophilus Spizelius (1639–1691) und Christian Weismann (1677–1747) in ihren mehr oder weniger einschlägigen Schriften.65 Innerhalb des ‚Atheismus‘ ließ sich zwischen direktem und indirektem Atheismus unterscheiden, aber auch zwischen theoretischem und praktischem Atheismus. Auch wer nicht willentlich und mit allen Konsequenzen die Existenz Gottes verneinte, konnte dessen Wirkmacht in Frage stellen, die Engel, die Vorsehung und die Unsterblichkeit der Seelen bezweifeln und damit mittelbar zu einem Atheisten werden. Ergebnis war, wie Chladni unterstreicht, ein habitus errandi, der sich zu einem vollständigen Atheismus auswachsen konnte.66 Petulantia und superbia und die Lektüre abseitiger 61   Martin Chladni u. Johannes Sartorius (resp.): Sententiam Henrici Mori de enthusiasta prae Atheo incurabili dissertatione theologica excutit. Wittenberg 1722. 62   Zu Mores weitreichender Behandlung des Enthusiasmus liegt inzwischen reichlich Forschungsliteratur vor, als Beispiele Robert Crocker: Mysticism and Enthusiasm in Henry More. In: Henry More (1614–1687), Tercentenary Studies. Hg. v. Sarah Hutton u. R. Crocker. Dordrecht 1989, 137–156; dazu z. B. Jasper Reid: The Metaphysics of Henry More. Dordrecht 2012, 13–16; David Leech:The Hammer of the Cartesians. Henry More’s Philosophy of Spirit and the Origins of Modern Atheism. Leuven 2013, 39–58; und für das ganze Umfeld Mores Daniel Clifford Fouke: The enthusiastical concerns of Dr. Henry More. Religious Meaning and the Psychology of Delusion. Leiden 1997, 130–180. 63   Chladni/Sartorius, Sententiam Henrici Mori [s. Anm. 61], Praefatio, 1f.; dazu für Chladni Henry More: Opera theologica, anglice quidem primitus scripta, nunc vero per autorem Latine reddita. London 1675, dort Magni Mysterii Pietatis Explanatio, c. 3, 211. 64   Grundlegend zur Atheismus-Debatte in der Frühen Neuzeit ist jetzt Björn Spiekermann: Der Gottlose. Geschichte eines Feindbildes in der Frühen Neuzeit. Frankfurt 2020, dort zu den protestantischen Aufarbeitungen im 17. Jahrhundert 195–242. 65   Unter den Autoritäten zur Atheismus-Debatte, die vor allem gegen den Spinozismus und Hobbes entstanden waren, für Chladni z. B. Jenkin Thomas Philipps: Historia Atheismi breviter delineata. Altdorf 1713, dort vor allem Propositio IX–XII, 85–174; und älteren Datums Theophilus Spizelius: Scrutinium Atheismi Historico-Aetiologicum. Augsburg 1663, passim; ders.: De Atheismi radice, ad Virum nobilliss. et ampliss. Dn. D. Henricum Meibomium Epistola. Augsburg 1666; Anton Reiser: De origine, progressu et incremento Antitheismi seu Atheismi epistolaris Dissertatio, ad clariss. virum Theophilum Spizelium, Augustanum. Augsburg 1669; dazu als Synopse Christian Eberhard Weismann: Introductio in memorabilia ecclesiastica historiae Sacrae novi testamenti, maxime vero saeculorum primorum et novissimorum (2 Bde.). Stuttgart 1718–19, § 39, 1327–1340. 66   Chladni/Sartorius, Sententiam Henrici Mori [s. Anm. 61], §§ 1–3, 2–6.

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Schriften, wie sie seit Männern wie Cesare Vanini (1585–1619) in Umlauf waren, konnten die verderbliche Flamme der Gottesleugnung weiter nähren, indifferentismus, machiavellismus, scepticismus und eine mixtura religionum waren ihre Begleiterscheinungen.67 Der rüden und zum Teil gegen Deisten und Mechanisten gerichteten Rhetorik seiner Kollegen hat Chladni nicht viele neue Einzelheiten hinzuzufügen. Zu kritisieren waren, wie der Wittenberger betont, Weismann und Spizelius allenfalls, weil sie noch zu großzügig in der Auseinandersetzung mit den Gottesfeinden vorgegangen waren. Schon am Schaden, den sie in der Kirche anrichteten, ließen sich die Atheisten leicht erkennen. Auch Gottfried Arnold in seiner Ketzergeschichte war daher, wie Chladni noch bemerkt, zu nachsichtig mit ihnen verfahren.68 Im Regelfall fand der Lebensweg eines Atheisten in der Hölle sein Ende.69 Die wenigen Ausnahmen, die noch vor dem Tod den Weg zu Gott zurückfanden, fielen nicht weiter ins Gewicht, auch wenn, so Chladni, ein Wüstling wie Lord Wilmot, 2. Earl of Rochester (1647–1680), scheinbar in seiner letzten Stunde noch Buße geleistet hatte.70 Auf der anderen Seite der Gottesfeinde verortete sich gegenüber dem Atheisten der Enthusiast, der Schwarmgeist und fanaticus. Um ihn, den Schwärmer, sollte es Chladni eigentlich gehen, denn von ihm ging noch weit größere Gefahr aus als vom Atheisten. Was zeichnete den Enthusiasten, den sein Gewährsmann Henry More ins Auge gefasst hatte, aus und worin lag sein Gefahrenpotential? Was hatte er mit dem Atheisten gemeinsam? Der Atheist hatte in sich, so Chladni, ebenso das Licht der Vernunft ausgelöscht wie das Licht der Offenbarung. Der Enthusiast beging den gleichen Fehler, doch ersetzte er die Wahrheitszugriffe der Vernunft und der Bibel durch ein neues lumen, ein Licht in seiner Phantasie, dem er göttlichen Charakter zuschrieb. Statt dem Licht folgte er dem Dunkel.71 Der Wittenberger versucht den Enthusiasmus zu definieren: Er beruhte auf der falschen Annahme, eine göttliche Inspiration erhalten zu haben, und den falschen dogmatischen und moralischen Schlussfolgerungen, die aus dieser Eingebung gezogen wurden. Jeder Enthusiasmus war in seinem

67   Chladni/Sartorius, Sententiam Henrici Mori [s. Anm. 61], § 4, 6f. Chladni hatte hier zuvorderst Giulio Cesare Vanini: Amphitheatrum aeternae providentiae divino-magicum, Christianophysicum, nec non astrologo-catholicum, adversus veteres Philosophos, Atheos, Epicureos, Peripateticos et Stoicos. Lyon 1615, vor Augen, doch lag ihm das Werk sicher nicht ihm Original vor. 68   Chladni/Sartorius, Sententiam Henrici Mori [s. Anm. 61], § 5, 7f. 69   Chladni/Sartorius, Sententiam Henrici Mori [s. Anm. 61], §§ 6–10. 70   Chladni/Sartorius, Sententiam Henrici Mori [s. Anm. 61], § 8, 10f. Wilmots Leben und angebliche Bekehrung waren Gegenstand erbaulicher Abhandlungen, die auch in deutscher Sprache kursierten, hier für Chladni Gilbert Burnet: Bericht vom Leben und Ende deß durch göttliche Gnade auf dem Tod-Bett bekehrten Welt-bekannten Atheistens Grafen Johns von Rochester. Nürnberg 1695; und Robert Parsons: Der bekehrte Atheist, dessen merckwürdige Begebenheit vormahls durch den fürtreflichen englischen Theologum Robert Parson beschrieben, numehro zur Erbauung in Teutsch übersetzet. Hamburg 1707. 71   Chladni/Sartorius, Sententiam Henrici Mori [s. Anm. 61], § 9, 10f.

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Wesen falsch, schon als Terminus war er daher, wie Chladni noch hinzufügt, von der Inspiration der Apostel und dem Wirken des Heiligen Geistes zu unterscheiden und als impostura und corruptio animae zu definieren, wie schon Chladnis Gewährsmann Johann Franz Budde[us] (1667–1729) – wenn auch weitaus reflektierter – festgehalten hatte.72 Woher aber rührte er? Henry More hatte, wie Chladni referiert, Ursachen angegeben, die zuvorderst physischer Natur waren. Eine flatuositas, die vor allem bei melancholischem Temperament anzutreffen war, und ein Überschuß an hypochondrischen Säften zeigten sich für die falsche ‚Begeisterung‘ verantwortlich. Die veränderte Konsistenz des Blutes und die Synkrasie der Körpersäfte sorgten für eine besondere Sensibilität, die sich oft in rhetorischen Fähigkeiten und einer ungewöhnlichen Überzeugungskraft manifestierte. Sie hatten aber vor allem auch Ekstasen, Träume und Visionen zur Folge, die, wie More ergänzt hatte, durch Rauschmittel in ihrer Intensität noch gesteigert werden konnten. Bisweilen zeichnete sich der Enthusiast auch durch gesteigerte libido aus, die sein Verhalten steuerte und selbst zum Auslöser weiterer Phantasien werden konnte. Eine gewisse menschliche Depravation, eine vitiositas humanae virtutis, musste sich daher, wie More betont hatte, ebenfalls zu den Ursachen des Enthusiasmus zählen lassen.73 Für Chladni bestand mit Blick auf die Ausführungen des Briten noch weiterer Erklärungsbedarf. Warum hatte More den Enthusiasmus nicht deutlicher abgewertet? Für More war die Schwärmerei nicht nur von Schaden gewesen. Manche Varianten des Enthusiasmus vermochten die Liebe zum Schöpfer zu steigern, auch Platon oder Plotin waren Enthusiasten gewesen, so hatte er behauptet, die ihre Gabe der Begeisterung mit sakraler Ekstase belohnt hatte. Dem Briten waren hier jedoch, wie Chladni moniert, die Maßstäbe des Guten und Bösen abhandengekommen. Weder konnte den Enthusiasmus der Fanatiker eine Form der sanctificatio begleiten, noch war es möglich, dass im Heidentum seinen Ort beanspruchte, was nur den gläubigen Christen charakterisierte. Eine positive Variante der ‚Begeisterung‘ war ausgeschlossen.74 Dass More keine klare Linie fuhr, offenbarte sich für Chladni aus dessen Umgang mit den Schriften Jacob Böhmes, der, wie schon gesehen, für den Wittenberger eindeutig zu den ‚Verworfenen‘ zu zählen war.75 Anfänglich noch skeptisch gegenüber dem philosophus teutonicus, war Mores Blick auf Böhme mit den Jahren, wie Chladni 72   Chladni/Sartorius, Sententiam Henrici Mori [s. Anm. 61], § 10, 11f., dazu für Chladni Johannes Franz Buddeus: Institutiones theologiae moralis variis observationibus illustratae. Leipzig 1715, c. 1, Sectio V, §§ 16–27, 176–187. 73   Chladni/Sartorius, Sententiam Henrici Mori [s. Anm. 61], § 11, 12–14; dazu für Chladni Henry More: Opera philosophica, tum quae Latine, tum quae Anglice primitus scripta sunt, nunc vero partim a seipso, partim ab amico in Latinum versa (2 Bde.). London 1679, Bd. 2, dort Enthusiasmus triumphatus sive de natura, causis, generibus et curatione Enthusiasmi brevis dissertatio, Sectio 14–21, 194–197, Sectio 67, 221. 74   Chladni/Sartorius, Sententiam Henrici Mori [s. Anm. 61], § 12, 14. 75   Mores in der Tat komplexes Verhältnis zu Jacob Böhme wird z. B. summiert von Sarah Hutton: Henry More and Jacob Böhme. In: Henry More [s. Anm. 62], 157–168; und jetzt von Dou-

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unterstellt, immer unkritischer geworden.76 Ähnlich schillernd mutete in den Augen Chladnis die Engellehre Mores an, der den Gottesboten eine ätherische Materialität zugestanden hatte.77 Auch die Ursachen für den Enthusiasmus mussten auf breiterer Ebene gesucht werden und durften sich nicht auf physische Erklärungen beschränken. Der Mensch war vor dem Sündenfall mit einer vollkommenen complexio geschaffen worden, die ihm keine seelische Konfusion eintragen konnte. Erst seine moralische Korruption konnte auch ein gestörtes Gefüge seiner Säfte nach sich ziehen. Die Verführungsgewalt des Bösen und die menschliche Einwilligung, die am Anfang des Desasters gestanden hatten, hatten dann eine Ursachenverkehrung in Gang gesetzt, die auch den Körper anfällig gemacht hatte. Zur Abwendung von Gott und zur körperlichen Schwäche waren, wie Chladni fortfährt, dann falsche Lehren gekommen, die dem Menschen mehr Wissen versprachen, als ihm zustand und das schon genannte falsche lumen, das allein seiner Phantasie entsprungen war. Derart im Irrtum befangen, begann der Mensch, für sich eine sapientia extraordinaria in Anspruch zu nehmen, und Ekstasen, Visionen und prophetische Träume stellten sich ein, die diese Weisheit bestätigen sollten.Wahre Vernunft und Offenbarung traten in den Hintergrund, statt den Lichtern von Vernunft und Heiliger Schrift sollte der Mensch fortan einem lumen fictum folgen und den praestigiae des Teufels.78 Neben Henry More hatte, wie Chladni weiß, noch ein zweiter englischer Philosoph der eigenen Zeit versucht, das Verhältnis von Offenbarung, Enthusiasmus undVernunft zu bestimmen, John Locke (1632–1704).79 Während sich die Vernunft als natürliche Offenbarung begreifen ließ, lieferte die Heilige Schrift eine ratio naturalis, so Locke, die in Gott ihren Ursprung hatte und den Status der Vernunft nur intensivierte.Vernunft und Offenbarung standen nicht in Widerspruch zueinander, erst der Enthusiasmus, so hatte Locke behauptet, sorgte

glas Hedley: Censuring the Teutonic Philosopher? Henry More’s ambivalent appraisal of Jacob Böhme. In: Aries 18, 2018, 54–74. 76   Chladni/Sartorius, Sententiam Henrici Mori [s. Anm. 61], § 12, 14f.; dazu More, Enthusiasmus triumphatus [s. Anm. 73], Sectio 44, 208f., und ders., Opera philosophica [s. Anm. 73], Bd. 1, dort Philosophiae Teutonicae censura sive epistola privata ad amicum […], dort die Praefatio, 531–535. 77   Chladni/Sartorius, Sententiam Henrici Mori [s. Anm. 61], § 12, 15, dazu More, Opera philosophia [s. Anm. 73], Bd. 1, Enchiridium metaphysicum, c. 6, 158–161. 78   Chladni/Sartorius, Sententiam Henrici Mori [s. Anm. 61], § 13, 15f. 79   Poiret selbst hatte zu Locke eine Widerlegung verfasst, die Chladni vorlag, nämlich Pierre Poiret: Fides et ratio collatae, ac suo loco redditae, adversus Principia Joannis Lockii. Amsterdam 1708, dazu Johann Wolfgang Jäger u. Simon Urlsperger (resp.): Judicium sine affectu de duobus adversariis Joh. Lookio et Petro Poireto eorumque pugna de ratione et fidei, pro materia disputationis.Tübingen 1708, passim.Wie stark das Konfliktpotential mit Blick auf Locke in Wittenberg war, zeigen z. B. kurz vor der Arbeit Chladnis Christlieb Gottwald Wabst u. Johannes Gottfried Schüler (resp.): Joannis Lockii sublestas de ratione sententias excutiet. Wittenberg 1714, passim; und auch Valentin Ernst Löscher: De finibus officiisque diversis intellectus et voluntatis in conversionis ac renovationis negotio, ad audiendam orationem solennem, qua opus legis in corda hominum inscriptum contra Io. Lockium, L.Velthusium etc. Wittenberg 1707.

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dafür, dass die Offenbarung von der Vernunft gelöst wurde und sich außerhalb ihrer unberechtigte Autorität verschaffte. Der englische Empirist war fehlgegangen, wie Chladni unterstreicht, denn revelatio und ratio ließen sich nicht in Relation zueinander definieren, auch wenn sie einander nicht ausschließen mussten. Die Offenbarung stand gut lutherisch für sich und musste sich nicht vor der Vernunft rechtfertigen; sie stabilisierte die Ratio nicht, sondern gehörte mit ihrer erleuchtenden Kraft einer gänzlich anderen Domäne an als die Vernunft. Niemand, der per se die Vernunft in Frage stellte, trat damit der Offenbarung zu nahe. Die Heilige Schrift konnte ihre Autorität auch ohne Rückbezug auf die menschliche Vernunft beanspruchen. Der Enthusiast, der neben dem Licht der Vernunft und der Offenbarung eine dritte Wahrheitsquelle aus Phantasmen generierte, wandte sich gegen die Tugenden des Verstandes und die Bibel gleichermaßen. Er berief sich, wie Chladni glaubt, auf die Heilige Schrift, ohne dabei seine Vernunft zu Rat zu ziehen. Zugleich ersetzte er die Offenbarung durch Phantasiegebäude und Prophetien, die er sich bestenfalls eingebildet hatte.80 Seine Erfahrungen mit den schwärmerisch-mystischen Bewegungen seiner Zeit veranlassten Chladni, sieben Merkmale des Enthusiasmus festzuhalten. Falsche Vorstellungen und die Irrlehren, die sie hervorbrachten, vereinigten sich hier zu einem Konglomerat, in dem sich, wie Chladni glaubt, fast alle Bewegungen, die er ins Auge gefasst hatte, begrifflich bündeln ließen. 1. Enthusiasten erdreisteten sich, den Literalsinn der Offenbarung zugunsten allegorischer Subtilitäten hinwegzuinterpretieren und die in der Schrift geschilderte historische Schöpfung und Erlösung der Welt zugunsten scheinbar höherer Mysterien aufzugeben. 2. Sie postulierten einen spiritus, der notwendig sein sollte, um die Allegorien der Offenbarung zu dekodieren. 3. Sie behaupteten, der historische Schriftsinn sei nicht mit dem eigentlichen und wahren Wort Gottes identisch. 4. Sie verinnerlichten, wie Chladni schon gezeigt hatte, die Heilsgeschichte und reduzierten sie auf intrapsychische Vorgänge. Die Auferstehung der Toten, das Endgericht, Himmel und Hölle formten keine Realien, sondern mutierten zu Symbolen, die auf das Seelenleben des Menschen abzielten. 5. Zwischen Schöpfer und Geschöpf, Gut und Böse verschwanden die ontischen Grenzen. Die Welt konnte sich ebenso als Emanation aus Gott erklären lassen wie die Engel und die Mächte der Finsternis. In einer reversio sollten Schöpfung wie Dämonen den Weg zu ihrem Ursprung auch wieder zurückfinden. 6. Als eschatologische Erfüllung des Menschen lehrten die Enthusiasten statt einer Gottesschau eine blasphemische Lesart der deificatio, die zu einem Verlust der Kluft zwischen Schöpfer und Geschöpf führte und einer Identifikation von Gott und Mensch. 7. Auch die Grenzen zwischen Christentum und seinem Heilsmonopol und

80   Chladni/Sartorius, Sententiam Henrici Mori [s. Anm. 61], § 14, 18, dazu John Locke: Libri IV de intellectu humano. Leipzig 1709, Liber IV, c. 19, 910–922; und als Vorstufe ders.: An Essay concerning Human Understanding, in four Books. London 31695, Book IV, c. 18, 397f.

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den übrigen Religionen wurden brüchig, solange nur, wie die Enthusiasten glaubten, allgemeine religiositas und humanitas aufrechterhalten wurden.81 Man ahnt, dass sich auf dieser Grundlage leicht nicht nur die Neuerungen des 17. Jahrhunderts, sondern auch die ganze mittelalterliche Mystik mit einem Generalverdikt belegen ließ. Henry More hatte darüber hinaus eine ideologische Nähe der fanatici zu den Atheisten behaupten wollen. Schon eine geringfügige Änderung konnte einen Enthusiasten in einen Gottesleugner verwandeln, wie More gegen Locke gezeigt hatte; beide verkörperten daher Extreme, so Chladni, denen man nur durch einen Mittelweg entkommen konnte. Die Sichtweise Mores ließ sich noch weiter mit Bedeutung füllen. Der Atheist leugnete die Existenz des Schöpfers, der Enthusiast drohte dem spinozistischen Pantheismus zu verfallen, was schon Buddeus behauptet hatte, und Gott für die Materie der Welt zu halten.82 Beide näherten sich in ihren Schlußfolgerungen einander an. Der Atheist sprach der göttlichen Vorsehung die Existenz ab, der fanaticus, etwa bei Jacob Böhme oder Robert Barclay, ließ Astrologie und Divinatorik ihre Stelle einnehmen. Der Atheista leugnete die Auferstehung und die individuelle Unsterblichkeit, der Enthusiast favorisierte stattdessen eine absorptio der Seelen in Gott und mit ihr eine Auflösung der Schöpfung in der göttlichen Vollkommenheit. Ähnelten sich nicht beide in ihrem Ergebnis? Während die eine Seite Engel und Dämonen zur Gänze die Existenz absprach und nicht an die Wunder und Verheißungen der Heiligen Schrift glaubte, vertraten die anderen eine Irrlehre und verwandelten die Heilsgeschichte und die letzten Dinge in bloße Symbole. Geschwächt wurde das Christentum von beiden Parteien. Es bestand unter dieser Voraussetzung kein Anlass, wie Chladni fortfährt, den zeitgenössischen Aberrationen mit Nachsicht zu begegnen.83 Atheisten wie Enthusiasten reduzierten Mirakel und Prophetien auf Symbole, gaben der Historia naturalis gegenüber der Heiligen Schrift den Vorzug, reagierten auf den Atheismus anderer Menschen mit Großzügigkeit, stellten die Autorität des Klerus in Frage und simulierten doch selbst Heiligkeit und moralische Überlegenheit.Viele der neuen enthusiasmierten Schriften, so hatte auch Philipp Naudé (1654–1729), den Chladni als Mitstreiter erkennt, in seinen Schriften gegen die Quäker, Antoinette Bourignon und den Verfasser des Guida spiritual, Miguel de Molinos (1628–1696), festgehalten, gaben sich den Anschein der Mystik, camouflierten in Wirklichkeit jedoch lediglich auf diese Weise ihren Atheismus. Aus dem Evangelium wurde eine fabula, die durch eine mythologia interpretandi nach Belieben ausgelegt werden konnte. Es war die gleiche Respektlosigkeit, die gegenüber der Offenbarung auch die Epikureer, die Materia-

81   Chladni/Sartorius, Sententiam Henrici Mori [s. Anm. 61], § 15, 18f.; dazu Barclay, An Apology [s. Anm. 28], Proposition III, 83–86. 82   Chladni/Sartorius, Sententiam Henrici Mori [s. Anm. 61], § 16, 19f., dazu More, Enthusiasmus triumphatus [s. Anm. 73], Sectio 47, 210f., und Johannes Buddeus: Theses theologicae de Atheismo et superstitione variis observationibus illustratae. Jena 21722, c. 2, §§ 4–5, 213–222. 83   Chladni/Sartorius, Sententiam Henrici Mori [s. Anm. 61], § 17, 20–22.

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listen der eigenen Zeit, an den Tag gelegt hatten.84 Wenn Buddeus, so Chladni, mit Blick auf die Atheisten festgehalten hatte, dass sie statt der Vernunft ihren Leidenschaften frönten und über ihre Irrtümer hinwegsahen, konnten die gleichen Eigenschaften auch von den Enthusiasten behauptet werden. Es waren jene ‚Rottenmeister und Verführer‘, vor denen schon Luther gewarnt hatte.85 Die Kritik an den Schwärmern konnte sich zum Ende auf die Heilige Schrift berufen. Atheisten und Enthusiasten hatten ihre Urbilder in den zwei entscheidenden Dekadenzformen des Judentums, den Sadduzäern und Pharisäern. War es nicht dieser Hochmut, die Selbstermächtigung und ‚Absonderung‘, die Schwarmgeister mit Pharisäern gemeinsam hatten? Ihre lediglich äußerliche Demut beruhte für Chladni auf Anmaßung, die Perfektion, die sie für sich reklamierten, war eine bloße Behauptung, und ihre Arroganz resultierte aus ihrem separatismus.86 Wie die Pharisäer, deren zentrales Laster die praesumptio war, durchwanderten, wie Chladni betont, auch die Mystiker den Himmel schon zu Lebzeiten in Gedanken, als ob sie ihn bereits erworben hätten.Wie die Pharisäer tarnten sie die Tändeleien ihres begrenzten Verstandes als Mysterien. Ihre fraternitas und ‚Philadelphia‘ hatte mit der wahren Nächstenliebe keine Gemeinsamkeiten. Statt durch die Gnade des Erlösers von der Sünde befreit zu werden, suchten die schwärmerischen Pharisäer des Christentums eine andere Strategie, um ihre Sünde gar nicht erst als Verfehlung anzuerkennen. Sie postulierten einen Scheinchristus, so Chladni, der nicht durch Passion vom Bösen befreite, sondern durch ein abstraktes Mysterium, das dem Menschen keine Buße abverlangte. An die Stelle des Kreuzereignisses war wie beim Quäker Robert Barclay ein geschichtsloses Licht getreten, das den Menschen erlösen sollte.87 Seinen antimystischen Traktat beschließt Chladni mit einer Typologie des Enthusiasten. Was zeichnete den fanaticus, das Gegenüber des Atheisten, aus? Es war seine surditas spiritus, die seine Ohren gegenüber dem Evangelium abgestumpft hatte, dazu eine Passivität, die ihn von Gott träumen ließ, statt Aktivität vom Gläubigen zu verlangen. Der Enthusiast ließ sich vom Schöpfer ‚erfüllen‘, statt am Reich Gottes zu arbeiten, wie im Pietismus verbreitet. Hatte nicht 84   Chladni/Sartorius, Sententiam Henrici Mori [s. Anm. 61], § 18, 22f., dazu Philipp Naudé: Unpartheyische und gründliche Untersuchung der mystischen Theologie und des grossen Übels, so von einigen Jahren her daraus entstanden ist. Zerbst 21723 (zuerst 1713), Zweiter Theil, 175–179; und schon Spizelius, De Atheismi Radice [s. Anm. 65], 15f. 85   Chladni/Sartorius, Sententiam Henrici Mori [s. Anm. 61], § 19, 23–25; dazu Buddeus,Theses theologicae [s. Anm. 82], c. 4, §§ 1–2, 308–324. 86   Chladni/Sartorius, Sententiam Henrici Mori [s. Anm. 61], § 20, 25f.; zu den Pharisäern vorher schon Martin Chladni u. Daniel Haynóczi (resp.): Dissertatio theologica de Pharisaeis et Scribis in cathedra Mosis sedentibus audiendis ex Matth. XXIII, 1. 2. 3. Wittenberg 1718, doch hier nur aus historischer Perspektive. 87   Chladni/Sartorius, Sententiam Henrici Mori [s. Anm. 61], § 21, 26f.; dazu Barclay, An Apology [s. Anm. 28], Proposition III, 83–86, und öfter. Zur Theologie des ‚Inneren Lichtes‘ bei Barclay, einer Kernidee der Quäker-Spiritualität, noch immer die Studie von Leif Eeg-Olofsson: The Conception of the Inner Light in Robert Barclay’s Theology. A Study in Quakerism. Lund 1954, passim.

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schon Valentin Weigel (1533–1588), einer der Stammväter des Schwärmertums, behauptet, so Chladni, der Heilige müsse wie ein Fels verharren und sich zur Gänze dem Wirken des Heiligen überlassen? Hatten sich die Hesychiasten der byzantinischen Kirche oder die Quietisten vom Schlage eines Miguel de Molinos anders verhalten?88 Hinter allem verbarg sich der hostis larvatus, der den Menschen ins Verderben stürzen wollte. Die Enthusiasten erwarteten die Vereinigung mit Gott in Lethargie; ihr status perfectionis sollte die unio mit dem Schöpfer gleichsam natürlich herbeiführen. Hatte Theresa von Avila nicht vergleichbare Lehren verbreitet? Worin unterschied sich diese, Gott herausfordernde, Passivität noch von der Gleichgültigkeit der Atheisten?89 In einer ein Jahr später erschienenen Disputation greift Chladni die Kennzeichen des fanatischen Denkens, wie es sich ihm darstellt, noch einmal auf und bekräftigt seine Sichtweise.90 Zwei Formen der ‚Einkehr‘, der introversio, werden unterschieden, die wahre, von der Kirche vorformulierte, und die falsche der Enthusiasten und Mystiker. Der reditus in cor, wie ihn das Luthertum sah, ließ sich, wie Chladni glaubt, leicht umreißen. Es handelte sich um jene Form der gewissenhaften Selbstbefragung, die den Menschen zu Gott führte. Ihre Hilfsmittel waren das Licht der Hoffnung und das lumen naturae, bewerkstelligt wurde sie durch den Heiligen Geist. Als Ergebnis dieser von der Gnade geleiteten Prüfung konnte der Christ das ewige Leben ins Auge fassen und das Reich der Gnade und des Verbums.91 Während der Wittenberger die aktive lutherische Gewissenserforschung auf fünfzehn Seiten behandelte, gebührten seiner Degeneration, der introversio der Mystiker, mehr als vierzig Seiten.Wie Atheismus und Enthusiasmus vom Mittelwert des wahren Glaubens abwichen, verortete sich die introversio fanatica, die mystische ‚Einkehr‘, konträr zur protestantischen Auslotung des Gewissens. Wieder musste sie alle Fehlformen der wahren Religion miteinschließen. Statt vom Licht der Offenbarung und dem lumen naturae getragen, hatte diese introversio eine Abwendung von Schrift und Vernunft als Voraussetzung; sie war ebenso irrational, wie sie die Vorgaben der Bibel ignorierte. Statt die aktive Gewissenserforschung in den Vordergrund zu rücken, beraubte sich die falsche ‚Einkehr‘ jeder Tätigkeit und verharrte in Passivität. Sie löste sich

88   Miguel Molinos Guida spirituale war – nach der lateinischen Übersetzung 1687 von August Hermann Francke – deutsch erschienen als Miguel Molinos: Geistlicher Weg-Weiser, die Seele von den sinnlichen Dingen abzuziehen und durch den innerlichen Weg zur völligen Beschauung und innern Ruhe zu führen. Frankfurt 1712, mit einer ‚Anleitung‘ von Gottfried Arnold 1–42. 89   Chladni/Sartorius, Sententiam Henrici Mori [s. Anm. 61], § 22, 27–29; dazu für Chladni Molinos, Geistlicher Weg-Weiser [s. Anm. 88], Erstes Buch, c. 1–2, 173–186; Johann Friedrich Mayer: De quietistarum persecutionibus dissertatio. In: Dissertationes selectae, Kilonienses et Hamburgenses. Hg. v. J. F. Mayer. Frankfurt 1694, Nr. 10, 327–405, dort zu Theresa von Avila 391–394; und zu den Hesychiasten Leone Allacci: De ecclesiae occidentalis atque orientalis perpetua consensione libri tres. Köln 1648, Liber II, c. 18, 852–874. 90   Martin Chladni u. Johannes Christian Letschius (resp.): Disputatio theologica de introversione hominis in seipsum cum vera, tum fanatica. Wittenberg 1723. 91   Chladni/Letschius, Disputatio theologica [s. Anm. 90], Sectio I, 3–22.

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von Gedanken wie von Sinneserfahrungen, ließ intellectus wie sensualitas hinter sich und vertraute auf ein Licht der Weisheit, das den Menschen nicht allein in das Reich Gottes, sondern, wie sie postulierte, direkt in die göttliche Essenz führen sollte.92 Dass in der falschen introversio Hybris und Häresie Hand in Hand gehen mussten, stand für Chladni außer Zweifel. Die nachfolgende Sichtung aktueller Irrtümer präsentiert eine Blütenlese von Irrtümern, wie sie für Chladni viele der von ihm verworfenen Autoritäten, darunter Jeanne-Marie de Guyon, Jacob Böhme, John Pordage, Sebastian Weigel, Miguel de Molinos und vor allem Pierre Poiret vorgelegt hatten, dessen Muse Antoinette Bourignon sich ideal in seine Feindbeschreibungen einfügte. Auffällig und zugleich bemerkenswert erscheint Chladni bereits die stark neuplatonisch gefärbte Terminologie, mit der die Mystiker ihre ‚Inkehr‘, die Abwendung von allen irdischen Belangen, zu fassen suchten.93 Mehr als deutlich erinnerten, wie auch Colberg in Greifswald erkannt hatte, die Umschreibungen der via interior, der evacuatio sui und des reditus ad se, wie sie Jeanne-Marie de Guyon oder Balthasar Cordier vorgelegt hatten, um die Selbstentgrenzung des Mystikers und seine Reise zum ‚Inneren Licht‘ in Worte zu fassen, an die Sprache der heidnischen Neuplatoniker.94 Als Konsequenz dieser fatalen Annäherung an das Heidentum und die pagane Sprache war die Grenze zwischen Schöpfer und Geschöpf, wie Chladni betont, durchlässig geworden und war die Tendenz zur Selbstvergöttlichung offen spürbar. In Böhmes Morgenröte erschien, so Chladni, das ‚verborgene göttliche Füncklein‘ als ‚inwendiger Christus‘ und Seelenessenz; die Inkarnation mutierte zu einem intrapsychischen Phänomen und hatte den Charakter eines historischen Ereignisses verloren.95 Chladni weiß, dass eine Erforschung und Durchdringung des Ichs im Zentrum der vielen von ihm beargwöhnten Schriften stand. Doch welchen Zweck verfolgte die Selbstprüfung, wie sie Pordage, Jeanne-Marie de Guyon oder Molinos vorschwebte? Selbsterkenntnis und Gotteserkenntnis fielen zusammen. Der ‚Herzensgrund‘, den auszuschöpfen Poiret   Chladni/Letschius, Disputatio theologica [s. Anm. 90], Sectio II, 23.  Chladni stützt sich fast durchgehend auf Christoph Sonntag u. Johann Leonhard Diedlein (resp.): Vocabularium pseudomysticum, ad usum juventutis. Altdorf 1740, der sich wiederum durchgehend mit Jacob Böhme auseinandersetzt. 94   Chladni/Letschius, De introversione hominis [s. Anm. 90], Sectio II, § 1, 23–26; dazu für Chladni Balthasar Cordier: Opera S. Dionysii Areopagitae latine interpretata et notis theologicis illustrata (2 Bde.). Antwerpen 1634, dort Bd. 2, In Librum de Theologia mystica, c. 2–3, XII–XV; und Jeanne-Marie Bouvier de la Motte Guyon: Tractatus Mysticus celeberrimae in Gallia foeminae De Guyon. Hg. v. Johann Wolfgang Jäger. Tübingen 1715, c. 11–12, 21–26. Das französische Original war erschienen als dies.: Le moyen court et très-facile pour oraison, que tous peuvent pratiquer tres-aisement. Grenoble 1685. 95   Chladni/Letschius, De introversione hominis [s. Anm. 90], Sectio II, § 2, 26–29, dazu für Chladni in der zeitgenössischen Ausgabe Jacob Böhme: Aurora, oder Morgen-Röhte im Auffgang, das ist: Die Wurzel oder Mutter der Philosophiae, Astrologiae und Theologiae. Amsterdam 1676, dort zum Ende bes. c. 10, 176–196. Die Zitate Chladnis sind weitgehend willkürlich den Schriften Böhmes entnommen. 92 93

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empfahl, ließ sich für ihn wie für Pordage mit Christus gleichsetzen.96 Die Person des Mystikers sollte von Christus selbst begründet werden. Die Befreiung von allen sensuellen und intelligiblen Formen, die auch Jacob Böhme als Weg zur Gotteserkenntnis nahelegte, sah an ihrem Ende eine Formung des Menschen vor, die mit dem göttlichen Grund in ihrem Wesen übereinstimmte und die Individualität des Menschen aufgab.97 War hier, in diesem ‚Durchbruch‘, der perruptio, wie die Mystiker sie genannt hatten, die personelle Identifikation mit Christus nicht vollzogen worden? War es nicht die Vereinigung mit dem Gottessohn, den die Durchdringung jenseits aller Anschauung als Ziel anstrebte? In der Seele fand sich ein centrum, ein Seelenkern, so hatte Pordage gelehrt, der zum Artikulationsraum des Erlösers werden konnte. Erinnerte eine solche Skalierung der Seele nicht an kabbalistische Modelle, auf die sich auch Pordage selbst berufen hatte? Und zugleich an die Sprache des Corpus Hermeticum? Alternativ hatten fanatici, wie Chladni weiter ausführt, Formulierungen gewählt, die das ‚verborgene Wort‘, das verbum absconditum und das cubiculum Dei, als letzte Erfüllung alludierten, einen Terminus, den kaum zufällig ebenfalls auch ‚Kabbalisten‘ und andere ‚Häretiker‘ verwendet hatten, aber auch katholische Mystiker wie Richard von St.Viktor (1110–1173). Attraktiver machte diese Variante die introversio der Fanatiker nicht.98 Kaum zufällig aber, so Chladni, hatte ein Vertreter der vorschnellen Aneignung der Schwärmereien des Mittelalters wie Pierre Poiret diese und vergleichbare Gedanken bei Johannes Tauler finden können.99 Als Summe seiner Auseinandersetzung mit dem Schwärmertum der Vergangenheit und Gegenwart kann Chladni eine Stufenfolge der introversio und ihrer Metaphorik präsentieren, die sich in sieben Schritte untergliedern ließ. 1. Auf

96   Chladni/Letschius, De introversione hominis [s. Anm. 90], Sectio II, §§ 3–4, 29–33; dazu für Chladni z. B. Poiret, Oeconomia divina [s. Anm. 50], Bd. 2, Liber V, 426f.; Guyon, Tractatus Mysticus [s. Anm. 94], c. 21, 36–41; Molinos, Geistlicher Weg-Weiser [s. Anm. 88], Drittes Buch, c. 7, 441–452; und Pordage, Göttliche und Wahre Metaphysica [s. Anm. 56], Bd. 2, Traktat von der ewigen Welt, c. 10, 119–122. 97   Chladni/Letschius, De introversione hominis [s. Anm. 90], Sectio II, § 5, 33–36; dazu Pordage, Göttliche und Wahre Metaphysica [s. Anm. 56], Bd. 3, c. 14, 751–773; und vor allem Jacob Böhme: Der Weg zu Christo, verfasset in neun Büchlein. Amsterdam 1715, dort Traktat VI:Vom übersinnlichen Leben, 165–188. 98   Chladni/Letschius, De introversione hominis [s. Anm. 90], Sectio II, § 6, 36–38; dazu für Chladni Pordage, Göttliche und Wahre Metaphysica [s. Anm. 56], Bd. 1, Einleitung, Buch I, c. 12, 404–477; für Pordage und Chladni Christian Freiherr Knorr von Rosenroth: Kabbala denudata. [Sulzbach, Frankfurt 1677–1684], ND Hildesheim, Zürich 1999 (2 Bde.), dort bes. Bd. 2, Isaak Luria: De revolutionibus animarum, 241–478; dazu der Divinus Pymander Hermetis Mercurii Trismegisti cum commento Hannibali Rosselii (5 Bde.). Köln 1630, Bd. 1, c. 13, 35–37; und Richard von Sankt-Viktor: In Canticum Canticorum expositi. In: Opera. Rouen 1650, Pars II, c. 7, 498f. 99   Chladni/Letschius, De introversione hominis [s. Anm. 90], Sectio II, § 7, 38–40; dazu Poiret, Bibliotheca mysticorum selecta [s. Anm. 51], dort die Epistola de principiis et characteribus, 108–114, 257f.; und ausgiebig Böhme, Der Weg zu Christo [s. Anm. 97], Traktat III, 91–98.

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die völlige Passivität des Mystikers, die den Anfang machte,100 folgte 2. eine regeneratio substantiae, eine Neubelebung des Menschen, die oft von Bedrängungen begleitet wurde,101 und 3. die Ekstase, die sich im Anschluß einstellte.102 4. In der Entrückung enthielt der fanaticus, wie er glaubte, Zugriff auf die göttlichen Mysterien.103 5. Auf die Tilgung der körperlichen Wirklichkeit und die Lösung von allem Unrein-Materiellen, die den Mystiker ereilt,104 folgt 6. die völlige Selbstauslöschung. Gott und Selbst vereinigen sich zu einer egoitas oder ipseitas. Möglich, wenn auch kaum weniger häretisch, war als Alternative auch eine Vereinigung mit der Sophia, der göttlichen Weisheit.105 7. Die letzte Stufe bildete die absorptio in Deum, eine Vergöttlichung, die den Einzelnen zur Gänze verschwinden ließ.106 In diesen dogmatischen Fehlgriffen waren, wie Chladni schließt, fast alle Schwärmer übereingekommen.107

4. Die mittelalterliche Vision auf dem Prüfstand: Birgitta und Hildegard Die Kritik an der Vision, der Glaube an eine latente Infiltration von katholischer Seite und die Rückführung der aktuellen Quietisten und Pietisten auf Irrtümer, die über die Geschichte des Luthertums weit zurückgriffen, hatten Chladnis Konfrontation mit den fanatici durchgehend begleitet. John Pordage oder Robert Barclay ließen sich in eine Genealogie einordnen, die sich über die ‚Rottengeister‘ der Schwenckfeldianer und die religiösen Bewegungen des Spätmittelalters bis zu den Hesychiasten und Einheitsmetaphysikern vom Typus eines Iamblichos oder Plotin zurückverfolgen ließ. Wie sehr sich Chladni auch

100   Chladni/Letschius, De introversione hominis [s. Anm. 90], Sectio II, §§ 8–9, 40–45; dazu auch Molinos, Geistlicher Weg-Weiser [s. Anm. 88], Drittes Buch, c. 13, 483–489. 101   Chladni/Letschius, De introversione hominis [s. Anm. 90], Sectio II, § 10, 45–47; dazu für Chladni Poiret, Bibliotheca mysticorum selecta [s. Anm. 51], dort mit Tauler die Epistola de principiis et characteribus, 109f. 102   Chladni/Letschius, De introversione hominis [s. Anm. 90], Sectio II, § 11, 47–49; dazu für Chladni z. B. Pordage, Göttliche und Wahre Metaphysica [s. Anm. 56], Bd. 1, Einleitung, Buch II, c. 1, 538–560, bes. 538f. 103   Chladni/Letschius, De introversione hominis [s. Anm. 90], Sectio II, § 12, 49–53; dazu als Illustration für Chladni z. B. Pordage, Göttliche und Wahre Metaphysica [s. Anm. 56], Bd. 2, Tractat von der Englischen Welt, c. 6, 255–257. 104   Chladni/Letschius, De introversione hominis [s. Anm. 90], Sectio II, § 13, 53f.; dazu für Chladni Poiret, Oeconomia divina [s. Anm. 50], Bd. 2, Liber V, c. 4, 412f. 105   Chladni/Letschius, De introversione hominis [s. Anm. 90], Sectio II, § 14, 54–58; dazu für Chladni zur Illustration z. B. Pordage, Göttliche und Wahre Metaphysica [s. Anm. 56], Bd. 1, Einleitung, Buch I, c. 5, 144–151; aber auch Valentin Weigel: Gründlicher Tractat von der wahren Gelassenheit, was dieselbe sey und wozu sie nütze, allen Kindern Gottes zu Stärckung und Wachsthumb am Innern Menschen. Frankfurt 1698, passim. 106   Chladni/Letschius, De introversione hominis [s. Anm. 90], Sectio II, § 15, 58–60; dazu für Chladni z. B. Guyon, Tractatus Mysticus [s. Anm. 94], c. 12, 23–26. 107   Chladni/Letschius, De introversione hominis [s. Anm. 90], Sectio II, § 16, 60–62.

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als Historiker des Mittelalters begriffen hatte, zeigt schon seine fast beiläufige Darstellung der Geschichte des Benediktinerordens, die er innerhalb eines Eulogiums auf Samuel Benedikt Carpzov vorgetragen hatte.108 Nach anfänglicher Euphorie war dieser Orden, wie Chladni glaubt, im Hochmittelalter mit seinen Idealen der Dekadenz seiner Epoche zum Opfer gefallen. Es wundert so nicht, dass der Wunsch nach historisch abgesicherter Apologetik und die Suche nach Archetypen des zeitgenössischen Verhängnisses selbst zur Aufarbeitung einschlägiger Quellen führen musste. Im Fall Chladnis waren es, wie schon zu Beginn betont, Hildegard von Bingen und Birgitta von Schweden, die ins Blickfeld oder vielmehr in die Schusslinie Chladnis gerieten. Die Entscheidung war nicht zufällig, trotz aller Optionen und exemplarischen Figuren in der Geschichte des Schwärmertums. Beide Autorinnen waren im 18. Jahrhundert weit verbreitet. Beide waren von Pierre Poiret in der Bibliotheca mystica in einem gemeinsamen Kapitel behandelt worden, das ihreVerdienste besonders hervorgehoben hatte.109 Auch Gottfried Arnold in seiner Historie der mystischen Theologie hatte sie entsprechend gewürdigt,110 Johann Heinrich Feustking, der Chladni scheinbar nicht vorlag, hatte sie bereits in die Reihe seiner Häretikerinnen und Schwärmerinnen eingeordnet.111 Dass Visionen Birgittas schon im 16. Jahrhundert gemeinsam mit Prophezeiungen gedruckt wurden, die man Tauler zugeschrieben hatte, und mit Texten Nikolaus von der Flües dürfte die Schwedin für Chladni ebenfalls in den entsprechenden Kontext gestellt haben.112 Beide Mystikerinnen eigneten sich noch aus einem anderen Grund, um der kritischen Strategie, der Chladni folgte, dienlich zu sein. Sie erschienen in ihren Lehren heterodox, was der Diskreditierung derjenigen, die sich auf sie beriefen, um ihre eigenen Schauungen zu legitimieren, besonders hilfreich sein musste. Hildegard wie Birgitta agierte durchaus machtbewusst und in Abstimmung mit den weltlichen und kirchlichen Potentaten, diskreditierten also die katholische Kirche, und waren Frauen, was ihrer Autorität für Chladni, wie sich zeigen wird, ebenfalls eher abträglich war.

108   Martin Chladni:Vitam Benedicti Nursini strictim recenset manesque sanctos Viri Magnifici ac Summe Reverendi Domini Sam. Benedicti Carpzovii.Wittenberg 1707, dort bes. fol. Ar–A2r. 109   Poiret, Bibliotheca mysticorum selecta [s. Anm. 51], dort die Epistola de principiis et characteribus, 157–162. 110   Arnold, Historie [s. Anm. 19], c. 21, 403f.; und auch ders., Ketzer-Historie [s. Anm. 12],Theil I, Buch XIV, c. 3, 395. 111   Feustking, Gynaeceum haeretico-fanaticum [s. Anm. 21], dort zu Birgitta 204–209, zu Hildegard 351–354. 112   Himmlische Offenbarungen S. Birgitten, wie es jetzt in der Welt ergehn soll, etliche Propheceyen D. Johannis Thauleri, von den neun Felsen und von allerley Ständen der Menschen, von der Artzney wider die Anfechtung der letzten Zeit Landolphi, ein nützlicher Tractat von Bruder Claus in Schwyz. Hg. v. Adam Walasser. Dilingen 1569, dort die Einleitung zu Birgitta fol. 5r–15r.

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4.1 Birgitta von Schweden Den Anfang macht im Jahre 1715 Birgitta von Schweden.113 Bevor die Visionen ihrer eigentlichen Kritik unterzogen werden, bemüht sich Chladni zunächst, in Leben und Werk der schwedischen Seherin einzuführen.114 Der Eindruck sollte entstehen, dass Chladnis Verurteilung Birgittas durch solide Lektüre abgesichert und auch durch Erschließung der biographischen Hintergründe gestützt war. Der Wittenberger Theologe zieht nicht nur einschlägige Handbücher wie Artur de Monstiers Gynaeceum sacrum oder die Bibliotheca scriptorum ecclesiae heran,115 sondern vor allem die gerade veröffentlichte Ausgabe der Vita Birgittas, für die sich Eric Benzelius der Jüngere (1675–1743) verantwortlich gezeigt hatte.116 Wer waren Birgittas Eltern gewesen? Wie war ihre Kindheit verlaufen? Chladni erinnert an ihre ersten Mirakel, darunter die Rettung ihrer Eltern aus einem Seesturm, die scheinbar ihre Erwähltheit dokumentiert hatten, ihre Berufungsvisionen durch Christus und die Heilige Jungfrau und ihre exemplarische Zurückweisung Satans. Chladni erscheinen manche der Begebenheiten, der Kampf, den das Mädchen mit den Klauen des Teufels auszutragen hatte, eher skurril, doch fügen sie sich in das Bild, das er von Birgitta zeichnen möchte. Aus der Ehe mit Ulf Gudmundsson waren acht Kinder hervorgegangen.War die Heilige Jungfrau, wie berichtet wurde, Birgitta auch bei den Wehen zur Seite gestanden? Nach einer Pilgerreise nach Santiago de Compostela und der einvernehmlichen Trennung des Ehepaars war Birgitta nach Rom gegangen, ihre Visionen waren dort einem Kleriker aus dem Zisterzienserorden, Petrus, berichtet worden, der sie aus dem Schwedischen ins Lateinische übertrug. Auch ihre Tochter Katharina hatte, wie Chladni noch hinzufügt, den Weg ihrer Mutter eingeschlagen. Birgittas Beichtvater, Matthias von Linköping (1300–1350), hatte Birgitta zur Niederschrift ihrer Gesichte ermuntert.117 Auch 113   Martin Chladni u. Benjamin Capsius (resp.): Dissertatio theologica qua Revelationes Birgittae Svecicae excutit.Wittenberg 1715. Eine eigene Betrachtung aus streng katholischer Perspektive widmet dieser Arbeit ein früher Herausgeber der Offenbarungen Birgittas, Wilhelm Volk, dazu Ludwig Clarus (Wilhelm Volk): Leben und Offenbarungen der Heiligen Birgitta (4 Bde.). Regensburg 1854, Bd. 4, 328–335, dort auch 308–344 allgemein zur protestantischen Auseinandersetzung mit Birgitta. Zu Volk, der im Umfeld von Joseph Görres tätig war, ist eine eigene Untersuchung in Vorbereitung. 114   Als solide Darstellung der Heiligen Birgitta mit weiterer Literatur heute z. B. Päivi Salmesvuori: Power and Sainthood. The Case of Birgitta of Sweden. New York 2014, passim, zu Berufung und Vita 63–92. 115   Artur De Monstier: Sacrum Gynecaeum seu Martyrologium amplissimum SS. ac BB. Mulierum. Paris 1657, 23. Juli, 295f.; Johann Gottfried Olearius: Bibliotheca scriptorum ecclesiasticorum (2 Bde.). Jena 1710–11, Bd. 1, 147. 116   Johannes Vastovius: Vitis aquilonia sive Vitae Sanctorum Regni Sveo-Gothici. Köln 1623, 97–110; und danach ders.:Vitis Aquilonia sive Vitae Sanctorum Regni Sveo-Gothici. Hg. v. Eric Benzelius. Uppsala 1708, 91–107. 117   Zur besonderen Rolle des Mathias von Linköping in der Transmission Birgittas z. B. Emilia Zochowska: Magister Mathias of Linköping and Saint Birgitta of Sweden. A Fellowship of Imagination. In: The Birgittine Experience. Papers from the Birgitta Conference in Stockholm 2011.

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die abtötenden Übungen, denen sich Birgitta unterzogen hatte, lässt Chladni nicht unerwähnt, das heiße Wachs, das sie auf ihren nackten Körper goss, und die Enzianwurzeln, die sie zur Abhärtung ihres Magens verzehrt hatte.118 Im Zentrum sollten Birgittas Visionen stehen, wie Chladni fortfährt, die auf Veranlassung von Bischof Alonso von Jaen gesammelt worden waren. Die Dreifaltigkeit, Maria und die Engel waren Birgitta mit solcher Frequenz erschienen, dass ihre Berichte acht Bücher füllen konnten, dazu waren noch die Visiones extravagantes gekommen und die Regula Salvatoris.119 Chladni referiert die Druckgeschichte der Revelationes, die für ihn von den ersten Inkunabeln bis zu den großen kommentierten Ausgaben des 17. Jahrhunderts reicht.120 Hatte es je eine erfolgreichere Mystikerin des 14. Jahrhunderts gegeben?121 Ebenfalls nicht ohne Indignation konstatiert Chladni die enorme Geschwindigkeit, mit der das Kanonisationsverfahren Birgittas zum Abschluß gebracht wurde.122 Die katholischen Quellensammlungen, die ihm die Mirakeltauglichkeit der Schwedin, die Überführung ihrer Gebeine nach Vadstena und die Schutzfunktion der Heiligen während des Kindbettes dokumentieren, hatte Chladni schon für seine Kritik

Hg. v. Claes Geijrot, Mia Åkestam u. Roger Andersson. Stockholm 2013, 227–240; und auch Salmesvuori, Power and Sainthood [s. Anm. 114], 93–106. 118   Chladni/Capsius, Revelationes Birgittae Svecicae [s. Anm. 113], §§ 1–4, 3–7. 119   Als heutige Ausgaben Birgitta von Schweden: Revelationes. Liber I cum prologo Magistri Mathie. Hg. v. Carl-Gustaf Undhagen. Uppsala 1978; dies.: Revelaciones. Bd. 2. Hg. v. Carl-Gustaf Undhagen u. Birger Bergh, Stockholm 2001; dies.: Revelaciones. Bd. 3. Hg. v. Ann-Mari Jönsson. Uppsala 1998; dies.: Revelaciones. Bd. 4. Hg. v. Hans Aili. Uppsala 1992; dies.: Revelaciones. Bd. 5: Liber quaestionum. Hg. v. Carl-Gustaf Undhagen u. Birger Bergh. Uppsala 1971; dies.: Revelaciones. Bd. 6. Hg. v. Birger Bergh. Uppsala 1991; dies.: Revelaciones. Bd. 7. Hg. v. Carl-Gustaf Undhagen. Uppsala 1967; dies.: Revelaciones. Bd. 8: Liber celestis imperatoris ad reges. Hg. v. Hans Aili. Stockholm 2002; dies.: Revelaciones extravagantes. Hg. v. Lennart Hollmann. Uppsala 1956; dies.: Regula Salvatoris. Hg. v. Sten Eklund. Stockholm 1975; dies.: Sermo angelicus. Hg. v. Sten Eklund. Stockholm 1972; dies.: Quatuor oraciones. Hg. v. Sten Eklund. Stockholm 1991. Da die gegenwärtigen kritischen Editionen aus einem Handschriftenbestand erstellt wurden, der den Text mit Blick auf die alten Drucke zum Teil verändert, wird im Folgenden auf die Nennung der Parallele in der aktuellen Ausgabe verzichtet. 120   Genannt werden von Chladni als Drucke und Ausgaben Birgitta von Schweden: Revelaciones celestes. Lübeck 1492, eine Inkunabel, die schon die Vorworte von Johannes von Torquemada und Mathias von Linköping enthielt; dies.: Revelaciones celestes. Nürnberg 1521; und dies.: Revelaciones celestes. Rom 1557. Als Edition nutzt Chladni Birgitta von Schweden: Revelationes. Antwerpen 1611, gedruckt gemeinsam mit der Vorrede Torquemadas und dem Kommentar des Consalvus Durantus. Geläufig sind Chladni auch die lateinischen Drucke Rom 1628, München 1680, die deutsche Übersetzung Köln 1664, und die französische Version, Lyon 1652. Im Vergleich zu den vorhandenen Drucken machten diese Drucke freilich nur einen Bruchteil aus. 121   Chladni/Capsius, Revelationes Birgittae Svecicae [s. Anm. 113], § 5, 7–9. 122   Zur Kanonisation Birgittas im Detail Cordelia Heß: Heilige machen im spätmittelalterlichen Ostseeraum. Die Kanonisationsprozesse von Birgitta von Schweden, Nikolaus von Linköping und Dorothea von Montau. Berlin 2008, dort 103–172; dazu z. B. Tuomas Heikkilä: Birgitasta Pyhäksi Birgitaksi. In: Pyhä Birgitta – Euroopan suojeluspyhimys. Hg. v. Päivi Setälä u. Eva Ahl. Helsinki 2003, 55–67.

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am Verfahren der Heiligsprechung erschlossen.123 Die frühen Herausgeber Birgittas, allen voran Consalvus Durantus (flor. 1606–1628), hatten zahlreiche Autoritäten versammelt, die die außergewöhnliche Reputation der Visionen belegen konnten, darunter Petrus Canisius oder Antonio von Cordoba. Bibliographen wie Aubert Le Miré (1573–1640) oder Balthasar Werlin (†1565) hatten die Übereinstimmung der Visionen mit der Lehre der katholischen Kirche unterstrichen, Theologen wie Nikolaus Sander Birgittas Gesichte als direkte Diktate des Heiligen Geistes gepriesen.124 War diese Einstimmigkeit nicht Grund genug, um misstrauisch zu werden? Tatsächlich war, wie Chladni nicht ohne Genugtuung vermerkt, auch Zweifel an der Verbindlichkeit der Visionen aufgekommen.125 Consalvus hatte zugegeben, dass Tommaso de Vio Cajetan (1469– 1534) Bedenken gegenüber Birgitta vorgebracht hatte. Der Bibelkommentator Wilhelm Estius (1542–1613) hatte es sogar gewagt, den Wert der Einlassungen Birgittas zur Gänze in Frage zu stellen. Dass lutherische Theologen wie Johann Gerhard (1582–1637), der dogmatische Unstimmigkeiten mittelalterlicher Visionen in seiner Confessio catholica systematisch gesammelt hatte, Birgittas Visionen nichts hatten abgewinnen können, musste nicht weiter verwundern. Umso hartnäckiger hatte offensichtlich die Kurie auf der Rechtgläubigkeit der Visionen bestanden und hatten, so Chladni, seit Johannes von Torquemada (1388– 1468) auf dem Konzil von Basel 1431 die Inspiriertheit Birgittas bestätigt hatte, Theologen wie Martin del Rio (1551–1608) die völlige Orthodoxie der nordischen Seherin attestiert.126

  Chladni/Capsius, Revelationes Birgittae Svecicae [s. Anm. 113], § 6, 9f.; dazu für Chladni zur Bulle Bonifacius IX. Laertio Cherubini: Bullarium sive nova collectio plurimarum constitutionum Apostolicarum diversourm Romanorum Pontificum (3 Bde.). Rom 1617, Bd. 1, 231– 237; und zur Rolle Birgittas als Schutzheiliger Pedro de Ribadeneyra: Flos Sanctorum seu Vitae et Res Gestae Sanctorum (2 Bde.). Köln 1630, Bd. 2, Juli, 241–243. 124   Chladni/Capsius, Revelationes Birgittae Svecicae [s. Anm. 113], § 6 (bis), 10f.; dazu für Chladni Birgitta von Schweden, Revelationes [s. Anm. 120], Elogia, fol. A2v; Aubert Le Miré: Bibliotheca ecclesiastica sive Nomenclatores VII veteres. Antwerpen 1639, Auctarium, 262f.; Johannes Trithemius: De scriptoribus ecclesiasticis liber unus. Hg. v. Balthasar Werlin. Köln 1546, Additio II, 443; und Nicholas Sander: De visibili monarchia ecclesiae libri VIII. 1598, Liber VII, 504f. 125   Chladni/Capsius, Revelationes Birgittae Svecicae [s. Anm. 113], § 6 (bis), 11; dazu Birgitta von Schweden, Revelationes [s. Anm. 120], dort die Praefatio von Consalvus, § 7 (ohne Seitenzählung); Wilhelm Estius: Annotationes in praecipua difficiliora sacrae scripturae loca. Köln 1622, Secundum Lucam, c. 2, § 24, 825; Johannes Gerhard: Confessio catholica, in qua Doctrina catholica et evangelica, quam ecclesiae Augustanae Confessioni addictae profitentur, ex Romano-Catholicorum scriptorum suffragiis conformatur. Frankfurt 1679, Liber I, Pars II, c. 17, 278f.; und Martin del Rio: Magicarum disquisitionum libri VI (3 Bde.). Mainz 1603, Bd. 2, Liber IV, Sectio IV, 140. 126   Chladni/Capsius, Revelationes Birgittae Svecicae [s. Anm. 113], § 7, 12f.; ausführlich zur Debatte um Birgitta auf dem Konzil von Basel z. B. Anna Fredriksson: Challenging and Championing St Birgitta’s Revelationes at the Councils of Constance and Basel. In: A Companion to Birgitta of Sweden and her Legacy in the Later Middle Ages. Hg. v. Maria H. Oen. Leiden 2019, 103–131; und Stephan Flemming: Hagiografie und Kulturtransfer. Birgitta von Schweden und Hedwig von Polen. Berlin 2011, 146–155. 123

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Es war also an der Zeit, die Visionen Birgittas genauer ins Auge zu fassen, vor allem wenn man, so Chladni, in Betracht zog, welche Geltung sie auch bei Schwärmern wie Poiret besitzen konnten. Für einen Katholiken mochte der Erfolg der Schwedin als ausreichendes Momentum der Gnade bereits genügen. Tatsächlich aber, so antizipiert Chladni sein Gesamturteil, ließ sich nur unter massiver laesio conscientiae die Annahme aufrechterhalten, Gott selbst könnte sich in Birgitta artikuliert haben. Dass ihr Orden sich mit großer Geschwindigkeit in Europa verbreitete, hätte für einen Experten der discretio spirituum wie Giovanni Bona (1609–1674) bereits einen ausreichenden Beweis erbracht. Ein Protestant aber durfte sich nicht so rasch zufriedengeben. Ein Christ, der eine gottgesandte Vision ignorierte, mochte eine Sünde begehen. Um vieles schwerer aber im Sündenregister wog, wenn ein Gläubiger vorschnell als gottgesandt proklamierte, was nur aus Irrtum und eitlem Menschenwerk bestand. Was der Schrift widersprach, konnte seinen Ursprung nicht im Heiligen Geist besitzen, gerade wenn es um die letzten Dinge ging.127 Argwöhnisch sollte stimmen, so Chladni schon zu Beginn seiner Lektüre, dass Birgitta selbst gelegentlich Zweifel an der Orthodoxie ihrer Gesichte zu äußern wagte und sich nicht sicher war, ob nicht doch ein böser Geist zu ihren Urhebern zählte. Gott selbst hatte sie gefragt, ob ihr in ihren Visionen Dubioses untergekommen war, der Heilige Geist war an sie herangetreten und hatte sie zur Prüfung aufgefordert, ob Aussagen contra rationem in ihren Gesichten zu finden wären. Lagen hier nicht Indizien vor, so Chladni, dass Birgitta selbst nicht frei von Bedenken war, was die Natur ihrer Visionen betraf? Visionen konnten sich nicht selbst bestätigen; es bedurfte externer Kriterien.Wichtiger noch wäre es gewesen, wie im Fall so vieler Eingebungen, wenn sie nicht nur mit Blick auf ratio und conscientia, sondern auch mit Blick auf ihre Übereinstimmung mit der Heiligen Schrift einer Prüfung unterzogen worden wären.128 Innerhalb der Visionen Birgittas ließen sich, so gibt Chladni zu, Hinweise finden, die ihrer Authentifizierung dienen sollten. Der Heilige Geist hatte zur Schwedin gesagt, seine Worte würden sich durch einen Engel ad hoc bestätigen lassen, als Sprecher sei er mit dem Geist identisch, der in den Aposteln wirkte. Doch hätte hier nicht genau so gut auch der Engel der Finsternis, der den Menschen zu einem cultus superstitiosus verführen wollte, seine Hände im Spiel haben können? Wenn ein zeitgenössischer Kritiker Birgittas, wie berichtet, von Gott in einer Vision geohrfeigt wurde und kurz darauf an einer Paralyse verstarb, lag kein Wahrheitszeugnis vor, wie Chladni betont, sondern ein mehr als frivoles Dokument des

127   Chladni/Capsius, Revelationes Birgittae Svecicae [s. Anm. 113], § 8, 14f.; dazu Giovanni Bona: De discretione spirituum liber unus. Brüssel 1674, c. 18, 291–309. 128   Chladni/Capsius, Revelationes Birgittae Svecicae [s. Anm. 113], § 9, 15f.; dazu Birgitta von Schweden, Revelationes [s. Anm. 120], Liber I, c. 4, 8, und Liber I, c. 32, 45.

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Enthusiasmus, das nur die Selbstermächtigung und den Hochmut der Visionärin bescheinigte.129 Auch die Umstände der Visionen Birgittas ließen sich, wie Chladni fortfährt, kaum als stichhaltige Argumente für ihre Glaubwürdigkeit und Rechtgläubigkeit ins Feld führen. Birgitta hatte ihre Eingebungen im Wachzustand erhalten, ohne Schlaf oder Traum, in einem Stadium spiritueller Ruhe, wie sie selbst bekannt hatte.130 Consalvus hatte gerade diese Begleitumstände als Beleg der Autorität der Visionen geltend gemacht. Oft waren der Schwedin die Gesichte in der Nähe der Heiligen Stätten zuteil geworden, oft auch begleitet von starken körperlichen Symptomen, innerer Unruhe, Hitze und Schmerzen, die Birgitta an Geburtswehen erinnert hatten. Außenstehende wie der frater Gerechinus hatten im Augenblick ihrer Entrückung gesehen, wie sie in die Luft gehoben wurde, während eine Flamme aus ihrem Mund hervorschoss. Waren diese Phänomene als Ausweis der Wahrheit einer Vision zu werten? Glaubte man Giovanni Bona, so Chladni, dann sollten gerade ostentativ öffentlich dargebotene Schauungen Misstrauen erwecken, denn eine glaubwürdige Vision erfolgte in separatione. Auch eine concussio pectoris oder eine Levitation schmälerten in ihrem Sensationscharakter den Wahrheitsanspruch einer Eingebung eher, als ihm zu nützen.War Birgitta nicht gar zu plakativ in ihrer Selbstinszenierung gewesen?131 Die Schwedin, so Chladni weiter, hatte sieben Merkmale der Authentizität einer Vision postuliert, die auf den Charakter und die Moralität der Urheberin weisen sollten und diese damit legitimierten. Die Welt sollte dem Visionär wertlos werden, hatte Birgitta betont, und Gott der Seele teurer als alles. Geduld, Nächstenliebe, Keuschheit, die Hoffnung in Heimsuchungen und die Sehnsucht nach einem guten und gottgerechten Tod kamen als weitere Eigenschaften hinzu. Doch konnten diese Merkmale die Glaubwürdigkeit einer Visionärin unterfüttern, so Chladni, oder waren sie nicht vielmehr Tugenden eines jeden erleuchteten Christen, der eine conversio zu Gott vollzogen hatte? Gegen Birgitta sprach vor allem, wie der Wittenberger noch hinzufügt, dass sie selbst den dämonischen Einfluss in ihren Visionen nicht zur Gänze ausgeschlossen und letzteren im Fall anderer scheinbar Gottbegnadeter durchaus für möglich gehalten hatte.132

129   Chladni/Capsius, Revelationes Birgittae Svecicae [s. Anm. 113], § 10, 16–18, dazu Birgitta von Schweden, Revelationes [s. Anm. 120], Liber VI, c. 36, 453f., c. 90, 513f., c. 92, 514. 130   Zur Selbstreflektion Birgittas über den Modus ihrer Vision auch Maria Oen:The Visions of St. Birgitta. A Study of the Making and Reception of Images in Later Middle Ages. Oslo 2014, 160–193. 131   Chladni/Capsius, Revelationes Birgittae Svecicae [s. Anm. 113], § 11, 18f.; dazu für Chladni z. B. Birgitta von Schweden, Revelationes [s. Anm. 120], Liber IV, c. 77, dort der Kommentar des Consalvus, 292, oder Liber IV, c. 78, dort der Kommentar 294; dazu der Prolog des Alonso de Jaen, c. 2, 577f., zur Flamme in den Revelationes extravagantes, c. 55, 702, und dazu Bona, De discretione spirituum [s Anm. 127], c. 20, 320f. 132   Chladni/Capsius, Revelationes Birgittae Svecicae [s. Anm. 113], § 12, 19f.; dazu für Chladni Birgitta von Schweden, Revelationes [s. Anm. 120], zu den Kriterien Liber IV, c. 23, 235, zum möglichen dämonischen Einfluss Liber I, c. 4, 8.

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Die wichtigsten Kriterien der beglaubigten Inspiration waren Rechtgläubigkeit und die Übereinstimmung der Lehren mit der Heiligen Schrift. Hier war der Maßstab anzusetzen, vor dem Birgitta wie alle Seherinnen, Schwärmer und Enthusiastinnen und Enthusiasten der verschiedenen Epochen in der Kirchengeschichte beurteilt werden musste. Als erster protestantischer Theologe der Neuzeit konfrontiert Chladni die Madonna des Nordens mit einem eigenen Zensurgutachten, an dessen Ende Birgitta im fahlen Licht der Häresie erscheinen musste. Das gleiche fahle Licht des Unglaubens musste auf jene Neo-Mystiker fallen, die sich im frühen 18. Jahrhundert noch immer auf Birgitta zu berufen wagten. Man kann Chladni nicht zum Vorwurf machen, er habe sich nicht gründlich durch die Visionen Birgittas hindurchgearbeitet. Richtschnur seiner Verwerfung sind, wie zu erwarten, die Glaubenssätze der Confessio Augustana, aber auch, wie er glaubt, die Maximen der Vernunft und der inneren Kohärenz. Als ersten Punkt bemängelt Chladni Birgittas unsichere Christologie, die vor allem durch die omnipräsente Verehrung der Heiligen Jungfrau verfälscht worden war. Maria hatte mit der ganzen verkörperten Dreifaltigkeit gesprochen, als sie Gott im Leibe trug, hatte Birgitta hervorgehoben. Doch war nicht allein die Person des Sohnes Fleisch geworden? Auch hatte Maria, wie Chladni referiert, bei Birgitta von sich behauptet, ihre Schmerzen seien noch größer gewesen als die Leiden des Erlösers. Schließlich war Birgittas Gesprächspartnerin so weit gegangen, ihren Beitrag am Erlösungswerk für gleichberechtigt zu halten. Was Adam und Eva im Paradies verloren hatten, war von Maria und Christus gemeinsam in der Passion wieder für die Menschheit zurückgewonnen worden.133 Chladni findet in der Christologie der Schwedin noch andere Unstimmigkeiten. War die Polygamie tatsächlich erst in der Zeit des Neuen Bundes aufgehoben worden? War der Blutschweiß des Erlösers auf dem Ölberg wirklich als physische Konsequenz allein der Angst des Heilandes zuzuschreiben? Hatten sich die Gerechten des Alten Bundes vor dem Abstieg Christi ins Inferno tatsächlich alle in der Unterwelt befunden? Ein Katholik hätte viele dieser Fragen vielleicht sogar mit Ja beantwortet, Chladni beantwortet sie mit einem klaren Nein.134 In anderen Fällen stört sich der Wittenberger an unglücklichen Formulierungen oder an Akzentuierungen, die ihm ebenfalls kaum mit der Lehre der Kirche vereinbar schienen. Die Angelologie Birgittas war ein Hort des Aberglaubens. Der Teufel hatte keinen vollständigen Einblick in die Gedankenwelt des Menschen, und die Seele bedurfte vor Gott keines Schutzengels als Fürspre-

  Chladni/Capsius, Revelationes Birgittae Svecicae [s. Anm. 113], § 13, 20f.; dazu für Chladni mit Blick auf die ‚inkarnierte Trinität‘ s. Birgitta von Schweden, Revelationes [s. Anm. 120], Liber II, c. 13, 112, oder Liber III, c. 13, 169, zu den Schmerzen der Heiligen Jungfrau Liber I, c. 35, 50f., zum gemeinsamen Erlösungswerk ebd. und der Kommentar des Consalvus 51. 134   Chladni/Capsius, Revelationes Birgittae Svecicae [s. Anm. 113], § 13, 21f.; dazu für Chladni zur Polygamie Birgitta von Schweden, Revelationes [s.Anm. 120], Liber I, c. 26, 36, zum Blutschweiß Liber I, c. 39, 56, zu den Gerechten im Inferno Liber I, c. 15, mit dem Kommentar des Consalvus 25f. 133

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cher, um Gnade zu erwirken. Zur Inkarnation hatte nicht gezählt, so Chladni weiter, dass der Erlöser sich, wie Birgitta es formuliert hatte, dem ‚menschlichen Samen überantwortete‘ und ihm seine vollkommene Seele geschenkt hatte, um die gefallenen menschlichen Seelen wieder zu Gott zurückzuführen. Hier war der Vorwurf einer Spiritualisierung der Heilsgeschichte nicht unberechtigt.135 Dass die Sakramentenlehre Birgittas vom Glauben an Werkgerechtigkeit getragen war, musste nicht weiter wundern. Ein guter Wille ließ sich nicht außer Kraft setzen, hatte Birgitta behauptet, selbst wenn alle Engel an diesem Menschen ziehen würden. Gebet und Tränen der Hinterbliebenen konnten so wirkmächtig sein, dass eine Seele selbst aus dem Inferno gerissen wurde. Welche Rolle sollten Gnade und Rechtfertigung aus dem Glauben in einem solchen System dann noch spielen?136 Auch dass Birgitta eine weitreichende Lesart der Transsubstantiationslehre vertreten hatte, die, wie Chladni betont, sich eher als transelementatio verstehen ließ, gereichte der Schwedin nicht zum Vorteil. Christus, so hatte Birgitta es ausgedrückt, nahm sich des Brotes in der Wandlung an, als würde Stroh vom Feuer verzehrt werden. In der Mitte der Hostie hatte Birgitta dann ein Lamm gesehen und in der Mitte des Lamms ein menschliches Gesicht.War hier nicht die Grenze zum Okkulten überschritten worden?137 Ein weiteres Monendum war die Überhöhung des monastischen Lebens. Die Ehe stand immer im Schatten des Zölibates, hatte Birgitta proklamiert; das conjugium spirituale rangiert weit über dem conjugium carnale, die geistliche Ehe begründete eine Gemeinschaft, die ebenso untrennbar war wie die Heilige Dreifaltigkeit, wie Birgitta behauptet hatte. Wie konnte jemand das Sakrament der Ehe in seinem Wert so herabwürdigen? In den letzten Tagen würde der Antichrist von einer Frau zur Welt gebracht werden, Satan würde diesen Embryo dann als seinen Zögling aufwachsen lassen. Wo in der Heiligen Schrift, so fragt Chladni fast empört, war je von solchen Begebenheiten die Rede?138 Zum besonderen Feindbild wird dem Theologen Birgittas Kult der Heiligen und der Gottesmutter. Birgittas Märtyrer waren durch ihre Fürbitten imstande, Menschen aus dem Fegefeuer zu befreien, wie es Gregor im Fall von Kaiser Trajan (53–117) gelungen war. Nicht nur, dass die Gräber der Heiligen zu be-

135   Chladni/Capsius, Revelationes Birgittae Svecicae [s. Anm. 113], § 14, 22; dazu für Chladni zum Allwissen des Teufels Birgitta von Schweden, Revelationes [s. Anm. 120], Liber I, c. 34, 47f., zum Schutzengel als Fürsprecher Liber VI, c. 30, 440, zur ‚Auslieferung des Samens‘ Liber I, c. 26, 36f. 136   Chladni/Capsius, Revelationes Birgittae Svecicae [s. Anm. 113], § 15, 22f.; dazu für Chladni zur Irritationsfreiheit des guten Willen Birgitta von Schweden, Revelationes [s. Anm. 120], Liber II, c. 19, 125, zur Wirkmacht des Gebetes und der Tränen Liber IV, c. 7, 212. 137   Chladni/Capsius, Revelationes Birgittae Svecicae [s. Anm. 113], § 16, 23f.; dazu für Chladni zur transelementatio der Eucharistie Birgitta von Schweden, Revelationes [s. Anm. 120], Liber I, c. 47, 70, zur ‚Realpräsenz‘ Christi in der Hostie Liber VI, c. 86, 511. 138   Chladni/Capsius, Revelationes Birgittae Svecicae [s. Anm. 113], § 17, 24f.; dazu für Chladni zum conjugium spirituale Birgitta von Schweden, Revelationes [s. Anm. 120], Liber II, c. 9, 105, zum Antichristen Liber VI, c. 67, 499f.

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suchen und zu pflegen waren, Christus selbst hatte gegenüber Birgitta in einer Vision auf der Verehrung der Heiligen beharrt. Über allen Erwählten verortete sich die Heilige Jungfrau, deren Kult, wie zu erwarten, für Chladni jedes Maß vermissen lässt.139 Musste die Mariolatrie nicht zu den besonderen Aberrationen des Mittelalters gezählt werden? Der intercessio der Gottesmutter war es vergönnt, Seelen aus dem Fegefeuer und sogar der Hölle zu befreien; ihre Worte sollten, wie die Schwedin behauptet hatte, einen wahren ardor in der Gottheit hervorrufen können.140 Lebend war sie in den Himmel aufgenommen worden, wo sie zur Rechten Gottes thronte. Ihre Gewänder hatte sie, wie Birgitta zu berichten wusste, auf der Erde zurückgelassen, um sie den Menschen zur Verehrung anzuempfehlen. Im Jenseits genügte die Nennung ihres Namens, um einen Dämon von der Malträtierung einer Seele abzuhalten. Chladni hat den Eindruck, dass selbst den katholischen Kommentatoren der Revelationes bei einer solchen Verehrung der Schwedin unbehaglich zumute war. Wer mich sah, nahm Gott selbst war, hatte Birgitta die Gottesmutter in einer Vision sagen lassen, und wer den Gottessohn erkannte, hatte auch mich erkannt. Der Sohn hatte diese Hybris sogleich bestätigt. Birgitta hatte dazu ein Gebet um die Gnade der Heiligen Jungfrau entworfen, so Chladni, das von solcher Hypostasierung der Madonna getragen war, dass es vollends als Blasphemie gelten konnte.141 Unter den letzten Dingen musste das Fegefeuer erwartungsgemäß zu den neuralgischen Punkten zählen. Eine dreifache satisfactio hatte Birgitta für die Sünden des Menschen für möglich gehalten, das Purgatorium, ein verborgenes Urteil Gottes und die rigide castigatio zu Lebzeiten. Birgittas Schilderungen des Limbus, der als Randregion das Fegefeuer eingrenzte, und des Abyssus, der als eigentliches Fegefeuer gelten konnte, dazu die ausführliche Kolorierung der Qualen der Seelen dort vor Ort, konnten bei den Vertretern des Luthertums nicht auf Gegenliebe stoßen, noch weniger die besondere Rolle, die die Heiligen bei der Verkürzung dieser Qualen spielten. Hatte sich nicht Birgittas eigener Gatte aus dem Fegefeuer heraus für die Unterstützung bedankt, die er von ihr erhalten hatte? Alle diese Vorstellungen sprachen kaum für Birgitta.142 Wichtig

139   Zur Mariologie Birgittas die Zusammenfassung bei Claire Lynn Sahlin: Birgitta of Sweden and the Voice of Prophecy. Woodbridge 2001, 78–108. 140   Chladni/Capsius, Revelationes Birgittae Svecicae [s. Anm. 113], § 18, 25f.; dazu für Chladni zu den Fürbitten der Heiligen z. B. Birgitta von Schweden, Revelationes [s. Anm. 120], Liber I, c. 5, 9f., dem Besuch ihrer Gräber Liber VI, c. 105, 522f., der intercessio der Heiligen Jungfrau ebenfalls Liber I, c. 5, 9f. 141   Chladni/Capsius, Revelationes Birgittae Svecicae [s. Anm. 113], § 18, 26f.; dazu für Chladni zur lebenden Aufnahme der Heiligen Jungfrau Birgitta von Schweden, Revelationes [s. Anm. 120], Liber VI, c. 60, 489, zu den zurückgelassenen Gewändern Liber VII, c. 26, 567, zur Nennung ihres Namens Liber I, c. 9, 13, zur ‚Identifikation‘ mit dem Erlöser Liber I, c. 42, 61f., mit dem Kommentar des Consalvus, zum Gnadengebet Liber VI, c. 103–104, 522. 142   Chladni/Capsius, Revelationes Birgittae Svecicae [s. Anm. 113], § 19, 27f., dazu für Chladni zum Fegefeuer z. B. Birgitta von Schweden, Revelationes [s. Anm. 120], Liber II, c. 1, 89, c. 15, 119, zur Fürbitte der Heiligen die Extravagantes, c. 56, 702f.

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war noch etwas Anderes: Dass der Irrglaube der Frau aus Vadstena, wie Chladni hinzufügt, von einer durchgehenden Verachtung des Schulbetriebes begleitet war und Birgitta die menschliche Vernunft wiederholt als Maßstab zurückgewiesen hatte, musste die Schwedin ebenfalls diskreditieren. Eine vergleichbare Arroganz gegenüber dem Schulbetrieb war ein charakteristisches Merkmal aller Enthusiasten und fanatici und verband Birgitta mit den Schwärmern der Gegenwart.143 Das Urteil über Birgitta stand damit fest. Um der curiositas willen fühlt sich Chladni noch berufen, einige Details aus den Visionen ins Gedächtnis zu rufen, die, wie er glaubt, vollends Birgittas Ignoranz gegenüber der Heilsgeschichte und der Bibel offenlegen. Stehend hatte Maria den Heiland geboren, so wollte es Birgitta erfahren haben, ohne dass ein Tropfen Blut auf die Erde fiel, während sich die Nabelschnur von allein gelöst hatte, dazu ohne Schmerzen im Beisein von Ochs und Esel, die sie als erste gesehen hatten.144 Maria hatte für das praeputium Dei bei der Beschneidung eigens Sorge getragen und es als Reliquie für die Nachgeborenen gerettet. Die körperlichen Merkmale des Erlösers hatte die Seherin bis ins absurde Detail hinein zu beschreiben vermocht und zugleich gewusst, dass sein Leib, von den Geschlechtsteilen abgesehen, zur Gänze dem Körper der Mutter geglichen hatte. Die Passionsgeschichte hatte Birgitta um einen ganzen Katalog an nugatoria bereichert und ihrem Publikum dabei viele neue Detail präsentiert, zum Beispiel, dass zunächst auf der rechten Seite die Nägel eingeschlagen worden waren und man dem Erlöser die Dornenkrone zunächst ins Gesicht gedruckt hatte, statt sie sofort aufzusetzen.145 Nach einer langen Reihe von weiteren Kostproben dogmatischer Unzulänglichkeit, phantasievoller Ausschmückung und, wie der Wittenberger Theologe glaubt, inszenatorischer Selbstermächtigung ist Chladni an ein Ende gekommen und stellt noch einmal den Bezug zur Gegenwart her.146 Birgittas Revelationes waren solcherart, so Chladni, mit Dreck und Absurdem angereichert, dass ihnen jede Autorität abgehen musste, selbst wenn es ihnen gelingen sollte, eine verirrte Seele zur Frömmigkeit aufzuhelfen. Sofern den Visionen etwas an Gutem innewohnte, war es nicht dem Heiligen Geist zuzuschreiben, sondern der Lektüre der Heiligen Schrift, deren Kraft Birgitta in ihren lichten Momenten vertraut hatte. Birgittas Gesichte mussten den Leser der Gegenwart noch 143   Chladni/Capsius, Revelationes Birgittae Svecicae [s. Anm. 113], § 20, 28f.; dazu für Chladni zur Verachtung des Schulbetriebs Birgitta von Schweden, Revelationes [s. Anm. 120], Liber I, c. 33, 47. 144   Chladni/Capsius, Revelationes Birgittae Svecicae [s. Anm. 113], § 21, 29; dazu für Chladni zu den Begleiterscheinungen der Geburt Christi und Ochs und Esel Birgitta von Schweden, Revelationes [s. Anm. 120], Liber VII, c. 21–22, 560–565. 145   Chladni/Capsius, Revelationes Birgittae Svecicae [s. Anm. 113], § 21, 29f.; dazu für Chladni zum praeputium Christi Birgitta von Schweden, Revelationes [s. Anm. 120], Liber VI, c. 112, 525, zur Ähnlichkeit des Erlöserleibs mit dem Körper seiner Mutter Liber I, c. 51, 75, zu den Nägeln und der Dornenkrone z. B. Liber VII, c. 15, 550f. 146   Chladni/Capsius, Revelationes Birgittae Svecicae [s. Anm. 113], § 22, 30f.

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etwas Anderes lehren, wie Chladni betont: Wenn der Mensch sich mehr zutraute, als ihm in seinen spirituellen Kräften eigentlich zustand, gab er dem Dämon Raum, das Seinige zu tun. Umso fataler war es dann, wenn er in seiner Hybris diese Einflüsterungen Gott zuschrieb und auf ihrer Inspiration beharrte. Es war der Weg der fanatici und Enthusiasten, den Birgitta eingeschlagen hatte, ihre Irrtümer mussten der Gegenwart als Mahnung dienen.147 4.2 Hildegard von Bingen Ein Jahr später, 1716148, sollte nach Birgitta von Schweden auch Hildegard von Bingen einer vergleichbaren Prüfung unterzogen werden.149 Wieder wandte sich Chladni mit einer Visionärin exemplarisch gegen jede Form von vorgeblicher Inspiration, wieder fungierte eine Autorin des Mittelalters als Stellvertreterin für den Enthusiasmus an sich. Auch in Hildegards Fall widerlegte sich der Anspruch der Inspiriertheit durch die zahllosen dogmatischen Unzulänglichkeiten und Abweichungen von der Offenbarung. Mit Blick auf Hildegard kamen für Chladni, wie sich zeigen wird, noch zwei Kritikpunkte dazu, die bei Birgitta von Schweden nicht so stark ins Gewicht gefallen waren, doch Hildegards Anspruch auf Glaubwürdigkeit massiv entwerten mussten: die, wie Chladni glaubt, bemerkenswert schwache und umständliche Latinität ihrer Visionen und die maßlose Arroganz, mit der Hildegard aufgetreten war. Vor allem letztere musste sie entlarven. Chladni beginnt seine Prüfung der berühmten magistra mit einer allgemeinen Einleitung. Wie Birgitta hatte auch Hildegard die inspiratio des Heiligen Geistes für sich beansprucht, sie war nicht zufrieden mit der Offenbarung und ihrer Verkündigung, sondern suchte nach einer sapientia extraordinaria.150 Bis heute fielen, so Chladni, die Gläubigen von einem Extrem ins 147   Chladni/Capsius, Revelationes Birgittae Svecicae [s. Anm. 113], § 23, 31; dazu für Chladni der Hallenser Johann Michael Heineccius: Schrifftmäßige Prüffung der so genannten Neuen Propheten und ihres ausserordentlichen Zustandes, worinnen zugleich alle Einwendungen und Ausflüchte des Herrn Misson, des Herrn John Lacy’s und des Ritters Richard Bulkeley, und anderer Scribenten untersucht und wiederlegt werden. Halle 1715, dort c. 5, §§ 5–9, 300–315, der ebenfalls wiederholt den Blick auf Birgitta gelenkt hatte, als er den selbsternannten Prophetinnen nachgegangen war. 148   Martin Chladni u. David Christian Lang (resp.): Dissertatio theologica de visionibus Hildegardis, quarum scrutinium instituit. Wittenberg 1716. 149   Einen kurzen Hinweis auf die Arbeit Chladnis gibt die für die Überlieferung und Rezeption Hildegards sehr wertvolle Studie von Michael Embach: Die Schriften Hildegards von Bingen. Studien zu ihrer Überlieferung und Rezeption im Mittelalter und der Frühen Neuzeit. Berlin 2003, dort 456; und noch einmal ders.: Beobachungen zur Überlieferungsgeschichte Hildegards von Bingen im späten Mittelalter und in der Frühen Neuzeit. In: „Im Angesicht Gottes suche der Mensch sich selbst“. Hildegard von Bingen (1098–1179). Hg. v. Rainer Berndt. Berlin 2001, 401–459, hier 457f.; allerdings ist hier in beiden Fällen von einem ‚Friedrich Chladenius‘ die Rede. 150   Zu Hildegards Selbstverständnis als Prophetin und seiner sprachlichen Markierung unter vielen z. B. Christel Meier-Staubach: Eriugena im Nonnenkloster? Überlegungen zum Verhältnis

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Andere und ließen zu, dass auf den ‚Indifferentismus‘ und ‚Epicureismus‘ der Enthusiasmus antwortete. Es gelte nach wie vor, die machinationes des Teufels aufzudecken.151 Hildegards Leben ließ sich für Chladni aus Quellen wie Aubert le Miré (1573–1640), Johannes Trithemius (1462–1516) oder Arnoldus Wion (1554– 1610) zusammenfassen,152 vor allem aber aus der autobiographischen Einleitung, die Hildegard dem Liber Scivias vorangestellt hatte.153 In Sponheim geboren, von aristokratischer Abkunft, war sie von den Eltern schon als Kind für das DisibodKloster vorgesehen. Die frühen Visionen, vor allem aber der allgemeine Aberglaube der Zeit, so Chladni, hatten diese Entscheidung sicher begünstigt. Im Kloster war die selbst durch Wunder ausgewiesene Jutta von Sponheim zu Hildegards Lehrerin geworden. Chladni verschweigt nicht, was er von diesem Bildungsweg eines jungen mittelalterlichen Mädchens hält: Nicht zu heiraten hatte man in dieser selbst für papistische Verhältnisse besonders dunklen Epoche als Keuschheit deklariert. Die Klöster aber waren ein Hort der Barbarei gewesen, wie schon die ersten humanistischen Kritiker des monastischen Lebens, Joachim Vadianus (1484–1551) und seine Zeitgenossen, gezeigt hatten. Hildegard hatten ihre katholischen Biographen zugestanden, die Regel des Heiligen Benedikt mit vollendeter Konsequenz befolgt zu haben, bis sie im Ruf der Heiligkeit stand. Doch erlangte man den Nimbus des Heiligen im Mittelalter nicht schon, wenn man zu bestimmten Tageszeiten betete, so wie ein Bauer oder ein Handwerker seine Arbeit verrichtete?154 Der Zeit im Disibod-Kloster hatte sich der Auszug Hildegards nach St. Rupert und, unterstützt vom Heiligen Geist, die Gründung eines eigenen Klosters angeschlossen. Im neuen Konvent sollte ein von Prophetentum und Werkgestalt in den figmenta prophetica Hildegards von Bingen. In: Frühmittelalterliche Studien 19, 1985, 466–497; dies.: Ildegarde di Bingen. Profezia ed esistenza letteraria. In: Cristianesimo nella storia 17, 1996, 271–303; und z. B. Robert Murray: Prophecy in Hildegard. In: Hildegard of Bingen. The Context of her Thought and Art. Hg. v. Charles Burnett u. Peter Dronke. London 1998, 81–88. 151   Chladni/Lang, De visionibus Hildegardis [s. Anm. 148], Praefatio, 1f. 152   Chladni/Lang, De visionibus Hildegardis [s. Anm. 148], §§ 1–2, 2–5; dazu Le Miré, Bibliotheca ecclesiastica [s. Anm. 124], Auctarium, 255; Monstier, Sacrum Gynecaeum [s. Anm. 115], 178; oder Arnold Wion: Lignum vitae, ornamentum et decus ecclesiae (2 Bde.). Venedig 1595, Liber V, c. 88, 795–797. Zu den diversen Lebensbeschreibungen Hildegards und dem zum Teil divergenten Bild, das sie von der Visionärin zeichnen, die ausführliche Einleitung von Monika Klaes. In: Vitae Sanctae Hildegardis. Hg. v. M. Klaes. Turnhout 1993, 17–194; Anna Silvas: Jutta and Hildegard. The Biographical Sources. Turnhout 1998, XV–XXIV; und z. B. Barbara Newman: Seherin, Prophetin, Mystikerin. Hildgard-Bilder in der hagiographischen Tradition. In: Hildegard von Bingen. Prophetin durch die Zeiten. Zum 900. Geburtstag. Hg. v. Edeltraud Forster. Freiburg 1997, 126–152. 153   Hildegard von Bingen: Scivias. Hg. v. Adelgund Führkötter u. Angela Carlevaris. Turnhout 1978, Liber I, Protestificatio, 3–6. 154   Chladni/Lang, De visionibus Hildegardis [s. Anm. 148], § 3, 5–7; dazu Joachim Vadian: De statu primitivae ecclesiae. In: Alamannicarum rerum scriptores aliquit recentiores (3 Bde.). Hg. v. Melchior Goldast. Frankfurt 1661, dort Bd. 3, 137; und ders.: De collegiis monasteriisque Germaniae veteribus. In: Ebd., Bd. 3, 13.

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noch heiligermäßiges Leben im Geiste des Evangeliums und des Heiligen Benedikt geführt werden. Beruhte ein solches Selbstverständnis nicht auf reiner Arroganz?155 Nach der Biographie, die ähnlich wie Birgitta auch Hildegard in eher fragwürdigem Licht erscheinen lässt, schließt sich für Chladni die Auseinandersetzung mit den Visionen an. In der Praefatio des Scivias, so Chladni, hatte Hildegard selbst behauptet, sie habe eine Flamme in sich gespürt, die ihr die Schrift ohne Kenntnis der Wortbedeutungen, Silben und Grammatik erschlossen habe. Die Bibel habe sich ihr in einem Moment der Inspiration in ihrem Gehalt zur Gänze geöffnet. Der Wittenberger Theologe kann diese Selbstbeschreibung nicht unkommentiert lassen. Sollte man wirklich davon ausgehen, dass Hildegard trotz ihrer im Kloster genossenen Ausbildung über keinerlei Kenntnisse der Theologie und der lateinischen Sprache verfügte? Dass niemand sie im Studium der Schrift unterrichtet hatte? Oder war diese Selbststilisierung nicht vielmehr dem Anspruch geschuldet, der scheinbaren Inspiration so viel an Raum wie möglich zuzugestehen, um Bewunderung zu gewinnen? Auch das Chronicon Hirsaugense hatte für Hildegard zu verstehen gegeben, allein die Wirkmacht des Heiligen Geistes hätte der Äbtissin ihre Offenbarungen zugespielt. Doch warum, so Chladni, musste zur Inspiration als Quelle geflohen werden, wenn die Lektüre der Schrift und die meditatio darüber als Ursachen ausreichend waren?156 Natürlich wusste auch Chladni, dass Hildegards Visionen als admiranda divina summaque auctoritate von Theologen und Bibliographen wie Petrus Canisius (1521–1597) oder Arnoldus Wion gepriesen wurden. Für die Inspiration schienen auf den ersten Blick zwei Eigenschaften der Visionen der abbatissa zu sprechen, die Chladni noch weiter beschäftigen werden. Hildegards Eingebungen waren von bemerkenswert unglücklichem Stil; eine duritia expressionis zeichnete sie aus, die kaum den Verdacht erregte, sie hätte lange Studien betrieben. Dazu gesellte sich bei Hildegard ein herrischer und sich überlegen gebender Tonfall, der auf den ersten Blick ebenfalls als Indiz einer göttlichen Eingebung gewertet werden könnte. Der Verbreitung der Visionen war der dominante Gestus sicher ebenso förderlich, so Chladni, wie die scheinbare Fähigkeit der Seherin,Wunder zu tun. Der erste Grund für den Erfolg Hildegards sollte aber, wie der Theologe noch hinzufügt, nicht verschwiegen werden. Nur wo die Kenntnisse der Offenbarung unzureichend waren, konnte es Texten, die unter dem Deckmantel der Vision verbreitet waren, gelingen, Popularität zu gewinnen, auch wenn sie in

  Chladni/Lang, De visionibus Hildegardis [s. Anm. 148], § 4, 7.   Chladni/Lang, De visionibus Hildegardis [s. Anm. 148], § 4, 7f.; dazu in der von Chladni genutzten Ausgabe Hildegard von Bingen u. Elisabeth von Schönau: Revelationes SS.Virginum Hildegardis et Elizabethae Schoenaugiensis. Köln 1628, Prooemium; in der aktuellen Edition dies., Scivias [s. Anm. 153], Liber I, Protestificatio, 3f., zum Chronicon Hirsaugense, Revelationes (1628), Elogia, Nr. 8. 155 156

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ihrem Inhalt weit von der Heiligen Schrift abwichen und sich eigentlich selbst hätten entkräften müssen.157 Im Mittelpunkt der Werke Hildegards hatte der Liber Scivias gestanden, ein bemerkenswert schlecht geschriebenes und inhaltlich obskures Elaborat, so Chladni, auch wenn das Chronicon Hirsaugense seine Subtilität hervorgehoben hatte. Chladni hat die Ausgabe des Jahres 1628 zur Hand, in der Hildegards Visionen gemeinsam mit den Offenbarungen der Elisabeth von Schönau gedruckt worden waren. Die ältere Ausgabe von Johannes Faber Stapulensis (1455–1536) war ihm scheinbar unbekannt.158 Über den Liber Scivias hinaus lagen, wie Chladni fortfährt, noch die Viten des Heiligen Rupert und des Disibod vor, dazu ein Kommentar zur Regel des Heiligen Benedikt und ein Corpus von 135 Briefen.159 Um Hildegards Charakter zu zeichnen, erscheint Chladni zunächst ein Blick in die Briefe der magistra angebracht. Auffällig war doch nicht nur, wie viele der Berühmtheiten ihrer Zeit zu den Korrespondenten der Äbtissin gehört hatten, sondern auch, wie selbstbewusst, ja bisweilen regelrecht rüde sie, bei allen eingestreuten freundlichen Worten, ihre Gesprächspartner angehen konnte.Vor allem wenn Hildegard in den Modus der Prophetie fiel, bediente sie sich einer nahezu inkommunikablen Sprache, ebenso aufgeblasen wie frei von syntaktischer Logik.160 Um sein Urteil zu illustrieren, druckt Chladni zwei der berühmtesten Briefe der Heiligen ab, ein Schreiben an Papst Eugenius (1080–1153) und ein weiteres an Kaiser Konrad (1093/94– 1152), einschließlich der Antworten, die Hildegard zugestellt wurden.161 Wäh-

  Chladni/Lang, De visionibus Hildegardis [s. Anm. 148], § 5, 8–10; zu Petrus Canisius Hildegard von Bingen, Revelationes (1628) [s. Anm. 156], Elogien, Nr. 3; und auch Petrus Canisius: Martyrologium. Der Kirchenkalender, darinnen die christlichen Feste und Heiligen Gottes begriffen, wie dieselbigen durch das ganze Jar begangen werden. Dilingen 1599, 17. September, 273. 158  Zur Druckgeschichte der Werke Hildegards ist grundlegend Embach, Schriften [s. Anm. 149], hier zum Scivias 96–113, zum Epistolarium 191–203. 159   Neben der Standardausgabe von 1628 waren vor allem zu nennen der Liber trium virorum et trium spiritualium virginum. Hg. v. Jacques Lefèvre d’Étaples. Paris 1513, der Hildegards Scivias, dazu noch Elisabeth von Schönau und Mechthild von Magdeburg, enthielt, doch von Chladni nicht erwähnt wird; dazu als Chladni geläufige Werke Hildegard von Bingen: Epistolarum liber, continens varias epistolas summorum pontificum, imperatorum […]. Hg. v. Justus Blanckwaldt. Köln 1566, dort auch die Regula Benedicti, 232–247; dies.:Vita Roberti. In: Hinkmar von Reims, Epistolae. Hg. v. Johannes Busaeus. Mainz 1602, 361–374; und dies.:Vita Disibodi. In: De probatis sanctorum vitis. Hg v. Laurentius Surius (12 Bde.). Köln 1618, Bd. 7, 8. Juli, 141–147. Eine Sammelausgabe der Werke Hildegards fand sich für Chladni in der großen Kollektion der Maxima bibliotheca veterum patrum et antiquorum scriptorum ecclesiasticorum. 27 Bde. Hg. v. Marguerin de la Bigne. Lyon 1677, dort Bd. 23, 535–600, die sich auf diverse Vorgängerkollektionen stützen konnte. Als jüngere Ausgabe der Regula Benedicti Hildegard von Bingen: De regula Sancti Benedicti. Hg. v. Hugh Feiss. In: Dies.: Opera minora. Hg. v. Peter Dronke [u. a.]. Turnhout 2007, 67–97. 160   Chladni/Lang, De visionibus Hildegardis [s. Anm. 148], § 6, 10f. 161   Chladni/Lang, De visionibus Hildegardis [s. Anm. 148], §§ 7–8, 11–15; dazu Hildegard von Bingen, Epistolarum liber (1566) [s. Anm. 159], 1–9, 63–65; und in der aktuellen Ausgabe dies.: 157

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rend sie sich gegenüber der Kurie anmaßen konnte, den Papst in Rom zu erleuchten und ihm den Weg zu weisen, wandte sie sich an den Kaiser, so Chladni, wie eine Pythia von ihrem Dreifuß und verkündete ihm den drohenden Untergang. Wie viel an dreister Identifikation mit den alttestamentlichen Propheten und den Aposteln, wie viel an Hochmut konnte ein Mensch entwickeln, wenn er nur von sich behaupten konnte, der Heilige Geist spräche aus ihm. In ihren Briefen an den Kaiser trat Hildegard wie die Heilige Jungfrau Maria selbst in Erscheinung, um so viel an Bewunderung wie möglich auf sich zu ziehen. Statt konkreter Vorhersagen an den Regenten hatte sie aber nur dunkel-schwadronierende Andeutungen feilzubieten, so dunkel, als wären sie, so Chladni, aus einer schmutzigen Quelle geflossen.War der Kaiser gerecht, profitierte sein Volk von seiner Herrschaft, war er es nicht, wurde es in Mitleidenschaft gezogen. Diese Erkenntnis, auf die sich Hildegards Verheißungen herunterbrechen ließen, war, wie Chladni sarkastisch anmerkt, kein Mysterium.162 Dennoch ahnte man, so der Wittenberger in seiner Auseinandersetzung mit Hildegard, warum die Öffentlichkeit des 12. Jahrhunderts von den Visionen der Äbtissin so in Aufruhr versetzt werden konnte. Es bedurfte einer Beglaubigung von Seiten der Kurie. Die begleitenden Verfahren hatte Chladni der Vita Hildegards entnehmen können, die der Benediktiner Theoderich von Echternach (†1192) verfasst hatte; zu finden war sie für ihn in den Vitae Sanctorum des Laurentius Surius (1523–1578) und im Epistolarium.163 Erst hatte Papst Eugenius, der sich in Saint-Denis aufgehalten hatte, einen Legaten, Adelhard, entsandt, dann war der Heilige Bernhard selbst mit der Prüfung Hildegards betraut worden. Beide bescheinigten der Äbtissin die völlige Glaubenskonformität ihrer Visionen. Musste nicht bereits die Strategie eines solchen Anerkennungsverfahrens, so Chladni, skeptisch machen? Hildegard selbst hatte den Bischof von Rom in ihren Offenbarungen gemaßregelt und ihm moralische Weisungen erteilt. Warum bedurften ihre Visionen, wenn sie vom Heiligen Geist gesandt waren, noch der Approbation durch eine Instanz, an deren Unfehlbarkeit Hildegard scheinbar selbst Zweifel hatte? War die Visionärin von der Inspiriertheit ihrer Eingebungen selbst nicht überzeugt gewesen?164 Befremdlich genug war auch, dass sie den Nachfolger des Eugenius, Papst Anastasius, sogar noch härter angegangen war, ja ihn regelrecht abgestraft hatte. Es lohnte sich, wie Chladni unterstreicht, diese Schreiben der Äbtissin und auch viele andere ihrer Briefe zu studieren. Sie offenbarten, wie manipulativ Hildegard sich gegenüber ihren Epistolarium pars prima I–XC. Hg. v. Lieven van Acker. Turnhout 1991, Epistola 1, 7f., Epistola IV, 10f.; und dies.: Epistolarium pars tertia CCLI–CCCXC. Hg. v. Lieven van Acker u. Monika Klaes-Hachmöller. Turnhout 2001, Epistola 311, 70, Epistola 311R, 71f. 162   Chladni/Lang, De visionibus Hildegardis [s. Anm. 148], § 9,15f. 163  Vita Hildegardis, in: Hildegard von Bingen, Epistolarum liber (1566) [s. Anm. 159], dort Liber I, c. 4, 276–279; Surius, De probatis sanctorum vitis [s. Anm. 159], Bd. 9, 17. September, dort 180; dazu auch in der aktuellen Ausgabe des Theoderich von Echternach, die Vitae Sanctae Hildegardis, Liber I, c. 4, 9. 164   Chladni/Lang, De visionibus Hildegardis [s. Anm. 148], § 10, 16–18.

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Korrespondenten betrug, bald den Ton der Vertrautheit anschlug, bald autoritär auftrat und sich den Habitus der prophetischen und inspirierten Rede zur Gänze angeeignet hatte. Zur gleichen Zeit schienen ihre Briefe ein ingenium muliebre an den Tag zu legen, das sich auf conceptus illiquidi stützte und die eigene Inkompetenz durch die Dunkelheit der Sprache kaschierte.165 Gerade die Kombination von Arroganz und Obskurismus aber sicherte den Erfolg Hildegards, der sich an den Reaktionen der Zeitgenossen ablesen ließ. Robert von Torigni (1100–1186) bestätigt ihr in seiner Chronik den Besitz des spiritus propheticus, der Heilige Bernhard tat ihm gleich, wie Chladni konstatiert, und bat die Visionärin um Fürbitte. Großzügig schien Hildegard dem Ansinnen des Zisterziensers nachgekommen zu sein. Lag hier nicht ein ausreichend deutliches Zeugnis für vaniloquentia vor?166 Auch jüngere Vertreter der nichtlutherischen Historia literaria wie William Cave (1637–1713) hatten Hildegard als prophetissa angesprochen, die mit einem donum infallibile ausgestattet sei, und ihre Nennung mit einem Lobpreis des mittelalterlichen Klosterlebens verbunden. Chladni kann dieses Eulogium nicht teilen, wie er seinen Lesern deutlich macht. Einfach wäre es gewesen, die Äbtissin zu preisen, wenn sie sich den Irrtümern ihrer Zeit widersetzt hätte. Das hatte sie nicht. Im Dunstkreis des verkommenen, jeder Heiligkeit abträglichen Ordensmilieus ihrer Epoche musste es daher schwerfallen, sich Respekt für Hildegard abzuringen.167 Es war an der Zeit, einen Blick in die Visionen zu werfen. Zuvor galt es noch einmal, den Werkkatalog zu sichten. Cave hatte die Physica überschriebene Abhandlung mit Hildegard als Verfasserin in Verbindung gebracht, andere waren ihm in diesem Urteil gefolgt. Die denkbar geringe Rolle, die Naturkundliches in den Visionen in Anspruch nahm, sprach jedoch, wie Chladni glaubt, nicht für eine Urheberschaft der Äbtissin, auch wenn die Magdeburger Centurien die Physica zu Hildegards Schriften gezählt hatten. Auf die weitere Prüfung der Visionen Hildegards sollte sie daher keinen Einfluss nehmen.168 Im Zentrum steht 165   Chladni/Lang, De visionibus Hildegardis [s. Anm. 148], § 11, 18f., dazu Hildegard von Bingen, Epistolarum liber (1566) [s. Anm. 159], 9–12, und in der aktuellen Ausgabe dies., Epistolarium pars prima I–XC [s. Anm. 161], Epistula 8, 19–22. 166   Chladni/Lang, De visionibus Hildegardis [s. Anm. 148], § 11, 19f., dazu Robert von Torigny: Auctarium Sigeberti, Migne Patrologia latina 160. Paris 1880, Anno 1152, 475, A–B; Hildegard von Bingen, Epistolarum liber (1566) [s. Anm. 159], 69–72; und in der aktuellen Ausgabe dies., Epistolarium pars prima I–XC [s. Anm. 161], Epistula 1, 3–6, Epistula 1R, 6f. Chladni notiert mit Genugtuung, dass dieser Briefwechsel in der Ausgabe von Jean Gillot aus dem Jahre 1620 nicht aufgenommen wurde. In der aktuellen Briefausgabe Bernhard von Clairvaux: Opera omnia. 8 Bde. Hg. v. Jean Leclerq, Charles Talbot u. Henri Rochais. Rom 1957–77. Bd. 8, Epistolae extra corpus, Nr. 366, 323f. 167   Chladni/Lang, De visionibus Hildegardis [s. Anm. 148], § 12, 20, dazu für Chladni William Cave: Scriptorum ecclesiasticorum Historia literaria a Christo nato usque ad saeculum XIV. London 1688, 684f. 168   Chladni/Lang, De visionibus Hildegardis [s. Anm. 148], § 12, 20f., dazu für Chladni Matthias Flacius Illyricus: Ecclesiastica Historia, integram Ecclesiae Christi Ideam, quantum ad locum, propagationem secundum singulas Centurias, perspicuo ordine complectens. 13 Bde. Basel 1564–74,

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im Folgenden der Liber Scivias. Wie hatte Hildegard ihre Offenbarungen erhalten und was konnte die Darstellungsform dieser Visionen über ihre Legitimität aussagen? Schon in der Praefatio ihres Hauptwerkes hatte die Äbtissin von sich behauptet, sie sei nicht im Schlaf oder einer Phrenesis, einer Form von Raserei, mit ihren Visionen konfrontiert worden, sondern vigilans und mit den Augen des Geistes. War diese Aussage schon ein schlagkräftiges Argument, um eine Inspiration nahezulegen? Oder konnte nicht auch, was mit den geistigen Augen gesehen wurde, noch immer auf einem phantasma naturale oder einer satanischen Illusion beruhen?169 Gegenüber Bernhard hatte Hildegard enorme Anmaßung an den Tag gelegt.Von ihrer Geburt an, so hatte sie betont, sei sie mit visionärer Kraft begabt gewesen, intuitiv erfasste sie den Sinn des Evangeliums und des Psalters. Die Stimme, die sie dabei fast durchgehend gehört und die sie zur Niederschrift des Geschauten aufgefordert hatte, hatte Hildegard bald Gott, bald den Engeln zugeschrieben. Im gleichen Atemzug hatte sich die Seherin auch für ihre rohe Sprache entschuldigt, für die sie allein den visionären Impetus verantwortlich machte. Musste es nicht kurios anmuten, so fragt Chladni, dass in anderen Fällen oft Inspiration mit sprachlicher Anmut einhergehen konnte, einer Sprache, die nicht von der Seuche monastischer Barbarismen infiziert war? Hatte der Heilige Geist für Hildegard nur verstümmelte Worte bereit­ gehalten?170 Der Wittenberger Professor kann noch weitere Bedenken vorbringen. Im Brief an Bernhard gesteht Hildegard, dass ein Mönch ihr bei der Abfassung ihrer Visionen zur Seite gestanden und ihre Syntax und Grammatik verbessert habe. Warum behauptete Hildegard aber auf der anderen Seite, ihre Texte seien ihr völlig durch Inspiration übermittelt worden? Musste dem Heiligen Geist noch nachgeholfen werden?171 Dazu waren der Äbtissin selbst Zweifel gekommen, wie sie berichtet. Sie hatte gezögert, ihre Offenbarungen zu Papier zu bringen, doch war sie durch Krankheit dazu gezwungen worden, von einem flagellum Dei, wie sie selbst in ihrem Prooemium behauptet. Konnten diese Symptome helfen, den Glauben an eine Inspiration Hildegards zu festigen? Oder waren sie

Centuria XII, c. 10, Sp. 1700f. Die Physica Hildegards war schon im 16. Jahrhundert gedruckt worden, dazu dies.: Physica Elementorum, Fluminum, aliquot Germaniae, Metallorum, Leguminum, Fructuum, et Herbarum […]. IIII libris mirabili experientia posteritati tradens. Basel 1533. Ein zweiter Druck erschien 1553. Als neue Ausgabe dies.: Physica. Hg. v. Irmgard Müller u. Christian Schulze. Hildesheim 2008. 169   Chladni/Lang, De visionibus Hildegardis [s. Anm. 148], § 13, 22f.; dazu Hildegard von Bingen, Revelationes (1628) [s. Anm. 156], Prooemium (ohne Seitenzählung); und in der aktuellen Ausgabe dies., Scivias [s. Anm. 153], Liber I, Protestificatio, 4. Ergänzend hier für Chladni noch Johannes Nauclerus: Chronica, succinctim comprehendentia res memorabiles. Köln 1579, dort Generatio 39, 851. 170   Chladni/Lang, De visionibus Hildegardis [s. Anm. 148], § 13, 23f.; dazu Hildegard von Bingen, Epistolarum liber (1566) [s. Anm. 159], 70–72; und in der aktuellen Ausgabe dies., Epistolarium pars prima I–XC [s. Anm. 161], Epistula 1, 3–6, 171   Chladni/Lang, De visionibus Hildegardis [s. Anm. 148], § 13, 24.

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nicht eher Ausdruck einer regen Phantasia, die pathologische Züge trug? Und warum, so Chladni weiter, hatte es zehn Jahre bedurft, wie Hildegard zugibt, bis die Seherin die Abfassung abgeschlossen hatte, wenn doch alles auf Inspiration und unmittelbarer göttlicher Eingebung beruhen sollte? Waren die documenta des Heiligen Geistes womöglich nicht ausreichend ausgearbeitet gewesen?172 Mit vielen anderen angeblich Inspirierten teilte Hildegard die Hybris, die ‚Stimme Gottes‘ als direkte Quelle ihrer Visionen zu benennen und eine Vision mit dem Satz Sic dicit aeterna vox zu beenden, ganz als wäre es eine Passage aus der Offenbarung des Johannes oder Ezechiels. Auch andere Begleiterscheinungen wiesen auf den Status der ‚Gottesrede‘, den sie ‚zur Gänze durchdrungen von Feuer und Licht‘ erfahren haben wollte. Was lag hier vor, wenn nicht eine dreist am biblischen Vorbild orientierte ‚Kakozelie‘? Ein Beleg für eine tatsächliche Inspiration waren solche Formulierungen sicherlich nicht.173 Der Status der Inspiration hatte sich, wie schon bei Birgitta, an der Rechtgläubigkeit der transportierten Inhalte messen zu lassen. Charakteristisches Merkmal der Enthusiasten und Fanatiker war es, dass sie eben diese Konformität vermissen ließen. Eine genaue Lektüre der Visionen hatte zu erweisen, ob dieser Verdacht sich auch für Hildegard bestätigte. Natürlich war dies der Fall. Zunächst allerdings war es weniger ihre dogmatische Unzuverlässigkeit, die bei der Lektüre Hildegards abstieß, sondern die enorme metaphorische ‚Verkleisterung‘, mit der zum Ende, so Chladni, nur völlig triviale Erkenntnisse dargeboten wurden. Oft waren es, wie Chladni betont, durchaus spirituelle Gegenstände, die Hildegard in ihren Offenbarungen vermittelte, doch wurden sie überlagert von einer Batterie von fabulae aniles.174 Gleich mit der ersten Vision Hildegards glaubt Chladni, seine Behauptung illustrieren zu können. Auf einem Berg von eiserner Farbe thront eine leuchtend schöne Gestalt, zu ihren Seiten finden sich zwei gewaltige Schatten, die wie Flügel wirken. Vor dieser Gestalt sieht die Äbtissin eine imago, zur Gänze bedeckt mit Augen, vor der eine weitere, in Weiß gehüllte Figur erscheint, deren Haupt mit unzähligen Flammen umkränzt ist. Auf dem Berg lassen sich Fenster erkennen, aus denen sich viele Köpfe recken. Hildegard hatte auch die Bedeutung dieses bizarren Szenarios mitgeliefert: das Figurenpersonal manifestierte die stabilitas regni aeternitatis. War man bei so wuchernder Phantasie nicht auf einen Oedipus als Exegeten angewiesen, so Chladni, um zu diesem Schluß zu gelangen? Warum musste ein Mysterium wie die Heilige Dreifaltigkeit und ihr Allwissen auf eine so verschachtelte Art und Weise visuell plausibilisiert werden?175

  Chladni/Lang, De visionibus Hildegardis [s. Anm. 148], § 14, 24f.   Chladni/Lang, De visionibus Hildegardis [s. Anm. 148], § 15, 25f. 174   Eine Synopse der exgetischen Strategien Hildegards liefert z. B. Beverly Mayne Kienzle: Hildegard of Bingen and her Gospel Homilies. Speaking New Mysteries. Turnhout 2009, 63–154. 175   Chladni/Lang, De visionibus Hildegardis [s. Anm. 148], § 16, 26f.; dazu Hildegard von Bingen, Revelationes (1628) [s. Anm. 156], Liber I, c. 1, 1f.; und in der aktuellen Ausgabe dies., Scivias [s. Anm. 153], Liber I,Visio I, c. 1–6, 7–11. 172 173

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Ähnlich weiter geht es für den Wittenberger Theologen schon in der Anschlußvision des Liber Scivias. Tausende von Zangen, ein gewaltiger Abyss und viele weitere, komplex ineinander verwobene Details hatten bei Hildegard dazu gedient, den Sündenfall der Engel mit vielschichtigen Begleiterscheinungen zu veranschaulichen.Warum musste die Äbtissin einen solchen Aufwand betreiben, mit Bildern, die ebenso weit hergeholt waren wie weitschweifig, um diese Episode der Heilsgeschichte ins Bild zu setzen. Konnte hier wirklich noch der Heilige Geist am Werke sein?176 Hildegards Visionen waren in ihrer theologischen Qualität schon deshalb so schwer zu beurteilen, so Chladni weiter, weil sie massiv mit Digressionen angereichert waren. Sie verunsicherten den Leser oft mehr, als ihn zu unterrichten. Nur zu oft, so Chladni, erweckte der Liber Scivias den Eindruck, die in der Theologie wenig versierte Visionärin verwende conceptus muliebres, die sie selbst noch nicht durchdrungen hatte. Die Bilder, die Hildegard herangezogen hatte, um das Verhältnis von göttlicher Einheit und Dreifaltigkeit zu illustrieren, waren für sich genommen nicht zu tadeln, doch überlagerten sie in ihrer verunglückten Opulenz die Dogmen des Christentums eher, als dass sie ihrer Vermittlung zu Hilfe kamen.177 In einigen Fällen machte sich Hildegard jener zeittypischen Irrtümer schuldig, die kaum für ihre Inspiration sprachen. Chladni bemängelt, was ein Anhänger des Luthertums wohl bemängeln musste. Hildegard war Vertreterin einer Werkgerechtigkeit und propagierte den Vorrang der Opera vor dem Glauben, auch noch nach der Menschwerdung Christi und seines Erlösungswerkes.178 Dazu predigte sie das Ideal der Jungfräulichkeit und stellte das Leben der Mönche über das Leben der Laien.179 In anderen Bereichen hatte sie, wie Chladni betont, offensichtlich nicht über ausreichend theologisches Wissen verfügt. Sollten die Engel wirklich Körper aus lichthafter Materie besitzen, wie Hildegard in den Quaestiones ad Wibertum gelehrt hatte?180 Sollten die Heiligen im Jenseits

176   Chladni/Lang, De visionibus Hildegardis [s. Anm. 148], § 16, 27f., dazu Hildegard von Bingen, Revelationes (1628) [s. Anm. 156], Liber I, c. 2, 2–9; und in der aktuellen Ausgabe dies., Scivias [s. Anm. 153], Liber I,Visio II, c. 1–33, 13–38. 177   Chladni/Lang, De visionibus Hildegardis [s. Anm. 148], § 17, 28–30; dazu für Chladni Hildegard von Bingen, Epistolarum liber (1566) [s. Anm. 159], dort 248–272; die Ad sorores suas explicatio Symboli Athanasii, zur Trinität 254f., und in der modernen Ausgabe dies.: Explanatio Symboli Sancti Athanasii. In: Opera minora. Hg. v. Christopher P. Evans. 107–133, dort 115f. 178   Chladni/Lang, De visionibus Hildegardis [s. Anm. 148], § 18, 30, dazu für Chladni Hildegard von Bingen, Epistolarum liber (1566) [s. Anm. 159], Ad sorores suas explicatio Symboli Athanasii, dort 251f., und in der modernen Ausgabe dies., Explanatio Symboli Sancti Athanasii, 112. 179   Chladni/Lang, De visionibus Hildegardis [s. Anm. 148], § 18, 30f., dazu für Chladni Hildegard von Bingen, Revelationes (1628) [s. Anm. 156], Liber I, c. 2, 4f.; und in der aktuellen Ausgabe dies., Scivias [s. Anm. 153], Liber I,Visio II, c. 11–12, 19–21. Ausführlich zu Hildegards Staffelung der Gesellschaft und zum Status der conjugati, continentes und virgines in ihren Visionen Tilo Altenburg: Soziale Ordnungsvorstellungen bei Hildegard von Bingen. Stuttgart 2007, 85–114, 192– 205, 361–365. 180   Chladni/Lang, De visionibus Hildegardis [s. Anm. 148], § 19, 31f.; dazu für Chladni Hildegard von Bingen, Epistolarum liber (1566) [s. Anm. 159], dort 206–229, die Triginta octo quaestionum

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tatsächlich allwissend sein?181 Waren die Seelen wirklich im Moment der Zeugung noch geschaffen worden, statt von den Eltern weitergegeben zu werden, wie es die lutherische Kirche lehrte? Dazu verstieg sich die magistra, als sie auf die pollutiones nocturnae zu sprechen kam, die confessio des Sünders sei wie eine zweite Auferstehung zu begreifen.182 Natürlich hielt Hildegard, wie zu erwarten, am Vorrang des Bischofs von Rom fest, obwohl sie die Kirche sonst so leidenschaftlich kritisiert, das später sogenannte Alexandrinische Schisma vorhergesagt und die Unmoral des Mönchtums gebrandmarkt hatte, wie ihr selbst protestantische Theologen zugestanden hatten.183 Dazu glaubte sie an die Existenz des reinigenden Fegefeuers, das sich kaum vom Höllenfeuer unterscheiden sollte,184 und vertrat eine Variante der Transsubstantiationslehre, die die Dreiheit von Wasser, Wein und Brot in der Eucharistie ausdrücklich auf die Dreifaltigkeit zurückbeziehen wollte. Waren diese Lehren nicht fabulae aniles? Alle jene Theologen der Gegenwart, die Hildegard vorschnell den Rang einer Inspirierten zugedacht hatten, sollten, wie Chladni fordert, hier genauer hinschauen.185 Der Wittenberger glaubt, noch viele weitere Belege für Hildegards dogmatische Unzuverlässigkeit vorlegen zu können. Der Marienkult, den er schon Birgitta zum Vorwurf gemacht hatte, war hier ebenso zu nennen, wie die verunglückten Vergleiche, mit denen Hildegard die Ehen von zu engen Verwandten ausschließen wollte.186 Hildegards Visionen fehlte jedes Licht, jede Ordnung und jede Erbaulichkeit.187

solutiones, dort zu den Engeln 208f., und in einer jüngeren Ausgabe dies.: Solutiones triginta et octo quaestionum. In: Opera omnia. Migne Patrologia latina 197. Paris 1882, 1037–1054, q. 1, 1040, B–C. 181   Zu Hildegards Begrifflichkeit des Wissens und den Teilnahmeoptionen des Menschen an der praescientia Gottes Viki Ranff:Wege zu Wissen und Weisheit. Eine verborgene Philosophie bei Hildegard von Bingen. Stuttgart 2001, 239–269. 182   Chladni/Lang, De visionibus Hildegardis [s. Anm. 148], § 19, 32; dazu für Chladni Hildegard von Bingen, Revelationes (1628) [s. Anm. 156], Liber II,Visio 6, 77; und in der aktuellen Ausgabe dies., Scivias [s. Anm. 153], Pars II,Visio 6, c. 79–83, 293–296. 183   Chladni/Lang, De visionibus Hildegardis [s. Anm. 148], § 20, 20f.; dazu für Chladni Rudolf Hospinian: De origine et progressu monachatus ac ordinum monasticorum equitumque militarium omnium libri VI. Zürich 1588, Liber VI, c. 17, fol. 260v, der Hildegards Kritik am Mönchtum referiert. 184   Chladni/Lang, De visionibus Hildegardis [s. Anm. 148], § 21, 34f.; dazu für Chladni Hildegard von Bingen, Revelationes (1628) [s. Anm. 156], Liber I,Visio 2, 3; und in der aktuellen Ausgabe dies., Scivias [s. Anm. 153], Pars I,Visio 2, c. 7, 17. 185   Chladni/Lang, De visionibus Hildegardis [s. Anm. 148], § 21, 35; dazu für Chladni Hildegard von Bingen, Revelationes (1628) [s. Anm. 156], Liber II,Visio 6, 69; und in der aktuellen Ausgabe dies., Scivias [s. Anm. 153], Pars II,Visio 6, c. 44, 269. 186   Zu Hildegards Sakramentenlehre z. B. Gabriele Lautenschläger: Hildegard von Bingen. Die theologische Grundlegung ihrer Ethik und Spiritualität. Stuttgart 1993, 273–299. 187   Chladni/Lang, De visionibus Hildegardis [s. Anm. 148], § 22, 35–37; dazu für Chladni mit Blick auf die Ehen des Alten Bundes Hildegard von Bingen, Revelationes (1628) [s. Anm. 156], Liber I,Visio 2, 4; und in der aktuellen Ausgabe dies., Scivias [s. Anm. 153], Pars I,Visio 2, c. 13, 21–23.

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Zum Ende fühlt sich Chladni noch einmal berufen, seine Fundamentalkritik an der Seherin vom Rupertsberg auf den Punkt zu bringen, um dabei zugleich den Bogen zur Gegenwart zu schlagen. Hildegards Idiom war grobschlächtig und ungepflegt und schon in seiner Barbarei ein sicheres Indiz dafür, dass der Heilige Geist, der ‚Glossarch‘ aller sprachlichen Vollkommenheit, nicht an ihren Visionen Anteil hatte. Wenn die jetzt im Scivias vorliegende Fassung sich schon als das Ergebnis einer gründlichen Redaktion durch ihren klösterlichen Gehilfen Volmar verstehen lassen musste, wie mochte sie, so Chladni, vor dessen eifriger Bearbeitung ausgesehen haben?188 Wenn Gott sich an den Menschen wandte, bediente er sich einer klaren Sprache, er gebrauchte Bilder, die das Gesagte konkretisierten und veranschaulichten. Die magistra aber vermengte in ihren Visionen, so Chladni, das Runde mit dem Eckigen, sie artikulierte sich intricative et obscure und montierte ihre Illustrationen mit einer derartigen Umständlichkeit, als würde ein Maler alle Ideen in ein einziges Bild pressen wollen. Alle Ordnung und argumentative Schlüssigkeit schienen ihren Texten abzugehen.189 Schließlich musste sich die selbsternannte Seherin auch moralisch diskreditieren. Hildegard hatte jene Form der Arroganz an den Tag gelegt, so Chladni, die viele fanatici charakterisiert hatte; es war ein Hochmut, der nur aus der Hybris scheinbarer Inspiration hervorgehen konnte.190 Was immer sich diesem eingebildeten Geist des Enthusiasmus entgegengestellt hatte, musste sich wie der Abt von St. Disibod mit kalter Abschätzigkeit behandeln lassen.191 Gerade vergleichbare Attitüden waren, so hatten, wie Chladni erinnert, auch frühere Kritiker des Schwärmertums wie Jacob Stolterfoht (1600–1668) festgehalten, ein untrügliches Kennzeichen falscher Selbstermächtigung.192 188   Chladni/Lang, De visionibus Hildegardis [s. Anm. 148], § 23, 37; zum ‚Glossarchen‘ des Heiligen Geistes, der die Sprache der Visionäre perfektionierte, für Chladni Johann Georg Dorsche: Admirandorum Jesu Christi Septenarius, in quo eius Nativitatis, Passionis, Mortis, Regni Arcana dissertationibus exposita. Straßburg 1687, dort Dissertatio VII, 759. 189   Chladni/Lang, De visionibus Hildegardis [s. Anm. 148], § 24, 37–39. 190   Zu Hildegards Verhältnis zum Schulbetrieb ihrer Zeit noch immer Constant J. Mews: Hildegard and the Schools. In: Hildegard of Bingen [s. Anm. 150], 89–110. 191   Chladni/Lang, De visionibus Hildegardis [s. Anm. 148], § 25, 39f.; dazu Hildegard von Bingen, Epistolarum liber (1566) [s. Anm. 159], 94–96; und in der aktuellen Ausgabe dies., Epistolarium pars prima I–XC [s. Anm. 161], Epistula 76, 163f., und Epistola 76R, 164–166. 192   Chladni/Lang, De visionibus Hildegardis [s. Anm. 148], § 25, 40; dazu Jacob Stolterfoht: Consideratio visionum apologetica, das ist Schrifftmäßiges Bedencken, was von Gesichtern heutiges Tags zu halten sey. Lübeck 1645, c. 3, Zweites Kennzeichen, 288–303. Stolterfohts Fundamentalkritik an der Möglichkeit von Visionen nach der Offenbarung hatte eine Batterie von Kritik nach sich gezogen, als Beispiele Jacob Fabritius: Invicta visionum probatio d. i. wollbefästigte Wiederlegung der nichtigen Schaingründe mit welchen ein streitsüchtiger Sophist mein Büchlein von Prüfung der Gesichter bestürmet hat. Stettin 1646; und dagegen wieder Jacob Stolterfoht: Nothwendiger Höchstabgedrungener Warheit und Ehrenrettung wieder die sehr hefftige Schrifft, so D. Jacobus Fabricius, unter dem Titul: Invicta Visionum probatio, Das ist Wolbefästigte Wiederlegung der nichtigen Scheingründe, mit welchen ein Streitsüchtiger Sophist mein hie bevor gedrucktes Büchlein, von Prüfung der Gesichter, zwar bestürmet, aber mit nichten überwunden hat, ans Liecht gegeben. Lübeck 1648: und wieder Jacob Fabritius: Discussio nugarum

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Es bestand also kein Anlass, Hildegard zu den Zeuginnen der Offenbarung zu zählen. Im Gegenteil, wäre es sie es gewesen, hätte der Papst ihre Visionen kaum approbieren müssen. Selbst wenn die Kurie sich zur Bestätigung nicht bereitgefunden hätte, wären noch ausreichend Anhänger vorhanden gewesen, wie der Wittenberger mit gewisser Verbitterung hinzufügt. Die Eulogien eines Trithemius, aber auch die euphorischen Einlassungen Justus Blanckwaldts, der das Epistolarium Hildegards herausgegeben hatte, sprachen, wie Chladni betont, für sich. Schon Blanckwaldt hatte Hildegard darüber hinaus mit Johannes Tauler in Verbindung gebracht.193 Der Arm der Äbtissin reichte also weit.194 Es war daher mehr als angemessen, sich gegen sie zu wenden. Nicht ihre Visionen sollte man mühevoll nach Früchten durchforschen, so Chladni, sondern die Heilige Schrift und das Leben der wahren Heiligen studieren. Die Gegenwart musste den Kampf gegen die Fanatiker aufnehmen, um nicht den Irrtümern zu verfallen, die schon die Papisten umgetrieben hatten.195

5. Fazit Dass man katholischen Autorinnen des 12. oder 14. Jahrhunderts eigentlich kaum hätte zum Vorwurf machen dürfen, dass sie der Theologie ihrer Zeit, dem Primat des Papstes oder der Lehre vom Fegefeuer, verpflichtet waren; das hätte eigentlich auf der Hand liegen müssen. Entscheidender war für den Anti-Enthusiasten Chladni etwas Anderes. Der ganze scheinbare Status der Inspiration, so hatten beide Fälle, wie er glaubt, hinreichend unter Beweis gestellt, beruhte nicht auf dem Wirken des Heiligen Geistes und einer ‚gesteigerten Rationalität‘, wie Locke vielleicht vermutet hätte, sondern auf Anmaßung und Irrtum. Er verdankte sich autoritätsverachtender Selbstanmaßung, intellektueller Hybris und generell ebenso mangelnder Kenntnis der Glaubenslehre wie der Heiligen Schrift. Er schien für Chladni aus Vorbedingungen zwischen dämonischen Einflüssen und melancholischer Gestimmtheit hervorgegangen zu sein. Nicht Hildegard und Birgitta aber hatte Chladni anvisiert, als die Ergebnisse ihrer Inspiration vor den Richterstuhl der Theologie gezerrt wurden: die frag-

Stolterfotharum, Das ist: Schrifftmässige Wiederlegung des unnützen Geschwätzes, welches M. Jac. Stolterfoth in seinen beyden Schrifften, die heutigen Visiones betreffend, gantz sophistischer und tückischer Weise getrieben hat. Alten-Stettin 1649. 193   Chladni/Lang, De visionibus Hildegardis [s. Anm. 148], § 25, 40; dazu für Chladni Hildegard von Bingen, Epistolarum liber (1566) [s. Anm. 159], dort die Dedicatio Blanckwaldts fol. A2rf. Zur Person Blanckwaldts, über die sich kaum etwas ermitteln läßt, kurz Embach, Schriften [s. Anm. 149], 193. 194   Eine Synopse der Hildegard-Lektüre Taulers gibt Jeffrey F. Hamburger:The ‚Various Writings of Humanity‘: Johannes Tauler on Hildegard of Bingen’s ‘Liber Scivias’. In: Visual Culture and the German Middle Ages. Hg. v. Kathryn Starkey u. Horst Wenzel. New York 2005, 161–206. 195   Chladni/Lang, De visionibus Hildegardis [s. Anm. 148], § 25, 40.

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würdige exegetische Praxis, die blindwütige Allegorie und die verunklarende Bildsprache auf der einen Seite und die vielen dogmatischen Eigenwilligkeiten auf der anderen Seite, dazu die Suche nach politischen Allianzen, der sich beide Frauen bedient hatten, um ihre Stellung abzusichern. Hinter den, wie Chladni überzeugt war, entlarvten und inkriminierten Heroinnen der Vergangenheit verbargen sich andere Gegner, die ihr Gefahrenpotential noch nicht verloren hatten, wie der Wittenberger Theologe glaubte: Robert Barclay, Antoinette Bourignon, Hans Engelbrecht, dessen ‚Gesicht von Himmel und Hölle‘ beiden Mystikerinnen in vielem verwandt war, und nicht zuletzt auch der von Chladni ausdrücklich genannte Johann Conrad Dippel, der als Mystiker, autoritätsverachtender Freigeist, Chiliast und Sozialreformer, der die Grenzen der Religionen verschwinden ließ, wohl alle von Chladni gebrandmarkten Eigenschaften in seiner Person zur gleichen Zeit zu vereinigen schien.196 Das Übel musste mit jener Wurzel gemeinsam ausgerottet werden, wie Chladni forderte, auf die es unter umgekehrten Vorzeichen auch Chladnis Kontrahent Gottfried Arnold hatte zurückführen wollen: nämlich mit der ganzen Religiosität des katholischen Mittelalters.

196   Eine gute Zusammenfassung der Theosophie Dippels, die eine der aktuellen Herausforderungen Chladnis war, gibt Kristine Hannak: Geist=reiche Critik. Hermetik, Mystik und das Werden der Aufklärung in spiritualistischer Literatur der Frühen Neuzeit. Berlin 2013, 450–493.

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Brigitte Klosterberg

Leser und Empfänger hallischer Bücher in Züllichau und in Schlesien im 18. Jahrhundert* Es ist auch noch zu gedencken derjenigen Morgen- und Abend-Bet-Stunde, welche ich als Haus-Vater mit meinen eigenen Kindern, Gesinde und allen grossen Personen im Hause besonders halte, und von jener, so mit den Waysen geschicht, unterschieden ist. Die Ordnung ist folgende: Nachdem wir ein Morgen- oder AbendLied oder einen andern erbaulichen Gesang GOtt zu Ehren angestimmet, knyen wir allesamt nieder, und ich verrichte nach der Gnade, so der HERR schencket, aus meinem Hertzen das Gebet […]. Darauf wird ein Stück aus dem erbaulichen Tractat des Herrn Probst Porsts, von göttlicher Führung der Seelen, zu eines jeden Prüfung und Erweckung gelesen; Die Anwesende, sowol grosse als kleine, gefragt, was sie bemercket, und wie sie dasselbe zu ihrer Besserung anwenden und zu Nutze mache wollen; und endlich frey gestellet, daß, wer erwecket ist, sein Hertz vor dem Herrn noch kürtzlich ausschütte, […] welches denn mit einem Verslein aus einem Liede beschlossen und versiegelt wird. Wenn solches geschehen, so geht des Morgens ein jedweder an seine Arbeit, des Abends aber nach Vollendung seiner Geschäffte zu Bette.1

Mit diesen Worten beschreibt Siegmund Steinbart (1677–1739), der Begründer des Waisenhauses zu Züllichau, das Ritual des täglichen Morgen- und Abendgebets, das er als Hausvater für sein ganzes Haus samt seiner Familie und dem Gesinde praktizierte. Inkludiert ist das Vorlesen und Hören eines religiösen Textes, den der Hausvater in katechetischer Frage- und Antwortmanier zur *  Die Verfasserin dankt Professor Dr. Bogumiła Burda, der Hauptherausgeberin des Tagungsbandes Sulechów na przestrzeni wieków. 300 lat Fundacji Rodziny Steinbartów. uczniowie i nauczyciele szkół sulechowskich i ich powiązania europejskie. praca zbiorowa / pod redakcją naukową Bogumiły Burdy, Anny Chodorowskiej. Zielona Góra: Uniwersytet Zielonogórski, 2019, für die Genehmigung, dass ihr in dem Tagungsband veröffentlichte Aufsatz Leser und Empfänger hallischer Bücher in Züllichau und in Schlesien im 18. Jahrhundert, ebd., 229–256, mit geringfügigen Änderungen erneut in dem Jahrbuch Pietismus und Neuzeit des Verlags Vandenhoeck & Ruprecht, Brill Deutschland GmbH veröffentlicht werden darf. 1   Siegmund Steinbart: Erste Fortsetzung Oder fernere Wahrhafftige und umständliche Nachricht Derjenigen Tropffen, Stromlein und Flüsse, so aus GOttes reicher Seegens-Quelle in das von ihm selbst Vor der Stadt Züllichow bey Krausche Nicht so wohl Zu blosser Erzieh- und Unterhaltung armer verlassener Kinder / Als vielmehr Zu Erweckung und Stärckung des Glaubens gestifftete Waysen-Haus, Seit den 13. Sept. 1721. bis den 31. Martii 1723. nach und nach geflossen […]. Berlin: Schlechtiger, [1723], 91f.

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„Prüfung und Erweckung“ der anwesenden Kinder und Erwachsenen repetieren und deuten lässt. Das Vorlesen in der Gemeinschaft ist sinnstiftender Ausdruck pietistischer Frömmigkeit und fester Bestandteil des alltäglichen religiösen Lebens, zumal die Lektüre selbst zur Buße und zur Läuterung aufforderte, wie dem barocken Titel des von Johann Porst (1668–1728), Hofprediger und Propst an der Nikolaikirche in Berlin, verfassten Erbauungsbuches zu entnehmen ist: Compendium Theologiae Viatorum & Regenitorum Practicae, oder Die Göttliche Führung der Seelen / und Wachsthum der Gläubigen / in einem kurtzen Auszug vorgestellet, Darinnen gezeiget wird, wie der Sünder aus der Sicherheit aufgewecket, in die Busse geleitet, zum Glauben und Genuß aller Göttlichen Gnaden-Schätze gebracht, aus einem Alter in CHristo in das andere fortgehet, geläutert und zur Seligkeit vollendet wird.2 Nicht von ungefähr lesen Steinbart und die Mitglieder seiner Hausgemeinschaft ein Erbauungsbuch aus dem Verlag der Buchhandlung des Waisenhauses zu Halle, das 1723 in einer Auflagenhöhe von 1.500 Exemplaren gedruckt worden ist, dem weitere Auflagen 1730 und 1740 folgten. Steinbarts Ausführungen über das tägliche Beten und Lesen schilderte er in dem von ihm selbst herausgegebenen Periodikum Warhafftige und umständliche Nachricht Von den SeegensTropfen, so in das von Züllichau gestiftete Waysen-Haus […] geflossen,3 das über den Aufbau und die Entwicklung des Waisenhauses und der Anstalten in Züllichau informierte und sich augenscheinlich an dem Vorbild von August Hermann Franckes (1663–1727) Segensvolle[n] Fußstapfen des noch lebenden und waltenden liebreichen und getreuen Gottes4 orientierte. Es handelt sich um einen der wenigen überlieferten Belege für die konkrete Lektüre eines Buches aus Halle im Züllichau des 18. Jahrhunderts, bei dem die Leser, der Hausvater und seine Familie, benannt werden. Bücher stellten das zentrale Medium dar, um die Reformideen des hallischen Pietismus zu verbreiten. Nach Franckes Selbstverständnis bildete sein Waisenhaus den Ausgangspunkt einer weltweiten Ausbreitung des Reiches Gottes. Das religiöse Buch, die Bibel und Erbauungsliteratur, waren seit der Reformation Teil der christlichen Religionsausübung.5 Durch die zunehmende Alphabetisie-

  Johann Porst: Compendium […]. Halle: Waisenhaus, 1723.   Siegmund Steinbart:Warhafftige und umständliche Nachricht Derjenigen Tropffen, Strömlein und Flüsse, so aus Gottes reicher Seegens-Quelle in das von ihm selbst Vor der Stadt Züllichow bey Krausche Nicht so wohl Zu blosser Erzieh- und Unterhaltung armer verlassener Kinder, Als vielmehr Zu Erweckung und Stärckung des Glaubens gestifftete Waysen-Hauß […]. Forts. 1–7. Berlin: Lorentz; Schlechtiger; Züllichau: Waisenhaus 1723–1744. 4   August Hermann Francke: Segens-volle Fußstapfen des noch lebenden und waltenden liebreichen und getreuen Gottes, zur Beschämung des Unglaubens und Stärckung des Glaubens entdecket durch eine wahrhafte und umständliche Nachricht von dem Wäysen-Hause und übrigen Anstalten zu Glaucha vor Halle: Welche im Jahr 1701. zum Druck befördert, ietzo aber zum dritten mal ediret, und bis auf gegenwärtiges Jahr fortgesetzet. Halle: Waisenhaus, 1709. 5   Petra Bohnsack: Gutenberg und die Bibel.Verbreitung und kulturelle Bedeutung. In: Lesekultur. Populäre Lesestoffe von Gutenberg bis zum Internet. Hg. v. P. Bohnsack u. Hans-Friedrich 2 3

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rung der Bevölkerung und die von Francke vor Ort eingeleitete Bildungsoffensive sollten möglichst alle Gläubigen in die Lage versetzt werden, religiöse Texte täglich zu lesen. Lesen wird damit zum Akt der Frömmigkeit und der pietistischen Identitäts- und Gemeinschaftsstiftung.6 Es dürfte kein Zufall sein, dass der Kontakt zwischen dem Halleschen Waisenhaus und Siegmund Steinbart über Heinrich Julius Elers (1667–1728), den ersten Buchhändler des Halleschen Waisenhauses, auf der Leipziger Buchmesse angebahnt worden ist.7 Steinbart gründete bekanntlich 1719 ein Waisenhaus in Züllichau und zehn Jahre später eine Verlagsbuchhandlung, die nach dem Vorbild Halles konzipiert war.8 Diese Parallele gab den Anlass, im Rahmen des dreieinhalbjährigen Projekts „Halle und Züllichau als Pietismus- und Bildungszentren. Pädagogischer und verlegerischer Gedankenaustausch. Soziale Herkunft der Schüler und Lehrer sowie ihre Berufskarrieren“, die Drucke des 18. Jahrhunderts aus den Verlagsbuchhandlungen in Halle und Züllichau bibliographisch zu erfassen9 sowie Quellen zu sichten und auszuwerten, die über den Austausch der Bücher zwischen Halle und Züllichau Auskunft geben. Die Bücher der beiden Verlage wurden also nicht nur als Träger von Inhalten und als Speichermedien des Wissens verstanden, sondern als zirkulierende Medien, die in die personellen Netzwerke sowohl des Halleschen als auch des Züllichauer Waisenhauses eingebunden waren.10 Dieser Foltin. Marburg 1999, 7–28, hier 18. Bibel als Buch der Offenbarung, ebd., 22; Ulrich Schneider: Frühe Neuzeit. In: Lesen. Ein interdisziplinäres Handbuch. Hg. v. Ursula Rautenberg u. Ute Schneider. Berlin 2015, 739–763, hier 745. 6  Vgl. die Ausführungen von Ute Schneider in dem Kapitel „Lesen als Akt der Frömmigkeit und der Identitätsstiftung im Pietismus“. In: Lesen [s. Anm. 5], 746–748. 7   Brief von H.J. Elers an A.H. Francke. Leipzig 17.04.1715. Halle, Archiv der Franckeschen Stiftungen (im Folgenden abgekürzt AFSt) AFSt/H A 127a: 22; Brief von H.J. Elers an A.H. Francke. Leipzig 4.10.1716. AFSt/H A 169: 80. 8   Antje Schloms: Institutionelle Waisenfürsorge im Alten Reich 1648–1806. Statistische Analyse und Fallbeispiele. Stuttgart 2017, 246–256; dies.: Verehrer Franckes und Bittsteller des Königs – Die Waisenhausgründung der Familie Steinbart in Züllichau 1719. In: Hallesches Waisenhaus und Berliner Hof. Beiträge zum Verhältnis von Pietismus und Preußen. Hg. v. Holger Zaunstöck [u. a.]. Halle 2017, 37–54; dies.: Die Waisenhausgründung Siegmund Steinbarts in Züllichau als Imitation der Glauchaschen Anstalten bei Halle. In: Halle i Sulechów – ośrodki pietyzmu i edukacji, tło religijno-historyczne, powiązania europejskie. Hg. v. Bogumiła Burda u. Anna Chodorowska. Zielona Góra 2019, 95–121; Holger Zaunstöck u. Thomas Grunewald: Im Netz des Waisenhauses. Die Waisenhäuser in Züllichau und Halle im 18. Jahrhundert. In: Halle i Sulechów, ebd., 123–159. 9   Bibliographie der Drucke des Verlags der Buchhandlung des Waisenhauses zu Halle (1698– 1806), http://192.124.243.55/cgi-bin/verlag.pl?t_maske [letzter Zugriff: 12.10.2018]; Der Verlag der Buchhandlung des Waisenhauses zu Halle. Bibliographie der Drucke 1698–1728. Hg. v. Brigitte Klosterberg u. Anke Mies. Tübingen 2009. Zu den Drucken aus Züllichau vgl. Bibliografia druków sulechowskiej oficyny Frommanów z lat 1726–1798 w zbiorach bibliothek polskich. Hg. v. Bogumiła Burda [u. a.]. Zielona Góra 2019; Bibliographie der Drucke des WaisenhausVerlags zu Züllichau (1729–1740). Hg. v. Brigitte Klosterberg [u. a.]. 10   Zur Distribution von Werken des 18. Jahrhunderts vgl. exemplarisch die Ausführungen von Christine Haug: Einleitung. Topographie des literarischen Untergrunds im Europa des 18. Jahrhunderts: Produktion, Distribution und Konsumption von „verbotenen Lesestoffen“. In: Ge-

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Beitrag fußt auf der in der Projektlaufzeit erarbeiteten Publikation Bibliographischer Nachweis der Drucke des Waisenhausverlags zu Halle (1698–1806) in Sulechów (Züllichau) und Cieszyn (Teschen)11 und zielt darauf, nicht nur die Bücher – oder um es altmodisch auszudrücken – die Lesestoffe, sondern auch die konkreten Leser und Leserinnen der Bücher aus Halle sowohl in Züllichau als auch im benachbarten Schlesien in den Blick zu nehmen. Dabei ist zu konstatieren, dass die politisch-religiösen Bedingungen grundverschieden waren. Züllichau lag am äußeren Rand von Brandenburg-Preußen in der Neumark, während in Schlesien die katholische Obrigkeit herrschte und protestantischen Buchbesitz untersagte. Für die protestantische Minderheit änderte sich die Situation durch die Bestimmungen der Altranstädter Konvention von 1707 und den Exekutionsrezess aus dem Jahr 1709,12 durch die es dem Schwedenkönig Karl XII. (1682–1718) gelang, die Vormachtstellung der Habsburger in Schlesien zu beschneiden. Die Konvention sah die Rückgabe von 125 evangelischen Kirchen, die Unterhaltung von Schulen und die Errichtung von sechs Gnadenkirchen vor. Die größte der neu zugelassenen Gnadenkirchen in Schlesien wurde in Teschen errichtet, wo Gewährsleute Halles vorübergehend bis 1730 Fuß fassen konnten, so dass dort bis zu diesem Zeitpunkt eine Einfuhr hallischer Bücher zumindest offiziell geduldet wurde.13 Im April 1741, mit der Eroberung Schlesiens durch Friedrich II. (1712–1786), änderte sich das Herrschaftsgefüge und Bücher aus Halle konnten ohne Furcht vor Repressalien zumindest nach Preußisch-Schlesien eingeführt werden.

heimliteratur und Geheimbuchhandel in Europa im 18. Jahrhundert. Hg. v. C. Haug [u. a.]. Wiesbaden 2011, 9–47. Im Bereich der Pietismusforschung ist immer noch vorbildhaft: HansJürgen Schrader: Literaturproduktion und Büchermarkt des radikalen Pietismus. Johann Heinrich Reitz’ „Historie der Wiedergebohrnen“ und ihr geschichtlicher Kontext. Göttingen 1989 und Rainer Lächele: Die „Sammlung auserlesener Materien zum Bau des Reichs Gottes“ zwischen 1730 und 1760. Erbauungszeitschriften als Kommunikationsmedium des Pietismus. Tübingen 2006. Zur Verbreitung der Drucke des Waisenhausverlags in Halle nach Russland vgl. Susanne Schuldes: Netzwerke des Buchhandels. Buchexport aus der Buchhandlung des Waisenhauses (Halle/S.) in die protestantische Diaspora in Russland. Erlangen 2003. http://www.alles-buch. uni-erlangen.de/Schuldes.pdf [letzter Zugriff: 18.01.2019]. 11   Bibliographischer Nachweis der Drucke des Waisenhausverlags zu Halle (1698–1806) in Sulechów (Züllichau) und Cieszyn (Teschen). Hg. v. Brigitte Klosterberg. Halle 2019. 12  Vgl. den Wortlaut der Altranstädter Konvention vom 01.09.1707 sowie des Exekutionsrezesses zur Altranstädter Konvention vom 08.02.1709 im Auszug in: Quellenbuch zur Geschichte der Evangelischen Kirche in Schlesien. Hg. v. Gustav Adolf Benrath. München 1992, 147–150, 152f. Vgl. auch Norbert Conrads: Die Durchführung der Altranstädter Konvention in Schlesien 1707–1709. Köln [u. a.] 1971; 1707–2007, Altranstädter Konvention. Ein Meilenstein religiöser Toleranz in Europa. Hg. v. J.R.Wolf. Halle 2008; Eduard Winter: Die tschechische und slowakische Emigration in Deutschland im 17. und 18. Jahrhundert. Beiträge zur Geschichte der hussitischen Tradition. Berlin 1955, 79f. 13   Oskar Wagner: Mutterkirche vieler Länder. Geschichte der Evangelischen Kirche im Herzogtum Teschen 1545–1918/20. Wien [u. a.] 1978, 64–69; Herbert Patzelt: Der Pietismus im Teschener Schlesien 1709–1730. Göttingen 1969.

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Im Folgenden werden zunächst die Quellen vorgestellt, die über die Rezeption hallischer Bücher in Züllichau und Schlesien Auskunft geben. Danach wird eine serielle Quelle ausgewertet, die Verteilerlisten der Halleschen Berichte, der ersten Missionszeitschrift über die Indienmission des Halleschen Waisenhauses, in denen die Leser und Leserinnen namentlich greifbar werden. Abschließend wird an Hand der im Archiv der Franckeschen Stiftungen überlieferten Korrespondenz versucht, zu Aussagen über die Art und Intensität der Lektüre der Halleschen Berichte zu kommen.

1. Quellen über den Import hallischer Bücher nach Züllichau und Umgebung August Hermann Francke erhielt mit dem Privileg für das Waisenhaus von 1698 die Erlaubnis, eine Buchhandlung und eine Druckerei zu errichten.14 Wie in dieser Zeit üblich, tauschten die Buchhandlungen eigene Verlagsprodukte gegen Bücher anderer Verlage, so dass bereits Ende des 17. Jahrhunderts eine rege, bis in das 20. Jahrhundert andauernde Verlagstätigkeit in Halle einsetzte. Der Verlag der Buchhandlung des Waisenhauses in Halle entwickelte sich zu einem der führenden Verlage auf dem Gebiet der Theologie im Alten Reich im 18. Jahrhundert. Hinzu kamen Schulbücher nahezu aller Unterrichtsfächer, die an vielen Schulen Brandenburg-Preußens zum Einsatz kamen, und Lehrbücher für den universitären Unterricht, vor allem auf dem Gebiet der Jurisprudenz und der Medizin.15 Diese rührige Verlagstätigkeit führte zu einem gezielten Versand der Bücher an „Freunde“ des hallischen Netzwerks sowie an Vertrauenspersonen, die als Verteiler und gleichsam Poststelle für hallische Verlagsprodukte fungierten. Wie Steinbart in seiner Warhafftige[n] und umständliche[n] Nachricht mitteilte, gelangten regelmäßig der Klassiker pietistischer Erbauungsliteratur, Johann Arndts (1555–1621) Vier Bücher vom wahren Christentum, sowie die Bibeln und Gesangbücher aus Halle nach Züllichau.16 Ausführlich stellt Steinbart in einem eigenen Kapitel dar, dass er – auch hier folgt er seinem Vorbild Halle – eine Bibliothek anlegen ließ, in der 1731 immerhin ca. 140 Titel, darunter zahlreiche Titel aus dem Waisenhausverlag in Halle, wie beispielsweise August Hermann

14   Zur Buchhandlung des Waisenhauses zu Halle vgl. Brigitte Klosterberg: Das Verlagsprogramm der Buchhandlung des Waisenhauses zu Halle im 18. Jahrhundert. In: Merkur und Minerva. Der Hallesche Verlag Gebauer im Europa der Aufklärung. Hg. v. Daniel Fulda u. Christine Haug.Wiesbaden 2014, 221–238, hier 221. Immer noch grundlegend ist die Monographie von August Schürmann: Zur Geschichte der Buchhandlung des Waisenhauses und der Cansteinschen Bibelanstalt in Halle a.S. Zur zweihundertjährigen Jubelfeier der Franckeschen Stiftungen 1698–1898. Halle 1898. 15   Klosterberg, Das Verlagsprogramm [s. Anm. 14], 226–228. 16  Vgl. dazu das Kapitel 2 in: Klosterberg, Bibliographischer Nachweis [s. Anm. 11], 37–83.

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Franckes Bußpredigten, vorhanden waren.17 Ebenso gelangten Schulbücher aus Halle nach Züllichau, wie den pädagogischen Schriften Johann Christian (1702–1767) und Gotthilf Samuel Steinbarts (1738–1809) zu entnehmen ist.18 Ein anderes Terrain für den Versand von Büchern aus Halle stellte die Verlagsbuchhandlung in Züllichau dar, deren Aufbau von Halle aus aktiv unterstützt wurde. So sandte Joachim Lange (1670–1744), der ehemalige akademische Lehrer Johann Christian Steinbarts, sowohl seine Drucke für das Sortiment als auch eine bis dahin in Deutschland unveröffentlichte Schrift von Hugo Grotius (1583–1645) für den Druck nach Züllichau. Langes Schwiegersohn Johann Jakob Rambach (1693–1735), wiewohl Autor des Verlags in Halle, veröffentlichte seine Predigtsammlungen in Züllichau. Darüber hinaus wurden nach dem Vorbild Halles sowohl ein Geist-reiches Gesangbuch, eine Johann-ArndtAusgabe sowie eine neue Bibelausgabe für das regionale Umfeld auf den Markt gebracht.19 Der Import der Bücher aus Halle beruhte also sowohl auf institutionellen als auch persönlichen Kontakten. Vereinzelt lassen sich – wie Krystyn Matwijowski gezeigt hat – auch Quellen über den Buchbesitz in Privathand nachweisen. Das betrifft weniger Züllichau, sondern das benachbarte Schlesien, wo zahlreiche Adlige, beispielsweise der Graf Morawitzky, der Besitzer von Bolowitz in Oberschlesien, oder Angehörige der Familie Promnitz bzw. Henckel von Donnersmarck, über Besitzungen verfügten,20 die August Hermann Francke und das Hallesche Waisenhaus, insbesondere beim Aufbau der Gnadenkirche in Teschen, unterstützten.21 Es ist denkbar, dass Bücherinventare in pol-

 Von der Bibliothec des Waysenhauses. In: Siegmund Steinbart: Fünfte Fortsetzung der wahrhaftigen und umständlichen Nachricht von den Segens-Tropfen, Strömlein und Flüssen, So aus GOttes reicher Liebes-Quelle in das durch seine Hand vor Züllichow im Herzogthum Crossen A. 1719. den 12. Julii gestiftete Waysenhaus, In den 3. Jahren 1728. 1729. und 1730. nach und nach geflossen […]. Züllichau: Waisenhaus, 1731, 230–235; Klosterberg, Bibliographischer Nachweis [s. Anm. 11], 49–61, 74–83. 18   Johann Christian Steinbart: Zuverläßiger Bericht von der ietzigen Verfassung und Beschaffenheit der Schule des Waisenhauses zu Züllichow und der Kinder-Erziehung in demselben, welche sonderlich Kost-Kinder zu geniessen haben. Samt den Legibus und Ordnungen der Anstalten, und wohlgemeinten Erinnerungen an die lieben Eltern der Kostgänger, imgleichen einer summarischen Anzeige der Jährlichen Kosten […]. Züllichau: Waisenhaus, 1731, 9, 11, 13, 15, 61f.; Gotthelf Samuel Steinbart: Nachricht von den Veränderungen in den öffentlichen Erziehungsanstalten zu Züllichau von Michaelis 1794 bis Ostern 1795 nebst dem Lectionsplan für den bevorstehenden Sommer und der jetzigen Rangordnung der Scholaren aufgesetzt. Frankfurt/Oder: Apitz, [1795], 12.Vgl. dazu Klosterberg, Bibliographischer Nachweis [s. Anm. 11], 65–74. 19  Vgl. dazu den Aufsatz von Brigitte Klosterberg: Halle als Vorbild? Das Verlagsprofil der Buchhandlung des Waisenhauses zu Züllichau nach dem Katalog von 1740. In: PuN 45, 2019 [2021], 200–228. 20   Krystyn Matwijowski: Pietismus in Schlesien. Das Zentrum in Halle und sein Einfluß auf die Protestanten in Schlesien. In: Halle und Osteuropa. Zur europäischen Ausstrahlung des hallischen Pietismus. Hg. v. Johannes Wallmann u. Udo Sträter. Tübingen 1998, 231–241, hier 235–238. 21   Thomas Müller-Bahlke: „Weil Halle auch in dieser Gegend einigen gefährlich und verdächtig vorkommt“. Das Zusammenwirken von Adel und Pietismus bei der Gründung der Gnadenkirche in Teschen. In: „Mit Göttlicher Güte geadelt“. Adel und Hallescher Pietismus im Spiegel 17

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nischen Archiven und Bibliotheken lagern, die darüber hinaus Auskunft über den Besitz und damit die Leser hallischer Bücher in Züllichau und Schlesien geben können, wie es exemplarisch Kamila Szymańska für Büchersammlungen in Lissa (Leszno) nachgewiesen hat.22 In diesen Fällen kommen sowohl die Leser als auch ihre Lektüre in den Blick, eine selten überlieferte Kombination, die in Einzelfällen in der im Archiv der Franckeschen Stiftungen vorhandenen Korrespondenz, im Besonderen aber in den Verteilerlisten der Halleschen Berichte sichtbar wird.

2. Die Halleschen Berichte und ihre Verteilerlisten Die Halleschen Berichte informierten über die Missionsarbeit, die 1706 mit den von Halle entsandten Missionaren Bartholomäus Ziegenbalg (1682–1719) und Heinrich Plütschau (1677–1747) in Tranquebar (heute Tharangambadi), einem dänischen Handelsstützpunkt an der Südostküste Indiens, ihren Anfang genommen hat. Da das Missionsunternehmen von der dänischen Krone getragen, von dem Halleschen Waisenhaus betreut und von der Society for Promoting Christian Knowledge (SPCK) in London gefördert wurde, wird die Mission in Tranquebar als Dänisch-Hallesche Mission oder Dänisch-Englisch-Hallesche Mission bezeichnet.23 Die Aufgaben des Halleschen Waisenhauses bestanden primär darin, geeignete Kandidaten als Missionare nach Tranquebar zu entsenden, die Missionszeitschrift herauszugeben und ein über Brandenburg-Preußen hinausgehendes Unterstützer- und Spendernetzwerk aufzubauen. Insofern kam den Halleschen Berichten eine zentrale Funktion in der Missionsarbeit zu. Sie wurden seit 1710 halbjährlich von den jeweiligen Direktoren des Halleschen Waisenhauses herausgegeben und erschienen bis zum Jahr 1772 in 108 sog. Continuationen mit einem Gesamtumfang von ca. 17.500 Seiten.24 Zusätzlich wurden neun Sammelbände mit eigenem Titelblatt publiziert, die jeweils zwischen acht und zwölf Continuationen in unterschiedlichen Auflagen enthalder fürstlichen Sammlungen Stolberg-Wernigerode. Hg. v. Claus Veltmann [u. a.]. Halle 2015, 71–87, hier 74; vgl. auch Thomas Grunewald: „… [U]nd haben wir bey der hülffe, so [Gott] des Evangeli. Glaubens-genoßen in Schlesien zu erweisen angefangen, nur das state et videte in stiller Gelaßenheit zu practiciren gehabt“. August Hermann Francke, die pietistischen Grafen und die Konvention von Altranstädt. In: Halle i Sulechów [s. Anm. 8], 27–54. 22   Kamilla Szymańska: Dziela pietystów w księgozbiorach Leszna w XVIII Wieku (Pietistische Lektüre in Lissaer Büchersammlungen des 18. und 19. Jahrhunderts). In: Życie duchowe na ziemi wschowskiej i pograniczu wielkopolsko-śląskim. Hg. v. M. Małkus u. K. Szymańska. WschowaLeszno 2017, 433–445. 23  Vgl. beispielsweise Halle and the Beginning of Protestant Christianity in India. Hg. v. Andreas Gross [u. a.]. 3 Bde. Halle 2006. 24   Der Königl. dänischen Missionarien aus Ost-Indien eingesandte ausführliche Berichte von dem Werck ihres Amts unter den Heyden […].Theil 1–9. Halle:Waisenhaus, 1710–1772. http:// digital.francke-halle.de/mod7/ [letzter Zugriff: 7.01.2019].

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ten.25 An die Halleschen Berichte schloss die in der Folge erschienene Neuere Geschichte der evangelischen Missions-Anstalt zur Bekehrung der Heiden in Ostindien (sog. Neue Hallesche Berichte) von 1776 bis 1848 an. Die Missionare sandten Tageregister und Reisediarien, Briefe, Nachrichten und Berichte, Nachrufe, Illustrationen und Karten nach Halle, die dort redaktionell für die Publikation in den Halleschen Berichten überarbeitet wurden.26 Da die Halleschen Berichte nicht nur über das Missionsgeschehen, sondern auch in enzyklopädischer Breite über die Kultur und Gesellschaft, die Religion und die Bräuche, die Flora und Fauna Südostindiens unterrichteten, wurde die Zeitschrift über pietistisch gesinnte Kreise hinaus gelesen.27 Kein zeitgenössisches Medium dürfte so einen großen Einfluss auf das Indienbild der Europäer gehabt haben wie diese erste protestantische Missionszeitschrift. Übersetzungen einzelner Missionsberichte und von Werken der Missionare, besonders ins Englische, Französische und Niederländische, sowie Überblickswerke zur Geschichte der Dänisch-Halleschen Mission trugen darüber hinaus zur Popularisierung des Lesestoffes bei.28 Wie Ulrike Gleixner in einem derzeit laufenden Buchprojekt über die Spenderkreise der hallischen Indienmission herausgearbeitet hat, ist es das Verdienst Gotthilf August Franckes (1696–1769), die Versendung der Halleschen Berichte

25  Z. B. Sammelband 1: Der Königl. Dänischen Missionarien aus Ost=Indien eingesandter Ausführlichen Berichten Erster Theil / Von dem Werck ihres Amts unter den Heyden / angerichteten Schulen und Gemeinen, ereigneten Hindernissen und schweren Umständen; Beschaffenheit des Malabarischen Heydenthums, gepflogenen brieflicher Correspondentz und mündlichen Unterredungen mit selbigen Heyden; des einen Missionarii Heraus-Reise nach Europa, auch glücklichen Zurückkunft in Ost-Indien; und übrigen Merckwürdigkeiten, so von ihnen, seit ihrer Abreise nach Indien bis zum August des 1716ten Jahres, heraus geschrieben, und hier von Zeit zu Zeit in verschiedenen Fortsetzungen ediret sind;Vom Ersten ausführlichen Bericht an bis zu dessen zwölfter Continuation mitgetheilet. Nebst einem vollständigen Register. Halle: Waisenhaus, 1718. 26   Heike Liebau hat die Schriftstücke, die in den Halleschen Berichten vorkommen, nach Gattungen aufgelistet und vorgestellt in ihrem Aufsatz: Controlled Transparency: The „Hallesche Berichte“ and „Neue Hallesche Berichte“ between 1710 and 1848. In: Reporting Christian Missions in the Eighteenth Century. Communication, Culture of Knowledge and Regular Pub­ lication in a Cross-Confessional Perspective. Hg. v. Markus Friedrich u. Alexander Schunka. Wiesbaden 2017, 133–147. 27   Ulrike Gleixner: Expansive Frömmigkeit. Raum und Erfahrung im Netzwerk der hallischen Indienmission. In: „Aus Gottes Wort und eigener Erfahrung gezeiget“. Erfahrung – Glauben, Erkennen und Handeln im Pietismus. Hg. v. Christian Soboth u. Udo Sträter. Halle 2012, 851–861, hier 851, 857 dort mit weiterführender Literatur. 28   Einführend zu den Halleschen Berichten vgl. Heike Liebau: Die Halleschen Berichte. In: Geliebtes Europa // Ostindische Welt. 300 Jahre interkultureller Dialog im Spiegel der DänischHalleschen Mission. Hg. v. H. Liebau. Halle 2006, 97–101 und die Beiträge in: Missionsberichte aus Indien im 18. Jahrhundert. Ihre Bedeutung für die europäische Geistesgeschichte und ihr wissenschaftlicher Quellenwert für die Indienkunde. Hg. v. Michael Bergunder. Halle 1999, Halle 2 2004.

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Abb. 1. Eintrag zu Züllichau aus einer Verteilerliste der Halleschen Berichte und ihren Nachweis in Verteilerlisten systematisch organisiert und damit ein weitgespanntes Spendenkorrespondenznetz aufgebaut zu haben:29 In beständiger Kommunikation knüpfte er ein Netz, dessen Knotenpunkte durch Personen, Druckmedien und Briefe entstanden.Als mediale Verbindung fungiert die Missionszeitschrift, die Halleschen Berichte […]. Zudem wurden Tausende von Briefen von Francke und seinen Sekretären an Unterstützerinnen und Unterstützer ausgesandt und die Antworten in Halle sorgfältig archiviert.30

Im Archiv der Franckeschen Stiftungen sind die Verteiler- und Spenderlisten der Halleschen Berichte von 1730 bis 1785 überliefert. In den Listen werden die

29   Ulrike Gleixner: Expansive Frömmigkeit. Das hallische Netzwerk der Indienmission im 18. Jahrhundert. In: Mission und Forschung.Translokale Wissensproduktion zwischen Indien und Europa im 18. Jahrhundert. Hg. v. Heike Liebau. Halle 2010, 61. Das Buchprojekt von Ulrike Gleixner lautet „Das Pietistische Empire. Millenaristische Praktiken und Indienmission im 18. Jahrhundert“. Sie hat zahlreiche Aufsätze dazu veröffentlicht, die hier nicht alle aufgelistet werden. Konzeptionelle Überlegungen finden sich besonders in ihren folgenden Aufsätzen: Remapping the World: The Vision of a Protestant Empire in the Eighteenth Century. In: Migration and Religion. Christian Transatlantic Missions, Islamic Migration to Germany. Hg. v. Barbara Becker-Cantarino. Amsterdam, New York 2012, 77–90; dies.: Millenarian Practices and the Pietist Empire. In: Radicalism and Dissent in the World of Protestant Reform. Hg. v. Bridget Heal u. Anorthe Kremers. Göttingen 2017, 245–256. 30   Gleixner, Expansive Frömmigkeit. Raum und Erfahrung [s. Anm. 27], 851.

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Abb. 2. Auszug aus der Verteilerliste der 26. Continuation der Halleschen Berichte für Schlesien

Personen namentlich aufgeführt, die die Zeitschrift subskribiert und damit das Missionsunternehmen finanziell unterstützt haben. Das Ordnungskriterium in den Listen stellen aber nicht die Namen, sondern die alphabetisch aufgeführten Orte und Regionen dar, die als Stützpunkte des pietistischen Netzwerkes fungierten. Züllichau und Schlesien haben in diesen Listen eigene Einträge erhalten.

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Den Listen sind nicht nur die Namen der Empfänger und Empfängerinnen, sondern auch die Anzahl der an sie versandten Exemplare zu entnehmen sowie die Namen der Personen, die als Post- und Verteilerstelle vom Halleschen Waisenhaus direkt angeschrieben worden sind, wie im Folgenden noch zu zeigen sein wird. Die Personen, die verstorben, verzogen oder aus ihrer Wirkungsstätte vertrieben worden waren, wurden durchgestrichen. So erhielten beispielsweise die 1730 aus Teschen vertriebenen Pastoren Johann Adam Steinmetz (1689– 1762), Johann Muthmann (1685–1747) und Samuel Zasadiusz (1694–1756) noch die 24., nicht aber die 26. Continuation, in deren Verteilerliste ihre Namen durchgestrichen worden sind.31 Danach wurden sie dauerhaft aus dem Verteiler für Schlesien herausgenommen.

3. Die Empfänger und Verteiler der Halleschen Berichte Der Kreis der Abonnenten der Halleschen Berichte ging weit über das protestantische Deutschland hinaus bis nach Russland, Finnland, Livland, Nordböhmen, Dänemark, den Niederlanden, England, Italien und Österreich.32 Die von Halle ausgehende universale, christliche Erneuerungsbewegung war transnational und in gewisser Weise auch transkonfessionell angelegt und funktionierte jenseits nationaler und territorialer Grenzen.33 Nach den Untersuchungen von Ulrike Gleixner bezogen 1729 485, 1770 716 Subskribenten die Halleschen Berichte.34 Sie schätzt den Anteil der Leser und Leserinnen aber weit höher ein; auf eine Subskription dürften zehn und mehr Rezipienten, beispielsweise aus dem Familien-, Freundes-, Kollegen- oder Studentenkreis des Subskribenten, gekommen sein.35 Der Kreis der Subskribenten setzte sich vor allem aus den Standes- und Funktionseliten des Alten Reichs, aus Angehörigen des Klerus, des Adels und der Mittelschicht, zusammen, wobei der Anteil des Klerus deutlich überwog. Nach Gleixner ist um 1730 der Anteil der adligen Leserschaft, auch der adligen Damen, höher als um 1770, als vermehrt bürgerliche Kreise die Halleschen Berichte abonnierten,36 die wenigstens teilweise zum aufgeklärten Le-

31   Verzeichnüß wie die Continuationes derer ostindischen Missionsberichte versendet worden 1730. [Verteilerlisten der Halleschen Missionsberichte]. [Halle (Saale)] 1730[-1731]. AFSt/M 3 L 1, 5, 33. 32  Vgl. die von Kurt Liebau gestaltete Karte zu den Subskribenten der Halleschen Berichte im Jahr 1739 in: Liebau, Die Halleschen Berichte [s. Anm. 28], 100. 33   Gleixner, Expansive Frömmigkeit. Raum und Erfahrung [s. Anm. 27], 854; dies.: Millenarian Practices [s. Anm. 29], 250. 34  Vgl. die Säulendiagramme in Gleixner, Millenarian Practices [s. Anm. 29], 252. 35   Gleixner, Millenarian Practices [s. Anm. 29], 253. 36   Gleixner, Millenarian Practices [s. Anm. 29], 250–253. Zur Bedeutung adliger Damen als Unterstützerinnen der Indienmission vgl. auch Ulrike Gleixner: Fürstäbtissin, Patronage und protestantische Indienmission. Das Stiften sozialer Räume im „Reich Gottes“. In: Der Hof. Ort

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sepublikum der Zeit gerechnet werden dürfen.37 Dass deren Abnehmer nicht nur pietistisch gesinnte Unterstützer der Mission waren, sondern vornehmlich an der Kultur und Eigenart fremder Regionen und Völker Interessierte, veranschaulichen die vorhandenen, in Buntpapier eingeschlagenen Hefte der Neuen Halleschen Berichte in Johann Wolfgang von Goethes (1749–1832) Privatbibliothek in seinem Haus am Frauenplan in Weimar.38 Der Befund Gleixners korrespondiert mit dem Kreis der Leser und Leserinnen aus Züllichau und Schlesien.39 Von 1731 bis 1761 werden sieben Personen unter „Züllichau“ gelistet, davon fünf Theologen, ein Adliger und eine adlige Dame. Tabelle 1. V   erteilerlisten der Halleschen Berichte für Züllichau, 1731–1761 Name

Anzahl Nennungen

Anzahl Exemplare

Zeitraum

Steinbart, Johann Christian

6

7

1731–1761

Jancovius, Samuel

4

4

1737–1748

Lachmann, Joachim

3

3

1737–1746

Lauterbach, Johann

1

1

1746–1748

Appelt, Johann Christoph

1

1

1746–1748

Berein, Samuel

1

1

1743–1746

Derfflinger, Ursula Johanna von

1

1

1731–1733

Unruh, Christoph Siegmund

1

1 Paket

1743–1746

Von den Theologen hatten Johann Christian Steinbart, ab 1739 Direktor des Züllichauer Waisenhauses, Samuel Berein (1711–1750), der zwei Jahre lang im Auftrag des Halleschen Waisenhauses in London eingesetzt war, und Joachim Lachmann (1691–1750), seit 1728 Superintendent und Pfarrer in Züllichau, sowie der aus Züllichau gebürtige, aber in Fraustadt (Wschowa) eingesetzte Pfarrer Samuel Jancovius (1692–1759) in Halle studiert und gehörten zu dessen Netzwerk. Die Adlige Ursula Johanna von Derfflinger (1669–1740), kinderlose Witwe des preußischen Generalleutnants Friedrich von Derfflinger (1663–1724), bezog lediglich einmal die Missionsberichte, und verstand sich vorrangig als kulturellen Handelns von Frauen in der Frühen Neuzeit. Hg. v. Susanne Rode-Breymann u. Antje Tumat. Köln [u. a.] 2013, 157–176, hier 163f. 37   Gleixner, Expansive Frömmigkeit. Raum und Erfahrung [s. Anm. 27], 851. 38   Separatisten, Pietisten, Herrnhuter. Goethe und die Stillen im Lande. Hg. v. Paul Raabe. Halle/Saale 1999, 209. 39  Vgl. dazu ausführlich Klosterberg, Bibliographischer Nachweis [s. Anm. 11], 85–161. Dort werden die Einträge zu Züllichau und Schlesien in den Verteilerlisten der Halleschen Berichte transkribiert wiedergegeben und durch Biogramme der Empfänger und Empfängerinnen der Missionszeitschrift erschlossen.

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Mäzenin des Züllichauer Waisenhauses, das sie großzügig in ihrem Testament bedachte.40 Über Züllichau wurden Exemplare der Halleschen Berichte an befreundete Pastoren in nahe gelegene Orte des Königreichs Polen weitergeleitet, zum einen an den genannten Samuel Jancovius, der in Fraustadt die evangelische, deutschsprachige Gemeinde betreute,41 zum anderen an Johann Lauterbach (1692–1762), Pfarrer in Zduny. Die brieflichen Kontakte zwischen Halle und Züllichau blieben wegen der Indienmission bis in das 19. Jahrhundert bestehen, auch wenn ansonsten die Beziehungen im Laufe des 18. Jahrhunderts merklich abkühlten. Denn durch ein Vermächtnis des Ehepaars Piper zugunsten der Dänisch-Halleschen Mission im Jahr 175242 wurden noch lange Gelder aus diesem Legat regelmäßig von Züllichau nach Halle gesandt.43 Zu den Empfängern der Halleschen Berichte in Schlesien zählten etwa 60 Personen. Unter diesen Subskribenten finden sich ebenfalls zahlreiche Pfarrer, wie beispielsweise Johann George Heller (1703–1784), Pfarrer in Tepliwoda (Ciepłowody), oder Carl Heinrich Langer (1707–1783), Pfarrer in Medzibor (Międzybórz), die beide in Halle studiert hatten. Hinzu kommen Lehrer, wie beispielweise Daniel Gretcovius (1708-um 1772) in Pleß (Pszczyna), oder Kaufleute wie Anhard Adelung († 1745) und Sebastian Gottlob Bernhard in Breslau (Wrocław). Tabelle 2. V   erteilerlisten der Halleschen Berichte für Schlesien, 1730–1771: Adlige Subskribenten Name

Anzahl der Nennungen

Anzahl der Exemplare

Zeitraum

Bogatzky, Carl Heinrich von

7

15

1731–1743

Gfug und Foellendorf, Eleonore Charlotte von

5

18

1730–1743

Herren von Morawitzky

5

8

1730–1746

Kittlitz und Ottendorf, Georg Friedrich von

5

6

1737–1761

Herren Henckel von Donnersmarck

3

6

1730–1733

40   Carl Hinrichs: Preußentum und Pietismus. Der Pietismus in Brandenburg-Preußen als religiös-soziale Reformbewegung. Göttingen 1971, 341f.; Zaunstöck u. Grunewald, Im Netz des Waisenhauses [s. Anm. 8], passim. 41   Zu S. Jancovius vgl. Karsten Holste: Pobożne listy wschowy, Korespondencja wschowskiego Pastoria Samuela Jancoviusa Gotthilfem Augustem Francke o sytuacji parafii luterańskiej i pietyzmie w mieście (1732–1744). In: Życie duchowe na ziemi wschowskiej [s. Anm. 22], 353–374. 42  Testament von J.C. Piper u. L.S. Piper. Linde [1752]. AFSt/M 3 C 14: 4b-c. 43   Z. B. Brief von Gotthelf Samuel Steinbart an J.L. Schulze. Frankfurt/Oder, 15.11.1791.Vgl. die Akte: Verschiedene Schriftstücke, die Ablösung der von dem Pädagogium und Waisenhaus Züllichau zu zahlenden Gelder aus dem „Piperschen Legat“ zugunsten der Mission betreffend. Halle (Saale) 1875–1878. AFSt/M 3 E 10: 64.

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Der Anteil der Adligen ist überproportional hoch und korrespondiert mit der Bedeutung, die die Adligen für den Aufbau des hallischen Netzwerks in Schlesien gespielt haben. So bezogen beispielsweise Johann Ernst (1663–1743) und Wenzel Ludwig Henckel von Donnersmarck (1680–1734) in Oderberg (Bogumin), Johann Heinrich von Morawitzky (1685–1775) oder Georg Friedrich von Kittlitz und Ottendorf (1687–1763) regelmäßig die Halleschen Berichte. Unter den adligen Damen ist Eleonore Charlotte von Gfug und Foellendorf (1676–1739) hervorzuheben, die ab 1730 18 Exemplare der Zeitschrift bezogen hat und durch mehrfache persönliche Begegnungen mit August Hermann Francke in Halle zu den langjährigen pietistischen Unterstützerinnen Halles in Schlesien gezählt werden kann. Eine Sonderstellung nimmt Susanna Elisabeth von Marcklowsky (1692–1774) ein, deren Namenseintrag in der Verteilerliste der Halleschen Berichte von 1765 unter dem Eintrag für Schlesien durchgestrichen und mit dem Zusatz „vid. Wernigerode“ erscheint. Der Eintrag unter „Wernigerode“ listet sie und die Fürstin Luise Ferdinande von Anhalt-KöthenPleß (1744–1784) auf, deren Ehemann 1762 die Standesherrschaft Pleß in Schlesien als Schenkung erhalten hatte. Dieses Beispiel zeigt, wie kompliziert zuweilen für das Hallesche Waisenhaus die Zustellung der Halleschen Berichte war. Wahrscheinlich hielten sich die beiden adligen Damen häufig in Wernigerode auf, weil Fürstin Luise Ferdinande aus dem Haus Stolberg-Wernigerode stammte, und wurden deshalb über den Verteiler für Wernigerode und nicht für Schlesien mit den Halleschen Berichten bedient.44 Die Strategie der Waisenhausdirektion in Halle, Freunde des eigenen Netzwerks als „Postverteilungsstelle“ für weitere Interessenten und Unterstützer Halles einzusetzen, stellte einen wichtigen Baustein für die systematisch betriebene Netzwerkbildung dar.45 Zum Netzwerks Halles in Schlesien zählte der Königliche Kriegsrat und Kaufmann Anhard Adelung (†1745), der in Halle studiert hatte, beim Aufbau der Gnadenkirche in Teschen eine Rolle spielte und von 1712 bis zu seine Tode 1745 in Breslau wohnte. Dort hat er die Bücherpakete aus Halle angenommen und in Schlesien weiterverteilt46 und wurde in dieser Funktion von Sebastian Gottlob Bernhard abgelöst. In den Verteilerlisten wird mitgeteilt, wie die Bücher- bzw. Paketzustellung organisiert wurde. Dazu einige Zitate:

44   Missions-Register renovat. den 1ten Aug. 1765. [Verzeichnis der Empfänger der Halleschen Missionsberichte], [Halle (Saale)] 01.08.1765. AFSt/M 3 L 20, 27 u. 29. 45   Gleixner, Millenarian Practices [s. Anm. 29], 251. Dies hat auch Hermann Wellenreuther für Pennsylvania beobachtet, wo Heinrich Melchior Mühlenberg die Funktion einer „Postanmeldeund -verteilerstelle“ angenommen hat.Vgl. Hermann Wellenreuther: Heinrich Melchior Mühlenberg und die deutschen Lutheraner in Nordamerika, 1742–1787. Wissenstransfer und Wandel eines atlantischen zu einem amerikanischen Netzwerk. Münster 2013, 275. 46   Eduard Winter: Die Pflege der west- und südslavischen Sprachen in Halle im 18. Jahrhundert. Beiträge zur Geschichte des bürgerlichen Nationwerdens der west- und südslavischen Völker. Berlin 1954, 13f., 20f., 27f.; Matwijowski, Pietismus in Schlesien [s. Anm. 20], 239f.

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– „Schlesien. dahin werden 13 Exemplar gesendet an H. Adelung neml. 4 Stücke vor Fr. Gräfin Gfug, 1 [Stück] an die Hochgräfl. Herrschaft in Oderberg [usw., d.Vf.]“;47 – „1 Ex. an H. Dan. Gretcovius zu Pless, (stehet in einem Schul-Amte) abzugeben in Breßlau bey dem Buchhändler H. Meyer“.48 – „vid. der Brief an den H. Adlung. über diesen werden 2 exempl. dem iungen H. Bar. v. Kittlitz alhier bey dem H. Prof. Juncker logirend zugestellet. Des H. Adelungs paq. hat H. Zopf von Leipz. aus zu bestellen“.49 Aus dem letztgenannten Zitat geht hervor, dass Bücherpakete über den Messeplatz Leipzig zugestellt wurden, was auch für Züllichau belegt ist. Tabelle 3. V   erteiler der Halleschen Berichte in Schlesien Verteiler der Halleschen Berichte in Schlesien

Anzahl der verteilten Exemplare/Pakete

Adelung, Anhard

71 Ex.

Bernhard, Sebastian Gottlob

16 Ex.

Greupner, George

7 Ex.

Heller, Johann George Meyer, Johann Ernst

5 Ex. 4 Pakete + 5 Ex.

Die Postverteiler standen mit dem Halleschen Waisenhaus in direktem Briefkontakt und baten, neue Unterstützer in den Verteiler aufzunehmen.50 So bedankte sich Adelung in einem Brief an Gotthilf August Francke 1729 für die Zusendung der 25. Continuation der Halleschen Berichte und ersuchte, auch ein Exemplar an die Gräfin von Gfug und Foellendorf zu senden, die dann im Folgejahr 1730 erstmals die Missionszeitschrift erhalten hat und in der Verteilerliste geführt worden ist. In Einzelfällen wünschten Abonnenten, einer vertrauenswürdigen Person die Halleschen Berichte zuzusenden, und empfahlen diese der Waisenhausdirektion. Auf diese Weise wurde Johann Gottlieb Neldner (1717– 1758) in das Netzwerk aufgenommen, wie aus einem Brief von Gottfried Kellner an Francke hervorgeht: „Der H. M. Neldern ist ein Freund der Warheit, ein

47  Verzeichniß wie die Continuationes der Ost-Indischen Missions-Berichte zu versenden und zu distribuiren. [Verteilerlisten der Halleschen Missionsberichte]. [Halle (Saale)] [1737– 1739]. AFSt/M 3 L 13, Bl. 26v. 48   [Verzeichnis der Empfänger der Halleschen Missionsberichte]. [Halle (Saale)] 1746–1748. AFSt/M 3 L 16, 42. 49  Verzeichniß wie die 29. Continuation derer Ost-Indischen Missions Nachrichten versendet worden 1731. [Verteilerlisten der Halleschen Missionsberichte]. [Halle (Saale)] 1731–1733. AFSt/M 3 L 3, 23. 50   Z. B. Brief von A. Adelung an G.A. Francke. Breslau, 09.07.1729. Staatsbibliothek Berlin – Preußischer Kulturbesitz: Nachlass A.H. Francke 6,2/34: 94.

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gelehrter feiner Mann, und die Nachrichten aus Indien lieset er gerne“.51 Den Briefen ist auch zu entnehmen, wie schwierig es zuweilen für die Verteiler war, die Kontakte aktuell zu halten. So schrieb 1765 Sebastian Gottlob Bernhard aus Breslau: „Es ist mir unlängst Deroselben Hochwerthes nebst denen letzteren Missionsberichten richtig zu kommen, und sind Dieselben alle gehörigen Orthes distribuiret, biß auf 3. Stück welche in Zukunfft können zurückbleiben; als H. v. Kitlitz, ist gestorben; Frau von Walterin, wo H. Optiz in die Stelle getreten; und der Kauffman Fiebig, deßen Auffenthalt itzo gar nicht weiß; habe jedoch berührte 3. Stück an andere Christliche Gemüther vertheilet; […]“.52 Darauf wurde Georg Friedrich von Kittlitz und Ottendorf 1765 aus dem „MissionsRegister“ gestrichen.53 Und auch Daniel Gretcovius, seit 1742 Lehrer an der evangelischen Schule in Pleß, bat Francke, wie das bereits aufgeführte Zitat aus den Verteilerlisten belegt, die Berichte über Gewährsleute in Breslau zu senden: „Alles ist mir par Adresse Hn. Seb: Gottlob Bernhards, u. Bestellung des Buchhändlers H. Meiers mitten im Januario richtig worden“.54 Gretcovius bezog nicht nur die Halleschen Berichte, sondern auch die Pennsylvanischen Nachrichten, ein von der Waisenhausdirektion in Halle herausgegebenes Periodikum über den Aufbau lutherischer Gemeinden in Pennsylvania in der Neuen Welt.55 Es ist kein Einzelfall, dass Personen des hallischen Netzwerks mehrere pietistische Zeitschriften abonniert hatten. So erhielt beispielsweise Susanna Elisabeth von Marcklowsky neben den Halleschen Berichten auch die amerikanischen Nachrichten, die von Johann Heinrich Callenberg herausgegebenen Nachrichten über das Institutum Judaicum et Muhammedicum und die in Magdeburg und Leipzig herausgegebene Closter-Bergische Sammlung.56 Der Erstkontakt mit diesen Zeitschriften musste nicht unbedingt über Halle laufen, wie der Korrespondenz der Frau von Marcklowsky zu entnehmen ist, die nach eigenem Bekunden

51   Brief von G. Kellner an [G.A. Francke]. Berlin 20.07.1753. AFSt/M 3 H 43: 17. Vgl. dazu der Eintrag in den Verteilerlisten der Halleschen Berichte: „1 Ex. an H.M. Joh. Gottlieb Neldner, Prediger an der Heil. Dreyfaltigkeits-Kirche zu Breßlau, abzugeben im reichen Hospital, nebst 1 Ex. an H. Amtmann Gottfried Kellner, […]“.Verzeichnis der Empfänger der Halleschen Missionsberichte] [kein eigener Aktentitel]. [Halle (Saale)] 1746–1748. AFSt/M 3 L 16, 42. 52   Brief von S.G. Bernhard an [unbekannt]. Breslau 16.04.1765. AFSt/M 3 H 66: 76. 53   Missions-Register renovat. den 1ten Aug. 1765.Verzeichnis der Empfänger der Halleschen Missionsberichte. [Halle (Saale)] 01.08.1765. AFSt/M 3 L 20 54   Brief von D. Gretcovius an [G.A. Francke]. Pleß 01.03.1757. AFSt/M 3 H 50: 47. 55   Nachricht von einigen evangelischen Gemeinen in America, absonderlich in Pensylvanien. Halle: Waisenhaus, 1750–1787. 56   Johann Heinrich Callenberg: Bericht an einige Christliche Freunde von einem Versuch das arme Jüdische Volck zu Erkäntniß und Annehmung der Christlichen Wahrheit anzuleiten. Halle: Institutum Judaicum; Krottendorff, 1728–1744; vgl. dazu Lächele, Die Sammlung auserlesener Materien [s. Anm. 10], 90–94; Christoph Rymatzki: Hallischer Pietismus und Judenmission, Johann Heinrich Callenbergs Institutum Judaicum und dessen Freundeskreis (1728–1736). Tübingen 2004; Closter-Bergische Sammlung Nützlicher Materien Zur Erbauung im Wahren Christenthum. Magdeburg-Leipzig: Seidel, Scheidhauer, 1745–1761; vgl. Kopie eines Briefes von S.E. von Marcklowsky an C.H. von Bogatzky. Golassowitz 30.10.1755. AFSt/M 3 H 47: 100.

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zunächst über die Gräfin zu Oderberg, wahrscheinlich Anna Katharina Henckel von Donnersmarck (1679–1754), und den Baron von Kittlitz die Halleschen Berichte bezogen hat.Wie Ulrike Gleixner für die Indienmission und Alexander Pyrges für das Kolonialprojekt Ebenezer in Georgia beschrieben haben, bildeten also Personen des Halleschen Freundeskreises ihrerseits Netzwerke aus und trugen so zur „sekundären Zirkulation“ hallescher Periodika bei.57 Dazu zählte auch Samuel Jancovius, der bereits 1735 an Francke schrieb: „Auch habe ich von dero Güthigkeit die 35. und 36. Contin[uation] der Malabar[ischen] Nachrichten wohl empfangen; Welche in unserer Gegend bey wohl meinenden Gemüthern ein großes Auffmercken verursachen, ich hatte es einige Meilen in Schlesien zum durch lesen einigen gutten Freunden communiciret, bekam es aber mit beyliegenden versiegelten Papier zurück […]“.58 In den meisten Fällen beschränkte sich aber der Schriftverkehr der Abonnenten mit dem Halleschen Waisenhaus darauf, sich für die Zustellung der Halleschen Berichte zu bedanken und weitere Spendengelder zu übermitteln,59 sei es aus eigener Hand, sei es von dritten Personen, die für das Missionswerk gewonnen werden konnten. So sandte beispielsweise Johann Christian Steinbart 1742 mit seiner Weihnachtspost eine namhafte Spende für die Mission nach Halle: P.S. Vor etwa 16 Tagen reisete ein gewißer uns unbekanter Rittmeister von Schlichting hier durch, und nachdem er sich im Buchladen was gekauft, hinterließ er inliegende 2 Goldstücke für die Ost-Indische Mission, doch mit der Anzeige, es käme von iemand anders. Er selbst ist wahrhaftig ein recht gottseliger Herr, wie man bald wahrnehmen konte. Das liebe Christ-Kindlein sey gepriesen für diese Gabe!60

4.Wie wurden die Halleschen Berichte gelesen? Wie der Hausvater Steinbart Erbauungsbücher vorlesen ließ, wurden die Halleschen Berichte weniger im Stillen, sondern laut in Gemeinschaft vorgelesen. So bedankte sich Johann Lauterbach 1746 für die Zusendung einer Continuation der Halleschen Berichte, „[…] die wir unsers Orthes nicht ohne vielen Preiß des Göttl[ichen] Nahmens u. mit inniglicher Hertzens Freude über dem Fortgange des Werckes gelesen haben. Hier komt denn abermahl ein kleiner Beytrag von 4 Rth. Der Wohlthäter würde es gerne sehen, wenn dieselben an 2 Täuflinge, die Samuel und Rosina hießen, aufgetheilet werden könten“.61 Solche 57   Alexander Pyrges: Das Kolonialprojekt EbenEzer, Formen und Mechanismen protestantischer Expansion in der atlantischen Welt des 18. Jahrhunderts. Stuttgart 2015, 294–306. 58   Brief von S. Jancovius an [G.A. Francke]. Fraustadt 23.01.1735. AFSt/H C 312: 7. 59   Gleixner, Expansive Frömmigkeit. Raum und Erfahrung [s. Anm. 27], 851f., legt dar, dass etwa ein Drittel der Subskribenten auch zusätzlich etwas für die Mission spendete. 60   Z. B. Brief von J.C. Steinbart an [G.A. Francke]. Züllichau 22.12.1742. AFSt/M 3 H 22: 7. 61   Brief von J. Lauterbach an [G.A. Francke]. Zduny 12.04.1746. AFSt/M 3 H 28: 102.

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Abb. 3. Frontispiz mit dem Bildnis Aarons im 6. Sammelband der Halleschen Berichte zweckgebundenen Spenden tauchten häufiger auf und lassen mittelbar darauf schließen, dass die Halleschen Berichte mehr oder weniger aufmerksam gelesen wurden. So überwies Sebastian Gottlob Bernhard 1744 drei Spenden: eine von ihm selbst „vor das vorm Jahr mir aus gebethene Kind, Samuel oder Gottlob“,

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eine seiner Frau zugunsten des Landpredigers Diogo (1709–1781) sowie eine Spende seiner Kinder für arme notdürftige Kinder im Missionsgebiet. Im Jahr darauf sollte die Spende seiner Frau dem Landkatecheten Rayanayakkan (1700– 1771) zu gute kommen. Wenn Bernhard in einem Brief von 1748 innig wünschte, dass Gott „den Verlust seines treu gewesenen Knechtes Aarons“ ersetzen möge,62 ist das keineswegs ein Indiz für eine konzentrierte Lektüre, denn bereits das Titelblatt der 63. Continuation verrät, dass „der Lebens-Lauf des seligverstorbenen Land-Predigers Aaron“ in dieser abgedruckt wurde. Das Bildnis des Verstorbenen erschien dann als Frontispiz auf dem Titelblatt des sechsten Sammelbandes der Halleschen Berichte und zeigt Aaron (1698/99–1745), den ersten Tamilen, der durch die Mission bekehrt und 1733 zum Prediger ordiniert worden ist, als Lesenden mit der tamilischen, in Tranquebar übersetzten und gedruckten Bibel in der Hand.63 Anschaulich wurde über den Kupferstich vermittelt, dass Lesen zum verbindenden, grenzüberschreitenden, universalen Kennzeichen pietistischer Frömmigkeit gehörte. Wie wichtig indessen die Kupferstiche in der Missionszeitschrift für die Leser und Leserinnen waren, belegt der Wunsch der Gräfin von Marcklowsky: „Ich wüßte auch gern, was für ein Kupferbild dem 6ten Bande wird vorgesetzet werden“.64 Aus der Korrespondenz der Gräfin geht hervor, dass sie die Zeitschrift65 wie eine Fortsetzungsgeschichte gelesen hat: „[…] ach wie verlangt mich doch was wieder zu hören, von diesem und andern Gnaden Wercken. Auch ob Herr Kirnander [gemeint ist der Missionar Johann Zacharias Kiernander, d. Vf.] schon wieder in Cudelur?“66 Für die Gräfin waren unzweifelhaft der Missionsgedanke und der Glaube an die Evangelisation der sogenannten Heiden das Movens ihrer Lektüre.67 Ähnlich sah dies der Pfarrer Samuel Jancovius, der aber einen „anderen“ und in gewisser Weise vorkolonialen Blick auf

  Brief von S.G. Bernhard an [G.A. Francke]. Breslau 13.01.1748. AFSt/M 3 H 32: 27.   Frontispiz mit dem Bildnis von Aaron in: Der Koenigl. Daenischen Missionarien aus OstIndien eingesandter Ausfuehrlichen Berichten Sechster Theil,Von der LXI bis LXXIIsten Continuation: Darinnen die Fortsetzung des Missions-Wercks bis aufs Jahr 1749. umstaendlich beschrieben wird […]. Hg. v. Gotthilf August Francke. Halle:Waisenhaus, 1754.Vgl. zu den Abbildungen Aarons und seiner Biographie Daniel Cyranka u. Andreas Wenzel: „das eigentliche Portrait des seligen Aarons“ – Der indische Prediger Aaron (1698/99–1745) auf Bildern des 18. Jahrhunderts. In: PuN 35, 2009, 148–203. Der Kupferstich wurde von Gottfried August Gründler (1710–1775) gestochen, vgl. ebd., 185f., 201. 64   Kopie eines Briefes von S.E. v. Marcklowsky an C.H. von Bogatzky. Golassowitz 30.10.1755. AFSt/M 3 H 47: 100. 65   In einem Brief spielte sie beispielsweise direkt auf den Vorbericht Franckes zur 43. Continuation an: Brief von S. E. v. Marcklowsky an [G.A. Francke]. Golassowitz 18.12.1758. AFSt/M 3 H 54: 10. 66   Brief von S. E. v. Marcklowsky an [G.A. Francke]. Golassowitz 08.12.1761. AFSt/M 3 H 60: 9. 67   Brief von S. E. v. Marcklowsky an [G.A. Francke]. Golassowitz 18.12.1758. AFSt/M 3 H 54: 10: „Er [Gott] laße auch immer mehr und mehr durch den Gnaden Thau seines seligmachenden Evangelii die heydnischen Hertzen durchdrungen und fruchtbar gemacht werden“. 62 63

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die Tamilen warf, wenn er eine Stelle aus der 36. Continuation der Halleschen Berichte68 wie in einer Predigtmeditation deutete: Der Herr hat großes an den armen Heyden gethan, darüber sich alle, die die Ausbreitung des Reiches Jesu von Herzten wünschen, zu erfreuen Ursache haben. Einen großen Eindruck hat mir die Passage gegeben so p. 1286 seq.: Von der natürl[ichen] Billigkeit und Ehrbarkeit der Heyden zur Beschämung der sogenanten Xsten [Christen] recensiret wird: […] Ich glaubte, es würde eine große Erweckung geben, wenn gelegentlich von denen H[errn] Missionariis das natürlich Gutte und Ehrbare, so unter den blinden Heyden gefunden wird, remarquiret, und hier und dar unsern Nahmen-Christen zu Ihrer Beschämung […] unter die Nase gerieben würde: Man würde als dan offenbahr sehen, ob nicht manch natürl[icher] guter Ehrbarer Heyde nach seinem äußerl[ichen] Verhalten in seiner großen Blindtheit aus natürl[ichen] Kräfften mehr vermöge und würcklich thue, als mancher so genante Christ, der auffs Gutte nur Lästern und Schelten gelernet hat.69

Jancovius las die Halleschen Berichte wie zeitgenössische Exempla-Literatur: Das Verhalten der Heiden wird zum Exemplum für die Christen in Europa und damit zum Transmissionsriemen für die Erweckung und weitere Ausbreitung des Reiches Gottes. Als Subtext können Jancovius’ Aussagen aber auch als Kampfansage gegen die Vertreter der lutherischen Orthodoxie, vor allem in seinem unmittelbaren Umfeld in Fraustadt, gelesen werden. Damit festigten die Lektüre und der Bericht über den Fortschritt der Ausbreitung des Christentums im fernen Indien, wie es Ulrike Gleixner ausgedrückt hat, die „europäische protestantische Identität“.70 Viele Briefe im Spendernetzwerk der Indienmission schilderten die erbauliche und tröstende Wirkung bei der Lektüre der Halleschen Berichte. Insofern ähneln sich die Lesehaltung und -wirkung des Hausvaters Steinbart und seiner Familie und die der Leser und Leserinnen der Halleschen Berichte auf frappierende Art und Weise, wie noch einmal ein Zitat aus einem Brief der Gräfin von Marcklowsky belegt: „Ew. Hochwürd. haben mich mit der güttigen übersendung der 86. Cont. und dero vortrefflichen Schreiben gar ungemein erfreuet. Es kam wohl spätt aber doch richtig an. Es war mir doch diese Nachricht eine Glaubens Stärckung, davor ich dem treuen hocherbarmenden Gott von Hertzen dancke“.71 Kaum verwunderlich dürfte sein, dass sich auch die

68   „Dabey will ich ein Exempel von natürligkeit und Ehrbarkeit, damit diese Heyden manche falsch beschämen, anmercken“. In: Sechs und dreyßigste Continuation Des Berichts Der Koeniglichen Daenischen Mißionarien in Ost-Indien / Worin Das Tage-Register derselben Von der letzten Haelfte des 1732sten Jahres und einige Briefe enthalten […]. Hg. v. Gotthilf August Francke. Halle: Waisenhaus, 1734, 1286. 69   Brief von S. Jancovius an [G.A. Francke]. Fraustadt 23.01.1735. AFSt/H C 312: 7. 70   Gleixner, Expansive Frömmigkeit. Raum und Erfahrung [s. Anm. 27], 859. 71   Brief von S.E. v. Marcklowsky an [G.A. Francke]. Golassowitz 24.01.1761. AFSt/M 3 H 58: 30.

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Ausführungen des als Erbauungsschriftsteller reüssierenden schlesischen Adligen Carl Heinrich von Bogatzky (1690–1774) in einem Brief an Gotthilf August Francke von 1738 wie ein Auszug aus seiner Erbauungsliteratur lesen lassen: In der lezt überschickten 44sten Continuation wofür verbundenst dancke; hat mich manches hertzlich erfreuet und gestärcket, insonderheit aber ist mir am erfreulichsten gewesen daß ich an den 3 neuen Missionarien so ein rechtschaffenes Wesen, eine lebendige Erkäntniß Christi, eine innige aus Erbarmung u. liebe hinfließende Begierde Seelen zugewinnen, eine wahre Anmuth im Geiste und eine recht brüderliche Liebe untereinander wahrgenommen, bey welchen Stärken wenn sie auch noch nicht in so hohem Grad wären, man sich gewiß vielen Segen versprechen kan.72

Um den Kreis der Leserschaft und damit der „Erweckten“ zu erweitern, wurde ein Auszug der Missionszeitschrift ins Polnische übersetzt, wie Daniel Gretcovius Francke 1757 berichtete: Der junge Prediger unseres Orts hat einen kurtzen Begriff von dem Anfang und Fortgang der Ost-Indischen Mission in polnischer Sprache aufgesetzet, (wobey er sich vermuthl[ich] Hn. Niekamps Auszuges bedienet, auch die letztern zwey Continuationes von mir geliehen,) welchen er in der Christnacht beym Beschluß der Predigt vorgelesen. Es war mir und vielleicht auch andern solches gar erweckl[ich].73

Der Auszug aus den Halleschen Berichten wurde also feierlich im Weihnachtsgottesdienst in der Muttersprache vorgelesen, um möglichst viele Gläubige zu erreichen. Zusammenfassend ist festzustellen, dass die Halleschen Berichte wie Erbauungsliteratur gelesen und in den Kanon pietistischer Lektüre erhoben wurden, die den Kern pietistischer Gruppenidentität bildete.74

72   Brief von C.H. von Bogatzky an [G.A. Francke]. Breslau 03.12.1738. AFSt/M 3 H 9: 142. Zu Bogatzky als Erbauungsschriftsteller vgl. besonders Martin Brecht: Der Hallische Pietismus in der Mitte des 18. Jahrhunderts – seine Ausstrahlung und sein Niedergang. In: Geschichte des Pietismus. Bd. 2: Der Pietismus im achtzehnten Jahrhundert. Hg. v. M. Brecht. Göttingen 1995, 319–357, hier 326–328, 336, 346, 351, 354; Jörg-Ulrich Fechner: Carl Heinrich von Bogatzky (1690–1774). In: Interdisziplinäre Pietismusforschungen. Beiträge zum Ersten Internationalen Kongress für Pietismusforschung 2001. Hg. v. Udo Sträter. Tübingen 2005, 171–185. Zur Erbauungsliteratur im Pietismus vgl. z. B. Christian Soboth: Erbauungsliteratur. In: Pietismus Handbuch. Hg. v. Wolfgang Breul in Zs.arb. mit Thomas Hahn-Bruckart. Tübingen 2021, 435–446. 73   Brief von D. Gretcovius an [G.A. Francke]. Pleß 1.03.1757. AFSt/M 3 H 50: 47. Das Zitat spielt an auf J. L. Niecamp: Kurtzgefaßte Mißions-Geschichte Oder Historischer Auszug Der Evangelischen Mißions-Berichte aus Ost-Indien […]. Bd. I–II. Halle: Waisenhaus, 1740–1772. https://digital.francke-halle.de/fsaad/content/titleinfo/162129 [letzter Zugriff: 6.03.2019]. 74   Dieser Befund korrespondiert mit den Ausführungen von Lächele, Die Sammlung auserlesener Materien [s. Anm. 10], 285–287.

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5. Fazit und Ausblick Die im Archiv der Franckeschen Stiftungen überlieferten Verteilerlisten und Korrespondenzen zur Indienmission des Halleschen Waisenhauses gehören zu den wenigen Quellen, in denen die Leser und Leserinnen der Verlagserzeugnisse aus hallischer Produktion namentlich greifbar werden. Sowohl in Züllichau und Umgebung als auch im benachbarten Schlesien gab es aufmerksame Leser und Leserinnen der Missionszeitschrift. Für diesen Leserkreis war die Lektüre der Halleschen Berichte ein Mittel der Erbauung und Glaubensstärkung sowie ein Ausdruck der Teilhabe an der Reich-Gottes-Arbeit des Halleschen Waisenhauses. Erfolgte die Verteilung der Missionszeitschrift in das am äußeren Rande Brandenburg-Preußens liegende Züllichau durch direkten Briefkontakt und Versand, wurden die Leser und Leserinnen in Schlesien über Mittels- und Kontaktmänner, die als Postverteilungs- und Weiterleitungsstelle fungierten, mit den Halleschen Berichten bedient. Auf diese Weise organisierte das Hallesche Waisenhaus seine Netzwerke. Ob die Leser und Leserinnen über die Lektüre der Halleschen Berichte Informationen über Land und Leute, Brauchtum und Religion, Fauna und Flora beziehen wollten, lässt sich zumindest aus den im Archiv der Franckeschen Stiftungen überlieferten Korrespondenzen aus Züllichau und Schlesien nicht ausmachen. Für diesen Kreis standen der Missionsgedanke, die finanzielle Unterstützung der Mission und die glaubensstärkende Wirkung der Lektüre der Halleschen Berichte im Fokus ihres Interesses. Im Rahmen des dreieinhalbjährigen Projekts „Halle und Züllichau als Pietismus- und Bildungszentren“ wurden vorrangig die Büchertitel der Verlage aus Halle und Züllichau ermittelt und die Standorte in deutschen und polnischen Bibliotheken nachgewiesen. Damit wurde aber nur bedingt ein Indikator für die Verbreitung der Bücher gewonnen. Denn die Bücher, die in heutigen Bibliotheken nachzuweisen sind, verraten nur in einzelnen Fällen, etwa durch Marginalien oder Provenienzeinträge, wie sie im 18. Jahrhundert gebraucht wurden und durch wen sie in die Büchersammlung gekommen sind. Ungleich schwieriger war es, Quellen zu finden, die über die Distribution der Bücher, ihren Gebrauch und ihre Leser und Leserinnen Auskunft geben. Dieser Zugang wurde in dem von mir herausgegebenen Buch Bibliographischer Nachweis der Drucke des Waisenhausverlags zu Halle (1698–1806) in Sulechów (Züllichau) und Cieszyn (Teschen) erprobt, indem zeitgenössische Quellen aus Züllichau ausgewertet und die Verteilerlisten der Halleschen Berichte mit den Biogrammen der Leser und Leserinnen aus Züllichau und Schlesien präsentiert worden sind. Selbstverständlich ist damit keineswegs ein Anspruch auf Vollständigkeit verbunden. Weitgehend unbearbeitet sind die Bücherinventare in polnischen Bibliotheken und Archiven sowie die Verteilerlisten der Berichte des Institutum Judaicum et Muhammedicum. Dieses Institut zur Judenmission in Halle hatte einen eigenen Verlag mit Drucken in primär jiddischer, aber auch arabischer Sprache und verlegte eine eigene Zeitschrift. Gottlob Benjamin Frommann (um 1702–1741), der Züllichauer Verlagsbuchhändler, „nahm die Institutslitera-

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tur in seinen Buchladenkatalog auf und machte sie so nicht nur an der polnischen Grenze verstärkt bekannt, sondern verkaufte und verteilte auch Institutsberichte an Christen und Traktate an Juden“, wie der Korrespondenz und den überlieferten Verteilerlisten des Instituts zu entnehmen ist.75 Dies ist ein weiteres Beispiel für den Austausch von Büchern zwischen Halle und Züllichau im 18. Jahrhundert, dessen genauere Erforschung noch aussteht. Das gemeinsame Projektemachen zwischen der Universität Zielona Góra und den Franckeschen Stiftungen könnte also in die nächste Runde gehen und fortgesetzt werden.

  Rymatzki, Hallischer Pietismus und Judenmission [s. Anm. 56], 287 mit Anm. 119.

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Oliver Kruk

„der völlig und gänzl[iche] Ruin und Untergang der so weit und breit in gantz Europa bekannten Zunnerischen Handlung“? Ein buchhandelsgeschichtlicher Akteur um 1700 1. Einleitung Am 18. Januar 1711 erfuhr der Frankfurter Schutzjude1 Meyer Abraham Beer (Lebensdaten unbekannt), der sich wegen einer Geschäftsreise in Erlangen aufhielt, von der großen Brandkatastrophe am 14. des Monats in der Judengasse der hessischen Reichs- und Messestadt. Über den Nürnberger Postmeister war die Nachricht offenbar bekannt geworden. Am frühen Morgen des folgenden Tags suchte Beer deshalb das Postamt auf, um schnellstmöglich von den Entwicklungen in Frankfurt zu erfahren und womöglich Informationen über das Wohlbefinden seiner Familie zu erhalten. In einem Brief an seinen Frankfurter Geschäftspartner, den Buchhändler Johann Adam Jung (1675–1737), schilderte er am 20. Januar 1711 seine Perspektive der Geschehnisse: Alß vorgestern der H[err] Postmeister von Nürnberg die betrübte Zeitung2 anhero berichtet, bin sogleich mit herr Löw Menasses3 dahin gegangen undt alß gestern gantz frühe, da die franckfurther Post anlangte, die wahre beschaffenheit zu verneh-

1   Der Begriff des Schutzjuden fußt auf dem Rechtsprinzip des Judenschutzes, der vor dem 19. Jahrhundert in Verträgen zwischen jüdischen Personen oder Familien mit dem jeweiligen Landesherrn, hier dem Rat der Reichsstadt Frankfurt als Vertreter des Kaisers, festgehalten wurde. „Verbunden war damit das Recht zur Aufnahme, zur Besteuerung, aber auch zur Vertreibung von Juden.“ Vgl. Sabine Ullmann: Judenschutz. In: Historisches Lexikon Bayerns online. URL: http://www.historisches-lexikon-bayerns.de/Lexikon/Judenschutz [Stand: 27.04.2021]. 2   Hier im Sinne von Nachricht. 3   Löw Menasse, auch Löb Menasse zum goldenen Brunnen oder Löb Darmstädter, war Sohn des vermögenden Frankfurter Menasse Darmstädter, der den höchsten Steuersatz bezahlte. Menasses Vermögen belief sich bei seinem Tod im August 1719 auf Aktiva in Höhe von über 350.000 Gulden an, darunter eine Forderung von 24.000 Gulden gegen Jung. Vgl. Alexander Dietz: Stammbuch der Frankfurter Juden. Geschichtliche Mitteilungen über die Frankfurter jüdischen Familien von 1349–1849, nebst einem Plane der Judengasse. Frankfurt/Main 1907, 56. Er war wohl enger Partner Beers, die zwischenzeitlich auch gegeneinander prozessierten. Vgl. Andreas Gotzmann: Jüdische Autonomie in der Frühen Neuzeit. Recht und Gemeinschaft im deutschen

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men, wie es dann leider gezeiget, […] daß der große Gott seinen Zorn auff uns arme elendigen Judten ausgeschüttet, wo durch leider in solchen grosen schaden die gesambte gaße gesezet worden[.] wie Schmertzlich mir dises zu gemüthe gehet wirdt M[ein] h[err] wohlermeßen können.4

Ein Trost für den Händler war offenbar, dass seine Familie den Brand wohlbehalten überstanden hatte und endtlich mit der Göttlichen hülffe mein Armes Weib undt kindter an M[ein] h[err] ein solches beysprung gewesen, so mir gewißlich mein Gemüth dergestalt ermuntert, daß an keinen erlittenen Schadten fast gedencke.5

Sein Geschäftspartner Johann Adam Jung hatte – wie viele andere christliche Einwohner der Stadt während des Brandes – geholfen, die Familien und einen Teil der in den Häusern liegenden Güter in Sicherheit zu bringen. Dementsprechend hielt Beer sich mit seinen Gefühlen und seinem Dank nicht zurück: ich kann nun sagen, was ein freundt in der Noth ist, meine frau kann mir deß herrn hülffe durch ihren auch gestern erhaltenen bekümmerten briefe nicht genug rühmen, sehe dahero nicht, daß feder noch Mundt capable dafur zudancken.6

Auch in der Folgezeit stand der Frankfurter Buchhändler seinem Investor offenbar bei, ließ ihn und seine Familie einige Zeit bei sich wohnen und unterhielt die in Not geratene Familie. Im Jahr 1718 schilderte Jung rückblickend seine Unterstützung: alß die Judengasse durch das Zornfeuer Gottes in rauch auffgangen, da wir seine effecten mit größter lebens gefahr gerettet, dann es kann einen 16ten theil einer stunde gefehlen, daß mein handelsdiener nicht sein leben einbüßen müßen, gestalten dann auch Ich nebst 15 buchtrucker gesellen so ich mein geldt gedinget ihm zu hülffe kommen und seine Sach weiter retten helffen wollen, […] hab auch über dieses seine frau und kinder zu mir ins hauß genommen, über ein gantzes Jahr darin behalten, undt mein bier und was sonsten zuhauß vermogt ohne einiges Entgeldt hergegeben.7

Judentum. Göttingen 2008, 405. Es gibt Hinweise, dass Menasse u. a. Kredite an den Darmstädter Landgrafen Ernst Ludwig vergab. Hauptstaatsarchiv Darmstadt (HStAD), D 4 Nr. 349/2. 4   Institut für Stadtgeschichte, Frankfurt am Main (im weiteren ISG Ffm), Reichskammergericht (im weiteren RKG) 721, Beer gegen Zunner, Schreiben von Beer, Erlangen 20.01.1711, fol. 298r-298v. 5   ISG Ffm, RKG 721, Beer gegen Zunner, Schreiben von Beer, Erlangen 20.01.1711, fol. 298v. 6   ISG Ffm, RKG 721, Beer gegen Zunner, Schreiben von Beer, Erlangen 20.01.1711, fol. 298v. 7   ISG Ffm, RKG 721, Beer gegen Zunner,  Schreiben von Jung, Frankfurt am Main 23.04.1718, fol. 61r-61v.

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Die Aussagen zum Brand in der Frankfurter Judengasse skizzieren das Bild einer Freundschaft zwischen Geschäftspartnern, wie sie auch in anderen Quellen dieser Zeit belegt ist. Elieser Lippmann, Handelsgehilfe des Weinheimer Kaufmanns Mordechai Oppenheim, notierte: „Ich sah mit eigenen Augen die Wohltaten, die die Nichtjuden an den Juden verübten, sie beherbergten, ihnen halfen. Wir brauchten die Milde der Christen, denn wir haben gesündigt.“8 Dank eines Gerichtsprozesses, den beide Parteien 1718/19 nach mehr als 20jähriger Zusammenarbeit bis vor das Reichskammergericht führten, ist uns dieser Einblick in das persönliche Verhältnis jenseits der geschäftlichen Auseinandersetzung überliefert. Obwohl Jung und Beer sich also persönlich respektierten und auch in Notlagen beistanden, legten gerichtliche Auseinandersetzungen in den folgenden Jahren die geschäftlichen Differenzen der beiden offen. Die juristischen Streitigkeiten begannen mit einer Appellation, also einem Berufungsverfahren Meyer Abraham Beers am 6. April 1718 an der Frankfurter Schöffenreferier, einem der Obergerichte der Reichsstadt.9 Er klagte, „bey allen denen großen fatalitäten so mir seit a[nn]o 1695 bißhieher durch die Zunnerische zugewachsen, betrübet mich am meisten, daß da ich allezeit, so treu und auffrichtig mit Ihnen umbgangen, ich dennoch lauter Undanck davor noch täglich verspüren muß“.10 Grund für seinen Gang vor Gericht war, dass Jung die Schulden seiner Buchhandlung bei Beer, die sich auf etwa 33.000 Gulden beliefen, nicht zurückzahlte.11 Der Frankfurter Schutzjude sah darin ein „verfahren, wie es gegen treu und glauben läuffet, und mich desto mehr kräncket, weilen in der that verspühre, daß alle meine seither 20. Jahre gegen die Zunnerische gehabte gutheit vergeblich, ja gegen beßeres vermuthen mir höchst verderblich seye“.12

8   Im jüdischen Museum in Frankfurt wurde eine Beschreibung des Brandes in einem Kommentar zum Shulchan Aruch entdeckt. Chizkiyahu Da Silva: Pri Chadasch. Amsterdam 1692.Vgl. Sabine Kößling: Wer könnte es ertragen? In: Jüdisches Museum Frankfurt online. URL: https:// www.juedischesmuseum.de/blog/brand-judengasse-1711/ [Stand: 18.4.2021];Vgl. auch die Publikation des Rabbiners Samuel Schotten: Ein neues Klaglied über den großen Brand in der heiligen Gemeinde Frankfurt am Main, Lithografie um 1890, vermutlich basierend auf einem Druck 1711, Universitätsbibliothek Johann Christian Senckenberg Frankfurt am Main. 9   Erläuterungen zur Frankfurter Gerichtslandschaft finden sich bei Anja Amend-Traut: Wechselverbindlichkeiten vor dem Reichskammergericht. Praktiziertes Zivilrecht in der Frühen Neuzeit. Köln [u. a.] 2009, 48. Außerdem bei Robert Riemer: Frankfurt und Hamburg vor dem Reichskammergericht. Zwei Handels- und Handwerkszentren im Vergleich. Köln [u. a.] 2012, 101–103. 10   ISG Ffm, RKG 721, Beer gegen Zunner, Schreiben von Beer, Frankfurt am Main 6.04.1718, fol. 4r. 11   Innerhalb von drei Jahren hatte der Frankfurter Schutzjude eine Summe von 28.344 Gulden (an Kapital, Zinsen, Briefporto und Provision) bei Zunner zu fordern.Vgl. Alexander Dietz: Frankfurter Handelsgeschichte 3. Glashütten im Taunus 1970 [ND des Originals von 1921], 159–162. 12   ISG Ffm, RKG 721, Beer gegen Zunner, Schreiben von Beer, Frankfurt am Main 7.02.1718, fol. 2v.

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Beer investierte seit 1695 in die Buchhandlung, die zu diesem Zeitpunkt noch von Johann David Zunner (1641–1704) geführt wurde. 1703 wurde er aufgrund seines hohen finanziellen Engagements Miteigentümer des Unternehmens. Nach dem Tod Zunners im Jahr 1704 übernahm dessen Schwiegersohn Johann Adam Jung die Geschäftsführung. Offenbar endete auf seinen Wunsch hin die Zusammenarbeit mit Beer im Jahre 1708. Die Auflösung der gemeinsamen Handlungen sowie ein Rückzahlungsplan für Beers finanzielles Engagement wurden noch im selben Jahr schriftlich festgehalten.13 Allerdings konnten die Erben Zunners wohl spätestens seit 1712 die Fristen für die einzelne Raten nicht mehr einhalten, weshalb Beer vor Gericht klagte: „nichts desto weniger haben Sie [Zunners Erben] keiner eintzigen bedingung exacte nachgelebet […]. Ich sehe alßo, wann ich zu allem dießen unweßen länger stillschweigen wolte, meinen totalen ruin gewiß vor augen“.14 In der Folge eröffneten die Schöffen in der Reichsstadt den Prozess gegen die Buchhandlung. Der Kläger drängte auf Einsetzung eines Insolvenzverwalters, der die Geschäftsführung kontrollieren sollte.15 Jung hingegen wehrte sich in mehreren Schreiben gegen die Anschuldigungen des Frankfurter Juden und rückte insbesondere folgende Passage des Vergleichs aus dem Jahr 1714 in den Mittelpunkt:16 Verbindet sich Meyer Abraham Beer alle diejenige Wechselbrieffe, so die Zunnerische Erben, und herr Jung an ihn und auff seine Ordres außgestellet, und welche Zum theil verfallen sind, und zum theil noch lauffen, ihnen so gleich zu extradiren, und außzuhändigen […, sollte] er dieses sein Versprechen nicht erfüllen, […] Er als dann aller übrigen Terminen, und Anforderungen gäntzlich und auff einmahl verlustig seyn solle.17

Durch die Nichteinhaltung – so argumentierte der Buchhändler – seien die Forderungen Beers also nichtig.18 Dieser wiederum stellte die Wirksamkeit des Vergleichs aufgrund einer fehlenden Unterschrift infrage. Ein rechtsgültiges

13   Dietz, Handelsgeschichte [s. Anm. 11], 159–162. Außerdem Martin Gierl: Pietismus und Aufklärung. Theologische Polemik und die Kommunikationsreform der Wissenschaft am Ende des 17. Jahrhunderts. Göttingen 1997, 345f. 14  ISG Ffm, RKG 721, Beer gegen Zunner, Schreiben von Beer, Frankfurt am Main 06.04.1718, fol. 5v. 15   Beer forderte unter anderem, dass man Jung „keine freye hände mehr laße“. ISG Ffm, RKG 721, Beer gegen Zunner, Schreiben von Beer, Frankfurt am Main 6.04.1718, fol. 10r. 16  Vgl. ISG Ffm, RKG 721, Beer gegen Zunner, Schreiben von Jung, Frankfurt am Main 11.04.1718, fol. 16v-19v und ISG Ffm, RKG 721, Beer gegen Zunner, Schreiben von Jung, Frankfurt am Main 13.04.1718, fol. 23v-32v. 17   ISG Ffm, RKG 721, Beer gegen Zunner,Vergleich, Frankfurt am Main 22.11.1714, unfoliert. 18  ISG Ffm, RKG 721, Beer gegen Zunner, Schreiben von Jung, Frankfurt am Main 23.04.1718, fol. 53v-56r.

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Dokument sei „gleich niemahls zum stand noch zur behörigen ausfertigung gekommen“.19 In erster Instanz urteilte die Frankfurter Schöffenreferier zugunsten Jungs: In Sachen Meyer Abraham Beers hiesigen SchutzJudtens Klägers contra die Zunnerische Erben undt Joh[ann] Adam Jungen beklagten wirdt nach verlesung derer bey denen angeordneten Schöffen Deputationen gehaltenen Protocollen erkannt daß die beide Vergleich von Anno 1708 et 1714 vor gültig zu erklären undt die liquidation von denen Partheyen darnach vorzunehmen seye.20

Erst nach der Appellation an das Reichskammergericht konnte Beer seine Forderungen durchsetzen. Die Juristen in Wetzlar rügten das Urteil der Vorinstanz und gestanden dem Schutzjuden nahezu die volle Summe von 33.000 Gulden und die Einsetzung eines Insolvenzverwalters zu. Infolgedessen wurde auch ein neuer Auszahlungsplan verhandelt und notariell bestätigt.21 Das gesamte Verfahren ist im Institut für Stadtgeschichte in Frankfurt am Main überliefert. Es beinhaltet nicht nur die schriftlichen Stellungnahmen beider Parteien sowohl vor der Schöffenreferier als auch vor dem Reichskammergericht. Vielmehr sammelten die Juristen in Wetzlar auch Abschriften zweier Vergleiche von 1708 und 1714 sowie Dokumente zu Jungs Unternehmen, darunter ein Inventar von 1711, mehrere Soll-Haben-Aufstellungen und Rechnungen. Besonders interessant für die Rekonstruktion der Buchhandelsgeschäfte sind außerdem eine Ausgabenübersicht für die Jahre 1719 bis 1722 sowie eine Liste verkaufter Bücher aus dem Jahr 1718. Dadurch ist es möglich einen Blick über die Prozessgeschichte hinaus zu werfen und wichtige sozial- und kulturgeschichtliche Aspekte der Zunnerischen Buchhandlung um die Wende zum 18. Jahrhundert zu rekonstruieren. Über diesen mikrohistorischen Zugang sollen Merkmale des Buchhandels um 1700 sowie seiner Akteure herausgearbeitet werden, die in der „großen“ Buchhandelsgeschichte kaum Raum finden oder schlichtweg nicht wahrgenommen werden. Trotz ihrer Relevanz für den allgemeinen Buchmarkt der Zeit wurde die Zunnerische Buchhandlung bisher vor allem von der Pietismusforschung als

19  ISG Ffm, RKG 721, Beer gegen Zunner, Schreiben von Beer, Frankfurt am Main 25.04.1718, fol. 74v. 20   ISG Ffm, RKG 721, Beer gegen Zunner, Beschluss, Frankfurt am Main 1.06.1718, fol. 233v. 21   Das endgültige Urteil ist in den vorliegenden Akten (es handelt sich um einen Protokollband) nicht enthalten – Urteile wurden in einem separaten Urteilsband festgehalten. Es findet sich jedoch auch bei Inge Kaltwasser: Inventar der Akten des Reichskammergerichts 1495–1806. Frankfurter Bestand. Frankfurt/Main 2000, 538. Erste Gründe für die spätere Urteilsbegründung hielt das RKG wohl schon 1720 fest: ISG Ffm, RKG 721, Beer gegen Zunner, Species Facts, Wetzlar o.D., unfoliert. Der Auszahlungsplan findet sich in einem Vergleich, der auch die Aufgaben eines Insolvenzverwalters festhielt. ISG Ffm, RKG 721, Beer gegen Zunner, Vergleich, Frankfurt am Main 09.04.1720, unfoliiert.

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„Stammverleger“22 Philipp Jakob Speners (1635–1705) und anderer Autoren wahrgenommen. Martin Gierls Pietismus und Aufklärung23 widmet sich Teilen der Unternehmensgeschichte sowie der Rolle Zunners für den pietistischen Buchmarkt. Arbeiten über andere zeitgenössische Theologen behandeln Zunner zudem am Rande.24 Erwähnt wird das Unternehmen auch bei Alexander Dietz, der sich in seiner Frankfurter Handelsgeschichte25 mit der Kooperation zwischen Beer und dem Buchhändler auseinandersetzte. Der frühneuzeitliche Begriff der Buchhandlung umfasst die Sortimentsbuchhandlung, den Verlag und in vielen Fällen auch die Druckerei.26 Zunner bzw. Jung verlegten und druckten selbst, während man ein breiteres Sortiment in ihrem Laden oder ihrem Stand auf einer der Buchmessen kaufen konnte. Im Folgenden soll 1. ein kurzer Abriss der Unternehmensgeschichte, die eng mit den familiären Beziehungen der Zunners in Verbindung steht, skizziert werden. Im Anschluss werden 2. die wirtschaftlichen Probleme Johann Adam Jungs, die im bereits angerissenen Reichskammergerichtsprozess zutage traten, tiefer beleuchtet. 3. Gibt die Reise Jungs auf die Leipziger Buchmesse im Jahr 1720 Anlass, sich mit der Bedeutung dieses bedeutenden Phänomens, dem halbjährigen Treffen der Branche, auseinanderzusetzen. Abschließend werden 4. die wirtschaftlichen Beziehungen der Buchhändler analysiert. Ziel ist es, den Blickwinkel eines Akteurs auf seine Branche bzw. seine eigene Arbeit auch auf ganz individueller Ebene zu begreifen und den Mehrwert einer solchen mikrohistorischen Studie aufzuzeigen.

2. Das Zunnerische Familienunternehmen Johann Adam Jung und Anna Regina Zunner27 gaben ihrem erstgeborenen Sohn den Namen seines Großvaters Johann David.28 Aus der Rückschau wirkt

  Philipp Jakob Spener: Einführung zum eigenhändigen Lebenslauf. In: Die Werke Philipp Jakob Speners (Studienausgabe I, Teil 1). Gießen 1996, 8. 23   Gierl, Pietismus und Aufklärung [s. Anm. 13]. Auf den Seiten 345 bis 352 finden sich einige Informationen zu Zunner. Andere Autoren sowie grundsätzliche Beobachtungen über den „Streit um den literarischen Markt“ (344) finden sich auf den Seiten 344 bis 379. 24   Andreas Deppermann: Johann Jakob Schütz und die Anfänge des Pietismus. Tübingen 2002, 336–351; Volker Keding: Theologia experimentalis. Die Erfahrungstheologie beim späten Gottfried Arnold. Münster 2001, 74f. 25   Dietz, Handelsgeschichte [s. Anm. 11]. 26   Julia Bangert: Buchhandelssystem und Wissensraum in der Frühen Neuzeit. Berlin [u. a.] 2019. Bangert beschreibt darin eine „buchhändlerische ‚Berufsmischung‘ bis ins 18. Jahrhundert [als] typisch.“ 27  Wie für viele Personen aus dem Umfeld des frühneuzeitlichen Buchhandels sind die genauen Lebensdaten für Anna Regina Zunner nicht ausfindig zu machen. 28   David L. Paisey: Deutsche Buchdrucker, Buchhändler und Verleger 1701–1750. Wiesbaden 1988, 126. 22

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der Name bedeutungsvoll und emotional aufgeladen, schließlich „erbten“ Anna Regina und Johann Adam Jung die Buchhandlung nicht nur von ihrem Vater bzw. Schwiegervater Johann David Zunner, sondern auch der Großvater, der ursprüngliche Namensgeber der Zunnerischen Buchhandlung, trug bereits denselben Namen. Mit der Weitergabe des Namens sollte offenbar die familiäre Kontinuität betont werden. Johann David Zunner der Ältere (1610–1653) wuchs als Sohn des Rektors der Sebaldschule in Nürnberg, Johann Zunner, auf und hatte u. a. für einen Amsterdamer Verleger gearbeitet. Seine Heirat mit Maria Margaretha Schmidt im Jahr 1640 eröffnete für ihn wenig später die Möglichkeit, die Buchhandlung ihres Vaters Bartholomäus (oder Barthel) Schmidt zu übernehmen. Bereits 1653 ertrank er während einer Geschäftsreise. Seine Frau führte das Geschäft weiter,29 bis der gemeinsame Sohn Johann David Zunner (der Jüngere) 1665 das Unternehmen übernehmen konnte.30 Der ältere Zunner hatte bei seinem Tod erhebliche Schulden hinterlassen.31 Trotz der finanziell schwierigen Lage gelang es dem jüngeren Zunner die Bedeutung des Betriebes deutlich zu steigern, indem er sich in den 1680ern durch die Veröffentlichung wissenschaftlicher und theologischer Werke innerhalb der Branche einen Namen machte. Um ihn hatte sich ein Kreis von Gönnern gebildet, die z.T. aus dem Umfeld der jüdischen Gelehrtenschule Frankfurts kamen und vor allem die Produktion von wissenschaftlichen Werken förderten. Hierzu gehörte u. a. das Werk des Orientalisten und Begründers der Äthiopistik Hiob Ludolf (1624–1704), dessen Lexikon des Amharischen32 sowie die als Überblick über das „jährliche Weltgeschehen“ konzipierte Schaubühne.33 Ein weiteres Standbein von Zunners Verlagssortiment war der Bereich der religiösen Literatur, deren Angebot er nach einer gerichtlichen Auseinandersetzung mit seinem ehemaligen Partner, dem Frankfurter Drucker Christoph

  Lexikon des gesamten Buchwesens VIII. Stuttgart 2014, 420.   Zur Unternehmensgeschichte unter Barthel Schmidt und Johann David Zunner dem Älteren vgl. Gierl, Pietismus und Aufklärung [s. Anm. 13], 345f.; Dietz, Handelsgeschichte [s. Anm. 11], 161 sowie Johannes Wallmann: Philipp Jakob Spener und die Anfänge des Pietismus. Tübingen 1986, 202. 31   Lexikon des gesamten Buchwesens VIII [s. Anm. 29], 420. 32   Hiob Ludolf: Lexicon Amharico-Latinum. Frankfurt/Main: Zunner, 1698. 33   Hiob Ludolf: Allgemeine Schau-Bühne der Welt / Oder: Beschreibung der vornehmsten Welt-Geschichte / So sich vom Anfang dieses Siebenzehenden Jahr-Hunderts Biß zum Ende desselben / In allen Theilen des Erd-Kreisses / zumahlen in der Christenheit / Sonderlich in unserm Vatterland Dem Römischen Reiche / Nach und nach begeben; Aus beglaubten Geschicht-Schreibern und bewährten Uhrkunden treulich zusammen getragen / auch Zu deß Lesers besserm Unterricht Mit verschiedenen Politischen Anmerckungen erläutert; ingleichen Mit vielen schönen Kupffer-Figuren / auch grosser Potentaten und Herren Bildnüssen gezieret; Nicht weniger mit gnugsamen Summarien / Marginalien / und einem vollständigen Register versehen; von einem Mit-Glied des Collegii Imperialis Historici. Frankfurt/Main: Zunner, 1699. Der zweite Teil der Allgemeinen Schau-Bühne erschien 1701, der dritte 1713, der vierte und fünfte 1718. 29 30

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Wust, ausbauen konnte. In der Folge stieg er kurz vor der Jahrhundertwende zum wohl größten deutschen Bibelverleger auf.34 Zu den Werken, die Zunner von Wust für sein Sortiment übernahm, gehörte u. a. die hebräische Bibel des evangelischen Theologen und Orientalisten David Clodius (1644–1684).35 Förderlich für sein Geschäft war insbesondere sein enger Kontakt zu Philipp Jakob Spener, Prediger in der Frankfurter Barfüßerkirche von 1666 bis 1686, die nur wenige Gehminuten von der Buchgasse entfernt war.36 Spätestens seit den 1670ern verband den Verleger und den Theologen eine enge Beziehung, die sich auch in der Buchproduktion widerspiegelte. Spener ließ eine Vielzahl seiner Schriften, darunter seine bekannteste Schrift Pia Desideria oder Herzliches Verlangen nach gottgefälliger Besserung der wahren evangelischen Kirche bei Zunner verlegen.37 Es überrascht also nicht, wenn Martin Gierl feststellt, dass die beiden „eine mehr als 30jährige Freundschaft verbunden“ habe.38 Über diesen bedeutenden Vertreter des Pietismus lernte der Frankfurter Buchhändler wohl auch weitere Theologen kennen, deren Werke er verlegen und vertreiben konnte: Johann Christoph Holtzhausen (1640–1695), ein „Haupthelfer Speners“,39 veröffentlichte mindestens sieben Texte bei Zunner.40 Mit Balthasar Köpke (1646– 1711) gab „ein mit Spener verbundener und von Spener in seiner Richtung bestimmter Theolog“41 mindestens fünf seiner Schriften in der Zunnerischen Buchhandlung heraus. Auch diverse Schriften des Radikalpietisten Johann Wil-

34   Christoph Reske: Die Buchdrucker des 16. und 17. Jahrhunderts im deutschen Sprachgebiet. Wiesbaden 2007, 259; außerdem Dietz, Handelsgeschichte [s. Anm. 11], 156–162. 35  Ursprünglich David Clodius: Biblia Testamenti Veteris: Idiomate authentico expressa,Versibus, Capitibus & Parschajoth sive Sectionibus interstincta, Masoretarum Kri, Ktif & quae sunt ejus generis notis. Frankfurt/Main: Wust, 1677. 36   Einführend zu Spener: Hoffnung besserer Zeiten. Philipp Jakob Spener (1635–1705) und die Geschichte des Pietismus. Hg. v. Veronika Albrecht-Birkner. Halle 2005. Zu seiner Zeit in Frankfurt außerdem Marina Stalljohann-Schemme: Stadt und Stadtbild in der Frühen Neuzeit. Frankfurt am Main als kulturelles Zentrum im publizistischen Diskurs. Berlin [u. a.] 2017, 123f. 37   Dazu gibt es eine neuere Edition von 2019. Philipp Jakob Spener: Pia Desideria. Hg. v. Kurt Aland. [31964]. Berlin 2019 [edierte digitale Neuauflage des Originals von 1675]. 38   Gierl, Pietismus und Aufklärung [s. Anm. 13], 348. 39   Martin Schmidt: Art. „Holtzhausen, Johann Christoph“. In: NDB 9, 1972, 559. OnlineVersion verfügbar unter:https://www.deutsche-biographie.de/pnd123353416.html#ndbcontent [Stand: 31.03.2021]. 40   Zu seinen Veröffentlichungen bei Zunner zählen die Ablehnung des Offensiv-Cartells (1695), die Evangelische Lehre der Lutherischen Kirchen (1691), der Capistratus Bohmicolarum Rabula (1692), der Teutsche Anti-Barclaius (1691), die Lehr-Stück Christlicher Religion (1689) und die Haupt-Lehre christlicher Religion (1687) sowie Die nöthige und nützliche Lehre von Gottes Wesen Und Eigenschafften (1685). Alle: Frankfurt/Main: Zunner. 41   Ernst Köpke: Art. „Köpke, Balthasar“. In: ADB 16, 1882, 663–667. Online-Version verfügbar unter: https://www.deutsche-biographie.de/pnd128425555.html#adbcontent [Stand: 31.03. 2021]. Seine bei Zunner erschienen Werke umfassen mehrere Bände von Quatuor Colloquia De Ataxia Vitae Parochalis (alle 1691) sowie die Praxis Catechetica (1691–1697) in mehreren Bänden. Beides: Frankfurt /Main: Zunner.

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helm Petersen (1649–1727) erschienen dort. Dieser stand seit 1672 im Briefkontakt mit Spener.42 Buchhandel und Verlag waren sehr kapitalintensiv. Daher war Zunner für die Produktion aufwendiger Werke auf Investoren wie Meyer Abraham Beer angewiesen. Die Summe von dessen Einlagen, die seit 1695 notwendig waren und spätestens 1703 offenbar nicht mehr bedient, d. h. zurückgezahlt werden konnten, nötigte den Buchhändler zur Beteiligung des Frankfurter Schutzjuden in der eigens gegründeten Buchhandelssozietät. Alexander Dietz, der Verfasser einer umfangreichen Handelsgeschichte der Reichstadt und einer Geschichte der dortigen Juden, bilanzierte, dass „durch dieses denkwürdige Abkommen […] zum erstenmal ein Jude Teilhaber einer großen christlichen Handlung geworden“ sei.43 Sein Partner Johann David Zunner starb bereits ein Jahr nach Gründung der Sozietät und hinterließ nachweislich zwei Töchter, Maria Margret und Anna Regina. Letztere war mit Johann Adam Jung verheiratet. Als Schwiegersohn, der selbst eine Ausbildung bei einem Buchhändler durchlaufen hatte, war er der logische Nachfolger als Geschäftsführer des Unternehmens.44 Deshalb setzte ihn Johann David Zunner bereits ab 1700 als Leiter der Universitätsbuchhandlung der Alten Duisburger Universität (1654–1818) ein.45 Dies diente offenbar der Einarbeitung und dem Sammeln von Erfahrungen in der Branche, was Jung auf seine Aufgabe in der Buchhandlung vorbereitete. 1708 löste er die Buchhandelssozietät mit Beer auf und führte in der Folge zwei Prozesse gegen den ehemaligen Partner.46 Er behielt die Ausrichtung, einen Großteil der wirtschaftlichen Kontakte und sogar den Namen bei. Die Handlung firmierte nun unter „Johann David Zunner selig Erben“ und erweiterte das Sortiment um alltäglich-chronikale Schriften.47

42   Markus Matthias: Art. „Petersen, Johann Wilhelm“. In: NDB 20, 2001, 256f. Online-Version verfügbar unter: https://www.deutsche-biographie.de/pnd119129779.html#ndbcontent [Stand: 31.03.2021]. Darunter Der Geist Des Wider-Christs (1699), Der Geist des Ismaels (1697), Die Harmonie der Gesichter der Heiligen Offenbarung (1697), die Offenbahrung der Warheit (1696), die Rettung der Worte Christi (1696) sowie sein klarer Beweiß, daß das Reich Christi noch fest stehe (1696). Alle: Frankfurt/Main: Zunner. 43   Dietz, Handelsgeschichte [s. Anm. 11], 161. 44  Vgl. zur Nachfolge Zunners Paisey, Buchdrucker [s. Anm. 28], 126, 297. 45   Paisey, Buchdrucker [s. Anm. 28], 126. 46   Kaltwasser, Inventar [s. Anm. 21], 537. Neben dem bereits kurz skizzierten Prozess der Jahre 1718 bis 1726 kam es 1729 erneut zu einem Rechtsstreit zwischen Jung/den Erben Zunners und Beer, der jedoch schnell mit einem Vergleich aufgelöst wurde. Vgl. einführend ebd., 1104. Die Akten befinden sich im ISG Ffm, RKG 1633. 47   Hierzu gehört zum Beispiel eine Beschreibung der Krönung Kaiser Karls VI. in Frankfurt 1711; o.A.: Vollständiges Diarium, alles dessen, Was vor, in und nach denen […] Wahl- und Crönungs-Solennitäten Des […] Herrn Caroli des VI […] in Franckfurth […] passiret ist. Frankfurt: Jung 1712.

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Als Johann Adam Jung 1737 starb, hatte er den Betrieb nach 28 Jahren als dessen Leiter bereits an seinen Sohn weitergegeben.48 So stand erneut ein Johann David an der Spitze der Buchhandlung, die ihr Sortiment teilweise umstrukturierte und um tagesaktuelle Nachrichten und Periodika erweiterte. Der junge Jung gab mit den „ordentliche[n] wochentliche[n] Franckfurter Fragund Anzeigungs-Nachrichten“49 ein „Intelligenzblatt“, also ein amtliches Mitteilungsblatt, heraus, das mehrmals wöchentlich erschien.50 Nach dem Tod Jungs übernahm vermutlich zuerst dessen Frau die Geschäfte der Buchhandlung. Nachdem auch sie 1787 gestorben war, gingen der Verlag und das Intelligenzblatt auf Markus Johann Nebbien (1755–1836) über, der Jungs Tochter Anna Maria (gest. 1787) 1783 geheiratet hatte und somit Nachfolger im Medienunternehmen wurde, das er ab 1793 führte.51 Anders als große Verlage heute, die sich in vielen Fällen verselbstständigt und institutionalisiert haben, ist ein zentrales sozialgeschichtliches Merkmal der Zunnerischen Buchhandlung ganz offenbar die Zuschreibung als „Familienunternehmen“. Funktionsweise und Struktur eines solchen Betriebs sind kaum zu verstehen, ohne die Form personeller Kontinuität durch intergenerationelle Weitergabe zu berücksichtigen.52 Ziel war, dass das Unternehmen innerhalb der Familie blieb. Die Motive dafür dürften auf der Hand liegen: Zunner ermöglichte seinen Töchtern (und seinem Schwiegersohn) ein finanzielles Auskommen.Womöglich spielte auch die Fortführung seines „Lebenswerks“ eine wichtige Rolle dafür, dass er die Kontinuität seines Unternehmens garantieren wollte. Jung hingegen konnte gewissermaßen eine Abkürzung auf der Karriereleiter nehmen: Anstatt sich mit einem eigenen Betrieb erst einen Namen machen zu müssen oder in den Diensten eines Andern zu arbeiten, konnte er auf einen renommierten Namen bauen.53 Dass ihm die eheliche Gütergemeinschaft mit Zunners Tochter (und Erbin!) Anna Regina die Übernahme rechtlich erleichterte, dürfte ein angenehmer Nebeneffekt gewesen sein.54 Die Vorteile 48   Inge Kaltwassers Vermutung, dass die Geschichte des Betriebs 1736 mit einem Konkurs Johann Adam Jungs endete, lässt sich nicht verifizieren. Kaltwasser, Inventar [s. Anm. 21], 538. 49   Hier sei exemplarisch genannt [anonym:] Ordentliche wochentliche Franckfurter Frag- und Anzeigungs-Nachrichten. Frankfurt/Main: Jung [04.06.]1754. 50  Vgl. Paisey, Buchdrucker [s.Anm. 28], 126.Außerdem zu Johann David Jung Joachim Schnürle: Tersteegens Übersetzung von Fénelons Traktat Über die Treue in kleinen Dingen. Ein Beitrag zur Erhellung einer biographischen Notiz von Johann Heinrich Jung-Stilling. In: PuN 36, 2010, 242. 51  [Anonym:]: Nebbien, Markus Johannes. In: Hessische Biografie online. URL: https://www. lagis-hessen.de/pnd/138022623 [Stand: 03.08.2020]. 52   Für andere Berufsgruppen sind „Vererbbarkeit“ und Familienpolitik im Berufs- und Geschäftsleben bereits besser erforscht. Vgl. beispielsweise Miki Sugiura: Heiratsmuster der wijnkopers in Amsterdam 1660–1700. In: Praktiken des Handels. Geschäfte und soziale Beziehungen europäischer Kaufleute in Mittelalter und früher Neuzeit. Hg. v. Mark Häberlein. Konstanz 2010, 407–450. Außerdem Anke Sczesny: Zwischen Kontinuität und Wandel. Ländliches Gewerbe und ländliche Gesellschaft im Ostschwaben des 17. und 18. Jahrhunderts. Tübingen 2002, 267–291. 53   Paisey, Buchdrucker [s. Anm. 28], 126. 54   Keding, Theologia experimentalis [s. Anm. 24], 74f.

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dieser intergenerationellen Art von Geschäftsübergabe lagen auf der Hand. Ein weiteres bekanntes Beispiel dafür sind die Leipziger Buchunternehmen Fritsch und Gleditsch, die beide aus der Buchhandlung Thomas Schürers entstanden sind und ein weit verzweigtes Verwandtschaftsnetz ausbildeten, das durchaus bekanntere Autoren einschloss.55 Grundsätzlich dürfte das Fortbestehen einer Buchhandlung über mehrere Generationen hinweg eng damit verbunden gewesen sein, ob Erbinnen und Erben in der Lage waren, den Betrieb zu übernehmen. Eine Weitergabe des Geschäfts innerhalb der Familie war also üblich und förderlich. Der Begriff des „Familienunternehmens“ umfasst jedoch einen weiteren sozialgeschichtlichen Aspekt: Nicht nur war Familie kontinuitätsstiftender Faktor, sondern auch bei der praktischen, alltäglichen Arbeit im Betrieb eingebunden. Die Einarbeitung möglicher Nachfolger ist dabei nur ein Aspekt; ein weiterer ist, dass unterschiedlich große Teile der Verwandtschaft von den Erträgen des Unternehmens versorgt werden und im Gegenzug mit „anpacken“ mussten. Unter Johann Adam Jung waren dies seine Frau, die gemeinsamen Kinder und die Schwester der Ehefrau Maria Margret Zunner, die offenbar in der Handlung mitarbeiteten und auch schlichtweg daran beteiligt waren.56 Die Relevanz von Familie und personellen Verflechtungen in der Zunnerischen Buchhandlung deutet bereits an, was als Paradigma in der Sozialgeschichte der Frühen Neuzeit seinen festen Platz hat: Die modernen Begriffe von Geschäftlichem bzw. Öffentlichem und Privatem greifen kaum, die ohnehin konstruierten Grenzen dazwischen verschwimmen.57 Dies trifft bei den Zunners bzw. Jungs nicht nur auf personelle Verflechtung von Familienangehörigen und Angestellten des Unternehmens zu. Es zeigt sich beispielsweise auch darin, dass

55   Die Tochter Thomas Schürers, Catharina Margaretha, hatte zuerst Johann Friedrich Fritsch (1635–1680), nach dessen Tod jedoch Johann Friedrich Gleditsch (1653–1716) geheiratet. Der Kern der Schürerschen Buchhandlung ging zwar mit der zweiten Hochzeit Catharina Margarethas auf die Familie Gleditsch über. Ihr Sohn aus erster Ehe, Thomas Fritsch (1666–1726), erhielt jedoch einen Teil der Güter zur Gründung eines eigenen Unternehmens. Der Sohn von Johann Friedrich Gleditsch, Johann Gottlieb (1688–1738), heiratete Sophia Elisabeth Hübner (1698–1721), die Tochter von Johann Hübner (gest. 1731), der als Religionspädagoge und Autor großer naturwissenschaftlicher Werke auffiel.Vgl. zu alledem [Anonym:] Art. „Schürer, Thomas“. In: DB online. URL: https://www.deutsche-biographie.de/pnd128974370.html [Stand: 10.08.2020], Adalbert J. Brauer: Art. „Gleditsch, Johann Gottlieb“. In: NDB 6, 1964, 440f. sowie abermals ders.: Art. „Gleditsch, Johann Friedrich“. In: NDB 6, 1964, 439f. 56   Die Beteiligung der Töchter Zunners am Unternehmen zeigt sich auch darin, dass Jung zwar die Verhandlungen vor Gericht führte (wohl zuvor auch jene mit Beer), dass bei Verträgen jedoch auch beide Frauen unterzeichneten.Vgl. beispielsweise den Vergleich von 1708. ISG Ffm, RKG 721, Beer gegen Zunner,Vergleich, Frankfurt am Main 6.07.1708, unfoliert. 57   Aus der Sozialgeschichte entsprangen u. a. die Privacy Studies.Vgl. einführend das programmatische Werk von Barrington Moore Jr.: Privacy. Studies in Social and Cultural History. London [u. a.] 1984. Weiterführend zudem Michael McKoen: The Secret History of Domesticity: Public, Private, and the Division of Knowledge. Baltimore 2005. Außerdem widmet sich derzeit ein Forschungszentrum in Kopenhagen den Privacy Studies.

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Wohnen und Arbeiten unter demselben Dach stattfanden und sich die Obsignation, also die richterliche Versperrung des Ladens im Rahmen des Gerichtsprozesses gegen Beer, anfangs auch auf Teile des persönlichen Besitzes der Zunners erstreckte.58

3. Finanzierung des Buchhandels und wirtschaftliche Probleme Das Ausscheiden Meyer Abraham Beers 1708 aus der Handlung beendete nicht die finanzielle Verflechtung der Akteure. Im Rahmen des Prozesses gegen die Zunnerischen Erben vertreten durch Johann Adam Jung am 25. April 1718 beklagte er sich über die – seiner Meinung nach – schlechte Geschäftsführung: wann eine lücke hat zugestopfft werden sollen, zwey Neue [Geldgeber] davor haben gemacht, und die Neugetruckte bücher gleich denen jenigen, welche das Pappier und druckern bezahlt, wieder zum versatz hingegeben werden müßten, daß es alßo nicht anders seyn kann, alß daß gegen die ho[he] obrigkeitl[iche] Intention die alt Schulden unabgeleget gelassen, und dargegen täglich Neue contrahirt werden.59

Er betonte, dass „die Zunnerische handtlung von tag zu tag mehr in abgang kome, die beste bücher hin undt wieder verpfändeten, […] und wann Ihnen was verkäuflichen abgehet, dennoch nicht zu bezahlung der Schuldten angewendet [wird]“;60 und ergänzte, dass die Buchhandlung in „Confusion gerathen“61 sei. Beer fürchtete um die Rückzahlung seiner Kapitaleinlagen. Die Forderungen der Gläubiger gegen die Erben Zunners seien auf eine solche Höhe aufgelaufen, dass diese zur Tilgung der Verbindlichkeiten stets neue Kredite aufnehmen mussten. Frisch gedruckte Verlagswerke würden außerdem meist als Pfand für die neuen Geldgeber und Produktionspartner eingesetzt; die dadurch fehlenden Erlöse verhinderten wiederum den Abbau der Schulden. Zunners Buchhandlung war nicht die einzige in dieser Situation. Die wirtschaftlichen Schwierigkeiten des gesamten Frankfurter Buchmarkts am Ende

58   „dem Mayer Abraham beern und denen übrigen Zunner[ischen] und Jungischen Creditoribus und wirdt es bey der obsignation deren bücher Effecten nochmahlen gelasen, die küche, Zimmer und Kleider Schränke aber, […] und worinnen ihre Kleider befindlich, sollen wieder eröffnet und zu ihrer Disposition frey gelasen.“ ISG Ffm, RKG 721, Beer gegen Zunner, Beschluss der Schöffenreferier, Frankfurt am Main 08.04.1718, fol. 16r. 59  ISG Ffm, RKG 721, Beer gegen Zunner, Schreiben von Beer, Frankfurt am Main 25.04.1718, fol. 83. 60  ISG Ffm, RKG 721, Beer gegen Zunner, Zusammentragung der Fakten, Frankfurt am Main o.D., fol. 226v. 61  ISG Ffm, RKG 721, Beer gegen Zunner, Zusammentragung der Fakten, Frankfurt am Main o.D., fol. 227r.

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des 17. Jahrhunderts sind bekannt62 und haben vielfältige Gründe: Die Händler in der hessischen Reichsstadt hatten es versäumt, sich dem Kommissionshandel zu öffnen, der um die Jahrhundertwende anderswo im Reich den klassischen Tauschhandel mit Büchern ersetzte.63 Der Pfälzische Erbfolgekrieg (1688–1697) schränkte darüber hinaus den Handel zwischen Frankreich, dem Westen des Reichs und Frankfurt erheblich ein, während beispielsweise die Leipziger Konkurrenz relativ unberührt blieb bzw. davon profitierte. Eine verstärkte Zensur der Publikationen in der Reichsstadt im Vergleich zu beispielsweise Kursachen sowie unzureichender Schutz von Verlagsrechten taten ein Übriges.64 Die daraus resultierende ökonomische Schieflage sorgte dafür, dass viele Frankfurter Verlage Fremdkapital brauchten, um ihre Geschäfte am Laufen zu halten. Die Verschuldung christlicher Buchhandlungen u. a. bei jüdischen Investoren war deshalb ein häufig auftretendes Phänomen,65 wie Peter Weidhaas für David zum Schiff (gest. 1697) und Nathan Maas zum goldenen Strauss (gest. 1714) nachweisen konnte, die wohl die größten Geldgeber in der christlichen Buchbranche waren.66 Anders als Zunner konnten viele seiner Kollegen in der Reichsstadt trotz Kapitalaufnahme ihre Geschäfte nicht am Laufen halten; es kam zum regelrechten Zusammenbruch zahlreicher Frankfurter Buchhandelshäuser.67 Zunner blieb dieses Schicksal wohl auch deshalb erspart, weil er in einem unkonventionellen Schritt seinen größten Investor Meyer Abraham Beer beteiligte. Als Zunners Nachfolger Jung die Buchhandelssozietät auflöste und diesen wieder zum „einfachen Gläubiger“ machte, verschärfte sich die Lage erneut. In einem Vergleich von 1708, dem Jahr der Sozietätsauflösung, wurden zwar Zahlungsfristen zur Schuldentilgung vereinbart; im Prozess jedoch beklagte der

62   Dietz spricht von der „rasch zusammenbrechenden Frankfurter Buchhändlerherrlichkeit.“ (Dietz, Handelsgeschichte [s. Anm. 11], 151) 63  Dies hatte langfristige Auswirkungen zulasten der Frankfurter Buchhändler: „Um 1800 hatte sich der Kommissionshandel durchgesetzt und es war für eine große Zahl der deutschen Buchhändler nötig, einen Kommissionär in Leipzig zu haben.“ Helge Buttkereit: Zensur und Öffentlichkeit in Leipzig 1806 bis 1813. Berlin 2009, 38. 64   Reinhard Wittmann: Geschichte des deutschen Buchhandels. München 42019, 93; Peter Weidhaas: Zur Geschichte der Frankfurter Buchmesse. Frankfurt/Main 2003, 68. 65  Während traditionell wenige Juden mit christlichen Buchhandlungen Geschäfte trieben, stieg die Anzahl jüdischer Investoren ab der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts aufgrund finanzieller Schwierigkeiten christlicher Verlage, v.a. in Frankfurt am Main.Vgl. Johannes Wachten: Jüdische Literatur in Frankfurt. In: Frankfurt im Schnittpunkt der Diskurse. Strategien und Institutionen literarischer Kommunikation im späten Mittelalter und in der frühen Neuzeit. Hg. v. Robert Seidel u. Regina Toepfer. Frankfurt/Main 2010, 268f. 66   Weidhaas, Frankfurter Buchmesse [s. Anm. 63], 67.Weiter Cilli Kasper-Holtkotte: Die jüdische Gemeinde von Frankfurt/Main in der frühen Neuzeit. Familien, Netzwerke und Konflikte eines jüdischen Zentrums. Berlin 2010, 563, 685. Nathan Maas war demnach sogar lange Gemeindevorsteher; David zum Schiff kam aus einer Familie mit einer großen Anzahl an Mitgliedern, die Gemeindedienste ausübten. 67   Friedrich Kapp: Geschichte des deutschen Buchhandels bis in das 17. Jahrhundert. Leipzig 1886, 156.

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Investor: „nichts desto weniger haben Sie keiner eintzigen bedingung exacte nachgelebet“.68 Ein Blick in ein Inventar der Buchhandlung von 1711 legt die Probleme des Betriebs offen: Auf der Aktiva-Seite sind zehn Posten aufgeführt, wovon nur zwei als Anlagevermögen gelten können: So standen Privilegien (also Verlagsund Handelsrechte) im Wert von 10.000 Gulden und die Buchhandlung, das Gebäude inklusive der Ausstattung des Ladens mit 12.000 Gulden zu Buche. Darüber hinaus fanden sich auf dieser Seite Forderungen u. a. gegen Daniel Otto aus Heidelberg sowie weitere Außenstände. Hierzu zählen auch 1.500 Exemplare von Speners Opus Heraldicum69 im Wert von 15.000 Gulden, die an den bereits in Zusammenhang mit dem Brand in der Frankfurter Judengasse genannten Löw Menasse, einen Partner und Kollegen Beers, verpfändet waren, sowie weitere Unterpfänder, die die Gläubiger erhalten hatten. Dieser Posten wurde mit rund 96.000 Gulden veranschlagt. Auf der Passiva-Seite führte Jung fünf Arten von Verbindlichkeiten an. Darunter fallen – nicht genauer aufgeschlüsselt – etwa 9.500 Gulden nicht, sowie rund 40.000 hypothekarisch oder durch Pfänder abgesicherte Gulden. 12.600 Gulden wurden zudem als Außenstände verzeichnet. Die ausstehenden Zinsen, die allein Löw Menasse zu fordern hatte, beliefen sich auf 2.230 Gulden. Ein Daniel Otto hatte der Buchhandlung außerdem 400 Gulden geliehen. Ohne Hinweis auf die Höhe der Verpflichtungen wurde festgehalten, dass „Meyer Abraham beer mit dem noch zu liquidiren“ sei.70 Den insgesamt 148.881 Gulden und sieben Kreuzern auf der Aktiva-Seite standen demnach 64.859 Gulden und 15 Kreuzer auf der Passiva-Seite entgegen. Daraus ergibt sich ein positives Eigenkapital von 84.021 Gulden und 52 Kreuzern, das die Erben Zunners selbst als „Überschuß“71 bezeichneten. Dass Jung seine Schulden trotz dieses hohen Eigenkapitals nicht abbauen konnte, muss daran gelegen haben, dass zwar Aktiva im Unternehmen vorhanden, diese aber nicht flüssig zu machen waren: Auf die Außenstände Jungs war nicht zuzugreifen. Darüber hinaus konnten Privilegien und die Handlung selbst natürlich in keinem Szenario verkauft werden, da die Geschäfte weiterlaufen mussten. Der Gegenwert der Pfänder an die Gläubiger stand der Buchhandlung hingegen erst dann zur Verfügung, wenn die Verbindlichkeiten getilgt worden waren.

68  ISG Ffm, RKG 721, Beer gegen Zunner, Schreiben von Beer, Frankfurt am Main 06.04.1718, fol. 5v. 69   Philipp Jakob Spener: Historia Insignium Illustrium Sev Operis Heraldici Pars Specialis. Continens Delineationem insignium plerorumque Regum, Ducum, Principum, Comitum & Baronum in cultiori Europa, cum explicatione singularum tesserarum, & multis ad familiarum decora titulos atque iura spectantibus […]. Frankfurt/Main: Zunner, 1680. 70   ISG Ffm, RKG 721, Beer gegen Zunner, Massa Status, Frankfurt am Main 28.05.1717, unfoliert. 71   ISG Ffm, RKG 721, Beer gegen Zunner, Massa Status, Frankfurt am Main 28.05.1717, unfoliert.

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Hierfür wiederum fehlten liquide Mittel, was einen Circulus vitiosus zur Folge hatte. Das Aufkommen des Kommissionsbuchhandels, der Pfälzische Erbfolgekrieg und die kaiserliche Zensurpolitik haben natürlich Auswirkungen auf den Absatz der Buchhandlung, doch greifen sie als Erklärung für die Liquiditätsprobleme zu kurz: Zunners Unternehmen expandierte in den 1680ern und 90ern stark.72 Die Veröffentlichung großer naturwissenschaftlicher Werke wie der Schaubühne73 von Michael Bernhard Valentini (1657–1729)74 jedoch brachte nicht nur Anerkennung innerhalb der Branche mit sich, sondern musste auch buchstäblich teuer bezahlt werden: Neben den Fixkosten für Unterhalt des Verlagsgebäudes, Personal und Gerätschaften sowie Instandhaltungsmaßnahmen am Wohn- und Geschäftshaus75 mussten regelmäßig große Quantitäten an Papier, Tinte und Druckerplatten für die Buchproduktion angeschafft werden. Externe Kupferstecher waren mit der Anfertigung der zahlreichen detaillierten Abbildungen der illustrierten Werke beauftragt, was die Herstellungskosten zusätzlich steigen ließ und auf Raten bezahlt wurde. Der Kupferstecher Hoch erhielt 1720 immer noch jährlich neun Gulden für die Fertigung der Druckplatten für Ludolfs Schaubühne, die bereits 1699 bei Zunner erschienen war.76 Dies – in Verbindung mit dem Mangel an liquiden Mitteln – führte dazu, dass die aufwendige Produktion entweder fremdfinanziert und Privilegien

72   Diese Gründe führt häufig die Forschung zum Frankfurter Buchhandel und der Buchmesse in der Reichsstadt für deren beider Niedergang ab Ende des 17. Jahrhunderts an.Vgl. beispielsweise Wittmann, Geschichte des deutschen Buchhandels [s. Anm. 64], 93 und Weidhaas, Frankfurter Buchmesse [s. Anm. 63], 68. 73   Michael Bernhard Valentini: Museum Museorum, oder Vollständige Schau-Bühne aller Materialien und Specereyen / nebst deren natürlichen Beschreibung, Election, Nutzen und Gebrauch / Aus andern Material-, Kunst und Naturalien-Kammern, Oost- und West-Indischen Reiß-Beschreibungen / Curiosen Zeit- und Tag-Registern / Natur- und ArtzneyKündigern / wie auch selbst-eigenen Erfahrung / Zum Vorschub der Studirenden Jugend / Materialisten / Apothecker und deren Visitatoren / wie auch anderer Künstler / als Jubelirer / Mahler / Färber / u. s. w. also verfasset, und mit etlich hundert sauberen Kupfferstücken unter Augen geleget. Frankfurt am Main: Zunner, 1704. Die Schaubühne von Valentini steht in keinem engeren Zusammenhang mit der Schaubühne von Hiob Ludolf – der Begriff scheint für enzyklopädische und ähnliche Werke als Bestandteil des Titels geläufig und wird vermutlich deshalb von beiden Autoren verwendet. Ludolf arbeitet eher historiographisch,Valentini eher naturwissenschaftlich. 74  Einführend Julius Pagel: Art. „Valentini, Michael Bernhard“. In: ADB 39, 1895, 468f. 75   Jung ließ im Sommer 1720 offenbar Reparatur- bzw. Renovierungsarbeiten am Dachstuhl und in der Küche des Hauses vornehmen, wozu er u. a. Steinplatten bezog. Maurer, Schreiner und wahrscheinlich weitere Handwerker, die bei den Arbeiten am Haus beteiligt waren, tauchen nicht nur mit ihrem Gehalt in der Ausgabenübersicht auf; der Buchhändler spendierte auch „bier den handtwecksleuthen den bauen im hauß“ für sechs Gulden. ISG Ffm, RKG 721, Beer gegen Zunner, Ausgabenübersicht, Frankfurt am Main o. D., unfoliert. 76   ISG Ffm, RKG 721, Beer gegen Zunner, Ausgabenübersicht, Frankfurt/Main o. D., unfoliert. Bei dem Werk handelt es sich um Hiob Ludolf: Allgemeine Schau-Bühne der Welt. Frankfurt am Main: Zunner, 1699.

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und ein Teil der hergestellten Bücher als Sicherheit direkt an den jeweiligen Investor ausgegeben – oder, dass eben jene Werke an Kupferstecher oder Buchbinder verpfändet wurden, bis man ihre Rechnungen für die Arbeiten an der Buchproduktion begleichen konnte. Die rechtlichen Rahmenbedingungen, die zu einer massiven Überversicherung der Gläubiger führten, schmälerten den Ertrag für Jung an den eigenen Verlagswerken zusätzlich und erschwerten somit die Rückzahlung von Schulden, die aufgrund des Zinseszins stetig stiegen.77 Neben einem Insolvenzverfahren war die Tilgung der Schulden durch die Erlöse aus der Buchproduktion der einzige Weg aus der wirtschaftlichen Misere. Jung schilderte im Zuge des Prozesses, welche der beiden Optionen er präferierte: „aber jedoch wann uns Zeit gegönnet wirdt und mir in der Activität unserer handlung gelaßen, und nicht gantz und gar auff einmahl zu boden geworffen werden, nechst gotts hülffe und fleißiger arbeit uns in den Standt zu setzen, daß verhoffentlich niemandt bey uns zu kurtz kommen solle“.78 Kurz darauf wurde die Zunnerische Buchhandlung gerichtlich versperrt.

4. Jung auf den Frankfurter und Leipziger Buchmessen Die angeordnete Schließung seines Ladengeschäfts verstärkte logischerweise die wirtschaftlichen Schwierigkeiten. Jung beklagte, „die hiesige Meß ist verdorben, nicht weniger auch die Leipziger“.79 Er setzte alles daran, seinen Laden während der wohl bereits begonnenen Ostermesse öffnen zu dürfen – ohne Erfolg: Selbst zur Herbstmesse war der Betrieb Jungs noch versperrt und konnte erst Ende des Jahres 1718 wieder öffnen. Das Reichskammergericht ordnete schließlich die Einsetzung eines Insolvenzverwalters an, weshalb für die Jahre 1719 (ab November) bis 1722 genaue Aufstellungen der Geschäftsausgaben vorliegen.80 Daraus lässt sich die Reise auf die Leipziger Ostermesse 1720 rekonstruieren, wo Jung wohl persönlich zugegen war. Eine Geschäftsreise wie jene nach Kursachsen war eine logistische

77   Johann Georg Walch schilderte in seinem Lexikon von 1726: „So muß auch das Pfand mehr werth seyn, als die Schuld austräget“. Johann Georg Walch: Philosophisches Lexicon. Darinnen Die in allen Theilen der Philosophie, als Logic, Metaphysic, Physic, Pnevmatic, Ethic, natürlichen Theologie und Rechts-Gelehrsamkeit, wie auch Politic fürkommenden Materien und KunstWörter erkläret und aus der Historie erläutert […]. Leipzig: Gleditsch, 1726, 1957f. Auch in anderen juristischen Abhandlungen der Zeit findet sich eine solche Regelung. 78  ISG Ffm, RKG 721, Beer gegen Zunner, Schreiben von Jung, Frankfurt am Main 23.04.1718, fol. 60r. 79   ISG Ffm, RKG 721, Beer gegen Zunner, Schreiben von Jung, Frankfurt am Main o. D., fol. 50r. 80  ISG Ffm, RKG 721, Beer gegen Zunner, Ausgabenübersicht, Frankfurt am Main o. D., unfoliert.

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Herausforderung: 25 Zentner Fracht waren nach Leipzig zu transportieren, 31 Zentner waren es hingegen auf dem Rückweg – darunter vor allem auf der Messe eingehandelte Druckerzeugnisse. Allein der Warentransport kostete 169 Gulden und 25 Kreuzer.Weitere 14 Gulden und 15 Kreuzer zahlte der Verleger für seine Beförderung mit der Postkutsche (für Hin- und Heimreise). Dienstleistungen von „packer und Collationirer“81 schlugen mit sieben Gulden zu buche. Hinzu kamen Zehrungskosten auf der Reise in Höhe von sechs Gulden. Der Frankfurter Buchhändler war während der dreiwöchigen Messe durchweg vor Ort. In den 21 Tagen gab er zusätzlich knapp 16 Gulden für „Zehrung in leipzig“82 aus. Die zu verkaufenden und angekauften Bücher lagerte Jung in einem für zehn Gulden angemieteten Gewölbe. Am billigsten war noch der Messkatalog, in dem die anwesenden Buchhändler ihre Produkte präsentierten. Dieser kostete etwa eineinhalb Gulden.83 In der Frühen Neuzeit handelte man mit ungebundenen Büchern, das Buchbinden war also grundsätzlich Aufgabe des Endkunden.84 Um die einzelnen Blätter nicht durcheinanderzubringen, behalf man sich mit einer Fixierung durch das einfache Zusammenheften mit Nadel und Faden. Deshalb gab Jung außerdem Geld für Bindfäden (unter einem Gulden) aus. Hinzu kamen Ausgaben für die Beleuchtung („Lichter“) für 24 Kreuzer und Trinkgeld für Arbeiter und Magd, die je etwa einen Gulden erhielten. Alles in allem kostete die Präsenz Jungs auf der Leipziger Ostermesse 1720 rund 260 Gulden. Ein durchaus kostspieliges Unterfangen, das der Buchhändler sicher nicht auf sich genommen hätte, hätte er sich keinen materiellen oder ideellen Gewinn davon versprochen. Der Warenaustausch in Frankfurt und Leipzig ermöglichte es den Buchhändlern, ihre Sortimente zu erweitern und breiter zu gestalten – und damit auch, in ihren lokalen Märkten eine diversere Kundschaft anzusprechen.85 Der Besucherkreis der Messen ermöglichte neben dem Pflegen wirtschaftlicher Kontakte außerdem ideellen Austausch:

81  ISG Ffm, RKG 721, Beer gegen Zunner, Ausgabenübersicht, Frankfurt am Main o.D., unfoliert. 82  ISG Ffm, RKG 721, Beer gegen Zunner, Ausgabenübersicht, Frankfurt am Main o.D., unfoliert. 83  Vgl. einführend zur Funktion der Messkataloge Marie-Kristin Hauke: „In allen guten Buchhandlungen ist zu haben …“ Buchwerbung in Deutschland im 17. und 18. Jahrhundert. Nürnberg 1999, 66–69. 84  „Im 17. und auch noch im 18. Jahrhundert wurden die allermeisten Bücher weiterhin ungebunden verkauft und erst vom Käufer zum Buchbinder gegeben.“ (Helmut Hilz: Buchgeschichte. Eine Einführung. Berlin, Boston 2019, 81) Die meisten Buchbinder waren in Zünften organisiert und daher nicht „freiberuflich“ wie Buchhändler (Wachten, Jüdische Literatur [s. Anm. 65], 268f.). 85  Vgl. einführend zur Relevanz der Messen Sabine Niemeier: Funktionen der Frankfurter Buchmesse im Wandel – von den Anfängen bis heute. Wiesbaden 2001, v.a. 12–16; Weidhaas, Frankfurter Buchmesse [s. Anm. 63], 29–41.

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Aber nicht nur Drucker und Buchhändler strebten Frankfurt zu. […] Neben Buchhändlern trafen sich hier auch die Professoren der meisten europäischen Universitäten. Sie waren von ihren Verwaltungen zu Einkäufen ausgesandt worden. Anzutreffen waren aber auch die Bibliothekare staatlicher und geistlicher Büchereien, daneben Dichter, Archivare, Mathematiker, Geistliche.86

Alle großen Reichsmessen waren auch Wechselmessen, die als Termine für Ratenzahlungen bzw. als Zahlungsziele dienten.87 Diesen Usus zeigen die Prozessakten zum Rechtsstreit Beers gegen die Erben Zunners: „Jud Meyer Abraham Beer vermög der Transaction 1708 9. July sollen alle Meßen in abschlag der haubtSumm fl. 1000 abgetragen werden“.88 Auch im Auszahlungsplan, den Jung nach der Auflösung der Buchhandelssozietät mit Beer vereinbart hatte, waren halbjährliche Zahlungen vorgesehen – jeweils zur „ostermeß“ und „herbstmeß“.89 Das Wirtschaftsleben der Familie Zunner/Jung war demnach also auf die beiden wichtigen Frankfurter Messen hin ausgerichtet. Die Messen im Reich waren so getaktet, dass die Termine aufeinander abgestimmt wurden und somit auch ein regelmäßiger Geld-, Kredit- und Wechselmarkt garantiert war. Allerdings kam es in den Jahren zwischen 1706 und 1726 zu einer Art Kräftemessen der beiden wichtigen Messestandorte Leipzig und Frankfurt. Die Kalenderreform des Jahres 1700 und die Einführung des Gregorianischen Kalenders bzw. des verbesserten Julianischen Kalenders in den evangelischen Territorien (und damit auch der Reichsstadt Frankfurt) führte dazu, dass die Frankfurter und Leipziger Messe für 20 Jahre weitgehend zeitgleich stattfanden. Den Buchhändlern im Reich blieb nur, sich für eine der beiden Messen zu entscheiden; oft fiel diese Entscheidung zugunsten der kursächsischen Stadt aus, sodass Frankfurt spürbar an Bedeutung verlor90 und es zu einer ökonomischen Neuorientierung kam. Peter Weidhaas konnte nachweisen, dass bereits 1719 zahlreiche Läden in der hessischen Reichsstadt, die ansonsten wäh-

  Weidhaas, Frankfurter Buchmesse [s. Anm. 63], 41.   Stalljohann-Schemme, Stadt und Stadtbild [s. Anm. 36], 102: „Zahlungstermin des internationalen und regionalen Kapitalverkehrs war jeweils die nächste Frankfurter Messe – unabhängig vom Zeitpunkt des Geschäftsabschlusses oder der Herkunft der Geschäftspartner.“ Vgl. dazu auch Markus A. Denzel: Das System der Messen in Europa. Rückgrat des Handels, des Zahlungsverkehrt und der Kommunikation (9. bis 19. Jahrhundert). In: Europäische Messegeschichte 9.19. Jahrhundert. Hg. v. M.A. Denzel. Köln [u. a.] 2018, 269–432, bes. 397–400. 88   ISG Ffm, RKG 721, Beer gegen Zunner, Schreiben von Zunners Erben und Jung, Frankfurt am Main o.D. 89   Die beiden Begriffe finden sich in ISG Ffm, RKG 721, Beer gegen Zunner, Vergleich, Frankfurt am Main 06.07.1708, unfoliert. 90   Detaillierter werden die Zusammenhänge geschildert bei Nils Brübach: Die Reichsmessen von Frankfurt am Main, Leipzig und Braunschweig. Stuttgart 1994, 136 und Julia Bangert: Buchhandelssystem und Wissensraum in der Frühen Neuzeit. Berlin [u. a.] 2019, 248f. Außerdem Weidhaas, Frankfurter Buchmesse [s. Anm. 63], 100–103. 86 87

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rend der Messen als Buchläden verwendet wurden, zu Weinschenken umgewandelt worden waren.91 Johann Adam Jung musste sich demnach ebenfalls zwischen der Messe „vor der Haustür“ und der Leipziger Messe entscheiden. 1719 und 1722 ist er auf der Frankfurter Buchmesse. Lediglich 1720 nahm er an beiden großen Messen teil;92 vermutlich, weil die Messe in der sächsischen Residenz- und Universitätsstadt außerplanmäßig etwas später stattfand. Obwohl er mit seinem Fernbleiben beim wohl bedeutendsten Treffen der Buchhändler des Reichs nicht nur entgegen dem Gros seiner Kollegen handelte, sondern auch befürchten konnte, wirtschaftliche Chancen zu verpassen, erscheint seine Entscheidung für Frankfurt aufgrund seiner finanziellen Situation durchaus plausibel: Hier entrichtete Jung nur die Standgebühr von 20 Kreuzern. Darüber hinaus schaffte sich Jung nur noch den Messkatalog für etwa einen Gulden an; weitere Mehrausgaben lassen sich nicht feststellen.Vielmehr konnte Jung offenbar durch die Unterbringung einiger Kollegen in seinem Haus eine kleinere Summe einnehmen. Durch den „Standortvorteil“, den der Buchhändler durch seinen Sitz in Frankfurt hatte, bedurfte es zur Teilnahme an der heimischen Messe also fast keiner Ausgaben. Gegenüber dem finanziellen und logistischen Aufwand für die Reise nach und den Aufenthalt in Leipzig schien diese Option also offenbar sehr attraktiv und aufgrund der finanziellen Schwierigkeiten des Geschäfts womöglich sogar alternativlos. Gerade aufgrund der Bedeutung der Messen dürften viele Buchhändler eine schwierige Abwägung zu treffen gehabt haben. Dass Jung, sobald es ihm 1720 offenbar möglich war, trotz der Mehrkosten nach Leipzig reiste, zeigt jedoch auch, welchen Stellenwert die Teilnahme an der zweiten großen Messe haben konnte.

5.Wirtschaftliche Kontakte und Ausrichtung Ende 1718 war es für Jung wieder möglich, seinen Laden zu öffnen. Für die folgenden sechs Monate reichte er ein Verzeichnis aller verkauften Bücher beim Reichskammergericht ein.93 Von den etwa 100 Büchern, die darin enthalten sind und mithilfe des Verzeichnisses der im deutschen Sprachraum erschienenen

91  Der Kalenderstreit und die Folgen für Frankfurt finden sich bei Weidhaas, Frankfurter Buchmesse [s. Anm. 63], 100–102. 92   Das wird aus ISG Ffm, RKG 721, Beer gegen Zunner, Ausgabenübersicht, Frankfurt am Main o.D., unfoliert ersichtlich. 93   ISG Ffm, Beer gegen Zunner,Verzeichnis verkaufter Bücher, Frankfurt am Main o.D, unfoliert.

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Drucke VD1794 und VD1895 rekonstruierbar sind, stammten nur 18 aus dem hauseigenen Verlag.96 Offenbar setzte also selbst eine Buchhandlung mit einem derart einflussreichen Verlag wie Zunner/Jung auf ein breites, auf gehandelten bzw. gekauften Büchern beruhendes Sortiment.Vor diesem Hintergrund überrascht es kaum, dass ein Großteil der wirtschaftlichen Kontakte, die für Zunner und Jung rekonstruierbar sind, der eigenen Branche angehörte. Informationen zu diesen Beziehungen ermöglichen Rechnungen für die Zeiträume 1694 bis 1704 und für 1718 bis 1722.97 Bis zum Tod Johann David Zunners im Jahre 1704 lassen sich einige Namen bekannter Buchhändler in kurzen, regelmäßigen Abständen und mit relativ hohen Summen nachweisen. So zahlte der Frankfurter insgesamt etwa 160 Gulden an den Lübecker Verleger Johann Wiedemeyer (bzw. dessen Erben), etwa 220 Gulden an Gottfried Liebernickel aus Hamburg (gest. 1707) sowie 300 Gulden an Christian Liebezeit (gest. 1720), der ebenfalls aus der Hansestadt kam. Ähnliche Summen wurden an Johann Völcker aus Berlin (mit Filiale in Frankfurt) und Caspar Gruber (gest. um 1698/99) bzw. dessen Erben gezahlt. Einmalig gingen 200 Gulden an den bedeutenden Leipziger Verleger Johann Friedrich Gleditsch. Deutlich mehr Geld noch wandte Zunner jedoch für Verpflichtungen gegenüber den Königsberger Buchhändlern Martin Hallervordt (1646–1714) und Beyer auf, die jeweils etwa 1.000 Gulden vom Frankfurter erhielten. Johann Michael Rüdiger (1651–1734) aus Berlin und Johann Friedrich Hartung aus Wien erhielten mit etwa 2.500 bzw. 3.000 Gulden die höchsten Beträge.98 Martin Gierl konnte nachweisen, dass die Verlagsarbeit Zunners zwar unterschiedliche inhaltliche Schwerpunkte umfasste, dass jedoch pietistischen Texten und der evangelischen Erbauungsliteratur ein besonderer Stellenwert zukam.99 Mit Blick auf die wirtschaftlichen Kontakte des Verlegers innerhalb seiner Branche lässt sich dieses Bild auf dessen Sortiment erweitern: Unter den zehn wichtigsten Handelspartnern aus dem Buchhandel befinden sich sechs Verleger von Werken, die in den „Acta pietistica“ enthalten sind (Gruber, Liebernickel, Liebezeit, Rüdiger,Völcker und Wiedemeyer).100 Darüber hinaus stehen zumindest Gleditsch und Hallervordt in Kontakt zu evangelischen Theologen, die dem

94   GBV/VGZ:VD17 – Das Verzeichnis der im deutschen Sprachraum erschienen Drucke des 17. Jahrhunderts. URL: https://kxp.k10plus.de/DB=1.28/ [Stand: 02.07.2020]. 95   GBV/VGZ:VD18 – Das Verzeichnis der im deutschen Sprachraum erschienen Drucke des 18. Jahrhunderts. URL: https://gso.gbv.de/DB=1.65/ [Stand: 02.07.2020]. 96  Darunter befinden sich bereits zehn Werke Speners; nur vier dieser 18 Erscheinungen haben keinen religiös-theologischen Hintergrund. 97   ISG Ffm, RKG 721, Beer gegen Zunner, Rechnung und Ausgabenübersicht, Frankfurt am Main o.D., beides unfoliert. 98   ISG Ffm, RKG 721, Beer gegen Zunner, Rechnung, Frankfurt am Main o.D., unfoliiert. 99   Gierl, Pietismus und Aufklärung [s. Anm. 13], 345–349. 100   Eine Aufzählung der in den Acta Pietistica enthaltenen Verleger ist zu finden bei Gierl, Pietismus und Aufklärung [s. Anm. 13], 344f.

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Pietismus in den meisten Fällen weniger zuneigten.101 Gleditsch selbst war durch die Hochzeit seines Sohnes Johann Gottlieb mit Sophia Elisabeth Hübner sogar mit dem Theologen und Pädagogen Johann Hübner verschwägert, der einige (meist jedoch naturwissenschaftliche) Werke bei ihm herausbrachte.102 Unter Johann Adam Jung als Geschäftsführer der Zunnerischen Handlung blieb die pietistische Literatur ein Schwerpunkt: Neben Werken der genannten Verleger führte er Bücher von Philipp Gottfried Saurmann aus Bremen (wohl mit Filialen in Frankfurt und Leipzig; gest. 1730) und den Erben von Friedrich Lankisch (1618–1669) aus Leipzig in seinem Sortiment, die ebenfalls Werke pietistischer Theologen verlegten.103 Insgesamt umfasste etwa die Hälfte von Jungs Sortiment religiöse, darunter fast durchweg lutherisch-orthodoxe und pietistische Erbauungsliteratur. Eine Analyse der Zunnerischen Buchhandlung bestätigt also die bedeutende Rolle pietistischer Literatur, die die Pietismusforschung bereits herausgestellt hatte, jedoch in der „großen“ Buchhandelsgeschichte bisher maximal eine untergeordnete Rolle spielte. Die Kontakte der Buchhandlung beschränkten sich geographisch tendenziell auf protestantische Territorien und waren eher im Nordosten als im Süden oder Südwesten des Reichs beheimatet. Dennoch finden sich auch Verbindungen zu Endter in der Reichstadt Nürnberg sowie weiteren Verlegern aus dem Süden des Reichs oder anderen Teilen Europas. Ein Nebeneinander von wirtschaftlicher Konkurrenz und Kooperation zwischen zwei Verlagshäusern in der Frühen Neuzeit lässt sich exemplarisch am Umgang Jungs mit dem 1698 gegründeten Waisenhausverlag der Glauchaschen Anstalten zu Halle zeigen, die bereits 1700 eine Niederlassung in Frankfurt am Main betrieben.104 Schon vor Gründung des Verlags standen August Hermann 101   In den Jahren 1687 und 1688 kam Philipp Jakob Spener wohl jeweils in die sächsische Messestadt, um in der Nicolaikirche Gastpredigten zu halten, die er im Anschluss bei Johann Friedrich Gleditsch veröffentlichte. Auch der Nachdruck von älteren Werken Arndts sowie des schlesischen Erbauungsschriftstellers Valerius Herberger (1562–1627) lassen sich für das Leipziger Unternehmen belegen. Christian Scriver (1629–1693) war als evangelischer Geistlicher u. a. in Magdeburg und Quedlinburg tätig und veröffentlichte einige seiner Werke im relativ nahegelegenen Leipzig – u. a. bei Gleditsch und Fritsch. Auch der gebürtige Leipziger Theologe Johann Friedrich Mayer (1650–1712), dessen anfängliches Interesse an Speners pietistischen Ideen sich mit der Zeit in Ablehnung wandelte, taucht auf der Liste Gledtischs auf. Vgl. Wilhelm Jannasch: Art. „Herberger, Valerius“. In: NDB 8, 1969, 576f.; Carsten Erich Carstens: Art. „Scriver, Christian“. In: ADB 33, 1891, 489–492 und Theodor Pyl: Art. „Mayer, Johann Friedrich“. In: ADB 21, 1885, 99–108. 102   Darunter beispielsweise das Reale Staats-, Zeitungs- und Conversations-Lexikon (1. Aufl. von 1704), das auch im Inventar Jungs nachzuweisen ist, das Curieuse Natur-, Kunst- und Handels-Lexikon (1712) sowie das Museum geographicum (1712). Alle: Leipzig: Gleditsch. 103   Auch sie tauchen laut Gierl, Pietismus und Aufklärung [s. Anm. 13], 344f. in den Acta Pietistica auf. Die Werke, die von diesen beiden Verlegern bei Jung gehandelt wurden, sind jedoch nur z.T. theologischer Natur. Lankisch verlegte beispielsweise auch den Juristen Christian Lünig (1662–1740), dessen Werke Jung an- und verkaufte. 104   Vgl. einführend zum Waisenhausverlag Brigitte Klosterberg: Der Verlag der Buchhandlung des Waisenhauses zu Halle. Bibliographie der Drucke (1698–1728). Halle/Saale 2009, hier v.a. XV-

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Francke (1663–1727) und Zunner miteinander wegen des Drucks pietistischer Schriften in Kontakt.105 Aufgrund seiner Führungsrolle in pietistischen Kreisen waren Francke und der Waisenhausverlag schnell ein ernstzunehmender Konkurrent des Frankfurter Buchhändlers, wenn es darum ging, sich Werke zu sichern.106 Jung handelte in der Folge nicht nur mit Werken aus Halle, sondern buhlte mit Francke um die Veröffentlichung neuer Werke Speners. Letzterer sagte Francke zwar in einem Brief vom 8. August 1699 noch ab: Glaube auch, es wäre solches eine undanckbarkeit von mir, weil er [Zunner] solange nicht allein mein verleger gewesen, sondern sich nie geweigert hat, um mich bey gutem willen zu erhalten, wann ich ihm auch anderer arbeit gegeben, solches zu übernehmen, da er doch an einigen schaden gehabt.107

Doch ließ der Theologe nach dem Tod seines Freundes Zunner auch einige seiner Werke im Waisenhausverlag verlegen – und eben nicht mehr bei Jung, mit dem er sich offenbar nicht in demselben Maße verbunden fühlte.108 Darüber hinaus kauften die Hallenser dem Frankfurter Buchhändler wohl Rechte für limitierte Neuauflagen von Speners Werken ab, wie ein Brief Heinrich Julius Elers’ von 1719 exemplarisch zeigt: Ich wolte den Abend vor meiner Abreise berichten, so aber aus dem Mangel d. Zeit unterbleiben müßen, daß die Zunnerischen Erben vergönnen, daß wir eine Auflage à 3000 Exemplar Speneri Catechismi gegen ein honorarium à 100 rs thun machen mögten. Ich habe dem herr Orban bedungen, daß er gleich anfange zu drucken.109

Das oft zeitgleich ablaufende Handeln mit Büchern und Rechten sowie das Buhlen um Autoren und Werke machen eine klare Unterscheidung zwischen einem Konkurrenz- und einem Kooperationsverhältnis unmöglich. Dennoch veranschaulicht dieses knappe Beispiel die Mehrdimensionalität und das oft

XXIV. Neben der Filiale in Frankfurt eröffnete Francke 1702 auch eine Filiale in Berlin. Vgl. ebd.,VIII. 105   AFSt/H C 790: 4, Schreiben von Zunner an Francke, Frankfurt 31.10.1691. 106   Keding, Theologia experimentalis [s. Anm. 24], 74. Hier bezeichnet er Zunner u. a. als denjenigen Verleger, „der bis zur Gründung des Waisenhausverlags in Halle der größte lutherische Erbauungsverlag war“. 107   Schreiben von Spener an Francke, 30.09.1699. In: Philipp Jakob Spener: Briefwechsel mit August Hermann Francke 1689–1704. Hg. v. Johannes Wallmann, Udo Sträter in Zus.arb. mit Veronika Albrecht Birkner. Tübingen 2006, Brief Nr. 177. 108   Dabei handelt es sich wohl um mind. 32 Werke Speners, die in Halle erschienen sind. Einige Werke davon könnten jedoch in beiden Verlagen produziert worden sein.Vgl. zu Franckes Engagement für Speners Werke Klosterberg,Verlag der Buchhandlung [s. Anm. 104], XIf. 109   AFSt/H A 174: 154, Schreiben von Elers an Francke, Leipzig 13.10.1720. Elers war einer „seiner [=Franckes] engsten Mitarbeiter“ (Klosterberg, Verlag der Buchhandlung [s. Anm. 104], VII).

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zeitliche Neben-, Mit- und Gegeneinander, das das Verhältnis zwischen einzelnen buchhandelsgeschichtlichen Akteuren auszeichnete. Neben klassischen Buchhändlern arbeitete Jung mit anderen Berufsgruppen aus dem Buchmarkt zusammen: So werden nicht nur diverse Buchbinder genannt, deren Aufgabe darin bestand, die ungebunden und nur lose zusammengehefteten Bücher in die uns bekannte Form zu bringen; vielmehr kooperierte Jung offenbar – trotz eigener Druckerei, die dem Verlag angegliedert war – mit externen Buchdruckern. Ein vermutlich in Frankfurt ansässiger Papierhersteller namens Hinsched oder Hinscheid erscheint ebenfalls in den Quellen. Zu den Investoren der Firma gehörte neben dem Hauptgläubiger Beer, dem Jung nach Auflösung der Sozietät etwa 33.000 Gulden schuldete, auch der Frankfurter Löw Menasse, der 1719 verstarb und Forderungen in Höhe von etwa 24.000 Gulden gegenüber der Buchhandlung hinterließ. Weitere lokal ansässige Juden finanzierten Teile der Produktion und der Geschäfte, darunter Meyer und Isaak Scheuer,110 Beyfuß Salomon111 und Nathan Goldschmidt.112 Die Aufnahme von Krediten bei jüdischen Kaufleuten dürfte vor dem Hintergrund der Liquiditätsprobleme Jungs wenig überraschen und war zugleich keine Besonderheit der Zunnerischen Handlung, sondern war in der hessischen Reichsstadt weitverbreitet.113 Zunner und Jung nahmen selbstverständlich auch Kredite von christlichen Kaufleuten und Unternehmern, beispielsweise vom protestantischen Bankier Johann Maximilian Pauli (1645–1724) oder einem in Amsterdam ansässigen Händler namens Jean Tremont. Der Bankier Friedrich Reinhard Otto, der Rittmeister Jakob (de) Krüger sowie Johann Peter Fischbach hatten der Buchhandlung ebenfalls Geld geliehen. Letzterer wurde von den übrigen Gläubigern 1719 zum Insolvenzverwalter gewählt und bezog in dieser Funktion ein Salär von drei Gulden pro Woche.114 Auch wenn nicht alle Geldgeber der Buchhandlung hier aufgezählt werden können, lässt sich doch ein komplexes Netz an Kreditbeziehungen feststellen, in dem Jung fast durchweg als Schuldner genannt wird.Viele dieser ökonomischen 110  Vermutlich handelt es sich hier um Isaak David Scheuer, der 1728 verstarb. Vgl. Dietz, Handelsgeschichte [s. Anm. 11], 256. 111   Hier handelt es sich vermutlich um Beyfuß Salomon Scheuer, der 1722 verstarb. Dietz, Stammbuch [s. Anm. 3], 255. 112   Nathan Isaak Goldschmidt verstarb 1745. Dietz, Stammbuch [s. Anm. 3], 125. Die beiden Protagonisten Beyfuß Salomon und Nathan Goldschmidt tauchen u. a. als Geldwechsler in weiteren RKG-Prozessen auf. Vgl. Amend-Traut, Wechselverbindlichkeiten [s. Anm. 9], 222, 243f. Darüber hinaus standen Zunner und Jung offenbar in Kontakt mit einem prominenten Vertreter des jüdischen Buchhandels, Nathan Strauß (auch Nathan Amschel Maas zum goldenen Strauß, gest. 1714).Vgl. weiter Dietz, Handelsgeschichte [s. Anm. 11], 162. 113  Als weitere Beispiele nennt Alexander Dietz u. a. die Verlagshäuser Schönwetter und An­ dreae.Vgl. Dietz, Handelsgeschichte [s. Anm. 11], 132f., 162–167, 175–177. 114   ISG Ffm, RKG 721, Beer gegen Zunner,Vergleich, Frankfurt am Main 09.04.1720, unfoliert. Das Salär Fischbachs wird ersichtlich aus ISG Ffm, RKG 721, Beer gegen Zunner, Ausgabenübersicht, o.D., unfoliert.

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Kontakte dürften dabei eher Ergebnis eines konkreten (Geld-)Bedarfs als einer grundsätzlichen Investitionsstrategie gewesen sein. Hinweise in den Rechnungen wie „Isaac Scheuer wegen der 500 fl. an gerhardt int[eresse]“115 deuten an, dass Zunner und Jung nicht nur für die Produktion von Büchern, sondern sogar für die Tilgung von Schulden und Zinsen Geld aufnehmen mussten und dabei eher zweckmäßig als strategisch vorgingen. Dieser Pragmatismus zeigte sich zudem bei der Aufnahme von hohen Krediten bei jüdischen Investoren. Während im Alltag Zunner und Jung eng mit jüdischen Finanziers zusammenarbeiteten und sogar freundschaftliche Unterstützung beim Brand von 1711 gewährte, wurden in Zusammenhang mit dem Reichskammergerichtsprozess strategisch antijüdische Stereotypen eingesetzt. So unterstellte Jung Beer: Nachdem E[urer] hochfreyherrl[iche] Excell[enz] Justiz-Eyfer, besonders auch gegen Nothleydende und bedrangte Christlich mitleidendes gemüth, umb denen, so mit Unrecht umb haus und hoff und alle das Ihrige gebracht, zumahlen aber in totalen ruin gestürzet werden wollen, dero hohe hülffl[iche] hand pro Justitia gnedigst dazureichen, weltgeprießen ist, und denn wir Endes unterschriebene von einem arglistigen Juden, mit Nahmen Mayer Abraham Beer, einem abgesagten feind unseres theuren heylandes Jesu Christi nun viele Jahre her durch allerhand heyllose arglistige und denen Juden angebohren und mit der Muttermilch eingeflößete betriegl[iche] Kunde und Straiche auf das eüßerste bedrängt, in schwere und kostspielige Processe unverantwortl[ich] eingeflochten […].116

Die Verwendung derartiger antijüdischer Stereotypen als strategisches Element in einem Gerichtsverfahren ist dabei keineswegs außergewöhnlich. Wie beispielsweise Anette Baumann zeigen konnte, spielte sie sowohl bei der Argumentation von Prozessgegnern als auch z. T. bei der Entscheidungsfindung der Richter eine nicht zu unterschätzende Rolle.117

6. Resümee Bislang gibt es kaum mikrohistorische Arbeiten zu den Buchhandlungen und Verlagshäusern der Frühen Neuzeit, insbesondere im 18. Jahrhundert. Anhand des Beispiels Johann David Zunners bzw. Johann Adam Jungs lässt sich jedoch der Mehrwert einer solchen Untersuchung aufzeigen: Aspekte wie die familiäre

115   ISG Ffm, RKG 721, Beer gegen Zunner, Ausgabenübersicht, Frankfurt am Main o.D., unfoliert. 116   ISG Ffm, RKG 721, Beer gegen Zunner, Schreiben von Jung, Frankfurt am Main o.D., unfoliert. 117   Anette Baumann: Jüdische Reichskammergerichtsprozesse in Hamburg und Frankfurt/ Main. Ein Vergleich. In: Juden im Recht. Neue Zugänge zur Rechtsgeschichte der Juden im Reich. Hg. v. Andreas Gotzmann u. Stephan Wendehorst. Berlin 2007, 297–316.

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Dimension von Buchhandel und Unternehmensführung, der Stellenwert pietistischer Literatur in der Zeit um 1700 sowie der Einfluss jüdischer Kaufleute und die Bedingungen von deren Kooperation mit christlichen Verlagen sind ohne den Blick auf eine individuelle Ebene kaum sichtbar, ergänzen jedoch unser Bild vom Buchmarkt der Zeit ganz essentiell und tragen somit zu einem umfassenderen Verständnis bei. Das Heranziehen „neuer“ Quellengattungen (über Messkataloge und Veröffentlichungslisten hinaus) und die Hinwendung zu eher sozialgeschichtlichen Ansätzen schaffen außerdem Synergieeffekte mit anderen Fächern und Teilgebieten der Geschichtswissenschaft und ermöglichen somit verstärkt interdisziplinäres Arbeiten, hier beispielsweise auf dem Gebiet der jüdischen Kultur- und Sozialgeschichte oder der Pietismusforschung. Für die Person Johann Adam Jung bedeutet das außerdem, dass er nicht nur als Verleger und Buchhändler, sondern als Logistiker, Kaufmann, Gläubiger und als „ein freundt in der Noth“118 gesehen werden kann.

118   ISG Ffm, RKG 721, Beer gegen Zunner, Schreiben von Beer, Erlangen 20.01.1711, fol. 298v.

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Christoph Schmitt-Maass

Das „schöne Buch“ des Pasquier Quesnel: Die Réflexions morales sur le Nouveau Testament in pietistischer Perspektive* Im Rückblick beurteilt der Preußenkönig Friedrich II. (1712–1786) 1748 die Epoche des „Religionsfriedens“, die die Politik seines Vaters Friedrich Wilhelm (1688–1740) ermöglicht hatte, positiv. Dabei nimmt er eine überraschende Gleichsetzung von Jansenismus und Pietismus vor: Les luthériens profitèrent de ce calme : Francke, ministre de leur parti, établit, sans y mettre du sien, un collége à Halle, où se formaient de jeunes théologiens, et dont sortirent dans la suite des essaims de prêtres, qui formèrent une secte de luthériens rigides, auxquels il ne manquait que le tombeau de saint Pâris, et un abbé Bécherand pour gambader dessus; ce sont des jansénistes protestants, qui se distinguent des autres par leurs rigidités mystiques.1

 Die Recherchen für diesen Aufsatz wurden ermöglicht durch die Zuerkennung eines dreimonatigen Dr. Liselotte Kirchner-Stipendiums für Postdocs. Für Austausch, Anregung und Kritik danke ich Thomas Grunewald, Brigitte Klosterberg, Andreas Pečar, Thomas Ruhland, Christian Soboth, Damien Tricoire und Holger Zaunstöck (alle Halle/Saale). Die Erforschung der deutschsprachigen Jansenismus-Rezeption führe ich gegenwärtig mit Mitteln der Deutschen Forschungsgemeinschaft (Projektnummer 416363506) in München fort. 1   Friedrich II. von Preußen: De la superstition et de la religion (1748). In: Œuvres de Frédéric le Grand. 30 Bde. Hg. v. Johann D. E. Preuss [u. a.] Bd. 1: Œuvres historiques. Berlin 1846, 224– 242, hier 241. „Die Lutheraner benutzten die Ruhe. Ohne selber dazu beizusteuern, gründete Francke, ein Geistlicher aus ihrer Mitte, ein Stift in Halle, wo junge Theologen ausgebildet wurden. Daraus gingen später Scharen von Priestern hervor, die eine Sekte strenger Lutheraner bildeten. Ihnen fehlte nur das Grab des heiligen Pâris und ein Abbé Bécherand, der darauf herumhüpfte – protestantische Jansenisten, die sich von den anderen nur durch ihre starre Mystik unterscheiden.“ Friedrich II. von Preußen: Aberglaube und Religion (1748). In: Die Werke Friedrichs des Großen in deutscher Übersetzung in 10 Bdn. Hg. v. Gustav Berthold Volz. Bd. 1: Denkwürdigkeiten zur Geschichte des Hauses Brandenburg. Berlin 1912, 189–201, hier 201. *

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Friedrich belegt mit seinen Verweisen auf den diacre François de Pâris (1690– 1727)2 und den Abbé Bécherand,3 dass es ihm mit der Wortprägung der „jansénistes protestants“ um mehr als die bloße Assonanz von „jansénisme“ und „pié­ tisme“ geht; sieht doch der Preußenkönig bestimmte „mystische Praktiken“ in beiden Religionsformen realisiert. Diese Gleichsetzung von Jansenismus und Pietismus ist von der religionsund kirchengeschichtlichen Forschung relativ unreflektiert übernommen worden, etwa 1839 durch den Basler Kirchenhistoriker Carl Rudolf Hagenbach (1801–1874),4 aber auch noch von Ernst Troeltsch (1865–1923), der 1912 feststellt, der Katholizismus habe „seine pietistische Erscheinung im Janssenismus [!]“ gehabt.5 Die wiederholt behauptete Verwandtschaft von Jansenismus und Pietismus hat in jüngerer Zeit der Frühneuzeithistoriker Ernst Hinrichs (1937–2009) durch die Herausarbeitung struktureller Parallelen zwischen Jansenismus und Pietismus klarer zu konturieren gesucht.6 Unbeantwortet bleibt jedoch die Frage, wie sich die Rezeption des Jansenismus im hallischen Pietismus gestaltete, unter welchen Aspekten, Interessen und Schwerpunkten sie erfolgte. Auffällig ist, dass ab 1704 eines der bedeutendsten Werke des Jansenismus, die Logique de Port-Royal, in lateinischer Übersetzung in Halle verlegt wird (mit einer Vorrede des dem Pietismus nahestehenden Theologen Johann Franz Buddeus, 1667–1729);7 ebenso erscheinen die französi-

2  Vgl. Mathis Leibetseder: Am Grab des diacre François de Pâris. Die Wahrnehmung des „jansenistischen“ Paris im Reisetagebuch der pietistischen Grafen Reuß und Lynar (1731/32). In: Bücher, Bilder, Bibliotheken. Der Jansenismus im deutschsprachigen Raum, 1640–1789. Hg. v. Christoph Schmitt-Maaß. Berlin 2023, 129–156. 3   Zu Bécherand (auch: Bescherand), der nach dem Tod von François de Pâris zunächst am Grab von einer Lähmung geheilt wurde und Pilgerreisen nach Saint-Médard organisierte, vgl. Augustin Noyon: Un miracle du diacre Pâris. La guérison de l’abbé de Bécherand (1731–1732). In: Études publiées par des Pères de la Compagnie de Jésus 56, 1918, H. 157, 412–432. 4   Carl Rudolf Hagenbach: Der evangelische Protestantismus in seiner geschichtlichen Entwicklung. 6 Tle. in 3 Bdn. Leipzig 1837. Tl. 2: Vom dreißigjährigen Kriege bis zum Anfange des 18. Jahrhunderts, 389. 5   Ernst Troeltsch: Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen: Der Protestantismus [1912]. Tübingen 1994, 827. Paul Honigsheim, ein Schüler Max Webers, hat in seiner Dissertation von 1914 diesen Gedanken aufgegriffen und vertieft, vgl. Paul Honigsheim: Die Staats- und Soziallehren der französischen Jansenisten im 17. Jahrhundert. Heidelberg 1914. 6   Ernst Hinrichs: Jansenismus und Pietismus – Versuch eines Strukturvergleichs. In: Jansenismus, Quietismus, Pietismus. Hg. v. Hartmut Lehmann [u. a.]. Göttingen 2003, 136–158. 7   Logica sive ars cogitandi in qua præter vulgares regulas plura nova habentur ad rationem dirigendam utilia […]. Editio nova, eaque in Germania prima. […] Hg. v. Johann Franz Buddeus. Halle/Saale 1704 (21718). Die Hallesche Edition druckt die lateinische Übersetzung der Londoner Ausgabe von 1674 nach. Beim Übersetzer handelt es sich mutmaßlich um den deutschstämmigen Theologen und ersten Sekretär der Royal Society Henry Oldenburg (1618–1677), vgl. H. Oldenburg an J. Wallis, Br. vom 28.06.1673. In: John Wallis: Correspondence. Hg. v. Philip Beeley, Christoph J. Scriba.Vol. IV (1672-April 1675). Oxford 2014, 209 [Kommentar]. Buddeus lieferte für die Hallesche Ausgabe lediglich eine Praefatio.Vgl. auch Johann Franz Buddeus (praes.), Johann Friedrich Erckenbrecher (resp.): Pelagianismvm in Ecclesia Romana per Bvllam Anti-Qvesnel-

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schen Streitschriften um die Bulle Unigenitus (der sog. Appelantenstreit) zunächst mit unbekanntem Druckort in deutscher Übersetzung, dann mit Druckort Halle bei der Neuen Buchhandlung (neu übersetzt von Johann Michael Heineccius, 1674–1722).8 Der Appellantenstreit wird auch von pietistischen Theologen in eigenständigen Publikationen erörtert und durch Übersetzungen nach Deutschland vermittelt. Der Problemaufriss verdeutlicht, dass die Jansenismus-Rezeption im Pietismus vielschichtig ist. Im Anschluss an methodische Überlegungen, die ich anderenorts näher ausgeführt habe,9 werde ich daher diese Rezeption als kulturtransferelle Aneignungsleistung an einem Sonderfall nachzeichnen, nämlich an der Rezeption der Réflexions morales sur le Nouveau Testament des Pasquier Quesnel (1634–1719).

1. Editionen und Kommentare der Bulle Unigenitus Kein geringerer als der Gründungsvater des Halleschen Pietismus, August Hermann Francke (1663–1727), konturiert in der in Pietistenkreisen zirkulierenden Halleschen Correspondenz Parallelen zwischen dem Jansenismus und seiner eigenen (genuin lutherisch verstandenen) Haltung, etwa bezüglich der Beichte, der Kirchendisziplin, der volkssprachlichen Bibel (Francke nennt die Übersetzung der Bible de Sacy). Besonders bezieht sich Francke jedoch auf Quesnels „schöne[s] Buch“ Réflexions morales sur le Nouveau Testament aus dem Jahr 1692 und erinnert an die Inhaftierung und den Kirchenprozess gegen den Verfasser.10 Die Publikation der päpstlichen Bulle Unigenitus im Jahr 1713, die einem Verbot des Jansenismus durch den Vatikan gleichkam, hatte sich an den Réflexions morales von Pasquier Quesnel endzündet; 101 Sätze der Réflexions wurden durch Papst Clemens XI. (1649–1721) als häretisch verworfen. Quesnel hatte auf die Übersetzung des Neuen Testaments durch die Geistlichen von Port-Royal (Antoine Le Maistre, 1608–1658, Louis-Isaac Lemaistre de Sacy, 1613–1684) zurückgegriffen. Diese Übersetzung erschien 1667 beim Buchdru-

lianam […]. Jena [1714]. Unter dem Titel Commentatio historico-theologica de Pelagianismo in Ecclesia Romana erschien 1719 eine zweite, 1727 eine dritte Auflage unter Buddeus’ Namen. 8   Louis-Antoine de Noailles: Appellations-Instrument vom 3. April 1717. […] A. d. Frz. u. hg. v. Johann Michael Heineccius. Halle/Saale 1718. 9   Christoph Schmitt-Maaß: Bücher-Netzwerke. Ein Vorschlag zur Erforschung des Jansenismus und seiner Rezeption. In: Francia. Forschungen zur westeuropäischen Geschichte 47, 2020, 229–239. V   gl. für Jansenistica in pietistischen Buchbeständen Christoph Schmitt-Maaß: ,Glaubensbrüder, einer ,Religion des Herzens‘? Die pietistischen Rezeption des Jansenismus durch Spener, Arnold, Francke und Zinsendorf, 1671–1723. In: Bücher, Bilder, Bibliotheken [s. Anm. 2]. 10   Hallesche Correspondenz v. Juli 1705 (AFSt/H D 63 a, [unpaginiert, aber datiert]). Freundlicher Hinweis von Nikolas Schröder (Deutsche Akademie der Naturforscher Leopoldina/Nationale Akademie der Wissenschaften).

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cker der Stadt Mons, Gaspard Migeot (1630–1703), mit allen notwendigen Approbationen (wirklich druckte das Buch jedoch Daniel Elzevier [1628–1680] in Amsterdam), wurde jedoch umgehend durch zwei päpstliche Bullen als häretisch verworfen. Einerseits insinuierten die Jesuiten protestantische Positionen, andererseits übte Richard Simon (1638–1712) Kritik an der historisch-kritischen Methode.11 Unbestritten blieb jedoch die sprachliche Klarheit der Vulgata-Übersetzung des Nouveau Testament de Mons. Quesnel nahm daher die Übersetzung zur Grundlage für eine Neuausgabe des Nouveau Testament en français, dem er jedoch Réflexions morales sur chaque verset (also moralische Reflexionen über jeden Vers) beifügte, die das Neue Testament einer jansenistischen Interpretation unterzog. Quesnels Werk erschien 1687 bis 1692 und gilt als das vielleicht wichtigste Werk des Jansenismus neben dem 1640 postum publizierten Augustinus des Cornelius Jansenius (1585–1638). Da das Nouveau Testament de Mons als krypto-protestantisch kritisiert wurde und auch die kommentierte Ausgabe von Quesnel von Anfang an umstritten war, ist ein Interesse von pietistischer Seite an diesem Werk nicht verwunderlich.12 Im pietistischen Einflussbereich weckte die päpstliche Bulle erst recht das Interesse am Jansenismus. Eine Flut von Übersetzungen und Kommentaren der Bulle zielte auf eine pietistische Lesart dieses innerkatholischen Konflikts, wobei die pietistisch geprägten Theologen der Tübinger Universität das Zentrum dieses Rezeptionsprozesses bilden. Den Anfang der pietistischen Quesnel-Rezeption macht 1714/1715 der Jenaer Theologieprofessor Johann Franz Buddeus mit zwei Dissertationsschriften.13 Buddeus legt im Durchgang durch die katholische Kirchengeschichte (genauer: die Papstgeschichte) den Verfall der katholischen Kirche dar, die im aktuellen Pelagianismus gipfele, der in der Bulle Unigenitus manifest geworden sei. 1715 setzt sich der Tübinger Theologieprofessor und Universitätskanzler

  Bernard Chédozeau: Port-Royal et la Bible. Un siècle d’or de la Bible en France 1650–1708. Paris 2007, 439–445; ders.: Le Nouveau Testament autour de Port-Royal. Traductions, commentaires et études (1697-fin du XVIIIe siècle). Paris 2012, 65–80. 12  Vgl. den Aufsatz von Leonhard Hell: Inclementia Clementis. Lutherische Reaktionen auf die Bulle Unigenitus. In: Jansenismus im Wandel – Geschichtsbilder, Rezeption,Transformation. Hg. v. Johannes Burkhard,Tanja Thanner [in Vorbereitung]. Ich danke Prof. Hell, der mir das Manuskript seines Aufsatzes zugänglich gemacht hat. Im Unterschied zu Hell sehe ich die meisten erwähnten Theologen nicht im Zusammenhang mit der Lutherischen Orthodoxie, sondern (spezieller) mit dem Pietismus. 13   J.F. Buddeus (praes.), Johann Friedrich Erckenbrecher (resp.): Pelagianismum in Ecclesia Romana per Bullam Anti-Quesnellianam dieVIII Septembr. A. MDCCXIII a Clemente XI. R. P. promulgatam triumphantem […]. Jena 1714; J. F. Buddeus (praes.), Christian Löber (resp.): Defensio doctrinae orthodoxae de omnibvs concedenda scriptvrae sacrae lectione occasione Bvllae Anti-Qvesnellianae […]. Jena 1715. (2. Aufl. unter geändertem Titel: Commentatio historico-theologica de Pelagianismo in Ecclesia Romana per Bullam Anti-Quesnellianam Die VIII. Septembr. A M DCC XIII. a Clemente XI. R. P. promulgatam triumphante. Jena 1719). 11

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Johann Wolfgang Jäger (1647–1720) mit der päpstlichen Bulle auseinander.14 Die päpstliche Ablehnung der beiden ersten Quesnel-Sätze (die Gnadenlehre und die Rechtfertigung betreffend) verwirft Jäger und legt dafür eine lutherisch-pietistische Begründung zu Grunde. Vorbehaltlos zuzustimmen vermag Jäger Quesnel hingegen nicht. Zwei Jahre später folgt ihm sein (dem Pietismus nahestehender)15Amtsnachfolger Christoph Matthäus Pfaff (1686–1760) durch Herausgabe des Kurtze[n] doch gründliche[n] Bericht[s] von denen zwischen dem Römischen Stuhl und der Frantzösischen Kirche […] gewesenen Streitigkeiten, der zahlreiche Nachdrucke und Fortsetzungen erlebte.16 Pfaff – der im Rahmen seines württembergischen Hofmeisteramtes, das ihn nach Paris führte, Quesnel auf dem Höhepunkt des Appellantenstreits kennengelernt hatte17 – polemisiert gegen die doppelte Zugehörigkeit der französischen Untertanen (zur römischen Kirche und zum französischen König), die es im protestantischen Deutschland nicht gebe;18 der „Vice-Gott zu Rom“19 opfere aus Gründen des 14   Johann Wolfgang Jäger: Bulla novitia Pontificis Max. Clementis XI. cum fulmine damnationis vibrata contra doctissimum virum P[aschasium] Quesnel eiusque Nov[um] Testamentum, […]. Tübingen [1715]. Datierung nach Johann Ulrich Pregitzer: Suevia et Wirtenbergia sacra […]. Tübingen 1727, Anhang: Catalogus quorandum librorum Johannis Georgii Cottæ[…] propriis sumptibus ecxusorum […]. Das Folgende nach Wilhelm Deinhardt: Der Jansenismus in deutschen Landen. Ein Beitrag zur Kirchengeschichte des 18. Jahrhunderts. München 1929, 11–15. 15  Vgl. Wolf-Friedrich Schäufele: Christoph Matthäus Pfaff und die Kirchenunionsbestrebungen des Corpus Evangelicorum 1717–1722. Mainz 1998, 5–8. 16  Von Pfaff stammt eine Reihe von Übersetzungen und Editionen der Bulle Unigenitus, wobei sich auch die Editionen eines wertenden und einordnenden Kommentars nicht enthalten. Dazu rechnen: Acta publica constitutionis Unigenitus a Clemente XI pontifice romano contra Paschasium Quesnellum conditae, usque ad declarationem regiam Parisiensem […]. Tübingen 1721 (21723); Nova editio actorum publicorum Constitutionis Unigenitus […]. Tübingen 1723. Zu den kommentierenden und polemischen Schriften Pfaffs rechnen: Kurtzer doch gründlicher Bericht von denen zwischen dem Römischen Stuhl und der Frantzösischen Kirche von alten Zeiten her, jetzo aber bey nahe ein halb Seculum über obhanden gewesenen Streitigkeiten. Und sonderlich von dem noch währenden Streit wegen der päbstlichen Constitution Vnigenitus, wie das von dem Hn. Cardinal von Noailles und seinen Anhängern vertheidigte Neue Testament des P. Quesnels […]. Frankfurt, Hamburg, Leipzig, Nürnberg 1717 (21718); Fortsetzung des kurtzen doch gründlichen Berichts von denen zwischen dem Römischen Stuhl und der Frantzösischen Kirche wegen der Päpstlichen Bulle Unigenitus entstandenen Streitigkeiten […]. Frankfurt [u. a.] 1718; darüber hinaus hat Pfaff drei Dissertationen zum Thema verfasst und verteidigen lassen: Chr. Matth. Pfaff (praes.), Daniel Maichel (resp.): Dissertationem theologicam inauguralem controversias de gratia et prædestinatione inde a primis ecclesiæ temporibus usqve ad ultimam constitutionem Clementinam natas recensentem.Tübingen 1717; Chr. Matth. Pfaff (praes.), Georg Friedrich Rösler (resp.): Corporis doctrinæ, ad cuius normam Card. Noaillius Constitutionem Unigenitvs acceptavit, et actorum compositionis ab ipso factæ compendium sub incudem orthodoxiæ tantisper revocatum Deo clementer juvante. Tübingen 1721; Chr. Matth. Pfaff (praes.), Johannes Schweizer (resp.): Corpus doctrinae moralis, a Facultate Theologica Parisiensi, quae Sorbona vulgo audit, haud ita pridem editum & notis illustratum […]. Tübingen 1718. 17   Schäufele, Pfaff [s. Anm. 15], 26f., 32, 161. 18   Pfaff, Kurzer Bericht [1718] [s. Anm. 16], 32. 19   Pfaff, Fortsetzung [s. Anm. 16], Bl. F3r.

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Machterhalts das Seelenheil seiner Anhänger. Quesnel wird von Pfaff aufgrund der Appellations-Akte – also die an den Papst herangetragene Bitte Quesnels, die strittigen Lehrsätze seiner Réflexions morales in einem Konzil überprüfen zu lassen – mit Luther gleichgesetzt.20 In den 1721 publizierten, mehrfach nachgedruckten und ergänzten Acta publica constitutionis Unigenitus legt Pfaff darüber hinaus dar, dass die Verurteilung Quesnels den Infallibilitätsanspruch des Papstes widerlege. Die Annahme der päpstlichen Bulle durch Noailles sei nicht als Unterwerfung unter den päpstlichen Willen zu deuten, sondern alternativlos (sofern der Kardinal an seinem katholischen Amt festhalten wolle).21 Damit sind die wesentlichen Argumente von lutherisch-pietistischer Seite beigebracht, die von einer wahren polemischen Publikationsflut Pfaffs flankiert werden.22 Daneben ist besonders die hallesche Edition der Appellations-Akten von Interesse, legt doch der Herausgeber und Übersetzer – der lutherische Konsistorialrat und hallesche Stadtpfarrer Johann Michael Heineccius – in der Vorrede seine Beweggründe dar: Demnach habe ihm die Publikumswirksamkeit von Noailles imponiert, der durch seine Veröffentlichung „des Pabsts Censur eine[r] weit schärffere[n] Censur“ unterzogen habe und damit die päpstliche Unfehlbarkeit fragwürdig erscheinen lasse, zumal deutlich werde, „daß der Pabst nicht in facto irren / sondern auch solche Wahrheiten verwerffen könne / die in der heiligen Schrifft / denen Lehrern der Kirchen und denen Conciliis auf das vesteste gegründet sind“.23 In seinen Kommentaren zur Übersetzung verdeutlicht Heineccius zugleich sein Hauptanliegen: den „seuffzende[n] redliche[n] Gemüther[n]“ in der katholischen Kirche beizustehen gegen die „Macht der Finsterniß und die kräfftigen Irrthümer des Jesuitischen Pabstthums“.24 Durch den deutsch-französischen Paralleldruck sichert Heineccius seine Übersetzung

20   Pfaff, Fortsetzung [s. Anm. 16], 86. Vgl. dazu Christopher Spehr: Luther und das Konzil. Zur Entwicklung eines zentralen Themas in der Reformationszeit. Tübingen 2010. 21   Pfaff, Rösler, Corpus doctrinæ moralis [s. Anm. 16], 23. 22   Sie finden eine Antwort von katholischer Seite, etwa in der Streitschrift des Augustinerchorherren Augustinus Michel (1661–1751), vgl. s. Anm. 28. 23   Noailles, Appellations-Instrument [s. Anm. 8], Vorrede, Bl. )(2rf. Es wäre naheliegend, die Hallesche „Neue Buchhandlung“, bei der das Appellations-Instrument verlegt wird, mit der Buchhandlung des Waisenhauses zu identifizieren. Es handelt sich jedoch bei dem Verlag, der zwischen 1718 und 1735 nachweisbar ist (vgl. David Paisey: Deutsche Buchdrucker, Buchhändler und Verleger 1701–1750. Wiesbaden 1988, 186) um eine Gründung des Juristen und ThomasiusSchülers (sowie Cousins von A.H. Francke), Johann Christoph Franck[e] (Lebensdaten unbekannt), gemeinsam mit dem Schweizer Felix du Serre (du Serre geht 1718 ans reformierte Gymnasium nach Berlin). Der Verlag ist nicht unbedingt als pietistisch zu identifizieren, er verlegt bis zu seinem Konkurs 1735 u. a. Werke Jacob Paul Marpergers und Jacob Carl Speners (Johann Christoph von Dreyhaupt: Pagvs neletici et nudzici, oder ausführliche diplomatisch-historische Beschreibung des […] Saal-Creyses […]. 2 Tle. Halle/Saale 1749–1750, hier Tl. 2, 55, 613). 1720 veröffentlichte J.Ch. Francke pseudonym und mit fingiertem Druckort: Gottfried Wahrliebs Deutliche Vorstellung der Nichtigkeit derer vermeynten Hexereyen und des ungegründeten Hexen-Processes […]. Amsterdam 1720. 24   Noailles, Appellations-Instrument [s. Anm. 8],Vorrede, Bl. )(2r.

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philologisch ab, was die Polemik in den eingeschobenen Kommentaren (die die zeitgenössischen Polemiken, etwa von Frick, zitieren) abmildern soll. Die Heineccius-Edition verdeutlicht, dass die pietistischen Editoren, Übersetzer und Kommentatoren in einem engen Personennetzwerk interagieren. Der von Heineccius zitierte Ulmer Theologieprofessor Johann Frick (1670– 1739) trat mit drei anti-katholischen Polemiken hervor, die den JansenismusStreit nutzten, um gegen den päpstlichen Primat zu argumentieren: Mit Inclementia Clementis examinata (Ulm 1714) entfaltet Frick maliziös jene Argumente, die er in der Vorrede der 1717 erschienenen Edition25 wiederholen wird (die katholische Kirche habe keinen Überlieferungsprimat, dem Papst komme Unfehlbarkeit nicht zu und die Jesuiten hätten – zusammen mit dem französischen König – gegen die Jansenisten intrigiert). Daraufhin greift der Augustinermönch Bernard Désirant (1656–1725)26 Frick (sowie Johann Wolfgang Jäger und Jenichen) an, ebenso der Jesuit Christoph Leopold (1679–1748)27 sowie der Augustinereremit Augustinus Michel (1661–1751).28 Frick wiederlegt deren Argumente wiederum in einer Dissertationsschrift29 und in der Abhandlung Zosimus in Clemente XI. redivivus, in der er – in polemischer Absicht – Papst Clemens XI. mit Papst Zosimus identifiziert (der die Verurteilung von Caelestius und Pelagius im fünften Jahrhundert zunächst zurückgenommen und dann wieder begründet hatte).30 Frick stand mit A.H. Francke in Briefkontakt und legte eine umfangreiche Bibliothek mit Pietistica an.31 Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die pietistische Edition der Bulle Unigenitus und deren Kommentierung (durch Polemiken und Dissertationen)

25   Die Bulla Unigenitus, oder: Clementis XI. Constitution wider die Anmerckungen P. Quesnels über das Neue Testament. Mit vielen Stellen der H. Schrifft und alten Väter beleuchtet […]. A. d. Frz. v. Gottfried Hecking. Hg. v. Johann Frick. Ulm 1717.Vgl. dazu s. Anm. 53. 26   Bernard Désirant: Augustinus vindicatus: contra centum et unam damnatas Paschasii Quesnelli Proposotiones […]. Rom 1722. Désirant war bereits 1686 mit einer Schrift gegen Zeger Bernard Van Espen (1646–1728) hervorgetreten (Palinodia palinodiæ, bullæ Clementis VIII. quintuplex capitalis corruptio, silentium multiplex et cætera […]. Löwen 1686). 27   Dissertationes historico-polemicæ. Quibus Bulla: Unigenitus. Contra Novum Testamentum P. Quesnelli, anno 1713 promulgata : Adversùs librum, cui titulus: Inclementia Clementis Papæ XI. Ulm, Augsburg 1718. 28   Augustinus Michel: Examen reflexum examinis: ad quod Sanctissimi Domini Nostri Clementis XI. novissimam Bullam, condemnantem unam et centum propositiones erroneas Paschasij Quesnelli Jansenistae perperàm vocavit […] Joannes Wolfgangus Jaegerus […]. Ingolstadt 1716; ders.: Ins Teutsch übersetzte gründliche Widerlegung jenes verschreyten Buchs, so den vermessenen Titul führet: Expostulation et protestation; […]. Augspurg 1721. 29   J. Frick (praes.), Johann Georg Sapper, (resp.): Dissertatio theologica solennis de culpa schismatis Ecclesiæ Evangelicæ immerito imputata […]. Ulm 1717. 30   J. Frick: Zosimus in Clemente XI. redivivus, sive dissertationes ecclesiasticae duae. De finibus potestatis papalis ultra id quod decet protensis in causa pelagiana, et de primatu oppositae Christophoro Leopoldo […] Instrumentum appellationis […]. Ulm 1719. 31   Theo Pronk: Ulm. In: Handbuch kultureller Zentren der Frühen Neuzeit: Städte und Residenzen im alten deutschen Sprachraum. Bd. 3. Hg. v. Wolfgang Adam u. Siegrid Westphal. Berlin 2012, 2005–2060, hier 2025.

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einer Doppelstrategie folgt: die scheinbar „neutrale“ Edition und Übersetzung der Bulle werden häufig vermischt mit anti-katholischer (genauer: anti-päpstlicher) Polemik; der dokumentarische Informationsanspruch wird dadurch gleichsam konterkariert. Die in den Editionen vorgeschobene Schriftgläubigkeit und Volkssprachlichkeit dienen den Kommentatoren dazu, die „Verdorbenheit“ der katholischen Kirche anzuprangern und für die lutherisch-pietistische Sache Werbung zu machen. In Quesnel vermutete man einen Kombattanten: nicht jedoch aufgrund dogmatischer Übereinstimmungen (etwa hinsichtlich der Gnadenlehre), sondern aufgrund der Volkssprachlichkeit seiner Bibelausgabe. Eine Kirchenunion, wie sie angesichts des Reformationsjubiläums 1717 zwischen Calvinisten und Lutheranern, zwischen lutherischen und reformierten sowie anderen Pietisten diskutiert wurde, hätte nur schwerlich die Jansenisten mit einbezogen,32 und die romtreuen Katholiken schon gar nicht. Die pietistischen Autoren lieferten in ihrer Aneignung des Jansenismus ironischer (und zugleich tragischer) Weise den Gegnern von Noailles und Quesnel neue Munition, belegten doch die Erklärungs- und Anknüpfungsversuche von protestantischer Seite gerade das Häretische der Appellanten.

2. Übersetzungen der Réflexions morales Den Schluss meiner Darlegung bilden zwei Übersetzungen von Quesnels Réflexions morales, die im pietistischen Umfeld zu verorten sind. Beginnen werde ich mit der Fragment gebliebenen Übertragung durch den Nauener Pfarrer Balthasar Köpke (1646–1711).33 Ein früher Weggefährte Philipp Jakob Speners (1635–1705), wandte sich Köpke in dessen Todesjahr an Canstein und kündigte seine Übersetzung von Quesnels Réflexions morales an.34 Im selben Jahr hatte Köpke eine Übersetzung der Geistreiche[n] Schrifften des Puritaners Thomas Goodwin (1600–1680, mit einer Vorrede Speners) veröffentlicht, musste jedoch – mangels Englischkenntnissen – auf die lateinische und die niederländische Übersetzung zurückgreifen.35 Köpke scheint 1711 seine Quesnel-Übersetzung weitgehend abgeschlossen zu haben; jedenfalls wandte er sich an den halleschen Theologieprofessor Joachim Lange (1670–1744), den er noch von dessen Zeit als Rektor des Friedrichswerder Gymnasiums in Berlin kannte, und bat um

 Wie Deinhardt, Jansenismus [s. Anm. 14], 20 in polemischer Absicht behauptet.   Zu Köpke vgl. Lothar Noack: Art. „Balthasar Köpke“. In: Bio-Bibliographien. Brandenburgische Gelehrte der frühen Neuzeit: Mark Brandenburg 1640–1713. Hg. v. Lothar Noack u. Jürgen Splett. Berlin 2001, 286–292. 34   C.H. v. Canstein an A.H. Francke, Br. vom 22.08.1705. In: Der Briefwechsel Carl Hildebrand von Cansteins mit August Hermann Francke. Hg. v. Peter Schicketanz. Berlin, New York 1972, 305. 35   Udo Sträter: Sonthom, Bayly, Dyke und Hall. Studien zur Rezeption der englischen Erbauungsliteratur in Deutschland im 17. Jahrhundert. Tübingen 1987, 21, 27 u. ö. 32 33

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Unterstützung bei der Publikation seiner Übersetzung.36 Über Lange erreicht die Übersetzung wieder Carl Hildebrand von Canstein (1667–1719), der sich gegenüber Francke zu den Publikationsplänen abwartend äußert: Zwar enthielten Quesnels Réflexions morales „herrliche gedancken, aber indeßen hatt doch autor [i.e. Quesnel] die hypot[hesen] Seiner kirchen behalten“, und außerdem mangelten es hinsichtlich der Integration der „Theologiae Mysticae“ des „studio scripturae“ und der „demonstratio spiritus“.37 Hier habe Köpke eingegriffen und die exegetischen Anteile von Quesnels Text verbessert (ein ähnliches Verfahren begegnet in Köpkes Goodwin-Übersetzung, und Johann Jakob Rambach [1693–1735] heißt es explizit gut).38 Doch Canstein gehen die Revisionen nicht weit genug. Als eine Ursache sieht er Köpkes „vires animi und also judicia“, die altersbedingt abgenommen hätten. Da Canstein den Druck bezahlen wird, will er Köpkes gesamtes Manuskript lektorieren mithilfe eines Korrektors und schlägt den Magister Johann Ulrich Schwetzel (1685–1747) vor.39 „So wird auch ein gantz ander titul des buchs gemacht werden müßen, weilen Es nicht mehr eigentlich eine traduction der reflexionen von p. quesnel ist, sondern nur das beste, wie aus andern genohmen worden“, und schließt: „gott gebe doch, daß wir mit dem druck fortkommen, und damit bey jederman bestehen. denn viele haben ihre augen auf das werck gewendet.“40 Bereits einen Monat später berichtet Canstein deutlich ernüchtert an Francke: Sonsten ist die traduction des H. Kopkens nicht […] am besten gerathen. der liebe mann, weilen Er der francösischen sprachen nicht recht mächtig, So ich nicht vermuthet habe, hatt meistens sensum gallicum nicht exhauriret, ja sehr oft einen sensum contrarium in der uebersetzung exprimiret;41

die ganze Arbeit sei „keine eigentliche ubersetzung des p. quenel [!], sondern Er [Köpke] hatt, nach gefallen, ausgelaßen, hinzugesetzet, gebeßert.“ Zusätzlich äußert Canstein nun starke Zweifel an der Verkäuflichkeit der Übersetzung, da Quesnel „sehr wenig in teutschland bekand, auch sein werck [nicht], weilen Es idiomato gallico geschrieben.“ Außerdem würden die Protestanten (der größte Absatzmarkt im Reich) „von einem Romano Catholico eben nicht was großes

  B. Köpke an J. Lange, Br. vom 14.04.1711, AFSt/H A 188a : 99.   C.H. v. Canstein an A.H. Francke, Br. vom 30.06.1711. In: Canstein, Francke, Briefwechsel [s. Anm. 34], 441. 38   Sträter, Englische Erbauungsliteratur [s. Anm. 35], 56. 39   C.H. v. Canstein an A.H. Francke, Br. vom 30.06.1711. In: Canstein, Francke, Briefwechsel [s. Anm. 34], 442. Schwen(t)zel war nach dem Studium in Halle 1709 ab 1713 Inspektor in Luckenwalde und ab 1719 Pfarrer an der Moritzkirche in Halle. 40   C.H. v. Canstein an A.H. Francke, Br. vom 30.06.1711. In: Canstein, Francke, Briefwechsel [s. Anm. 34], 443. 41   C.H. v. Canstein an A.H. Francke, Br. vom 25.07.1711. In: Canstein, Francke, Briefwechsel [s. Anm. 34], 445; 446). 36 37

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vermuthen: […] worinnen selbige auch nicht so gar ungegründet“. Als Köpke Ende Juli 1711 stirbt, empfindet das Canstein eher als Erleichterung, da nun „alle die considerationen, so man in ansehung des H. Kopkens gehabt, wegfallen“ können.42 Warum Canstein, der durchaus ökonomische Überlegungen anstellte, die (verschollene)43 Köpke-Übersetzung nicht anlässlich der Publikationsflut, die mit der Veröffentlichung der Bulle Unigenitus ab 1713 einherging, zum Druck gebracht hat, ist heute im Einzelnen nicht mehr zu rekonstruieren. 1718 nutzte jedenfalls ein anderer Übersetzer die Gunst der Stunde. Der Stuttgarter Hofkaplan (seit 1716) Johann Andreas Grammlich (1689–1728)44 bevorwortete die Übersetzung Das Neue Testament unsers Herrn Jesu Christi. Mit erbaulichen Betrachtungen über ieden Vers von August Tittel (1691–1756)45 – eine Übersetzung, die vor allen Problemen der Köpke-Übersetzung gefeit war.46 1713 bei Johann Wolfgang Jäger in Tübingen promoviert,47 ist Grammlich auch als Kirchenlieddichter hervorgetreten.48 Grammlich, verschiedentlich mit dem aufgrund seiner Kritik an der Mätressenwirtschaft des Württembergischen   C.H. v. Canstein an A.H. Francke, Br. vom 1.08.1711. In: Canstein, Francke, Briefwechsel [s. Anm. 34], 447. 43   Der Nachruf auf Köpke in den Acta Historica-Ecclesiastica 8, 1744, 45.Tl., 375–383, verzeichnet (382f.) unter den „Edenda“: „Reflexiones morales P. Quesnel, Iansenistae, super N. Test. gallice editae Parisii 1692. ex Gallica in vernaculum nostram translatae, correctae et auctae. Septem tomi sunt elaborati, D. Prof. Langen missi, qui quae restant, supplebit.“ Ein geschlossener Nachlass Langes (in dem das Manuskript der Köpke-Übersetzung enthalten sein könnte) scheint nicht überliefert zu sein. 44  Grammlichs Gottselige Betrachtungen auf alle Tage des gantzen Jahrs (Stuttgart 1724). Auch wenn sich Grammlich in der Vorrede auf die „Frantzosen“ (Bl. a2v) als Vorbild beruft, so findet sich im Text keine Übereinstimmung zu einem zeitgenössischen Text, etwa zu Nicolas Le Tourneux’ L’Année chretienne. 45  Johann Georg Meusel nennt in seinem Lexikon der vom Jahr 1750 bis 1800 verstorbenen teutschen Schriftsteller (Bd. 14. Leipzig 1815, 88) August Tittel (1691–1756) als Übersetzer. JöcherAdelung-Rotermund nennen Grammlich als Übersetzer (Fortsetzung und Ergänzung zu […] Jöchers allgemeinem Gelehrten-Lexico. […]. Bd. 6. Bremen 1819, 1131).Vgl. Grammlichs eigene Distanzierung von dieser Übersetzung als „dunkel“ in der Vorrede seiner Gründlichen und erbaulichen Reflexionen oder Anmerckungen (1721).Tittel studierte in Meißen und Leipzig Theologie, war später Pfarrer bei Weißenfels, könnte also (zumal als Hofmeister des Grafen von Dieskau) durchaus mit den Pietisten in Berührung gekommen sein. Seine sonstigen Publikationen sind allerdings nicht spezifisch pietistisch. 46  Vgl. [Anonym:] Art. „Tittel, August“. In: Lexikon der vom Jahr 1750 bis 1800 verstorbenen teutschen Schriftsteller. Hg. v. Johann Georg Meusel. Bd. 14. Leipzig 1815, 87–89, hier 88. 47  Mit einer theologischen Kritik an Christian Thomasius’ (1655–1728) Verteidigung der Mehrehe De concubinato (1713). 48   Gottfried Mälzer: Die Werke der Württembergischen Pietisten des 17. und 18. Jahrhunderts. Berlin, New York 1972, 110–113 (Nr. 853–876).Von 1721 datiert eine Adaption von Joseph Halls Scripture History, or, Contemplations on the Historical Passages of the Old and New Testaments (1614), vgl. Johann Andreas Grammlich: Zufällige und erbauliche Anmerckungen über die Apostolische Geschichte, als ein Supplement der Biblischen Geschichte Joseph Halls. Nebst einem Anhang der Geschichte der Weisen aus Morgenland […]. Frankfurt/Main, Leipzig 1721 (keine weiteren Informationen dazu in Sträter, Sonthom [s. Anm. 35]). 42

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Herzogs Eberhard Ludwig (1676–1733) seines Amtes enthobenen Hofpredigers Samuel Urlsperger (1685–1772) verwandt, traf A.H. Francke bei dessen Reise ins Reich 1717 in Stuttgart und organisierte dessen Predigt in der Stuttgarter Stiftskirche.49 In diesem Kontext entsteht Grammlichs Vorwort zu Tittels Quesnel-Übersetzung, wie eine Datierung seiner umfassenden „Historischen Vorrede“ festhält. Zur Lektüre der Heiligen Schrift sei keine „penetrante […] Vernunft“ notwendig, sondern hingebungsvolle Versenkung („meditation“),50 die er als die beste „ar[s] reflectendi“ erachte (Bl. [aa]r). Quesnels Arbeit zähle mit ihren „geistreichen und erbaulichen Anmerckungen über das Neue Testament“ zu den besten Beispielen. Grammlich erinnert daran, dass die Verfolgung Quesnels in Frankreich erst dazu geführt habe, dass die Réflexions morales über die Landesgrenzen hinaus auf interessierte Leser gestoßen seien (Bl. [aa]v). Anschließend referiert Grammlich die Genealogie Quesnels, um dessen Untadeligkeit zu belegen; ebenso datiert er Quesnels Konflikte mit den Jesuiten bereits in dessen Studienzeit zurück (Bl. [aa]vf.). Der eigentliche Konflikt mit den Jesuiten sei jedoch aufgrund der Bevorzugung Quesnels in der Ämtervergabe zu suchen (Bl. bv). In Umdeutung der historischen Tatsachen verschweigt Grammlich das Nouveau Testament de Mons und führt die Herkunft von Quesnels Übersetzung und seiner Réflexions morales vielmehr auf die katechistische und erbauliche Lektürepraxis der Oratorianer zurück. Auf Wunsch von Laiengeistlichen habe er seine lateinisch gehaltenen Anmerkungen ins Französische übersetzt, woraufhin sie solchen Anklang unter der (adligen) Laienbruderschaft gefunden hätten, dass sie gedruckt worden seien. Diese „Volksausgabe“ sei unter der einfachen Bevölkerung sehr erfolgreich gewesen, „daß es geschienen, als wann der alte Eifer der ersten Christen in Erforschung der Schrifft, so wohl Tag als Nacht, wieder lebendig geworden wäre.Woraus erhellet, wie die armen Leute im Pabstthum nach dem heiligen Worthe GOttes so hungrig und durstig seynd“ (Bl. b2r). In ihrem Eifer würden die katholischen die protestantischen Laien beschämen, die dieses „Manna“ gar nicht mehr zu würdigen wüssten. Erst mit seiner Edition der Werke des Hl. Leo (Papst Leo IX., 1002–1054) von 1675, die im Kern die Frage der päpstlichen Unfehlbarkeit betreffen, habe Quesnel den Hass Roms auf sich gezogen. Grammlich zeichnet nun ein Bild des zunehmenden Zerwürfnisses zwischen Quesnel und der katholischen Kirche; nicht zuletzt, um seine Übersetzung zu rechtfertigen (Formularienstreit, Exilzeit Quesnels etc.). Doch habe Quesnel immerfort an seiner Auffassung der augustinischen Gnadentheologie festgehalten, was Grammlich mit der Bemerkung quittiert, es sei ein „listiger Streich des Satans“,

49   Tagebuch von August Hermann Francke, Eintrag v. 14.11.1717, 36 (AFSt/H A 170 : 1, auch digital abrufbar unter: digital.francke-halle.de/download/webcache/1000/41508 [3.11.2020]). 50   Pasquier Quesnel: Das Neue Testament unsers Herrn Jesu Christi mit erbaulichen Betrachtungen über ieden Vers [.,..]. Frankfurt/Main 1718, Historische Vorrede, Bl. av. Mit Paginierung im Text zitiert.

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daß, wie leider bey uns diejenige, die einen besondern Ernst des Christenthums zeigen, so gleich Pietisten heissen müssen, also auch bey ihnen [i.e. den Katholiken] vor Jansenisten […] angesehen wurden, die eine rechtschaffene und gründliche Busse entweder lehreten oder selbst an ihrem Exempel zeigeten. (Bl. [b4]v)

Weiter legitimiert Grammlich die Übersetzung (und seine Darstellung von Quesnels Biographie) durch die Bemerkung Ich [i.e. Grammlich] habe selbst das Glück und die Ehre gehabt auf meiner Reise, ihn [i.e. Quesnel] daselbst [i.e. in Amsterdam] zu etlichen mahlen zu sprechen, und kan ich wohl mit Wahrheits-Grund bezeugen, daß ich kaum einen demüthigern und freundlichern Mann im Umgang unter den Gelehrten angetroffen habe […]. (Bl. [b4]v)

Grammlich hatte sich tatsächlich zwischen seinem Studienabschluss und seiner Berufung zum Stuttgarter Hofkaplan verschiedentlich als Präzeptor junger Adliger (u. a. des württembergischen Erbprinzen Friedrich Ludwig, 1698–1731) in den Niederlanden und in Frankreich aufgehalten und in Paris offenbar auch die Bekanntschaft mit Quesnels Bruder Guillaume (1641–nach 1720) gemacht.51 Grammlich zeichnet den Streit um Quesnels Réflexions morales weitgehend historisch korrekt nach. Quesnels Nouveau Testament und die zugehörigen Réflexions morales seien 1687 vollendet worden und hätten reißenden Absatz gefunden (Bl. cr). V.a. in Kardinal Noailles habe Quesnels Werk einen Unterstützer gefunden. Den „Sturz“ Quesnels (und seines Unterstützers Noailles) stellt Grammlich als Intrigenspiel zunächst der Jesuiten, dann des französischen Königs Ludwig XIV. dar; erst durch den régent Philippe seien die Jesuiten 1715 niedergerungen und Noailles mit Quesnel „aus dem Staube wieder erhoben“ worden (Bl. i3r). Grammlich referiert sodann die ganzen Streitigkeiten, die sich schließlich in der Bulle Unigenitus gebündelt hätten, und kürzt am Ende seine ausführliche Darstellung ab, indem er auf eine „unter Handen habende Historie von dem Leben und fatis Quénels“ (Bl. [m4]r) verweist, also auf eine QuesnelBiographie, die er – Grammlich – aktuell schreibe und in der er dank eines Korrespondentennetzwerkes in Frankreich und den Niederlanden „dieses alles abhandeln und beschreiben“ werde.52

51   [Georg Friedrich?] Steinweg: Art. „Grammlich, Johann Andreas“. In: Neu-vermehrtes historisch- und geographisches allgemeines Lexicon […]. Hg. v. Jakob Christoph Iselin. 3. Aufl. Supplement-Bd. 3: D-Ha. Basel 1742, 860. 52   In der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts sind in deutscher Sprache zwei Quesnel-Biographien erschienen: G. V. E.: Leben des weltberühmten Pater Quesnel. Nebst einer curieusen Historie des zwischen dem Pabst und Franckreich noch währenden Kirchen-Streits […]. Hamburg 1718; Kurtzgefaster Lebens-Lauff des berühmten P. Paschasii Quesnel, Priesters des Oratorii in Franckreich. […]. [O.O.] 1720. Keines der beiden Werke stimmt in Stil und Materialfülle mit Grammlichs „Historischer Vorrede“ überein.

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Durch den Abdruck der historischen Gegenschriften zu Quesnel wird Grammlichs „Historische Vorrede“ gleichsam zum „historischen Archiv“ des Unigenitus-Streits. So druckt Grammlich die päpstliche Bulle mit ab, einschließlich der Verdammung der 101 fehlerhaften Sätze. Dafür greift Grammlich auf die Übersetzung zurück, die bereits 1717 – ergänzt durch eine polemische Vorrede des Ulmer Theologieprofessors Johann Frick – in Ulm gedruckt worden war;53 die sogenannten Appellations-Akten und das sogenannte Appellations-Instrument, das Noailles 1713 publizieren ließ, worin die Verdammung der 101 Sätze aus Quesnels Réflexions morales widerlegt wird, druckt Grammlich nach der Übersetzung ab, die im Vorjahr in der Europäischen Fama des Pietisten Philipp Balthasar Sinold von Schütz (1657–1742) erschienen war.54 Diese Praxis des Wiederabdrucks ist zeittypisch, verdeutlicht aber doch Grammlichs (publikatorische) Vernetzung. Grammlich selbst betont in seiner „Historischen Vorrede“ zudem genüsslich, dass durch die päpstliche Bulle nicht allein Quesnels Buch indiziert werde, sondern gleichzeitig der Kirchenvater Augustinus sowie Dogmata des Hl. Thomas (Bl. hr) – ein Argument, das Grammlich der Historia et examen Bvllae Anti-Qvesnellianae des Leipziger Theologen Gottlieb Friedrich Jenichen (1680–1735) von 1714 entnimmt. Grammlich verkehrt die päpstliche Kritik an Quesnel in ihr Gegenteil: in den Réflexions morales lehre Quesnel „gut (Lutherisch, oder vielmehr) Evangelisch“, und zwar in Bezug auf die Gnadenlehre („Dahero ohne diese Gnade GOttes der Mensch das Göttliche Gesetz unmöglich halten könne“) ebenso wie in Bezug auf das Schriftprinzip (sola scriptura) (Bl. hv), wobei Grammlich Quesnel eher in der calvinistischen und arminianischen denn lutherischen Traditionslinie sieht (Bl. h2r).55 Diese Einordnung wird verständlicher angesichts der anschließenden Leseanweisung für Quesnels Réflexions morales: so müsse der Leser sich „sowohl vor Calvinischen als auch Päpstlichen Irrthümern“ hüten, und zwar „mit desto grösserer Vorsichtigkeit, ie verborgener und verdeckter dieselbe offt in denen schönsten und anmuthigsten Anmerckungen stecken“, sei doch Quesnel einerseits „ein guter Janseniste“ gewesen, andererseits „ein eiferiger Papist“ (Bl. h2r). Er habe daher „seine vorgefaßte Meynungen auch mit in die Bibel, und in seine Anmerckungen hier und da […] einfliessen lassen.“ (Bl. h2v) Dank der „geübten Sinne“ verstünden es aber seine Leser, „gut“ und „böse“ zu unterscheiden und die Übersetzung gewinnbringend zur „Erbauung“ zu lesen (Bl. h2v). Die benevolente Adressierung beendet die „Historische Vorrede“: all die gelieferten histo53   Frick, Bulla Unigenitus [s. Anm. 25]. Die Übersetzung stammt vom Ulmer Schulrektor Gottfried Hecking (1687–1743), der in Halle studiert hatte und dort Anhänger Franckes geworden war. Grammlich verweist in der Historischen Vorrede der Quesnel-Übersetzung auf diese Streitschrift, vgl. Quesnel, Das Neue Testament [s. Anm. 50], Bl. hv, Anm. a. 54   Die europäische Fama, welche den gegenwärtigen Zustand der vornehmsten Höfe ent­ decket. Hg. v. Balthasar Sinold v. Schütz. Leipzig 1702–1735, hier Tl. 202, 1717, 819–832. 55   Grammlich verweist dazu auf Gottlieb Friedrich Jenichen: Historia et examen Bvllae AntiQvesnellianae. Leipzig 1714. Jenichen ist überzeugter Lutheraner; seine Schrift wird daher im hiesigen Kontext nicht weiter erörtert.

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rischen Informationen seien zweitrangig gegenüber einer Lektüre von und einer „Meditation“ über Quesnels Reflexions morales (Bl. [m4]v). Wie ist es nun um die Qualität der Übersetzung bestellt, die Grammlich bevorwortet? Hier bietet sich ein abschließender Vergleich von Köpkes fragmentarischer Übersetzung an, soweit sie aus der Korrespondenz zwischen Canstein und Francke rekonstruiert werden kann. Ausgewählt wurde eine Stelle, an der Quesnel die Verkündung Jesu durch Johannes den Täufer kommentiert („En ce temps-là Jean-Baptiste vint précher au desert de Judée. En disant: Faites penitence; car le royaume du ciel est proche.“ / „Zu der Zeit kam Johannes der Täuffer / und predigte in der Wüste Judäa: Und sprach: Thut Busse / denn das Himmelreich ist nahe herbey kommen“, Mt 3, 1–2). Der direkte Vergleich des Quesnel-Kommentars mit den beiden Übertragungen ins Deutsche (durch Köpke und durch Tittel) verdeutlicht den souveränen Umgang des Dieskauer Hofmeisters mit der französischen Vorlage, während Köpkes (auf Lateinkenntnissen beruhende) explikatorische Übertragung jegliche Eleganz vermissen lässt und sogar inhaltlich falsch ist: Quesnel

Köpke

Tittel

buße ist der anfang der Die Busse ist die La penitence est la vraie preparation au Seeligkeit und der rechte Vorbereitung regne de Dieu.56 annäherung des reichs Gottes.57 zum Reiche Gottes.58 Tittels Quesnel-Übersetzung hat nachgewirkt, veröffentlicht doch Grammlich 1721 seine Gründlichen und erbaulichen Reflexionen oder Anmerckungen über einen jeden Vers der Episteln Petri, Johannis, Jakobi und Judae, die er nach Art und Weise deß Quenellianischen Neuen Testaments angefertigt habe, doch aber viel weitläuffiger und dem Text gemäßer.59 In der Dedikation an Eberhard Ludwig von Württemberg datiert Grammlich die ersten Entwürfe zu dieser Quesnel-Nachahmung auf seine Pariser Präzeptorenzeit zurück, eigneten sich doch die Apostelbriefe besonders zur Fürstenerziehung.60 In der Vorrede betont Grammlich hingegen die Adressierung des einfachen Volkes durch seine erbaulichen Kommentare (§1), die zwar in Quesnels Réflexions morales ihren Ausgang nähmen (§2). Doch sei die von ihm bevorwortete Übersetzung sehr „dunckel“ geraten. Zudem habe sich Quesnel in seinen Anmerkungen bei den Kirchenvätern bedient. Dieses Verfahren stehe aber dem (lutherischen) Textverständnis entgegen;

56   Pasquier Quesnel: Le Nouveau Testament en français, avec des réflexions morales sur chaque verset, […]. Nouvelle édition augmentée […]. Bd 1. Paris 1699, 19. 57  [Balthasar Köpke: Übersetzungsfragment von Pasquier Quesnels Reflexions morales], AFSt/H D 68, Bl. 33r. 58   Quesnel, Das Neue Testament [s. Anm. 50], 10. 59   Johann Andreas Grammlich, Reflexionen […]. Stuttgart 1721. 60   Grammlich, Reflexionen [s. Anm. 59], Widmung, Bl. )(4v.

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das gilt auch für die Schriften der Madame Guyon (1648–1717) (§ 3) und von Joseph Hall (1574–1656) (§ 4).Während erstere als Mystikerin und Papistin und letzterer als Historiker kritisiert wird, so nimmt Grammlich die lutherischen Vorläufer als Grundlage einer erneuerten Reflexion, die dem „Buchstaben“ ebenso viel Gewicht beimisst wie der „Moral“ (§ 12), wobei er sein eigenes Werk zwischen dem schwäbischen Pietisten Johann Reinhard Hedinger (1664– 1704) und Quesnel verortet. Die Kommentierung orientiert sich dann tatsächlich an Quesnels Schema, ergänzt um historisierende Anteile.61

3. Resümee 1791 veröffentlichte der hessen-darmstädtische Gymnasiallehrer und spätere Tübinger Theologieprofessor David Christoph Seybold (1747–1804) seine Satire Lucian’s Neueste Reisen oder wahrhafte Geschichten. In einem Totengespräch lässt er Cornelius Jansenius, Pasquier Quesnel, Philipp Jakob Spener und Johann Arndt (1555–1621) zusammentreffen. Letzerer stellt die Gemeinsamkeiten von Pietismus und Jansenismus (in satirischer Absicht) heraus, indem er Jansenius beipflichtet: „Religion des Herzens ist […] beßer, als Mechanismus der Religion. […] Was Jansenius und Quesnell für ihre Glaubensbrüder waren, sind Speners und meine [Arndts] Schriften für die Protestanten.“62 Natürlich handelt es sich hier um Rollenprosa mit satirischer Absicht. Doch besteht tatsächlich ein nachhaltiges Interesse von Seiten des Pietismus am Jansenismus. Es äußert sich nicht nur darin, dass zahlreiche theologische Pietisten jansenistisches und antijansenistisches Schrifttum systematisch sammeln, exzerpieren und kommentieren.63 Edition, Kommentierung und Übersetzung jansenistischer Schriften dienen pietistischen Autoren zur Selbstverortung (gegenüber der lutherischen Orthodoxie) wie auch zur Abgrenzung (von katholischen und unionistischen Protagonisten). Die Durchsetzung von Übersetzungen ist – neben philologischen und theologischen Aspekten – auch von politischen Überlegungen geprägt, wie das Beispiel von Köpkes nie zustande gekommener, aber vielfach geförderter Quesnel-Übersetzung belegt. Natürlich unterliegt die Intensität dieses Rezeptionsprozesses konjunkturellen Schwankungen: der Tod Pasquier Quesnels – nach Cornelius Jansenius und Antoine Arnauld der „dritte Gründer“ der Jansenismus – im Jahr 1719 moti Verwiesen sei noch auf die anonyme Leipziger Übersetzung von Quesnels Du bonheur de la mort (1689), die Eleonora Charlotta v. Gfug und Foellendorf (geb. Hochberg-Fürstenstein, 1667– 1739) gewidmet ist, die in den 1720er Jahren zum adligen Netzwerk August Hermann Franckes rechnete (Pasquier Quesnel: Betrachtung der Glückseligkeit eines christlichen Todes […]. Leipzig 1720). 62  [David Christoph Seybold:] Lucian’s Neueste Reisen oder wahrhafte Geschichten. Alethopel [i.e. Tübingen] 1791, 281. 63  Vgl. Schmitt-Maaß, ,Glaubensbrüder‘ [s. Anm. 9]. 61

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viert eine ganze Reihe von Übersetzungen und Denkschriften, leitet aber auch eine Historisierung des Jansenismus-Streits im pietistischen Umfeld ein, die in Friedrich Christoph Oetingers (1702–1782) Darstellung gipfelt.64 Ab der Mitte des 18. Jahrhunderts nimmt die Rezeption des Jansenismus im Pietismus nur noch eine untergeordnete Stellung ein, wenngleich – oder gerade weil – der französische Jansenismus durch den Parlamentarismus eine politische Macht wird.65

64   Friedrich Christoph Oetinger:Von den Ursprüngen der heutigen Streit-Sache in Franckreich zwischen den Jansenisten und Constitutionisten. […]. Stuttgart 1753. 65  Vgl. Marie-José Michel: Jansénisme et Paris. Paris 2000, 366–386.

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Otto Teigeler

Eine „curieuse Materie“. Zinzendorfs Wochenschrift Der Parther (1725) Forschungsgeschichtlich stand der erste journalistische Versuch des Grafen Nikolaus Ludwig von Zinzendorf (1700–1760) vom Frühjahr 1725 (Der Parther) von Anfang an im Schatten des ab November 1725 herausgegebenen zweiten Versuchs: Der Dreßdnische Socrates.1 Dieses Schattendasein hatte vor allem drei Gründe: 1.Vom Parther ist nur ein einziges gefaltetes Blatt (vier Seiten) erhalten, während vom Socrates alle 32 erschienenen „Stücke“ vorliegen. 2. Der erste journalistische Versuch Zinzendorfs scheiterte bereits im Anfangsstadium, während der zweite Versuch immerhin derart Beachtung fand, dass Zinzendorf 1732 einen unveränderten Nachdruck veranlasste.2 3. Die historisch vertraute und metaphorisch beliebte Figur des Socrates stand Forschern näher als ein anonymer, „spröder“ Vertreter einer weithin unbekannten vorderasiatischen Reiterethnie. Im 18. Jahrhundert gab es eine breite Sokrates-Rezeption und eine entsprechende wissenschaftliche Begleitung und Aufarbeitung,3 während die Parther auch wissenschaftlich ein Stiefkind blieben und erst in jüngster Zeit wieder als Forschungsobjekt entdeckt wurden. Einige der von Zinzendorf angeschriebenen Drucker und Verleger stolperten prompt über diese „curieuse Materie“4 und lasen „Parder“ statt Parther. Ein genauer Blick auf diesen „Hauch von Nichts“ des Parthers ist jedoch aus zwei Gründen weiterführend: Ganz so marginal, wie es auf den ersten Blick scheint, ist der Parther archivalisch nicht:

1   Der Parther erschien im April 1725 (zu den Einschränkungen s. u.), der Dreßdnische Socrates ab November 1725. 2  Dieser Teutsche Socrates von 1732 war der unveränderte Nachdruck des Dreßdnischen Socrates, jedoch erweitert durch Anmerkungen, einen Anhang und ein verändertes Titelblatt. Die „Stücke“ hießen im Neudruck „Discurse“. UA (Unitätsarchiv Herrnhut) NB.II.32 a/1. 3   Benno Böhm: Sokrates im achtzehnten Jahrhundert. Studien zum Werdegange des modernen Persönlichkeitsbewußtseins. Neumünster 21966; Wilhelm Schmidt-Biggemann: Sokrates im Dickicht der deutschen Aufklärung. In: Der fragende Sokrates. Colloquium Rauricum 6. Hg. v. Karl Pestalozzi. Leipzig 1999, 132–151. 4   So der Wittenberger Verleger und Drucker Knoch an Zinzendorf am 28.05.1725.

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1. Zinzendorf schrieb auf etwa 15 Seiten „Aufsätze“ zum Parther. Diese sind erhalten, wurden 1903 entdeckt5 und 1910 von dem Herrnhuter Archivar Joseph Theodor Müller (1854–1946) in der Zeitschrift für Brüdergeschichte veröffentlicht.6 Müller vermutete, dass es sich hier um Zinzendorfs Konzepte für die Nummern 2 und 3 der Wochenschrift handelt. 2. Ein Teil der Korrespondenz bezüglich Druck und Vertrieb des Parthers ist überliefert und enthält wichtige verlegerische Details, vor allem aber den bisher kaum beachteten Hinweis, dass Zinzendorf unmittelbar nach dem Misserfolg mit der ersten Nummer bereits am 16. April sowie in der zweiten Maihälfte 1725 einen weiteren Anlauf unternahm, den Parther zu edieren und zu vertreiben. 3. In seinem unveröffentlichten und sehr lückenhaften Tagebuch 1725/267 berichtet Zinzendorf von knappen, nicht immer freundlichen Äußerungen seiner Zeitgenossen zum Parther. Ideengeschichtlich ist bemerkenswert, dass Zinzendorfs bisherige Denkkategorien durch die Parther-Metapher ergänzt und erweitert werden. Dazu ist allerdings ein gründlicher Blick auf diese vorderasiatische Ethnie unabdingbar.

1. Der archivalische Befund Der bescheidene erhaltene Rest der Wochenschrift Der Parther besteht aus vier Seiten auf einem zum Doppel-Quart gefalteten Folio-Blatt:8 1. Der Titel erscheint im Großdruck: Der Parther. 2. Eine Nummernangabe fehlt. Die Datumsangabe „Montags am 15. April“ ist falsch, denn 1725 war der 15. April ein Sonntag. Es gilt als wahrscheinlich, dass eine Woche zuvor eine erste Nummer des Parther erschien. Das erhaltene Stück vom 15. April wäre dann, gleichgültig, ob es veröffentlicht wurde oder nicht, die zweite Nummer. Weitere Nummern („dann und wann“) waren vorgesehen. 3. Das Erscheinungsjahr 1725 steht nach Zinzendorfs Notizen zum Parther im Socrates fest. Das von Spangenberg angegebene Jahr 1724 irritiert.

  UA R.20.D.2.b.30.   Joseph Theodor Müller: Der Parther. Eine Wochenschrift anonym herausgegeben von Zinzendorf. Dresden 1725. In: Zeitschrift für Brüdergeschichte [ZBG]. Hg. v. D. Jos.Th. Müller und Lic. Gerh. Reichel. IV. Jg. 1910, Herrnhut, 124–128. 7   Diarium Zinzendorfs aus Dresden, Oktober bis Dezember 1725 und teilweise 1726. UA R.20.A.15.b.164. 8   UA R.20.D.2.b.24. Ein Doppelblatt, 4 Seiten, 4 o. August Gottlieb Spangenberg: Leben Zinzendorfs. (In: Mat. und Dok. Reihe 2, Bde. I/II). Hildesheim 1971, 339f. (im Folgenden: Spangenberg, Leben Zinzendorfs I);Verzeichnis der Schriften des Grafen Ludwig von Zinzendorf. Hg. v. Wilhelm Heinrich Ferdinand Karl Graf von Lepel [1755–1826]. Stettin 1824 [VIII, 72 S.], hier 25. 5 6

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4. Das lateinische Motto unter der Datumsangabe ist ein Zitat aus Vergils Aeneis (I, 204f.): „Per varios Casus per tot Discrimina rerum Tendimus in Latium.“ Dieser Hexameter war wohl Grund und Anlass, dass Zinzendorf seinen Gedanken und Empfindungen ebenfalls eine poetische Form gab. 5. Es folgen 19 vierzeilige Strophen im alexandrinischen (Kreuz-)Reim (Jambus). 6. In der Schlussbemerkung („Zu finden in dem Buchladen, und wird dann und wann ausgegeben“) zog Zinzendorf die editorische Konsequenz aus dem Fiasko mit der ersten Nummer: Eventuelle weitere Nummern des Parthers wurden mit Sicherheit nicht als periodische Wochenschrift geplant, sondern sollten „dann und wann“ erscheinen. Ob die wöchentliche Stückzahl von 1.800 Exemplaren, die Zinzendorf vorschwebte,9 tatsächlich erreicht wurde, ist nicht sicher. Dagegen ist sicher, dass die Gesamtausgabe über zwei, maximal drei Nummern nicht hinauskam.10 Belegt sind auch diese Nummern nicht. Eine erste Vermutung, warum der archivalische Befund der Originalstücke gleich Null ist, liegt natürlich in der Annahme, dass es einen Zugriff der staatlichen Kontrollorgane gab. Zensur und Kontrolle waren in Sachsen effektiv und robust.11 Mit welcher Intensität und letztlich auch Effektivität der Staat die Einhaltung der Zensurvorschriften kontrollierte, konnte Thilo Daniel am Beispiel des Dreßdnischen Socrates durch einen Zufallsfund im „Ratsarchiv“ des Dresdener Stadtarchivs zeigen.12 Jedoch gibt es klare Indizien, dass diese Vermutung für den Parther nicht zutrifft (s. u.). Eine dennoch vorsorglich durchgeführte Suchanfrage verlief erwartungsgemäß negativ.13

  So Zinzendorf am 16.04.1725 an Monsieur de Schütz (Philipp Balthasar Sinold). S. u.   Spangenberg und Otto melden, dass drei Stücke herausgekommen seien: Spangenberg: „es sind nur drey Stükke herausgekommen“ (Spangenberg, Leben Zinzendorfs [s. Anm. 8] I, 339f.); Gottlieb Friedrich Otto: Lexikon der seit dem funfzehenden Jahrhunderte verstorbenen und jeztlebenden Oberlausizischen Schriftsteller und Künstler. 3 Bde. Görlitz 1800−1803, Bd. 3, 575, Nr. 14: Der Parther; eine Wochenschrift; 1725. 3 St. Auch Dietrich Meyer geht von drei Stücken aus. Dietrich Meyer: Zinzendorf und die Herrnhuter Brüdergemeine 1700–2000. Göttingen 2000, 23. 11   Die Zensurinstanzen in Kursachsen sowie die Arbeit der „Bücherkommission“ in Leipzig beschrieb Agatha Kobuch detailliert. Der Herrnhuter Brüdergemeine widmete sie ein eigenes Kapitel (101–109). Der Schwerpunkt in Bezug auf Herrnhut und Zinzendorf liegt aber vorwiegend auf den Turbulenzen im Zusammenhang mit dem Druck der Ebersdorfer Bibel von 1727 (104) und den späteren Ereignissen seit 1731. Die frühen Maßnahmen gegen den Parther und auch den Socrates erwähnt Kobuch nicht. Agatha Kobuch: Zensur und Aufklärung in Kursachsen. Ideologische Strömungen und politische Meinungen zur Zeit der sächsisch-polnischen Union (1697–1763). Weimar 1988; dies.: Aspekte des bürgerlichen Denkens in Kursachsen in der ersten Hälfte des 18. Jh. im Lichte der Bücherzensur. In: Jahrbuch für Geschichte 19, 1979, 251–293. 12   Thilo Daniel: Zum Dreßdnischen Socrates. Bemerkungen zu Zinzendorfs Dresdener Wochenschrift. In: UnFr 41, 1997, 53–74. 13   Anfrage an des Sächsische Staatsarchiv in Dresden sowie an das Staatsfilialarchiv in Bautzen. 9

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Der Grund für die Fehlanzeige liegt vielmehr in der Einsicht Zinzendorfs, dass die von ihm gewünschte „nachdenkliche Leserschaft“ in nur allzu geringer Zahl vorhanden war und er es daher „vor gut befunden“ habe, das ganze Projekt „einzulegen“, also zu beenden (s. dazu unten den Abschnitt „Die Gründe des Scheiterns“).14 Zudem gab es hämische, verletzende Reaktionen, etwa vom Hofprediger Ben(n)emann. Vor allem aber sind vier Bögen (nicht paginiert) erhalten, gefaltet zum FolioFormat (also 16 Seiten), auf denen Zinzendorf in Form von „Aufsätzen“ Material zum Parther zusammenstellte.15 Da diese Stücke redaktionelle Anmerkungen von Zinzendorf enthalten, ist die Vermutung Müllers, dass es sich hier um Konzepte für weitere Nummern des Parthers handelt, naheliegend.16 Das Entstehungs- und Veröffentlichungsszenario dieser Materialsammlung ist verworren. Die Frage, ob dieses Material von Zinzendorfs eigener Hand stamme, obgleich die Reinschrift nicht vom ihm gefertigt wurde, beantwortete der Archivar Müller positiv mit dem nicht gerade schmeichelhaften Argument, dass „allein jenes Durcheinander in der Abfassung“ für Zinzendorf spräche. In der Tat ist das Chaos beträchtlich, aber zum Teil eben auch einer üblichen redaktionellen Arbeit geschuldet. Das Hauptargument für die Originalität jedoch sind die erkennbar von Zinzendorf selbst vorgenommenen Korrekturen und Ergänzungen in diese Reinschrift. Damit ergibt sich folgendes Szenario bezüglich der Zinzendorf-Materialien: 1. Zinzendorf notierte spontan in Schnellschrift die in UA R.20.D.2.b.30 befindlichen Stücke. Die Originale sind nicht erhalten. 2. Ein von Zinzendorf beauftragter Schreiber schrieb diese Stücke ins Reine. Dies ist die erhaltene Urfassung von UA R.20.D.2.b.30. 3. Diese Reinschrift korrigierte Zinzendorf. Die Randnotizen und Korrekturen sind gut erkennbar und lesbar. 4. Zugleich fügte Zinzendorf in die Reinschrift in römischen Ziffern redaktionelle Anmerkungen ein, um anzudeuten, wie er sich die Weiterarbeit vorstellte.

14   Zinzendorf, Der teutsche Sokrates [s. Anm. 2], 7. Es ist jedoch nicht auszuschließen, dass „einlegen“ hier gemeint ist im Sinne von „zurückstellen“. Dies wiederum könnte ein Hinweis darauf sein, dass der Socrates im Bewusstsein Zinzendorfs als Nachfolgeprojekt des Parthers gesehen wurde. Zu den vielen Nuancen von „einlegen“: Jacob und Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch. Digitale Version, Bd. 3, 223f. 15   UA R.20.D.2.b.30. 16   Die Reihenfolge der Bögen ist nicht mehr zu klären, da sie nicht paginiert sind. Die mehrfachen unterschiedlichen redaktionellen Bearbeitungsvermerke sind nicht mehr eindeutig zurechenbar.

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5. Der Archivar Müller transkribierte diese Stücke, schrieb sie säuberlich auf liniertem Papier ab und fügte eigene Urteile und Bewertungen hinzu. Dieses 26 Seiten umfassende handschriftliche Konvolut Müllers ist erhalten.17 6. In der Zeitschrift für Brüdergeschichte (ZBG), deren Herausgeber Müller mit Gerhard Reichel von 1907 bis 1920 war, veröffentlichte Müller große Teile des Konvoluts UA R.20.D.2.b.29 in der Rubrik „Kurze Mitteilungen“ unter dem Titel Der Parther (ZBG IV. Jg., 1910, 124–128) und fügte weitere archivalische Vermutungen und inhaltliche Zusammenfassungen und Deutungen bei. Im Abschnitt „Inhaltliche Analyse“ werden einige dieser Vermutungen Müllers korrigiert. Eine Reihe von Briefen, die von Zinzendorf stammen bzw. an ihn im Zusammenhang mit der Edition seiner Wochenschrift gerichtet wurden, sind erhalten, wurden aber bisher mit marginalen Ausnahmen und Auszügen in der ZBG kaum beachtet.18 Sie erlauben einen Einblick in die verlegerische Vorgehensweise der damaligen Zeit, und zwar sowohl bezogen auf den Autor Zinzendorf als auch bezogen auf das Verhalten der Drucker und Verleger, machen aber auch Andeutungen, dass und wie Vertriebsbeschränkungen umgangen bzw. nicht beachtet wurden. So ist ein Brief Zinzendorfs an den Monsieur de Schütz (eigentlich: Philipp Balthasar Sinold [1657–1742]) erhalten, dass er (oder Martini in Leipzig) dabei sei, einen Kontrakt über wöchentlich 1.800 Exemplare des Parthers zu schließen. Das interessanteste ist das Datum: 16. April 1725, also einen Tag, nachdem Zinzendorf nach Aussage des einzig erhaltenen Blattes des Parthers zerknirscht war und vom Scheitern seines Projektes sprach (Vergil-Zitat). Offensichtlich war die schon zuvor in Halle und Wittenberg bei ihm zu beobachtende Resilienzfähigkeit derart ausgeprägt, dass er am nächsten Tag wieder kraftvoll an seiner Wochenschrift arbeitete. In die gleiche Richtung weisen ein Brief und ein Billett von dem Wittenberger Buchhändler und Verleger Georg Marcus Knoch (1695–1759) vom 28. Mai 1725 an Zinzendorf, aus denen hervorgeht, dass ein weiterer Anlauf zum Vertrieb dieser „curieusen Materie des Parther“ ins Auge gefasst wurde.

  UA R.20.D.2.b.29.  Vorwiegend aufzufinden in UA R.20.D.1.c.6 ab Nr. 140.

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2. Zum Titel: Die Parther – ein Überblick19 Der Titel, den Zinzendorf seiner geplanten Wochenschrift gab, verblüfft und wird nur verständlich, wenn zum einen deutlich wird, wofür diese alte vorderasiatische Ethnie in genere und speziell bei Zinzendorf stand, zum andern welche Hintergründe ihn dazu führten, auf diese Ethnie zu rekurieren. In der Abfolge der vielen Reiche des alten Persien etablierte sich das Partherreich zwischen dem Reich der Seleukiden (um 310–um 150 v. Chr.) und dem Reich der Sas(s)aniden (224–651 n. Chr.), bestand also etwa von der Mitte des zweiten vorchristlichen Jahrhunderts20 bis 224 n. Chr. und erstreckte sich südwestlich und südöstlich des Kaspischen Meeres, teilweise im Süden bis zum Persischen Golf und Indischen Ozean, also im Gebiet des Iran und Mesopotamiens. Benannt war die Ethnie (wahrscheinlich ursprünglich ein Teilstamm der Skythen) nach dem relativ bescheidenen östlichen Gebiet „Parthien“ (Parner, Parni). Die bekanntesten Feldherren und Herrscher jener Zeit waren die Mithridaten.21 Die zeitweise enorme Ausdehnung verdankte die dominierende Ethnie der Arsakiden zwei kriegstechnisch relevanten Neuerungen:22 Sie gaben die bis dahin übliche und im Umfeld praktizierte Sozialorganisation auf, nach der die Sippenverbände mit ihren Eigeninteressen für die Schlachtaufstellung entscheidend waren, und führten eine nach Altersklassen geordnete Gliederung ein: Sechzehn- und siebzehnjährige Knaben bildeten die Jungmannschaft und konnten unter Führung eines eigenen Anführers separat operieren. Mit 26 Jahren wurde aus den verheirateten wehrfähigen Männern bis zu deren 52. Lebensjahr die Hauptmasse des Heeres gebildet, d. h. die Kavallerie, die die bis dahin 19   Die Quellenlage zu den iranischen Monarchien (den sog. „vorderasiatischen Steppenvölkern“) ist vergleichsweise mager. Auch waren diese Reitervölker lange ein Stiefkind der Altertumsforschung. Dies betrifft in besonderer Weise die Arsakiden. Ein Forschungshindernis war vor allem, dass das „Reich der Parther“ in Wahrheit ein sehr buntes, asymmetrisches Gebilde aus vielen Kleinkönigreichen,Vasallenkönigen, Satrapien und Monarchien war. Zudem waren hochrangige Adelsinteressen zu berücksichtigen. Inzwischen ist das Forschungsdefizit weitgehend behoben. Exemplarisch seien die Arbeiten von Udo Hartmann, Józef Wolski, Josef Wiesehöfer, Edward Dabrowa, Marek Jan Olbrycht, Stefan R. Hauer, Charlotte Lerouge-Cohen genannt. 20   Bereits im dritten vorchristlichen Jahrhundert (zwischen 250 und 238 v. Chr.) eroberten Parther unter ihrem Anführer Arsakes I. einen Teil der iranischen Gebiete des Seleukidenreiches, so dass Arsakes als Begründer des Partherreiches gilt. Josef Wiesehöfer: Das frühe Persien. Geschichte eines antiken Weltreichs. 5., aktualisierte Aufl. München 2015. 21   Mithridates I. von Parthien (165–132), Mithridates II. von Parthien (121–91), Mithridates III. von Parthien (87–80), Mithridates IV. von Parthien (58–53), Mithridates V. von Parthien (128–147). Der beliebte Name Mithridates (iranisch: Mehrdad) bezog sich auf den Gott Mithras, der im Persischen Reich und in Indien ein Gott des Rechtes und des Bündnisses (Eid) war, seit der Zeit der Parther aber auch ein Licht- und Sonnengott mit Strahlenkrone. Er besorgte die rechte Ordnung und pflegte die Tugend der Gerechtigkeit. 22   Karl Jettmar: Die frühen Steppenvölker. Der eurasiatische Tierstil. Entstehung und sozialer Hintergrund. Baden-Baden 1964, insbes. 53, 174, 220–225; Jane Penrose: Rom und seine Feinde. Kriege – Taktik – Waffen. Stuttgart 2007, 215–227; Klaus Schippmann: Grundzüge der parthischen Geschichte. Darmstadt 1980.

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üblichen Streitwagen ablöste. Dieser massive Block der Kavallerie bildete den Kern des Heeres, war aber wegen der Panzerung sehr schwerfällig. Daher war meist kriegsentscheidend der Einsatz der berittenen jungen Bogenschützen, die links und rechts an der Hauptmasse des Heeres vorbeipreschten, dem Gegner von der Seite große Verluste zufügten, sich dann aber sehr rasch wieder zurückzogen in einer scheinbaren Fluchtbewegung, die das Nachsetzen des Gegners provozierte. Genau für diese scheinbare Flucht hatte die Jungmannschaft der Parther eine Technik entwickelt, die geradezu sprichwörtlich wurde: in vollem Galopp nach hinten zu schießen. Mit dieser „Hit-and-Run-Taktik“ und dem nach hinten abgegebenen „Partherschuss“ hatten die Parther einen entscheidenden Vorteil.23 Mit dem apokryph wirkenden und wahrscheinlich auch so gemeinten Titel spielte Zinzendorf auf diese Technik und Taktik der Kriegsführung an: nach einem mutigen Vorstoß den Rückzug antreten, aber die eventuell nachrückenden Gegner dennoch unter Kontrolle halten und attackieren. Das Reich der Parther erfüllte alle Merkmale eines Imperiums, wie sie der Berliner Politikwissenschaftler Herfried Münkler als innere Logik für eine Weltherrschaft herausgearbeitet hat:24 1. Größe, 2. Langlebigkeit, 3. unscharfe Grenzen, 4. keine kompakten Herrschaftsräume, sondern komplexe Strukturen aus Territorien mit unterschiedlicher Anbindung an das Zentrum, 5. ideologische Bindung durch eine imperiale Mission (etwa die Verheißung von kriegerischem Erfolg oder Frieden und Sicherheit). Für unseren Kontext ist ein weiteres Merkmal von Belang, das der Innsbrucker Althistoriker Robert Rollinger hinzugefügt hat: die historische Wirkung, die Imperien auch nach ihrem Untergang entfalteten.25 Die Parther waren an der Ostflanke des Imperium Romanum eine ständige Herausforderung für die Römer und beschäftigten die römische Politik unentwegt.26 Die in den Pufferstaaten und angrenzenden Ländern befindlichen

23   Die Pfeile der Parther waren derart spitz und hart gefertigt, dass sie die gegnerischen Panzer durchschlugen. Hinzu kam ein weiteres Detail: Um einen straffen und gleichzeitig ruhigen Abschuss zu ermöglichen, benutzten die Schützen einen Daumenring, der verhinderte, dass im Moment des Abschusses die Haut aufgescheuert wurde (Penrose, Rom und seine Feinde [s. Anm. 22], 225). 24   Herfried Münkler: Imperien. Die Logik der Weltherrschaft – vom Alten Rom bis zu den Vereinigten Staaten. Berlin 2005. 25   Imperien und Reiche in der Weltgeschichte. Epochenübergreifende und globalhistorische Vergleiche. Hg. v. Michael Gehler u. Robert Rollinger. Wiesbaden 2014, darin: Josef Wiesehöfer: Parther und Sasaniden. Imperien zwischen Rom und China, 449–478; Das Partherreich und seine Religionen. Studien zu Dynamiken religiöser Pluralität. Hg. v. Peter Wick u. Markus Zehnder. Gutenberg 2012. 26   Marcus Licinius Crassus (115/114–53 v. Chr.) hatte bereits gegen die Parther gekämpft und bei Carrhae eine vernichtende Niederlage erlitten, die den Römern einen traumatischen Schock versetzte und tief im Gedächtnis erhalten blieb (vgl. Plutarchs Schilderung). Das abgeschlagene Haupt des Crassus wurde dem Partherkönig Orodes II. überreicht, der durch diesen Sieg ermuntert wurde, weitere Rebellionen gegen Rom zu schüren. Gaius Julius Cäsar (100–44 v. Chr.) wollte Rache nehmen und plante einen Partherfeldzug. Die Vorbereitungen waren abgeschlos-

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Kleinfürsten unterstützten die Vormärsche der Parther aus sehr einsichtigen Gründen: Zum einen schätzten sie die Parther wegen deren Gerechtigkeit und Milde (!), zum anderen hofften sie, sich mit parthischer Hilfe von der Römerherrschaft befreien zu können. Parthische Reiter drangen bis Jerusalem vor und eroberten die Stadt im Handstreich.27 Antigonos II., jetzt mit parthischer Unterstützung zum König Judäas geworden, ließ seinem Onkel Hyrkanos die Ohren abschneiden, um den so Verstümmelten für die Ausübung des Hohenpriesteramtes untauglich zu machen. Hyrkanos wurde zudem von den Parthern in ihr Kernland nach Mesopotamien deportiert; Phasael, der Bruder des Herodes, sollte hingerichtet werden, entging dem Henker aber durch Selbstmord. Herodes selbst zog sich mit seiner Familie in die Festung Massada zurück und entzog sich damit dem Zugriff der Parther. Erst als die Römer die Taktik der Parther durchschauten und entsprechende taktische und strategische Konsequenzen zogen, die z. T. der Taktik und Strategie der Parther entlehnt waren, und dadurch die Parther vor unerwartete raffinierte und massive Gegenwehr stellten, erlitten die Parther 38 v. Chr. bei Gindaros eine militärisch und psychologisch vernichtende Niederlage. Zusammenfassend ist festzustellen, dass das Verhältnis zwischen den parthischen Königen auf der einen Seite und den Vasallenkönigen, Satrapen, ,Pufferstaaten‘ (Armenien, Syrien) und den Interessen des Hochadels auf der anderen Seite keineswegs „zwangsläufig fragil“, sondern äußerst dynamisch war.28 Auch die römisch-parthischen Beziehungen waren trotz aller kriegerischen Auseinandersetzungen vielgestaltig und variierten im Laufe der Zeit mehrfach. Es begegneten sich zwei sehr unterschiedliche Imperien, aber auf Augenhöhe.

3. Der Parther Zinzendorf Zwei biographische Anmerkungen vorab: Zinzendorf war ein geschickter und begeisterter Reiter. In den Ferien- und Erholungsmonaten im Sommer 1716 in Hennersdorf sowie während seiner Studienzeit in Wittenberg wird

sen. Jedoch wurde Cäsar drei Tage vor dem für den 18.03.44 v. Chr. geplanten Beginn des Feldzugs ermordet. Das Heer des von Marcus Antonius eingesetzten Statthalters Lucius Decidius Saxa wurde von den Parthern geschlagen. Jürgen Malitz: Caesars Partherkrieg. In: Historia 33, 1984, 21–59; Francis Smith: Die Schlacht bei Carrhä. In: HZ, 115, 1916, 237–262. 27   Die Juden sympathisierten mit den Parthern. Sie lebten zwar unter der Herrschaft Roms, jedoch war der Einfluss der östlichen Großmacht, der Parther, stets spürbar und mit der Hoffnung verbunden, sich mit Hilfe der Parther dem römischen Einfluss entziehen zu können. Der jüdische Adel hatte es sogar geschafft, mit Hilfe der Parther Herodes zu vertreiben, so dass dieser sein Königreich in den Jahren 39 bis 36 erst einmal zurückerobern musste. 28   Udo Hartmann (Jena) in scharfer Abgrenzung zu Uwe Ellerbrock und Sylvia Winkelmann. Udo Hartmann: Rezension zu: Uwe Ellerbrock u. Sylvia Winkelmann: Die Parther. Die vergessene Großmacht. Darmstadt 2012. In: H-Soz-Kult, 13.05.2013.

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immer wieder von Reiterlebnissen berichtet:29 Zinzendorf besichtigte den königlichen Marstall und die Reitbahnen im Lande,30 kontaktierte Stallmeister, Reitknechte und Peitschmeister, erledigte auswärtige Angelegenheiten und Besuche ganz selbstverständlich mit dem Pferd. Er berichtet im Wittenberger Tagebuch ausführlich von gefährlichen Ritten31 und von Reiteraufzügen,32 sogar dass er sich im Reithaus am nicht ungefährlichen Ringreiten beteiligte und „einen Haupt- und neun Seitentreffer“ erzielte und auch Verletzungen in Kauf nahm.33 Er geriet „mit Herrn von Bünau34 in einen Discours vom Reiten“35 und las Fachliteratur zum Reiten.36 Er ist derart sicher und geschickt beim Reiten, dass er dabei seine „besondere meditationes“ verrichten kann.37 Sein Vormund sah sich mehrfach veranlasst, die Reitlust seines Mündels zu missbilligen. Kurzum: Das Reitermilieu war dem Grafen Zinzendorf von Jugend an vertraut. Zinzendorf hatte Kenntnis von den Parthern zum einen durch den soliden Geschichtsunterricht als Schüler in Halle (1710–1716),38 zum andern durch das zum Jurastudium gehörende Geschichtsstudium als Student in Wittenberg 29   „Den Tag hatte ich eine recht ominöse Begierde, auf einem gewissen Pferde zu reiten.“ Wittenberger Tagebuch (WTB) zum 14.05.1716.Vgl. auch WTB zum 16.05.1716, 29.05.1716, 03.06.1716, 27.06.1716, 14.07.1716, 27.07.1716, 28.08.1716, 17.09.1716, 25.10.1716 sowie in der Folgezeit regelmäßig. Der junge Zinzendorf war „ein guter Fechter, glänzender Reiter und geschickter Tänzer“. Erich Beyreuther: Zinzendorf und die Christenheit. Marburg 1961, 7. Wittenberger Tagebuch (WTB [UA R.20.A.5.a]. Teilweise ediert von Gerhard Reichel und Joseph Theodor Müller in ZBG I, 1, 1907, 113–203; 2, 1908, 81–117; ZBG II, 4, 1910, 5–97. BHZ A 600. 30  WTB [s. Anm. 29], zum 18.10.1718 und Folgetag; 26.11.1718. 31  WTB [s. Anm. 29], zum 16.05.1716. 32  WTB [s. Anm. 29], zum 17.09.1716. 33  WTB [s. Anm. 29], zum 04.07.1717. Er „lädierte“ sein „Dessein“ nicht unerheblich. 34   Heinrich von Bünau junior (1697–1762), später wie sein Vater Kanzler. 35  WTB [s. Anm. 29], zum 29.08.1718. 36   WTB [s. Anm. 29], zum 27.07.1716: Marforius (Pseudonym): Die compendiöse Oeconomie durch einen einigen Reitknecht angerichtet; allen Herrschafften, die mit vielen Bedienten und Gesinde unbeladen seyn wollen, aus Dreyen Missiven zur dienlichen Nachricht mitgetheilt von Marforio. 8. Dantzig 1714. 37  WTB [s. Anm. 29], zum 11.06.1717. 38   Geographie und Historie wurden in Halle gründlich betrieben. In einer Anmerkung der Verbesserten Methode wurde von Francke explizit gefordert: „Nach dem fünften Periodo wird eine ganz kurze Einleitung in die babylonische und assyrische Historie gegeben, und darin dasjenige, was per Modum synchronismi bei jedem Periodo schon hie und da erinnert, una serie vorgestellet und repetiret.“ Zudem wird ausdrücklich gefordert, das „erdichtete unnütze Zeug aus dem Ctesia“ (griechischer Arzt aus Cnidus; lebte um 400 v. Chr. in Persien als Arzt des Königs Artaxerxes II. und schrieb ein Werk über Assyrien, Persien und Indien) ausgetauscht werden solle gegen die soliden Nachrichten des Cellarius. Gustav Kramer: August Hermann Franckes Pädagogische Schriften. Langensalza 21885, 325. Christophorus Cellarius (1638–1707) schuf mit seiner dreibändigen Historia Universalis (1702) die bis heute gültige Periodisierung der Geschichtswissenschaft in Alte, Mittelalterliche und Neue Geschichte und korrigierte damit die bis dahin geltende kanonische Abfolge von vier Weltreichen (Assyrer, Perser, Griechen, Römer). Wie weit die in Halle am Pädagogium Regium unterrichtenden Theologiestudenten über Details informiert waren (dass etwa Nehemia Mundschenk des persischen Königs Artaxerxes war etc.) und

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(1716–1719). Er war bestens mit der Antike, ihrer Geschichte, ihrer Philosophie und Religion vertraut. Im Selbststudium befasste er sich mit Persien.39 Nur durch diese genaue Kenntnis der historischen Vorgänge war es Zinzendorf möglich, in verschiedenen metaphorischen Bezügen auf die Parther zuzugreifen. Solche metaphorischen Bezüge auf die Parther lassen sich bei Zinzendorf auf verschiedenen Ebenen unschwer erkennen: 1. Die aggressive und geschickte Hit-and-Run-Taktik der parthischen Reiter war in der Antike bekannt und hatte dieser Ethnie den Ruf einer grausamen, aber erfolgreichen Kriegsnation eingebracht. Dies wusste Zinzendorf, wie aus einem von ihm um 1723 gedichteten Klagelied über die Kirche hervorgeht: O Heuchler! O Betrug! ist das ein rechter Christ, der wilder als das Heer der wilden Parther ist?40

Wie sehr Zinzendorf mit der parthischen Taktik vertraut war, geht auch daraus hervor, dass er souverän je nach Situation mit dieser Metapher umgehen konnte: 1725, also nach knapp zwei Jahren, fasste er diese Taktik offensichtlich positiv und als vorbildlich auf. Der Titel der Wochenschrift deutet an, dass der Leser mit einem aggressiven, aber gekonnten und erfolgversprechenden Verhalten des Herausgebers rechnen muss. 2. Die dauerhafte Existenz der parthischen Reiterethnie und deren selbstbewusste Haltung dem etablierten, mächtigen Römischen Imperium gegenüber bestärkten Zinzendorf in der Gewissheit, dass sich einem übermächtig erscheinenden Gegner erfolgversprechend auf Augenhöhe begegnen lässt. 3. Der Erfolg der Parther basierte unter anderem auf der Fehleinschätzung der Römer, dass dieses parthische Konglomerat aus adeligen Gruppen, Königreichen, Satrapien, Vasallen und diversen Ethnien zwangsläufig fragil und daher leicht zu besiegen sei. Zinzendorf erkannte die den unscharfen Grenzen und komplexen Strukturen innewohnenden Chancen, dass sogar ein straff hierarchisch geordnetes Imperium wie das Römische mit seinen kompakten Herrschaftsräumen anfälliger ist für Niederlagen als ein asymmetrisch aufgebautes, dynamisch agierendes Gemeinwesen mit unterschiedlicher Anbindung an ein ideologisches sowie soziales Zentrum. Im Grunde bedeutete die dauerhafte und erfolgsgekrönte Existenz der Parther auch einen Sieg über die Fehleinschätzung der solchen offenen Strukturen angeblich zwangsläufig innewohnenden Instabilität.

wie weit sie diese Details in Zusammenhänge setzten und vermittelten, war nicht zu klären. Jedenfalls hatte Zinzendorf eine lebendige und realistische Vorstellung von den Parthern/Persern. 39  WTB [s. Anm. 29], zum 17.04.1717. 40  Geistliche Gedichte des Grafen von Zinzendorf. Gesammelt und gesichtet von Albert Knapp. Stuttgart,Tübingen 1843, 41: Die klagende Kirche (circa 1723; aus: Nachlesen. Bd. 2, 969).

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Die beiden ersten Punkte waren dem Grafen Zinzendorf bei der Titelgebung seines aktuellen journalistischen Vorhabens mit Sicherheit präsent. Ob ihm auch der dritte Punkt in diesem Augenblick klar war, ist zwar zu vermuten, aber nicht zu belegen. Dagegen war sich Zinzendorf sehr bewusst, dass diesem titelgebenden Griff zu den Parthern und „asiatisch zu denken“ ein elitäres Moment anhaftete und „solche nachdenckliche Leser erfordert, als der Schreiber selber seyn mag“.41 Damit aber enthielt allein schon die Namensgebung die Form einer identitären Abgrenzung. Diese hochgradige Distanz war auch nach Zinzendorfs eigener Einschätzung ein wesentlicher Grund für das Scheitern bzw. Einstellen der Wochenschrift, denn solche nachdenklichen Leser gab es nur wenige. Zinzendorf wählte nicht nur das militärtaktische Verhalten der Parther als titelgebende Folie für seine Wochenschrift, sondern er konnte diese Taktik als „asiatisch zu denken“ verallgemeinern und darunter ein verkapptes und verfremdendes Denken verstehen. Im Herrnhuter Gesangbuch findet sich ein von Zinzendorf 1745 anlässlich des Pfingstfestes gedichtetes Lied, in dem unter den Völkern, die sich im Tempel von Jerusalem „aus allen Gegenden der Welt“ versammelten, in direktem Bezug auf Apg 2,9 („Parther und Meder und Elamiter“) auch Parther sind, die eben „parthisch“ sprechen:42 4. Nun waren männer in der stadt von Jüdischem indigenat, und was sich so zum tempel hält, aus allen gegenden der welt. 5. Kaum gehts geschrey von dem verlauff, so ist der ganze hauffe auf, der wird bestürtzt: denn ieden deucht, es wird in seiner sprach gezeugt. 6. Den leuten wird ganz grauserlich, und sagen drüber unter sich: Seht nur die Galiläer an, ob nicht ein ieder Parthisch kan? 7. Was Parthisch! Medisch reden sie. Nein! Elamitisch hör ich hie. Ich hör Mesopotamier: ich aber Cappadocier.

Diese späte Erwähnung der Parther durch Zinzendorf unterscheidet sich von der frühen metaphorischen Bezugnahme. 1745 spielte Zinzendorf wie auch der Verfasser von Apg 2 nur auf die geographischen und historischen Gegebenheiten in Persien an.

41   So Zinzendorf bereits im November 1725 im Dresdnischen Socrates. Zinzendorf, Der teutsche Sokrates [s. Anm. 2], 7f. 42   „Da eben itzt der Pfingst-Tag war“. Melodie: Christi blut und gerechtigkeit. Apg 2,9 ist die einzige biblische Belegstelle, in der die Parther ausdrücklich namentlich genannt werden.

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4. Die Zielgruppe der Wochenschrift Wer ist dieser Gegner bzw. sind die Gegner, an die sich der Parther Zinzendorf 1725 wendet? Aus dem bisherigen gut dokumentierten Lebenslauf Zinzendorfs als Schüler in Halle,43 als Jurastudent in Wittenberg,44 als Bildungsreisender durch Holland und Frankreich45 und schließlich als Hof- und Justizrat in Dresden ergeben sich drei Problemkreise, die den jungen Grafen stark beschäftigten: 1. die unentwegt kritisierende und moralisierende Familie; 2. die Prunk- und Verschwendungssucht des sächsischen Staates/Königs; 3. die kreuz- und quer streitenden Theologen. Da der dritte Problemkreis in diesem Kontext im Gegensatz zum späteren Socrates eine untergeordnete Rolle spielt, begnügen wir uns hier mit den beiden ersten Schauplätzen: 4.1 Der erste Kampfplatz: die Familie Jugend und frühe Erwachsenenzeit gelten seit jeher als Zeiten des Aufbruchs und der Risikobereitschaft, des Vorwärtsdrängens, aber auch als Zeit des Bruchs mit dem Bisherigen. Bei Zinzendorf nahm dies die Form einer Abrechnung mit den bisher ihn umgebenden Personen und besuchten Institutionen an. Während Zinzendorf in Hennersdorf seine Kindheit unbeschwert erlebte, beurteilte er die Schulzeit in Halle und die Studienzeit in Wittenberg als eine elende Zeit: Fremdbestimmt und unter ständiger und totaler Kontrolle durch seine Mutter und seinen Stiefvater Dubislav Gneomar von Natzmer, seitens des Hofmeisters Daniel Crisenius sowie des Vormunds Otto Christian von Zinzendorf. Durch den unverhofften Tod des Vormunds und das letztlich geglückte Betreiben des Abschieds vom Hofmeister gewann Zinzendorf formal eine größere Freiheit, aber selbst die verordnete Bildungsreise stand immer noch unter starker familiärer Beobachtung und Kritik. Dies blieb natürlich den Mitarbeitern und dem höfischen Personal in Berthelsdorf nicht verborgen. Johann Georg Heitz, ein Schweizer, den Zinzendorf zum Hausvogt für den herzurichtenden Gutsbezirk Berthelsdorf gewonnen hatte, gab dem Grafen folgenden Ratschlag:

43  Vgl. die Aufsätze und Reden Zinzendorfs in Halle. Otto Teigeler: Zinzendorf als Schüler in Halle 1710–1716. Persönliches Ergehen und Präformation eines Axioms. Halle/Saale 2017, insbes. 109–168. 44  WTB [s. Anm. 29]. 45   Zinzendorfs Tagebuch Attici Wallfahrt durch die Welt in Teutschland biß nach Frankreich. 1719– 1720. UA R.20.A.6.

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Ja da brauchst Du nicht mehr in Hennersdorf zu sein, unter den Familienbefehlen zu stehen, von jeder Stunde und von jedem Tage Rechenschaft geben. Denn Du bist nun emanzipiert und hast Deine Hofhaltung für Dich.46

Zinzendorf hatte seine fast sechsjährige Schulzeit in Halle bezüglich des Wissenserwerbs mit Erfolg absolviert. Ebenso hatte er das Jurastudium in Wittenberg ernsthaft, ordentlich und erfolgreich betrieben. Dennoch hatte er am 3. April 1716 Halle traumatisiert verlassen. Ebenso traumatisiert verließ er im März 1719 Wittenberg. Hauptursache der Verletzungen war in beiden Fällen die Enttäuschung über die als unangemessen empfundene Behandlung seitens der Familie, vor allem des Stiefvaters, der Mutter, des Vormunds, des Hofmeisters, aber auch der Großmutter. Aus Sicht der Familie war Zinzendorf ein „Sorgenkind“.47 Jedenfalls unverstanden, ungetröstet und unversöhnt trat Zinzendorf die Bildungsreise und danach seinen Dienst in Dresden an. Einer Berufung in den Staatsdienst folgte Zinzendorf nur im Gehorsam gegen seine Familie.48 Sowohl die Großmutter als auch der Stiefvater waren sich wie sonst selten einig, dass der junge Graf darauf vorzubereiten sei, „ein christliches gottesfürchtiges Wesen in statu politico“ zu führen, um später dann den „noch lebenden nächsten Anverwandten“ zu gefallen. In den Historischen Nachrichten von 1727 berichtet Zinzendorf, dass er bereits im Alter von acht bis neun Jahren den Vorsatz nahm, „dergestalt zu studieren, dass ich ein Land mit Nutzen administrieren könnte, als welches in Consideration meines äusserlichen Standes mit der Absicht der Meinigen nach künftig ambieren sollte“.49 Die „Anführung“ seitens der Familie schien dem jungen Zinzendorf bereits in sehr frühen Jahren derart dominant zu sein, dass er es nicht wagte, diesem Wunsch zu widersprechen. Die spätere Rationalisierung zeigt, dass weder die frühe Festlegung noch die spätere Weisung den eigenen Vorstellungen und Ambitionen entsprach.

46  Zit. nach Erich Beyreuther: Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf. Selbstzeugnisse und Bilddokumente. Eine Biographie. Mit einer Einführung von Peter Zimmerling. Gießen 2000, 44. Dort leider ohne Beleg. 47   Hans-Walter Erbe: Zinzendorf und der fromme hohe Adel seiner Zeit. Leipzig 1928, 86. 48   Teigeler, Zinzendorf als Schüler in Halle [s. Anm. 43], 67f., insbes. die Anmerkungen 260– 263. 49   Nikolaus Ludwig von Zinzendorf: Historische Nachricht von meiner Führung (UA R.20.A.1; ZBG II,V, 1911, 102); Gerhard Reichel: Der „Senfkornorden“ Zinzendorfs. Ein Beitrag zur Kenntnis seiner Jugendentwicklung und seines Charakters. 1. Teil: Bis zu Zinzendorfs Austritt aus dem Pädagogium in Halle 1716. [Leipzig 1914]. ND Hildesheim, New York 1975 (Nikolaus Ludwig von Zinzendorf. Materialien und Dokumente Reihe 2, Bd. XII [Sammelband über Zinzendorf, 1]), 635–678, hier 25.

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4.2 Der zweite Kampfplatz: Dresden Kein Wunder, dass Zinzendorf den Staatsdienst in Dresden nur zögerlich antrat. Eine Berufung als Rat am Ober-Appellationsgericht lehnte er ab. Dagegen trat er im Oktober 1721 eine unbezahlte Stelle als Hof- und Justizrat in der Landesregierung an. Dietrich Meyer berichtet Details: Zinzendorf verweigerte den Eid auf die Konkordienformel, betrachtete die Stelle als Hof- und Justizrat eher als eine Art Ehrenamt, dem nicht allzu viel konkrete Arbeit zu widmen sei. Die Beauftragung mit der großen Kassenkommission war heikel, denn sie bedeutete die Revision der Kasse. Dies führte prompt zum Streit mit der Regierung, worauf Zinzendorf umgehend diese Beauftragung quittierte.50 Von dem ausbedungenen Recht, im Sommer beliebig Urlaub nehmen zu können, machte Zinzendorf zunehmend Gebrauch: Im ersten Dienstjahr (1722) verbrachte er neun Monate in Dresden, im zweiten Dienstjahr (1723) gerade einmal fünf Monate, im dritten Dienstjahr (1724) nur vier Monate, im vierten Dienstjahr (1725) sechs, und schließlich im fünften und letzten Dienstjahr (1726) nur drei Monate.51 Die Residenzstadt Dresden erlebte in jenen Jahren einen enormen Aufschwung: 1720 begann eine rege Bautätigkeit: Der Zwinger (1722 fertig gestellt) und das Pillnitzer Sommerschloss waren eine pompöse Kulisse für ausufernde Lustbarkeiten: Maskeraden („Verkleidungsspiele“), Tierhetzen, Karussellreiten, Schaukeln, Rutschbahnen. 1720 bis 1724 wurden in Pillnitz das Wasser- und Bergpalais sowie der Venustempel fertig, 1725 das Ringrenngebäude. Der „Dresdner Karneval“ wurde 1723 tagelang gefeiert. Dieser Aufwand war dem in Hennersdorf und Halle pietistisch erzogenen Zinzendorf fremd: „Sein äußeres Leben stand indessen in schreiendem, absichtlich betonten Gegensatz zu dem Hofleben August des Starken.“52 Zinzendorfs Lebensgestaltung geriet geradezu zu einem Alternativmodell: Er übernahm den Bibelstudienkreis der ins Baltikum zurückgekehrten „Generalin“, Magdalene Elisabeth von Hallart,53 und verlegte diesen Bibelkreis nach einiger Zeit in seine Wohnung am Kohlmarkt. Die Angaben über die Zahl derer, die sich dort im Haussaal versammelten, schwankt zwischen 50 und 100. Beyreuther spricht von „gegen hundert Personen Woche für Woche“.54 Auf Betreiben der orthodox ausgerichteten Pfarrer wurden die Konventikel verboten: Am 30. Dezember 1726 kam ein kurfürstliches Verbot, die Hausversammlungen am Sonntagnachmittag fortzuführen, weil es zu „Unruhen“ ge-

  Meyer, Zinzendorf und die Herrnhuter Brüdergemeine [Anm. 10], 18f.   Eine belastbare Übersicht über die Amtstätigkeit Zinzendorfs in Dresden fehlt. Einige Anhaltspunkte bei Beyreuther, Selbstzeugnisse [s. Anm. 46], 45. 52   Erbe, Der fromme hohe Adel [s. Anm. 47], 89. 53   Otto Teigeler: Die Herrnhuter in Russland. Ziel, Umfang und Ertrag ihrer Aktivitäten. Göttingen 2006, 140f. 54   Beyreuther, Selbstzeugnisse [s. Anm. 46], 46. 50 51

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kommen sei.55 Dies aber bedeutete längst nicht das Ende der Versammlungen. Vielmehr lud der Hausherr nunmehr zu „Soireen“ ein, d. h. zu gesellschaftlichen Veranstaltungen, wo beim Essen über Bibeltexte gesprochen und im Anschluss fromme Lieder gesungen wurden. Hans-Walter Erbe spricht von Zinzendorfs „wildem Ungestüm“ und dass Zinzendorf „schließlich die Fesseln aller konventionellen Bindungen“ sprengte, worüber es in Dresden mancherlei zum Teil peinliche Klatschgeschichten gab. Innere Spannungen führten zu spontanen unbedachtsamen Aktionen etwa beim Versuch einer Heiratsvermittlung oder zu Fehleinschätzungen etwa hinsichtlich einer Anstellung in Halle.56 Mit einem Wort: Zinzendorf demonstrierte eine unangepasste Haltung. Zu einer literarischen Explosion kam es 1725 mit dem Plan der Herausgabe einer Wochenschrift. Der gewählte Name (Der Parther) ist vor diesem Hintergrund ohne Mühe als Kampfansage zu deuten. Die geplante anonyme Herausgeberschaft lässt darauf schließen, dass sich der Autor/Herausgeber bewusst war, dass sein Vorhaben eine Provokation sein würde. Die Anonymität erhöhte die Aufmerksamkeit der Staatsorgane. Der Parther war ein emotionaler Befreiungsschlag, aber ebenso war das baldige Ende, zunächst bitter und enttäuschend, letztlich befreiend und gab dem Autor Luft. Er erkannte, dass die gewählte Basis einer Abrechnung mit der Familie und seiner eigenen Vergangenheit zu eng war für ein Wochenblatt. Auch wurde ihm bewusst, dass es zu wenig „nachdenkliche Leser“ gab, die er sich für die Lektüre des Parthers gewünscht und vorausgesetzt hatte (s. o.). Vermutlich besiegelte dann die befürchtete Enttarnung des Autors das Schicksal des spontanen Unternehmens. Ob der im Briefwechsel mit den Buchhändlern und Verlegern angedeutete zweite Anlauf tatsächlich umgesetzt wurde, ist nicht zu belegen. Jedenfalls zog Zinzendorf aus seinen Erfahrungen Konsequenzen und wählte für die nächste journalistische Aktion eine wesentlich breitere, nämlich eine theologische, religionspolitische, landespolitische und philosophische Basis mit einer wesentlich bekannteren und damit Erfolg versprechenderen Figur im Titel: Socrates.

5. Die Druckgeschichte des Parthers Die Idee für das Herausgeben einer Wochenschrift mit dem Titel Der Parther liegt im Dunkeln. Jedoch lassen die Hektik und das improvisierte Vorgehen darauf schließen, dass die Entscheidung kurzfristig gegen Ende des Jahres 1724

55   UA R.5.A.7.1. Nikolaus Ludwig von Zinzendorf: Bibel und Bibelgebrauch. Bd. 1: Bibelübersetzung. Hg. v. Dietrich Meyer. Göttingen 2015, 50f. 56   Erbe, Der fromme hohe Adel [s. Anm. 47], 89–92.

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oder zu Beginn des Jahres 1725 fiel. Zumindest sind keine früheren Andeutungen oder vorauslaufenden Absichtserklärungen bekannt. Sehr deutlich dagegen war dem jungen Grafen das komplizierte Zusammenspiel der verschiedensten Faktoren bei der Herausgabe einer Publikation bekannt. Ob er sich dieser komplexen Herausforderung stets bewusst war oder diese überspielte, wird von Fall zu Fall unterschiedlich gewesen sein. Bezogen auf den Parther wird eher das Letztere zutreffen. Allerdings waren zwei wichtige strukturelle Vorentscheidungen gefallen: Zum einen: Zinzendorf besaß eine eigene Druckerei. Spangenberg berichtet zum Jahr 1723,57 dass der Graf sich den Vorschlag gefallen ließ, „eine Buchdrukkerey anzulegen, und dadurch manche nützliche Schriften, um einen geringen Preis, in die Hände der Armen zu bringen“. Die Großmutter befürwortete und unterstützte den Plan.58 Um größere Druckaufträge auszuführen, wie den Druck des Katechismus (Gewisser Grund) oder den Druck der Ebersdorfer Bibel, arbeiteten zeitweilig zwölf Drucker an drei Pressen.59 Zum anderen: Zinzendorf stand ein vertrauensvolles Beraterteam zur Seite, die sog. „vier verbundenen Brüder“.60 Im Sommer 1723 schlossen der Graf, der Berthelsdorfer Ortspfarrer Johann Andreas Rothe (1688–1758), der Görlitzer Magister Melchior Schäf(f)er (1682–1738) und der Baron Friedrich von Wattewille/Wattenwyl (1700–1777) einen Bund zur Erledigung verschiedener gemeinsamer Aufgaben. Ziel dieses Zweckbündnisses war laut eines am 31. Januar 1724 erfolgten Beschlusses die „Ausrottung des Reiches der Finsternis und Ausbreitung der Religion Jesu Christi“.61 Dies bedeutete in Anlehnung an Franckes Vorbild in Halle vor allem die Errichtung pädagogischer und sozialer   Spangenberg, Leben Zinzendorfs [s. Anm. 8] II, 269.   Der Hintergrund zur Beschaffung einer eigenen Druckerei war 1723 ein handfester Zensurstreit bezüglich Zinzendorfs Katechismusprojekt ausgerechnet mit dem Löbauer pastor primarius Magister Johann Christian Kunkel (1674–1737), der seit 1721 als Zensor für in Löbau hergestellte Druckerzeugnisse fungierte und dieses Amt unglücklich ausübte, indem er z. B. seine kritischen Bemerkungen direkt in den zu zensierenden Text schrieb. Zinzendorf fühlte sich zutiefst gekränkt, zumal er Kunkel aus dessen Hennersdorfer Zeit (1703–1721) bestens kannte. Gottfried Geiger: Zinzendorfs Katechismus „Gewisser Grund“ (1725) als seine „Theologie“ in der Frühzeit Herrnhuts. In: PuN 25, 1999, 43–82, hier 47; auch ders.: Die Publikationsvorhaben des Vierbrüderbundes in Zinzendorfs ersten Jahren als Standesherr von Berthelsdorf-Herrnhut. In: „Alles ist euer, ihr aber seid Christi.“ FS Dietrich Meyer. Hg. v. Rudolf Mohr. Köln 2000, 839–856. Auch ders. in der Einleitung zu Gewisser Grund in: Zinzendorf, Bibel und Bibelgebrauch. In: N.L.v. Zinzendorf: Werke. Bd. 6/1 [Anm. 55], 47f. 59   Zinzendorf, Bibel und Bibelgebrauch [s. Anm. 55], 9. 60   Nikolaus Ludwig von Zinzendorf: Die Geschichte der verbundenen vier Brüder. In: ZBG VI, 1912, 71–108; Zinzendorf, Bibel und Bibelgebrauch [s. Anm. 55], 5–17, hier 38f.; Spangenberg, Leben Zinzendorf [s. Anm. 8] II, 244–255. Dieser Bund ist unter verschiedenen Namen und Begriffen in die Geschichte der Brüderunität eingegangen: Specialbund, Gesellschaft, Neue Gesellschaft, Dienstgemeinschaft, Arbeitsgemeinschaft, vier verbundene Brüder/Freunde, die Gleichgesinnten etc. 61   Zinzendorf, Bibel und Bibelgebrauch [s. Anm. 55], 7 unter Bezug auf Geiger, Die Publikationsvorhaben des Vierbrüderbundes [s. Anm. 58], 839–856. 57 58

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„Anstalten“.62 In regelmäßig stattfindenden Conferenzen wurden Probleme nicht nur offen angesprochen, vielmehr wurden auch Sprachregelungen getroffen, damit nicht einer gegen den anderen ausgespielt werden konnte.63 Die Anlage der erwähnten Druckerei wurde von diesem Team lebhaft unterstützt. Ob Zinzendorf seine Wochenschrift in der eigenen Druckerei in Ebersdorf herstellen ließ, obwohl dies leicht den Autor hätte enttarnen können,64 ist nicht nachzuweisen. Dass Zinzendorf für sein Projekt die Form des Journals65 wählte, lag insofern nahe, als er bereits als Schüler in Halle, erst recht aber als Student in Wittenberg, diese Art der Aufbereitung und Übermittlung von aktuellen Nachrichten kennen und schätzen gelernt hatte.66 Zu Beginn des Socrates reflektierte er über diese Form als einer Sammlung von „brauchbaren Materien“.67 Ihm schwebte vor, dass der Leser „50 brauchbare Materien in wenigen Blättern wahrnehmen“ könne. Jedoch stammen die bisher aufgetauchten Materialien nur von ihm selbst, sind also seine eigenen Reflexionen („Aufsätze“). Damit könnte eine strukturelle Überforderung angezeigt sein. Dass Zinzendorf sich vor allem in Leipzig um den Vertrieb seiner geplanten Wochenschrift bemühte, lag zum Teil daran, dass Leipzig der zentrale europäische „Stapel- und Umschlagplatz auch für geistige Güter, besonders für Gedankengut der Aufklärung“ war.68 Ob Letzteres für Zinzendorf eine Rolle spielte, 62  Ein Armenhaus, eine Volksschule, ein Damen- und Mädchenstift in Berthelsdorf, ein Adelspädagogium in Herrnhut. 63   „Nicht nur einerley denken, sondern auch einerley Rede führen“. Spangenberg, Leben Zinzendorf [s. Anm. 8], II, 248. 64   Die wenig später (1726/27) in Ebersdorf gedruckte Ebersdorfer Bibel stieß sofort auf die Kritik der lutherisch-orthodoxen Geistlichkeit und führte zu Maßnahmen der Zensurbehörde. S. Staatsarchiv Dresden, Geheimes Konsilium, Loc. 7209: Konfiszierung und Zensur einiger Bücher, Bd. 2, 1719–1730, 309–311. Kobuch, Zensur und Aufklärung in Kursachsen [s. Anm. 11], 103f., 261–263. 65   Zum neuen Medium „Zeitung“ vgl. Helmut Hilz: Buchgeschichte. Eine Einführung. Berlin, Boston 2019, 159ff., auch 186ff. 66  WTB [s. Anm. 29] vom 11.08.1717: „Um 5 […] las [ich] Le Spectateur so ein englisches tractätgen von sehr schöner Art ist.“ (WTB 11.08.1717, 09.09.1717, 22.02.1718). Le Spectateur ist die Übersetzung der zwischen 1710 und 1715 in London von Joseph Addison und Richard Steele herausgegebenen Zeitschrift The Spectator. Eine solche Übersetzung erschien zwischen 1714 und 1750 in Amsterdam; Etat de France, eine französische Zeitschrift, die 1672 bis 1686 in Paris herauskam (WTB 19.08.1717); Europäische Fama, welche den gegenwärtigen Zustand der vornehmsten Höfe entdecket, von Philipp Balthasar Sinold („von Schütz“) seit 1702 herausgegeben (WTB 08.09.1717, 02.10.1717, 24.01.1718, 11.03.1718, 20.04.1718, 17.09.1718); Französische Zeitungen (WTB 25.07.1717, 20.04.1718, 24.01.1719); Gelehrte Zeitung (WTB 17.02.1718); Umgekehrte Welt (WTB 25.07.1718); Verkehrte Welt (WTB 26.07.1718); nicht näher genannt „Zeitungen“ (WTB 14.10.1716, 14.11.1717). Vgl. auch Daniel, Zum Dreßdnischen Socrates [s. Anm. 12], 55 Anm. 7. 67   Socrates [s. Anm. 2], 2f. 68   Günter Mühlpfordt: Gelehrtenrepublik Leipzig. Wegweiser- und Mittlerrolle der Leipziger Aufklärung in der Wissenschaft. In: Zentren der Aufklärung III: Leipzig. Aufklärung und Bürgerlichkeit. Hg. v. Wolfgang Martens. Heidelberg 1990, 39–101, hier 40.

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oder ob er pragmatisch nur irgendeinen Vertriebs- und Verlagsort suchte, sei dahingestellt. Bereits mit dem Besitz einer Druckerei, erst recht mit der Herausgabe eines Journals betrat Zinzendorf ein Feld, das politisch und gesellschaftlich in höchstem Grade kontaminiert war. Dass das kommunikative Verhalten schon im privaten und familiären Kreis, also unter Bekannten und Vertrauten, in vielen Fällen verkappt war und etwa „Billets“ als „Mitteilung im Vertrauen“ oder gar „sub rosa“ weitergereicht wurden, hatte Zinzendorf als Schüler und Student oftmals bitter erfahren müssen. Die Gesellschaft betrieb auf allen Ebenen eine uneigentliche Kommunikation: familiär, politisch, akademisch. Dies schuf ein Milieu des Verdachts und der Denunziation.69 Der Staat unterhielt eine effektive Behörde der Kontrolle und Zensur. Ob der philosophische Hintergrund einer derart tiefgreifenden Verhüllungspraxis dem jungen Grafen, der bereits in Halle Aufsätze über René Descartes schrieb und dem das Werk und die Biographie des Frühaufklärers Pierre Bayle vertraut waren,70 bekannt war, kann vermutet werden: Verhüllungen sind notwendig, weil die nackte Wahrheit nicht zu ertragen ist und Enthüllungen letztlich nicht gewollt sind.71 Dies wiederum bedeutete, dass dem Grafen das Risiko, ein aufklärendes, aggressiv gestaltetes Journal herauszugeben, bewusst war und er nicht nur den Standort seiner Druckerei mehrfach verlegte, sondern auch den Autor bzw. Herausgeber seines Journals „bemäntelte“. Obwohl das Verhüllen und das Enthüllen manchmal groteske Züge annahm,72 war dies kein mehr oder weniger amüsantes und unverbindliches Katz-und-Maus-Spiel, sondern eine zentrale und gefährliche Dimension. Spätestens während der Socrates erschien, wurde dem jungen Grafen bewusst, dass er sich entscheiden musste, ob er sich von den Verhüllern in Dienst nehmen ließ oder sich auf die riskante Seite der Enthüller begeben wollte. Kurzum: Zinzendorf befand sich in einem handfesten Zielkonflikt: Einerseits konnte er nur verkappt auftreten, um seine Gedanken zu publizieren, zum anderen war ihm gerade diese Verhüllungspraxis zuwider und stand im diametralen Gegensatz zu seinem „entbergenden“ Anliegen.73 Auch wenn Zinzendorfs Aufrichtige Anzeige

69   Holger Zaunstöck: Das Milieu des Verdachts. Akademische Freiheit, Politikgestaltung und die Emergenz der Denunziation in Universitätsstädten des 18. Jahrhunderts. Berlin 2010; ders.: Denunziation und universitätsstädtische Lebenswelt. Überlegungen am Beispiel der Universität Halle um 1700. In: Jahrbuch für Universitätsgeschichte 9, 2006: Die Universitäten des Alten Reiches in der Frühen Neuzeit, 71–82. 70   Zahlreiche Belege bei Teigeler, Zinzendorf als Schüler in Halle [s. Anm. 43]. 71  Vgl. Hans Blumenberg: Die nackte Wahrheit. Berlin 2019. Zu Descartes und Bayle dort 57– 61. 72  Vgl. Daniel, Zum Dreßdnischen Socrates [s. Anm. 12], 57–59: Zwei Mägde wurden als Kuriere eingesetzt, zudem ein „Laquey in einem braunen Rocke“ etc. 73  Aletheia (ἀλήθεια): Kompositum aus Alpha-privativum und λῆθος, Partizip Perfekt Passiv von λανθάνω „ich verberge“. Ob Zinzendorf philologisch bereits derart geschult war, dass er die später von Martin Heidegger (1889–1976) gewählte Übersetzung von Aletheia mit „Entbergung“ in ihrem philosophischen Anspruch als hermeneutische Technik mit ihren ontologischen

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verschiedener Haupt-Wahrheiten nicht oder noch nicht erkenntnistheoretisch begründet war, so war sie nicht erst im Socrates, sondern auch bereits im Parther habituell, identitätsrelevant und handlungsprägend. Der Parther, erst recht der Socrates sind ein Beleg dafür, dass die Aufklärung neue Typen von Wahrheit schuf.

6.Vertriebsstrukturen und Korrespondenz „Lipzi“ (Leipzig) lag im Schnittpunkt der großen Fernhandelsstraßen Via Regia (Ost-West: Paris–Nowgorod) und Via Imperii (Nord-Süd: Bergen– Rom). Hier fanden jährlich drei Messen statt: Drei Wochen nach Ostern („Jubilate“), zu „Michaelis“ (29. September) und zu Neujahr. Diese Leipziger Messen waren nicht nur internationale Handelshöhepunkte, sondern auch ein idealer Schauplatz für den kursächsisch-polnischen Hof, um Autorität, Glanz und Erfolg zu demonstrieren. Regelmäßiger bekannter Messebesucher war der sächsische Kurfürst Friedrich August I. / „August der Starke“ (Reg. 1694– 1733). Entsprechend sensibilisiert waren die Drucker und Verleger. Die Buchhandelskataloge („Messkataloge“) geben einen Einblick in die Gesamtbibliographie der jeweiligen Zeit und zeigen auch für die Jubilatemesse des Jahres 1725 die übliche umfangreiche Tätigkeit in diesem Gewerbe, so dass die Bemerkung des Leipziger Verlegers August Martini, man habe viel zu tun und der Zeitpunkt zur Etablierung einer neuen Wochenschrift sei nicht glücklich gewählt, zunächst plausibel erscheint. Auch unabhängig von der üblichen Hektik vor den Buchmessen gab es Ereignisse, von denen die Buchdrucker überrascht und überrollt wurden. So berichtet der Wittenberger Buchhändler undVerleger Georg Marcus Knoch,74 dass die ebenfalls 1725 bei ihm verlegte Schrift Zinzendorfs Die Letzten Reden / Unsers / HErrn und Heylandes / JEsu Christi vor Seinem Creutzes-Tode75 größere Druckmängel (Auslassungen und Druckfehler) aufwies und deshalb die bereits versandten Bögen ausgetauscht werden mussten. Dies nahm arbeitsökonomisch viel Zeit und Kraft in Anspruch, so dass die Anfrage nach dem Druck und Vertrieb des Parthers tatsächlich sehr ungelegen kam.76 Dennoch „erharrt“ Knoch weitere Anweisungen.

Konsequenzen („übergreifende Sinnzusammenhänge herstellen“) spürte, kann auf der bisherigen Quellenbasis nicht belegt werden, ist aber nicht auszuschließen. 74   Georg Marcus Knoch (1695–1759) war 1722 bis 1734 in Wittenberg tätig. 75   BHZ A 105 1.1. bzw. 105 1.2. UA R.20.D.1.c.6 Nr. 140. 76   Dies legt ein Vergleich der Briefe von Knoch an Zinzendorf vom 20.05. sowie vom 28.05. (s. u.) 1725 nahe.

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So setzte Zinzendorfs beabsichtigte Herausgabe der Wochenschrift eine beträchtliche Kommunikation mit Druckern, Verlegern und Buchhändlern in Gang: Am 10. März 1725 fragte der Drucker und Buchhändler Carl Wilhelm Puchau aus Leipzig an, ob er mit dem Druck des Parder nun beginnen könne, „da man denn bald spüren dürfte, wie solche bei der Welt beliebig“, d. h. wie die Wochenschrift aufgenommen werde.77 Am 12. März 1725 schrieb der selbstbewusste Verleger August Martini aus Leipzig an Zinzendorf, dass es ihm „allzu mühsam“ sei, den Parther in Kommission zu nehmen. Zudem könne er das Papier, wovon Zinzendorf Proben beilegte, „so wohlfeil“ niemals einkaufen. Vor allem aber beschwerte sich Martini über das eingereichte Probeexemplar: Dieses sei „auf solche Art corrigiret, daß Ihne fast niemand lesen kann“. Der Censor würde garantiert ein „leßerliches Manuskript“ erwarten. Und vor der Ostermesse seien alle Druckereien überlastet und müssten sich schon gegenseitig aushelfen. Dennoch ist nicht auszuschließen, dass das Überlastungsargument auch eine Schutzbehauptung war, um sich keinen Ärger mit den Zensurbehörden einzuhandeln; denn 1725 lag Ostern sehr spät (1. April), und die Buchmessen fanden erst drei Wochen nach Ostern, ab Montag nach dem Sonntag Jubilate, statt. Anderseits war Martini bekannt dafür, dass er neue und bis dahin unübliche Vertriebswege beschritt, was in gleicher Weise Neid und Bewunderung hervorrief.78 Offensichtlich ließ Zinzendorf sich nicht beirren in seinem Vorhaben. Auf der Rückseite des Briefes von Martini notierte er säuberlich, wo und in welcher Auflagenhöhe und zu welchem Preis er sich das weitere Vorgehen vorstellte: Iena Nürnberg Hamburg Leipzig Dresden Augspurg

1 gl.79 3 gl. 4 gl. 2 gl. 2 gl. 3 gl.

50 50 100 100 100 50

Altorff80 Tübingen

  UA R.20.D.2.b.25.  Der Leipziger Verlags- und Sortimentsbuchhändler August Martini (1680–1743) ist der erste nachweisbare Verleger mit Ladengeschäft im deutschsprachigen Raum, „der in seiner Buchhandlung und/oder in seinem Lager einen repräsentativen Querschnitt aus dem lieferbaren Angebot von „Frauenzimmerschriften“ ausliegen hatte und mit Anzeigen dafür warb.“ So legte er auf einem gesonderten Blatt den von ihm vertriebenen Büchern Anzeigentexte bei, etwa für die von ihm verlegte Galante Frauenzimmer-Moral (1722). Der Erfolg war verblüffend: Die zweite Auflage erschien bereits 1723. Sabine Koloch: Kommunikation, Macht, Bildung. Frauen im Kulturprozess der Frühen Neuzeit. Berlin 2011, insbes. 35–39, hier 39. 79   Das kursive „l“ ist ein allgemeines Abkürzungszeichen. g = Groschen. 80   Obwohl Altorf(f) der Name vieler geographischer Objekte, Dörfer und Stadtteile ist, wird hier Altdorf bei Nürnberg gemeint sein. 77 78

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Regensburg 3 gl. 30 Halle 3 gl. 100 Caßel 3 gl. 30 Berlin 4 gl. 100 Frankfurte am Mayn 4 gl. 200 Mir - 100 1,881 gl. 101082 Dieser Verteiler nennt nicht den Preis (der sollte 6 Pfg. betragen) noch den Erlös (der sollte bei 3 Pfg. liegen), sondern die Versandkosten, wie der Vergleich der Einzelpositionen nahelegt (verschiedene Beträge bei gleicher Stückzahl). Daher steht bei „Mir“ auch ein Strich, denn die für Zinzendorf bestimmten Exemplare brauchten ja nicht versandt werden. Die Versandkosten (hier also 1 Thaler und 8 Groschen) mussten den Druckkosten hinzugefügt werden. Offen bleibt, wofür diese Orte hier stehen, d. h. an wen sollten die Exemplare geschickt werden und an welche Leserschicht hatte Zinzendorf gedacht. Ein akademisches, gebildetes Leserpublikum darf vorausgesetzt werden. Selbst Altorf (bei Nürnberg), das Zinzendorf wie Tübingen nachträglich einfiel, hatte im Mittelalter viele Bildungseinrichtungen und war seit 1623 Universitätsstadt.83 Im besagten Brief vom 16. April 1725 an Sinold hatte Zinzendorf geschrieben, dass er (oder Martini in Leipzig) dabei sei, einen Kontrakt über wöchentlich 1.800 Exemplare des Parthers zu schließen, die für 6 Pfg. das Stück im Buchladen zu verkaufen seien, wovon der Kommissionär 3 Pfg. bekäme und der „Verfertiger“ den Rest „zu milden Sachen“.84 Der angezeigte Vorgang unter diesem Datum irritiert sehr; denn wenn eine erste Nummer tatsächlich gedruckt wurde, aber einen starken Verlust erlitt, der Zinzendorf zutiefst erschütterte, so dass er am 15. April das unten inhaltlich beschriebene 19-strophige pessimistisch-fatalistische Gedicht schrieb, ist es sehr fraglich, ob er am Tag darauf bereits die Planung von 1.800 Exemplaren als einer wöchentlichen Auflage in die Wege geleitet hat. Da der Originalbrief, aus dem Müller in der ZBG zitierte, im Unitätsarchiv trotz intensiver Recherche in diversen Briefkarteien nicht auffindbar ist, kann zurzeit nicht geklärt werden, ob ein Lese- bzw. Druckfehler bei der Datumsangabe vorliegt, oder ob Zinzendorfs Fähigkeit, schwierige Lebenssituationen ohne anhaltende Beeinträchtigung zu

81  „1,8gl“ meint 1 Thaler und 8 Groschen und nennt die korrekt errechnete Summe der bisherigen Positionen (ein „Kurantthaler“ hatte 24 Groschen). Die letzte Position „Mir“ meint Zinzendorf selbst. 82   UA R.20.D.1.c.6 Nr. 148. 83   Gottfried Wilhelm Leibniz (1646–1716) war Student in Altorf. 84   Dieser Brief wurde vom Archivar Müller in der ZBG IV, 1910, 124f. zitiert, war aber im Unitätsarchiv in Herrnhut nicht aufzufinden.

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überstehen, derart ausgeprägt war, dass er tatsächlich am nächsten Tag zu einem trotzig anmutenden ,Jetzt erst recht‘ ausholte. Letzteres würde zu den Mitteilungen des Wittenberger Buchhändlers und Verlegers Georg Marcus Knoch (s. o.) vom 28. Mai 1725 passen, gezielte Aktionen zum weiteren Vertrieb des „werthen tractats“ des Parthers einzuleiten: Hochgeehrter Herr. Gottes Gnade und Seegen erwünsche Ihnen zuförderst. Weilen mir mit gestriger Post etwaß zu Händen kommen, nemlich eine pience85 der Parther No. 2 genannt, 30 Stück, so bin begierig auch den Anfang als No. 186 zu haben, welchen a 30 Stück mit erstem Erwerber, nachdem der Übersender in der geehrten Zuschrift an mich sich nicht gemeldet, sondern nur die Addresse an 87 überschrieben, wird also selbiger mein Unternehmen nicht übel dancken. Der Herr Autor dieser Curieusen Materie wird hoffentlich Ihnen besser bekannt sein als mir, also [2] selbigen vor dato nicht wissen mag, indem aus der Confirmation mehrere nachricht begierig bin zu wissen, also übrigens erharre und befehle Sie hiermit der Gnade und Vorsorge Gottes, unter welchen verbleibe Mein HochgeEhrter Herr auffrichtigster George Marcus Knoch , B[uch]h[än]dl[er] Wittenberg den 28. Maii 172588

Ebenfalls unter dem Datum 28. Mai 1725 und mit derselben Unterschrift bestätigte Knoch: Hiermit bescheinige das mit gestriger Post, eine Piece der Parther No. 2 genannt, in welcher 30 Stück befunden, zum Verkauf erhalten habe, jedes a 6 Pf. von welchen laut mitkommend[en] Brieffen jedes Stück H. Autor oder Commiss[ionär] mit 3 Pf. solle bezahlet werden. Wittenberg den 28. May 1725. George Marcus Knoch, Buchhändler.89

Dies bedeutet, dass Zinzendorf vermutlich bereits einen Tag nach der Reflexion über seine Niederlage (Vergil-Zitat) und auch gegen Ende Mai 1725 einen gezielten zweiten Anlauf machte, um die „Curieuse Materie“ des Parthers zu vertreiben. Inhaltliche Details oder Nachrichten über Erfolg bzw. Misserfolg sind nicht bekannt.

85   Knoch schrieb das Wort „pièce“ mehrfach falsch, etwa als „pièrce“.Wie der außergewöhnlich markante Buchstabe „n“ hier nahelegt, wird Knoch das „r“ in „pièrce“ durchgestrichen haben, was zu der Lesart „piènce“ führte, was keinen Sinn ergibt. 86   Markant korrigiert aus „2“. 87   Nicht lesbar. 88   UA R.20.D.2.b.26. 89   UA R.20.D.2.b.27.

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7. Zur Rezeptionsgeschichte Die erste Erwähnung von Zinzendorfs Parther erfolgte durch ihn selbst bereits nach einem halben Jahr im Dreßdnischen Socrates:90 Ich besinne mich, daß im vorigen Winter ein Versuch ans Tagelicht kommen, dessen Verfasser sich einen Parther nennet, und verstehe ich ihn recht, so hat er durch den Virgilianischen Vers, den er zum Eingange seiner Schrifft brauchet, die Ursach seiner Bemäntelung deutlich angezeigt, ich finde auch in dem letzten Stück, Schluß auf Schluß, wofern aber die Meynung Grund hat, daß die Gedancken nicht viel künstlicher auf das Pappier zu werffen sind, als sie im Gemüth nach einander entstehen, wenn sie auf die Gedancken anderer Menschen recht zutreffen sollen, so muß der Verfasser ein wahrhaftiger Ausländer seyn, oder eine sehr starcke Dosin der Einbildungs-Krafft bekommen haben, um so asiatisch zu dencken, als er geschrieben hat. Wer sich die Mühe geben und alle seine Kräffte des Nachsinnens zusammen nehmen will, wird über 50 brauchbare Materien in wenigen Blättern wahrnehmen, darzu werden aber solche nachdenckliche Leser erfordert, als der Schreiber selber seyn mag. Es scheinet auch, er habe dergleichen Leser nicht viel angemercket, und lieber gar einzulegen vor gut befunden. Alles dieses macht mir Lufft.91

Zinzendorf hielt also auch ein halbes Jahr nach dem Erscheinen des Parthers an der Camouflage fest. Die Bemerkung Zinzendorfs, der „Virgilianische Vers“ zeige die Ursache der Bemäntelung deutlich an, bedeutet im Klartext: Die bisher erlittenen vielfältigen negativen und diskriminierenden Erlebnisse („Per varios Casus per tot Discrimina rerum“) lassen leider befürchten, dass auch das anstehende erste journalistische Projekt Zinzendorfs in der Familie und der Gesellschaft auf wenig Verständnis stieß und ihm übel angekreidet wurde und er sich daher weiter zur „Bemäntelung“ genötigt sah. Dass dies die Ursache für weitere „varios Casus“ und „Discrimina rerum“ werden würde, wird dem Grafen nicht entgangen sein (s. o.). Im Nachhinein nannte Zinzendorf den Parther einen „Versuch“. Aber ein Versuch wozu? Die Vermutung, der Parther sei ein Probelauf zum Sokrates gewesen, ist zwar naheliegend, wird aber nicht ausdrücklich so genannt und ist im Grunde falsch und eine ex-post-Interpretation.92 Der Parther war als eigenständige Wochenschrift geplant, geriet aber in verschiedener Hinsicht zum ,Schnell-

90   Die 32 Stücke des Sokrates erschienen zwischen dem 01./02.11.1725 und Weihnachten 1726. 91   Zinzendorf, Der teutsche Sokrates [s. Anm. 2], 7f. Teilweise zitiert in ZBG IV, 1910, 124. 92   In einer Specification derer Schrifften, die in den Oberlausitzischen Anstalten und occasione derselben und der Gemeine zu Herrnhuth seit 1721 zum Vorschein kommen sind (UA R. R.20.D.2.a.4.b), notierte Spangenberg: „1725. der Parther von 3 piecen ediret, und der Nahmen des Auctoris bekannt gemacht worden ist, um zu verhindern, daß der Autor des Socrates nicht eclatire.“ Hier stellte Spangenberg bereits einen Zusammenhang zwischen dem Parther und Socrates her, der ursprünglich nicht gegeben war.

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schuss‘, so dass sich das baldige Ende vermutlich auch ohne staatliche Behinderungen ergeben hätte, zumal es nicht genügend „nachdenkliche Leser“ gab, die eine Lektüre des Parthers erfordert hätte. Diese Entscheidung, weitere Nummern „einzulegen“, d. h. zu verzögern und schließlich das ganze Projekt zu beenden, wurde nach einem halben Jahr von Zinzendorf positiv gewürdigt: Sie machte ihm Luft! Sinngemäß darf ergänzt werden: Das Ende des Parthers gab Raum und Kraft für Überlegungen zu einem neuen journalistischen Projekt, das aber dann auf breitere inhaltliche Füße gestellt wurde und mehr Erfolgsaussichten hatte: Socrates. So ergab es sich, dass de facto der Parther zu einem Probelauf des Socrates wurde, obwohl dies nicht geplant war. Spangenberg erwähnte zunächst im Leben Zinzendorfs unter den in den Jahren 1724/25 verfertigten Schriften Zinzendorfs den Parther nicht.93 Erst im späteren Verlauf der Beschreibung der Ereignisse des Jahres 1725 fügte er anlässlich der Bemerkung, „daß, nachdem seine [Zinzendorfs] theologische Bedenken herausgekommen, er die Fortsetzung des Socrates nicht mehr für nöthig halte“, die Anmerkung hinzu: Ich will hier noch anmerken, daß er [Zinzendorf] schon 1724 eine Wochenschrift, unter dem Namen des Parthers herauszugeben angefangen. Ich [Spangenberg] habe dieselbe nie gesehen; er macht aber im ersten Stück des Socrates selbst eine Idee davon. Die Ursache, warum er sie nicht fortgesetzt hat, (denn es sind nur drey Stükke herausgekommen) war diese, daß man anfing, den Verfasser zu errathen; und er wolte für die Zeit gern verborgen bleiben, welches ihm auch mit dem Socrates besser gelang.94

Spangenberg folgert also sehr eng: Dass der Parther es nur auf drei Nummern brachte, hinge mit der Enttarnung des Autors/Herausgebers zusammen. Aber das Ende des Parthers war auch bedingt durch das Eingeständnis, dass es kaum intelligente Leser gab, die das ,asiatische‘ Denken verstehen konnten (s. u.: Die Gründe des Scheiterns). Dann brach die Rezeption rapide ab. Entweder wurde der Parther gar nicht erwähnt wie in den Denkwürdigkeiten des Johannes Plitt (1778–1841)95 oder nur mit einem Satz. Selbst die Entdeckung des Konvoluts von Zinzendorfs weiteren Materialien zum Parther 1903 und deren teilweise Edition in der ZBG durch den Archivar Müller motivierte die Forschung nicht zu einer neuen und intensiven Beschäftigung mit diesem ersten journalistischen Versuch Zinzendorfs.96   Spangenberg, Leben Zinzendorfs [s. Anm. 8] I, 328.   Spangenberg, Leben Zinzendorfs [s. Anm. 8] I, 339f. Zu dem von Spangenberg angegebenen Erscheinungsjahr 1724 s. o. 95   Johannes Plitt: Denkwürdigkeiten aus der Geschichte der Brüder-Unität. 12 Bde. Handschr. im UA Herrnhut. UA NB I.R.3.10.a. 96   Beyreuther erwähnte den Parther nicht, sondern fasste ihn mit dem Socrates unter „Blätter“, die Mitte 1725 erschienen, was jedoch für den Socrates überhaupt nicht und für den Parther nur sehr bedingt zutrifft. Den Inhalt der Blätter beschrieb Beyreuther als „schonungslosen Angriff 93 94

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Erst die beabsichtigte Aufnahme des Parthers in die Edition der „Texte zur Geschichte des Pietismus“ (TGP) führte zu neuen Impulsen.

8. Inhaltliche Analyse Das einzige erhaltene Stück der Wochenschrift (UA R.20.D.2.b.24) nennt außer dem (falschen, s. o.) Datum keinen Autor, keine Jahreszahl und keine Nummernangabe, sondern nur den stolzen Titel des Gesamtunternehmens: Der Parther. Dieser metaphorische Bezug auf jene erfolgreiche vorderasiatische Reiterethnie wird aber sogleich konterkariert durch das als Motto zu dieser Nummer dienende Vergil-Zitat: per varios casus, per tot discrimina rerum tendimus in Latium [sedes ubi fata quietas ostendunt]97

Die Trojaner landeten auf ihrer Flucht aus dem brennenden Troja nach einem Seesturm in einer geschützten Bucht in Karthago, damals Libyen. Angesichts ihrer vom Salzwasser triefenden Körper tröstet Aeneas die betrübten Herzen, erinnert an vielfältige zuvor erlittene Schläge, verheißt eine neue Heimat in Mittelitalien (Latium) und mahnt zur Ausdauer: „Durch verschiedene Schicksalsschläge, durch so viele kritische Lagen streben wir nach Latium, wo das Schicksal ruhige Wohnsitze in Aussicht stellt.“ Harret aus! Das bedeutet, dass der wie die identitätsstiftende Figur Aeneas gestrandete Zinzendorf versuchte, sich Mut zuzusprechen in einer ihm aussichtslos erscheinenden Situation. Seine stolze und selbstbewusste Wochenschrift mit dem vielversprechenden und anspruchsvollen Titel war in kürzester Zeit gescheitert. Der Graf klammerte sich zwar an die vage Hoffnung, dass „dann und wann“ vielleicht noch etwas herauskommen werde, aber der Grundton ist verzweifelt, pessimistisch.

auf die Schäden der Zeit und der Kirche“. Für den Socrates stimmt dies, für den Parther mitnichten. Beyreuther, Selbstzeugnisse [s. Anm. 46], 48. 97  Publius Vergilius Maro („Vergil“), 70–19 v. Chr. – Die „klassische“ Übersetzung dieser Stelle (I, 204f.) von Johann Heinrich Voss lautet: „Durch vielfältige Not, durch manche Gefahr der Entscheidung, eilen wir Latium zu, wo ruhige Sitze das Schicksal darbeut.“ Andere Übersetzung: „Durch manch Wechselgeschick, durch bedrängter Entscheidungen viele, ziehen nach Latium wir, wo das Schicksal ruhige Sitze sicher verheißt.“ Latium war die alte Heimat des trojanischen Stammvaters Dardanus. Der Sturm, der das Boot mit Aeneas und seinen Begleitern an Land trieb, wurde veranlasst von der Göttin Hera/Juno.Vergil übernimmt homerische Muster. Markus Schauer: Aeneas dux in Vergils Aeneis. Eine literarische Fiktion in augusteischer Zeit. München 2007, insbes. 100.

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Dass das am 15. April 1725 oder in den Tagen davor von Zinzendorf verfasste Gedicht diesen pessimistisch-fatalistischen Eindruck macht, kann nur bedeuten, dass ein niederschmetterndes Ereignis vorangegangen ist, das mit dem Schicksal des Parther engstens zusammenhängt. Der Kern dieses Ereignisses besteht darin, dass die hochgesteckten Erwartungen Zinzendorfs mit der Herausgabe seines ersten journalistischen Versuchs zutiefst enttäuscht wurden. Der konkrete Anlass der Enttäuschung ist nicht klar belegt, hängt aber mit höchster Wahrscheinlichkeit mit dem Schicksal der ersten gedruckten Nummer zusammen: 1. Die Reaktion der Drucker, Verleger, Kommissionäre und Buchhändler war verhalten, teilweise ablehnend. 2. Das Echo der Leser war unerwartet kritisch. 3. Der Autor hatte seine Zielgruppe überschätzt, sowohl numerisch als auch intellektuell: Es gab zu wenig „nachdenkliche Leser“. In den 1903 aufgefundenen Materialien gibt Zinzendorf vor allem sich selbst die Schuld, dass die erste Nummer „keine große Würckung hervor brachte“. Dies wiederum hinge vor allem mit dem aggressiven und provozierenden Charakter der ersten Nummer zusammen, aber auch mit dem ungewöhnlichen verfremdenden Bezug auf diese asiatische Nation und weitere „asiatische Ausdrücke“. Die Strophen 5–9 zielen vor allem auf die mäklerische Leserschaft und auf das Verhalten der Buchhändler und Kommissionäre: Du schreibst; die Feder will die Dinte nicht recht fassen, Jetzt, mahlt [malt] sie dir zu grob, ietzt, zeichnet sie zu klar, Und hastu denn dein Blat ins Weite fliegen lassen, Nimmt jener diesen Fehl, der einen andern wahr.

Dagegen spielen weitere Strophen (15–19) direkt auf das Schicksal der Wochenschrift an: Und kan der Mensch sich viel in die Gedancken nehmen, So geht ihm nirgends mehr als an Gedancken ab: Drum darff der Parther sich noch nicht zu tode grämen, Daß er am Freytag erst davon ein Beyspiel gab. ***

Drum nehme doch kein Mensch zu viel auff seine Hörner, Man denckt: Man seys allein, so kommts auff andre an, Wer Rosen brechen will, der sticht sich in die Dörner, Nicht alles läst sich thun, was einer Wollen kan. ***

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Noch eins: es läst sich gut bey andrer Schaden lachen, Man hofft vielleicht: es sey um dieses Blat geschehn, Allein, geschehen nicht viel unverhoffte Sachen? Wer weiß? bekommt mans nicht noch offt genug zu sehn.

Zinzendorf wählte zum Ausdruck seiner pessimistischen, ja fatalistischen Gedanken ein literarisches Zitat aus der klassischen Antike: Vergil. Ein passendes biblisches Zitat (Ps 88; Hi 3; eines der fünf Echa/Threni-Klagelieder des Jeremias; Mt 27,46) oder gar ein Trostpsalm oder statt „Latium“ Hebr 13,14 kamen dem bibelkundigen Grafen nicht in den Sinn. Dass der Graf mit dem Vergil-Zitat aus der Parther-Rolle fiel, scheint ihm in dieser emotional bewegten Situation entgangen zu sein; denn dass ein Parther sich danach sehnt, ausgerechnet in Latium (Mittelitalien), also im Kernland des Erzfeindes und Gegners, Geborgenheit und eine neue Heimat zu finden, scheint sehr unwahrscheinlich.98 Die Interpretation wird dadurch erschwert, dass Zinzendorf verschiedene Aspekte bzw. Perspektiven wählte, um seinem Schmerz und Ärger Ausdruck zu verleihen. So ist in den ersten drei Strophen eindeutig der König sein direkter Ansprechpartner: „HErr König, du befiehlst!“ In den Strophen, wo es um „das Blätgen“ geht, spricht Zinzendorf zu sich selbst: „Du siehest zum Voraus: Es sey um dich gethan.“ Im Verlauf des Gedichts aber wechselt das Personalpronomen zu einem kollektiven „du“ („man“): „Den andern blendestu [blendest du] durch prächtige Geschencke.“ Ist hier der Graf noch die Bezugsperson oder wieder der König? Schließlich weitet sich die Perspektive zum AllgemeinMenschlichen: „So Mensch! So gehet es mit menschlichen Geschäfften.“ Die Wahrscheinlichkeit spricht dafür, dass Zinzendorf sich in den Strophen 1 bis 3 mit dem König auseinandersetzt, in den Strophen 4 bis 19 sich und sein Geschick beklagt. J.Th. Müller fasste den Inhalt der 19 Strophen unterschiedlich, jeweils nur in einem Satz, zusammen: „Der Inhalt will die verschiedensten Beweise dafür erbringen, dass für den Erfolg der menschlichen Bestrebungen das unberechenbare Glück das Entscheidende sei.“99 Er zitierte dazu als Beleg die Strophen 7, 15 und 19 und traf damit zwar den pessimistisch-resignativen Grundton, verfehlte aber die wesentlich breiter und konkreter gefasste Anklage Zinzendorfs an den König und an sich selbst. Auch in der Abschrift des Zinzendorf-Konvoluts100 fasste Müller den Inhalt der 19 Strophen in einem einzigen Satz zusammen: „Der Inhalt ist eine Betrachtung über die Herausgabe des Blattes, seinen beabsichtigten Inhalt, das

98   Unschärfen bzw. eigenwillige Assoziationen im Umgang mit Zitaten aus der Antike oder alten Gebräuchen unterliefen Zinzendorf mehrfach. Teigeler, Zinzendorf als Schüler in Halle [s. Anm. 43], 60, 237f. 99   ZBG IV, 1910, 125. 100   UA R.20.D.2.b.29, Bl. 4.

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Risico des Unternehmens etc.“ Auch dies ist formal korrekt. Dennoch geht Müller auch hier völlig am Inhalt und am Anlass vorbei. Die 19 Strophen sind keine wertfreie, abgehobene „Betrachtung“, sondern ein verzweifelter Aufschrei, eine Anklage, eine quälerische Selbstkritik. Offensichtlich gab es Zeiten, in denen eine allzu konkrete Situationsbeschreibung unter angedeuteter Berücksichtigung des emotionalen Gehalts der wissenschaftlichen Reputation eher zu schaden schien als eine abgehobene abstrakte, korrekte, aber nichtssagende Zusammenfassung. Auch Müllers Darlegung des Grundes, weshalb Zinzendorf seine Wochenschrift Parther nannte, irritiert:101 „Dass Zinzendorf seine Schrift „Parther“ nennt, scheint darauf hin zu deuten, dass er ursprünglich beabsichtigte, die Anschauungen eines Exoten über europäische Verhältnisse darzulegen; glaube er doch, nach der angeführten Stelle aus dem Socrates ,asiatisch‘ gedacht und geschrieben zu haben.“ Offensichtlich hat Müller Zinzendorfs Parther-Metapher nicht verstanden. Zinzendorf wählte mitnichten irgendeinen Asiaten, etwa einen Mongolen oder Elamiter, als Titelfigur für seine Wochenschrift, sondern mit großem Bedacht den Vertreter einer bestimmten Reiterethnie. Zudem ging es nicht um die Darlegung „europäischer Verhältnisse“, sondern um sehr konkrete, persönlich erfahrene bedrückende Erlebnisse und politisch ärgerliche Zustände in seiner Heimatstadt Dresden.

9. Zinzendorfs Materialsammlung (UA R.20.D.2.b.30) Das Dilemma im Umgang mit diesen Materialien (vier gefaltete Bögen, also 16 Seiten in Folio) bezieht sich sowohl auf die Schwierigkeit, eine einigermaßen verlässliche Paginierung bzw. Zitationsweise zu finden, zum andern auf den Inhalt, der nur an wenigen Stellen klar abzugrenzen ist.102 Müller hat in der ZBG den Inhalt auf zwei „Aufsätze“ verteilt, nicht zuletzt um seiner These, es handele sich um die Konzepte der geplanten Nummern 2 und 3, das nötige Format zu verleihen. Jedoch bleibt offen, wie Zinzendorf sich das Zueinander dieser Materialien letztlich dachte. Es ist nicht auszuschließen, dass größere Passagen dieser Materialien den Inhalt einer verschollenen ersten Nummer bildeten.

  UA R.20.D.2.b.29, Bl. 2f.   Bis auf Weiteres bleibt die Zitation unbefriedigend.

101 102

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9.1 Europa im Kontext der Kontinente und der Beruf des Aufklärers Die erste Seite des ersten Bogens irritiert und ist aus heutiger Zeit geradezu anstößig: Zinzendorf verglich die Missstände in Europa mit den „schädlichen“ Verhältnissen in Afrika, und es sei an der Zeit, über Mittel nachzudenken, wie man sich der „unfreundlichen Gäste“ entledigen könne.Vielleicht könne diese Arbeit auch von solchen erledigt werden, die den Beruf dazu haben. Abwarten und sich nicht einmengen ist der falsche Weg. Leider entscheidet der erfolgreiche bzw. nichterfolgreiche Ausgang des Eingriffs über die Berechtigung zum Handeln und nicht etwa die „Vorstellung derer dazu bewegenden Ursachen“. Vor diesem war Africa eine schöne Welt voller Mißgeburthen, Asia war ein Pflantz Garten der himmlischen Lehre, und Europa ein verwachsener Hayn, der aber von wohlgearteten und vernünfftigen Menschen bewohnet ward.

Müller hat in seiner Abschrift des Zinzendorf-Konvoluts diese Stelle korrekt wiedergegeben,103 es aber bei einer Ablage ins Archiv belassen, d. h. in der ZBG nicht veröffentlicht. 9.2 Berufung zur ungeschminkten Zeitansage in einer verrückten Welt Ein Teilaspekt aus dem vorigen Abschnitt wird aufgegriffen und enthält Zinzendorfs Reflexionen über die Anerkennung eines Helden bei geglücktem Ausgang der Unternehmung, aber über die Verachtung bei nicht-glücklichem Ausgang: „Bei sieghafften Einzügen werden mehren theils Leute zu Alexandern und Cromwells gemacht, welche, wenn sie in Banden gegangen, zu so viel Herostratus104 und Miriweys105 würden seyn erklärt worden.“106 Woran Zinzendorf konkret denkt, wird aus dem Kontext klar: Wenn etwas „übel ausschlägt“, wird man zu den „verächtlichen Projectmachern“ gezählt. Dennoch muss es erlaubt sein, sich des „gesunden Verstandes“ zu bedienen und sich nicht durch die „täglichen Geschäffte“ ganz vereinnahmen zu lassen, sondern „etwas in Vorrath“ zu behalten, und zwar nicht nur im Kopf, sondern diesen „Überfluß“ auch zu Papier zu bringen und so den „Neben-Menschen“ zu dienen. Zinzen-

  UA R.20.D.2.b.29, Bl. 19f.   Herostratos war ein antiker ionischer Hirte, der, um unsterblichen Ruhm zu erlangen, 356 v. Chr. den von König Kroisos erbauten Tempel der Artemis in Ephesos in Brand setzte. Die Stadt verhängte zwar ein Verbot, die Brandstiftung und den Namen des Brandstifters zu nennen („damnatio memoriae“), jedoch hielt der zeitgenössische Historiker Theopompos von Chios die Ereignisse fest, so dass sie rezipiert werden konnten. Herostratos wurde zum Synonym für Menschen, die aus Geltungssucht Kulturgüter zerstören oder überhaupt irrationale Untaten begehen. 105   Unter dem Titel Der persianische Cromwell erschien 1723 ein anonymer Bericht über die Heldentaten des Miriways im Sinne eines siegreichen Beschützers von Persien. Die Zuschreibung ist historisch nicht korrekt, da Miriways Sohn Mir Mahmud Hotaki 1722 Isfahan eroberte. 106   Längere Passagen sind in der ZBG zitiert. 103 104

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dorf rationalisiert auf der einen Seite das Missgeschick seines Parthers, auf der anderen Seite betont er das Recht, den Zeitgenossen („Neben-Menschen“) seine Dienste anzubieten. Es sei sogar sein Beruf, „etliche gute Hauß Mittel für die menschliche Schwachheit in den Druck zu geben“, zumal der „Erdboden zu einem Pest Hause, wo nicht zu einem Scheiterhauffen gemacht“ wurde. Sogar in den Wirthshäusern habe er gehört, wie über diese Übel allgemeine Klagen geführt wurden. „Dabey kan ich nichts thun, als solche meinen Herrn zur Verbesserung anzuzeigen.“ Auch wenn auf dem Katheder vor so manchen gefährlichen Lehren gewarnt wird, kann er letztlich nur versuchen, sich „vor dem Irrthum selbst zu bewahren“. Diese Zurückhaltung hat aber ihre klare Grenze: Wo [wenn] ich aber an diesem oder jenem neben Menschen, daß er einen Sparren zu viel oder zu wenig habe, insgemein wahrnehme, so finde ich eben nicht so nöthig nach einem Professore moralitatis zu schicken; sondern ich befleißige mich, der Sache in Compendio abzuhelffen und Ihm einen unmaßgeblichen Rath mitzuteilen, dadurch etwan sonst einem und dem andern geholffen worden.107

Zinzendorf versucht eine Rechtfertigung für sein Unternehmen, in einem Journal seiner Meinung über den Zustand der Welt Ausdruck zu verleihen und denjenigen, die „einen Sparren zu viel oder zu wenig“ haben, einen „unmaßgeblichen Rath“ zu erteilen. 9.3 Die Zeit zum unerschrockenen Handeln ist gekommen Das Motto steht hervorgehoben oben auf der ersten Seite des zweiten Bogens: „Darnach der Mann ist, so ist auch seine Krafft. B. d. Richter 8 p. 21.“ Zur Erinnerung: Die langjährige Demütigung der Israeltiten durch Midian wurde durch einen Befreiungsschlag Gideons beendet: Die beiden gefangenen midianitischen Könige Sebah und Zalmuna bitten Gideon, sie zu töten: „Mache du dich an uns. Stehe auf und stoße du uns nieder. Denn wie der Mann, so seine Kraft.“ Also stand Gideon auf und hieb sie nieder.108 Unmittelbar danach stellte Gideon ein „Ephod“ her, also ein anzubetendes Götzenbild (Ri 8,27).109 Als Glaubens-Vorbild ist Gideon daher nur sehr begrenzt tauglich. Einen völlig anderen Aspekt wählte Zinzendorf: Zunächst erzählt er ausführlich den Inhalt von Richter 8 bis zu jener Aufforderung der midianitischen 107   Ein Fehler im Sparrenwerk einer Dachkonstruktion steht umgangssprachlich für einen Gehirnschaden. Wer „einen Sparren zu viel oder zu wenig hat“, gilt als verrückt, verschroben und nicht recht bei Verstand. 108   ‫ ּפגע‬heißt „stossen, schlagen“, also „erschlagen“, und nicht „erwürgen“. 109   Ephod (‫ )ֵאפֹוד‬bezeichnet sowohl das liturgische Gewand des Hohepriesters als auch ein Götzenbild, in jedem Fall etwas Kostbares.

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Fürsten an Gideon, sie zu töten. In der folgenden Reflexion bewundert und würdigt Zinzendorf zuerst den vorbildlichen Heldenmut der beiden Könige, der nicht nur bei den Heiden, sondern auch noch bei getauften Christen anzutreffen sei. Es folgen weitere historische Beispiele einer solchen vorbildlichen Haltung, nicht von der Stelle zu weichen. Es ist geboten, sich nicht einschüchtern zu lassen, denn oft zeige der Gegner „mehr Blendwerck als innerliche Stärcke“, wie man es auch im Tierreich beobachten kann, „wenn vor dem Geschrey eines ohnmächtigen Pfauen die behenden Schlangen fliehen“. Dann jedoch erfolgt eine unerwartete Wendung in der bisherigen Logik: Zinzendorf hofft, „daß auch diejenigen, denen ich etwa mit meiner Schrifft unbequem fallen, und ihre Meinung bestreiten dürffte, desto williger sagen mögen: Stehe du auff und mache dich an Uns. Darnach der Mann ist p[erge].“ Jetzt ist Gideon, nunmehr er selbst, gefragt, „aufzustehen“ und mutig zuzustoßen. Zinzendorf benutzt das Exempel von Ri 8, um vor allem sich selbst Mut zu machen und einzureden, dass nunmehr der richtige Zeitpunkt zum Handeln gekommen ist. 9.4 Die Personalie des Parthers Zinzendorf Das mit Abstand längste Stück in diesen Materialien ist die von Zinzendorf geschriebene Personalie des Parthers. Sie erstreckt sich über vier volle FolioSeiten.110 Die Reinschrift wurde auf diesen Seiten von Zinzendorf am Intensivsten korrigiert und ergänzt, was den Schluss nahelegt, dass diese Passagen ihm wichtig waren. Das Stück trägt die Überschrift Personalia. Da dieser Aufsatz in voller Länge in der ZBG abgedruckt ist (126–128), genügen hier einige Anmerkungen: 1. „Ich heiße Wulged.“ Es ist müßig, im kleinasiatischen Raum nach einer Person mit dem Namen „Wulged“ zu suchen.111 Auch wenn antike Namen wie Wolgaš/Valgāš/Vologases eine gewisse phonetische Nähe zu „Wulged“ zeigen, handelt es sich nicht um einen Bezug zu einer real-existierende Person, sondern Zinzendorf spielte hier wie auch oft in den Jahren zuvor (etwa im Atticus112 oder

  Bogen 2 Seite 3, Bogen 2 Seite 4, Bogen 4 Seite 1, Bogen 4 Seite 3.   Die entsprechenden Eponymenlisten kennen keinen Beamten oder Heerführer dieses Namens. 112   Nikolaus Ludwig von Zinzendorf: Attici Wallfahrt durch die Welt in Teutschland biß nach Frankreich 1719–1720. Bisher ungedruckt UA R.20. A.6. Seinen Stiefvater nannte er im Atticus „Ulysses/Odysseus“, seine Mutter „Vertusa“ („die sich abgewandt Habende“). Auch für Orte wählte Zinzendorf ein für ihn plausibles Pseudonym: „Ithaka“ für Hennersdorf, „Lutetia“ für Paris, „Ephesus“ für Wittenberg, „Athen“ für Dresden. Teigeler, Zinzendorf als Schüler in Halle [s. Anm. 43], 200 Anm. 186. 110 111

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für seinen Hofmeister Crisenius113) mit Namen, jetzt also mit seinem Vornamen „Ludweg“/Ludwig. 2. Zinzendorfs Geburtsdatum war der 26. Mai 1700, also im Zodiak der Zwillinge. Das Geburtsdatum des fiktiven Parthers jedoch lag angeblich „im Zeichen des Scorpions“ (24.10. bis 22.11.). Nach gängiger Vorstellung sind die Planeten des Skorpions Pluto und Mars. Entsprechend kriegerisch sind die typischen Zuschreibungen: positiv als analysierend, ausdauernd und belastbar; negativ als jähzornig, skrupellos und verbissen. Genau nach diesem Muster beschreibt der Autor des Aufsatzes die dem Parther zugeschriebenen Eigenschaften: Wenn er den Krieg wähle, würde sein Säbel „unheilbaren Schaden“ anrichten. Wenn er die freien Künste wähle, würden „Feder und Mund einem durchdringenden Schwert gleichen“. So oder so ist sein Handeln aggressiv mit harten Folgen für seine Gegner bzw. sein Gegenüber. Der gewählte Volksstamm wie auch der fiktive Geburtszeitraum zielen in die gleiche Richtung: Kampf ist angesagt! In diese Richtung wies ja auch das Teilstück mit dem Bezug auf Ri 8. Der Autor scheint sich Mut anzudichten. 3. Mein Vater ist „zu Gallon gestorben“. In der Schönschrift-Vorlage hatte der Schreiber „Galbau“ (evtl. „Galban“) geschrieben. Dieses wurde von Zinzendorf in Druckbuchstaben über dem Wort korrigiert zu „Gallon“. Auch hier ist es müßig, einen Ort dieses Namens zu suchen. Bekanntlich starb Zinzendorfs Vater Georg Ludwig von Zinzendorf am 9. Juni 1700, also zwei Wochen nach der Geburt des Sohnes Nikolaus Ludwig. „Gallon“ meint keinen Ort, sondern dass der Vater „vor langer Zeit“ (la long, le long) verstorben sei. 4. Irritierend ist die Behauptung: „Solange meine Mutter mit mir zu thun hatte, ward ich im christlichen Glauben insgeheim unterwiesen.“ Das Wort „insgeheim“ wurde von Zinzendorf über der Zeile eingefügt, war ihm also wichtig. Aber die christliche Erziehung sowohl als Kind in Dresden bzw. Hennersdorf durch die Mutter bzw. die Großmutter war keineswegs geheim. Die Bemerkung bleibt rätselhaft. 5. Auch der zweite Teil des Satzes bleibt rätselhaft: Zinzendorf korrigierte das ursprüngliche „einige Gewalt behielt“ in „mit mir zu tun hatte“. Sodann: mir [wurde] ein solcher Eckel gegen die Fabeln des Alii114 und andere Thorheiten des dortigen Provinzial-Glaubens eingepräget, daß der nach meines Vaters Todte über mich bestellte Parthische Fürst115 nichts mit mir machen konte, da her man

 In der Epiphonesis auf Aristotelis Schicksal (1715) nannte Zinzendorf seinen Hofmeister Crisenius „Herr Omnis“, in der Abschiedsrede vom Pädagogium Regium am 02.04.1716 „Herr Voisin“ (Nachbar) und „Momos“ (in der antiken Mythologie der Gott des Tadels und der Kritik), im Atticus „Catilina“, den Verschwörer. 114  Von Zinzendorf korrigiert aus „Ali“. 115   Der Generalfeldzeugmeister Otto Christian von Zinzendorf (1661–1718) war Zinzendorfs Onkel und Vormund und strikt gegen den Schulbesuch seines Mündels in Halle. Teigeler, Zinzendorf als Schüler in Halle [s. Anm. 43], 24. 113

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mit guter Einwilligung meiner Muttera116 auf Anstifften meiner meisten Freunde mich in das benachtbahrte China117 schickete. a

Welche ekelerregenden „Fabeln des Ali“ sind gemeint, und welche Torheiten des „Provinzial-Glaubens“? 6. Gegen Ende der Personalie taucht noch einmal dieser Ali auf: Ich hatte es mit aeiner Geistlichkeita118 zu thun, die aus dem Land des Ali entsprossen zu seyn und seine Gesätze eigenhändig zu besitzen, auch besondere Schlüssel zu allen Geheimnissen seiner Lehre zu haben vorgiebt, wie sie denn seinen Stuhl, darauf er gelehret, ein Stück von dem Küssen [Kissen], darauf er geruhet, und wo ich nicht irre, auch einen zerbrochenen Becher, daraus er getruncken noch bey sich haben. Wer mit diesem Volck Händel kriegt, der darf seine Seele nur Gott befehlen und seinen Leib der Erde, wenn er nicht durch ein Wunderwerk ihren Händen entweichen kann. Ich ergriff also die Flucht.

Sollten die lutherisch-orthodoxen Geistlichen und der Mythos um Luther gemeint sein? Die Feiern des zweihundertjährigen Reformationsjubiläums (1717), die Zinzendorf als Student in Wittenberg miterlebt hatte, lagen noch nicht lange zurück.119 7. Auch nach Jahren weiß Zinzendorf zu würdigen: In Halle „war der Grund zu derjenigen freyen Wahl geleget, welche ich hernach in Religions-Sachen geliebet habe.“ Die Zeit in Halle und die dortige Theologie, die stark übertriebenen „in der Religion seyenden Mängel“, die Lernfortschritte als Schüler in den Wissenschaften und Künsten, die Neigung zum Aberglauben, manche nur äußerlich mitgemachten kirchlichen Gebräuche, die „spitzigen“ Bemerkungen über „die Betriegereyen der Geistlichkeit“, das aufgenötigte affektierte Verhalten beim Spazierengehen, die „Arglist des gewesenen Vertrauten“:120 Diese Details in der Personalie konnte nur Zinzendorf selbst schreiben, und er hat es mit bewundernswerter Offenheit getan.

116 a-a   von Zinzendorf durchgestrichen, vermutlich im Wissen darum, dass der Stiefvater Dubislav Gneomar von Natzmer (1654–1739) die treibende Kraft für einen Schulbesuch in Halle war. 117  Von Zinzendorf üdZ eingefügt für das durchgestrichene „Reich“ 118 a–a   von Zinzendorf üdZ ergänzt; dafür im Text gestrichen „der Christlichkeit“ 119   Rüdiger Kröger: Zinzendorf und die Reformation. In: UnFr 76, 2018, 9–23. 120   In der Vorlage stand „meines Auffsehers“. Gemeint ist der Hofmeister Daniel Crisenius.

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10. Enttarnung und kritischer Rück- und Ausblick Mitten in den Materialien,121 am Ende der von Zinzendorf so genannten „Vorrede“,122 platzierte der Graf eine Enttarnung. Er lässt die Maske des Parthers fallen und gibt sich nunmehr als einen „gebohrenen Teutschen“, der „ein wenig transcendentale Concepte“ hatte, zu erkennen. Weil er diese auch noch „mit asiatischen Ausdrücken hervorbrachte, so konte keine große Würckung von seinen Blättern entstehen“. Zunächst ist dies ein Beleg dafür, dass zumindest dieser Teil der Materialien nach dem Misserfolg der vermutlichen Erstnummer geschrieben wurde. Sodann ist erstaunlich, wie genau und selbstkritisch Zinzendorf die Gründe des Misserfolgs analysiert: die „asiatischen Ausdrücke“, „transcendentale Concepte“, das Provozieren angesehener Prediger, vorschnell gezogene Schlüsse. Besonders schmerzt die Einsicht, dass der Parther letztlich trotz allem zu undeutlich gewesen sei, so dass die „ohnedies zum Guten unwilligen Menschen den Aufschub ihrer Verbesserung mit seiner [des Parthers] Undeutlichkeit würden beschönigen wollen.“ Zinzendorf gibt zu, dass „der Parther“ „viel Mühe“ hatte, dies zu begreifen. Auch bemühte sich der Graf, nicht vom „Scheitern“ zu sprechen, sondern euphemistisch vom Verfehlen einer großen Wirkung. Das Vergil-Zitat mit dem gestrandeten Aeneas scheint vergessen zu sein. Von nun an soll „die fernere Ausführung seiner wohlgefassten Grundsätze“ unter Zinzendorfs richtigem Namen erfolgen. Er ist begierig zu sehen, „wie ich dem Herrn Leser gefallen möchte.“ Allerdings ist Geduld sowohl auf Seiten des Autors wie des Lesers nötig. Es folgt die Ankündigung, dass „ich noch einen obgleich unvollkommenen Auffsatz des Parthers, daraus sein Lebens-Lauff werden sollte, und den Er vielleicht nicht weiter auszuführen gedencket, zum Beschluß mittheilen“ muss. Im Grunde eine unverständliche Ankündigung, jetzt noch, nachdem zuvor der asiatische Charakter als Grund des Misserfolgs genannt wurde, die „Wulged“-Personalie zu bringen. Zum andern aber auch ein Beleg dafür, dass diese Personalie nicht der Inhalt der vermutlich ersten Nummer gewesen sein kann. Diese muss andere, vermutlich sehr provozierende Inhalte gehabt haben.

11. Zinzendorfs Tagebuchnotizen 1725/26 (UA R.20.A.15.b.164) Das Tagebuch123 ist bisher nur handschriftlich erhalten. Es wurde zwar paginiert, ist aber dennoch nicht konsequent geführt. Durchgehender Gegenstand sind Bemerkungen zu den Haus-Versammlungen, die Zinzendorf in Dresden

  Bogen 1 Seite 2 (Mitte) und Bogen 3 Seite 1 (volle Seite).   Müller las „Verrat“, was eindeutig falsch ist. 123   Diarium Zinzendorfs aus Dresden Oktober bis Dezember 1725 und teilweise 1726. UA R.20.A.15.b.164. Paginiert. 121 122

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sonntäglich durchführte. Dies ist der Grund, weshalb Angaben zum Parther und auch zum Socrates nur am Rande auftauchen und dass die Gesprächsteilnehmer vor allem (Hof-)Prediger sind. Zum Parther gibt es nur drei Äußerungen, die aber aufschlussreich sind: Seite 3: Der Hofprediger Ben(n)emann gibt zu, dass er „den Parther so hämisch herumgenommen [habe], sonst seys eine auffgeweckte piéce.“ Seite 5: Es gibt Leute, die behaupten, „ich [also Zinzendorf] müste der Parther seyn“. Der Hofprediger Ben(n)emann aber „machte klar, dass ichs nicht wäre“. Seite 8: Zinzendorf zitiert einen Leibwächter des Königs. Danach habe der König gesagt: „Wer würde Autor seyn als ich.“ Nachdem aber der Hofprediger Ben(n)emann dem König „die Refutation des Parthers gelesen, habe er sich anders begriffen“. Diese Gesprächsfetzen belegen, dass der Parther in den Dresdner höfischen Kreisen Gesprächsgegenstand war und dass der König die Vermutung hegte, Zinzendorf sei der Autor. Die erwähnte „Refutation“, offensichtlich ein schriftliches Stück, konnte bisher nicht nachgewiesen werden.

12. Die Gründe des Scheiterns Die Gründe, weshalb der erste journalistische Versuch Zinzendorfs scheiterte, sind mehrgestaltig und unterschiedlich in ihrer Gewichtung. 1. Zinzendorf selbst nennt an erster Stelle für das Scheitern des Parther, dass er nicht die richtige Zielgruppe für seine Wochenschrift gefunden habe. Er habe sich verschätzt und längst nicht so viele nachdenkliche und kritische Zeitgenossen gefunden, wie er sich das gewünscht und vorgestellt hatte. Seine „transcendentalen Concepte“, zudem noch „hervorgebracht mit asiatischen Ausdrücken“, waren zu elitär und konnten „keine große Würckung“ erzielen.124 Die angestrebte Leserschaft war nicht gewöhnt „asiatisch zu dencken“, was wohl bedeutet, verschlüsselte Nachrichten zu deuten.125 Manche Leser reagierten wie der Hofprediger Ben(n)emann: hämisch. 2. Auch hatte Zinzendorf nicht genügend die sehr unterschiedlichen Erwartungen, Gewohnheiten und Bedürfnisse der potentiellen und verwöhnten Leserschaft bedacht: dem einen ist das Gebotene zu grob, dem anderen zu fein.126

  So Zinzendorfs kritische Reflexion in der Materialsammlung zum Parther.   So Zinzendorfs kritische Reflexion im Teutschen Socrates [s. Anm. 2], 7. 126   Diesen fatalistischen Grundton stimmte Zinzendorf bereits im Februar 1715 als vierzehnjähriger Schüler in Halle in der Epiphonesis zu seiner Aristotelesrede an. In der ersten, jedoch durchgestrichenen Fassung heißt es: „Gott spielt wies Ihm beliebet.“ In der zweiten Fassung in der fünften Strophe: „Man machts doch niemand recht.“ Teigeler, Zinzendorf als Schüler in Halle [s. Anm. 43], 119 Anm. 78, 123. 124

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Die potentiellen Leser sind nicht nur intellektuell überfordert, sondern auch in ihrem Toleranzverhalten gegenüber dem ihnen gebotenen Lesestoff. 3. Die geplante Wochenschrift war zudem logistisch schlecht vorbereitet: Zinzendorf hatte dem Drucker bzw. Verleger ein Konzept vorgelegt, in dem die Korrekturen kaum lesbar waren. Auch war das ganze Unternehmen angeblich zu einem unglücklichen Zeitpunkt, nämlich kurz vor der Leipziger OsterBuchmesse, gestartet worden. Zwar lag 1725 Ostern sehr spät (1. April) und die Buchmesse begann sowieso erst 3 Wochen nach Ostern, am Tag nach Jubilate, aber das Argument der Überlastung war zumindest als willkommene Schutzbehauptung nicht abwegig. 4. Die inhaltliche Vorstellung, der Familie und der Gesellschaft den Kampf anzusagen und sich an ihnen abzuarbeiten und so das endgültige Erwachsensein zu demonstrieren, erwies sich als zu eng. Zinzendorf zog daraus die Konsequenz und stellte den Socrates auf ein wesentlich breiteres gedankliches Gerüst: bezogen auf Staat, Kirchenpolitik, Gesellschaft sollte Socrates die „Hauptwahrheiten anzeigen“. 5. Die intensiv und effektiv betriebene staatliche Zensur ließ ein freies Agieren nicht zu, insbesondere wenn der Autor und die Druckerei anonym blieben und somit quasi automatisch, von Amtswegen, das Kontroll- und Strafsystem in Gang gesetzt wurde. Für den wenige Monate später unter der vergleichbaren Voraussetzung der Anonymität herausgegebenen zweiten Versuch Zinzendorfs, den Dreßdnischen Socrates, hat Thilo Daniel die Untersuchungsakten auf Grund eines Fundes im sog. Ratsarchiv des Dresdner Stadtarchivs aufbereitet und die Konsequenzen für ein derart provokantes Verhalten den Zensurbehörden gegenüber dargelegt.127 Den Druckern und Verlegern war durchaus bekannt und bewusst, dass ein Missachten der Zensurbestimmungen empfindliche Strafen von der Konfiszierung der diskriminierten Schriften bis zur Schließung des Betriebs zur Folge haben würden. Es war also gar nicht so leicht, für anonyme Schriften einen Drucker und Verleger zu finden. Erschienen dennoch solche Schriften, so wurden umgehend Untersuchungen eingeleitet, meistens mit der Enttarnung des Druckers und auch des Autors und sofortiger Konfiszierung der noch vorhandenen Stücke sowie Einleitung eines gerichtlichen Verfahrens.

13. Fazit und Ausblick 1. Das archivalische Material zum Parther ist nicht so marginal wie es auf den ersten Blick scheint. 2. Der von Zinzendorf mit Bedacht gewählte Titel Der Parther ist eine Kampfansage an die Familie und an den sächsischen Staat.

  Daniel, Zum Dreßdnischen Socrates [s. Anm. 12], 53–74.

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3. Die Parther-Metapher wurde von Zinzendorf gewählt, um mit der Hitand-Run-Taktik sein Vorgehen zu erläutern und sich zugleich Mut zu machen. 4. Die Parther-Metapher bestätigt die offene Denkdimension Zinzendorfs, die sich in den Schulaufsätzen in Halle ankündigte (René Descartes, Pierre Bayle) und sich in der Tropenidee und der darauf fußenden Gründung der mährischen Flüchtlingssiedlung Herrnhut ihren historischen Platz schuf. Der Bezug auf die alte vorderasiatische Ethnie der Parther impliziert die Vorstellung, dass ein gleichberechtigtes Nebeneinander verschiedener Gruppen lebensfähig ist und ,siegreicher‘ sein kann als ein straff organisiertes Imperium (Rhizom versus Arbor; dezentral/synodal versus Hierarchie). Es ist daher sinnvoll, periodische und flexible Allianzen zu schließen. 5. Der erste journalistische Versuch Zinzendorfs scheiterte wegen der übereilten Durchführung des Projekts und weil der Anspruch an die Leserschaft zu hoch war. 6.Viele archivalische, aber auch inhaltliche, Fragen bleiben offen. 7. Ob Zinzendorf aus dem Geschick seines ersten journalistischen Versuchs verlegerische und inhaltliche Konsequenzen zog, wird an dem bereits nach sechs Monaten erfolgten zweiten Versuch, dem Socrates, zu überprüfen sein. 8. Das Thema „Zinzendorf und die Antike“ bedarf einer umfassenden Weiterführung und gründlichen Aufarbeitung. Hier konnte lediglich ein Detail vorgestellt werden.

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Sabine Wolsink

Magnetismus und Somnambulismus als Erklärungsrahmen für Wunder in der Theologie August Tholucks* Am 22. Mai 1837 schrieb der hallische Professor der Theologie Friedrich August Gotttreu Tholuck (1799–1877) das Folgende in sein Tagebuch: „In the afternoon at 4 to Erdman to talk about miracles“.1 Dieses Gespräch mit dem damaligen hallischen Honorarprofessor der Philosophie Johann Eduard Erdmann (1805–1892), war nicht das einzige Mal, dass Tholuck sich mit der Wunderthematik auseinandersetzte. Der Wunderdiskurs ist insbesondere für das 19. Jahrhundert bislang wenig erforscht. Obwohl es noch immer eine, auch in der Wissenschaft, verbreitete Auffassung ist, dass das Wunder mit der Aufklärung einfach verschwunden wäre, weil es durch rationale Erklärbarkeit abgeschafft und gleichsam für überflüssig erklärt worden sei, zeigt die Forschung im letzten Jahrzehnt, dass diese Annahme nicht zutrifft.2 Wie das Wunder schon von Anfang an ein wichtiges *  Dieser Aufsatz ist im Rahmen des Dr. Liselotte Kirchner-Stipendienprogramms der Franckeschen Stiftungen zu Halle (Saale) geschrieben worden. Die Autorin dankt dazu herzlich den Franckeschen Stiftungen, insbesondere Herrn Prof. Dr. Holger Zaunstöck, Frau Dr. Britta Klosterberg, und Herrn Dr.Thomas Grunewald für die Möglichkeit, die Forschung durchzuführen, sowie für die Betreuung. Mit den Vorarbeiten zu diesem Beitrag hat die Autorin während ihres Praktikums am Interdisziplinären Zentrum für Pietismusforschung der Martin-LutherUniversität Halle-Wittenberg in Halle (Saale) im Wintersemester 2019/2020 begonnen. Die Autorin dankt herzlich Herrn Prof. Dr. Friedemann Stengel für die Gespräche, Literaturhinweise und die Möglichkeit, die Forschung im Frühling 2022 in seinem Kolloquium vorzustellen, sowie Herrn Dr. habil. Christian Soboth und Herrn Dr.Thomas Ruhland für die Betreuung des Praktikums. 1   Halle, Archiv der Franckeschen Stiftungen (AFSt), Tholuck Aa: 8a. Tagebuch von August Tholuck. Halle (Saale) 29.04.1837–10.07.1838, hier 22.05.1837. Tholuck schreibt in seinem Tagebuch in 19 verschiedenen Sprachen, unter anderem viel in Englisch, wie hier zitiert. 2   Siehe z. B. Lorraine Daston u. Katharine Park: Wunder und die Ordnung der Natur. 1150– 1750. Berlin [u. a.] 2002;The Faces of Nature in Enlightenment Europe. Hg. v. Lorraine Daston u. Gianna Pomata. Berlin 2003; Anfechtungen der Vernunft. Wunder und Wunderglaube in der Neuzeit. Hg. v. Rainer Walz [u. a.]. Essen 2006; Gabriela Signori:Wunder. Eine historische Einführung. Frankfurt/Main [u. a.] 2007; Philosophy Begins in Wonder. An Introduction to Early Modern Philosophy, Theology and Science. Hg. v. Michael Funk Deckard u. Péter Losonczi. Eugene 2010.

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Thema in der christlichen Theologie war, ist es auch über die Aufklärungszeit hinaus ein zentrales, oft beschriebenes und behandeltes Phänomen geblieben. Die neuere Forschung richtet sich dabei hauptsächlich auf Formen, Funktionen und den Sitz des Wunders im Leben in der Frühen Neuzeit.3 Auch im 19. Jahrhundert war jedoch das Wunder von Bedeutung, da es trotz neuer naturwissenschaftlicher Entdeckungen und Einsichten, die Wirklichkeit Gottes und die Möglichkeit des Eingreifens Gottes in der Natur thematisierte.4 Theologisch wurde es aber auch von der historisch-kritischen Bibelforschung, wie zum Beispiel in David Friedrich Strauß’ Das Leben Jesu, kritisch bearbeitet (1835/1836), angefochten. Auch Tholuck hat sich ausführlich mit der Wunderfrage auseinandergesetzt.5 Tholuck war einer der wichtigsten Vertreter der deutschen Erweckungsbewegung, der mit seiner Jugendarbeit Die Lehre von der Sünde und vom Versöhner (1823) das Standardtraktat dieser Bewegung geschrieben hat.6 Nicht nur in seinen exegetischen Arbeiten, sondern auch in Aufsätzen zur modernen Wissenschaft und zum zeitgenössischen Rationalismus wird das Wunder bei ihm prominent thematisiert. Betrachtet man die an sich schmale Forschungsliteratur zu Tholuck, so ist dieses Thema deutlich unterrepräsentiert.7 Bemerkenswert ist dabei, dass Tholuck in seinen Arbeiten vielfach auf den zeitgenössischen spiritistischen Diskurs Bezug nimmt. Bei Tholuck scheint es sich dann hauptsächlich um Verweise auf Magnetismus und Somnambulismus zu handeln.

  S. Anm. 2.   Rick Benjamins: De creativiteit in de wereld en de werkelijkheid van God. De theologie van Gordon Kaufman in betrekking tot Wilhelm Herrmann en Rudolf Bultmann. In: HTS Teologiese Studies/Theological Studies 69, 1, 2013, 1. 5   Für Tholuck im Allgemeinen: Leopold Witte: Das Leben D. Friedrich August Gotttreu Tholuck’s. Bielefeld, Leipzig 1884/1886. Siehe auch die genannte Literatur in: Thomas Kaufmann: Tholucks Sicht auf den Rationalismus und seine „Vorgeschichte“. In: Religion zwischen Kunst und Politik. Aspekte der Säkularisierung im 19. Jahrhundert. Hg. v. Manfred Jakubowski-Tiessen. Göttingen 2004, 146–177, hier 146. 6   Gunter Wenz: Ergriffen von Gott. Zinzendorf, Schleiermacher und Tholuck. München 2000; ders.: „Gehe Du in Dich, mein Guido“. August Tholuck als Theologe der Erweckungsbewegung. In: PuN 27, 2001, 68–80, hier 71; Nico Vajen: August Tholuck. Die Lehre von der Sünde und vom Versöhner, oder: die wahre Weihe des Zweiflers. [Masterarbeit] Hermannsburg, Stavanger 2010, 5. Für die deutsche Erweckungsbewegung des 19. Jahrhunderts: Geschichte des Pietismus. Bd. 3: Der Pietismus im neunzehnten und zwanzigsten Jahrhundert. Hg. v. Ulrich Gäbler. Göttingen 2000; The Spirituality of the German Awakening. Hg. v. David Crowner u. Gerald Christianson. New York, Mahwah 2003. 7   Hans-Martin Kirn nennt den „für Tholucks Glaubenspsychologie immerhin erwägenswerten Erklärungsversuch aus dem Bereich des Magnetismus“, ohne darauf weiter einzugehen: Hans-Martin Kirn: Umkämpfter Glaube – umkämpfte Geschichte. August Tholuck als Kirchenhistoriker. In: PuN 27, 2001, 118–146, hier 123. 3 4

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1. Forschungsfrage und Quellen Die Hinweise auf den Magnetismus und Somnambulismus werfen die Frage auf, welche Bedeutung und Funktion sie innerhalb von Tholucks Theologie und Verständnis von Wundern haben. Das ist eine Frage, die nicht nur mit Tholucks biblischer Hermeneutik zusammenhängt,8 sondern auch mit hermeneutischen Fragen zu religiösen Erfahrungen, bestimmt in Hinblick auf Tholucks erfahrungstheologischen Ansatz. Wie wird nämlich unterschieden zwischen „wahren“ religiösen Erfahrungen, die vom Geist Gottes bewirkt werden, und „unwahren“ Erfahrungen, die zum Beispiel von physischen Prozessen bewirkt werden und so rationalistisch, anhand der Naturwissenschaften, erklärt werden können? Damit ist die Frage gegeben, ob zum Beispiel das Hellsehen eine Prophetie ist, die durch göttliche Divination bewirkt wird oder auf einen ‚krankhaften‘ psychisch-somatischen Zustand des Menschen zurückgeführt werden kann. Dieser Zusammenhang ist Ausgangspunkt meiner Forschungsfrage: Welche Funktion haben die Verweise auf Magnetismus und Somnambulismus in Tholucks Verständnis von biblischen und außerbiblischen Wundern? Erstens wird Tholucks Verständnis von Magnetismus und Somnambulismus als Geisteszustände erläutert. Zweitens wird untersucht, wie Tholuck diese magnetisch-somnambulistischen Zustände als Erklärungsrahmen für Wunder und Prophetie benutzt, hauptsächlich in Hinblick auf den Unterschied zwischen biblischen und außerbiblischen Wundern und Prophetien. Dazu wird zunächst auf die Wunder in der katholischen Kirche eingegangen und dann auf die biblischen Wunder. Drittens wird nochmal anhand eines Beispiels aus Tholucks Kommentar zum Johannesevangelium erläutert, wie die Verweise zum Magnetismus und Somnambulismus funktionieren. Zum Schluss werde ich mit einigen hermeneutischen Überlegungen versuchen, die Forschungsfrage zu beantworten. Da es noch sehr wenig Forschungsliteratur zu Tholucks Wunderverständnis gibt, ebenso wie zu Tholucks Verhältnis zu spiritistischen Phänomenen, nenne ich kurz anhand welcher Quellen ich meine Forschungsfrage beantworten will. Ich benutze hauptsächlich den 120-seitigen Aufsatz Ueber die Wunder der katholischen Kirche und insbesondere über das Verhältnis dieser und der biblischen Wunder zu den Erscheinungen des Magnetismus und Somnambulismus (1839), das Buch Die Propheten und ihre Weissagungen. Eine apologetisch-hermeneutische Studie (1860) und den Paragrafen „Erweis der Glaubwürdigkeit der evangelischen Geschichte aus dem Vergleich mit anscheinend verwandten Sagen“ aus dem Buch Die Glaubwürdigkeit der evangelischen Geschichte, zugleich eine Kritik des Lebens Jesu von Strauß, 8  Siehe für Tholucks biblische Hermeneutik z. B. Jörg Lauster: Prinzip und Methode. Die Transformation des protestantischen Schriftprinzips durch die historische Kritik von Schleiermacher bis zur Gegenwart.Tübingen 2004, hier 124–132; Emanuel Hirsch: Geschichte der neuern evangelischen Theologie im Zusammenhang mit den allgemeinen Bewegungen des europäischen Denkens. Bd. 5. Gütersloh 1975, hier 102–115.

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für theologische und nicht-theologische Leser dargestellt (1837). Teilweise sind das Quellen vom Ende der 1830er Jahre, teilweise aus späteren Jahren. Daneben gibt es die Deutungen der biblischen Wunder in Tholucks exegetischen Arbeiten, wobei ich mich vor allem auf seinen Kommentar zum Johannes-Evangelium konzentriere, da er darin, in der sechsten (1844) und siebten Auflage (1857), auf Magnetismus und Somnambulismus hinweist. Auch hier sind also erst die späteren Auflagen interessant, da sie den Magnetismus und Somnambulismus ausdrücklich thematisieren, was in den ersten Auflagen noch nicht der Fall ist. Diese Werke sind jedoch nicht die einzigen Quellen, die es zum Wunder in Tholucks Werken gibt.Vor allem mit Bezug auf die Orientalistik, den Sufismus oder die islamische Mystik – Tholucks Dissertationsthematik von 1821 – und die Exegese des Alten Testaments, und damit die Propheten, schreibt Tholuck zu wunderlichen Phänomenen.9 So vergleicht er Phänomene wie das Hellsehen im Heidentum und in der islamischen Mystik mit dem Somnambulismus.10 Wir werden darauf bei der Unterschiedung zwischen heidnischer Mantik und christlicher Prophetie zurückkommen.

2. Der spiritistische Diskurs des frühen 19. Jahrhunderts Tholuck war sicherlich nicht der einzige Theologe, der sich mit dem spiritistischen Diskurs seiner Zeit auseinandergesetzt hat.Viele Intellektuelle am Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts waren von esoterischen Phänomenen begeistert. Zum Beispiel der schon genannte D.F. Strauß,11 der Theologe Gustav Werner (1809–1887)12 und der Philosoph Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770–1831)13 interessierten sich für diese Phänomene, entweder um Beweise 9   Siehe z. B. August Tholuck: Ssufismus Sive Theosophia Persarum Pantheistica quam E. MSS. Bibliothecae Regiae Berolinensis. Persicis, Arabicis, Turcicis. Berlin 1821; ders.: Einige apologetische Winke für das Studium des Alten Testaments. Den Theologie Studierenden des jetzigen Decenniums gewidmet. Berlin 1821; ders.: Blüthensammlung aus der Morgenländischen Mystik, nebst einer Einleitung über Mystik überhaupt und Morgenländische insbesondere. Berlin 1825; ders.: Die spekulative Trinitätslehre des späteren Orients. Eine religions-philosophische Monographie aus handschriftlichen Quellen der Leydener, Oxforder und Berliner Bibliothek bearbeitet. Berlin 1826; ders.: Die Wunder Muhammed’s und der Character dieses Religionstifters. In: Vermischte Schriften größentheils apologetischen Inhalts. Erster Teil. Hamburg 1839, 1–27; ders.: Die Propheten und ihre Weissagungen. Eine apologetisch-hermeneutische Studie. Gotha 1860. 10   Tholuck, Die Propheten [s. Anm. 9], 1–12; Tholuck, Blüthensammlung [s. Anm. 9], 38. 11   Thomas Fabisiak: The Nocturnal Side of Science in David Friedrich Strauss’s Life of Jesus Critically Examined. Atlanta 2015. 12   Johannes Michael Wischnath: Im Banne Swedenborgs und des Animalischen Magnetismus. Gustav Werner, Ludwig Hofacker und ihr Tübinger Freundenkreis im Licht alter und neuer Quellen. In: Reutlinger Geschichtsblätter 48, 2009, 9–191. 13   Glenn Alexander Magee:The Dark Side of Subjective Spirit: Hegel on Mesmerism, Madness, and Ganglia. In: Essays on Hegel’s Philosophy of Subjective Spirit. Hg. v. David S. Stern. New York 2013, 55–70; ders.: Hegel on the Paranormal. Altered States of Consciousness in the Philosophy

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für die Wahrheit der christlichen Religion zu liefern oder für die Wahrheit der spekulativen Philosophie, wie im Fall Hegels. Die Frage nach der Art von dergleichen Phänomenen war mit umfassenderen Fragen verbunden, wie nach religiöser Autorität, der Unsterblichkeit der menschlichen Seele und dem Eingreifen Gottes in der Welt. Die Vermittlung der Spannung zwischen moderner Wissenschaft und Glauben, die die Theologie des 19. Jahrhunderts charakterisiert, wurde vom Streit um religiöse Autorität und Plausibilität bestimmt.14 Oft war Kritik am Christentum eine Apologie desselben, nämlich in dem Sinne, dem Christentum in der Moderne Plausibilität zu verleihen.15 Damit könnte der Spiritismus als Kritik an der aufklärerischen Autokratie der Vernunft funktionieren. Der Versuch, die Theologie Tholucks in diesem Kontext des Spiritismus zu verorten, folgt dem historiographischen Ansatz, abweichende Traditionen nicht aus der Historiographie herauszuschreiben, sondern die Modernisierungs- und Rationalisierungsthese zu überprüfen und unter Berücksichtigung devianter Strömungen neu zu formulieren.16 Damit wird der Spiritismus nicht auf bloßen Aberglauben oder Volksfrömmigkeit reduziert, sondern es wird betont, dass „die vermeintlich marginale Problematik des neuzeitlichen Geisterglaubens direkt ins Zentrum der wissenschaftlichen, sozialen und religiösen Kontroversen des 19. Jahrhunderts führt“.17 Der jetzige Aufsatz folgt dem in den letzten Jahrzehnten erneuerten Interesse für spiritistische und esoterische Diskurse des 18. und 19. Jahrhunderts.18 Diese neuere Forschung kritisiert die ältere Historiographie, die diese Diskurse als ‚unaufklärerisch‘, ‚unrationalistisch‘ und deswegen als ‚unmodern‘ angesehen und aus der Geschichte hinausgeschrieben hat. In der jüngeren Forschung zeigt sich, dass der spiritistische Diskurs stark mit anderen Diskursen verbunden war. So hat Friedemann Stengel mittels Diskursanalyse und Theoriebildungen des Postkolonialismus gezeigt, wie binäre Oppo-

of Subjective Spirit. In: Aries. Journal for the Study of Western Esotericism 8, 2008, 21–36; ders.: Hegel and the Hermetic Tradition. Ithaca, London 2001. 14   Fabisiak, The Nocturnal Side [s. Anm. 11], 5. Für Tholucks vermittlungstheologischen Ansatz: Sabine Wolsink: Zwischen Erweckung und Vermittlung. Niederländische Auseinandersetzungen mit der Theologie August Tholucks. In: NTT Journal for Theology and the Study of Religion 76, 2, 2022, 114–130. 15   Fabisiak, The Nocturnal Side [s. Anm. 11], 5. 16   Diethard Sawicki: Leben mit den Toten. Geisterglauben und die Entstehung des Spiritismus in Deutschland 1770–1900. Paderborn 22016, hier 9. 17   Sawicki, Leben mit den Toten [s. Anm. 16], 10. 18   Siehe z. B. Sawicki, Leben mit den Toten [s. Anm. 16]; Karl Baier: Mesmer versus Gaßner. Eine Kontroverse der 1770er Jahre und ihre Interpretationen. In: Von der Dämonologie zum Unbewussten. Die Transformation der Anthropologie um 1800. Hg. v. Maren Sziede u. Helmut Zander. Berlin [u. a.] 2015, 47–84; ders.: Der Magnetismus als Versenkung. Mesmeristisches Denken in Meditationsbewegungen des 19. und 20. Jahrhunderts. In: Aufklärung und Esoterik: Wege in die Moderne. Hg. v. Monika Neugebauer-Wölk, Renko Geffarth u. Markus Meumann. Berlin [u. a.] 2013, 407–439; ders.: Meditation und Moderne. Zur Genese eines Kernbereichs moderner Spiritualität in der Wechselwirkung zwischen Westeuropa, Nordamerika und Asien.Würzburg 2009.

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sitionen zwischen unterschiedlichen Diskursen sowie zwischen ‚aufgeklärt‘ und ‚unaufgeklärt‘ überwunden werden können. Dabei verdeutlicht er, wie Personen im 18. und 19. Jahrhundert, wie zum Beispiel der Theologe Gustav Werner, die den schwedischen Theosophen Emanuel Swedenborg (1688–1772) rezipierten, eine hybride Identität entwickelten, worin sie in unterschiedlichen Kontexten sich unterschiedlich gegenüber Swedenborg positionierten.19 Als Beispiel für eine Revision der Historiographie stehen auch die Arbeiten von Julian Strube. Er hat für das postrevolutionäre Frankreich gezeigt, dass der Frühsozialismus stark religiös geprägt war, in enger Verbindung zum Neo-Katholizismus stand und zugleich eine Einheit von politischer und religiöser Ordnung sowie von Religion und Wissenschaft anstrebte.20 Mit der Verdeutlichung des religiösen Charakters des Frühsozialismus, das als neues Christentum gelten sollte, mit Henri Saint-Simon (1760–1825) und Charles Fourier (1772–1837) als wichtigsten Vertretern, wird die Säkularisierungsthese, die besagt, die Aufklärung hätte zu Rationalisierung und Modernisierung und damit zu Säkularisierung und zum Verschwinden der Religion geführt, kritisiert.21 Religion war in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts keineswegs verschwunden, sie sollte jedoch auf eine neue Art definiert werden. Dabei wollten die Frühsozialisten sowie die Neo-Katholiken die Betonung der Rationalität und Wissenschaftlichkeit der Aufklärung übernehmen, zugleich aber die Aufklärung wegen ihrer „Fragmentierung und Pluralisierung der postrevolutionären Gesellschaft [kritisieren], [was] sich in der Kritik an ‚Egoismus‘, ‚Materialismus‘ und ‚Individualismus‘ äußerte“.22 Daraus lässt sich zeigen, dass die religiösen Bewegungen im frühen 19. Jahrhundert, wozu auch die Erweckungsbewegungen gerechnet werden können, die dekonstruierende Wirkung der Aufklärung und der Französischen Revolution kritisierten, dass sie jedoch nur vor dem Hintergrund der Aufklärung und als deren Modifikation betrachtet werden können.23 Daneben zeigen die von Strube dargestellten Spannungen in Frankreich im 19. Jahrhundert, wie der Diskurs der Religion eng mit anderen Diskursen, wie dem der Politik und der Wissenschaft, verbunden war. Im Kontext Tholucks gehörte auch der spiritistische Diskurs dazu.

19   Friedemann Stengel: Discourse Theory and Enlightenment. In: Aries. Journal for the Study of Western Esotericism 16, 2016, 49–85. 20   Julian Strube: Ein neues Christentum. Frühsozialismus, Neo-Katholizismus und die Einheit von Religion und Wissenschaft. In: Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte 66, 2, 2014, 140–162, hier 153, 156. 21   Strube, Ein neues Christentum [s. Anm. 20], 162. 22   Strube, Ein neues Christentum [s. Anm. 20], 160. 23   Strube, Ein neues Christentum [s. Anm. 20], 160. Siehe auch Gunter Wenz, „Gehe Du in Dich, mein Guido“ [s. Anm. 6], 69.

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3. Magnetismus und Somnambulismus als Geisteszustände Was meinte Tholuck eigentlich mit Magnetismus und Somnambulismus? Tholuck hat die magnetisch-somnambulistischen Zustände anhand der Physiologie des Geistes rationalistisch zu erklären versucht. Er bemerkt, wie seit dem Ende des 18. Jahrhunderts Einsichten über „ein mittleres Gebiet zwischen göttlichen und ungöttlichen Agentien der Divination“ entwickelt wurden,24 da Erscheinungen des Magnetismus und Somnambulismus aufgetreten waren. Der Arzt und Jenaer Professor für Pathologie Dietrich Georg von Kieser (1779– 1862) behauptete zum Beispiel in seinem Buch System des Tellurismus oder Thierischen Magnetismus (1822), auf das Tholuck hinweist,25 dass der Mensch „in einem kosmischen Zusammenhange, in einem Zusammenhange mit andern Menschen, mit der Witterung, den Erdveränderungen, selbst mit dem Monde und vielleicht auch mit andern Himmelskörpern“ steht.26 Auch wirkte die Außenwelt nicht nur auf unsere Sinnen, sondern auch auf das sympathische Nervensystem in der Magengegend.27 Dadurch habe der Mensch ein angeborenes Divinationsvermögen, das ihn befähigt, mehr wahrzunehmen, als nur mit seinen Sinnen möglich ist. Er hat also nicht nur einen Consensus, sondern es wäre auch möglich, dass er eine Praesensio hat, sodass er Änderungen im kosmischen Zusammenhang früh schon in seinem Geist ahnen kann. Diese „Ausdehnung des Empfindens“, dieses „menschliche Vorgefühl der Ahnung“, das man mit dem tierischen Instinkt gleichsetzen kann,28 wird zum Beispiel verdeutlicht am Einfluss von Witterungsveränderungen: „bevorstehende Gewitter, strenge Kälte u.s.w., all diese seinen Regungen in Luftdruck, in Elektricität, Magnetismus der Erde und der Atmosphäre, sie durchströmen den Gesunden wie den Kranken, den wenig Fühlenden, wie den Sensitiven.“29 Der Unterschied ist jedoch, dass gesunde Menschen diese Änderungen unbewusst und kranke Menschen diese bewusst erfahren. Magnetisch-somnambulistische Zustände treten dann auf, wenn man ein starkes Divinationsvermögen hat. Tholuck versteht, wie seine Zeitgenossen, den magnetisch-somnambulistischen Zustand als eine Geistesstufe, wobei die Hauptfrage ist, „ob derselbe als eine höhere, dem bewußten Leben überzuordnende, oder als eine niedere, demselben unterzuordnende Geistesstufe zu betrachten sei“.30 Die erste Ansicht wird   Tholuck, Die Propheten [s. Anm. 9], 2.   Siehe z. B. August Tholuck: Ueber die Wunder der katholischen Kirche und insbesondere über das Verhältniß dieser und der biblischen Wunder zu den Erscheinungen des Magnetismus und Somnambulismus. In: Vermischte Schriften größentheils apologetischen Inhalts. Hg. v. A. Tholuck. Erster Theil. Hamburg 1839, 28–148, hier 66–67, 69. 26   Tholuck, Ueber die Wunder [s. Anm. 25], 61. Siehe auch Tholuck, Die Propheten [s. Anm. 9], 3. 27   Tholuck, Die Propheten [s. Anm. 9], 3f. 28   Tholuck, Die Propheten [s. Anm. 9], 4f. 29   Tholuck, Die Propheten [s. Anm. 9], 4. 30   Tholuck, Ueber die Wunder [s. Anm. 25], 58. 24 25

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meistens von Magnetiseuren und Naturphilosophen in der Nachfolge des Philosophen Friedrich Wilhelm Joseph von Schelling (1775–1854) verteidigt, die zweite von der Schule Hegels. Tholuck schließt sich der Ansicht Hegels an und beurteilt damit einen derartigen geistigen Zustand als niedere Geistesstufe. Er bezieht sich dabei, ohne genau zu referieren, auf psychologische Literatur von Zeitgenossen wie dem schon genannten Kieser, dem Theologen und Philosophen Johann Ulrich Wirth (1810–1879), dem Arzt Johann Karl Passavant (1790–1857), dem Philosophen und Hegelianer Karl Rosenkranz (1805–1879) und dem von Schelling beeinflussten Philosophen und Professor der Anatomie und Physiologie Karl Friedrich Burdach (1776–1847).31 Alle diese Personen waren mit magnetischen Phänomenen im weitesten Sinne beschäftigt – entweder eher medizinisch oder philosophisch, wenn man überhaupt so einen Unterschied machen kann – und hatten Beziehungen zur spekulativen Philosophie des frühen 19. Jahrhunderts. Nach Hegels Begriff des subjektiven Geistes, kann der Geist in zwei Stufen eingeteilt werden.32 Tholuck beschreibt diese als „die des unmittelbaren, unge­ theilten, mehr potenziellen Bewußtseyns, und die des entfalteten, getheilten, aktuellen Bewußtseyns“.33 Dieses potenzielle und aktuelle Bewusstsein erläutert Tholuck wie folgt: Auf der ersteren ist der Mensch in viel höherem Grade von den Bestimmungen seiner Individualität, also von seiner physischen Natur, und damit auch von dem Konsensus mit dem Naturleben,Wetter, planetarischen Einflüssen u.s.w., beherrscht, in dem andern macht er sich geistig frei, unterscheidet sich von den individuellen, natürlichen Bedingungen seines Daseyns, und bestimmt sich aus sich selbst nach allgemeinen Gesetzen.34

Auf der ersten Stufe des Bewusstseins ist sich der Mensch unmittelbar bewusst, dass er mit seiner physischen Natur und seiner bestimmten Individualität vom Naturleben ungetrennt ist. Er ist Teil der Natur und von ihr bestimmt oder sogar beherrscht. Damit gibt es keinen Unterschied zwischen Subjekt (der Mensch) und Objekt (der Natur, der Welt, Gegenstände außerhalb des Subjekts). Auf der zweiten Stufe des Bewusstseins ist der Mensch geistig frei, da er sich als Subjekt nicht nur von den Gegenständen außerhalb seiner selbst unterscheiden kann, sondern als geistiges Subjekt auch von denjenigen Bedingungen, die mit seiner Individualität und Natürlichkeit gegeben sind. Er ist dann in der

  Tholuck, Ueber die Wunder [s. Anm. 25], 58.   Siehe vor allem Hegels Besprechung der fühlenden Seele in Georg Wilhelm Friedrich Hegel: System der Philosophie. 3. Teil: Die Philosophie des Geistes. Sämtliche Werke. Jubiläumsausgabe in zwanzig Bänden. Hg. v. Hermann Glockner. 10. Bd. Stuttgart, Bad Cannstatt 1965 [1845], 155–245. 33   Tholuck, Ueber die Wunder [s. Anm. 25], 59. 34   Tholuck, Ueber die Wunder [s. Anm. 25], 59. 31 32

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Lage, sich selbst zu bestimmen. Es wird unterschieden zwischen einer Bestimmung von außen und Selbstbestimmung, zwischen Subjekt-Objekt-Einheit und -Unterschied, Totalität und Verschiedenheit. Hegel hat die erste, unmittelbare Stufe, die „latente, geistige Totalität des Menschen“, „das Geniusleben“, genannt, worin „die Potentialität des Geistes“ ist und worin „alles Erlebte aufgehoben“ wird.35 Dieser Zustand ist mit der Nacht zu vergleichen, worin der Geist in sich selbst zurückkehrt und er tritt ein, wenn man schläft, vor allem wenn man träumt. Im Traum ist „das reflektirende, bewußte Leben zurückgetreten“36 und der Unterschied zwischen Subjekt und Objekt aufgehoben. Auf diese Weise wird es verstanden als „das Embryonenleben“, als das Rekreieren und eine Neugeburt.37 Im wachenden Leben gibt es auch traumähnliche Zustände. „Solche wachen Träume sind die Zustände, wo der Mensch entweder in Einem Gegenstand oder in einer Vielheit von Gegenständen aufgeht, wo er, wie wir sagen, nicht bei sich ist.“38 Der magnetische Schlaf ist so eine Zustand des Schlafwachens. Dieser Zustand wird von Tholuck als magnetisch-somnambulistisch angedeutet und ist krankhaft,39 dem tierischen Leben gleich. Er kann spontan eintreten, eben als Teil eines krankhaften Zustands, und „wird begünstigt durch ein zartes und reizbares Nervensystems und durch zurücktretende Reflexionsthätigkeit“,40 sie kann aber auch von einem Magnetiseur oder von bestimmten Mitteln hervorgerufen werden. Der magnetische Schlaf ist eine Art Todesschlaf.41 Damit ist der Zustand auf drei Ebenen unterschieden von einem normalen Schlafzustand, da erstens die Grenzlinie zwischen Schlafen und Wachen absolut ist, wodurch der Somnambule, wenn er aufwacht, nicht mehr weiß, was er getan oder gesagt hat. Zweitens verliert der Somnambule sich selbst und hat seinen Genius nicht mehr in sich selbst, sondern in jemand anderem. Er lebt dann mit so einem starken Consensus mit einem anderen Menschen, dass das Leben des anderen zum eigenen wird. „So lebt nun die Somnambüle zunächst und vorzugsweise das Leben ihres Magnetiseurs, und dieser unmittelbare Lebenszusammenhang mit einem andern Individuum, so daß seine Welt die unsrige wird, führt den Namen magnetischer Rapport.“42 Ein magnetischer Rapport kann auch zwischen dem Somnambulen und einem Objekt auftreten, wodurch Fernwirkungen entstehen.43 Drittens tritt der Allsinn, „der indifferenzirte Sinn […] der sich noch nicht zu den ein-

  Tholuck, Ueber die Wunder [s. Anm. 25], 59.   Tholuck, Ueber die Wunder [s. Anm. 25], 63. 37   Tholuck, Ueber die Wunder [s. Anm. 25], 60. 38   Tholuck, Ueber die Wunder [s. Anm. 25], 63. 39   Tholuck, Ueber die Wunder [s. Anm. 25], 75. 40   Tholuck, Ueber die Wunder [s. Anm. 25], 72f. 41   Tholuck, Ueber die Wunder [s. Anm. 25], 66. 42   Tholuck, Ueber die Wunder [s. Anm. 25], 68. Siehe auch Hegel, System [s. Anm. 32], 172f. 43   Tholuck, Ueber die Wunder [s. Anm. 25], 72. 35 36

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zelnen Sinnen ausgebildet hat“,44 „an die Stelle der einzelnen Sinne“.45 Das Wahrnehmen in diesem Zustand könnte man als Hellsehen bezeichnen. Wie genau der Magnetismus funktioniert, darauf hat Tholuck, ebenso wie seine Zeitgenossen, keine eindeutige Antwort. Er vermutet, dass die Einwirkung des Magnetiseurs teils organisch und teils psychisch ist: Der Geist des Menschen würkt ohne das Mittel der Sprache durch die festen Thei­le des Organismus hindurch, so daß sich in den Gesichtszügen der innere Mensch ausprägt, und namentlich durch das Auge die Seele spricht und herrscht. Beim Magnetisiren bedient sich der Geist eines geistigeren Mittels, der magnetischen Kraft, welche wir, wie die neuesten Untersuchungen je mehr und mehr lehren, als nahe verwandt mit der elektrischen anzusehen haben. Es entwickelt sich diese Kraft bei den angegebenen Manipulationen und gegenüber eine Receptivität, wie die angegebenen schwachen Nervenzustände sie voraussetzen.46

Ob die Kraft materiell aufzufassen ist, nämlich als eine Nervensubstanz, oder immateriell, nämlich als Äther, darüber könne noch keine Auskunft gegeben werden, aber dass der Geist des Magnetismus durch entweder Kraft oder Äther im Menschen wirkt, daran zweifelt Tholuck nicht.

4.Wunder, Prophetien und magnetisch-somnambulistischer Erklärungsrahmen Tholuck definiert Wunder 1837 in folgender Weise: „Wir verstehen unter dem Wunder ein von dem uns bekannten Naturlaufe durchaus abweichendes Ereigniß, welches einen religiösen Ursprung und einen religiösen Endzweck hat“.47 Es handelt sich erstens also nicht unbedingt um Ereignisse, die von dem Naturlaufe abweichen, sondern die von dem uns bekannten Naturlaufe abweichen, was impliziert, dass es möglicherweise Naturläufe gibt, die uns unbekannt sind. Dabei wird von dem menschlichen Kenntnisvermögen aus gedacht, und der Fokus liegt nicht auf der Frage, ob Wunder inner- oder außerhalb der Natur an sich geschehen. Gleichzeitig begründet Tholuck Wunder innerhalb der Wirkungsbereiche Gottes, wie er 1844 schreibt: Der letzte Grund des Wunders liegt in Gott, der, als die absolute Macht über die Natur, durch den Wunderthäter würkt. Als Grund der Gesetzmäßigkeit der Natur, oder – wie man sich neuerlich ausgedrückt hat, als das absolute und allgemeine Gesetz der Natur – muß Gott auch über die einzelnen Gesetze – der Schwere, des

  Tholuck, Ueber die Wunder [s. Anm. 25], 70.   Tholuck, Ueber die Wunder [s. Anm. 25], 67. 46   Tholuck, Ueber die Wunder [s. Anm. 25], 74. 47   1837 Zitat von August Tholuck in Tholuck, Ueber die Wunder [s. Anm. 25], 41. 44 45

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organischen Lebens u. s. w. die Macht haben, d. h. er kann innerhalb der bestehenden Natur einzelne schöpferische und unvermittelte Würkungen ausüben.48

Gott hat nach Tholuck die absolute Macht über die Natur. Die Natur wird bestimmt von Gesetzmäßigkeit, und weil Gott der Grund dieser Gesetzmäßigkeiten ist, muss Gott auch Macht haben über alle einzelnen Naturgesetze. Weil Gott diese Macht hat, kann Gott unvermittelt und innerhalb der Natur Wunder wirken. Das schließt jedoch nicht aus, dass Gott nicht auch außerhalb der Natur Wunder wirken kann, und bedeutet nicht, dass alle Wunder innerhalb der Natur gedacht werden müssen. Zweitens, und in Verbindung mit dem anthropologischen Ansatz des menschlichen Kenntnisvermögens, verdeutlicht das erste Zitat, dass das Wunder von einem religiösen Ursprung und einem religiösen Endzweck charakterisiert wird. Damit ist dasjenige gemeint, was Gott beabsichtigt, und dasjenige, was das Wunder bei den Menschen bewirkt. Magnetismus und Somnambulismus können als Erklärungsrahmen für Wunder und Prophetie benutzt werden.Tholuck macht dabei einen ganz deutlichen Unterschied zwischen den biblischen Wundern und biblischen Prophetien einerseits und Wundern in der kirchlichen Tradition und heidnischen Mantik andererseits. Die letzte Kategorie kann man völlig von der seinerzeit neueren magnetisch-somnambulistischen Einsichten her erklären, bei der ersten Kategorie ist das nur teilweise möglich. Eine Erläuterung der Gründe, die Tholuck für diesen Unterschied geltend macht, verdeutlicht sein theologisch-apologetisches Anliegen und wird nun besprochen. Für Tholuck ist die heidnische Mantik, wie zum Beispiel der ekstatische Zustand der Pythia im alten Griechenland, anhand des Somnambulismus zu erklären. Die biblischen Prophetien sind das nur teilweise, da es zwischen der „natürlichen Divination“ in magnetisch-somnambulistischen Zuständen und der „prophetischen Divination“ wichtige Unterschiede gibt: Hat jene natürliche Divination ihren Ursprung in der dunkeln Region des Unterleibsorganismus […], so läßt sich auch von vornherein sagen, daß diese von unten her, die prophetische Divination aber von oben her ist; so hat jene im psychisch-somatischen, diese im pneumatischen Leben ihren Ursprung. […] dort die Sphäre der mit dem Individuum in Beziehung stehenden Sinnenwelt und das Reich der endlichen Interessen, hier die Sphäre des geistigen Lebens und der ewigen Interessen.49

Weiterhin hat natürliche Divination nie zu allgemeinen Wahrheiten geführt oder „die Sphären religiös sittlicher Erkenntniß“ bereichert,50 „denn dieses sind Angelegenheiten des seiner selbst mächtigen Geistes“.51 Die natürliche Divina-

  August Tholuck: Kommentar zum Evangelium Johannis. 6., überarb. Aufl. Hamburg 1844, 98.   Tholuck, Die Propheten [s. Anm. 9], 75. 50   Tholuck, Die Propheten [s. Anm. 9], 75. 51   Tholuck, Ueber die Wunder [s. Anm. 25], 71. 48

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tion dagegen „trägt entweder den Stempel des Phantasiespiels an sich, oder ist Reminiscenz biblischer Aussprüche und Vorstellungen“.52 Keine höheren Wahrheiten werden also offenbart in diesen Zuständen, nichts Neues kommt daraus hervor. Ganz anders versteht Tholuck die göttliche Offenbarung in der Schrift. Die biblischen Prophetien sind nicht so einfach durch die neueren Einsichten des Magnetismus und Somnambulismus zu erklären. Tholuck zieht so eine deutliche Linie zwischen dem, was man rationalistisch erklären kann – die magischen Phänomene im Heidentum –, und dem was man in einer religiösen, geistlichen Perspektive als Werke des göttlichen Geistes (Pneuma) verstehen kann. Um die Wunder in der katholischen Kirche zu erklären, wie sie zum Beispiel aus dem Mittelalter überliefert sind, bemerkt Tholuck, wie „die Basis des Geisteslebens im Mittelalter, vermöge einer vorwiegenden nervösen Aufregung und Phantasiethätigkeit, das Auftreten außerordentliche, mirakulöser Zustände begünstigte.“53 Dies lag unter anderem an der Wundersucht, d. h. das Wunder wurde von einer Nebensache zur Hauptsache, um den wahren Glauben zu erwecken. Daneben war aber auch, nach Tholucks Analyse, die Wissenschaft noch im „Kindheitszustand“, und es dominierte ein starkes „Phantasieleben“.54 So wird Franziskus von Assisi (1181/82–1226), der wegen seiner Naturfrömmigkeit und Einfalt gewürdigt wird,55 von Tholuck als „ein Mann von größter Energie der Phantasie, und von einem höchst krankhaften Nervenzustande“ angesehen, wie nicht nur die „viele[n] unnatürliche[n] Askesen“ zeigen, sondern auch seine „schwärmerische Begeisterung für die vernunftlose Kreatur“ in seinen Tierpredigten.56 Tholuck erklärt Franziskus’ ekstatischen Geisteszustand anhand der Idee der transitorischen Verleiblichung geistiger Affekte.57 Das bedeutet, dass „bei solchem Vorwalten der Phantasie und des nervösen Lebens über das nüchterne und gesunde Bewußtseyn die unwillkührliche Verleiblichung der Affekte außerordentliche Erscheinungen hervorruft, wie der Leib ein unwillkührlicher Spiegel dessen wird, was die Seele bewegt“.58 Franziskus’ krankhafte Religiosität sei so auf seinen Leib übertragen worden. Ein anderes Beispiel für diese transitorische Verleiblichung stellt die Nonne Anna Catharina von Emmerich (1774–1824) aus Dülmen in Westfalen dar, die, wie Tholuck aufzählt,   Tholuck, Die Propheten [s. Anm. 9], 75.   Tholuck, Ueber die Wunder [s. Anm. 25], 89. Siehe auch Tholuck, Ueber die Wunder [s. Anm. 25], 39. 54   Tholuck, Ueber die Wunder [s. Anm. 25], 39. 55   Siehe z. B. bei dem protestantischen Theologen Jörg Lauster die Würdigung Franziskus’ als „der eindrucksvollste Heilige des Christentums“, der Transzendenzerfahrungen hatte, die die alltägliche Wirklichkeit und ihn selbst überstiegen: Jörg Lauster: Die Verzauberung der Welt. Eine Kulturgeschichte des Christentums. München 2014, 205. 56   Tholuck, Ueber die Wunder [s. Anm. 25], 106. 57   Tholuck, Ueber die Wunder [s. Anm. 25], 96. 58   Tholuck, Ueber die Wunder [s. Anm. 25], 106. 52 53

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nicht nur durch zahlreiche Visionen, durch die magische Unterscheidungsgabe schädlicher und nützlicher Pflanzen, der Reliquiengebeine von andern Gebeinen, durch Prophezeiungen, durch Uebernahme der Krankheiten und Leidenschaften Anderer, durch den allersparsamsten Genuß von Nahrungsmitteln und vieles mehr dieser Art den Wunderheilungen des Mittelalters zur Seite getreten ist; sondern vorzüglich durch die im Jahre 1811 in einem ekstatischen Zustande erhaltenen Wundenmale des Herrn.59

Von ihr wird gesagt, dass ihr Christus als „ein leuchtender Jüngling“ erschienen sei,60 wonach sie die regelmäßig blutenden Wunden Christi empfangen habe. An vielen Berichten von Augenzeugen kann man feststellen, dass es sich nicht um absichtlichen Betrug handelte.61 So schreibt der Arzt Franz Ferdinand von Druffel (1763–1857), der die Frau nicht als religiösen Menschen mit einer Neigung, an Wunder zu glauben, sondern medizinisch und objektiv beobachtet hat, dass die Wunden nicht erkünstelt zu seyn [scheinen], es zeige sich dabei kein Eindruck von äußerer Einwürkung, nichts Gequetschtes, nichts Geritztes, nichts Geschnittenes, auch zeigte sich kein Merkmal weder von einem rothmachenden, aufätzenden Mittel, noch von Ansaugung durch Blutwürmer; in Benehmen, in der Physiognomie befinde sich [also] weder Aufklärung noch Verdacht.62

Aufgrund weiterer medizinischer Berichte stellt Tholuck fest, dass es sich wohl tatsächlich nicht um Betrug handelte, dass dennoch die wunderbaren Phänomene rationalistisch zu erklären sind. Die „anthropologische und psychologische Disposition“ wiesen auf somnambulistische Zustände hin, was eine Verleiblichung ihres psychischen Zustandes bedeutete: Ihrer physischen Disposition nach ist die Kranke im höchsten Grade nervös und fortgehend Anfällen des Starrkrampfes und anderen Affektionen unterworfen. Dazu kommt ein unregelmäßiger Blutumlauf und hysterische Leiden. […] so ist im höchsten Grade beachtungswerth, was jene ärztliche Beobachtung über die Unregelmäßigkeit der Menstruation und des Blutlaufs berichtet.63

Der Schriftsteller Clemens von Brentano (1778–1842), der die Frau jahrelang beobachtet hat, fragt dann auch: „Warum soll nun […] die magische Phantasie einer ekstatischen Nonne (welche wahrscheinlich schon lange solchen schwärmerischen Gedanken nachgehangen hat) dem Blutlauf nicht willkührlich eine solche Richtung geben können, wie sie eben zu Erzeugung eines Mirakels an   Tholuck, Ueber die Wunder [s. Anm. 25], 111.   Tholuck, Ueber die Wunder [s. Anm. 25], 111. 61   Tholuck, Ueber die Wunder [s. Anm. 25], 113. 62  Von Druffel in: Tholuck, Ueber die Wunder [s. Anm. 25], 124. 63   Tholuck, Ueber die Wunder [s. Anm. 25], 128. 59 60

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dem eigenen Leibe nöthig ist?“64 Die Christuserscheinung wird von ihm als „das Erzeugniß ihrer erotisch erregten weiblichen Natur“ gedeutet, und die Blutungen als „Nachwürkungen des gereizten Nervensystems auf das CapillarBlutgefäßsystem [also an der feinsten Verzweigung der Blutgefäße] an den blutenden Stellen der äußeren Kopfbedeckung“.65 Diese als wunderbar angesehenen Phänomene seien also mit dem Zusammenhang von Körper und Geist in somnambulistischen Zuständen zu erklären.

5. Biblische Wunder Bei den biblischen Wundern ist die Verwendung der magnetisch-somnambulistischen Erklärung komplizierter. Tholuck bemerkt, wie es sich „von vorn herein von einer dem Glauben entfremdeten Zeit erwarten [lässt], daß, was die Schrift von Wundern und Prophezeihungen enthält, mit den Superstitionen der Völker der alten Welt in eine Linie gestellt werden würde“.66 Einige seiner Zeitgenossen tun das, wie zum Beispiel der Tiroler Arzt und Magnetiseur Joseph Ennemoser (1787–1854) in seinem Der Magnetismus in seiner geschichtlichen Entwickelung (1819). Der Theologe Hermann Olshausen (1796–1839) weist in seinen exegetischen Arbeiten oft auf den Magnetismus hin, ohne die biblischen Wunder damit gleichzustellen, aber auch ohne eine deutliche Grenze zwischen Magnetismus und biblischen Wundern zu ziehen. Nach Tholuck könnte man die biblischen Wunder anhand der magnetischsomnambulistischen Zustände erklären, zum Beispiel, wenn man Christus als Magnetiseur ansieht. Sowohl der Magnetiseur als Christus und die Apostel benutzten bestimmte Medien, wie Handauflegung oder Speichel. Zweitens ist der Willen „das vornehmste Agens des Magnetiseurs“.67 Ein Unterschied ist jedoch, dass bei Christus die Heilungen durch den frommen Willen sowohl vom Wundertäter als auch vom zu Heilenden ausgelöst werden, was unter anderem die vorangehende Frage „kannst du glauben?“ von Christus an den zu Heilenden verdeutlicht.68 Die biblischen Heilungsprozesse sind dadurch geistig und nicht magisch oder zauberisch, da beim Zaubern das unmittelbare Einwirken auf einen Andern entweder nicht vom Willen beider Seiten verursacht wird oder vom Willen Gottes, sondern von „de[m] mit Gott nicht geeinte[n], selbstische[n] Wille[n]“, der „unmittelbar den Andern beherrschen und auf ihn influiren will“.69 Drittens gibt es die Bedingung der Rezeptivität des Somnam-

  Brentano in: Tholuck, Ueber die Wunder [s. Anm. 25], 130.   Brentano in: Tholuck, Ueber die Wunder [s. Anm. 25], 131. 66   Tholuck, Ueber die Wunder [s. Anm. 25], 79. 67   Tholuck, Ueber die Wunder [s. Anm. 25], 80. 68   Tholuck, Ueber die Wunder [s. Anm. 25], 81. 69   Tholuck, Ueber die Wunder [s. Anm. 25], 81. 64 65

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bulen. Diese ist in biblischen Wundern immer geistig, wohingegen beim Magnetismus immer auch eine physische Disposition mitspielt. Es gibt einige Wunder in den Evangelien und in der Apostelgeschichte, die man schwierig deuten kann. So wird in Luk 8,43–48 eine Frau mit Blutfluss geheilt, als sie den Saum des Gewandes Jesu berührt. Jesus bemerkt es an einer Kraft, die von ihm ausgeht. Tholuck schreibt, wie man annehmen könne, dass es entweder außerhalb Jesu Willen passiert und mit Hilfe einer „Imprägnation seines Gewandes von Heilkräften“,70 oder innerhalb des Willens Jesu, da „zwischen dem kranken Organismus des [den] gläubigen Jesum Berührenden und Jesu sich sofort ein Rapport bildete, welcher bei der Intention Christi, jedem gläubigen Hülfesuchenden Hülfe zu gewähren, sofort die Heilung herbei­ führte“.71 Auch bei den in Apg 5,15 und Apg 19,11f. beschriebenen Wundern, worin Personen vom Schatten des Paulus oder von Tüchern, die er getragen hat, geheilt werden, könnte man vom Magnetismus ausgehen. Es könnte sich um einen physischen Rapport zwischen Paulus und Objekten, die er berührt hat, handeln,72 oder, im Falle der Tücher, um eine „Imprägnation der Kleidungsstücke des Paulus mit einer heilskräftigen Influenz.“73 Tholuck ist aber kritisch gegenüber diesen Wundern, da sie den Anschein erwecken, als werde eine Würkungsweise angedeutet, wie sie die römische Kirche bei den Reliquien annimmt, und kann man nun auch solche Heilungen nicht von Seiten der zu Heilenden Zauberei nennen – denn der Glaube ist ja das Medium – so doch von Seiten des Wunderthäters, insofern der Geist, der Wille desselben mit dem Wunder des Glaubens nichts zu thun hat.74

Von der Heilung durch den Schatten des Paulus schreibt er dann auch, dass es „keine objektive heilkräftige Einwürkung [gibt], sondern nur den subjektiven Faktor des Glaubens.“75 Tholuck schließt damit, dass, wenn man Jesus einen Magnetiseur nennen möchte, man Magnetiseur definieren soll als „den in der Einheit mit Gott würkenden Menschen, welcher Kraft dessen einen unmittelbar-heilkräftigen Einfluß auf den gläubigen Mitmenschen auszuüben vermag.“76 Auch anhand einer Besprechung von biblischen Prophetien, Gesichten und Visionen folgert Tholuck, dass sich zwischen „den katholischen Wundern im Ganzen und denen der apostolischen Zeit eine Grenzlinie ziehen“ lässt.77 Daneben habe der Magnetismus noch nicht „die Heilung von Blindgebornen und   Tholuck, Ueber die Wunder [s. Anm. 25], 82.   Tholuck, Ueber die Wunder [s. Anm. 25], 83. 72   Tholuck, Ueber die Wunder [s. Anm. 25], 84. 73   Tholuck, Ueber die Wunder [s. Anm. 25], 82. 74   Tholuck, Ueber die Wunder [s. Anm. 25], 83. 75   Tholuck, Ueber die Wunder [s. Anm. 25], 84. 76   Tholuck, Ueber die Wunder [s. Anm. 25], 84. 77   Tholuck, Ueber die Wunder [s. Anm. 25], 49. 70 71

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Aussätzigen“ bewirkt oder wirkte in ihm eine Kraft, die „Todte[n] auferweckte und der Natur gebot“.78 Damit gibt es einen deutlichen Unterschied zwischen der biblischen Geschichte und der allgemeinen, zwischen dem, was vom Geist bewirkt wird, und dem, was auf physischer, organischer, magischer oder zauberischer Ebene wirkt.

6. Exegese des Johannesevangeliums Ein interessantes Beispiel für die Erwähnung des Magnetismus in der Auslegung der biblischen Wunder bieten die verschiedenen Kommentare zum Johannesevangelium, die Tholuck publiziert hat. Ein bekanntes Wunder ist Jesu Laufen über das Wasser, beschrieben in Joh 6, 16–21. Johannes beschreibt, wie Jesus über das Meer läuft und zu seinen Jüngern ins Boot steigt. Tholuck versteht Jesu Laufen über das Wasser nicht als ‚Mythos‘ oder Fiktion, sondern als Faktum. Er gründet seine Interpretation dieser Wundererzählung auf der sogenannten Axiopistie der Schriftsteller der Evangelien, in diesem Fall des Evangelisten Johannes. Das bedeutet, dass Tholuck glaubt, Johannes habe wahrheitsgemäß beschrieben, was in der historischen Wirklichkeit passiert ist und dass allein diese Voraussetzung ausreichend sei, um das Wunder als etwas, das wirklich passiert ist, zu interpretieren. Für Tholuck steht also die Möglichkeit des Wunders außer Frage. Während Tholuck in der ersten Auflage des Kommentars die Literatur zum Johannesevangelium nicht eingehend behandelt und sich nur zu neuen Interpretationen, dass das Wunder ein ‚Mythos‘ sei, äußert, bespricht er in der sechsten Auflage sehr viel Literatur. Gleichzeitig begnügt sich Tholuck aber nicht allein mit der Glaubwürdigkeit des Evangelisten Johannes als Wahrheitsinstanz, sondern er weist darauf hin, wie die Wundertätigkeit Jesu in Übereinstimmung mit den Naturgesetzen verstanden werden könne, und bespricht, aus welchen verschiedenen Perspektiven das Wunder durch Tholucks Zeitgenossen erklärt worden ist. Diejenigen, die er als „Wundervertheidiger[]“ bezeichnet, hätten versucht, das Wunder naturwissenschaftlich zu deuten mit dem Verweis auf einen besonderen Zustand des Wassers oder des Körpers Jesu, und somit versucht, den Beweis des Wunders durch die „alltägliche Erfahrung“ zu liefern.79 So erklärt der schon genannte Olshausen dieses Wunder anhand des speziellen Zustands des Körpers Jesu, eine Erklärung, die durch Tholuck widerlegt wird: [Olshausen] hat an eine dem Leibe des Erlösers besonders inhärirende Dualität gedacht: „Bei einer höhern Leiblichkeit, geschwängert mit den Kräften einer höhe-

  Tholuck, Ueber die Wunder [s. Anm. 25], 83.   Tholuck, Kommentar [s. Anm. 48], 167.

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ren Welt, sei es weniger befremdend, daß sie den irdischen Boden verlassen könne“, nach ihm beginnt der Verklärungsproceß der Leiblichkeit Christi schon im irdischen Leben. Aber wie? hat zu diesem Processe die Verminderung der specifischen Schwere des Leibes Christi gehört, so daß derselbe am Ende auch leichter als die Luft geworden, erscheint dann nicht auch, daß er auf der Erde gehen konnte, als ein Wunder?80

Nach Olshausen sollte Jesus durch seine göttliche Kraft („geschwängert mit den Kräften einer höheren Welt“) eine höhere Leiblichkeit haben und deswegen auch die Möglichkeit, über der Erde zu schweben.Tholuck hebt jedoch auf der Grundlage des Analogieschlusses hervor, dass Jesus dann nicht normal auf der Erde hätte laufen können. Eine andere Erklärung bietet das „oftmals vorgekommene Faktum, daß Magnetische im Wasser nicht untergesunken“ seien.81 Tholuck verweist dabei unter anderem auf den vom Spiritismus inspirierten Arzt und Schriftsteller Justinus Andreas Christian Kerner (1786–1862) und auf dessen Werk Die Seherin von Prevorst: Eröffnungen über das innere Leben des Menschen und über das Hereinragen einer Geisterwelt in die unsere (1829), insbesondere Seite 94 im ersten Teil. Dort wird erzählt, wie die Seherin Friederike Hauffe (1801–1829), die von Kerner behandelt wurde, im magnetischen Zustand über das Wasser schwebte und nicht sinken konnte: So oft man sie (in hiesigem magnetischen Zustande) in ein Bad bringen wollte, zeigte sich die sonderbare Erscheinung, daß alle ihre Glieder, auch Brust und Unterleib, in ein unwillkürliches besonderes Hüpfen, in eine völlige Elasticität kamen, die sie aus dem Wasser immer wieder ausstieß. Gehülfinnen, die bei ihr waren, gaben sich alle Mühe, sie mit Gewalt in das Wasser zu drücken, aber ihre Schwerkraft strebte immer nach oben, sie konnte nicht unten gehalten werden, und hätte man sie in einen Fluß geworfen, sie wäre wohl auch in diesem, so wenig als ein Pantoffelholz, untergesunken.82

Gleich wie die Seherin durch den Magnetismus ihres Körpers über das Wasser schweben konnte, konnte Jesus über das Wasser laufen. Für Tholuck dient diese Erzählung über die Seherin nur als Beispiel dafür, dass auch „Unerklärlichkeiten“ in einer anderen „Sphäre“ als in derjenigen, in welche Jesu Wundertätigkeiten gehören, auftauchen. Obwohl es bemerkenswert ist, dass er sich mit ihr auseinandergesetzt hat, ist die spiritistische Erklärung seiner Zeitgenossen, ebenso wie die naturwissenschaftliche, für Tholuck keine Hauptsache. Stattdessen bemerkt er: „So hat man

  Tholuck, Kommentar [s. Anm. 48], 167.   Tholuck, Kommentar [s. Anm. 48], 168. 82   Justinus Kerner: Die Seherin von Prevorst. Eröffnungen über das innere Leben des Menschen und über das Hereinragen einer Geisterwelt in die unsere. Cotta 1829, 94. 80 81

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demnach auch in diesem Falle bei dem Kanon stehen zu bleiben, der für alle Wunderthätigkeit Christi gilt: der mit dem Grunde aller Naturgesetze absolut einige Wille ist auch die Macht über alle einzelnen Naturgesetze.“83 Obwohl man sagen kann, dass deswegen Jesu Laufen auf dem Meer nicht im Gegensatz zur Natur steht, sondern ein natürliches Faktum ist, ist die Frage, ob das in Tholucks Auffassung überhaupt wichtig ist. Tholuck fokussiert dagegen stark auf den religiösen Zweck des Wunders, d. h. auf dasjenige, was bei den Menschen bewirkt wird. So, betont er auch hier, „hat nicht jede Handlung welche in den Jüngern das Bewußtseyn von Christi Machteinheit mit dem Vater bestätigt […], ihren ethischen Zweck erreicht?“84

7. Schluss Als Ergebnis der Analyse vertrete ich die Ansicht, dass Tholuck Magnetismus und Somnambulismus apologetisch eingesetzt hat, um so die Historizität und Glaubwürdigkeit der Bibel, insbesondere der Evangelien und damit die der christlichen Lehre zu verteidigen. Das hat er aber nicht aus einer völlig rationalistischen Perspektive heraus getan, die alle Wunder natürlich zu erklären und damit zu leugnen versucht. Tholuck, demzufolge „Wunderbares zu läugnen leichter ist als zu begreifen“,85 schreibt jedoch, dass er nicht „die Verpflichtung des Theologen [anerkennt], für jedwede räthselhafte Erscheinung im Wunderbereich eine jedwede Schwierigkeit beseitigende Auskunft in Bereitschaft haben zu müssen, denn – Wunder sind eben Wunder“.86 Das bedeutet, dass der Theologe nicht zu letzten alles erklärenden Antworten kommen kann und sollte. Tholuck hat Magnetismus und Somnambulismus benutzt, um eine Grenze zwischen den biblischen und den außerbiblischen Wundern, in der Kirche sowie in anderen Traditionen, zu ziehen. Damit hat der Diskurs eine andere Funktion als zum Beispiel bei Kerner und den Theologen aus dem Umkreis von Gustav Werner, die den Magnetismus als Mittel ansahen, die Menschen wieder zum Evangelium zu führen.87 Tholucks Methode war wie folgt: Seine erste Frage lautet, ob ein Wunderbericht glaubwürdig und zuverlässig ist. Ist das nicht der Fall, wenn zum Beispiel der Autor betrog oder eine unzuverlässige Quelle benutzte, kann man davon ausgehen, dass das Wunder nicht passiert ist. Wenn der Wunderbericht glaubwürdig und zuverlässig zu sein scheint, kann man davon ausgehen, dass es sich um ein historisches Faktum handelt. Die zweite Frage lautet, wie das Faktum

  Tholuck, Kommentar [s. Anm. 48], 168. Kursivdruck d.Vf.n.   Tholuck, Kommentar [s. Anm. 48], 168. 85   Tholuck, Ueber die Wunder [s. Anm. 25], 78. 86   Tholuck, Ueber die Wunder [s. Anm. 25], 83. 87   Wischnath, Im Banne Swedenborgs [s. Anm. 12], 48–53. 83 84

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zu erklären ist. Für die außerbiblischen Wunder stellte Tholuck fest, dass die meisten Phänomene anhand des Magnetismus und Somnambulismus erklärt werden könnten, eingedenk dessen, dass wir jetzt noch nicht alles über diese Geisteszustände wissen. Bei den biblischen Wundern schloss er, dass es zwar Ähnlichkeiten mit dem Magnetismus und Somnambulismus gebe, aber die Wunder damit nicht völlig erklärt werden können. Man müsse die göttliche Macht, also das Einwirken des Heiligen Geistes, voraussetzen und damit eine klare Grenze zwischen den biblischen und den außerbiblischen Wundern ziehen. Mit dieser Unterscheidung steht viel auf dem Spiel. Tholuck bemerkt, wie „die Sonne des Gottessohnes nicht untergegangen sei, ohne ein wunderbares Abendroth am Himmel ihrer Kirche zurückzulassen“, er widerspricht aber, dass „dieses Abendroth auch jetzt noch ungeschwächt am Himmel stehe“.88 Es gebe heutzutage noch Wunder, aber man müsse sehr kritisch gegenüber den Wunderberichten in der nachapostolischen Zeit sein, da die meisten historisch nicht faktisch sind. Die Frage ist dann aber, wenn die Wunder in der katholischen Kirche nur „optische Täuschung“ gewesen sein sollen, was „giebt die Gewähr, daß es sich nicht ebenso verhalte mit der Abendröthe der apostolischen Zeit, ja mit der Wundersonne Christi selbst?“89 Die Glaubwürdigkeit und Geschichtlichkeit der evangelischen Geschichte stehe dann auf dem Spiel und damit die ganze christliche Lehre und die Erlösung des Menschen. Obwohl die Forschungsliteratur zu Tholucks Wunderverständnis sehr schmal ist, zeigt sich also, dass das Thema ,Wunder‘ eine bedeutende, vielleicht sogar entscheidende Rolle in Tholucks Theologie gespielt hat.

88   August Tholuck: Die Glaubwürdigkeit der evangelischen Geschichte, zugleich eine Kritik des Lebens Jesu von Strauß, für theologische und nicht theologische Leser dargestellt. Hamburg 1837, 421. 89   Tholuck, Glaubwürdigkeit [s. Anm. 88], 421.

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Rezensionen

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Ulrich Gäbler: Aufbrüche. Ausgewählte Aufsätze zur Geschichte des europäischen und amerikanischen Protestantismus. Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2022. – 446 S. Aus Anlass des 80. Geburtstages von Ulrich Gäbler haben der Greifswalder Kirchenhistoriker Thomas K. Kuhn und sein Berner Kollege Martin Sallmann „Ausgewählte Aufsätze“ ihres akademischen Lehrers „zur Geschichte des europäischen und amerikanischen Protestantismus“ publiziert. Für die Leser des Jahrbuchs Pietismus und Neuzeit ist diese Publikation von besonderem Interesse. Mit viel Geschick haben die beiden Herausgeber eine repräsentative Auswahl aus dem reichen wissenschaftlichen Œuvre von Ulrich Gäbler getroffen. Dabei wird deutlich, dass sich Ulrich Gäbler zwar zunächst mit einzelnen Figuren aus der Geschichte des österreichischen und des Schweizer Protestantismus beschäftigt hat, dass sein Interesse jedoch relativ früh auch der Erweckungsbewegung galt, und zwar insbesondere der Erweckungsbewegung in der Neuen Welt. Auf eindrucksvolle Weise gelingt es ihm, einzelne Themen, die wir aus der Geschichte des linken Flügels der Reformation kennen, mit theologischen Anliegen der Erweckungsbewegung in Neu-England zu vergleichen sowie auch mit dem Réveil in Genf. Wie kommen Menschen zum Glauben? Diese Frage bewegte Johannes Bünderlin von Linz im 16. Jahrhundert ebenso wie Jonathan Edwards in Northampton in Massachusetts im 18. Jahrhundert. Ulrich Gäbler kennt sie beide, und ebenso ist er als exzellenter Kenner von Zwingli und Heinrich Bullinger nicht nur in der Geschichte der Schweiz zu Hause, sondern auch in der für Außenstehende höchst komplizierten Religionsgeschichte der Niederlande. Ulrich Gäbler widerspricht entschieden der Ansicht, zwischen der Erweckungsbewegung und der Aufklärung hätte ein fundamentaler Widerspruch bestanden, zwischen Erweckungsglauben und Aufklärungsmaximen hätte es stets einen unüberbrückbaren Gegensatz gegeben. In mehreren Studien kann er vielmehr zeigen, wie ‚modern‘ die Erweckungsprediger des 19. Jahrhunderts argumentierten und agierten, kurzum, dass sie auf ihre Weise ebenfalls Kinder der Aufklärung waren. „Rationalismus und Réveil schließen sich nicht aus“, postulierte er am Ende einer Studie über den Weg zum Réveil in Genf (231), und das gleiche gilt seiner Ansicht nach auch für die verschiedenen Varianten von „Awakening“ und Erweckung in anderen Ländern. In seiner Antrittsrede an der Freien Universität in Amsterdam erklärte Ulrich Gäbler 1980 am Beispiel der Erweckungspredigt von Charles Grandison Finney in Nordamerika 1824–1832 wie Vernunft, Moral und Bekehrung zusammenhängen. Mehrere Studien aus den 1970er und 1980er Jahren zeigen, wie intensiv Ulrich Gäbler sich um die Erschließung neuer Quellen bemühte, und welche neuen Erkenntnisse er damit erzielte. Hingewiesen sei zum Beispiel auf seine

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Forschungen über Österreichs Protestanten und die Niederlande im 17. und 18. Jahrhundert mit dem Titel Studenten in Leiden, Exulanten in Seeland, Gesandtschaftsprediger in Wien oder auf die bereits erwähnte biographische Skizze über Johannes Bünderlin von Linz (vor 1500 bis nach 1540). Seit Beginn der 1980er Jahre legte Ulrich Gäbler auch eine eindrucksvolle Serie von komparatistisch angelegten Studien vor, in denen er große Themen diskutierte: 1984 Pietistische Erweckung um 1820 als europäisches Phänomen; 1989 Konfession und Denomination, gezeigt am Lebenswerk des Schotten Thomas Chalmers; 1992 Die Schweizer – ein auserwähltes Volk; 1994 Die Idee eines christlichen Europa; 1998 die Rektoratsrede in Basel zum Thema Religion und Schweizerische Eidgenossenschaft; schließlich 2005 die Rektoratsrede zum Thema Wiederkehr der Religion. Die wissenschaftliche Qualität der Studien und Reden von Ulrich Gäbler beruht auf mehreren bemerkenswerten Tugenden: Erstens der Präzision im Detail. Die Aussagen, die Ulrich Gäbler macht, sind sorgfältig recherchiert. Zweitens der Überzeugung, dass es lohnt, auch große, allgemein interessierende Fragen zu thematisieren. Dadurch wird er als Kirchenhistoriker zum Gesprächspartner für eine breitere gebildete Öffentlichkeit. Drittens dem Mut, den grundsätzlichen Themen des Glaubens in der Geschichte und damit im Leben der Menschen nicht auszuweichen. Auf diese Weise sprechen seine Texte zu den Menschen von heute. Viertens einer unerschütterlichen Ausgewogenheit des Urteils. Ulrich Gäbler kennt die großen Figuren der Kirchengeschichte wie Zwingli und Heinrich Bullinger, wie Jonathan Edwards und Philip Schaff. Er kennt aber auch das Schicksal der Außenseiter und das religiöse Leben der ‚kleinen Leute‘. Es ist bemerkenswert, wie es ihm gelingt, beiden gerecht zu werden. Man versteht Ulrich Gäblers Zugangsweise zu seinen Themen besser, wenn man bedenkt, dass er im Gegensatz zu vielen seiner Kollegen und Kolleginnen die Geschichte des Christentums als Teil der allgemeinen Geschichte begreift und dass er bei den vom ihm erforschten Themen stets den politischen Kontext ebenso wie kulturelle und wirtschaftliche Aspekte berücksichtigt. Zugleich demonstrieren seine Ausführungen, wie gut er sich in theologischen und kirchlichen Fragen auskennt.Wenn nötig, schildert er lokale Details, wenn angebracht, kann er auch die ganz großen Linien skizzieren. Spezialisten profitieren deshalb von seinen fundierten Kenntnissen ebenso wie eine breitere Leserschaft. Diese Sammlung zeigt auch, dass Ulrich Gäbler im Gegensatz zu einigen jüngeren Vertretern und Vertreterinnen der Kirchengeschichte sein akademisches Heil nicht in einer immer weitergehenden Spezialisierung gesucht hat. Im Laufe der Jahre hat er vielmehr eine beeindruckende Serie unterschiedlicher Themen vom Hochmittelalter bis zur Zeitgeschichte behandelt. Dazu kommt sein Interesse an der aktuellen Forschung. Bevor er seine eigenen Ergebnisse präsentiert, beschäftigt er sich mit der Frage, wer sich vor ihm mit diesem oder jenem Thema auseinandergesetzt hat, und was dabei herausgekommen ist. Auf

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diese Weise erfahren seine Leser, was er selbst Neues zu sagen hat. In allen Fällen beruht dieses Neue auf sorgfältigen Archiv- und Bibliotheksstudien. Dazu passt auch, dass er über die Jahre hinweg regelmäßig Neuerscheinungen rezensiert hat. Die erstaunliche Reichweite der Gäblerschen Forschungen versteht man aber am besten, wenn man weiß, dass er im Laufe seines Lebens reiche internationale Erfahrungen gesammelt hat. Der geborene Österreicher promovierte in Zürich, arbeitete an seiner Habilitationsschrift in Princeton, habilitierte sich in Zürich, wurde Professor in den Niederlanden, nahm eine Gastprofessur in Harvard wahr, kehrte nach einem Jahrzehnt an der Freien Universität in Amsterdam zurück in die Schweiz, an die Universität Basel, und lebt inzwischen wieder den größten Teil des Jahres in seiner ursprünglichen Heimat. Nicht vergessen sei, dass er über viele Jahrzehnte hinweg in den Gremien, die sich in Deutschland mit der Pietismusforschung beschäftigten, eine prägende Gestalt war. Was der vorliegende Band uns vorführt, sind somit die eindrucksvollen wissenschaftlichen Ergebnisse eines einzigartigen internationalen Gelehrtenlebens. Angefügt sei schließlich, dass Ulrich Gäbler stets bereit war, Verantwortung zu übernehmen. Erwähnt seien hier nur zwei Beispiele.Wie ich mich gut erinnere, ließ er sich, als aus dem Kreis der Herausgeber des Jahrbuchs Pietismus und Neuzeit niemand sonst dazu bereit war, als geschäftsführender Herausgeber in die Pflicht nehmen. Als an der Universität Basel große Veränderungen bevorstanden, wählte die Basler Professorenschaft nicht einen Juristen oder Betriebswirt in das Amt des Rektors, sondern Ulrich Gäbler, einen Kirchenhistoriker und Theologen. Thomas K. Kuhn und Martin Sallmann ist zu danken, dass sie die „Universitätsreden“ von Ulrich Gäbler in den vorliegenden Band aufgenommen haben. Interessant ist, dass Ulrich Gäbler auch als Rektor in seinen Ansprachen immer wieder auch theologische Fragen diskutierte. Ulrich Gäblers Ausgewählte Aufsätze zur Geschichte des europäischen und amerikanischen Protestantismus verführen zum Lesen und Weiterlesen. Die Themen, die er in einer Abhandlung diskutiert, verlocken dazu, sofort das nächste Stück in Angriff zu nehmen. So ist zu hoffen und zu wünschen, dass sich viele Leser in seinen Aufsätzen festlesen und sie weiterempfehlen. Wer sich für die außergewöhnliche Produktivität des Autors interessiert, findet am Ende des Bandes in dem sorgfältig zusammengestellten Verzeichnis der Veröffentlichungen von Ulrich Gäbler viele weitere Titel, deren Lektüre lohnt. Hartmut Lehmann

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Pietismus Handbuch. Hg. v. Wolfgang Breul (in Zusammenarbeit mit Thomas Hahn-Bruckart). Tübingen: Mohr Siebeck 2021. – 797 S. Knapp 20 Jahre nach Abschluss der vierbändigen Geschichte des Pietismus, die in den Jahren von 1993 bis 2004 bei Vandenhoeck & Ruprecht in Göttingen erschien, hat der Tübinger Verlag Mohr Siebeck ein Pietismus Handbuch publiziert, ein schwergewichtiges, schon auf den ersten Blick eindrucksvolles Werk. Es ist Wolfgang Breul gelungen, alle, fast alle Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die sich in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten durch Arbeiten über einzelne Aspekte des Pietismus hervorgetan haben, als Autoren für sein Pietismus Handbuch zu gewinnen: Exzellente Beiträge lieferten, um nur einige Namen zu nennen, Fred van Lieburg über „Pietismus und Nadere Reformatie“, Douglas Shantz über „Pietismus und Alchemie“ sowie über „Pietismus und mystischer Spiritualismus“, Ruth Albrecht über „Johanna Eleonora Petersen“ und „Hamburg“, Craig Atwood über „Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf“, Klaus vom Orde über den Pietismus in „Frankfurt am Main“, über „Leipzig“ sowie über „Theologiebegriff und Theologiestudium“, Benjamin Marschke über „Brandenburg-Preußen“, Alexander Schunka über „Thüringen“, Manfred Jakubowski-Tiessen über „Dänemark und Norwegen“, Urban Claesson über „Schweden und Finnland“, Jan Stievermann über „Nordamerika“ sowie über den „Methodismus“, Jonathan Strom über „Bekehrung“, Veronika AlbrechtBirkner über „Gemeinschafts- und Sozialformen“, Peter Vogt über „Ökumene und Mission“ sowie über „Missionsfelder und Internationale Beziehungen“, Christian Soboth über „Erbauungsliteratur“, Hans-Georg Kemper über „Gedichte“, Hans-Jürgen Schrader über „Selbstzeugnisse und Biographien“, Thomas Kuhn über „Basel“ sowie über „Soziales Handeln“, Irmtraut Sahmland über „Medizin und Pharmazie“, schließlich Martin Gierl über „Kontroversen und Kritik“. 59 Autorinnen und Autoren verfassten insgesamt 79 Beiträge. In vielen Beiträgen wird die aktuelle Forschungslage zu dem betreffenden Thema diskutiert. Das Pietismus Handbuch ist somit prall gefüllt mit überaus nützlichen Analysen und Informationen. Die Texte werden ergänzt durch ein ausführliches Quellen- und Literaturverzeichnis.1 Zunächst ein Blick auf die Konzeption des Pietismus Handbuchs. Im ersten Teil mit der Überschrift: „Orientierung“ macht Wolfgang Breul klar, wie sehr sich dieses neue Werk von dem älteren, der vierbändigen Geschichte des Pietismus, unterscheiden soll. „Die unter dem Begriff ‚Pietismus‘ subsumierten Phänomene“ seien „ausgesprochen vielfältig“, so Wolfgang Breul, und diese „Vielfalt“ beziehe sich „nicht nur auf Theologie und Frömmigkeit der Personen und

1   Gewundert hat mich allerdings, dass mitten in die Liste der von mir publizierten Literatur auch drei Beiträge von Hannelore Lehmann gesetzt wurden (726f.). Nach dem Alphabet hätten ihre Beiträge vor den meinen stehen sollen.

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Gruppen, sondern auch auf ihre soziale und kulturelle Gestalt und Praxis“. „Ohne eine Binnendifferenzierung, die sich von den großen Leitfiguren der älteren Forschung löst“, sei „die Geschichte des Pietismus daher nicht angemessen zu beschreiben“. Wolfgang Breul spricht von der „Vielfalt der Phänomene“, von einer „historisch irreduziblen Komplexität“. Die „nur schwer zu überschauende Vielfalt“ verhindere, dass man „die Grenze zwischen ‚innen‘ und ‚außen‘, noch weniger zwischen ‚radikal‘ und ‚kirchlich‘“ ziehen könne. Er empfehle daher, „die theologischen und frömmigkeitsgeschichtlichen Kriterien, welche die Debatte in bis heute nicht gelöste Aporien geführt haben, zurückzustellen“. Notwendig sei schließlich, „das Gesamtphänomen in einem flexiblen zeitlichen Horizont zu verstehen“ (38ff.). Wolfgang Breuls Ausgangspunkt ist deshalb: „Die Herausgeber des Pietismus Handbuchs“ hätten „angesichts der offenen Debatte darauf verzichtet, einen bestimmten Pietismusbegriff oder eine fixe zeitliche und regionale Eingrenzung vorzugeben“. Sie verstünden „,Pietismus‘ im deutschsprachigen Raum als einen historischen Begriff, der eine sozial und kulturell wirksame Bewegung im deutschsprachigen Protestantismus mit einem relativ klar erfassbaren historischen Kern und unscharfen Rändern und vielfältigen historischen Bezügen“ bezeichne, „die über zwei bis drei Generationen zwischen ca. 1690 und 1750 den kontinentaleuropäischen und nordamerikanischen Protestantismus bestimmte und nachhaltig prägte“ (40). Dass „vielfältige und differierende Ergebnisse formuliert werden“, entspreche „nach Auffassung der Herausgeber eher den historischen Phänomenen als eine eindeutige Grenzziehung“ (40). In Johannes Wallmanns Bemühungen, zwischen einem „Pietismus im engeren Sinn“ und einem „Pietismus im weiteren Sinn“ zu unterscheiden, ebenso wie in meinen verschiedenen Ausführungen zu einem typologisch definierten Pietismusbegriff sieht Wolfgang Breul im Anschluss an Veronika Albrecht-Birkner vielmehr die „Tendenz zu einem essentialistischen bzw. hegemonialen Verständnis des Pietismus“ (28, ebenso 37). Zu fragen ist somit, wie „die Vielfalt der Phänomene der pietistischen Reformbewegung und das Modernisierungspotential, das gerade auch von radikalen Figuren und Gruppierungen ausging“, in dem Pietismus Handbuch „in den Blick genommen wird“ (37). Zunächst fällt auf, dass Wolfgang Breul ganz bewusst darauf verzichtet, klare Zuordnungen zu treffen. Die im dritten Kapitel präsentierten „Personen und Gruppen“ ebenso wie die im vierten Kapitel geschilderten „Städte,Territorien, Regionen, Länder“ stellen, wie er betont, eine „exemplarische Auswahl“ dar, „die keiner strengen Systematik“ folge (40). Auch die Auswahl der theologischen Themen im fünften Kapitel erfolge „ohne Anspruch auf Vollständigkeit“ (41). Interessant ist in diesem Zusammenhang schon der allererste Satz von Wolfgang Breuls Vorwort im Pietismus Handbuch: „Kaum eine andere Erscheinung hat nachreformatorisch den europäischen und nordamerikanischen Pro-

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testantismus so sehr geprägt wie jene Reformbewegung, die bald nach ihren Anfängen die bis heute diskutierte Bezeichnung ‚Pietismus‘ erhalten hat“ (V). Martin Brecht hatte den 1993 publizierten ersten Band der Geschichte des Pietismus mit folgendem Satz eingeleitet: „Der Pietismus ist die bedeutendste Frömmigkeitsbewegung des Protestantismus nach der Reformation“ (1) und vermeidet damit vage Formulierungen wie „kaum eine andere Erscheinung“. Man kann fragen, ob Wolfgang Breul solche klaren, unzweideutigen Formulierungen gescheut hat, um ganz bewusst neue Spielräume für künftige Forschungen zu schaffen, oder ob er meint, das, was wir gemeinhin mit „Pietismus“ bezeichnen, sei so vage und fluid, dass jede Festlegung einen falschen Akzent setzen würde. Wenn diese Vermutung stimmt, verfolgt Wolfgang Breul in der Pietismusforschung eine ganz neue Forschungsstrategie. Wolfgang Breuls Position erstaunt vor allem, weil das von ihm herausgegebene Pietismus Handbuch mehrere Kapitel enthält, aus denen deutlich hervorgeht, dass die Pietisten des späten 17. und 18. Jahrhunderts durchaus ein eigenes Profil hatten und dass das ihnen selbst auch durchaus bewusst war. Da ist nichts Vages, Fluides. Dazu drei Beispiele. In dem Abschnitt über „Kontroversen und Kritik“ schildert Martin Gierl die heftigen Konflikte und scharfen publizistischen Auseinandersetzungen über Sinn und Ziele der pietistischen Bewegung in den Jahrzehnten um 1700. „Die mediale, akademische, juristische Auseinandersetzung machte den Pietismus konkret“, so Gierl, „als etwas, was einen Namen besaß, im Für und Wider Grenzen und Eigenschaften erhielt, sich zu Gruppen ordnete, legitimierte und sich in errungenen Handlungsspielräumen entfalten konnte“. Dabei sei „weltliche Pietismuskritik“ „pietistischer Weltkritik“ gegenübergetreten (495). Aus dem von Veronika Albrecht-Birkner verfassten Abschnitt über „Gemeinschafts- und Sozialformen“ geht klar hervor, wie Konventikel als Sozialform eine distinkte religiöse Subkultur bildeten, deren Angehörige sich in überregionalen Netzwerken zusammenschlossen. Schon im Frankfurt der 1670er Jahre nahmen die Spannungen zwischen jenen zu, die sich im Sinne Speners um Kirchenreformen bemühten und den Anhängern von Johann Jacob Schütz, die nicht mehr an eine Reform der Kirche glaubten, die eine Sammlung der „wahren Kinder Gottes“ anstrebten und die ihr Seelenheil im Separatismus suchten (409–413).Wolfgang Breul selbst beschreibt schließlich in dem von ihm verfassten Abschnitt „Nonkonformismus“, dass die religiös motivierten Formen „eines kulturellen und sozialen Nonkonformismus […] weder zufällig noch beiläufig sind, sondern grundsätzlichen Charakter haben“. Sie waren „Ausdruck eines divergierenden Selbst- und Weltverständnisses“ und zielten auf „Abgrenzung von einer als ‚gottfern‘ oder ‚gottlos‘ bestimmten Umwelt und auf eine alternative exemplarische Lebensführung“. „Wahrer christlicher Glaube musste daher 1. für die Außenwelt erkennbar sein“, so Wolfgang Breul, was „2. beinahe notwendig in erkennbaren Gegensatz zu ihr führte“. „Neutralität gegenüber Weltdingen“ sei nicht möglich, gruppeninterne Konformität dagegen geboten gewesen. Zur Verdeutlichung verweist Wolfgang

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Breul in diesem Abschnitt auf „Kleidung, Perücke und äußere Erscheinung (Habitus)“, auf die „Tendenz pietistischer Kreise zu eigener Sprachbildung“ sowie auf ihre konsequente Ablehnung aller Formen des Divertissement“ (487– 494). Auch in anderen Kapiteln lassen sich Beispiele finden, die zeigen, dass in dem von Wolfgang Breul konzipierten Pietismus Handbuch durchaus Argumente vorkommen, die bei dem Versuch einer möglichst eindeutigen Definition eines für die Forschung brauchbaren Pietismusbegriffs programmatischen Charakter besitzen und sich als „Tendenz zu einem essentialistischen bzw. hegemonialen Verständnis des Pietismus“ (28) verstehen lassen. In diesen Kontext passt die Beobachtung, dass Wolfgang Breul in allen von ihm verfassten Texten des Pietismus Handbuchs vom Pietismus als einer „Reformbewegung“ oder von der „pietistischen Reformbewegung“ spricht. Für Spener und die Pietisten, die in der Tradition Speners lebten, stimmt diese Bezeichnung, nicht dagegen für jene Kreise, die überzeugt waren, die Kirchen ließen sich nicht mehr reformieren und die sich bewusst von der etablierten Kirche separierten. Ihnen lagen alternative Wege der Heilsvergewisserung am Herzen, nicht aber eine Reform der Kirche. Als Schüler von Hans Schneider weiß das Wolfgang Breul selbstverständlich. Sieht er den Pietismus allein als „Reformbewegung“, suggeriert er jedoch eine Homogenität des gesamten Pie­ tismus, die er an anderer Stelle, wo er auf „die Vielfalt der Phänomene“ hinweist (37), ausdrücklich verneint. Was ergibt ein Vergleich des Pietismus Handbuchs mit der vierbändigen Geschichte des Pietismus? Die Themen, die im zweiten Kapitel des Pietismus Handbuchs über die „Anfänge“ diskutiert werden, stimmen bis auf zwei Ausnahmen mit den im ersten Band der Geschichte des Pietismus behandelten Themen überein: Puritanismus, Nadere Reformatie, Johann Arndt, Jacob Böhme, Lutherische Orthodoxie. Im Pietismus Handbuch werden jedoch die Themen „Alchemie“ und „mystischer Spiritualismus“ in eigenen Abschnitten dargestellt und damit stärker als in der Geschichte des Pietismus betont. Die Themenbereiche, über die wir im Pietismus Handbuch im vierten Kapitel über „Städte, Territorien, Regionen, Länder“ informiert werden, entsprechen ebenfalls weitgehend den Themen im zweiten Band der Geschichte des Pietismus. Zum Teil sind die Bearbeiter in beiden Werken die gleichen (Rudolf Dellsperger, Manfred Jakubowski-Tiessen). Gewiss: Einzelne Städte werden im Pietismus Handbuch als Zentren stärker herausgestellt. In der Geschichte des Pietismus wurde die Rolle dieser Städte jedoch keineswegs übersehen. Erstaunliche Übereinstimmungen sind schließlich zwischen den Kapiteln 5 und 6 des Pietismus Handbuchs über „Themen“ sowie „Beziehungen, Wirkung und Rezeption“ und dem vierten Band der Geschichte des Pietismus zu konstatieren. Im Pietismus Handbuch werden lediglich einige theologische Themen wie „Schriftverständnis“, „Rechtfertigung und Heiligung“ sowie „Predigt“ stärker als in der Geschichte des Pietismus akzentuiert. Ebenso wird der Bereich Sprache und Literatur auf mehrere Beiträge verteilt.

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Dagegen fehlen im Pietismus Handbuch besondere Abschnitte über Philosophie, Psychologie, Naturwissenschaft und Technik, Familie und Kinder sowie Frauen, die im vierten Band der Geschichte des Pietismus enthalten sind. Während das Pietismus Handbuch einleitend höchst informative Abschnitte über Archive (verfasst von Brigitte Klosterberg) und die Digital Humanities (verfasst von Katherine Mary Faull) enthält, sind in der Geschichte des Pietismus im letzten Teil Beiträge über „Die bleibende Bedeutung des Pietismus“ aus der Feder von Martin Kruse und über „Die Historische Kommission zur Erforschung des Pietismus“, verfasst von Gerhard Schäfer, zu finden. Die offensichtlichste Differenz zwischen beiden Werken besteht im Hinblick auf die Behandlung des Pietismus im 19. und im 20. Jahrhundert. Der gesamte dritte, ursprünglich von Andreas Lindt konzipierte und nach dessen Tod von Ulrich Gäbler herausgegebene Band der Geschichte des Pietismus ist diesem Themenbereich gewidmet. Im Pietismus Handbuch bieten dagegen die Beiträge von Jan Carsten Schnurr über die „Erweckungsbewegung“ und von Thomas Hahn-Bruckart über „Heiligungsbewegung, Gemeinschaftsbewegung und Freikirchenbildung“ lediglich knappe Einführungen in die spätere Geschichte jener religiösen Gruppierungen, die sich selbst in der Tradition des älteren Pietismus sahen. Wurde damit eine Chance vertan? Oder beruht diese Akzentsetzung auf einer prinzipiellen Entscheidung zur zeitlichen Bestimmung und Begrenzung von „einem der wirkungsreichsten Phänomene der neueren Christentumsgeschichte“ (so die Formulierung von Wolfgang Breul und Thomas Hahn-Bruckart am Ende ihres Vorworts, VI)? Dazu an dieser Stelle nur drei kurze Anmerkungen. 1. In einem Land wie Württemberg waren die „Pietisten“ im 19. Jahrhundert stärker und einflussreicher als im 18. Jahrhundert. Warum also die Beschränkung der Darstellung über den Pietismus in Württemberg auf das 18. Jahrhundert? Zurecht betont Martin H. Jung in seinem Beitrag im Pietismus Handbuch: „Anders als in anderen Territorien Deutschlands kann die Betrachtung des Pietismus in Württemberg eigentlich nicht mit dem 18. Jahrhundert enden“ (291). 2. Nicht nur in Württemberg bildete sich im 19. Jahrhundert die Geschichtsschreibung über den Pietismus des späten 17. und des 18. Jahrhunderts heraus, die bis heute nachwirkt. Auch in anderen deutschen Regionen wurden im 19. Jahrhundert die entscheidenden Akzente für eine Beurteilung des älteren Pietismus gesetzt, Akzente, die man kennen muss, wenn man über die ältere Zeit schreibt. 3. Wenn man diejenigen ignoriert, die im 19. und im 20. Jahrhundert glaubten, sie stünden in der Tradition des älteren Pietismus, verzichtet man auf die Möglichkeit, Kontinuitäten und Diskontinuitäten in dem weiten Feld der „entschiedenen“, „erweckten“, „evangelikal“ gesinnten Christen zu bestimmen, und dieses Feld erstreckt sich vom 19. ins 20. und inzwischen auch ins 21. Jahrhundert. Auch bei den Themen Missionsziele und Missionsunternehmen sowie Bibeldruck und Bibelverbreitung macht eine Zäsur im letzten Viertel des 18. Jahrhunderts keinen Sinn. Denn erst im 19. Jahrhundert erfolgte auf diesen beiden Gebieten

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ein geradezu rasanter Anstieg der Aktivitäten. Das gleiche Argument trifft auch für die Geschichte des Pietismus in Basel zu. Erst nach dem Schock der Französischen Revolution und der Napoleonischen Gewaltherrschaft entwickelten die Basler Frommen auf den Gebieten Missionsarbeit und Bibelverbreitung jene Energien, die sie auf ein Niveau mit ihren Glaubensgeschwistern in London und Philadelphia hoben. Doch zurück zum Pietismus Handbuch, so wie es vorliegt. Will man sich in diesem Werk zum Beispiel über Philipp Jakob Spener umfassend informieren, stößt man auf erhebliche Schwierigkeiten. Denn die Informationen über Spener sind verstreut auf viele Abschnitte: Auf den Abschnitt 3.2 über Spener als Person, auf die Abschnitte 4.1.1 über Frankfurt am Main sowie 4.2.1 über Brandenburg-Preußen. Spener kommt ferner vor in den meisten Abschnitten der im 5. Kapitel behandelten Themen zur „Theologie“ (5.1.1.2, 5.1.2.2, 5.1.3.2.1, 5.1.6.3, 5.1.8.2) und zur „Frömmigkeit“ und sogar in einigen Abschnitten zum Themenbereich „Gesellschaft und Kultur“. Selbst das 6. Kapitel über „Beziehungen, Wirkung und Rezeption“ enthält wichtige Informationen über Spener, so etwa der von Hans-Martin Kirn verfasste Abschnitt „Judentum und Kabbala“. Ähnlich parzelliert sind die Informationen über August Hermann Francke, über Zinzendorf und sogar über Johann Albrecht Bengel. Dass die Herausgeber in einzelnen Abschnitten Verweise auf andere Abschnitte platziert haben, ist verdienstvoll, macht die Suche nach bestimmten Informationen aber kaum einfacher, zumal in dem Pietismus Handbuch neben dem Personenund dem Ortsregister ein Sachregister fehlt. In dem einleitenden Abschnitt über „Pietismusforschung seit 1970“ lobt Wolfgang Breul das 2013 von Douglas H. Shantz vorgelegte Werk An Introduction to German Pietism mit dem Untertitel Protestant Renewal at the Dawn of Modern Europe (29). Nimmt man das Buch von Shantz zur Hand, fällt ein wichtiger Unterschied zum Pietismus Handbuch auf, den Wolfgang Breul nicht erwähnt, der mir aber für eine Beurteilung des Pietismus Handbuchs wichtig zu sein scheint. Denn Douglas H. Shantz diskutiert in seiner „Conclusion“ mit dem Titel „Reflections on the Cultural and Religious Legacy of German Pietism“ auch „The Dark Side of German Pietism“ (285–288). Er meint damit speziell religiöse Dünkel und religiöse Überheblichkeit, die zur Abwertung anderer Christen führt, auch Streitsucht. Je stärker das Gefühl war, zu den „wahren Kindern Gottes“ zu gehören, desto stärker war die Bereitschaft zur Trennung von den „Kindern der Welt“, desto häufiger waren Abspaltungen sogar innerhalb von pietistischen Gemeinschaften. Selbst der angeblich stets sehr milde Bengel verwendete in seiner Kritik an Zinzendorf nicht das Florett, sondern den schweren Säbel. Auf der negativen Seite verbucht Shantz außerdem die teilweise fast blinde Verehrung der Patriarchen und in vielen Kreisen zudem ein ausgeprägtes Misstrauen gegenüber Vernunft und Wissenschaft und damit nicht zuletzt gegenüber der historischen Bibelkritik. Es bleibt anzumerken, dass diese

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Aspekte auch in der vierbändigen Geschichte des Pietismus seinerzeit nicht ausreichend gewürdigt wurden. Damit komme ich zu meinem letzten Punkt. Dringend notwendig erscheint mir nach wie vor, dass auch in der Pietismusforschung der weitere historische Kontext in den Blick genommen wird: Beginnend mit der Ernährungskrise aufgrund klimatischer Veränderungen im späten 16. Jahrhundert (Stichwort: „Kleine Eiszeit“), die zu einer demographischen Krise führte, die wiederum durch Seuchen und seit 1618 durch verheerende Kriege verschärft wurde. Als Spener mit seinen Ideen hervortrat, konnten seine Zeitgenossen auf ein Jahrhundert mit einer rapide angestiegenen Mortalität zurückblicken, auf ein Jahrhundert der Massaker und Grausamkeiten, ein Jahrhundert der Seuchen, des Hungers und der Verzweiflung. Erst im zweiten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts, erst nach dem Ende des Nordischen Kriegs, stabilisierten und verbesserten sich in Mitteleuropa die Lebensverhältnisse wieder Schritt für Schritt. Erst um 1750 lebten in Europa wieder so viele Menschen wie um das Jahr 1600. Die Traumata der vorangehenden Kriegsgenerationen lebten auch in den Nachkriegsgenerationen weiter. Seit dem späten 16. Jahrhundert quälten sich fromme Christenmenschen mit der Frage, warum Gott sie so sehr auf die Probe stelle und warum er Tod und Elend zulasse, warum der Teufel sie bedrohe, und was sie auch im Falle eines plötzlichen Tods tun könnten, um das ewige Seelenheil nicht zu verlieren. In der Suche nach Rezepten, die Wege zum ewigen Heil erklärten, liegt der Grund für den literarischen Erfolg von Johann Arndt und für die überaus große Nachfrage nach Erbauungsschriften. Erst zu Beginn des letzten Drittels des 17. Jahrhunderts wurde mit der Einrichtung der Ecclesiolae in Ecclesia jedoch von Spener und Schütz in Frankfurt ein kirchen- und religionssoziologisches Instrument geschaffen, ein Rahmen für Gespräche angsterfüllter Christen außerhalb der Gottesdienste, in dem diese sich mit Gleichgesinnten über die sie bedrängenden Glaubensfragen verständigen konnten. Das war auch noch die Situation in den Jahrzehnten um 1700, als noch einmal apokalyptische Ängste viele Fromme erfassten. Die politischen und sozialen Turbulenzen am Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts lösten bei vielen Frommen erneut allergrößte Ängste aus. Erneut sammelten sich viele der Frommen in besonderen Zirkeln. In dem Pietismus Handbuch von Wolfgang Breul werden trotz aller Hinweise auf die vorhandene „Vielfalt der Phänomene“ die jeweils besonderen historischen Umstände nicht ausreichend berücksichtigt, erscheint der Pietismus wie eine weithin in sich geschlossene, homogene Epoche. Damit gleicht Wolfgang Breuls Position weitgehend der traditionellen Sicht des Pietismus, von der die Gründungsväter der „Historischen Kommission zur Erforschung des Pietismus“ seinerzeit ausgingen. Die Erklärung der „Vielfalt der Phänomene“ ist Wolfgang Breuls primäres Ziel, nicht aber die Diskussion von Fragen der Bewegung und des Wandels, der Entwicklung und der Veränderung. Eine Ge-

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schichte des Pietismus vom 17. bis zum 20. Jahrhundert, die im Rahmen einer international und interdisziplinär konzipierten Geschichte der religiösen Bewegungen in Europa auch die Transformationen in Politik, Wirtschaft, Kultur und Gesellschaft sowie der Mentalitäten und Emotionen thematisiert, reflektiert und angemessen berücksichtigt, ist nach wie vor ein Desiderat. Hartmut Lehmann

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Fundamentalismus als ökumenische Herausforderung. Hg. v. Jennifer Wasmuth. Leiden, Paderborn: Brill/Ferdinand Schöningh 2021. – 289 S. In dem von Jennifer Wasmuth herausgegebenen Band, dessen Beiträge aus einem Internationalen Sommerseminar am Institut für Ökumenische Forschung in Straßburg im Jahre 2018 hervorgegangen sind, sucht man vergeblich nach Kapiteln, in denen historische Themen, so etwa mit dem Fundamentalismus möglicherweise verwandte religiöse Bewegungen wie der Puritanismus, der Methodismus oder auch der Pietismus, behandelt werden. Im Sachregister sucht man vergeblich nach dem Stichwort Pietismus, im Personenregister vergeblich nach Namen wie Bengel, Francke, Spener und Zinzendorf. Trotzdem lohnt, so meine ich, eine Rezension dieses Buches in diesem den Forschungen über die Geschichte des Pietismus gewidmeten Jahrbuch. Für diese Entscheidung gibt es allgemeine und spezielle Gründe. Zunächst zu den allgemeinen Gründen.Während die Diskussion über einzelne Varianten des Pietismus in den vergangenen Jahren durchaus lebhaft ist und immer neue Facetten, immer wieder neue Auswirkungen pietistischer Frömmigkeit entdeckt werden, fehlt es – jedenfalls meiner Kenntnis nach – nach wie vor an Versuchen, den Pietismus im Rahmen der gesamten neueren Religions- und Kirchengeschichte zu verstehen und zu verorten. Welche älteren, mittelalterlichen, spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen religiösen Bewegungen können als Vorstufen und als Vorformen der Erneuerungsbewegung verstanden werden, die wir mit dem Begriff „Pietismus“ bezeichnen? Und wie steht es mit dem Verhältnis des Pietismus des 17. und 18. Jahrhunderts zu den evangelikalen Bewegungen des 19. und 20. Jahrhunderts? Im dritten, von Ulrich Gäbler herausgegebenen Band der vor zwei Jahrzehnten publizierten Geschichte des Pietismus werden zahlreiche religiöse Bewegungen des 19. und 20. Jahrhunderts in eine direkte Verbindung zum „älteren Pietismus“ gestellt, auch der Evangelikalismus und der Fundamentalismus (siehe den Beitrag von Mark A. Noll, Band 3, Göttingen 2000, 495–522). Just dieser Zusammenhang ist es, bei dem die Lektüre einzelner Kapitel in dem von Jennifer Wasmuth herausgegebenen Band lohnt. Hingewiesen sei nicht nur auf die Beiträge von R. Scott Appleby und Mark Granquist, die sich um eine begriffliche Klärung des auf vielerlei Weise rezipier-

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ten und verstandenen – und missverstandenen – Begriffs „Fundamentalismus“ bemühen, sondern auch auf den Beitrag von Gisa Bauer über Probleme des Fundamentalismus im europäischen Protestantismus. In dem von der American Academy of Arts and Sciences vor drei Jahrzehnten durchgeführten großen Forschungsprojekt über den Fundamentalismus, aus dem nicht weniger als fünf massive Bände hervorgegangen sind (publiziert 1991–1995), war R. Scott Appleby neben Martin E. Marty für die Gesamtkonzeption verantwortlich. In dem vorliegenden Band erörtert er, wie sich die Forschung über den Fundamentalismus in den vergangenen 25 Jahren entwickelt hat. Mark Granquist klärt in seinem Beitrag noch einmal die Genese der religiösen, politischen und kirchenpolitischen Vorstellungen im amerikanischen Protestantismus des 19. Jahrhunderts, die in den ersten drei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts unter dem Begriff Fundamentalismus zu einem weit verbreiteten Schlagwort wurden. Wie Gisa Bauer in ihrem Beitrag zurecht bemerkt, hatten R. Scott Appleby und Martin E. Marty in ihren Forschungen neben Gegenden mit einem ausgeprägten Fundamentalismus in Europa einen „fundamentalismusschwachen Gürtel“ (74) beobachtet, zu dem angeblich auch Deutschland gehörte. Demgegenüber stellt sie fest, wie lohnend und ertragreich Forschungen über den Fundamentalismus in Deutschland sind. Erstes Fazit: Wer klären möchte, ob und auf welche Weise der Fundamentalismus möglicherweise mit dem Pietismus beziehungsweise mit dem Erbe des Pietismus zusammenhängt, sollte den vorliegenden Band konsultieren. Damit kommen wir zu den speziellen Gründen. Folgen wir R. Scott Appleby, war der Fundamentalismus entstanden als Reaktion auf die Verbreitung der Lehren von Charles Darwin und auf den Siegeszug der historisch-kritischen Methode in den Bibelwissenschaften. Das waren für diejenigen, die die Fundamente des christlichen Glaubens verteidigten, vom Teufel inspirierte Lehren. Anhänger des Fundamentalismus waren, wie er betont, nicht rückwärtsgewandt, sondern an der Zukunft orientiert, an den Entwicklungen, mit deren Hilfe die Zukunft gestaltet werden konnte. Alle Lehren, die mit dem Millenarismus zusammenhingen, waren für sie von höchstem Interesse. Sie lebten in einem Krieg von kosmischem Ausmaß („in a cosmic war“, 9), in dem es um nicht weniger ging als um die Zukunft der Menschheit und des Reiches Gottes. Die Welt, in der sie lebten, zerfiel für sie in zwei Hälften, in die von Gott Auserwählten und die vom Teufel und dessen Bundesgenossen Korrumpierten. Ihre eigene Position stand für sie unerschütterlich fest. R. Scott Appleby spricht von „absolutism and dualism“ (7). Die ‚heiligen Schriften‘ enthielten für sie Gottes wahre Botschaft. Es war ein Sakrileg, diese kritisch zu durchleuchten. Patriarchalische Strukturen waren für sie typisch, ebenso besondere Gewohnheiten (sich zu kleiden und zu sprechen), die sie deutlich von den Nichtbekehrten trennten. Sie lassen sich somit nicht nur in religiöser Hinsicht charakterisieren, sondern auch sozial, kulturell und – jedenfalls im Amerika des 20. Jahrhunderts – politisch. Kaum nötig anzufügen, dass nicht alle, aber viele dieser Charakteristika verwen-

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det werden können, um ‚typische Pietisten‘, ‚typisch pietistische Verhaltensweisen‘ zu beschreiben, womit wir wieder bei möglichen Kontinuitäten zwischen den verschiedenen Ausprägungen des Pietismus und den Varianten des Fundamentalismus und einer näher zu bestimmenden Verwandtschaft zwischen diesen Bewegungen sind. Der von Jennifer Wasmuth herausgegebene Band enthält außerdem Beiträge über den Fundamentalismus in Afrika und Asien, über den Fundamentalismus im Katholizismus, in der Orthodoxie und im Islam. Alle Beiträge stammen von international bekannten Autoritäten, und alle werden ergänzt durch bibliographische Hinweise zu neuesten Forschungen. Somit lohnt die Lektüre dieses Bandes, auch wenn man sich mit den von mir angeschnittenen Fragen über mögliche Verbindungen zwischen Pietismus und Fundamentalismus nicht auseinandersetzen möchte. Hartmut Lehmann

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Hans-Martin Kirn u. Adolf Martin Ritter: Pietismus und Aufklärung. Stuttgart: Kohlhammer 2019 (Geschichte des Christentums IV, 2). – 373 S.; Karten. Mit dem 2019 bei Kohlhammer erschienenen Buch von Hans-Martin Kirn und Adolf Martin Ritter liegt der zweite Band des vierten Teils der Reihe „Geschichte des Christentums“ vor.Während der erste Teil das konfessionelle Zeitalter in den Blick nimmt, liegt der Schwerpunkt dieses Buches auf dem 17. und 18. Jahrhundert und behandelt Pietismus und Aufklärung. Das Lehrbuch besteht aus drei großen Abschnitten, einem zum Pietismus, einem zur Aufklärung und einem zu Orthodoxen Kirchen im 17. und 18. Jahrhundert. Autor des letzten Teils ist Adolf Martin Ritter, die deutlich umfangreicheren ersten beiden Teile hat Hans-Martin Kirn verfasst. Jedem Kapitel vorangestellt sind umfangreiche Literaturangaben; zudem ist am Ende jedes Teilkapitels ergänzende Literatur aufgeführt. Die Autoren verzichten dafür, wie in dieser Reihe und ja auch in vielen anderen Lehrbüchern üblich, grundsätzlich auf Fußnoten. An einigen Stellen wird allerdings auf die „Kirchen- und Theologiegeschichte in Quellen“ verwiesen – eine nützliche Hilfestellung sowohl für Lehrende, die mit dem Lehrbuch arbeiten und Studierenden Quellen zugänglich machen wollen, als auch für Studierende, die bestimmte Aussagen an Quellen nachvollziehen können. Dies scheint mir gerade deshalb ratsam zu sein, um bei Studierenden ein Bewusstsein dafür zu wecken, dass Forschungsaussagen immer als Interpretationen von Quellen entstehen und daher auch strittig sind und differieren können. Nach einem einleitenden Teil zum Pietismusbegriff werden Spener, Francke und Zinzendorf als Hauptvertreter des Pietismus eingeführt. Es folgen Ab-

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schnitte über den Württemberger, den reformierten und den „radikalen“ Pietismus. Der erste Teil schließt mit einem Kapitel zu „spätaufklärerischem“ Pietismus und dem frühen Schleiermacher ab. Kirn unterscheidet zwischen Pietismus in engem Sinne – eine kontinentaleuropäische Reformbewegung des 17. Jahrhunderts – und im weiteren, „frömmigkeitstypologischen“ Sinne als „Subjektivierung des Glaubens und seiner Praxis“ (11) und plädiert dafür, in der Forschung Pietismus so zu konkretisieren, dass beide Verständnisse berücksichtigt werden (16). Kirns eigene Darstellung beschränkt sich dann freilich – schon aus pragmatischen Gründen – auf das 17. und 18. Jahrhundert. Kirn führt verschiedene Strukturelemente des Pietismus wie Konventikelbildung und praxis pietatis auf (17–19) und bescheinigt ihm mit „religiöser Subjektivierung und Individualisierung“ eine Art des „Kulturprotestantismus ,avant la lettre‘“ zu sein (12). Hier sieht Kirn Parallelen zur Aufklärung, die ebenfalls das Subjekt in den Vordergrund gerückt habe. Kirn schreibt damit die seit dem 19. Jahrhundert bestehende ideengeschichtliche Linie fort, Pietismus und Aufklärung hätten auf unterschiedliche Weise zur „Theoriebildung der Moderne“ (16) beigetragen. Beispielsweise Spener erscheint dann nicht nur als „Vater des lutherischen Pietismus“, sondern auch als „Wegbereiter neuzeitlicher Theologie“, wobei Kirn Emanuel Hirschs Rede von der Wende von alt- zu neuprotestantischer Epoche aufgreift (26). Dieses von Kirn übernommene Narrativ vom Bruch zwischen Alt- und Neuprotestantismus ist in neuerer Forschung ebenso kritisiert worden wie eine essentialistische Darstellung des Pietismus als einer abgrenzbaren und durch einheitliche Kriterien verbundenen Bewegung.1 Die Darstellung sowohl von Francke und dem Halleschen Pietismus als auch von Zinzendorf und der Herrnhuter Brüdergemeine beschränkt sich nicht auf die Theologie im engeren Sinne, sondern bezieht auch Aspekte von Predigtpraxis, Kirchenmusik, Mission und internationale Kontakte mit ein. Dieses Anliegen einer möglichst breiten, viele verschiedene Aspekte berücksichtigenden Darstellung zieht sich durch das gesamte Buch. So wird ein breiter Einblick in Lebenswelt, Frömmigkeitspraxis und Theologie ermöglicht. Auch die politischen Effekte, beispielswiese des Halleschen Pietismus in Preußen, kommen zur Sprache. Die Hallesche Missionstätigkeit wird auch als „Geschichte europäisch-asiatischer Interaktion“ gewürdigt (39f.), Ziegenbalg habe einen „wegweisenden Beitrag zur Erforschung der südindischen Religionsgeschichte“ geleistet (39). Aus einer diskurstheoretischen und postkolonialen Perspektive wäre hier zu ergänzen, dass die ‚indische‘ Religion von den Missionaren auch als das Andere 1  Vgl. dazu beispielsweise Veronika Albrecht-Birkner: „Reformatoren des Lebens“ und Pietismus“. Ein historiographischer Problemaufriss. In: Pietismus in Thüringen – Pietismus aus Thüringen. Religiöse Reform im Mitteldeutschland des 17. und 18. Jahrhunderts. Hg. v. V. AlbrechtBirkner u. Alexander Schunka. Stuttgart 2018, 21–47. Albrecht-Birkner hebt insbesondere hervor, dass Pietismus als Epochenbegriff erst seit dem 19. Jahrhundert verwendet wird (27).

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des Christentums konstruiert wurde, dass die Religionsgeschichtsschreibung durch Missionare dadurch immer auch hegemoniale Züge trägt und dass Begegnungen zwischen Religionen diese gegenseitig auch verändern.2 „Radikalen“ Pietismus unterscheidet Kirn im einleitenden Kapitel von „kirchlichem“ Pietismus: Während radikaler Pietismus sich von den Landeskirchen separiere, bemühe sich kirchlicher Pietismus um Integration in die Kirche (18). Im Abschnitt zum radikalen Pietismus ist dann aber davon die Rede, radikaler Pietismus sei nicht zwangsläufig separatistisch (91). Es wäre noch genauer zu klären, wo die Grenze zwischen „kirchlichem“ und „radikalem“ Pietismus verläuft. Dies betrifft ebenso die Frage, worin genau „radikale Überzeugungen“ (so etwa im Falle Gottfried Arnolds, 100) bestehen. Die Radikalität scheint insbesondere dadurch gegeben zu sein, dass bestimmte Lehren als „unorthodox“ gelten. Die Beanspruchung von „Orthodoxie“ ist jedoch nicht selten Gegenstand von Aushandlung – auch dem Vorwurf des (separatistischen) Pietismus ausgesetzte Gruppen oder Personen haben sich selbst als orthodox verstanden und für sich wahre Lehre durch Biblizität und damit Legalität beansprucht.3 Dass historische Phänomene und Personen historiographische Kategorien zuweilen aufsprengen, wird an der von Kirn neu eingeführten Kategorie des „Spätaufklärungspietismus“ deutlich, unter der so unterschiedliche Theologen wie Philipp Matthäus Hahn, Johann Caspar Lavater, Emanuel Swedenborg und Johann Heinrich Jung-Stilling verhandelt werden (113f.). Der zweite Teil des Buches wendet sich der Aufklärung zu. Auch hier werden allgemeine Überlegungen vorangestellt, es folgt eine knappe Darstellung zur Aufklärungsbewegung in europäischen Ländern. Kern dieses Buchteils bilden die Abschnitte über die philosophische Aufklärung in Europa und über die (deutschsprachige) protestantische Aufklärung. Es folgen Kapitel zur katholischen und zur jüdischen Aufklärung sowie zur Politisierung der Aufklärung in Amerikanischer und Französischer Revolution. Die Aufklärung trug, so Kirn im einleitenden Teil bezugnehmend auf Ernst Troeltsch, „zur „Transformation des Christlichen“ auf dem Weg in die Mo-

2  Vgl. zur Konstruktion (beispielsweise) „indischer“ Geschichte als das Andere europäischer Geschichte insbesondere Dipesh Chakrabarty: Europa provinzialisieren. Postkolonialität und die Kritik der Geschichte. In: D. Chakrabarty: Europa als Provinz. Perspektiven postkolonialer Geschichtsschreibung, Frankfurt/Main 2010, 41–65. Einführend zu postkolonialen Ansätzen in der Kirchen- bzw. Missionsgeschichtsschreibung vgl. beispielsweise Judith Becker: Introduction. In: European Missions in Contact Zones. Transformation Through Interaction in a (Post-)Colonial World. Hg. v. J. Becker. Göttingen 2015, 7–24. 3  Vgl. Albrecht-Birkner, „Reformatoren des Lebens“ und „Pietismus“ [s. Anm. 1], 35. Zu einer umfassenden Kritik am Begriff „radikaler Pietismus“; vgl. außerdem Martin Brecht: Der radikale Pietismus – die Problematik einer historischen Kategorie. Ein Plakat. In: Der radikale Pietismus. Perspektiven der Forschung. Hg. v. Wolfgang Breul u. Marcus Meier. Göttingen 2010, 11–18. Zur Genese und Problematik des Orthodoxiebegriffs vgl. außerdem jetzt Christian Witt: Lutherische „Orthodoxie“ als historisches Problem. Leitidee, Konstruktion und Gegenbegriff von Gottfried Arnold bis Ernst Troeltsch. Göttingen 2021.

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derne“ bei (116).4 Die aus verschiedenen Forschungsdisziplinen erhobene Kritik am Aufklärungsbegriff wird im Anschluss referiert, doch plädiert Kirn „für eine Beibehaltung des epochalen Aufklärungsbegriffs“, da sich „Problemstellungen, Lösungsstrategien und -praktiken“ über konfessionelle und geographische Grenzen hinweg ähnelten (118). Anders als beim Pietismusbegriff wird der „konstruktive Charakter“ (ebd.) von Epochenbildungen jedoch thematisiert. Zur „idealtypischen Charakterisierung“ der Aufklärung zählen der Gedanke der Perfektibilität des Menschen sowie Kritik an Vorurteil, Aberglaube und Dogmen. Insbesondere in der Hinwendung zur Praxis, in Individualisierung und Subjektivierung und optimistischem Fortschrittsdenken sieht Kirn Gemeinsamkeiten von Pietismus und Aufklärung (120f.), die es erlauben, von einem „Zeitalter von Pietismus und Aufklärung“ (188) zu sprechen. Eine umfassende Beleuchtung von „Kontinuitäten, Transformationen, Gemeinsamkeiten und Unterschieden einzelner Positionen und Entwicklungen“,5 wie beispielsweise Veronika Albrecht-Birkner sie für die Erforschung von Pietismus und Aufklärung fordert, wird hier angedeutet und öffnet den Blick für weitere Forschungsarbeit. Ähnlich wie Albrecht Beutel6 führt Kirn eine weitere Bedeutung von „Aufklärung“ neben dem Epochenbegriff ein: „aus seinem historischen Kontext der Frühen Neuzeit gelöst“, könne der Begriff zur „Bezeichnung geschichtlicher Rationalisierungsprozesse […] auf andere Epochen europäischer Geschichte übertragen werden.“ (121) Dies sei allerdings nur bei „weitreichenden Strukturanalogien“ legitim – solche sieht Kirn beispielsweise für die „Blütezeit des klassischen Athen“ sowie für Renaissance und Humanismus gegeben, da hier ein vernunftkritischer Umgang mit religiösen Traditionen geübt werde und Anthropozentrik sowie Perfektibilität in den Fokus rückten (121). Die Feststellung bestimmter invarianter Strukturelemente geht von einem zeitlosen Wesen von „Aufklärung“ aus, dass seinerseits historische Prozesse bestimmt. Demgegenüber ist die Beobachtung geltend gemacht worden, dass Aufklärung und   Gegen die Auffassung der Aufklärung als Geburtsstunde von Moderne und westlicher Zivilisation sind in der neueren Forschung kritische Einwände vorgebracht worden, so beispielsweise aus kirchengeschichtlicher Perspektive (z. B. Friedemann Stengel: Mit wem sprach Semler? Unterhaltungen mit Lavater oder Johann Salomo Semler und das Ende der Aufklärung. In: Kampf um die Aufklärung? Institutionelle Konkurrenzen und intellektuelle Vielfalt im Halle des 18. Jahrhunderts. Hg. v. Renko D. Geffarth, Markus Meumann, u. Holger Zaunstöck. Halle 2018, 300–334, insbes. 301), in der Geschichtswissenschaft (z. B. Andreas Pečar u. Damien Tricoire: Falsche Freunde. War die Aufklärung wirklich die Geburtsstunde der Moderne? Frankfurt/Main 2015, insbes. 13) sowie in der Esoterikforschung (Monika Neugebauer-Wölk: Aufklärung − Esoterik − Moderne. Konzeptionelle Überlegungen zur Einführung. In: Aufklärung und Esoterik. Wege in die Moderne. Hg. v. M. Neugebauer-Wölk, Renko Geffarth u. Markus Meumann. Berlin 2013, 1–33, hier insbes. 3). 5   Veronika Albrecht-Birkner: Hallesche Theologen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Halle 2019, 9. 6  Vgl. Albrecht Beutel: Kirchengeschichte der Aufklärung. Ein Kompendium. Göttingen 2009, 17–19. 4

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Aufgeklärtheit gerade Gegenstände, nicht etwa Voraussetzung und Ergebnis von Aushandlungen und Debatten sind.7 Entsprechend kann dann auch nicht von vorneherein festgeschrieben werden, wer als „Aufklärer“ zu gelten hat und wer nicht.8 Zudem impliziert die Behauptung solcher Strukturelemente allein in der „europäischen Geschichte“ die Konstruktion eines außereuropäischen Anderen, das an „Aufklärung“ nicht partizipiert oder in dem universalistischen Anspruch von europäischer Aufklärung erst aufgeklärt werden muss(te).9 Im dritten Kapitel dieses Abschnitts werden die Aufklärungsbewegungen in den europäischen Ländern dargestellt. Eine solche Weitung des Blicks über den deutschsprachigen Kontext hinaus fehlt in den meisten anderen kirchengeschichtlichen Überblickswerken zur Aufklärung und erfüllt ein dringendes Desiderat. Sortiert ist die Darstellung nach West-, Mittel-, Süd- und Osteuropa; unter Südeuropa werden dabei die lateinamerikanischen Kolonien mit verhandelt. Unter der Überschrift „Osteuropa“ werden Russland, Ungarn und Polen subsumiert, die Aufklärung sei in Russland „Elitenphänomen von Hof, Adel und gehobene[m] Bürgertum“ geblieben (151). Dass das in „Mitteleuropa“ tatsächlich grundsätzlich anders verlaufen sei, wird in der Forschung schon längere Zeit bestritten.10 Im dritten Teil des Buches wird die orthodoxe Kirche in Russland dann ausführlich verhandelt.11

7  Vgl. Friedemann Stengel: Aufgeklärte Dämonologie. Geister, Seelen und Fluida bei Swedenborg und seinen Rezipienten. In:Von der Dämonologie zum Unbewussten: Die Transformation der Anthropologie um 1800. Hg. v. Maren Sziede u. Helmut Zander. Berlin [u. a.] 2015, 21–46, hier 31. 8   Gegen eine solche Festschreibung dessen, wer als „Aufklärer“ zu gelten habe, anhand von durch Forscher*innnen festgelegten Kriterien richten sich beispielsweise Pečar u. Tricoire: Falsche Freunde [s. Anm. 4], 17. 9   Dabei handelt es sich selbstverständlich um eine Grundsatzentscheidung: Geht man davon aus, dass einem Begriff wie Aufklärung ein transzendentales Signifikat zu Grunde liegt und kann daher ein „Wesen“ der Aufklärung ausmachen und dieses in unterschiedlichen Epochen „finden“? Oder geht man, etwa im Anschluss an Jacques Derrida, davon aus, dass Begriffe erst Realität erzeugen? Für letzteres plädiert beispielsweise Michael Bergunder in seinen grundsätzlichen Überlegungen zum Religionsbegriff: Was ist Religion? Kulturwissenschaftliche Überlegungen zum Gegenstand der Religionswissenschaft. In: Zeitschrift für Religionswissenschaft 19.1, 2011, 3–55. 10   So nimmt Martin Greschat an, dass selbst bei optimistischen Schätzungen nicht mehr als 10 % der Bevölkerung in Europa mit dem „Geist der Aufklärung“ in Berührung gekommen seien, vgl. Martin Greschat: Einleitung. In: M. Greschat: Die Aufklärung. Mainz [u. a.] 1995 (Gestalten der Kirchengeschichte, 8), 7–41, hier 9. 11   Für die Notwendigkeit der Einbeziehung postkolonialer Perspektiven auch in Bezug auf Orthodoxie plädiert Irena Zeltner Pavlović, die bezugnehmend auf Edward Saids Orientalism die Konstruktion auch der Orthodoxie als das „Andere“ in den Blick nimmt; vgl. Irena Zeltner Pavlović: Imagining Orthodoxy. Eine postkoloniale Beobachtungsperspektive des religiös Anderen. In: Ostkirchen und Reformation 2017. Begegnungen und Tagungen im Jubiläumsjahr. Bd. 1: Dialog und Hermeneutik. Hg. v. I. Zeltner Pavlović u. Martin Illert. Leipzig 2018, 217–228. Daniel Cyranka fordert dies für den „Osten“ insgesamt ein; vgl. Daniel Cyranka: Epistemische Grenzverschiebungen in Religionswissenschaft und interkultureller Theologie. Ein Ausblick. In:

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Die europäische Perspektive behält Kirn im Kapitel über die philosophische Aufklärung in Europa bei, kommen doch niederländische, englische und französische Philosophen – ein Fokus auf „Westeuropa“ ist freilich zu beobachten – hier neben Leibniz, Thomasius, Wolff und Kant in den Blick. Spinoza erscheint als „einer der großen Inspiratoren der radikalen Aufklärung“ (155), womit offenbar an Jonathan Israels Trilogie Radical Enlightenment angeknüpft wird, die im Pantheismus Spinozas den Kern von Aufklärung insgesamt behauptet. Auch später wird der Begriff verwendet (z. B. „Radikale theologische Aufklärung“ bei Reimarus, Bahrdt und anderen, 194–197). Wo die Grenze zwischen „radikaler“ und „moderater“ Aufklärung verläuft, müsste noch genauer geklärt werden, zumal weder Reimarus noch Bahrdt als Spinozisten gelten können. Neben den oben genannten deutschsprachigen Vertretern der Aufklärung wird die „Popularphilosophie“ der 1770er und 1780er Jahre genannt (169f.), als deren Hauptvertreter figuriert Christian Garve als Kritiker Kants. Das Kapitel zur Aufklärung im Protestantismus fokussiert anders als die vorangegangenen Abschnitte den deutschsprachigen Raum und ist bei weitem das ausführlichste in diesem Teil des Buches. Kirn unterscheidet dabei zwischen theologischer, kirchlicher und staatlicher Aufklärung – eine Gliederung, die zuweilen die Verzahnung zwischen diesen Formen von Aufklärung – oft waren die sogenannten Aufklärer wie Jerusalem oder Teller ja als theologische Schriftsteller und kirchliche Praktiker zugleich tätig – etwas zu kurz kommen lässt. Der Blick über die Theologiegeschichte hinaus auf frömmigkeitsgeschichtliche und politische Aspekte ist wie schon im Abschnitt zum Pietismus jedoch klar geöffnet. Der Abschnitt zu theologischer Aufklärung stellt insbesondere als wichtig angesehene Theologen wie Sack, Semler und Reimarus vor, wobei zwischen theologischem Wolffianismus, Neologie (noch einmal unterteilt in „linken“ und „rechten“ Flügel, 176), theologischem Rationalismus und der bereits erwähnten radikalen theologischen Aufklärung unterschieden wird. Auch Entwicklungen in der theologischen Wissenschaft wie Neuerungen in den Bibelwissenschaften werden angesprochen; ebenso wie Neologiekritik beispielsweise bei Hamann und Lessing. Während der als Neologe bezeichnete Semler als „Wegbereiter des sog. Neuprotestantismus des 19. Jahrhunderts“ gewürdigt wird (179), vereinfache und vereinseitige der theologische Rationalismus die Neologie und werde – durch wen, erfährt man nicht – „auch rationalismus vulgaris“ genannt (184). Im Kapitel zur kirchlichen Aufklärung werden unter anderem Phänomene wie die Moralisierung der Predigt, Gesangbuch- und Katechismusreformen, Kirchbau und der aufkommende Unionsgedanke beschrieben. Dass sich in der Zeit der Aufklärung eine „nachlassende Prägekraft traditioneller Kirchlichkeit im Rahmen der Subjektivierungs- und Privatisierungstendenzen von Glauben

Wissen um Religion. Erkenntnis-Interesse. Epistemologie und Episteme in Religionswissenschaft und Interkultureller Theologie. Hg. v. Klaus Hock. Leipzig 2020, 365–382.

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und Religion“ (199) zeige, wie Kirn beschreibt, ist in älterer Forschung häufig behauptet worden, wird neuerdings aber in Frage gestellt.12 Ein Anzeichen für diese zurückgehende Kirchlichkeit sieht Kirn im Wegfall des Exorzismus und im Misstrauen gegenüber allem „Magischen“ bei der Taufe; dabei ist allerdings zu sagen, dass der Taufexorzismus keineswegs flächendeckend entfiel. Die erbittert geführten Debatten um ihn sowie um die Bedeutung der Taufe insgesamt, die übrigens im Kontext von theologischen Auseinandersetzungen beispielsweise um Besessenheitsphänomene zu stellen wäre, zeigen, dass in diesen Fragen kein Konsens herrschte.13 Der Abschnitt zu staatlicher Aufklärung erläutert das Verhältnis von Staat und Kirche, Schulreformen und Volksaufklärung. Ein daran anschließendes Kapitel bespricht Pädagogik, Literatur und Kunst und bezeugt damit erneut den wichtigen Ansatz des Verfassers, ein möglichst umfassendes Bild der Epoche zu zeichnen und unterschiedliche Aspekte zu berücksichtigen. Unter dem Abschnitt „Gegenaufklärung“ werden insbesondere Johann Melchior Goeze und das Woellnersche Religionsedikt verhandelt. Der Terminus „Gegenaufklärung“ soll dabei „als dynamischer Konfliktbegriff“ verwendet werden, „welcher die partielle Anverwandlung aufklärerischen Denkens bei den „Gegenaufklärern“ keineswegs ausschließt“ (237). Damit ist klargestellt, dass es sich bei der „Gegenaufklärung“ nicht um eine feststehende, in sich abgeschlossene Größe handelt – die „gegenaufklärerische“ Position entsteht in Abgrenzung und Aufnahme von „aufklärerischen“ Positionen und ist daher fluide. Dies trifft freilich nicht nur auf die „Gegenaufklärung“, sondern auch auf „Aufklärung“ selbst zu, die nicht als feststehende Größe betrachtet werden kann, sodass im Grunde nicht von der einseitigen Rezeption gesprochen werden kann: Nicht nur „Gegenaufklärer“ eigneten sich „aufklärerische“ Positionen an, die Positionen überschneiden sich.14 Mit der Unterstützung für das Woellnersche Religionsedikt sei der „alte Semler […] für viele zu rigoros und ängstlich geworden“ (239). Die Deutung von Semlers Positionen beispielsweise hinsichtlich des Edikts als Alterserscheinung taucht bereits zeitgenössisch, dann aber auch immer wieder in der For-

12   So beispielsweise Angelika Dörfler bezugnehmend auf das Abendmahl: Abendmahl und Aufklärung. In: Christentum im Übergang. Neue Studien zu Kirche und Religion in der Aufklärungszeit. Hg. v. Albrecht Beutel u. Volker Leppin. Leipzig 2006, 185–204. Dörfler spitzt zu, die Aufklärung sei „frömmer“ gewesen „als ihr Ruf“, ebd., 187. 13  Vgl. dazu Thea Sumalvico: Die Debatte um die Taufe in den Gelehrten Journalen des 18. Jahrhunderts. In: Wissen in Bewegung. Gelehrte Journale, Debatten und der Buchhandel der Aufklärung. Hg. v. Katrin Löffler. Stuttgart 2020, 145–156 sowie dies.: Umstrittene Taufe. Kontroverse im Kontext von Theologie, Philosophie und Politik (1750–1800). Halle, Wiesbaden 2022. 14   Hybride Rezeptionen, die aus Ablehnung und Annahme bestimmter Positionen bestehen, sind auch bei sogenannten Aufklärern zu beobachten. Eindrücklich hat Friedemann Stengel das anhand der poststrukturalistischen Theorien Michel Foucaults und Homi K. Bhabas gezeigt; vgl. Friedemann Stengel: Diskurstheorie und Aufklärung. In: Neue Zeitschrift für Systematische Theologie und Religionsphilosophie 61, 2019, 453–489.

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schung auf.15 Damit werden die Positionen Semlers, die nicht ins Bild als „Neologen“ passen, ausgeschlossen oder mit Hilfe psychologischer Argumente marginalisiert. Zudem wirft die Nähe der theologischen Positionen Semlers zum Woellnerschen Religionsedikt auch Fragen hinsichtlich des etablierten Narrativs von Woellners Religionspolitik als „gegenaufklärerisch“ auf: Möglicherweise kehrte Semlers Unterscheidung von öffentlicher und privater Religion hier nicht nur „traditionalistisch gewendet zurück“ (238), sondern das Edikt lässt sich teilweise als Effekt einer bestimmten Theologie deuten, die sich selbst explizit als „aufklärerisch“ versteht.16 Am Schluss des Kapitels zu protestantischer Aufklärung findet sich der Abschnitt „Grundprobleme religiös-kultureller Pluralität: Antikatholizismus, Judenemanzipation, Frauenrechte, Wahrnehmung des außereuropäischen ,Fremden‘“ (241). Die Zusammenstellung dieser Gruppen nimmt das in den Blick, was Autoren des 18. Jahrhunderts als das „Andere“ erschien – und schließt sich damit dem Prozedere des „Othering“ an. Konsequenterweise werden hier dann fast ausschließlich protestantische bzw. männliche bzw. europäische Stimmen betrachtet, die über das jeweils Andere sprechen und urteilen, mit Ausnahme der Erwähnung einiger gebildeter Frauen. Katholische und jüdische Aufklärung werden im Folgenden jedoch in je eigenen Kapiteln verhandelt; so werden ihre Perspektiven einbezogen. Hinsichtlich der Judenemanzipation erscheint Schleiermacher als einer der wenigen Theologen, der sich für bürgerliche Gleichstellung von Juden aussprach (246). Dass Schleiermacher diese Position bezog, weil er sich sorgte, zu viele Juden würden sonst konvertieren und dadurch drohe ein „judaisierendes Christentum“,17 wäre hier zu ergänzen.

15  Vgl. zur Kritik an dieser Forschungsposition z. B. Peter Hanns Reill: Religion, Theology, and the Hermetic Imagination in Late German Enlightenment. The Case of Johann Salomo Semler. In: Antike Weisheit und kulturelle Praxis: Hermetismus in der Frühen Neuzeit. Hg. v. AnneCharlott Trepp, Hartmut Lehmann, Martin Mulsow. Göttingen 2001, 219–234, hier 222. Reill plädiert für die Anerkennung der „complexity of Enlightenment and also ist otherness“, ebd., 232. Dafür, die Fremdheit der s.g. Aufklärung anzuerkennen, sprechen sich auch aus Pečar und Tricoire, Falsche Freunde [s. Anm. 4], insbes. 12. 16   Zur Kritik an der herkömmlichen Deutung des Narrativs über das Religionsedikt s. z. B. Renko Geffarth: [Rezension]: Uta Wiggermann: Woellner und das Religionsedikt. Kirchenpolitik und kirchliche Wirklichkeit im Preußen des späten 18. Jahrhunderts.Tübingen 2010. In: PuN 40, 2014, 278–282 sowie Alexander Schunka: [Rezension] Uta Wiggermann: Woellner und das Religionsedikt. Kirchenpolitik und kirchliche Wirklichkeit im Preußen des späten 18. Jahrhunderts. Tübingen 2010. In: ZHF 41.3, 2014, 553–555; Thea Sumalvico: How Private is Religion? Theological Debates on Privat and Public Religion as a Background for Woellner’s Edict on Religion in Late Eighteenth-Century Prussia. In: KNOW: A Journal on the Formation of Knowledge 7, 1, 2023, 11–34. 17   Friedrich Schleiermacher: Briefe bei Gelegenheit der politisch theologischen Aufgabe und des Sendschreibens jüdischer Hausväter. Berlin 1799, 36; zu Schleiermachers Antijudaismus vgl. auch insgesamt Matthias Blum: „Ich wäre ein Judenfeind?“ Zum Antijudaismus in Friedrich Schleiermachers Theologie und Pädagogik. Köln, Wien 2010.

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Wie schon in Bezug auf die pietistische Mission sollte auch in diesem Unterkapitel eine postkoloniale Perspektive mitberücksichtigt werden: Der Eurozentrismus erscheint als „schwer zu überwindendes Hindernis“, obwohl durch Forschungsreisen zahlreiche Wissenslücken über nichteuropäische Länder geschlossen worden seien (251). Man habe sich um „einen undogmatischen Vergleich der Kulturen und Religion“ bemüht, was „noch […] mit wirkmächtigen Vorurteilen“ verbunden gewesen sei (252). Dass der Eurozentrismus nicht ein von der Aufklärung noch nicht ganz überwundenes, aus vergangenen Zeiten übriggebliebenes Problem darstellt, sondern auch Ergebnis des Kolonialismus des 18. und 19. Jahrhunderts ist, sollte ebenso in den Blick kommen wie die Einsicht, dass der Vergleich zwischen den Kulturen in der Regel eben nicht „undogmatisch“ angestellt wurde, sondern stets einen europäischen „Sehe-Punkt“ hatte.18 Bei der Darstellung katholischer und jüdischer Aufklärung in den beiden folgenden Kapiteln kommen, wie im Kapitel zur protestantischen Aufklärung, sowohl theologische Debatten als auch frömmigkeitsgeschichtliche und politische Aspekte zum Tragen, auch wenn das Gewicht des Buches klar auf dem Protestantismus liegt. Als Ausblick wird am Schluss des Aufklärungs-Teils auf die Amerikanische und Französische Revolution verwiesen, die zwar „keineswegs pauschal der Aufklärungsbewegung zugeschrieben werden können“, aber doch zu ihren „unerlässlichen Bedingungen“ zu zählen seien (289). Der das Buch leitende Ansatz, die Perspektive über den Protestantismus hinaus zu weiten, wird auch in einem dritten Abschnitt des Buches erkennbar, der von Adolf Martin Ritter verfasst wurde. Hier wird ein Überblick über die Geschichte der orthodoxen Kirchen im 17. und 18. Jahrhundert gegeben. Ritter nimmt dabei byzantinisch-orthodoxe, von Byzanz getrennte Nationalkirchen sowie mit Rom unierte Ostkirchen in den Blick. Zudem beschränkt er seine Darstellung nicht nur auf das 17. und 18. Jahrhundert, sondern beleuchtet in historischen Rückblicken auch die Zeit seit der Entstehung des Patriachats von Konstantinopel. So ergibt sich ein Überblick über die Vielfalt orthodoxer Kirchen, der auch für Unkundige gut zugänglich ist. Karten helfen dabei ebenfalls. Die überkonfessionelle Perspektive auf Pietismus und Aufklärung geht über manche anderen Überblickswerke mit Fokus auf das 18. Jahrundert klar hinaus und ist ein Gewinn für Studium und Lehre. Zwar bleibt der Fokus auf Entwicklungen im Protestantismus, doch werden auch die Veränderungen in Katholizismus, Judentum und Orthodoxie schlaglichtartig beleuchtet. Im Blick auf die

18  Vgl. dazu beispielsweise Michael Bergunder: Umkämpfte Historisierung. Die Zwillingsgeburt von Religion und Esoterik in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts und das Programm einer globalen Religionsgeschichte. In: Wissen um Religion [s. Anm. 11], 47–131, hier 57–59. Bezugnehmend auf Dipesh Chakrabarty macht Bergunder deutlich, dass bei einem Vergleich zwischen „Europäischem“ und „Nichteuropäischen“ das tertium comparationis stets aus dem „Europäischen“ abgeleitet und entsprechend der europäische Prototyp universalisiert wird.

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Interaktionen zwischen den einzelnen Konfessionen bzw. Religionen werden Anstöße gegeben, die noch weiter vertieft werden müssten. Es liegt ein Überblickswerk über die Zeit von Pietismus und Aufklärung vor, dessen Stärke insbesondere darin besteht, „Pietismus“ und „Aufklärung“ in einem Buch zu verhandeln und damit nicht als völlig abgeschlossene Entitäten zu betrachten, den Blick über das protestantische, deutschsprachige Milieu zu weiten und theologiegeschichtliche, politische, frömmigkeitsgeschichtliche und kulturelle Aspekte gleichermaßen zu berücksichtigen. Thea Sumalvico

Halle a. d. Saale

Alles in Allem. Die Gedankenwelt des mystischen Philosophen Jacob Böhme: Denken · Kontext · Wirkung. Hg. v. den Staatlichen Kunstsammlungen Dresden, Claudia Brink u. Lucinda Martin. Dresden: Sandstein 2017. – 195 S.; Ill. Grund und Ungrund. Der Kosmos des mystischen Philosophen Jacob Böhme: Aufsatzband. Hg. v. den Staatlichen Kunstsammlungen Dresden, Claudia Brink u. Lucinda Martin. Dresden: Sandstein 2017. – 215 S.; Ill. Die beiden hier zu besprechenden Schriften erschienen begleitend zu der Ausstellung ALLES IN ALLEM. Die Gedankenwelt des mystischen Philosophen Jacob Böhme. Diese inzwischen international gefragte und präsentierte Schau war vom 26. August bis 19. November 2017 im Residenzschloss Dresden zu sehen. Sie bot dort ein „begehbares Gedankengebäude“ (Alles, 9), welches die Philosophie Jacob Böhmes wie auch deren Rezeption multimedial und in einer spezifischen Architektur erschloss, die der von Böhme selbst konzipierten „Philosophischen Kugel“ nachgebildet war. Kuratiert wurde diese Ausstellung durch die Herausgeberinnen der beiden Bände, Lucinda Martin und Claudia Brink, sowie durch Cecilia Muratori; beteiligt war außerdem Iris Yvonne Wagner. Der Band Alles in Allem dokumentiert und vertieft die Inhalte der Ausstellung. Die Aufsatzsammlung Grund und Ungrund präsentiert die Beiträge einer Tagung, die im November 2016 in Vorbereitung der Ausstellung stattfand. Beide Bücher sind ästhetisch sehr ansprechend gestaltet; sie bieten ein stimmiges und interdisziplinär breit aufgestelltes Gesamtarrangement von Beiträgen. Der Band Alles in Allem gibt im Vorwort nähere Einblicke in die Ausstellungskonzeption. Im ersten Teil des Buches (der hier ausführlicher dargestellt sein soll) informieren Lucinda Martin und Cecilia Muratori über das Leben Jacob Böhmes und über die Wahrnehmung seiner Person durch Zeitgenoss*innen und Nachgeborene. In kritischer Sichtung der Quellen und der tradierten Beurteilungen Böhmes wird die Lückenhaftigkeit wie auch Vorurteilshaftigkeit der überkommenen Aussagen zu Böhme herausgearbeitet: So wurzelte der Widerstand gegen Böhme wesentlich in einem Denken innerhalb von Standesgrenzen

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und brachte Charakteristiken wie die eines „fanatischen Schusters“ (24f.) hervor; von seinen Anhänger*innen wiederum wurde Böhme als „Philosoph“ oder als „Prophet“ (25, 27) idealisiert. Darüber hinausgehend skizzieren die Autorinnen eine neue Einschätzung Jacob Böhmes, die ihn als „Autodidakt[en]“ und „Denker“ (30) vorstellt, als politisch wachen wie wissensdurstigen und offensichtlich belesenen Menschen, der eine neue Weltsicht suchte, in welcher er auf dem Weg naturphilosophischer Spekulation religiöse bzw. theologische Überzeugungen und naturwissenschaftliche Einsichten zu vereinen suchte. Als begrifflicher ‚roter Faden‘ erscheint von daher die Bezeichnung „mystischer Philosoph“ (s. die Buchtitel u. ö.). In Verbindung mit prägenden Erfahrungen entwickelte Jacob Böhme ein starkes Sendungsbewusstsein und setzte dieses wesentlich in seinen Schriftwerken und seiner Korrespondenz um. Nach dieser Darstellung zur Person Böhmes führen die Autorinnen in zentrale Begriffe ein, die das Denken und die Philosophie Jacob Böhmes prägten: die Natur als Buch, Finsternis in ihrer Doppeldeutigkeit als Quelle des Bösen wie auch als Grundlage von Licht, Schöpfung als andauernder Prozess, der Kosmos als Raum der Gottesoffenbarung, die Wiedergeburt als wesenhafte Wiederherstellung der Gottebenbildlichkeit des Menschen, das Licht als Ort von Offenbarung und Wiedergeburt, die Freiheit des menschlichen Willens. Diese Kernkonzepte Jacob Böhmes werden den Leser*innen in ebenso gut verständlicher wie auch ihrer Komplexität angemessener Form erschlossen und durch die einbezogenen bildlichen bzw. figürlichen Darstellungen weitergehend veranschaulicht. Sehr gut ist es den Autorinnen gelungen, Böhmes Aussagen zu systematisieren und die zentralen Begriffe seiner Philosophie in ihrer Eigenständigkeit wie auch im wechselseitigen Zusammenhang zu erläutern.1 Ein zweiter Abschnitt des Bandes analysiert den zeitgeschichtlichen Kontext von Böhmes Wirken genauer. Claudia Brink, Dirk Syndram und Peter Plaßmeyer stellen politische und wissensgeschichtliche Entwicklungen um 1600 dar und arbeiten Tendenzen der Religionspolitik im Umfeld Jacob Böhmes wie auch prägende naturwissenschaftliche Erkenntnisse und damit verbundene neue Weltsichten heraus und zeigen auf, wie Letztere eine neue Wertschätzung von Anschauung (z. B. in Kunstkammern) bedingten. In anregender Weise wird der Zusammenhang beschrieben, innerhalb dessen das Streben Jacob Böhmes nach einer Weltsicht, die Religion bzw. christliche Theologie und Wissen integriert, plausibel wird; daneben werden Inspirationsquellen seiner Philosophie identifiziert. Der dritte Abschnitt des Buches richtet das Augenmerk auf die Einflüsse, welche das Denken Jacob Böhmes auf spätere Generationen ausübte, und setzt dabei einen Schwerpunkt im künstlerischen Bereich. Exemplarisch werden

1   Für weitergehend Interessierte hätte gelegentlich ein kurzer Verweis auf entsprechende Artikel im Band Grund und Ungrund erfolgen können (z. B. zu den Begriffen Freiheit, Schöpfung, Wiedergeburt, Licht und Finsternis).

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diese Wirkungen Böhmes von Holger Birkholz zur Epoche der Romantik sowie von Luisa Calè und Iris Yvonne Wagner zu einzelnen Künstlern (William Blake2, Johannes Itten, Wassily Kandinsky, Hans Arp) dargelegt, wobei sowohl direkte Anknüpfungen an Jacob Böhme als auch kritische Rezeptionen seiner Ideen herausgearbeitet werden. Deutlich wird, dass Grundideen Jacob Böhmes wie z. B. der naturphilosophische Ansatz und die Suche nach einem „Gesamtzusammenhang“ der Welt oder die Idee des „inneren Sehen[s]“ zeitübergreifend eine inspirierende Wirkung entfalten und entfaltet haben und z. B. für Kunstauffassungen prägend wurden. Der Aufsatzband Grund und Ungrund und die ihm zugrundeliegende internationale Tagung geben einen guten Überblick zum Stand der Forschungen über Jacob Böhme und sein Werk und zeigen Perspektiven für weitere wissenschaftliche Arbeiten zu diesem Forschungsfeld auf. Im Vorwort konstatieren die Herausgeberinnen, dass der Schwerpunkt des neu erwachten wissenschaftlichen Interesses an Jacob Böhme bisher auf der Rezeption seiner Ideen liegt, dass jedoch – wie es in den Artikeln des Bandes auch wiederholt deutlich wird – daneben ebenfalls die Forschungen zu Person und Werk Böhmes fortgeführt und intensiviert werden sollten. Diesem Anliegen ist die vorliegende Aufsatzsammlung verpflichtet. Sie vereint historische und theologische, philosophiehistorische sowie literatur- und sprachwissenschaftliche Studien zum Werk Jacob Böhmes in englischer und deutscher Sprache. Das Vorwort und die zur ersten Orientierung im Buch sehr nützlichen Abstracts sind zweisprachig abgedruckt, was angesichts der Internationalität der Zielgruppe einen deutlichen Mehrwert darstellt. Daneben erleichtern verschiedene Register die Arbeit mit dem Band. Die einzelnen Beiträge der Sammlung widmen sich zentralen Begriffen und Konzepten Jacob Böhmes, teilweise auch deren werkimmanenter Entwicklung bzw. Modifikation; daneben sind Böhmes Methodik, die zeit- und ideengeschichtliche Verortung von Person und Werk sowie editorische Fragen Gegenstand der Aufsätze. Sibylle Rusterholz und Kristine Hannak befassen sich mit den Konzeptionen von Finsternis und Licht in der Philosophie Jacob Böhmes und befragen diese auf ihre Konsequenzen für die Gotteslehre und die Metaphysik des Bösen. Massimo Luigi Bianchi erörtert die voluntaristisch verfasste Vorstellung Böhmes von der göttlichen Selbstwerdung. Lucinda Martin erläutert die Grundlinien der Schöpfungslehre Jacob Böhmes sowie seine Einbeziehung alchemistischer Vorstellungen und Begriffe, des Weiteren systematisiert sie die von Böhme verwendeten Metaphern für Schöpfung. Die Ausführungen von Wilhelm Schmidt-Biggemann zur Qualitä-

2   Der Artikel zu Blake wirkt etwas deplatziert innerhalb der Gesamtanlage des Bandes, da die Bezüge auf Jacob Böhme bzw. die Rezeption von dessen Ideen in dieser Darstellung eher marginaler Art sind.

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tenlehre Jacob Böhmes sowie von Mike A. Zuber zu dessen Lehre von der Wiedergeburt zeigen auf, welchen Wandlungen die Denkkonzepte Böhmes unterlagen, und identifizieren prägende Einflussfaktoren der Philosophie Böhmes in seinen verschiedenen Wirkungsphasen. Jan Rohls zeigt auf, wie Jacob Böhme sich mit seinem Konzept der Wiedergeburt sowohl gegenüber der calvinistischen Lehre von der doppelten Prädestination als auch gegenüber der protestantischen (forensischen) Rechtfertigungslehre abgrenzte. Leigh T.I. Penman arbeitet die Bedeutung des Motivs „Pilgerschaft“ in Denken und Schriften Jacob Böhmes heraus und kontextualisiert dieses sowohl zeit- als auch ideengeschichtlich. Cecilia Muratori legt am Begriff „Philosophia“ beispielhaft dar, in welcher Weise Jacob Böhme lateinische Worte gezielt verwendet, um von ihm selbst neu konstruierte Begrifflichkeiten bzw. Bedeutungen zum Ausdruck zu bringen. Tünde Beatrix Karnitscher widmet sich dem Motiv „Klang“ im Denken Jacob Böhmes und zeigt die konzeptionelle wie auch methodische Bedeutung akustischer Sinneseindrücke für dessen Weltsicht auf. Friedrich Vollhardt verortet den Denkansatz Jacob Böhmes zeit- und ideengeschichtlich innerhalb laientheologischer Bewegungen, die sich institutionenkritisch positionierten, einen erfahrungsbasierten Zugang zum Göttlichen favorisierten und nach einer „Reformation des Lebens“ (Grund, 12) strebten. Andrew Weeks widmet sich der Frage nach einer angemessenen Edition und Übersetzung der Schriften Böhmes und führt seinen „kontextualisierten“ Lösungsansatz (Grund, 26), der Quelle, Übersetzung und Kommentar vereinigt, beispielhaft anhand eines Abschnitts aus den Drey Principien des göttlichen Wesens vor. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die beiden hier besprochenen Bände einen gelungenen und wesentlichen Beitrag dazu leisten, Leben und Werk Jacob Böhmes einem breiteren Personenkreis zu erschließen und die Erforschung seines Lebenswerks zu intensivieren, und dass sie eine ebenso angenehme wie informative Lektüre bieten. Claudia Neumann

Halle a. d. Saale

Die Hungarica Sammlung der Franckeschen Stiftungen zu Halle. Alte Drucke 1495–1800. 2 Bde. Hg. v. Brigitte Klosterberg u. István Monok, bearbeitet von Attila Verók. Budapest: MTA Könyvtár és Információs Központ 2017 – XLII, 740 S.; 492 S.1 Ungarn und Siebenbürgen in ihren Beziehungen zu West- und Osteuropa sowie zum Osmanischen Reich wahrzunehmen und zu erforschen, ist ein viel

  Im Folgenden kürze ich das Werk mit „Verók, Die Hungarica-Sammlung“ ab.

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beackertes Feld.2 Da die Diskursteilnehmenden aus vielen verschiedenen Ländern und Forschungstraditionen kommen, was sich allein schon aus der Vielzahl der Nachfolgestaaten des frühneuzeitlichen Ungarns ergibt, sind Hilfsmittel zur Quellenerschließung von außerordentlichem Wert für Forschende aus allen Disziplinen. Diese Hilfsmittel besitzen darüber hinaus auch eine koordinierende Eigenschaft, indem sie zentrale Bezugspunkte über den jeweiligen Forschungskontext hinaus etablieren.3 In Die Hungarica Sammlung der Franckeschen Stiftungen zu Halle widmet sich Attila Verók den Beständen mit Bezügen zum Donau-Karpatenraum in den Historischen Sammlungen der Franckeschen Stiftungen. Als Teil der Reihe „Materialien zur Geschichte der Geistesströmungen des 16.–18. Jahrhunderts in Ungarn“ knüpft es an die Arbeitsweise der Reihe an, archivbezogene Quellenarbeit zu erleichtern, wie es der Verfasser bereits in seiner Dissertation Lesestoffe der Siebenbürger Sachsen. 1575–17504 geleistet hat. In seiner knappen einführenden Studie, „Die hallisch-ungarischen Kulturkontakte im Spiegel der historischen Sammlungen der Franckeschen Stiftungen zu Halle“,5 beschreibt Verók die Bedeutung, die der Grundlagenforschung zu den Hungarica in Halles Historischen Sammlungen zukommt. Seine Darstellung beginnt er dabei mit einer Beschreibung der Geschichte der Historischen Bibliothek in Halle bis in die heutige Zeit. Darin erläutert der Verfasser die verschiedenen Typen der Bücherakkumulation, von ihrer Funktion als Waisen­ hausbibliothek bis zu der neuen Doppelrolle „als Buchmuseum wie als Forschungsbibliothek“.6 Für Forschende zum Donau-Karpatenraum sind jedoch besonders die Nennungen am Ende des Abschnitts interessant, die auf bestimmte Beispiele besonderer Provenienz hinweisen: Darunter fallen etwa die Bibliothek von Heinrich Milde, die zahlreichen und polyglotten Bibelausgaben oder die Drucke des Ibrahim Müteferrika. Die proklamierte Bedeutung der hallischen Quellen untermauert Verók zudem auf Basis der Beziehung von Halle und Ungarn mit Hilfe der Forschungsergebnisse zur ungarischen Studierendenperegrinatio. So ist die Ausstrahlung der Wittenberger Universität für das 16. Jahrhundert bereits seit Längerem bekannt – ebenso wie die Attraktivität anderer mitteldeutscher Univer-

2   Vgl. z. B. Jan-Andrea Bernhard: Konsolidierung des reformierten Bekenntnisses im Reich der Stephanskrone. Ein Beitrag zur Kommunikationsgeschichte zwischen Ungarn und der Schweiz in der frühen Neuzeit (1500–1700). Göttingen 2015; oder Gerald Volkmer: Siebenbürgen zwischen Habsburgermonarchie und Osmanischem Reich. Völkerrechtliche Stellung und Völkerrechtspraxis eines ostmitteleuropäischen Fürstentums 1541–1699. München 2015. 3   So exemplarisch für alle Personen, die zum ungarländischen Buchdruck der Frühen Neuzeit arbeiten: Régi magyarországi nyomtatványok. Hg. v. Gedeon Borsa [u. a.]. Budapest, Akad. Kiadó 1971–2012. 4   Lesestoffe der Siebenbürger Sachsen. 1575–1750. Hg. v. István Monok, Peter Ötvös u. Attila Verók. Budapest 2004. 5   Verók, Die Hungarica-Sammlung [s. Anm. 1],VII-XXX. 6   Verók, Die Hungarica-Sammlung [s. Anm. 1], XII.

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sitäten.7 Darüber hinaus verweist er auch auf die hohe Dichte unterschiedlicher Forschungsfelder – wie etwa der Medizin, der Pädagogik, der Theologie und der Geschichtswissenschaft –, die sich mit diesen Kulturkontakten in ihren jeweiligen Gebieten befassen. Daran anschließend stellt Verók kurz die numeralen Befunde der Arbeit vor. Dabei differenziert er zwischen Portraits, Landkarten, Handschriften und Drucken und nennt, um das Gewicht seiner Studien zu betonen, die Zahl der aufgefunden und bisher von der Forschung kaum benutzten oder unbenutzten Quellen. Um dieses Beziehungsgeflecht abschließend zu konkretisieren, führt Verók zwei Beispiele einer solchen Verbindung an. Er wählt zunächst die Bibliothek des Martin Schmeizel, der als Siebenbürger Sachse in Halle lehrte. Dieser besaß die erste Fachsammlung mit Bezug auf Ungarn und Siebenbürgen, welche wiederum in den historischen Sammlungen der Franckeschen Stiftungen aufgegangen ist. Die zweite Beziehung wird durch die Rezeption hallescher Bücher und pietistischer Gedanken in Siebenbürgen selbst skizziert, wobei der Verfasser seine eigenen, aktuellen Forschungsinteressen etwa zu Samuel von Bruckenthal vorstellt. Seine einführende Darstellung resümierend, hält Verók eines der zentralen Ergebnisse der Studie fest. Dies bestehe darin, dass durch diese Arbeit auch neue Quellenfunde getätigt werden konnten, die bisher noch nicht von Forschenden fruchtbar gemacht wurden. Das gelte insbesondere für Personen, deren Forschungsinteresse auf die deutschsprachigen Minderheiten Ungarns, v.a. auf die Zipser und Siebenbürger Sachsen, ausgerichtet ist. An diese knappe Präsentation des Arbeitsinteresses und der Geschichte der Bestände schließt sich der mehr als 1000-seitige Katalog der Hungarica an. Hierbei definiert Verók den Begriff Hungarica in fünffacher Weise, indem er zwischen „Texten in ungarischer Sprache“, „Druckwerken aus Offizinen Ungarns“, „Werken von ungarländischen Autoren“, „ausländischen Druckwerke, die einen Ungarnbezug aufweisen“ sowie „Drucken mit ungarländischer Provenienz“ unterscheidet.8 Mit dem, nach der Darstellung des Verfassers, traditionellen und gleichzeitig erweiterten Verständnis von Hungarica wird der Arbeit „ein[] weite[r], plastische[r] Begriff der Hungarica zu Grund [gelegt], um möglichst viele Titel zu Tage zu fördern“.9 Von dieser Unterscheidung aus differenziert er 15 verschiedene Gattungen, mit deren Hilfe der Verfasser das Werk systematisiert. Diese, teilweise etwas kleinteilig anmutenden, Kategorien werden dann im Hauptteil den jeweiligen Funden zugeordnet. Dabei entsteht eine qualitative Zuordnung, die eine 7   Márta Fata, Gyula Kurucz u. Anton Schindling: Peregrinatio Hungarica. Studenten aus Ungarn an deutschen und österreichischen Hochschulen vom 16. bis zum 20. Jahrhundert. Stuttgart 2006. 8   Verók, Die Hungarica Sammlungen [s. Anm. 1], XXXI-XXXIV. 9   Verók, Die Hungarica Sammlungen [s. Anm. 1], XXXII-XXXIII.

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schnelle, inhaltliche Erstbewertung ermöglichen kann. In dieser Unterteilung wird auch das Feld des Buchbesitzes – und damit die Rezeption des Buches – eigens in den Kategorien 13 bis 15 mitbedacht. Folgerichtig führt Verók daher auch Dubletten und Druckvarianten auf. Diese Einteilung findet schließlich besondere Verwendung, wenn man auf die letzten Seiten des zweiten Bandes blickt. Denn in den dort vorfindlichen Registern bündelt das Werk, für Forschende aller Felder praktikabel, die Befunde. Die fünf verschiedenen Überblicke nach Personen, Orten, Druckern und Verlegern, Druck- und Verlagsorten und den 15 oben genannten Gattungen sowie die chronologische Gesamtdarstellung bieten auf noch einmal 172 Seiten das Werkzeug, um den Katalog Veróks produktiv zu nutzen. Es lässt sich also festhalten: Mit Die Hungarica Sammlung der Franckeschen Stiftungen zu Halle hat die ungarische Forschung wieder einmal ein besonderes Hilfsmittel für die Bearbeitung der kulturellen Verflechtungen im Donau- und Karpatenbecken mit einem Zentrum religiöser Kultur im 17. und 18. Jahrhundert, Halle an der Saale, geliefert. Forschende, die sich mit dieser Fragestellung beschäftigen, können dieses Werk – insbesondere zur schnellen Ersterschließung der Quellen – nutzen. Eine zentrale Stärke des Werkes liegt darin, Praktikabilität sicherzustellen: Die Endregister ermöglichen es den Forschenden, trotz der zunächst ausufernd erscheinenden Quellenfülle, das Werk zielgerichtet und auf die eigenen Forschungsinteressen zugeschnitten, zu benutzen. Ob sich aber die genaue Gattungseinteilung Veróks dafür ebenso anbietet, ist eine Frage, die die Forschung selbst erst noch klären muss. Das schmälert aber in keiner Weise die Bedeutung dieses Werks, sondern regt vielmehr die kritische Prüfung der Kategorien – insbesondere in der Buchrezeptionsforschung – an. Verók selbst hat der Forschung dafür mit seiner Zusammenstellung ein zweifelsohne nützliches Handwerkzeug mitgegeben. Frank Krauss

Herrsching

(1) „Mit kräfftigen Gesängen die Gemeinde GOttes zu erbauen“. Das Lied der Reformation im Blickpunkt seiner Rezeption. Hg. v. Wolfgang Hirschmann, Hans-Otto Korth u. Wolfgang Miersemann. Halle/Saale,Wiesbaden:Verlag der Franckeschen Stiftungen, Harrassowitz Verlag 2018 (Hallesche Forschungen, 52). – XVII, 410 S.; Ill., Noten. Musik, und insbesondere der Gemeindegesang, spielen in der lutherischen Reformation eine zentrale Rolle. Umso mehr verwundert es, dass die Rezeption des reformatorischen Liedgutes in unterschiedlichen Territorien sowie in je spezifischen konfessionellen und kulturellen Traditionszusammenhängen bisher vergleichsweise wenig untersucht worden ist. Hier schließt der vorliegende Band, der auf eine Tagung an den Franckeschen Stiftungen zu Halle im März

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2017 zurückgeht, eine Lücke. In der Verbindung von musikwissenschaftlichen, theologischen und literarhistorischen Aspekten wird diese Rezeptionsgeschichte in unterschiedlichen Facetten beleuchtet. Flankiert wurden Tagung und Tagungsband von zwei Editionsprojekten, die sich der Praxis Pietatis Melica (1640) von Johann Crüger sowie dem sogenannten Freylinghausenschen Gesangbuch (1704) widmeten, zwei Gesangbüchern, die nicht nur weite Verbreitung im 17. und 18. Jahrhundert gefunden haben, sondern auch Anlass für Kontroversen zwischen lutherisch-orthodoxen und pietistischen Strömungen wurden. Den beiden Gesangbüchern sowie der Rezeption des reformatorischen Liedes im Pietismus wird daher in dem Band besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Wie die Herausgeber in der Einleitung erläutern, wurde in dem Band eine thematische Gruppierung der Beiträge, die dem Tagungskonzept entsprochen hätte, zugunsten einer „stärker chronologischen Anordnung modifiziert“ (VIII). Darüber hinaus wurden zwei weitere Beiträge aufgenommen, wodurch „das Buch nun einen großen Bogen vom frühen 16. Jahrhundert bis ins 19. Jahrhundert [spannt]“ (VIII). So sehr dieses „Panorama von Fallstudien, Tiefenbohrungen, methodischen Erörterungen und Überblicksdarstellungen“ (IX) fasziniert und einen Einstieg in die Rezeptionsgeschichte des reformatorischen Liedes an unterschiedlichen Stellen erlaubt, erschwert das Konzept im Gegenzug eine strukturierte Orientierung im weiten Feld dieser Rezeptionsgeschichte. Allerdings tritt durch die weitgehend chronologische Anordnung der Beiträge die Vielschichtigkeit und Dynamik des Rezeptionsprozesses mit seinen permanenten Überschreibungen, Veränderungen, Adaptionen und Neuaneignungen deutlicher in den Vordergrund; ein Prozess, der übrigens schon bei Luther selbst beginnt, wie der erste Beitrag des Bandes von Hans-Otto Korth zeigt, der sich den Beziehungen zwischen den beiden Luther-Liedern Jesus Christus unser Heiland, der von uns den Gotteszorn wandt und Jesus Christus, unser Heiland, der den Tod überwand (beide von 1524) widmet. Er nimmt von der Beobachtung seinen Ausgang, dass trotz der Initialkontrafaktur auf den ersten Blick keine weitere Gemeinsamkeit zwischen den Liedern bestehe: „Sie haben verschiedene Strophenformen und Melodien; und selbst das seinerzeit zugkräftige Element übereinstimmender Tonalität fehlt“ (3). Auch sind sie für zwei unterschiedliche liturgische Anlässe verfasst. Ihr Zusammenhang bestehe vielmehr in einer „Art Vexierspiel“ (4), das in der „Identität theologischer Prämissen“ (5) gründet und von dort aus unterschiedliche musikalische Realisierungen erfahren habe, die jedoch wechselseitig aufeinander bezogen bleiben. Dieser Zusammenhang spiegelt sich in der Rezeptionsgeschichte wider: „Von Anfang an also besteht zwischen dem Abendmahls- und dem Osterlied ein Beziehungsreichtum […]. Die Verknüpfungen setzten mit der Entstehung der beiden Lieder ein, und noch im selben Jahr wurden sie weiter ausgebaut“ (14). Die Beiträge des Bandes lassen sich grosso modo in zwei Gruppen einteilen, zwischen denen es selbstverständlich eine Reihe von Übergängen gibt: Die erste Gruppe besteht aus musik- und kirchengeschichtlichen Untersuchungen, die nach der Editionsgeschichte, den konfessionellen Hintergründen und der

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Verwendung einzelner Lieder in ihrem jeweiligen historischen Kontext fragen. Die zweite Gruppe wird von Beiträgen gebildet, die Teile dieser Rezeptionsgeschichte in größeren zeitlichen, räumlichen oder thematischen Zusammenhängen nachzeichnen. Sie lässt sich nochmals in solche Aufsätze unterteilen, die das Rezeptionsgeschehen in unterschiedlichen Ländern und Regionen verfolgen (wie etwa in Skandinavien, Estland oder der Slowakei), und solche, welche die Rezeption einzelner Lieder oder eines bestimmten Liedgutes in unterschiedlichen Epochen zum Thema haben. So widmet sich der Beitrag von Konrad Klek der Rezeption von Lutherliedern bei Felix Mendelssohn Bartholdy, während Dietrich Merzbacher in einem weiten historischen Bogen der Rezeption reformatorischen Liedgutes in drei Erzähltexten von Herzog Anton Ulrich, Jean Paul und Theodor Fontane nachgeht. Jenseits aller Unterschiede, die nicht zuletzt von den historisch divergenten Textmodellen herrühren, zeigen die Beispiele, wie sehr literarhistorisch das protestantische Kirchenlied lutherischer Prägung im Alltagsleben präsent gewesen ist. In Fontanes Roman Vor dem Sturm (1878) erscheint es derart habitualisiert, dass es sogar dazu dienen kann, „Charaktere und Situationen zu kennzeichnen“ (343). Spätestens hier wird deutlich, dass die Rezeptionsgeschichte des reformatorischen Liedes zugleich eine Mentalitätsgeschichte des Luthertums und der von ihm geprägten Gesellschaften ist. Dies unterstreicht auch der Beitrag des französischen Historikers Patrice Veit, der auf einer im Wortsinn protestantischen Dimension dieses Liedgutes insistiert, indem er es als soziokulturelle wie mediale Praxis begreift: „Das Singen der Lieder macht die Anfälligkeit des öffentlichen Raumes für Provokationen deutlich“; es zeige „eine gewisse Neigung zur Gewalt, die den Reformatoren des 16. Jahrhunderts durchaus eigen war“ (113). Das protestantische Kirchenlied fungiere nicht zuletzt als Instrument für Gruppenbildungsprozesse, die inkludierend bei der Identitätsbildung lutherischer Glaubensgemeinschaften wirken und zugleich exkludierend nach Außen, so dass sich in der Liedpraxis „die Trennungslinien zwischen katholischer und protestantischer Glaubenswelt im Alten Reich am deutlichsten zeigten“ (124). Dem Beitrag von Veit, der in durchaus kritischer Distanz den religions- wie kulturgeschichtlichen Hintergrund für eine Reihe von Aufsätzen in dem Band umreißt, hätte man einen etwas prominenteren Platz, beispielsweise am Beginn des Bandes, gewünscht. Der herausragenden Bedeutung des reformatorischen Liedgutes für das protestantische Selbstverständnis widmen sich auch die Beiträge zu den Reformationsjubiläen von 1717 (von Wolfgang Hirschmann) und 1817 (von Bernhard Schmidt). Hirschmann konzentriert sich dabei auf die von Ernst Salomon Cyprian herausgegebene Dokumentation unter dem Titel Hilaria Evangelica (1719) und betont anhand der dort wiedergegebenen Festbeschreibungen, dass man „das Ganze des Festtages im Auge behalten [muss], wenn man die Stellung und Eigenart eines musikalischen Elementes innerhalb dieses Festtages beurteilen will“ (360). Ähnlich geht auch Schmidt vor, der die musikalische Aufführungspraxis zum Reformationsjubiläum von 1817 am Beispiel der Berliner Dreifal-

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tigkeitskirche untersucht. Wünschenswert wäre an dieser Stelle ein weiterer Beitrag gewesen, der den Blick auf die Reformationsjubiläen von 1617 und 1917 gerichtet hätte, die beide im Schatten großer Kriege und konfessioneller Konflikte standen. In ihnen wäre eine andere Rezeptionshaltung dem reformatorischen Lied gegenüber sichtbar geworden, bei der weitaus stärker die konfessionelle Militanz dieser Lieder, auf die Patrice Veit in seinem Aufsatz hingewiesen hat, im Mittelpunkt stand. In der Zusammenschau der Beiträge fällt generell das Konflikthafte und Konfliktbehaftete dieser Rezeptionsgeschichte ins Auge. Das hat mindestens ebenso sehr mit dem protestantischen Entstehungskontext der Lieder wie mit der sprichwörtlichen Streitbarkeit der lutherischen Theologie im Allgemeinen und der lutherischen Theologen im Speziellen zu tun. Als besonders umkämpft erweisen sich in diesem Zusammenhang die Gesangbücher, die für die jeweilige Landeskirche nicht nur die liturgische Praxis, sondern auch die jeweilige Ausprägung lutherischer Frömmigkeit bis in die Privatandachten hinein prägen wollen. Sie sind Medien der Rezeptionsgeschichte lutherischer Liedkultur und Medien des Streits über diese Rezeptionsgeschichte in einem. Hier schließt sich der Kreis zu den eingangs erwähnten Editionsprojekten, welche die Tagung flankiert haben. Eines davon, die historisch-kritische Neuausgabe des Crügerischen Gesangbuches, der Praxis Pietatis Melica, bildet den Forschungskontext für den Beitrag von Wolfgang Miersemann, der an diesem Beispiel zeigt, „dass sich Streit über Veränderungen an Kirchenliedern besonders in Zeiten scharfer konfessioneller Auseinandersetzungen entzündet hat“ (62). In diesem Fall handelt es sich um eine innerkirchliche Opposition in Brandenburg am Ende des 17. Jahrhunderts. Miersemanns Nachforschungen nehmen von einer Marginalie ihren Ausgang, die leicht zu übersehen ist. Sie findet sich im Kontext der Kontroversen um Änderungen − heute würde man sagen: Modernisierungen − an reformatorischen Liedern, wie sie auch in den Neuauflagen von Crügers Gesangbuch vorgenommen wurden. Die kriminalistisch anmutende Spurensuche des Autors führt schließlich zu dem in Frankfurt an der Oder wirkenden Theologen Adam Sellius, der „als Repräsentant der offenbar nicht unbedeutenden widerständigen Kräfte unter den märkischen Lutheranern“ (68f.) gelten kann. Im Zuge dieser innerkonfessionellen Auseinandersetzungen verlor Sellius nicht nur sein Amt, sondern wurde kurzzeitig in Küstrin inhaftiert und schließlich ins Elsass zwangsversetzt. Gespannt folgt man den Ausführungen Miersemanns, die, von der erwähnten Marginalie in einem Gesangbuchstreit ausgehend, ein Licht auf Deutungskonkurrenzen im Luthertum am Ende des 17. Jahrhunderts werfen, in denen sich bereits der Aufstieg des Pietismus ankündigt. Denn die Auseinandersetzung um die Tradierung reformatorischen Liedgutes in den Gesangbüchern steht letztlich exemplarisch für „tiefgreifende frömmigkeitsgeschichtliche Wandlungsprozesse um 1700“ (89). Der Beitrag Miersemanns zeigt, was Philologie als Methode im Idealfall leisten kann: An einem auf den ersten Blick randständigen Textzeugen wird ein ganzer ideen- und kulturgeschichtlicher

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Komplex sichtbar, der auch deshalb weitgehend in Vergessenheit geraten konnte, weil diejenige Seite, die sich in dem Konflikt durchgesetzt hat − in diesem Fall: die lutherische Obrigkeit − in Gestalt des kurfürstlichen Druckprivilegs über die medialen Mittel verfügte, die Texte der anderen Seite in das klandestine Schrifttum absinken zu lassen, so dass Sellius „in keinem modernen Handbuch verzeichnet“ (64) ist. Dank des ebenso detektivischen wie philologischen Spürsinns von Wolfgang Miersemann kennen wir nun diese Gegenstimme und verstehen die konfessionelle wie politische Brisanz der zeitgenössischen Auseinandersetzungen um die lutherischen Gesangbücher weitaus besser.Wohl nicht nur hier erscheint die Rezeptionsgeschichte des reformatorischen Liedes „nachgerade als ein Politikum“ (70). Mit dem Tagungsband liegt eine gelungene Übersicht zur Rezeption des reformatorischen Liedes vor, die gerade in ihrer Vielschichtigkeit und Vielstimmigkeit hörbar wird. Die große historische, thematische und geographische Breite ermöglicht dabei immer wieder Ausflüge in weniger bekannte Gebiete. Deutlich wird, dass diese Rezeptionsgeschichte einen Kernbestandteil lutherischer Frömmigkeit bildet; und zwar auch und gerade in ihren Widersprüchen und Konflikten. Künftige Forschungen werden daher an vielen Stellen an die Beiträge des vorliegenden Bandes anschließen können. Dirk Rose

Innsbruck

(2) „Mit kräfftigen Gesängen die Gemeinde GOttes zu erbauen“. Das Lied der Reformation im Blickpunkt seiner Rezeption. Hg. v. Wolfgang Hirschmann, Hans-Otto Korth u. Wolfgang Miersemann. Halle/Saale,Wiesbaden:Verlag der Franckeschen Stiftungen, Harrassowitz 2018 (Hallesche Forschungen, 52). – XVII, 410 S.; Ill., Noten. Der vorliegende Aufsatzband ist das Ergebnis einer Tagung im Jahr des Reformationsjubiläums 2017. Der Band enthält 20 Aufsätze, von denen 17 als Vorträge auf der Tagung gehalten wurden. Drei Autoren wurden zusätzlich um einen Beitrag gebeten, um die Vielfalt und Spannbreite des gesteckten Themas zu verdeutlichen bzw. abzurunden. Im Vorwort der Herausgeber erfahren wir die Beweggründe für die Veranstaltung der Tagung. Nach der gründlichen hymnologischen Aufarbeitung des Liedes der Reformation in den letzten Jahren und Jahrzehnten kann nun der Blick auf seine Wirkungsgeschichte gerichtet werden. Diese soll keinesfalls nur die Geschichte der Gesangbücher und des gottesdienstlichen Singens umfassen, sondern darüber hinaus auch theologische, literarische, musik- und kulturgeschichtliche Aspekte zur Sprache bringen. Um der Komplexität des großen Themas gerecht zu werden, wurden die Vorträge auf der Tagung in verschiedenen thematischen Sektionen gehalten. Der Aufsatzband setzt die einzelnen Bei-

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träge in eine eher chronologische Reihenfolge, wobei die thematischen Schwerpunkte (Hymnologie, Musikgeschichte, europäisches Ausland, Reformationsjubiläen) klar zu erkennen sind. Das doppelte Thema von Tagung und Aufsatzband wirft Fragen auf: Zum einen geht es entsprechend dem Untertitel um die Rezeptionsgeschichte des Liedes der Reformation, d. h. des Liedes der jungen protestantischen Kirche im 16. Jahrhundert, mit dem neue Glaubensinhalte artikuliert und weitergetragen worden sind.Wie verhält sich dazu aber das als Obertitel gesetzte Zitat? Es suggeriert, dass sich die Rezeption des Liedes der Reformation unter dem Anspruch ereignete bzw. ereignet, „mit kräfftigen Gesängen die Gemeinde GOttes zu erbauen“. Hier muss man fragen: Ist die Kraft des Liedes der Reformation so stark, dass auch der wachsende historische Abstand seiner Wirkung keinen Abbruch tut? Oder geht es nicht auch in einem größer gefassten Sinn um das Weitertragen von Glaubensbotschaften im Lied, angestoßen durch die Reformation, aber dann in einer jeweils aktuellen Sprache? Doch zunächst zurück zum Untertitel des Aufsatzbandes: Schon der erste Blick ins Inhaltsverzeichnis zeigt die Komplexität des gesteckten Themas. Es geht um eine Rezeptionsgeschichte in allen Facetten, um die Überlieferung reformationszeitlicher Lieder in den Gesang- und Choralbüchern, um die Veränderungen und Anpassungen von Texten und Melodien, um den Einsatz von Liedern zu Festen und Jubiläen, um ihre Integration in die figurale Kirchenmusik und sogar in die Literatur. Natürlich konzentriert sich der Begriff Lied der Reformation auf die Schöpfungen Martin Luthers, aber nicht ausschließlich. Dianne M. McMullen beispielsweise legt eine aufschlussreiche Studie über den Theologen und Liederdichter Michael Weiße und das Gesangbuch der Böhmischen Brüder von 1531 vor, das sie auf Grund seines Umfangs von 157 Liedern als das erste deutschsprachige Gesangbuch bezeichnet. Die Verfolgung der Böhmischen Brüder hat eine weite Verbreitung ihres Liedgutes nachhaltig behindert. Viele Gläubige wanderten nach Amerika aus und nahmen ihre Lieder mit; davon zeugt das von der Autorin untersuchte Gesangbuch von Christoph Sauer aus Germantown, Pennsylvania (1762). Darüber hinaus kann sie einen schmalen Rezeptionsstrang in deutschen Choralbüchern des 18. Jahrhunderts aufzeigen. In unserem heutigen Evangelischen Gesangbuch sind immerhin noch neun Lieder Michael Weißes vorhanden. Irmgard Scheitler widmet ihren Beitrag der Rezeption lateinischer Hymnen in der evangelischen Kirche. Obwohl Luther sich keinesfalls für die Abschaffung lateinischer Gesänge ausgesprochen hatte, gab es viele Stimmen, die darin Überbleibsel der papistischen Kirche sahen. Bewusst bewahrend schätzt die Autorin die Bemühungen des Zittauer Schulrektors Christian Weise ein, der in seinen hymnologischen Weihnachtsactus (eine besondere Untersuchung erfährt der aus dem Jahr 1697) Neuübersetzungen lateinischer Weihnachtslieder schuf, die sich metrisch genau den alten Gesängen anpassten. „Wenn Weise die Schönheit ihrer Melodien hervorhebt, so stimmt er in diesem Punkt ganz mit Luther überein.“ (220)

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Der Beitrag von Maik Richter widmet sich dem reformatorischen Liedgut in lutherischen Messkompositionen der Barockzeit. Im Sinne der Parodiemesse wurden Liedmelodien als cantus firmi in mehrstimmigen Messordinarien verarbeitet; dies betrifft weniger konzertant angelegte Messen als solche in einem motettischen Stil (der Begriff a cappella-Messe scheint hier weniger stimmig). Dass auch neuere Lieder für ein solches Bearbeitungsverfahren ausgewählt wurden, ließ sich in Ausnahmen feststellen. Die Konzentration auf die reformationszeitlichen Lieder liegt für den Autor auf der Hand: Sie waren bekannt und theologisch unangefochten. Es stellt sich die Frage, ob nicht auch ihre ungebundene Metrik ein motettisches Verarbeitungsverfahren besonders gut ermöglichte. Andere Aufsätze grenzen den Terminus Lied der Reformation auf die Schöpfungen Martin Luthers ein. Luther hielt seine ersten Psalmlieder zunächst für eine vorläufige Lösung, und umso mehr können wir darüber staunen, welche Wirkmächtigkeit sie durch die Jahrhunderte hindurch entfalteten. Natürlich kommt vieles zusammen: Die plastischen Texte, die unverkennbaren (metrisch ungebundenen und harmonisch noch nicht festgelegten) Melodien, die Art der Verbreitung und nicht zuletzt die Autorschaft des Reformators. Die Wirkung der Lieder Luthers in der Zeit ihrer Entstehung, die Singschlachten, die sich Protestanten und Katholiken mitunter lieferten, werden beschrieben im Beitrag von Patrice Veit Das lutherische Lied aus kulturgeschichtlicher Perspektive. Durch die internationale Besetzung der Konferenz wird die Strahlkraft von Luthers Liedern über die deutschen Grenzen hinweg thematisiert. Eberhard Harbsmeiers Aufsatz über Martin Luthers Lieder in der dänischen Tradition berichtet von einem lebendigen Umgang mit den Liedern des Reformators in einem Land, das durch die Geschichte hindurch ein enges Verhältnis zu Deutschland hatte. Kristel Neitsov-Mauer widmet ihren Beitrag Martin Luthers Lieder[n] in Estland. Sie untersucht evangelische Gesangbücher in estnischer Sprache (das erste von 1638, das letzte von 1991) und kommt zu einem erstaunlichen Resultat: Zwar nimmt die Anzahl der Luther-Lieder nach und nach ab; das heute noch gebrauchten Gesangbuch von 1991 enthält aber immerhin noch 21 von 37 Liedern des Reformators. Einen ganz anderen Aspekt der Luther-Rezeption berührt die Abhandlung Konrad Kleks über Felix Mendelssohn Bartholdy und Martin Luther. Die Beziehung Mendelssohns zu Luther ist nach Klek keine Frage des konfessionellen Bekenntnisses, sondern gestaltete sich über Luthers wortmächtige Dichtungen, die den Komponisten geradezu „elektrisierten“. Ein kleines Bändchen mit Luthers Liedtexten (die Melodien musste er sich extra dazu aufschreiben) nahm Mendelssohn mit auf Reisen, und ausgerechnet im katholischen Rom schrieb er sechs Choralkantaten nach lutherischen Kirchenliedern. Mendelssohns treffende Charakterisierung von Luthers Dichtungen („Wie da jedes Wort nach Musik ruft, wie jede Strophe ein anderes Stück ist, wie überall ein Fortschritt, eine Bewegung, ein Wachsen sich findet […].“) stellt Klek seiner Beschreibung der Choralkantaten voran, in denen Mendelssohn die Texte nahezu unverändert

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übernahm, während er mit „der Cantus firmus-Treue ziemlich variabel“ (301) umging. Am Schluss des Bandes finden sich zwei Aufsätze zu Reformationsjubiläen. Wolfgang Hirschmann konnte für seine Ausführungen über Luthers Lieder und die Festmusiken zum Reformationsjubiläum 1717 eine wohl einzigartige Quelle auswerten: HILARIA EVANGELICA aus dem Jahr 1719, eine Sammlung von „Acten und Materialien“ zum Reformationsfest 1717, zusammengestellt von dem Gothaer Theologen und Bibliothekar Ernst Salomon Cyprian. Aus den Beschreibungen der Festabläufe vieler Städte und Gemeinden greift der Autor die kleine Stadt Löbau in der Lausitz heraus, wo ein dreitägiges Fest stattfand, das ganz von der Musik getragen wurde. Kirchenlieder wurden vom Turm geblasen, bei Umzügen gesungen, sie erklangen im gottesdienstlichen Gesang sowie in der figuralen Kirchenmusik. „[…]; über achtzigmal wurden Lieder und Liedstrophen an den drei Tagen in den verschiedenen Aufführungszusammenhängen musiziert.“ (356) Man bekommt einen Eindruck von der verbindenden Kraft des Kirchenliedes als gemeinsamer Sprache einer ganzen Stadt. Das selbstverständliche Miteinbeziehen neuerer Lieder zeigt, wie wenig restaurativ das Luther-Jubiläum 1717 angelegt war. Das Reformationsfest von 1817 trug in dieser Hinsicht einen anderen Charakter, folgt man den Ausführungen von Bernhard Schmidts Arbeit Lied und Musik bei den Feiern zum Reformationsjubiläum 1817. Bei der Auswahl der Lieder für die Festgottesdienste stellt Schmidt eine deutliche Konzentration auf Luthers Ein feste Burg ist unser Gott und Herr Gott, dich loben wir sowie auf Rinckarts Nun danket alle Gott fest, wobei das erstgenannte der absolute Spitzenreiter war. Dieses Lied wurde nicht nur gesungen und musikalisch bearbeitet. Es stand wie kein anderes für den siegreichen Protestantismus; seine Anfangszeile wurde in Fahnen gestickt und in Festdichtungen zitiert. Der restaurative Charakter des Festes äußerte sich auch in allerlei volkstümlichen Begleiterscheinungen wie der Neubekleidung von Altären und Kanzeln, der Umkränzung von Luther-Büsten, in Luther-Eichen und LutherGebäck – all dies vom Verfasser als „katholisierend und geradezu kitschig“ (375) charakterisiert. Die Beschreibung der Festgottesdienste in der Berliner Dreifaltigkeitskirche unter Schleiermacher mit neuen Liedern und eigenen theologischen Akzenten deutet Schmidt als „eigenwillig und zukunftsorientiert“ (386), ganz im Sinne von Schleiermachers bekanntem Ausspruch: „Die Reformation geht noch fort.“ (385) „Mit kräfftigen Gesängen die Gemeinde GOttes zu erbauen“ – den Obertitel zur Tagung und zum Aufsatzband wählten die Veranstalter bzw. Herausgeber aus dem Vorwort zum ersten Band des Freylinghausenschen Gesangbuchs (1704). Dieser Titel steht für eine zweite und weiter gefasste Seite der Rezeption des reformationszeitlichen Liedes. Bernhard Schmidt beschreibt dies in Bezug auf Schleiermacher: Eine Reformation, die „fortgeht“, muss „auch hymnologisch und liturgisch innovativ sein“ (385). Luthers Theologie der Musik und seinen Liedschöpfungen entspringt der zutiefst reformatorische Gedanke, das Gotteslob immer in der Sprache der Zeit zu artikulieren. Diese Entwicklung ist selten

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widerspruchsfrei vor sich gegangen. Die Aufsätze von Wolfgang Miersemann und Andreas Waczkat beispielsweise beschäftigen sich mit der Gesangbuchgeschichte des 17. und frühen 18. Jahrhunderts und den theologischen Auseinandersetzungen um das neue (pietistisch geprägte) Lied mit „,zierliche[r] Melodey‘ und ,zierlichen Red=Arten in Versen‘“ (43). „Neue“ Lieder heben sich nach Andreas Waczkat von den „alten“ durch die Berücksichtigung der Reimregeln Martin Opitz’ ab. Das Nebeneinander von reformationszeitlichen Liedern und denen des 17. Jahrhunderts in den Gesangbüchern erregte den Widerstand lutherisch-orthodoxer Theologen, und dies vor allem, weil damit ein gottesdienstlicher Gebrauch der neuen Lieder intendiert war. Die sensationell hohen Auflagezahlen vor allem der PRAXIS PIETATIS MELICA zeigen aber, dass sich die beliebten Lieder – auch im Gottesdienst – durchsetzen konnten. Die Auseinandersetzungen zwischen orthodox und pietistisch geprägten Geistlichen sieht auch Peter Wollny als Hintergrund zu einer speziellen Formentwicklung innerhalb des Kantatenschaffens von Johann Schelle. Der Leipziger Thomaskantor hatte in seinen Kantatenjahrgang von 1683/84 schlichte vierstimmige Sätze aus dem Gesangbuch des Gottfried Vopelius integriert, um der Gemeinde die Mitwirkung an der figuralen Kirchenmusik zu ermöglichen. Nach heftiger Kritik durch den Leipziger Bürgermeister ließ er jedoch von diesem Verfahren wieder ab und wandte sich einem früheren, bereits bewährten Kantatentyp zu. In diesen Kontext gehören auch drei Aufsätze, denen das große Verdienst zukommt, den Blick auf das Singen der christlichen Gemeinde bis in die Gegenwart gerichtet zu haben. Dietrich Meyer untersucht den Einfluss Luthers auf die Herrnhuter und speziell auf Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf, dessen dichterische Sprache sich unter dem Einfluss des Reformators charakteristisch verändert hat: „Weg von poetischer Künstlichkeit hin zu der Einfalt und Glaubenserfahrung Luthers, […].“ (240) Bekannt sind die Brüdergemeinen bis heute für ihre liturgische Arbeit. An ausgewählten Beispielen zeigt der Autor, dass der ständigen Anpassung und Weiterentwicklung einer Liturgie letztlich das lebendige Gottesdienstverständnis Luthers zu Grunde liegt. Die kraftvollen Lieder des Reformators spielen in Herrnhut ungebrochen eine wichtige Rolle und werden innerhalb der liturgischen Abläufe regelrecht „in Szene gesetzt“ (246). Die Aufsätze von Eberhard Harbsmeier und Jørgen Kjœrgaard untersuchen die Rezeption der Lieder Luthers in den skandinavischen Kirchen und stellen erstaunliche Ergebnisse vor. In Dänemark begegnet ein sehr entspanntes Verhältnis Luthers Liedern gegenüber; sie werden in romantischen Umdichtungen und auf Melodien aus der Erweckungsbewegung gesungen. Der Autor charakterisiert dies treffend durch die Bemerkung seines deutschen Kindermädchens, in Dänemark singe man Choräle wie Volkslieder. In der schwedischen und in der norwegischen Kirche spielen Luthers Lieder im Gemeindegesang kaum mehr eine Rolle. Jørgen Kjœrgaard spricht dennoch – oder gerade deswegen – von einem Liederfrühling im Norden von der Reformationszeit bis heute. Durch die Geschichte hindurch nennt er Liederdichter, vielfach Pfarrer, die sich

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an der Sprache der Menschen und ihren Glaubenserfahrungen orientieren. Lieder des 20. und 21. Jahrhunderts sind gezeichnet von Unbestimmtheit, Zweifel und vagem Suchen; übersetzt sind sie von Jürgen Henkys, dem auch unser Gesangbuch eine ganze Reihe wertvoller Lieder verdankt. „Die Herausgeber hoffen, dass dieses Panorama von Fallstudien, Tiefenbohrungen, methodischen Erörterungen und Überblicksdarstellungen der Vielgestaltigkeit der rezeptionsgeschichtlichen Phänomene, die mit dem Lied der Reformation verbunden sind, einigermaßen gerecht wird und eine in diesem Sinne anregende Lektüre bieten kann.“ (Vorwort, IX) In der Tat erweckt das Lesen dieses Aufsatzbandes den Eindruck von vielen kleinen Leuchtfeuern, die aus einem großen Berg herausschießen. Und dieser Berg verkörpert die christlich-evangelische Gesangskultur, die durch die Jahrhunderte hindurch den Menschen Lebensinhalt war bzw. bis heute ist. Der Umfang einer Rezension macht es nicht möglich, alle Aufsätze gleichermaßen zu würdigen, obwohl sie es alle verdient hätten. Den Herausgebern sei abschließend gedankt für die überaus anregende Lektüre. In jedem Fall bleibt der Wunsch nach einer Fortsetzung dieses Forschungsvorhabens. Franziska Seils

Halle/Saale

Die Kantate als Katalysator. Zur Karriere eines musikalisch-literarischen Strukturtypus um und nach 1700. Hg. v. Wolfgang Hirschmann u. Dirk Rose. Berlin, Boston: De Gruyter 2018 (Hallesche Beiträge zur Europäischen Aufklärung, 59). – VI, 354 S.; Ill. Der viel beschworene Stilwandel in der Musik um 1600 bringt mit der Sonate und der Kantate in Italien zwei summarisch benannte, formal aber unbestimmte Gattungen hervor: die eine als Klingstück mit solistischen Instrumenten, die andere als Singstück mit solistischer Vokalstimme. Rund ein Jahrhundert sollte es im Fall der Kantate dauern, bis sich daraus in einem musiktheoretisch seinerzeit kaum reflektierten Prozess eine mehr oder weniger stabile Gestalt herausbildete, die sich in grundsätzlicher struktureller Offenheit in der Abfolge von erzählenden Rezitativen und reflektierenden Arien manifestiert. Da viele Dichter von Kantatentexten und viele der Komponisten auch auf dem Gebiet der Oper aktiv waren, ist leicht nachvollziehbar, dass die Kantate viele Gestaltungselemente sowohl auf textlicher wie auch auf musikalischer Ebene mit der Oper teilt. Und dies gilt auch für den Sonderfall der protestantischen Kirchenkantate, selbst wenn hier biblische Dicta und Choralstrophen in die Satzfolge eingereiht werden. Wolfgang Hirschmann und Dirk Rose, die hier die gesammelten Beiträge eines 2014 veranstalteten Symposiums vorlegen, stellen ihrem Band die Grundannahme voran, dass die Kantate aufgrund dieser geringen Regulierung in

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Verbindung mit einer ebenfalls als wesentlich verstandenen Anlassbezogenheit „zu einem der Katalysatoren für jenen kulturellen Wandel werden konnte, der mit dem Übergang vom ‚Barock‘ zur ‚Aufklärung‘ assoziiert wird.“ (2) Barock und Aufklärung werden von den Herausgebern demnach nicht epochal verstanden, sondern als umfassende kulturelle Phänomene mit Implikationen, die über Literatur und Musik weit hinausreichen. Dass Barock und Aufklärung schon im deutschsprachigen Raum, erst recht aber im europäischen Kontext durchaus divers zu verstehen sind, ist dabei vorauszusetzen und findet einen, wenngleich sehr sparsamen, Reflex in den Beiträgen dieses Bandes. Der zweite Teil nämlich kreist unter dem Stichwort „Kantatentransfers“ um die Kantate im europäischen Kontext. Ihm voran steht ein Teil „Kantatenanfänge“, in dessen Zentrum allerdings nicht die frühen italienischen Beiträge des 17. Jahrhunderts, sondern die sich im deutschsprachigen Raum ab der Wende zum 18. Jahrhundert etablierenden Werkkomplexe stehen. Der dritte Teil lenkt unter der Überschrift „Kantatenaffekte“ den Blick auf poetologische, theologische und moralische Aspekte deutschsprachiger Kantaten, bevor der abschließende vierte Teil unter der Überschrift „Kantatenwelt“ auf Sammlungs- und Verwendungszusammenhänge von Kantaten fokussiert. Dass die Kantate dem von den Herausgebern formulierten Titel zufolge ein Strukturtypus sei, ist gewissermaßen ein tertium comparationis, das unterschiedlichen möglichen Auffassungen Rechnung trägt, wie sie sich auch in den einzelnen Beiträgen spiegeln. Mit mehr oder weniger großem Erfolg wird man die Kantate auch als Gattung oder als Form definieren können, wobei die Erfolgsaussichten desto größer sind, je stärker man sich auf einzelne Teilbereiche konzentriert. Dies nimmt Irmgard Scheitler in ihrem einleitenden Beitrag über Die Kantate als dramatischer Text vor, in dem sie Gedanken über die Entstehung der Kantatenform vorstellt. Diese sieht sie im Anschluss an Autoren des 18. Jahrhunderts wesentlich von einer musikdramatisch motivierten Abfolge von Rezitativen aus freimadrigalischen Versen und Arien, die möglicherweise auch Strophenlieder sein können, bestimmt. Ein sehr weitreichender Gedanke, den Scheitler mit Beispielen aus der Dichtung der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts umfassend untermauert, lautet, die Genese der neuen Gattung aber nicht in der Mehrsätzigkeit, vielmehr im Redekriterium, in einer bestimmten Sprechhaltung zu sehen. Ist die protestantische Kirchenkantate des neueren Typs insbesondere durch die einflussreichen und vielfach vertonten Dichtungen des zunächst in Weißenfels und Sorau, hauptsächlich aber in Hamburg wirkenden Erdmann Neumeister im Allgemeinen mit dem mittel- und norddeutschen Raum assoziiert, lenkt Joachim Kremer dagegen den Blick auf die Kantate im deutschen Südwesten zwischen 1700 und 1760, und hier besonders auf die Werke des Stuttgarter Hofkapellmeisters Johann Georg Christian Störl. Anhand der erhaltenen Kompositionen sieht Kremer hier eine Orientierung der Kantaten weniger an der Oper als vielmehr am pietistischen Liedideal. Ausblicke auf Kantatenjahrgänge späterer Komponisten zeigen, dass es auch in Württemberg großes Interesse am Gat-

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tungstypus der Kirchenkantate gegeben hat, wenngleich ohne Patronage des Hofes. Mit den Dichtungen Erdmann Neumeisters setzen sich Michael Maul und Wolfgang Miersemann auseinander. Maul sieht in verschiedenen Leipziger Entwicklungen seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts Inspirationsquellen für Neumeisters Geistliche Cantaten: den madrigalischen Dichtungen Caspar Zieglers, der Vertonung von zyklischen Zusammenstellungen von Textdichtungen in einem Jahrgang für die Sonn- und Festtage eines Kirchenjahrs durch den Thomaskantor Sebastian Knüpfer, und ebenso der Kombination aus biblischen Dicta und strophischen Arien, die von Knüpfers Nachfolger Johann Schelle in einem Kantatenjahrgang konsequent umgesetzt worden ist. Nicht zu unterschätzen ist schließlich, dass Neumeister als Student in Leipzig enge Kontakte zur dortigen Opernszene unterhalten hat. Miersemann knüpft in seinem Beitrag, der Forschungserträge zu Neumeisters Geistlichen Cantaten referiert und offene Fragen dazu formuliert, auch an diesen letzten Punkt in Mauls Text an. Die offenen Fragen betreffen im Wesentlichen Neumeisters Werdegang als Kantatendichter sowie die Entstehungsumstände des ersten Kantatenjahrgangs. Für beides erweist sich der Mangel an biographischen Zeugnissen aus den Jahren vor Neumeisters Anstellung am Weißenfelser Hof als entscheidendes Hindernis. Zur Kantate im europäischen Kontext enthält der Band drei Aufsätze, von denen sich zwei der italienischen, einer der französischen Kantate widmen. Klaus Pietschmann stellt am Beispiel einer Kantate, die als diegetische Musik innerhalb von Antonio Vivaldis Oper L’incoronazione di Dario fungiert, die Wechselbeziehungen zwischen der italienischen Kantaten- und Opernproduktion um 1700 dar und unterzieht das Beispiel einer minutiösen Analyse, die die gänzlich private Dimension von Kantatenproduktion und -performanz aufzeigt. Ausgehend von der Beobachtung, dass das Thema Liebe in der weltlichen Kantatenpoesie eine herausragende Rolle spielt, vergleicht Berthold Over Liebeskonzeptionen in italienischen und deutschen Kantatentexten. Italienische Texte erweisen sich dabei als unbestimmter, um mehr unausgesprochene Deutungen in einem Subtext verbergen zu können, während deutsche Texte weitaus konkreter gehalten und Teil des protestantischen Moraldiskurses sind. Erst durch diese Transformation wird die Kantate tauglich zur Verbreitung auch theologischer Inhalte, wobei die eigentlichen Wege der Kenntnisnahme italienischer Texte in Deutschland noch kaum erforscht sind. Auch in Frankreich lösen italienische Kantaten um die Wende zum 18. Jahrhundert die Produktion von Kantatentexten in französischer Sprache aus. Maßgeblich werden die Texte von Jean-Baptiste Rousseau. Diese geben Herbert Schneider Anlass, einen Korpus von 192 Kantaten aus der Zeit von 1703 bis 1725 zu untersuchen und darin nach Gestalt und Funktion der frühen französischen Kantate zu fragen. In gewisser Weise hätte auch Bernhard Jahns Beitrag zu moralischen Charakteren in der Kantate noch in den zweiten Teil „Kantatentransfers“ gepasst, denn Jahn stellt hier die Zusammenhänge zwischen moralischen Kantaten und den

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aus England assimilierten moralischen Wochenschriften dar, die in der Thematisierung moralischer Charaktere eine gemeinsame Schnittmenge haben. Die Katalysatorfunktion der Kantate wird in diesem für die Frühaufklärung wichtigen Bereich besonders deutlich.Welche normativen Aspekte der Kantate in der deutschsprachigen Dichtungstheorie von Spätbarock bis Spätaufklärung zugeschrieben werden, untersucht Stefanie Stockhorst. Die Kantate ist hierbei ein Gegenstand, der es erlaubt, seine Wahrnehmung von der präskriptiven Regelpoetik des Spätbarocks hin zur aufklärerischen Ästhetik in einem Längsschnitt nachzuzeichnen. Wesentlich auf Johann Jakob Rambach konzentriert, diskutiert Julian Heigel die Legitimation der Kantate mithilfe des hallisch-pietistischen Affektkonzepts. Rambach ist dabei in zweierlei Funktion wichtig: als Theologe, der dieses Affektkonzept systematisiert, wie als Dichter erbaulicher Kantatentexte.Texte und Musik der Kantaten sind gleichermaßen dadurch legitimiert, dass mit ihnen gewünschte Affekte ausgelöst, unerwünschte Affekte aber zurückgedrängt werden. Rambachs Geistliche Poesien sowie Johann Friedrich Helbigs Kantatenjahrgang Auffmunterung zur Andacht stehen im Zentrum der Untersuchungen von Gunilla Eschenbach zum Metapherngebrauch in diesen Kantatentexten. Während Metaphern in Rambachs galanten Kantaten häufig eingesetzt werden, sind sie in Helbigs am Ideal des Gemeindegemäßen ausgerichteten Texten deutlich seltener. Rambachs Metaphern sind zudem semantisch offener, während Helbig, dessen Metaphern auf verschiedenen Ebenen auch einmal widersprüchlich sein können, die theologische Exegese unmittelbar anschließt. In der „Kantatenwelt“ des vierten Teils konzentrieren sich zwei Beiträge auf die Hamburger Aktivitäten Georg Philipp Telemanns. Steven Zohn untersucht Telemanns Moral Publishing Project: die Veröffentlichung moralischer Kantaten, Lieder und Oden zwischen 1728 und 1741. Auch hier treten die Autorinnen und Autoren der Dichtungen häufig im Zusammenhang mit moralischen Journalen in Erscheinung. In Telemanns Vertonungen finden sich viele liedhafte Arien, oftmals mit Tanzrhythmen; eine Kompositionsart, die in Johann Adolph Scheibes Critischem Musicus als „mittlere Schreibart“ rubriziert wird. Ann Le Bar analysiert am Beispiel von Telemanns Publikationen die Karriere der Kantate als Konsumgut, wobei sie den Kontext des Konsumverhaltens im frühaufklärerischen Hamburg und dessen zeitgenössische Kritik erhellt. Allerdings machen Kantaten nur einen kleinen Teil von Telemanns musikalischen Publikationen aus; zu differenzieren sind auch verschiedene Adressatenkreise. Welche Transformation die italienische Kantate im Deutschland des frühen 18. Jahrhunderts erlebt hat, ist in einigen Beiträgen thematisiert worden. Mit seiner Übersicht über die weltliche Kantate in Hamburg zwischen 1700 und 1715 macht Hansjörg Drauschke indes deutlich, dass es hinter dieser Transformation auch eine veritable produktive Rezeption italienischer Kantaten durch deutsche Komponisten gibt. Zumal in einem urbanen Zentrum wie Hamburg wird daran deutlich, dass die italienische Kantate keinesfalls ein höfisches Genre ist. Die sozialen Orte dieser italienischen Kantaten unterscheiden sich signifi-

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kant von jenen der deutschsprachigen weltlichen Kantaten, indem sie mit professionellem Personal bei regelmäßigen Konzerten vor Adligen und Gesandten aufgeführt worden sind. Arien, Kantaten und Opern, die als „eingestreute Poesien“ in Romanen des frühen 18. Jahrhunderts erscheinen, sind abschließend der Gegenstand von Olaf Simons, der einige Beispiele einer ausführlichen Analyse unterzieht. Die Perspektive ist freilich die des Romans als kritisierter Gattung, die Freiräume bietet, die Gegenwart innerhalb des Romans zu inszenieren und zu fixieren, wobei die ästhetische Kritik am Roman einerseits, an Kantate und Oper andererseits erstaunlich korrelieren. Dieser Sammelband dokumentiert ein durchaus mutiges Vorhaben, denn die Kantate, sei sie nun Form, Gattung oder musikalisch-literarischer Strukturtypus, wird man als Phänomen der europäischen Kultur nicht einmal quantitativ seriös umreißen können. Und so muss einstweilen auch offenbleiben, was diesem Band angesichts der überwiegenden Konzentration der Beiträge auf den protestantischen mittel- und norddeutschen Raum sachlich eigentlich alles fehlt. Dass ein geweiteter Blick eine differenziertere Auseinandersetzung mit der Grundannahme der Herausgeber mit sich gebracht hätte, darf gleichwohl vorausgesetzt werden. Auch so allerdings bleibt am Schluss die etwas ernüchterte Feststellung, dass die angenommene Katalysatorfunktion der Kantate nur in einer Minderheit der Beiträge überhaupt zur Sprache kommt, während man bei nicht ganz wenigen Texten denken könnte, man habe das so oder so ähnlich schon einmal irgendwo gelesen. Andreas Waczkat

Göttingen

Hallesche Pastoren in Pennsylvania, 1743–1825. Eine kritische Quellenedition zu ihrer Amtstätigkeit in Nordamerika. Bd. 1: Lebensläufe und Diarien. Hg. v. Mark Häberlein [u. a.]. Bearb. v. Wolfgang Splitter [u. a.]. Halle/Saale,Wiesbaden:Verlag der Franckeschen Stiftungen, Harrassowitz Verlag 2019 (Hallesche Quellenpublikationen und Repertorien, 15.1). – XLVII, 581 S.; 2 Einlegekarten. Bd. 2: Lebensläufe und Diarien. Hg. v. Mark Häberlein [u. a.]. Bearb. v. Wolfgang Splitter [u. a.]. Halle/Saale 2019 (Hallesche Quellenpublikationen und Repertorien, 15.2). – XXXV, 536 S.; 2 Einlegekarten. Die hier rezensierten Bücher sind Teil einer umfassenderen, auf insgesamt acht Bände angelegten Edition von Quellen zum Aufbau eines eigenständigen deutsch-lutherischen Kirchenwesens in den britischen Nordamerikakolonien mit dem Zentrum Pennsylvania. Bekanntlich wurde dieser Aufbau maßgeblich durch Pastoren geleistet, die an den Glauchaschen Anstalten ausgebildet wurden und enge Verbindung nach Halle hielten, von wo der Prozess auch bis ins frühe 19. Jahrhundert unterstützt und begleitet wurde. Bisher hat sich das Interesse der

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Forschung stark auf den großen ‚Gründervater‘ Heinrich Melchior Mühlenberg (1711–1787) konzentriert, dessen Tagebücher und Briefe längst in englischen und deutschen Editionen vorliegen. Die Leitungsrolle des 1742 nach Pennsylvania übergesiedelten Mühlenberg war unbestreitbar wichtig. Dennoch kann der langfristige Erfolg des von ihm 1748 geschaffenen Ministeriums und das Wachsen der mit diesem Leitungsgremium assoziierten Gemeinden nur befriedigend erklärt werden, wenn man die Lebensleistungen seiner weithin unbekannten Mitstreiter und Nachfolger der zweiten und dritten Generation in den Blick nimmt. Zwischen 1744 und 1786 wurden nach Mühlenberg insgesamt weitere 13 Pfarrer von Halle aus über London nach Pennsylvania entsandt. Der letzte dieser Hallenser Pastoren, Justus Heinrich Christian Helmuth (*1745), starb 1825. Mit der aus einem DFG-Projekt hervorgegangenen Edition ermöglichen die Herausgeber Mark Häberlein,Thomas Müller-Bahlke und Hermann Wellenreuther nun erstmals umfassende Einsichten in die Welt dieser pietistischen Pioniere. Insgesamt wurden nicht weniger als 694 Dokumente aus den Beständen der Franckeschen Stiftungen und weiteren Archiven auf beiden Seiten des Atlantiks ausgewählt. Die Texte wurden zwischen 1743 und 1825 niedergeschrieben und stammen aus den Federn von 26 (Haupt-)Verfassern, darunter jeweils 13 Pastoren und 13 Vorgesetzte und enge Mitarbeiter in Halle und London. Die Durchführung des Projekts leitete Dr. Wolfgang Splitter, der mit seinem Team stupende Arbeit geleistet hat, der man nur den allerhöchsten Respekt zollen kann. Die zu Grunde gelegten (und im ersten Band ausführlich erklärten) editorischen Prinzipien zielen auf eine möglichst diplomatisch-getreue Wiedergabe der Handschriften, wobei dankenswerter Weise behutsame Modernisierungen und Vereinheitlichungen vorgenommen werden, um die bessere Lesbarkeit zu gewährleisten. Zusätzlich bietet die Edition hilfreiche textkritische sowie biographische und historische Anmerkungen. So wird eine gut zugängliche Materialbasis geschaffen für eine umfassende Neubewertung der Frühzeit der deutsch-lutherischen Kirche in der Neuen Welt und ein sehr reichhaltiger Quellenbestand erschlossen, der aus einer Vielzahl von Forschungsperspektiven interessant ist, nicht zuletzt natürlich für die neuere Kirchengeschichte und Pietismusforschung. Die Gesamtedition ist nach Quellengattungen unterteilt. Die hier näher besprochenen Bände 1 und 2 umfassen Lebensläufe und Tagebücher von 12 der 13 Pastoren. In den Bänden 3 bis 7 sind dann vor allem Briefe der 13 nach Pennsylvania entsandten Pfarrer nach Halle und London, aber auch Schreiben von dort nach Pennsylvania und weitere Amtsdokumente enthalten. Alle Teilbände haben eigene Orts- und Personenregister, aber erst Band 8 wird dann neben den entsprechenden Gesamtregistern auch ein Sachregister sowie einen Personenglossar enthalten. Die Qualität des Sachregisters wird entscheidend dafür sein, wie gut die Edition ihr Material thematisch bzw. konzeptionell für

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Nutzer erschließt. Dies wird auch die Rezeption wesentlich mitbestimmen. Die kurzen Einleitungen zu den Teilbänden berühren jeweils einzelne Gesichtspunkte, bieten aber keine systematischen Einführungen seitens der Herausgeber. Diese wären durchaus wünschenswert gewesen, um das Material im Anschluss an die vorhandene Sekundärliteratur besser zur Geltung zu bringen. Im Folgenden sollen einige Schlaglichter auf einzelne Aspekte und Möglichkeiten geworfen werden, was zukünftige Forschung mit dem reichhaltigen Fundus anfangen könnte, den bereits die ersten beiden Bände bieten. Die selbstverfassten Lebensläufe konzentrieren sich ganz überwiegend auf die Biographien der Pastoren bis zu ihrem Amtsantritt in Pennsylvania. Sie sind gerade für die sozial- und bildungsgeschichtliche Erforschung des Halleschen Pietismus, aber auch die Frömmigkeitsgeschichte sehr relevant. Die Lebensläufe verraten viel über das Milieu, aus dem die Glauchaschen Anstalten eine Großzahl ihrer Mitarbeiter v.a. in den mitteldeutschen Territorien rekrutierten. Sie lässt sich als eine dörflich-kleinstädtische Mittelschicht mit starker Bildungsorientierung charakterisieren, die häufig bereits pietistisch vorgeprägt war. Nicht selten waren es Bildungsaufsteiger, die auf die nicht eben begehrten Stellen in der Neuen Welt vermittelt wurden. Weiterführende Einsichten lassen sich auch gewinnen über das Theologiestudium, die religiöse Sozialisierung innerhalb der Kirche, aber auch im Kontext pietistischer Kleingruppen und über die breite oder, wie man heute sagen würde, interdisziplinäre Ausbildung der Kandidaten in Glaucha. (Bemerkenswert sind allerdings die nicht vorhandenen oder sehr schlechten Englischkenntnisse vieler Kandidaten, die sie dann mühsam in Pennsylvania aufbessern mussten.) Immer wieder tritt die besondere Bedeutung von pietistischen Mentoren und Professoren hervor. Frömmigkeitsgeschichtlich zeigen die Lebensläufe in sehr interessanter Weise die Selbstdeutung des eigenen Weges zum Glauben entsprechend einem für den Halleschen Pietismus der Zeit typischen Narrativ von Bekehrung und Wiedergeburt. Dieses unterscheidet sich einerseits markant von dem anderer erwecklicher Protestanten, weist andererseits aber erhebliche innere Varianzen auf. Dem durch August Hermann Francke selbst mitgeschaffenen Muster folgend, wird überall die Bedeutung des Bußkampfes akzentuiert. Ein datierbarer ‚Durchbruch‘ findet sich aber keineswegs in allen Lebensläufen. Häufig werden Bekehrung und die Hinwendung zu Gott als langwieriger Prozess mit vielen Höhen und Tiefen beschrieben. Im Gegensatz etwa zu den Herrnhuter Lebensläufen, aber auch den „conversion narratives“ anglo-amerikanischer Evangelikaler des 18. Jahrhunderts fällt auf, dass es keine Erwartung gab, die neue Geburt im Glauben müsse sich durch einschneidende und heftige emotionale Erfahrungen manifestieren. Gemeinsam ist allen Lebensläufen aber die für den lutherischen Pietismus kennzeichnende Rede von immer wiederkehrenden Anfechtungen­– ein Motiv, das auch in den Diarien sehr häufig vorkommt. In fast allen Fällen ringen die Kandidaten auch mit der Berufung nach Pennsylva-

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nia, die als von Gott gestellte Aufgabe, aber auch als schwere Prüfung gedeutet wird. Man wusste nicht nur um die enormen Herausforderungen und widrigen Umstände in Amerika, sondern verstand die Entscheidung auch als endgültigen Abschied von seinem alten Leben. Zu Recht, denn keiner der entsandten Pastoren hat die alte Heimat und die Familie dort je wiedergesehen. In welchem Ausmaß und mit welcher sprachlichen Differenziertheit und Plastizität die Pastoren ihr geistliches Innenleben beobachten und ihre religiöse Subjektivität zum Ausdruck bringen, variiert allerdings erheblich. Bleiben nicht wenige der Biographien (und auch Tagebücher) eher formelhaft, sind andere sehr detailreich, theologisch profund und expressiv. Besonders stechen in dieser Hinsicht die Selbstzeugnisse von Johann Christoph Kunze (1744–1807) und Justus Heinrich Helmuth hervor, deren Sprache man die Prägung durch pietistische Erbauungsprosa deutlich anmerkt. „Nun das Leitseil meines Erbarmens sey in tiefer Demut geküßet“, so schreibt Kunze beinahe lyrisch-empfindsam bei seiner Ankunft in Philadelphia 1770: Uber Land und Wasser bin ich nun an den Ort getragen, an welchen mich unerwartet die erst verkannte, aber endlich mir unwidersprechlich aufgeklärte Stimme des Erz=Hirten rief. Hier soll ich damit fort arbeiten helfen, wo schon meine Väter und muntere Jünglinge im Herrn zum Lobe des Haus Herrn insofern vorgearbeitet haben, daß einige Pläze umgegraben, andere umzäunt, einige mit manchen blühenden Pflanzen gezieret erquicklich Augenweide geben.

Und weiter zur eigenen Berufung in die Neue Welt: Der von Gott in mich gelegte Vorsatz ist, Ihnen nach zu eifern, weil den[jenigen] das Wort des Herrn versucht[,] der sein Werk nachläßig treibet. Aber diese soll die einzige Triebfedern nicht seyn die mich wirksam machet. Die Herde zu der ich gerufen werde, ist durch eben das Löse Geld gekauft durch welches die ganze Welt selig werden könnte und mir barmherzigkeit widerfahren. Herr Jesu dein für diese Herde geschehener Versöhnungs Tod lehre mich in Geistes Kraft, mit beweglichen, mitlauten auch wohl mit thränender Stimme rufen: lasset euch versönen mit Gott. (2, 289f.).

Obwohl die Pennsylvanischen Hirten manches verlorene Schaf gerettet haben mögen, hatte freilich ihre Alltagsrealität zumeist wenig mit den blühenden Gärten zu tun, die sich Kunze hier erhoffte. Davon geben die Diarien beredtes Zeugnis, welche die Pastoren zur Berichterstattung auch nach Halle sandten. In redaktionell stark überarbeiteter Form wurden Texte aus den Diarien zwischen 1744 und 1787 als Hallesche Nachrichten gedruckt und dienten den Glauchaschen Anstalten als wichtiges Kommunikations- und Werbemittel. Insofern man jetzt die Ausgangstexte mit den überarbeiteten, geglätteten Berichten der Halleschen Nachrichten vergleichen kann, ergeben sich also auch reiz-

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volle neue Möglichkeiten zur Erforschung der Kommunikationsstrategien des Halleschen Pietismus. Wie wollte man sich der Welt präsentieren, was wurde warum als problematisch erachtet und deswegen gestrichen oder umgeändert? Obwohl sicher schon in den Diarien selbst von einem gewissen Maß an Selbstzensur und Idealisierung auszugehen ist, präsentiert sich hier dem Leser doch ein sehr vielschichtigeres und konfliktreicheres Bild von der Arbeit der Pastoren in Pennsylvania und den benachbarten Kolonien, als es in den offiziellen Darstellungen der Fall ist.Von einigen der dreizehn Pfarrer sind nur wenige Dokumente zu relativ kurzen Zeiträumen überliefert. Bei anderen, namentlich bei den Mühlenberg unmittelbar nachfolgenden Peter Brunnholtz (1716–1757) und Johann Friedrich Handschuch (1714–1764), liegen im ersten Band Selbstzeugnisse vor, die viele Jahre in größerer Ausführlichkeit abdecken. Was also findet sich in diesem Bild? An aller erster Stelle sind die Gefahren und Beschwernisse der langen Reise zu nennen, von denen in den „Reisediarien“ wiederholt die Rede ist, welche aber auch die Neugier und breitgefächerten Interessen (nicht nur an fremden Ländern und Leuten, sondern auch Naturphänomenen und Technik) zumindest einiger Pastoren bezeugen. Dann geben die Tagebücher einen starken Eindruck von der ungeheuren Arbeitsbelastung, welche die Pfarrer in ihren amerikanischen Gemeinden zu tragen hatten, wobei sie dies, je nach Persönlichkeit, mit mehr oder weniger Klagen taten. Wie bei ihren Kollegen zu Hause war das Tagesgeschäft in Pennsylvania dominiert von einer schier endlosen Abfolge von Taufen, Eheschließungen, Beerdigungen, Krankenbesuchen, Konfirmations- und Andachtsstunden, Predigtvorbereitungen und Gottesdiensten. Im Unterschied zu Deutschland hatten die wenigen Pfarrer aber kaum Hilfe und v.a. enorm weit verstreute Gemeinden. Sie wurden darüber hinaus beständig aufgefordert, Besuche bei geistlich Unversorgten in der weiteren Umgebung zu machen und in weit entfernten Orten oder Kirchen, oft auch in benachbarten Kolonien, auszuhelfen. So waren sie beständig unterwegs, zu Fuß oder zu Pferd, bei Wind und Wetter in oft unwegsamem Gelände. Wie ein roter Faden ziehen sich durch fast alle Diarien auch die beständigen Schwierigkeiten und oft heftigen Konflikte im Aufbau und bei der Leitung der amerikanischen Gemeinden. Neben der chronischen Personal- und Finanzknappheit gehörten zu den häufigsten Problemen Zwistigkeiten innerhalb der Gemeinden und „Rebellionen“ selbstbewusster Laien gegen die Autorität der Halleschen Pfarrer. Diese war unter der conditio Americana schwer durchzusetzen, gab es doch keine Amtskirche und kein Magistrat, auf dessen Unterstützung man hoffen konnte.Vielmehr herrschte das Freiwilligkeitsprinzip in Religionsdingen und man war von der Unterstützung der Gemeindeglieder abhängig. Wie Handschuch an einer Stelle über die „Sprache der Rebellen“ in Germantown und Philadelphia berichtet, führten hier die aufsässigen Gemeinderatsmitglieder gegen die Pfarrer an, man „müßte […] dem Volke in einem freien Lande

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seine freiheit laßen“ (1, 487). So zeichnen die Diarien den extrem mühevollen Prozess nach, in dem eben nicht nur Mühlenberg, sondern auch seine Kollegen und Nachfolger erste Regeln für die Kirchenzugehörigkeit und die Gemeindeorganisation mit Rechten, Pflichten und Zuständigkeiten entwarfen und diese durchzusetzen suchten. Nicht selten scheiterten sie dabei, wechselten frustriert die Stelle oder resignierten. Auch sind Fälle dokumentiert, in denen die ausgebrannten Pfarrer der Alkoholsucht verfielen. In der Auseinandersetzung mit Laien, v.a. aber auch mit nicht-pietistischen Lutheranern, mussten die Hallenser insgesamt ihren Gemeindebegriff und ihre Vorstellungen vom Predigeramt deutlich modifizieren. Dieser Aushandlungsprozess mündete schließlich in der neuen Kirchenordnung von 1762, welche die Rolle der Laien (speziell durch das ius patronatus) deutlich stärkte. Mit dieser Ordnung und der zunehmenden Predigerausbildung vor Ort ging zugleich auch die langsame Autonomisierung gegenüber Halle einher. Allerdings zeigen die Selbstzeugnisse der Pfarrer auch, dass, wie Splitter schreibt, „entgegen gängiger Annahme die Verbindung HallePennsylvania den Tod Mühlenbergs Jahrzehnte überdauerte und sich ab 1799 unter dem Kondirektorat von Georg Christian Knapp (1753–1825) und August Hermann Niemeyer (1754–1828) über ein Vierteljahrhundert hinweg sogar noch einmal intensivierte“ (1, XIV). Ein weiterer zentraler Aspekt, der die Arbeit in Pennsylvania so herausfordernd machte, war die ungewohnte religiöse Konkurrenzsituation, nicht nur mit den aus Hallenser Sicht unordentlichen lutherischen Gemeinden sowie reformierten und katholischen Nachbarn, sondern auch und v.a. einer Vielzahl von „Sekten“. Hinzu kamen die alle Kirchen ablehnenden spiritualistischen Individualisten, die große Zahl von Indifferenten und die offenen Religionsverächter. Sie alle waren durch die Religionsverfassung der Kolonie geschützt und so mussten sich die Pfarrer auch hier nolens volens an die amerikanischen Verhältnisse anpassen lernen. Diesen Lernprozess zu beobachten ist m.E. einer der faszinierendsten Aspekte der Quellen. So schreibt etwa Handschuch 1752 über die ihm neu zugewiesene Gemeinde Germantown: Derselben Glieder wohnen 10–16 Meilen weit unter allerhand spötischen Secten oder gantz Pensilvanisch gesinnten zerstreuet, mithin in der größten Gefahr der Verführung. […] Hier in Germantown w ohnen fast in einem jeden anderen hause ofte dreierlei Arten derselben. Und unter lauter solchen Leuten wohnen die Lutheraner. Die anderen Secten, so spöttisch und tückisch sie auch gegen uns gewesen und zum Theil noch sind, sind von den reformirten und Lutheranern meistens ausgegangen[,] folglich verführte Menschen (1,398).

Grundsätzlich sahen sich die Hallenser Pastoren im Wettstreit um die Seelen der „verführten Menschen“ und betrachteten die religiöse Konkurrenz – abgesehen von den Reformierten, die man tendenziell als legitime protestantische Glaubensbrüder anerkannte – bestenfalls als verirrte Mitchristen, schlimmstenfalls als Werkzeuge des Teufels. Von einem modernen, positiv be-

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setzten Pluralismusbegriff ist man sehr weit entfernt. So betet Johann Nicolaus Kurtz (1720–1794) im Dezember 1746 darum, tüchtiges Werkzeug im Weinberg des Herren zu werden, „sonderlich in dißem Lande, da Zaun und Mauer zerreißen, und alles Wilde und Verstöret aussiehet, Theils durch die Secten, Theils durch die Gottlosen Landläufer und sogenannte Prediger“ (2, 294). Beständig berichten die Diarien von Diskussionen und Reibereien mit Quäkern, Mennoniten, „Tunkern“ oder auch Methodisten, welche die Pastoren herausfordern. Dennoch lässt sich beobachten, wie die lutherischen Pfarrer sich im Laufe der Zeit in einer Art alltagspraktischen Multikonfessionalismus einüben. Mit einigen Nachbarn anderer „Sekten“ pflegen die Hallenser einen selbstverständlichen und freundlichen Umgang, ohne je den Gedanken zu äußern, diese müssten bekehrt werden.Vielmehr werden sie, zumindest implizit, auf der Grundlage ihres Lebenswandels und religiösen Haltung als Mitchristen anerkannt. Auch berichten die Pastoren kommentarlos von der Taufe reformierter oder katholischer Kinder, um welche die Eltern gebeten hatten, weil kein anderer Geistlicher erreichbar war. Schließungen überkonfessioneller Ehen, oft auch über ethnische und sprachliche Grenzen hinweg, sind absolut an der Tagesordnung. In der Regel genügen den Pfarrern kurze Gespräche mit den Beteiligten bevor sie in die Durchführung solcher Kasualien einwilligen. Durchaus anrührend ist es zu lesen, wie hilfsbereit sich die lutherischen Pfarrer häufig auch dann zeigen, wenn sie von Angehörigen anderer Konfessionen gerufen werden, um Kranke zu besuchen oder Verstorbene zu beerdigen. So schreibt Handschuch etwa von einem Fall, in dem er auf inständiges Bitten der Eltern ein fünfjähriges Kind eines „reformierten Mannes“ auf „unseren Gottes Acker begraben“, „deßen Mutter Lutherisch gewesen und zu den Herrnhutern über[ge]gangen“ (1, 220). Solche komplizierten religiösen Biographien waren in Pennsylvania nicht selten. In ihrer Hinnahme (wiewohl nicht Gutheißung) und der Fokussierung auf den einzelnen Menschen und besonderen Fall, die je individuell und nicht einfach nach konfessionellen Kategorien gewertet werden, deutet sich zart etwas wie eine neuartige Pluralismustoleranz an. Am intensivsten sind die Spannungen in der Regel mit den Herrnhutern, gegenüber denen die Hallenser auch die geringste Duldsamkeit zeigten. Dies lag vornehmlich an der besonders scharfen Konkurrenz, aber auch an theologischen Differenzen. Als Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf 1741 bis 1743 die britischen Festlandkolonien besuchte und länger in Pennsylvania weilte, präsentierte er sich als lutherischer Bischof und viele der Herrnhuter Prediger nahmen ebenfalls für sich in Anspruch, das wahre Luthertum zu vertreten. So und auch durch die von Zinzendorf ins Leben gerufene pan-protestantische Sammlungsbewegung „Congregation of God in the Spirit“ banden die ‚Moravians‘ in der Mitte des 18. Jahrhunderts nicht wenige Siedler an sich, die in der alten Heimat Mitglieder lutherischer Amtskirchen gewesen waren. Vom Zentrum

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Bethlehem aus betrieben die Herrnhuter intensive Missionsarbeit unter den Deutschen. Die Hallenser Pastoren kämpften also buchstäblich um dieselben Gemeinden und manchmal auch Kirchengebäude. (Der zweite Band schildert etwa die tragikomische Episode eines andauernden Kampfes um die Schlüssel zur Kirche in Tulpehocken). Mit großer Regelmäßigkeit finden sich so in den Tagebüchern Polemiken gegen die Herrnhuter, aber auch triumphalistische Äußerungen, wenn man von diesen eine Seele zurückgewonnen hatte. Bezeichnender Weise ist auch eine der wenigen in den Tagebüchern dokumentierte, tiefergreifende theologische Auseinandersetzung mit einem schwer kranken Herrnhuter, den Pfarrer Kurtz im Sommer 1747 besucht. „Er redete nach Herrnhutischer form viel vom Blut Christi, Nägel mal, Seiten Loch, und Wunden“, heißt es da. Dagegen redet Kurtz „hart an, daß er sich mit einer leeren phantasie und imagination nicht betrügen sollte, denn solches hielte nicht Stich in der Todes Stunde.“ Entsprechend dem eigenen Verständnis von Bekehrung und Wiedergeburt, argumentiert Kurtz dann, „der rechte grund zur Gnade und Vergebung der Sünde, müste ein gründlicher Erkentnis des Elendes in wahrer Reue und Zerknirschung des Hertzens geleget werden. Ein realer process der Buße müste vorgehn, und darin müste der gla[u]be geboren werden an das Verdienst Jesu Christi“ (2, 314f.). Als Pietisten teilten die Hallenser Pfarrer die Menschen zwar in Unbekehrte und Bekehrte ein. Die Zeichen der Wiedergeburt suchten sie bei ihren Gemeindegliedern aber nicht in Erzählungen von dramatischen oder plötzlichen Wandlungen des Lebens, sondern in einer habitualisierten Haltung echter Zerknirschung über die eigene Sündhaftigkeit, der Bußfertigkeit und des herzlichen Vertrauens in Christus. Auch gegen den populären Revivalismus, von dem nicht zuletzt die Herrnhuter sehr profitiert hatten, grenzten sich die Hallenser Pastoren mit allem Nachdruck ab. Die Ereignisse und Aufregungen des „Great Awakening“, das mit den Besuchen George Whitefields in Pennsylvania seinen Höhepunkt erreichte, hatten die Hallenser in schlechter Erinnerung. Wanderprediger und enthusiastische Großversammlungen unter freiem Himmel lehnten sie ab und akzentuierten dagegen die Bedeutung ordentlich geleiteter Gemeinden mit regelmäßiger Wortverkündigung, Sakramentenspende, Katechisierung, Konfirmation und privater Bibellektüre und Erbauung. Im Nachgang zu einem zweistündigen Besuch von einem „starken und sehr spöttischen Mährischen Bruder“ betont Handschuch im Herbst 1748 so seine Überzeugung, dass der „Segen und die Kraft des Worts Gottes oftmahls in der Stille und im Verborgenen gehe und solches gemeiniglich beßer sey, als wenn es durch brausende und ausschweifende Erweckungen so geschwinde ausbricht, welches gemeiniglich von keiner langen Dauer ist.“ Als negatives Exempel hierfür verweist er auf die „außerordentlich heftigen Erweckungen in Neu England, die vor 3 [,] 4 und 5 Jahren gewesen sind. Unter 100 mag wohl kaum einer beständig geblieben seyn, wie von einigen leuten gehöret habe.“

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Hier zeigt sich ein besonderes Profil der Hallenser Pfarrer in Pennsylvania, das wir auch schon aus den Selbstzeugnissen Mühlenbergs kennen und das sich vielleicht am besten als konservativer lutherischer Pietismus bezeichnen lässt. Einerseits waren diese Männer eindeutig Pietisten, welche die Notwendigkeit der neuen Geburt und einer intensiven Frömmigkeitspraxis betonten. Andererseits standen sie, im Gegensatz zu vielen pietistisch-evangelikalen Gruppen um sie herum, Massenerweckungen ablehnend gegenüber, wohl auch weil man diese unmittelbar als Gefährdung der eigenen mühevollen Aufbauarbeit erlebte. Aus dem Bemühen heraus, ein dezidiert deutsch-lutherisches Kirchenwesen in einer multiethnisch-multireligiösen Umgebung zu errichten, zeigte man sich zuweilen konfessioneller und kirchenzentrierter als mancher Hallescher Pietist zu Hause (Johann Adam Steinmetz etwa begeisterte sich sehr für die neuenglischen Revivals) und legte größten Wert auf geordnete Gemeindewesen. Ihr primäres Problem war eben nicht die Neubelebung, sondern der Aufbau von Kirchen unter vielfach chaotischen Bedingungen. So bieten die Lebensläufe und Diarien, zusätzlich zu den bereits genannten Aspekten, spannende Erkenntnisse zur inneren Vielfalt des Halleschen Pietismus in unterschiedlichen lokalen Kontexten. Im Rahmen einer transatlantischen Geschichtsschreibung des 18. Jahrhunderts bieten sie, zusammen mit den Briefen, ein eindrucksvolles Beispiel für die Bedeutung religiöser Netzwerke. Auch künftige Studien im Bereich der Migrationsgeschichte finden hier reichhaltiges Material. Die Diarien erhalten z. T. erschütternde Momentaufnahmen zu den Schicksalen deutscher Migranten während dieser ersten Phase der Massenauswanderung nach Nordamerika. Es wird berichtet von Krankheit und Tod bei der Überfahrt, aber auch vom harten Los der Schuldknechte, das einige der Pastoren zu lindern suchen. Etwas enttäuscht mögen hingegen Historiker sein, die sich überraschende Einsichten zu Verlauf und Auswirkungen des Siebenjährigen Krieges in den Kolonien oder der Amerikanischen Revolution erhoffen. In dieser Hinsicht findet sich wenig Ergiebiges. Insgesamt aber ist der Forschung mit dieser äußerst verdienstvollen Edition ein wahres Füllhorn an neuen Quellen geschenkt worden, wofür den Herausgebern und den Projektmitarbeitern herzlich zu danken ist. Jan Stievermann

Heidelberg

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Katharina Krause: Bekehrungsfrömmigkeit. Historische und kultursoziologische Perspektiven auf eine Gestalt gelebter Religion. Tübingen: Mohr Siebeck 2018 (Praktische Theologie in Geschichte und Gegenwart, 23). – XI, 357 S.; Ill. Es dauerte einige Zeit, bevor mir klargeworden war, wovon dieses Buch handelt. In den einleitenden Seiten schreibt die Verfasserin, dass das Buch darstellen will, wie Bekehrungen die Lebensweise der Gläubigen verändern, besonders wie Selbst- und Weltverständnisse sichtbar, kommuniziert und praktiziert geworden sind (2f.). Erst auf Seite 25 wird den Lesern erklärt, dass es sich bei den Quellen, die dieses Thema erhellen sollen, um gedruckte Texte von bekehrungsfrommen Kreisen, insbesondere von Jonathan Edwards und Richard Baxter, in den Englischen Kolonien in New England seit Mitte des 17. bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts handelt. Die Quellen können uns zeigen, laut Vf.n, wie die Bekehrung subjektiviert und personalisiert sowie als Fundament für die Lebensformen der Gläubigen etabliert wird. Nachfolgend und bis zur Seite 80 wird das Forschungsfeld zu Bekehrungen und Bekehrungspraxen präsentiert. Es ist eine sehr gute Darstellung, unter anderem weil Krause nicht nur das Feld in chronologischen, aber auch in systematisch-analytischen Kategorien präsentiert. Der Fokus ist an übergreifenden Thesen und Methoden der Forschung orientiert. Krause erklärt die Entwicklung fort vom früher wichtigen religionsgeschichtlichen Fokus auf kirchliche Institutionen und Dogmen bis heute, wo der Fokus stärker auf den religiösen Alltagspraktiken liegt. In den 1970er und 1980er Jahren wurde Bekehrung hauptsächlich mit psychologischen und soziologischen Erklärungen begriffen. In der neueren konstruktivistischen Forschung, der die Vf.n sich anschließt, hat das Interesse sich insbesondere zu den kulturgeschichtlichen, ritualisierten und legitimatorischen Aspekte der Bekehrung verschoben. Jedem, der eine gute, gründliche und klare Einführung in diesen Forschungsbereich wünscht, sei diese Studie empfohlen. Ein bisschen kleinschrittig positioniert Krause ihre eigene Untersuchung in diesem Forschungsfeld (24, 57 und 77–80). Es wird klar, dass das Buch keine traditionelle Untersuchung darstellt und dass der zeitliche und geographische Kontext der Quellen, die der Untersuchung zugrunde liegen, für die Leser kaum vorgestellt werden. Als Leserin vermisse ich besonders eine Klarstellung derjenigen Kriterien, nach denen die Verfasserin die Quellen ausgewählt hat. Positiv ist zu sehen, dass die Untersuchung nach einer Reihe von übergreifenden, analytischen Kategorien strukturiert ist. Diese Kategorien sind Verdichtung, Modellierung, Repetition, Emotionalisierung und Materialisierung. Jedes Kapitel beleuchtet außerdem verschiedene Perspektiven auf individuelle Bekehrungen. Das erste Kapitel, Verdichtung, ist den historischen Umständen gewidmet, womit die maßgeblichen bekehrungsfrommen Wissensbestände kommuniziert wurden. Untersucht wird das diskursive Verständnis, dass das Leben vor der

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Bekehrung von Gleichgültigkeit und Heilssicherheit geprägt war und dass Gott die Führung des Christen zur Bekehrung leistet. In den puritanischen Gemeinden entwickelten sich verschiedene Rituale, die die Gefühle eines reinen Innenlebens gegenüber einem belasteten äußeren Leben verstärkten. Die Betonung dieser Differenz zwischen Innen und Außen konnte zu Einschränkungen bei der Teilnahme am Abendmahl und zu einer Art Zweiklassengesellschaft in einer Gemeinde führen. Im folgenden Kapitel wird untersucht, wie Lebensformen und Emotionen modelliert und im Einklang mit Vorstellungen über ein wahres christliches Leben praktiziert wurden. Krause verwendet konstruktivistische emotionsgeschichtliche Theorien, die Emotionen als kulturell und historisch spezifisch ausweisen. Sie hebt hervor, dass puritanische Führungskräfte ihre Reden oft im Hinblick auf Emotionen und den menschlichen Willen gezielt formten. Autobiografien religiöser Führungskräfte wie Richard Baxter und Jonathan Edwards generierten vorbildliche Identifikationsfiguren dafür, wie wahre Christen ihr Leben gestalten sollten. Krause verweist auf das Hören, Lesen und Schreiben als Techniken, mittels derer jedes Individuum seine Bekehrungsfrömmigkeit im Alltag verankern und seine Emotionen kultivieren konnte. Das Ziel der regelmäßigen Wiederholung war es, die Seele für die Annahme des Geistes Gottes bereit zu machen. Die Emotionen der Bekehrten, wie Melancholie, Heilszweifel und Heilsfreude, hatten eine besondere Performanz. Außerdem gab es die Erwartung, dass die Bekehrung sich in der Kleidung und der Körperhaltung der Bekehrten materialisierte. Diese Erwartung wurde jedoch nicht immer erfüllt; laut Krause zeigen die Bestandsverzeichnisse der Edwards-Familie, dass sie Roben trugen, die aus vornehmen Stoffen und in schönen Farben gefertigt waren. Krause hebt hervor, dass in den Gemeinden Tagebücher und private Briefe gelesen wurden, um die faktische Internalisierung der gefühlsmäßigen Erwartungen zu kontrollieren (113). Leider ist Krause hier nicht konsequent vorgegangen, obwohl damit die subjektiven religiösen Erfahrungen hätten beschrieben werden können. Es wäre interessant gewesen, weil es in der Religionsforschung, und besonders im Forschungsbereich Lived Religion, daran ein erhöhtes Interesse gibt, dass die persönliche Aneignung und Ausübung von Frömmigkeit manchmal andersartig war, als offiziell bzw. von der Amtskirche vorgeschrieben.1 Die Stärken des Buchs sind der Theorieüberblick und die präzisen Textanalysen. Überhaupt präsentiert Krause eine wohlstrukturierte Untersuchung. Das Ziel der Vf.n, den Puritanismus als erlebte Religion zu untersuchen, wird trotzdem nicht ganz erreicht. Das liegt hauptsächlich an den zu wenigen und zu wenig aussagekräftigen Quellen. Es besteht kein Zweifel daran, dass die puritanischen Führungskräfte gern eine stärkere Internalisierung puritanischer Fröm-

1  Beispielweise R. Orsi: Everyday Miracles: the Study of Lived Religion. In: Lived Religion in America. Towards a History of Practice. Hg. v. D.D. Hall. Princeton: Princeton U.P. 1997, 3–21.

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migkeit mit einer deutlichen Prägung des Alltags gesehen hätten. Es ist zu hoffen, dass die Vf.n weiter an dem Thema arbeitet. Juliane Engelhardt

Kopenhagen

Johannes Moosdiele-Hitzler: Konfessionskultur – Pietismus – Erweckungsbewegung. Die Ritterherrschaft Bächingen zwischen „lutherischem Spanien“ und „schwäbischem Rom“. Neustadt an der Aisch: VBKG 2019 (Arbeiten zur Kirchengeschichte Bayerns, 99). – 768 S.; Ill., Karten. Das Herzogtum Württemberg war in der Frühen Neuzeit eine Schwerpunktregion des Pietismus. Zunächst eine adelig-elitäre Erscheinung, entwickelte sich der Pietismus spätestens in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, nachdem er „landeskirchlich verankert“ (17) worden war, zur populären Frömmigkeitsbewegung. Einer lokalen Ausprägung dieser Strömung widmet sich Johannes Moosdiele-Hitzler mit dem Rittergut Bächingen an der Brenz in seiner nach zwei Jahrzehnten Forschungsarbeit vorgelegten, entsprechend gewichtigen Dissertation. Gleichzeitig ist sie eingebettet in die Forschungen zur Reichsritterschaft, zur bayerischen und württembergischen Landes-, Kirchengeschichte und zu prosopographischen Themenfeldern. Ein Schwerpunkt liegt auf der pietistischen württembergischen Herzogin Franziska von Hohenheim, „deren historische Persönlichkeit noch immer unter dem Zuckerguss der verklärenden Erinnerungskultur des bürgerlichen Zeitalters verborgen ist“ (39), ihrem Einfluss auf den katholischen Herzog Carl Eugen und ihrem Wirken speziell in Bächingen, das 1805 in das junge wittelbachische Königreich inkorporiert und „von der bayerischen Pietismusforschung bisher übersehen“ (66) wurde. Die Geschichte des Ortes sieht Moosdiele-Hitzler maßgeblich durch dessen Lage an der harten „territorialen und konfessionellen Bruchkante“ (21) zwischen dem Herzogtum Württemberg und dem seit 1617 wieder katholischen Herzogtum Pfalz-Neuburg geprägt. Bächingen lag mit seiner Nähe zu Dillingen „im ideologischen Kampfgebiet zweier Weltanschauungssysteme“ (165), wo sich üppiger Barockkatholizismus und asketischer Pietismus als komplementäre Stränge stark konfessionalisierter Frömmigkeit gegenüberstanden. Diese Situation stimulierte die Bächinger Herrschaft und ihre Untertanen geradezu dazu, ihre Andersartigkeit gegenüber den Nachbarn bei jeder Gelegenheit zur Schau zu stellen. In seiner chronologisch aufgebauten Studie zeigt Moosdiele-Hitzler den „schleichenden Übergang des Pietismus von der elitären zur populären Bewegung im Rahmen des lokalen konfessionskulturellen Vermittlungs- und Adap-

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tionsprozesses“ auf (57). Die der Reichsritterschaft angehörenden Besitzer, die enge Beziehungen zum wiederum bestens vernetzten österreichischen Exulantenadel unterhielten, verstanden Konfession als herrschaftliches Instrument. In der vielschichtigen Vergemeinschaftung schwäbischer Adliger und österreichischer Exulanten sieht der Autor schon Mitte des 17. Jahrhunderts das „Profil einer eigenen, spezifisch ritteradeligen Konfessionskultur, die bereits auf den Pietismus vorauswies“ (154). Die adlige Herrschaft pflegte eine intensive Frömmigkeitskultur und bemühte sich über die von ihr eingesetzten Pfarrer, diese auch ihren Untertanen zu vermitteln. Doch selbst als die junge Generation derer von Stain um 1720 begann, sich eher am ausschweifenden Stuttgarter bzw. Ludwigsburger Hofleben zu orientieren und den von ihren Vorfahren vermittelten Ansprüchen selbst nicht mehr gerecht wurde, beharrten die Dorfbewohner auf den inzwischen internalisierten Überzeugungen. Die Verhältnisse kehrten sich um und die einst „von oben her pietistisch infiltriert[e]“ (71) Bevölkerung wurde zum Träger des Pietismus. Er bot ihnen die Gelegenheit zur „Flucht aus einem vom materiellen Überlebenskampf bestimmten, depressiven Diesseits in eine Parallelwelt“ (75) und ein weiteres Mal eine Chance zur Abgrenzung, sogar von der eigenen Herrschaft. Die „Konkurrenz um knappe Ressourcen“ (235) in dem Anerbengebiet belastete das soziale Leben im Dorf und führte im Laufe des 18. Jahrhunderts zu einer Spaltung der Dorfbevölkerung. 1750/51 kam es zu ersten Auswanderungen nach Ebenezer. Moosdiele-Hitzler nimmt die Auswanderer, ihre Familien und Herkunft akribisch unter die Lupe. Unter ihnen waren viele Nachkommen österreichischer Exulanten, deren „höhere Migrationsbereitschaft“ (250) der Autor mit ihren tiefsitzenden konfessionellen Überzeugungen und übergenerationellen Erfahrungen begründet. Der populare Pietismus württembergischer Prägung förderte diese Tendenzen, besonders ab 1790, als die Herzogin Franziska das Gut erwarb und die Pfarrstelle einem radikalen Pietisten übertrug, der innerhalb der Gemeinde stark polarisierte und sie in zwei Lager spaltete. Zwar scheiterte die Ansiedlung von Herrnhutern auf dem Gut (310–328); dennoch zielte die neue Amtsinstruktion der Herzogin auf eine Intensivierung religiöser Praktiken ab. Diese „[v]erordnete Frömmigkeit“ (336) wurde durch den Pfarrer überwacht. Nach dessen frühem Tod trat diejenige Gruppe unter den Dorfbewohnern, bei denen seine Konventikel auf fruchtbaren Boden gefallen waren, „sein pietistisches Erbe“ (342) an und setzte seinen „Absonderungswahn“ (366) fort. Für die Amtskirche wie für die weltlichen Beamten bestand die den sündhaften ‚Weltmenschen‘ gegenüberstehende Gruppe der ‚Bekehrten’ aus Unruhestiftern, die die Dorfbevölkerung in zwei Lager spaltete. Dieser Gruppe gehörten vor allem Unterprivilegierte an, für die „die Aussicht, in absehbarer Zeit zu den mit Christus herrschenden Auserwählten zu gehören, der einzige Lichtblick“ war (362). Nicht nur in Bächingen konnte sich der württembergische Pietismus mit seiner starken chiliastischen Tendenz um 1800 zur Religion der Marginalisierten entwickeln, sich aber gleichzeitig auf andere Bevölkerungs-

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gruppen ausweiten. Der Autor identifiziert namentlich zahlreiche Personen als „Bindeglied[er] im grenzübergreifenden schwäbischen Erwecktennetzwerk“ (389), das sich um 1800 zwischen Bayern und Württemberg entwickelte. Bemerkenswerterweise knüpfte um 1820 der katholische Pfarrer Ignaz Lindl an die vorhandenen Strukturen an und organisierte vom Zarenhof aus, an den er geflohen war, über verschiedene Kontaktpersonen die Auswanderung seiner Anhänger nach Sarata westlich von Odessa in Bessarabien in der heutigen Ukraine. Der württembergische Pietismus und die Allgäuer Erweckungsbewegung Lindls trafen im Brenztal aufeinander. Moosdiele-Hitzler schildert ausführlich die besonders im Grenzraum ineffektive Behördenstruktur, auf die die Auswanderungswilligen im inzwischen bayerisch gewordenen Bächingen stießen, bis sich schließlich sogar der König einschaltete. Die besondere Leistung der Studie liegt in dem langen, epochenübergreifenden Untersuchungszeitraum und der dennoch gebotenen Detailliertheit, mit der Moosdiele-Hitzler den Ort untersucht. Auf diese Weise gelingt es ihm, „die eigenartigen Umstände, die zu dieser Entwicklung geführt, und die Folgen, die sich aus ihr ergeben haben“ (436), zu verstehen und diachron zu kontextualisieren. Zwar liegt der Schwerpunkt der Untersuchung auf der Zeit um 1800, in der sich Bächingen für zwei Jahrzehnte im Besitz der Herzogin Franziska befand (261–380); jedoch greift der Autor weit aus und betrachtet die Entwicklungen insgesamt in einen Zeitraum vom Spätmittelalter bis in die jüngste Vergangenheit. Die Studie trägt somit nahezu chronikale Züge. Sie leistet weit mehr als eine Geschichte der pietistischen Ritterherrschaft Bächingen, sondern stellt vielmehr eine Ortsgeschichte dar, die gleich mehrere ältere und jüngere Traumata einer nachhaltig gespaltenen Dorfgesellschaft aufarbeitet. Ihre Erstellung, für die sogar Dorfbewohner befragt wurden (350), wäre einem außenstehenden, in dieser Region nicht beheimateten und über die lokalen Gegebenheiten nicht präzise informierten Wissenschaftler in dieser Art kaum möglich. Moosdiele-Hitzler verfügt über exklusive Zugänge und gewachsenes Hintergrund- und Insiderwissen. Dass etwa die konfessionelle Spaltung sich in Form unterschiedlicher dialektaler Färbungen und sprachlicher Begriffe, andersartiger Speisen und entgegengesetzter städtischer Bezugspunkte nicht nur in den Akten, sondern im Alltag verankerte und teilweise bis heute spürbar ist, kann im Prinzip nur erlebt und kaum angelesen werden. Darüber hinaus betreibt er auf breiter Quellenbasis Mikrogeschichte bis hinunter auf die Ebene der „historischen Charaktere und ihre[r] individuellen Lebensverhältnisse“ und recherchiert mittels der örtlichen Kirchenbücher akribisch genealogische Zusammenhänge auf der Basis von „höchst aufwändigen Detailrekonstruktionen“ (478; vgl. 249), wie er selbst nicht müde wird zu betonen. Darin sieht er „die Kunst, aber eben auch die Krux der Mikrogeschichte“ (478). Er definiert und formuliert damit explizit (488) einen höchst anspruchsvollen, aber legitimen Maßstab für derlei Studien. Mit der unbestreitbaren Expertise des Autors in Bezug auf die Region scheint aber auch eine gewisse Janusköpfigkeit verbun-

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den, indem er seine eigene Haltung zu den Entwicklungen, die er bis in die Gegenwart betrachtet, nur schwer zu verbergen vermag. Gerade zum Ende der Untersuchung hin (491–493) häufen sich leidenschaftliche und wertende Beurteilungen. In Bezug auf das jenseits seines Kernuntersuchungszeitraums liegenden 20. Jahrhundert scheut er nicht davor zurück, in der „Anfälligkeit für politische Ideologien und [der] Neigung zu spirituellen Sonderwegen und religiöser Vergemeinschaftung […] zwei Seiten einer Medaille“ (480) zu sehen. So habe „das Wesen insbesondere des ebenfalls stark an charismatischen Autoritäten orientierten erweckten Pietismus etwas Totalitäres“ (481). MoosdieleHitzlers Verständnis zufolge bereiteten die Bächinger Pietisten von damals den Wählerschaften fundamentalistisch-extremistischer Parteien des 20. und 21. Jahrhunderts den Weg. In diesem auffälligen politisch-gesellschaftlichen Engagement meint er das späte „Resultat säkularisierter pietistischer Frömmigkeit“ (482) zu erkennen. Fundiert sind indes seine Erkenntnisse zur Ritterschaft und den maßgeblich durch sie vorbereiteten und geprägten pietistischen Entwicklungen im Untersuchungsgebiet und -zeitraum. In Bächingen treffen mit den langfristigen intensiven pietistischen Strömungen sowie der dichten Überlieferungslage zwei Voraussetzungen für die Untersuchung aufeinander, die Moosdiele-Hitzler meisterhaft zu kombinieren und im Sinne einer mikrohistorischen, politischen, sozialen, ökonomischen und kulturellen Analyse zu nutzen versteht. Nachvollziehbar legt er dar, wie es unter der späten Regierung Herzogin Franziskas zu „einer merkwürdigen Kumulation verschiedener pietistischer Richtungen“ kam und sich „die Werte des alten, an Halle orientierten Adelspietismus […] mit der Spiritualität der Herrnhuter Brüdergemeine sowie dem auf die Erweckungsbewegung vorausweisenden Pietismus“ (462) vereinigten. Mustergültig exerziert er an seinem Beispiel die verschiedenen Phasen des Pietismus durch, der sich immer wieder „transformierte und modernisierte“ (478). Orthodoxie und Pietismus beeinflussten und überlappten sich vielfach, weshalb der Autor mit seiner Arbeit für eine bisher ausstehende gegenseitige Bezugnahme von Pietismus- und Konfessionalisierungsforschung plädiert. Ihm zufolge „entwickelten die protestantischen Reichsritter im deutschen Südwesten einen konfessionellen Rigorismus, der ihre Herrschaften zu Keimzellen des Pietismus werden ließ“ (468). Er untersucht aber nicht nur die Prozesse auf adliger Ebene, sondern stellt auch die „Frage nach vertikalen Vermittlungsprozessen pietistischer Glaubensinhalte“ (47). Ob sich der regionale Ritteradel durch „gegenseitigen Bevölkerungsaustausch“ (167) tatsächlich aktiv eine gehorsame Untertanenschaft heranzog, indem er auf diese Weise „eine Art ritterschaftlichen Patriotismus zu generieren“ (167f.) suchte, wie der Autor mutmaßt, muss dahingestellt bleiben. Insgesamt aber zeichnet die Studie das glaubhafte Bild der Andersartigkeit ehemaliger ritterschaftlicher Herrschaften und bestätigt damit Forschungen der

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letzten Jahre hinsichtlich des Innovationspotenzials solcher Territorien, wovon der religiös-konfessionelle Bereich freilich nur eine Facette unter mehreren war. Andreas Flurschütz da Cruz

Bamberg

Thomas Ruhland: Pietistische Konkurrenz und Naturgeschichte. Die Südasienmission der Herrnhuter Brüdergemeine und die Dänisch-Englisch-Hallesche Mission (1755–1802). Herrnhut: Herrnhuter Verlag 2018. – 501 S.; 1 Karte, Ill. Diese aus einer Dissertation an der Universität Kassel hervorgegangene Arbeit untersucht in vergleichender Perspektive die Aktivitäten der Herrnhuter und der Dänisch-Englisch-Halleschen Mission (DEHM) in Südasien, genauer: im indischen Tranquebar (heute Tharangambadi im Bundesstaat Tamil Nadu) und auf der Inselgruppe der Nikobaren im Golf von Bengalen. Im ersten Teil fragt sie danach, wie die alte, vor allem in Halle kultivierte Konkurrenz zwischen hallischem Pietismus und Herrnhutern, die sich auch in der Historiografie über beide Missionen niedergeschlagen hat, die Gründung und die ersten Jahre des Herrnhuter „Brüdergartens“ im Zeitraum 1755 bis 1770 prägte. Im zweiten Teil geht es dann darum, wie diese Konkurrenz in der ‚naturkundlichen Wende‘ der Südasienmissionen produktiv wurde und um den Stellenwert von Sammlungsaktivitäten der Herrnhuter Missionare für die zeitgenössische Naturkunde. Die Analyse beruht auf vielfältigen Quellen aus dem Archiv der Franckeschen Stiftungen zu Halle, dem Unitätsarchiv in Herrnhut, dem Archiv der Leipziger Mission in Halle sowie dem Kopenhagener Rigsarkiv; zusätzlich werden auch zeitgenössische Druckschriften herangezogen. Nach eingehender Kontextualisierung rekonstruiert Ruhland unter Verwendung eines mikrohistorischen Ansatzes minutiös die personalen Netzwerke, mit deren Hilfe August Hermann Franckes Sohn und Nachfolger Gotthilf August Francke versuchte, die Etablierung der Herrnhuter in Tranquebar von Halle aus zu verhindern bzw. rückgängig zu machen. Zielstrebig nutzte Francke, dessen Standpunkt Ruhland zufolge bis ins 20. Jahrhundert hinein das Verständnis der Konkurrenzsituation bestimmte, seine Beziehungen zu Adeligen und zum dänischen Missionskollegium. Während die Herrnhuter, auf Einladung der Dänischen Asien-Handelskompanie nach Indien gekommen waren, um sich auf den Nikobaren niederzulassen, ihre Missionare im Bewusstsein von Franckes Befindlichkeiten zur Zurückhaltung verpflichteten, konstruierte er ein Bedrohungsszenario: Demzufolge hätten sich die Herrnhuter die Erlaubnis zum Missionieren in Tranquebar mit unlauteren Mitteln „erschlichen“ und beabsichtigten, die DEHM aus Indien zu vertreiben.

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So gelang es Francke, zwei Reskripte des dänischen Königs zu erwirken, in denen die Herrnhuter verpflichtet wurden, binnen einem bzw. drei Jahren ihre Absicht der Besiedelung der Nikobaren umzusetzen oder Indien zu verlassen. Rechtfertigungsversuche der Herrnhuter schlugen fehl. Ruhland beschreibt Franckes Verfahren als „Evidenzkonstruktion“ mit seit den innerpietistischen Konflikten der 1730er- und 1740er-Jahre „konstanten“, fortlaufend angepassten „Argumentationsmustern“ (184). Erst der Tod des dänischen Königs und personale Veränderungen im Missionskollegium verschafften den Herrnhutern schließlich Rechtssicherheit für ihre Mission in Tranquebar. Zudem wurde Francke vom Erscheinen der Grönlandhistorie (1765) des Herrnhuters David Cranz offenbar überrascht, sodass er fortan die „Themen der Auseinandersetzung“ nicht mehr „diktieren“ konnte (185). Die überaus erfolgreiche Grönlandhistorie leitete einen Wahrnehmungswandel ein, der die Herrnhuter in einem positiveren Licht erscheinen ließ als zuvor. Auch Francke sah sich daraufhin gezwungen, der Naturkunde in der hallischen Mission einen neuen Stellenwert einzuräumen. Jenseits der innerpietistischen Rivalität wurde nun erstmals eine gewisse Annäherung möglich, und Francke scheiterte letztlich mit seinem Ansinnen, die Herrnhuter aus Tranquebar zu verdrängen. Stattdessen forderte er seine Missionare fortan auf, sich an Cranz’ Vorbild zu orientieren. Ruhland wendet sich gegen die historiografische Annahme, der Niedergang der DEHM hänge mit dem gewachsenen Interesse an der Naturgeschichte zusammen. Stattdessen hätten sich Physikotheologie und rationale Naturgeschichte im Verständnis der Missionare gar nicht gegenseitig ausgeschlossen, worin er mit Anne-Charlott Trepp eine Verbindung zwischen Aufklärung und Pietismus sieht. Für die kollektive Ökonomie der Herrnhuter spielten das Sammeln von Naturalien in Tranquebar und der Handel damit eine zentrale Rolle. Deren Umfang zu bestimmen ist schwierig, da er erst mit Einsetzen des finanziellen Erfolgs ermessen werden kann und dies auch danach durch eine lückenhafte Überlieferung erschwert wird. Dennoch kommt Ruhland zu dem Befund, dass der Gewinn aus den Sammlungen der Herrnhuter erklecklich war und auch ihre Kommerzialisierung des Naturaliensammelns einen Vorbildcharakter für Halle entfaltete. Mit dem Ausbau von Barby als Ausbildungs- und Sammlungszentrum sowie als „Drehscheibe für Informationsaustausch und den Transfer von Naturalien und Kulturgütern“ (322) erlebten die Sammelaktivitäten der Herrnhuter eine beispiellose Blüte. Die innergemeinschaftliche Kritik an der mangelnden „Frömmigkeit“ der Seminaristen in Barby deutet Ruhland dabei nicht als Abgrenzung von der Naturkunde, sondern vielmehr von der Philosophie der Aufklärung: „Eine Opposition von Religion und Naturgeschichte kann für die Brüdergemeine in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts nicht festgestellt werden.“ (313) Auch das Anlegen von Missionsgärten und die botanische Ausbildung in Barby hätten letztlich der Mission gedient.

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Die naturkundlichen Aktivitäten der Herrnhuter wurden weit über ihre Gemeinschaft hinaus rezipiert, was Ruhland nicht nur mit dem Erfolg der Grönlandhistorie, sondern auch mit der Strahlkraft des Sammlungszentrums Barby begründet, für das etwa Teile der begehrten Sammlungen der Cook-Expeditionen erworben werden konnten, sowie mit der großen Verbreitung einer Sammelanweisung des Herrnhuters Johann Jakob Bossart und mit der Einstufung zahlreicher von Herrnhutern gesammelter Pflanzen als ‚Typen‘, also bis heute für botanische Bestimmungen verwendetes Referenzmaterial. Mit Bettina Dietz charakterisiert er die Herrnhuter Sammler als „grassroots-Gelehrte“, weil sie selbst kaum durch Publikationen in Erscheinung traten, dafür aber naturkundliche Praktiken perfektionierten, ein effizientes Beschaffungssystem aufbauten und große Mengen von Naturalien, vor allem Pflanzen, Insekten und den attraktiven und zeitweise sehr nachgefragten Conchylien (Schnecken- und Muschelschalen), nach Europa transferierten. Dass die Herrnhuter in der Wissensgeschichte nach wie vor marginalisiert werden, ist nach Ruhlands Einschätzung wenigstens zum Teil historisch bedingt: Der gewerbsmäßige Warentausch, an dem sie teilnahmen, „war zwar Teil des gelehrten naturgeschichtlichen Korrespondenz- und Objektnetzwerkes, unterschied sich durch die generelle Anonymisierung der Lieferanten jedoch grundlegend vom herkömmlichen Gabentauschsystem […], wo Naturalien mit Literatur oder naturkundlichen Instrumenten vergolten wurden.“ (339) Offen bleibt an dieser Stelle, ob nicht die Herkunft der Sammlungen schon mitbestimmte, wie sehr sie wertgeschätzt wurden, was beispielsweise bei den Cookschen Sammlungen auf der Hand liegt und was Ruhland im Fall der raren nikobarischen Objekte zumindest anreißt. Auch die indische Beteiligung an den Sammelaktivitäten und ihre fehlende Dokumentation werden zwar thematisiert, spielen jedoch für die Argumentation nur eine untergeordnete Rolle – wie die ortsansässige Bevölkerung gegenüber der missionarischen Perspektive überhaupt im Hintergrund bleibt. Das ist angesichts der naturkundlichen Fokussierung und mit Blick auf die einseitige Quellenlage nachvollziehbar, aber nicht unumgänglich. Denn die Missionare konkurrierten ja primär um den Zugriff auf diese Gruppe, wie etwa anklingt, wenn Ruhland bemerkt, dass den ‚Missionierten‘ aus der Konkurrenzsituation potenziell Handlungsspielräume erwuchsen (338). Diese Einsicht weiter auszubauen, gehört wohl auch zu den Desideraten, die in der Arbeit verschiedentlich aufscheinen. Auf ihrer Grundlage plädiert Ruhland zu Recht dafür, den wissensgeschichtlichen Beitrag der Missionen noch stärker herauszustellen, was allerdings nur unter energischer Zurückweisung des manchmal noch immer unterstellten Gegensatzes zwischen Glauben/Frömmigkeit und Vernunft/Wissenschaftlichkeit möglich sei. Insgesamt beeindruckt diese 400 Seiten starke Arbeit besonders durch ihre sachliche, aber entschiedene Aufarbeitung des einseitig manipulativen Agierens Franckes in dem innerpietistischen Konkurrenzverhältnis und durch ihre gelungene Neubewertung der naturkundlichen Praktiken bei den Herrnhutern.

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Letztere sticht methodisch beispielsweise durch die kenntnisreiche Verwendung von Herbarien als Quellen hervor und wird durch einen reich bebilderten Anhang noch untermauert. Gelegentliche Redundanzen in der nicht streng chronologischen Darstellung sind ein annehmbarer Preis für die akribische Beweisführung. Nur von einem etwas sorgsameren Lektorat hätte das Buch am Ende vielleicht doch profitieren können. Sünne Juterczenka

Göttingen

Paul Peucker: Herrnhut 1722–1732. Entstehung und Entwicklung einer philadelphischen Gemeinschaft. Leiden, Göttingen: Brill,Vandenhoeck & Ruprecht 2021 (AGP, 67) – 343 S.; 15 Abb., 3 Karten, 2 Tafeln. Paul Peucker hat ein in verschiedener Hinsicht bemerkenswertes Buch über die frühe Geschichte der Herrnhuter Brüdergemeine geschrieben. Bemerkenswert ist zunächst die Umsicht und Expertise, mit der er alle Quellen, die Aufschluss über sein Thema geben können, gesammelt und ausgewertet hat. Für diese Quellenarbeit war Peucker als Archivar mit langjähriger Erfahrung in den Archiven in Herrnhut und in Bethlehem, Pennsylvania, und hervorragenden Kenntnissen der Bestände in anderen Archiven der „Moravians“ in besonderer Weise qualifiziert. Sein Buch enthält somit auch für jene, die meinen, sie seien mit der Geschichte von Herrnhut gut vertraut, viel Neues. Bemerkenswert ist des Weiteren die Sorgfalt, mit der er den Inhalt des von ihm über viele Jahre hinweg gesammelten, einzigartigen und reichen Quellenmaterials erschlossen und interpretiert hat. Was seine Darstellung auszeichnet, sind nicht vorschnelle Generalisierungen, schon gar nicht die Wiederholung gängiger und oft wiederholter Urteile über die Frühgeschichte der Herrnhuter, sondern Details, die etwas zur Charakterisierung des Lebens der Personen und der Gemeinschaft beitragen, die Zinzendorf um sich sammelte, beziehungsweise, die Zuflucht bei Zinzendorf fanden. Erst auf dieser neuen Basis formuliert Peucker seine Schlussfolgerungen. Es würde den Rahmen einer Rezension sprengen, wollte ich alle jene Punkte erwähnen, in denen er Fehlurteile und Fehlinformationen in älteren Darstellungen revidiert. Zu betonen ist jedoch, dass es ihm in einer Reihe von gut gegliederten, mit Informationen über die frühen Herrnhuter reich gefüllten Kapiteln gelingt, alle jene Themen zu erörtern, die weit über den Kreis der Pietismusforscher hinaus für das Thema „Zinzendorf und Herrnhut“ von Interesse sind. Nach einleitenden Bemerkungen zur Literatur- und Quellenlage macht d.Vf. seine Leser mit dem Zinzendorfschen Besitz Berthelsdorf vertraut sowie mit den Personen, die dort außer Zinzendorf wichtige Rollen spielten: mit dem

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Laienprediger Christian David vor allem, aber auch den Pastoren Andreas Rothe und Melchior Scheffer, mit denen Zinzendorf, zusammen mit Friedrich von Watteville, den „Vierbrüderbund“ bildete, dessen Mitglieder in Herrnhut Mitte der 1720er Jahre wichtige Weichen stellten. Ausführlich erörtert Paul Peucker Zinzendorfs ambitiöse Pläne und zeigt, wie das Projekt „Herrnhut“ ab 1722 Schritt für Schritt Gestalt annahm. Nicht nur fromme Seelen, die in lutherischen Kirchen vergeblich nach religiöser Erfüllung suchten, strömten nach Herrnhut, sondern vor allem religiöse Flüchtlinge, die aus den benachbarten, nach wie vor vom Geist der Gegenreformation bestimmten habsburgischen Gebieten Böhmen und Mähren in die Oberlausitz kamen. Exakt werden wir darüber informiert, wie Herrnhut wuchs, und nicht nur als Dorf wuchs, sondern nach Zinzendorfs Willen als eine „apostolische Gemeinde höherer Ordnung“ (23). Als „Ortsherr“ agierte er als „Stifter und spiritueller Leiter der andersgläubigen Gemeinschaft“ (27). Damit sind wir bei dem vielleicht entscheidenden Punkt der Peuckerschen Darstellung. In kirchenrechtlicher Hinsicht waren im Alten Reich nur drei Konfessionen zugelassen. Wer weder einer katholischen, einer calvinistischen oder einer lutherischen Gemeinde angehörte, musste sich den Regularien einer der drei Kirchen fügen oder er wurde verfolgt und konnte dann, jedenfalls im Prinzip, nur noch vom jus emigrandi Gebrauch machen. Zinzendorfs Besitz Berthelsdorf, zu dem Herrnhut gehörte, war lutherisch. Streng genommen, war es deshalb für Zinzendorf, wollte er nicht Streit mit der lutherischen Kirche auslösen, völlig ausgeschlossen, für Herrnhut nach einer besonderen religiösen Stellung innerhalb des Alten Reichs zu suchen, nach einem eigenen kirchlichen Status. Genau dies war jedoch Zinzendorfs Absicht, die er ebenso zäh wie erfindungsreich verfolgte. Auf der einen Seite löste er nie das Band zur lutherischen Gemeinde in Berthelsdorf. Die Herrnhuter sollten sehr wohl die dortigen Gottesdienste besuchen. Auf der anderen Seite schuf er jedoch innerhalb von Herrnhut parallele Strukturen für die von ihm erträumte, geplante und in den 1720er Jahren erschaffene „philadelphische“ Gemeinde. Jane Leade und einige Schriften von Gottfried Arnold inspirierten ihn, nicht dagegen Spener und Francke. Dass schon sehr früh viele Exulanten aus Böhmen und Mähren nach Herrnhut kamen, war für Zinzendorf in diesem Zusammenhang eine große Hilfe. Denn nun konnte er argumentieren, in Herrnhut handele es sich um die „Erneuerte Brüder-Unität“, also um die Erneuerung einer vorreformatorischen religiösen Gemeinschaft. Herrnhut falle deshalb nicht unter das später formulierte Reichskirchenrecht. Paul Peucker bezeichnet Zinzendorfs Vorgehen prägnant als „Herrnhuter Maske“. Der Verweis auf die Mährischen Brüder sollte seiner Ansicht nach nur das wahre Gesicht der Herrnhuter Brüdergemeine verbergen: „Der Außenwelt wollten die Herrnhuter so den Eindruck vermitteln, dass sie Nachfolger einer alten Kirche wären, weil sie fürchteten, sonst wegen ihrer wahren Identität zu sehr angefeindet zu werden“ (15).

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Daran, dass Zinzendorf geschickt vorging, lässt Peucker keinen Zweifel. Als er die Statuten der alten Böhmischen Brüder-Unität rekonstruierte und zu Papier brachte, orientierte er sich an den von ihm selbst wesentlich bestimmten Verhältnissen im Herrnhut seiner Zeit, nicht aber an den Verhältnissen der alten Mährischen und Böhmischen Brüder, von denen, wie Peucker ausführt, er keine Ahnung hatte: „Zinzendorf übersetzte die Geschichte der alten BrüderUnität in solcher Art und Weise, dass sie mit Theologie und Praxis der Herrnhuter Gemeinschaft übereinstimmte“ (187). Es sei, so Peucker, „höchst unwahrscheinlich, dass die Exulanten diese Praktiken und Auffassungen in Herrnhut aufgrund eines kollektiven Gedächtnisses, in dem die Traditionen der Unität überdauern konnten, eingeführt haben“ (122, ebenso 134). Da die Exulanten umgekehrt glaubten, die von Zinzendorf geprägte Herrnhuter Ordnung stimme mit der Verfassung ihrer Vorfahren überein, sahen sie darin „ein Werk Gottes“ (184). Dass Zinzendorf die Verfassung der Brüder-Unität fälschte und „auf suggestive Weise Begriffe, die den Herrnhutern vertraut waren und die mit den Herrnhuter Gewohnheiten übereinstimmten“, verwendete (189), wie der Archivar der Brüdergemeine Joseph Theodor Müller schon Ende der 1930er Jahre in einer nie publizierten, im Herrnhuter Archiv aber erhaltenen Arbeit feststellte, ist unbestritten. Müller verwendete seinerzeit für Zinzendorfs Vorgehen den Begriff „Urkundenfälschung“. Peucker scheint der „historisch-kritische Begriff Fälschung“ dagegen „durchaus berechtigt“ (190). In den weiteren Kapiteln beschreibt Paul Peucker „Glauben und Ideale“, speziell die Rolle von Laien und von Frauen im Herrnhuter Alltag, Zinzendorfs Vorstellung des „apostolischen Glaubens“ und von der bösen Welt sowie seine Auffassung von Ehe und Sexualität. Gründlich beantwortet Paul Peucker alle Fragen, die das tägliche Leben in Herrnhut betreffen und beschreibt die Räumlichkeiten, die Musik, die Gottesdienste und die weiteren Versammlungen, insbesondere die Bedeutung sowie den Unterschied von „Liebesmahl“ und „Abendmahl“. „Um die Gemeinschaft und das geistliche Wachstum des Einzelnen“ zu stärken (256), wurden „Banden“ gegründet, kleine Gruppen, deren Leiter und Leiterinnen sich regelmäßig trafen. Selbstverständlich werden die Leser auch über die „Losentscheidungen“ und das „Bibelstechen“ informiert. Ausführlich erörtert Paul Peucker außerdem, wie Zinzendorf Herrnhut verteidigte, das, was er dessen „Verteidigungsnarrativ“ nennt, das so dominant geworden sei, „dass es den Umstand maskierte, dass es sich bei Herrnhut in Wirklichkeit um eine neue, eigenständige religiöse Gemeinschaft handelte“ (266). Herrnhut war, wie Peucker resümiert, keine „Ecclesiola in Ecclesia“, „keine Gemeinde innerhalb der Kirche, es war eine Gemeinschaft außerhalb der Kirche. Es war eine Gemeinde, in der statt eines ordinierten Pfarrers Laien predigten; in der das Abendmahl getrennt von der Kirchengemeinde gefeiert wurde, Laienälteste statt eines lutherischen Pfarrers die Leitung innehatten und die Gemeinde unabhängig handelte, ohne jemals die Behörden der lutherischen Kirche zu konsultieren“ (288). Zugleich sei Herrnhut „von Anfang an auch Teil

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eines losen Netzwerkes von gleichgesinnten Personen und Gruppen“ gewesen, wenngleich Zinzendorfs Versuche, „bestehende separatistische Gruppen unter die Vormundschaft Herrnhuts zu bringen“, fehlgeschlagen seien (302). In summa: Paul Peucker demonstriert, dass die Gruppen, die sich auf Zinzendorfs Anwesen zusammenfanden, eine höchst komplexe Ansammlung von Personen mit sehr verschiedenem Hintergrund waren, mit sehr verschiedenen Interessen, Hoffnungen und Wünschen. Beeindruckend sind deshalb Zinzendorfs Versuche, aus diesen verschiedenen Gruppen eine in sich geschlossene Gemeinde, eine christliche Gemeinde „einer höheren Ordnung“ (23) zu schaffen. Nach der Lektüre des Peuckerschen Buches zögert man jedoch, den Begriff „Pietismus“ zu verwenden, um das Herrnhuter Experiment zu charakterisieren und historiographisch als Teil des Pietismus einzuordnen. Denn nach allem, was Peucker darlegt, verwundert es nicht, dass andere Fromme der damaligen Zeit, die von der Forschung als Pietisten bezeichnet werden, die allergrößten Schwierigkeiten hatten, sich mit den Herrnhutern anzufreunden, über die 1720er und 1730er Jahre hinweg auch immer größere Schwierigkeiten, Zinzendorfs eigenwilligen persönlichen Frömmigkeitsstil zu akzeptieren. Das gilt für die Pietisten in Halle ebenso wie für deren Brüder im Württembergischen, und das trifft für das Verhältnis der Abgesandten von Halle am dänischen Hof in Kopenhagen ebenso zu wie für die Sendboten Halles in der Neuen Welt, in Georgia und Pennsylvania. Zu fragen bleibt, welche Schlussfolgerungen die heute aktiven Pietismusforscher und Pietismusforscherinnen aus Paul Peuckers fulminanter Studie ziehen sollten. Denn dass die Herrnhuter unter das breite Dach des Pietismus gehören und damit selbstverständlicher Teil der Pietismusforschung sind, ist keineswegs klar. Diese These geht zurück auf Albrecht Ritschls dreibändige Pietismusgeschichte, die in den 1880er Jahren entstand, und ist heute also gut 140 Jahre alt. In den 140 Jahren vorher, von etwa 1740 bis zu Ritschls Werk, waren die Herrnhuter stets als eine separate religiöse Bewegung bezeichnet worden, und selbst seit Ritschls Werk haben viele Herrnhuter immer Wert auf ihre eigene und besondere Geschichte gelegt. Peucker sagt an verschiedenen Stellen seines Buchs ausdrücklich, Zinzendorfs Ziel sei eine philadelphische Gemeinde gewesen, ohne Wenn und Aber. Er schreibt an einer Stelle jedoch auch, „Zinzendorfs philadelphischer Pietismus“ sei „gut mit den Vorstellungen der mährischen Siedler zu vereinbaren“ gewesen (118). Damit markiert er die beiden Möglichkeiten, zwischen denen die Pietismusforschung künftighin wird unterscheiden müssen. Entweder könnte man Herrnhut als das seinerzeit erfolgreichste Modell einer Umsetzung der philadelphischen Ideen bezeichnen. Dann wäre Herrnhut nicht als Teil des Pietismus, sondern als eine eigenständige religiöse Bewegung zu behandeln. Man könnte jedoch den „philadelphischen Pietismus“ auch als eine Variante innerhalb der pietistischen Bewegung ansehen, neben dem kirchenreformerischen Pietismus (à la Spener), dem sozialreforme-

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rischen (à la Francke), dem endzeitlich orientierten Pietismus (à la Bengel), neben den frommen adligen Frauen und den in die Emigration gedrängten separatistischen Radikalen, um nur die wichtigsten Richtungen aus dem späten 17. und 18. Jahrhundert aufzuzählen. Wie immer man sich entscheidet: Richtig dürfte es sein, die von Zinzendorf gesammelten Frommen in Zukunft nicht nach einem Ort zu bezeichnen, eben als „Herrnhuter“, oder im Englischen als „Moravians“, weil viele von ihnen aus Mähren stammten und sie sich an der alten Brüder-Unität orientierten, sondern deren spezielle theologische Position zu benennen: Sie waren Teil der im mystischen Spiritualismus verwurzelten endzeitlichen „philadelphischen Bewegung“. Hartmut Lehmann

Kiel

Jan-Hendrik Evers: Sitte, Sünde, Seligkeit. Zum Umgang hallischer Pastoren mit Ehe, Sexualität und Sittlichkeitsdelikten in Pennsylvania, 1742–1800. Halle, Wiesbaden:Verlag der Franckeschen Stiftungen, Harrassowitz Verlag in Kommission 2020. – XIII, 455 S. Between 1742 and 1785, Heinrich Melchior Mühlenberg and thirteen other pastors and catechists arrived in Pennsylvania to minister to the steadily growing German Lutheran congregations there. Sent by Gotthilf August Francke and his successors and guided by Pietist teachings imbibed during theological studies in Halle or employment in the Francke Foundations’ schools, these men, in the course of their ministries (the catechists soon received pastorates), laid the foundations for the Lutheran church in North America. Mühlenberg, the preeminent individual in the group, has long received considerable scholarly attention, but an ongoing research project that is publishing a multivolume critical edition of the correspondence and pastoral diaries of the other ministers has recently made it possible to examine their activities closely and systematically and thus gain a richer and more granular understanding of Halle Pietism’s influence on German Lutheranism’s development in eighteenth-century Pennsylvania. Jan-Hendrik Evers’s impressive monograph, a slightly revised version of his dissertation that braids religious and church history with social and demographic and illuminates an important instance of Germany’s involvement in the Atlantic World, is a case in point. The relations between pastors and their congregations are at the heart of this study. In focusing on the ministers’ own marriages and sexuality and treatment of individuals who drank excessively, attended immodest dances, or transgressed the norms of sexual behavior, Evers meticulously examines the extent to which Mühlenberg and his colleagues could persuade their flocks in Philadelphia, Lancaster, Germantown, and other places to abide by Pietist standards of godly behavior. Because the congregants came largely from orthodox Lutheran re-

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gions in southwest Germany and had no previous exposure to Pietist teachings, ideals, and expectations, the possibility for misapprehensions and disagreements was far from negligible. Profound political changes provide the silent backdrop to the study, which spans the last decades of the colonial period, the American Revolutionary War, and the early years of the republic. Roughly the first third of Evers’s book frames the study by astutely comparing the religious landscapes in the Holy Roman Empire and Pennsylvania. Regarding the former, the author draws masterfully on secondary and primary sources, including key sermons by Philipp Jakob Spener and August Hermann Francke, to elucidate the theological positions in Orthodox Lutheranism, Lutheran Pietism, and the Reformed faith regarding sin, the permissibility of dancing, and marriage and sexuality. Francke’s views were notably extreme. He attached great importance to struggling against sin (Bußkampf) in order to achieve a Pietist conversion; he uncompromisingly rejected adiaphora and thus condemned all dancing; and late in life, he even insisted that unconverted spouses sinned when having sex. The extent to which these views animated the pastors would vary tremendously, however. In Pennsylvania sweeping religious freedom and the separation of church and state shaped the religious landscape. Besides German Lutherans, many other Protestant denominations and sects worshiped there, including the Moravian Brethren, whose theology and devotional language in the 1740s bristled provocatively with sexual themes and imagery. Despite representing diverse theological perspectives, all the Protestant churches condemned and punished illicit sexual behavior with the same zeal and purpose, if not by the same means. More consequential in Evers’s analysis is the separation of church and state. In Pennsylvania, the Pietist pastors could count on little if any assistance from secular officials in enforcing church discipline and punishing forms of immorality, whereas in Germany church and state officials more or less cooperated with one another. Thus, Evers highlights the importance of the German-Lutheran church ordinances, which specified the procedure for handling cases of immorality and illicit sex and, by 1762, were firmly based on the expectation, perhaps derived from A.H. Francke’s teachings, that congregants would monitor one another’s behavior and inform the pastor of any wrongdoing. Both the pastor and the church council, a small body of pious and respectable men, worked together in exercising church discipline, especially in considering the punishment of expulsion from the congregation, but the pastor alone could decide whether to suspend someone from the Lord’s Supper. Finally and quite importantly, Pennsylvania’s German-Lutheran congregations, Evers observes, possessed jus vocandi, the right to appoint their pastors, and also controlled the payment of salaries. In short, the congregations could exert financial leverage over their pastors during disputes. Based heavily on evidence from the correspondence and pastoral diaries, the rest of the monograph closely analyzes the experiences of six of the fourteen pastors, with three others receiving occasional attention. The discussion begins

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with their marriages and moral lives. Because all fourteen had arrived in Pennsylvania as bachelors, finding a suitable wife with whom to raise a godfearing family marked an important stage in the process by which each pastor gained his congregation’s acceptance. But two pastors, Peter Brunnholtz and Johann Ludwig Voigt, during bachelorships that each lasted over a decade, employed younger female domestic servants, an arrangement that aroused suspicions and displeasure among some congregants and worried the other Pietist pastors. In a third case, when the pastor Johann Friedrich Handschuch married the female servant whom he had hired a few months earlier, rumors circulated widely and members of the church council objected to the match. Less than a year after their wedding, the couple, shaken by the disapproval, which extended also to the pastor’s efforts to tighten church discipline, moved to a new community and pastorship. Evers uses these and similar incidents to underscore one of his key arguments: in Pennsylvania, German-Lutheran congregations judged the Pietist pastors and their families and, under certain circumstances, could even make life difficult for them. Thus, a pastor’s authority was fragile. Supplementing this argument, the author also discusses the specific motives for wedlock recorded by the pastors, the attributes that they looked for in a wife, and even the degree of sexual intimacy in these marriages as reflected by the number of childbirths. He is particularly judicious in considering the suggestive evidence that two pastors, Johann Helfrich Schaum and Johann Dietrich Matthias Heinzelmann, had contracted venereal diseases and that one, Justus Heinrich Christian Helmuth, who recorded his intimate thoughts in a private diary separate from the pastoral, sometimes strongly reproached himself, during his twenties and early thirties, for masturbating. The monograph’s next chapter examines the various means used by the pastors from Halle in trying to guide congregants to a possible Pietist conversion. The analysis covers sermons, announcements before or after services regarding church discipline, the ecclesiastical penalty (öffentliche Kirchenbuße), catechism lessons for children and adolescents, visitations of the sick and dying, and, finally, the religious, devotional, and morally edifying works that the pastors either read or distributed to the congregants or that the pastors wrote themselves. In treating these topics, Evers demonstrates also that the Pietist pastors differed significantly in their ability to gain the confidence of their congregants and effectively minister to them. Recognizing these differences, he avers, is important for properly gauging the pastors’ successes and failures. The pastors’ disciplining of immoral behavior and illicit sex is the subject of the book’s last major chapter. It begins by asking whether illicit sex occurred among the German Lutherans in Philadelphia, Lancaster, and Germantown as frequently as it did among the rest of Philadelphia’s population. The question is crucial because recent scholarship, including works by Richard Godbeer (not Goodbeer, the spelling throughout the book) and, most importantly, Clare A. Lyons, has established that the city of brotherly love, in the second half of the eighteenth century, possessed a surprisingly permissive sexual culture in which

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prostitution, nonmarital liaisons, an eroticized print culture, and other forms of sexual indulgence figured prominently. Using baptismal registers to calculate the ratio of illegitimate to total births for the three German-Lutheran communities from 1745 to 1800, Evers presents sound evidence that the sexual culture affected them only weakly, if at all, and offers plausible explanations for the fluctuations in the ratio during the period. One explanation stresses the differences among the pastors in their ability to enforce Pietist church discipline, and Evers develops this argument further in his consideration of their measures to convince congregants neither to visit taverns nor to carouse and dance at weddings and annual fairs. Not every pastor, he concludes, knew how to sense the congregants’ disgruntlement and resistance and respond appropriately. The study closes with the close examination of how pastors acted in particularly revealing cases concerning premarital sex, marital discord and domestic violence, rape, abortion, or sodomy. Sitte, Sünde, Seligkeit is a valuable study. It finds that the German Lutherans in Philadelphia and nearby towns managed to resist the cultural forces swirling around them that led to a general relaxation of the standards of sexual morality in the second half of the eighteenth century. As Evers briefly speculates in the conclusion, language barriers may have accounted for some of this resistance, but his argument gives undisputed priority to the pastors’ manifold efforts to bring Pietist moral norms to their congregations. Showing in remarkable detail how the pastors engaged in this undertaking, shedding new light on how some of their approaches to church discipline met with the disapproval of congregants, and repeatedly drawing apt comparisons with practices across the Atlantic, this work contributes significantly to the existing scholarship on the Pietist presence in Pennsylvania. Terence McIntosh

The University of North Carolina at Chapel Hill

Valentin Wendebourg: Debatten um die Bibel. Analysen zu gelehrten Zeitschriften der Aufklärungszeit. Tübingen: Mohr Siebeck 2020 (Beiträge zur historischen Theologie, 193). – XIII, 351 S. In seiner 2016 verteidigten und 2020 in den „Beiträgen zur historischen Theologie“ (Mohr Siebeck) erschienenen Dissertationsschrift untersucht Valentin Wendebourg, wie Rezensionen in deutschsprachigen gelehrten Zeitschriften Debatten um die Schriftauslegung seit ca. 1750 nachhaltig beeinflussten, veränderten und verbreiteten. Dabei verknüpft er insbesondere institutionelle Veränderungen in Debattenkultur und Medienlandschaft mit Entwicklungen in der Theologie. Nach seiner Einleitung führt Wendebourg im zweiten Kapitel ausführlich in das gelehrte Zeitschriftenwesen des 18. Jahrhunderts ein. Zudem werden Göt-

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tingen und Berlin als „Zentren“ mit ihren jeweiligen bedeutenden Publikationsorganen, den Göttingischen Anzeigen und der Allgemeinen Deutschen Bibliothek (ADB), vorgestellt. Als ein Hauptunterschied zwischen beiden Zeitschriften wird dabei die Tatsache angeführt, dass die Göttingischen Anzeigen institutionell an die Königliche Gesellschaft der Wissenschaften angebunden waren, während die ADB ohne eine solche institutionelle Bindung größere Freiheit besaß. Zudem entwickelte sich in Berlin, da hier noch keine Universität existierte, eine von der akademischen Debattenkultur sich unterscheidende bürgerliche Kommunikationskultur. In einem dritten Kapitel werden die Vorläufer zu den in diesem Buch ausführlicher behandelten Debatten um die Schrift seit 1750 vorgestellt, wobei bereits die Entwicklung einer „dogmatischen Streitkultur in der protestantischen Orthodoxie“ (70f.) mit in den Blick kommt, ebenso wie Debatten um die Wertheimer Bibel, eine freie Übersetzung des Pentateuchs zur Abwehr deistischer Einwände und Sicherung der Rationalität der Bibel, und um Johann Christian Edelmann, der das innere Wort Gottes klar von der Bibel unterschied. Der eigentliche Hauptteil der Arbeit untersucht dann vier verschiedene Debatten und deren Rezeption in den deutschsprachigen gelehrten Zeitschriften. Zuerst kommt der französische Jesuit Jean-Martin de Prades in den Blick (Kapitel IV), der in seiner Dissertationsschrift in Auseinandersetzung mit deistischer und materialistischer Religionskritik die Offenbarung rational zu überprüfen sucht. Die Pariser Sorbonne nahm die Arbeit zunächst an, doch nur kurze Zeit später wurde die Dissertation sowohl von der Sorbonne als auch dem Pariser Erzbischof verurteilt. Sein Versuch rationaler Erklärungen und seine Infragestellung der Zuverlässigkeit biblischer Chronologie wurde als religionsgefährdende Hybris und zu weites Entgegenkommen gegenüber deistischer Bibelkritik gewertet. Wendebourg macht bei der Darstellung dieser Ereignisse sehr deutlich, wie sie mit Konflikten um die Encyclopédie – der Fall de Prades wurde zu Anlass genommen, um die Encyclopédie 1752 zu verbieten – und mit der Konkurrenzsituation zwischen Jesuiten und Jansenisten, die den Skandal um de Prades medienwirksam inszenierten, zusammenhing. Der Fall de Prades, so Wendebourg, führte nun in Frankreich zu einer scharfen Grenzziehung gegenüber bis dahin noch tolerierten Vermittlungsversuchen. Dass es für eine Auseinandersetzung mit Religionskritik, und sei es zu apologetischen Zwecken, so wenig Spielraum gab, begünstigte die Radikalisierung französischer Religionskritik, wie Wendebourg bereits an dieser Stelle wie auch im weiteren Verlauf der Arbeit immer wieder darstellt (z. B. 126). In den deutschen gelehrten Zeitschriften – Wendebourg nimmt vier verschiedene in den Blick – wurde sich zunächst über die Thesen de Prades empört. Diese waren den Rezensenten zumeist nur über die Darstellung der Gegner zugänglich. Die Reaktion änderte sich nach der Veröffentlichung einer satirischen Schrift und einer Apologie de Prades’, der 1752 Zuflucht am preußischen Hof gefunden hatte. Nun wurde der apologetische Anspruch de Pra­des’ gewürdigt, das Urteil gegen ihn als ungerecht verurteilt und der Skandal

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zum Anlass genommen, die preußische, protestantische Toleranz in Religionsangelegenheiten gegenüber vermeintlicher Intoleranz auf französischer bzw. katholischer Seite darzustellen (129). Die inhaltliche Auseinandersetzung mit de Prades Thesen trat demgegenüber zurück. Eine ausführliche inhaltliche Auseinandersetzung mit den Thesen nahm nur Siegmund Jakob Baumgarten in den Nachrichten von merkwürdigen Büchern vor, der insbesondere de Prades konfessionelle Polemik gegen den Protestantismus monierte. Insgesamt zeigt Wendebourg mit der Untersuchung der Rezeption der Debatte um de Prades, in welch hohem Maße Zeitschriften dazu beitrugen, Ideen auch über Landesgrenzen hinweg zu verbreiten und wie sehr die Rezeption durch Publikationsereignisse den Rezeptionsprozess verändert. Eine von Wendebourg beleuchtete Debatte wurde vom Engländer Henry St. John Bolingbroke mit seinen Letters on the Study and Use of History (1752) ausgelöst (Kapitel V). Hierin bestritt Bolingbroke die historische Zuverlässigkeit insbesondere des Alten Testaments, womit er in England eine stürmische Debatte auslöste. In Deutschland wurden Bolingbrokes Thesen zunächst nicht direkt besprochen, sondern nur gegen Bolingbroke gerichtete Schriften. Wendebourg untersucht hier erneut die Rezensionen in vier Zeitschriften, wobei ein Schwerpunkt auf den Göttingischen Anzeigen liegt. Die Schriften gegen Bolingbroke wurden hinsichtlich ihrer Qualität und Überzeugungskraft zwar unterschiedlich gewertet, doch war dabei nicht strittig, dass die historische Zuverlässigkeit der Bibel gegen Bolingbroke verteidigt werden müsse. 1758 übersetzte Christian Gottlieb Bergmann Bolingbrokes Letters ins Deutsche und veröffentlichte die Übersetzung mit apologetischen Kommentaren. Lessing rezensierte diese Übersetzung in den Briefen, die neueste Literatur betreffend, kritisierte Bergmann für seine philologisch mangelhafte Übersetzung und nahm Bolingbroke vor „orthodoxer“ Kritik in Schutz. Diese Position Lessings führt Wendebourg auf die konfessionelle und institutionelle Bindungslosigkeit der Briefe zurück; zudem habe sich die Debatte in Berlin, also im außeruniversitären Kontext, anders entwickelt als in Halle, Leipzig und Göttingen, wo die Aufklärer immer Teil des universitären Diskurses geblieben seien. 1774 erfolgte durch Hamann noch einmal eine auszugsweise Übersetzung der Letters Bolingbrokes gemeinsam mit Auszügen aus einer Schrift gegen ihn. In der ADB wurde diese Edition Hamanns nur knapp rezensiert; die Argumente der Gegenschrift seien längst überholt und alttestamentliche Texte hätten keinen unmittelbaren Anspruch für die Gegenwart. Wendebourg deutet dies als allgemeine Wahrnehmungsveränderung: Thesen, die in den 1750er Jahren noch äußerst strittig gewesen seien, würden nun mit großer Selbstverständlichkeit vorgetragen. Freilich kommt hier nur die Rezeption der Neuedition Hamanns in der ADB in den Blick; für eine genauere Überprüfung der These Wendebourgs wäre noch einmal eine Untersuchung von weiteren Rezensionen, sollte es sie geben, vonnöten, insbesondere der Zeitschriften, die bereits in den 1750er Jahren die Debatte um Bolingbroke kommentiert hatten. Auch hätten die Kontexte der Publikation Hamanns – mitten im Fragmentenstreit! – noch stärker

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beleuchtet werden können. Der in der ADB häufig vorherrschende Tonfall, etwas sei längst entschieden oder bestimmte Thesen längst überholt, sollte in der Forschung nicht vorschnell übernommen werden.1 Das folgende Kapitel nimmt Johann Salomo Semler und seine Nähere Anleitung zum nützlichen Fleisse in der ganzen Gottesgelersamkeit (1757) in den Blick (Kapitel VI). Hierbei handelt es sich um eine Verteidigungsschrift der Theologie, die durch Religionskritik in Bedrängnis geraten sei und die sich gegen diese Kritik insbesondere mit einer verbesserten Ausbildung für Theologen wappnen müsse. Wendebourg gelingt es wieder sehr gut, die institutionellen Voraussetzungen für Semlers Arbeit in den Blick zu nehmen: So ermöglichte die umfangreiche Bibliothek in Halle Semler, die gesamteuropäische Religionsdebatte, insbesondere Schriften aus England und Frankreich, zu rezipieren. Seine Schrift ist zudem nur in Auseinandersetzung mit der in Halle praktizierten, auf praxis pietatis ausgerichteten Theologenausbildung zu verstehen. Neben konkreten Anregungen für das Theologiestudium ging es in der Schrift auch um die Wichtigkeit der Rekonstruktion historischer Entstehungsbedingungen biblischer Texte und die Ablehnung einer „mystischen“ Auslegung der Bibel. Die von Wendebourg angeführten vier Rezensionen der Schrift Semlers äußerten sich sehr positiv hinsichtlich seines Anliegens, den Standard des theologischen Studiums zu heben. Dass das Echo auf Semlers Schrift keineswegs nur positiv ausfiel, zeigen unter anderem Semlers zwei Anhänge zu der Schrift, in denen er sich gegen Häresievorwürfe verteidigte, die vor allem im unmittelbaren Hallenser Kontext aufgekommen waren. Hier führt Semler auch die vier von Wendebourg besprochenen positiven Rezensionen auf seine Schrift an, um seine Position als von der Gelehrtenwelt akzeptiert darzulegen. Es wäre zu fragen, ob die von Semler selbst zitierten Rezensionen als repräsentativ für die Meinung in der Gelehrtenwelt gelten können und ob eine Ergänzung durch weitere Stimmen nicht ein differenzierteres Bild hätte schaffen können. Dann wäre unter Umständen auch die von Wendebourg aufgestellte These, die durchgehend positive Rezeption Semlers in den gelehrten Zeitschriften und die vielerorts schon fortgeschrittenere Offenbarungskritik stehe seinen Konflikten in Halle und der dortigen pietistischen Prägung von Bibelauslegung und Theologiestudium gegenüber (295), noch einmal zu differenzieren. Wendebourg zeigt dann auch, dass die positive Wertung Semlers in den Zeitschriften keineswegs von Dauer war: Schon die Rezensionen zu seinem Institutio brevior waren nicht mehr durchgängig positiv und spätestens mit seiner Zustimmung zum Woellnerschen Religionsedikts wuchs die Kritik beispielsweise der ADB an Semler. 1   Darauf, dass in der historischen Forschung die Selbstansprüche der „Aufklärer“ häufig für bare Münze genommen werden und damit letztlich der „Propaganda“ dieser „Aufklärer“ auf den Leim gegangen wird, verweisen auch Andreas Pečar u. Damien Tricoire: Falsche Freunde. Frankfurt/Main 2015, 33. Dabei sei es wichtig, das interessengeleitete Selbstbild der Aufklärer nicht vorschnell zu übernehmen.

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Wendebourg macht deutlich, dass Semlers Position, insbesondere zur Bibelhermeneutik, sich erst in den Auseinandersetzungen in Halle schärfte und präzisierte. Hier hätten die Halleschen Kontexte noch etwas präziser beleuchtet werden können, sodass die von Wendebourg stark gemachten überregionalen und gesamteuropäischen Rezeptionsprozesse und Ideentransfers um Betrachtungen von konkreten lokalen Konfliktlagen ergänzt worden wären. Dabei wäre auch eine genauere Darstellung der Auslegungstradition wünschenswert gewesen, gegen die Semler seine eigenen Thesen formiert. Bei Wendebourg figuriert diese Auslegungstradition als „mystisch“, „spiritualistisch“ (186), „pietistisch“ (196) und „enthusiastisch“ (227), ohne dass die jeweiligen Inhalte dieser Theologie(n) genauer dargelegt würden. Die letzte von Wendebourg beleuchtete Debatte befasst sich mit dem Göttinger Theologen Gottfried Less (Kapitel VII). Auch hier macht Wendebourg die gesamteuropäische Verzahnung der Debatten deutlich: So wurde Less zu seinem Beweiß der Wahrheit der christlichen Religion (1768) angeregt durch Jean Lévesques de Burgignys Examen critique des apologistes. Der französische Aufklärer de Burgigny vertritt in diesem anonym erschienenen Werk die These, der Wahrheitsanspruch der Bibel sei wissenschaftlich nicht sicher zu bestimmen. Less rezensierte die Schrift kurz nach deren Erscheinen kritisch für die Göttingischen Anzeigen und veröffentlichte zwei Jahre später seinen apologetischen Beweiß. Den Nachweis der historischen Zuverlässigkeit der biblischen Überlieferung hält er sowohl für möglich als auch für nötig zum Erweis der Wahrheit des Christentums. De Burgignys Werk wird daher als Angriff auf die christliche Religion insgesamt betrachtet. In den gelehrten Zeitschriften wurde Less’ Beweiß weitestgehend positiv rezensiert. In der Neuedition seines Werkes 1784 (nun unter dem Titel Ueber die Religion) veränderte Less einige seiner Thesen: Weissagungs- und Wunderbeweise hält er zwar weiterhin für notwendig, ergänzt wird dies aber mit dem Argument der moralischen Nützlichkeit der christlichen Religion. Als Grund für diese Verschiebung der Position Less’ wäre ganz konkret der Fragmentenstreit zu nennen, der bei Wendebourg aber erst im Fazit als Ursache für Veränderungen aufgeführt wird (298). Die Neufassung von Less’ Schrift wird dann in den Zeitschriften nicht mehr eindeutig positiv rezensiert. So hält Friedrich Gabriel Resewitz, Rezensent der ADB, historische Authentizität der Bibel gegenüber deren moralischen Wirkungen nicht mehr für entscheidend. Auf der anderen Seite wurde beispielsweise in den Tübingischen gelehrten Anzeigen der Sorge vor Abweichungen von dogmatischen Positionen Ausdruck verliehen.Wie sehr in der Folgezeit vermittelnde Theologen wie Less zuweilen selbst ins Kreuzfeuer von Kritik oder Spott gerieten, zeigen satirischen Schriften Christian Ludwig Paalzows (1785 und 1787), die die vermittelnden Positionen Semlers, Michaelis und Less’ als einander widersprechend und der Religionskritik, beispielsweise des Examen critique, letztlich nicht gewachsen darstellen. Paalzow konstatiert dabei auch eine potenziell schädliche Wirkung von Religion überhaupt, wobei er sich neben dem Christentum auch auf das Judentum bezieht; so bedrohe das jüdische Recht die allgemeinen Regeln

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menschlichen Zusammenlebens. Diese antijudaistische Position hätte vom Autor noch stärker mit der Schrift Christian Wilhelm Dohms von 1781 (Ueber die bürgerliche Verbesserung der Juden) und dem darauffolgenden Konflikt um staatsbürgerliche Rechte von Juden in Verbindung gebracht werden können. Paalzow äußerte sich in den Debatten um die Judenemanzipation mehrfach und dabei stets antijudaistisch.2 Das Argument, das jüdische Gesetz würde Juden daran hindern, sich einem staatlichen Gesetz gegenüber loyal zu verhalten, taucht in diesen Debatten vielfach auf – die Verknüpfung von Paalzows allgemeiner Religionskritik mit seinem Antijudaismus ist also von konkreter und aktueller politischer Relevanz. Die Rezensionen in den gelehrten Zeitschriften hielten Paalzows satirische Schriften für schädlich. Auch für die ADB gingen sie zu weit, hielten sie inzwischen selbst den Offenbarungsanspruch des Alten Testaments ebenso wie den Gedanken der Inspiration für aufgebbar. Wendebourg bündelt die Ergebnisse seiner Untersuchungen in einem Fazit (Kapitel VIII), wobei er besonders hervorhebt, wie Zeitschriften an der Verbreitung aufklärerischer Ideen beteiligt waren, Grenzen zwischen universitärem und außeruniversitärem Kontext aufbrachen und durch die hier gespiegelte öffentliche Reaktion zu Veränderungen in der Theologie beitrugen (303). Zu diesen Veränderungen zählt Wendebourg hinsichtlich der Debatten um die Schrift insbesondere das sukzessive Abrücken vom Beweis der historischen Zuverlässigkeit der Bibel hin zu einer die individuellen und kollektiven Wirkungen der Schrift hervorhebenden Deutung und Wertung (301). Dadurch, dass Zeitschriften den Diskurs zwischen verschiedenen Beteiligten aufrechterhielten, hätten sie zum theologisch vermittelnden Charakter der deutschen Aufklärung beigetragen (305). Insgesamt lässt sich sagen, dass bei Einbezug von Zeitschriften mit einer vermeintlich „pietistischen“ oder „orthodoxen“ Position (beispielsweise die Hallischen gelehrten Zeitschriften oder Heinrich Martin Kösters Gießener Zeitschrift Die neuesten Religionsbegebenheiten mit unpartheyischen Anmerkungen) sich unter Umständen noch einmal ein anderes Bild von den Debatten ergeben hätte. Die Darstellung der Göttingischen Anzeigen und der ADB als „Leitmedien“ (14) verdankt sich zumindest teilweise der zeitgenössischen Wahrnehmung und Darstellung. Die Berliner Aufklärung war nicht einfach Zentrum, sondern positionierte sich als solches. Durch die Darstellung bestimmter Positionen als selbstverständlich in der ADB werden andere Positionen von vorneherein als indiskutabel ausgeschlossen, auch wenn sie durchaus vertreten wurden. Diesen marginalisierten Positionen ebenfalls nachzugehen, würde sich ergänzend lohnen. Mit dieser erweiterten Perspektive ließen sich dann eventuell einige Aus2  Vgl. z. B. die Schriften Die Juden, Berlin 1799, und Ueber das Bürgerrecht der Juden, Berlin 1803. Vgl. zu diesen Debatten auch Anne Purschwitz: Jude oder preußischer Bürger? Die Emanzipationsdebatte im Spannungsfeld von Regierungspolitik, Religion, Bürgerlichkeit und Öffentlichkeit (1780–1847). Göttingen 2018.

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sagen, die bestimmte Entwicklungen als notwendig erscheinen lassen – so ist beispielsweise davon die Rede, das Abrücken vom klassischen dogmatischen Schriftbeweis sei letztlich „unvermeidbar“ gewesen (298) – ein wenig vorsichtiger und weniger eindeutig formulieren. Auch hätte an einigen Stellen die Erweiterung um eine stärkere lokale und innerdeutsche Kontextualisierung das Bild vervollständigen können – denn die Rezeptionen westeuropäischer Schriften geschahen ja immer in einen ganz bestimmten, konkreten Kontext mit ganz eigenen Fragestellungen und Konflikten hinein. Die große Stärke dieses Buches besteht darin, dass der Blick auf Debatten nicht auf Einzelpositionen gerichtet ist, wodurch deutlich wird, dass viele Positionen erst in Auseinandersetzung, Abgrenzung und partieller Rezeption entstehen und sich verändern. Auch gelingt es Wendebourg, institutionelle und auch ganz praktische Voraussetzungen mit Veränderungen von Debatteninhalten zu verzahnen. Zudem behält er die gesamteuropäische Dimension der Debatten stets im Blick und macht Verzahnungen über Landesgrenzen hinweg sehr deutlich. Wendebourgs Buch zeigt, dass die Zeitschriften des 18. Jahrhunderts eine echte Fundgrube darstellen und viel Potenzial für weitere Forschung bieten. Thea Sumalvico

Halle a. d. Saale

Ekaterina Emeliantseva Koller: Religiöse Grenzgänger im östlichen Europa. Glaubensenthusiasten um die Prophetin Ekaterina Tatarinova und den Pseudomessias Jakob Frank im Vergleich (1750–1850). Wien, Köln, Weimar: Böhlau 2019 (Lebenswelten osteuropäischer Juden, 17). – 352 S. Die vorliegende Studie befasst sich mit zwei Fällen religiöser „Eigenwilligkeit“ im Osteuropa des 18. Jhs.: der St. Petersburger Gemeinschaft um Ekaterina Tatarinova (1783–1856) (Kap. 3, 49–160) und der Warschauer Anhängerschaft Jakob Franks (1726–1791) (Kap. 4, 161–283). Beide Gruppen stellten einen Fall „religiös-kultureller Grenzüberschreitung“ (28) dar. Die Studie betrachtet mehrfache religiöse Zugehörigkeiten und fragt nach entsprechenden Alltagsstrategien von Gläubigen, aus deren Perspektive die Betrachtung dann auch erfolge (23), und zwar anders als die bisherige Forschung, die „auf die kirchlichen Strukturen und den Klerus“ fokussiert sei (23). Das erklärte Anliegen der Vf.n besteht u. a. im „Versuch, die Ost-West-Dichotomien aufzubrechen und einen Beitrag zur integrierten Geschichte Europas zu leisten“ (23f.). Nach der ausgesprochen detaillierten Schilderung von Kontroversen zur Historiographie, Kulturgeschichte und Begrifflichkeit der religiösen Grenzen und Grenzüberschreitungen erläutert die Vf.n ihr Anliegen und die Methode (12– 48). Die Studie will „das große Narrativ über die Transformation der Religion in der modernen Welt“ hinterfragen und dabei „mikro-historisch“ und „dezentralisierend“ vorgehen (28). Die Berechtigung für eine parallelisierende Be-

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trachtung der beiden Fälle sieht die Vf.n gegeben in: 1. den eschatologischen Erwartungen, antiklerikalen Stimmungen, der Ablehnung der schriftlichen Tradition; im Fehlen einer stringenten Glaubensdoktrin und im Wandel der Glaubensinhalte; in Prägung durch eine breite Palette verschiedener mystischer Traditionen. 2. In der zentralen Rolle mystischer Erfahrungen und ekstatischer Riten. 3. In der Herausforderung der traditionellen Hierarchien durch die soziale Organisation (32). 4. In der gleichzeitigen Zugehörigkeit zu zwei Religionsgemeinschaften; diese werde als „situative Religiosität“ konzipiert (33). Dabei möchte die Vf.n die Bezeichnung „Sekte“ meiden und stattdessen von „religiösem Eigensinn“ reden (36). Zentral ist der Begriff „Liminalität“ oder „der liminale Raum“. Dieses von Victor Turner eingeführte ethnologisch-anthropologische Konzept biete „eine produktive Möglichkeit, der Falle einer essentialistischen und statischen Betrachtung kultureller Phänomene […] zu entkommen“ (40f). Im Kapitel 3.1. (52–68) kritisiert die Vf.n die für die orthodoxe Geistlichkeit und den staatlichen Beamtenapparat des damaligen Russlands typische Verwendung der Kategorie „Sekte“ in Bezug auf den Tatarinova-Kreis (56, 58) sowie die Versuche von dessen eindeutiger Einordnung in der Forschung (57), die die „Bezüge des Phänomens Tatarinova zur westeuropäischen Mystik“ (63) sowie dessen „spirituellen Alltag“ (67) bisher zu wenig beachtet habe. Die Beschäftigung mit dem Tatarinova-Kreis erlaube zudem, die Komplexität der Epoche und Politik Alexanders I. aufzuzeichnen. Als erstes werden „das soziale Profil des Tatarinova-Kreises und die Formen der Vergemeinschaftung“ beleuchtet (68–74), die es den Mitgliedern erlaubten, „ständisch-soziale Grenzen zu überschreiten und genderbezogene Zuschreibungen zu überwinden“ (70), bei Frauen allerdings nur im Rahmen des ekstatischen Tanzes (71). Die Grenze der Gemeinschaft nach außen war „unscharf und situativ“, das Innenleben „weder konstant noch fest definiert“ (72). Der Kreis befand sich u. a. unter einem starken Einfluss „der deutschen Erweckung und der französischen Quietisten“ (73). Das „Geheimnis“ der Gruppe stand, nach Tatarinova, in 1Kor 14; man glaubte, über die „Gabe der Prophezeiung und des Zungenredens“ zu verfügen (72). Die „Abgrenzungsmechanismen“ der Gruppe seien „ähnlich variationsreich wie bei den pietistischen Konventikeln“ gewesen (73). So war die religiöse Praxis der Gruppe „liminal und situativ“ (vgl. die Überschrift des Kap. 3.3.). Anschließend werden „die Orte der Grenzziehungen und die Orte der Liminalität in der alltäglichen Kommunikation“ (75) geschildert: Gottesdienste, Gebetsräume (77–83), Lektüre (84–90): „zahlreiche westeuropäische Traktate aus dem Umfeld der pietistischen Mystik und der Erbauungsliteratur der Erweckung“ (89). Die Beobachtungen werden an einzelnen Biographien (91–114), an der Beteiligung einzelner Mitglieder an der Wohltätigkeit und der Tätigkeit der Bibelgesellschaft festgemacht. Sehr eindrücklich wird die besondere Rolle des Michajlovskij-Schlosses in St. Petersburg skizziert, das durch seine Bewohner zu einer Zentrale alternativer Glaubens- und Philosophierichtungen wurde. Tatarinova sei stets darum bemüht

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gewesen, sich vom Skopzentum zu distanzieren; im Rahmen dieser Polemik verfasste ein Anhänger des Kreises, Martyn Urbanovič-Piletckij –, von dem der erste Versuch stamme, „die Gemeinschaft theologisch zu begründen“ (119) –, eine apologetische Schrift (Über die Skopcy, 121), in der vom Skopzentum Abstand genommen und u. a. auf „den Ersten Korintherbrief des Paulus“ (ebd.) (gemeint ist sicherlich 1Kor 14) verwiesen wird. In diesem Zusammenhang spricht die Vf.n erneut von der Verwandtschaft des Kreises mit dem deutschen Pietismus („Die Idee der besonderen Versammlungen war bereits im deutschen Pietismus verankert, eingeführt von einer der zentralen Figuren, Philipp Jacob Spener“, 129) und erwähnt das Motiv der ecclesiola in ecclesia und 1Kor 14 (129). Das Zwischenfazit (3.5. „Liminale Praxis und situative Religiosität zwischen russischer Orthodoxie und mystischen Traditionen“, 156–169) lautet: Der Kreis Tatarinovas stellt ein „komplexes Phänomen transkonfessioneller Grenzüberschreitung“ dar; die Situation ergab „eine präzedenzlose religiöse Offenheit“, die „mit der Entwicklung der Alexandrinischen Religionsreformen“ eng verbunden war (156). Die „religiöse und soziale Praxis“ des Kreises war „liminal und situativ“ (157). Das vierte Kapitel befasst sich mit der „Warschauer Gemeinschaft von Neukatholiken aus der Anhängerschaft“ Jakob Franks.Während das bisherige Inter­ esse der Frankismusforschung eher der Person und Lehre Franks gegolten habe, möchte die Studie „zu einer differenzierteren Sichtweise v.a. der alltäglichen Strategien jener Menschen beitragen“ (180). Dabei möchte die Vf.n die pejorative Bezeichnung „Frankisten“ meiden und stattdessen von „frankistischen Netzwerken“ sprechen (169). Auch die Betrachtung des zweiten Falls beginnt die Vf.n mit der Untersuchung des „sozialen Profils und der Formen der Vergemeinschaftung“ der Gruppe (181–190) vor und nach dem Umzug nach Warschau sowie mit einer ausführlichen Darstellung der sozial-wirtschaftlichen Situation ebenda (190– 196). Da die Taufe eine Vernetzung durch Patenschaften (233–243) und so den Eintritt in die ständische Hierarchie der polnischen Adelsrepublik ermöglichte, wurde der schnelle soziale Aufstieg der Neukatholiken von Konflikten mit dem polnischen Adel sowie massiven antijüdischen Unterstellungen und beidseitigen Streitschriften (200–224) begleitet. Im Kapitel 4.3. („Liminal und situativ: Kulturelle Praxis in der Warschauer Gemeinde aus Franks Anhängerschaft“, 196–200) polemisiert die Vf.n u. a. gegen die ältere Forschung, die „von der Prämisse einer klaren Trennung zwischen ‚wahrer innerer‘ und ‚rein äußerlicher‘ Religiosität“ ausging (196), während sich die Anhängerschaft Franks jedoch nur schwer „in den Kategorien von ,Separation‘ und ,Assimilation‘ beschreiben“, sondern vielmehr „mithilfe eines konzeptuellen Experiments ,situativer Religiosität‘ erklären lasse (197). Die Verteidiger aus den Reihen der Anhänger Franks wehrten sich gegen den Vorwurf, „nur rein ökonomische Zusammenschlüsse“ zu sein (221). Das Unterkapitel „Private Räume als Orte der Grenzziehung und der Liminalität“ beschreibt „Die Wohn- und die Festkultur“ der Anhänger Franks (225–233):

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eine Mischung von jüdischen, frankistischen, katholischen, bürgerlichen und adligen Elementen. Es werden ausgesprochen detailliert Namen, Straßen, Adressen aufgelistet. Anhand von einzelnen Familiengeschichten und Biographien wird zeigt, dass es möglich war, „gleichzeitig ein nobilitierter Offizier des polnischen Heeres und Freimaurer zu sein und an den frankistischen Netzwerken zu partizipieren“ (280). „Diese vielschichtigen Identitäten waren situativ, die kulturelle Praxis liminal“ (280). Im Zwischenresümee (Kap. 4.5., 280–283) stellt die Vf.n fest: „Die kulturelle Praxis der Warschauer Neukatholiken aus frankistischen Netzwerken stellt ein komplexes Phänomen transreligiöser Grenzüberschreitung dar“ (281). Die Integration „erfolgte in einem sehr spezifischen und eigensinnigen Modus, der hier als situative Religiosität konzeptualisiert wurde“ (281). „Die privaten Räume“ dieser „wohlhabenden Elite“ waren dabei „Orte der Abgrenzung und der Liminalität zugleich“ (281). Im abschließenden fünften Kapitel (284–297) bringt die Vf.n die beiden Fälle zusammen, und zwar in ihrer Verbindung „durch die Person des Zaren Alexander I. in seiner evangelisierenden überkonfessionellen Vision“; der Zar zeigte Interesse an beiden Gruppen (285), da er selbst „unter starkem Einfluss der Oberrheinischen Erweckung stand“ (286). Auch die Anhänger Franks hatten „Berührungspunkte mit verschiedenen pietistischen Kreisen“, denn „die Tätigkeit der Halleschen Pietisten im Polen des 18. Jh. bereitete den Boden vor, auf dem die Konversion Franks und seiner Anhänger möglich wurde“ (286; diese Beobachtung wird nicht ausgeführt). Die ekstatische Praxis der beiden Gruppen (Kap. 5.2., 287–291) stellte eine Herausforderung von „sozial-kulturellen Normen der zeitgenössischen Gesellschaft“ dar (290). In der Zusammenfassung (Kap. 5.3. „Liminale Praxis, situative Selbstverortungen und sozialer Wandel“, 291–297) wiederholt die Vf.n ihren als roter Faden immer wiederkehrenden Gedanken: Der Moment der Selbstüberschreitung brachte die Anhänger der beiden Gruppen zur Notwendigkeit, nach bestimmten „Modi der Selbstverortung“ zu suchen; diese seien in der vorliegenden Studie „als situative Religiosität konzeptualisiert“ worden (291). Beide Gruppen „artikulierten situative Loyalitäten“; ihre „privaten Räume waren zugleich Orte der Grenzziehung und der Liminalität“, ihre „kulturelle Praxis war grenzüberschreitend“ (292). Die beiden Gruppen ließen sich in den Prozess der „generellen Individualisierung und Fragmentierung der frühneuzeitlichen Frömmigkeit“ einordnen (295), also der Phänomene, die mit dem „Einfluss des aufklärerischen Gedankenguts sowie der Veränderung des soziokulturellen Gefüges“ (295) einhergingen. Die „Geschichte des Östlichen Europas“ lasse sich somit „nicht in das Prokrustesbett einer ‚Phasenverschiebung‘ (Carsten Goehrke) zu den Entwicklungen in den westlichen Teilen des Kontinents“ hineinpressen (296). Die Arbeit zeichnet sich aus durch eine beeindruckende Quellennähe; die Ausführungen werden auf ausgesprochen zahlreiche Belege sowie Zusatzinformationen zu Personen und Phänomenen gestützt.

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Allerdings fällt bald eine gewisse Inkonsequenz in der Handhabung der Belege und Gestaltung von Anmerkungen auf: Angesichts der Fülle bibliographischer Angaben in den Fußnoten fallen die Stellen umso mehr auf, die einer eingehenderen Behandlung bedürften. Die Bemerkung, dass das „zentrale Lied“ des Tatarinova-Kreises, Gib uns, Gott, mit dem der ekstatische Ritus der „radenija“ eingeleitet wurde, „auf das Jesusgebet zurückgeht“ und eine „volkstümliche Interpretation der hesychastischen Praxis darstellt“ (79), beinhaltet sowohl eine These als auch zwei Termini, die hier nicht erläutert werden, während die Beobachtung wichtig ist, denn sie verleiht der Gruppe ein Stück Kanonizität. In der Anm. 109 (ebd.) wird zwar auf „Pančenko, 235–478“(!) verwiesen, jedoch ohne Angabe, welches von den fünf in der Bibliographie angegebenen Werken dieses Autors zu konsultieren wäre; die vorangehenden Anmerkungen enthalten keine Hinweise dazu. Nicht belegt bleibt auch die Tatsache, dass Ewa Frank sich als „illegitime Zarentochter“ „inszenierte“ und „gar teilweise den Nachnamen ‚Romanovna‘“ führte (253). Zu manch einem sekundären Thema werden hingegen umfangreiche Literaturlisten angeführt. Auf der Seite 104 Anm. 206 findet sich eine solche zur „medikalen Kultur des 18. Jh.“, zur „Geschichte der Humoralpathologie in Russland“ und zu „medizinischen Diskursen zu Beginn des 19. Jh.“. Wenn diese Ausführlichkeit hier damit begründet sein mag, in den allgemeinen historischen Hintergrund der Heilungspraxis bei Tatarinova einführen zu wollen, dann würde man genauso viele Literaturhinweise zum Hesychasmus erwarten. Manche Nachweise hinterlassen Fragen: Auf der Seite 34 kritisiert die Vf.n den herkömmlichen pejorativen Gebrauch des Begriffs „Sekte“, das vom lat. „sequi“ (folgen) stamme, während die „verbreitete volksetymologische“ Ableitung des Wortes vom lat. „secare“ (trennen) falsch sei. Dies wird in der Anm. 60 mit dem Hinweis auf W. Hardtwig (Genossenschaft, Sekte,Verein in Deutschland. Bd. 1: Vom Spätmittelalter bis zur Französischen Revolution. München 1997, 471 Anm. 16) untermauert. Schlägt man diese Stelle bei Hardtwig nach, findet man lediglich dieselbe Aussage, aber diesmal ohne jegliche Nachweise. Hier wäre ein Hinweis auf einen enzyklopädischen Artikel „Sekte“ oder ein lateinisches Wörterbuch einleuchtender und einfacher. Auf der Seite 253 wird nebenbei der RussischTürkische Krieg erwähnt; die Anm. 327 bietet die Literatur dazu: Hier stammen drei von vier Titeln aus der Mitte des 19. Jh.s und sind russischsprachig; bei dem vierten Titel (Orlando Figes: Crimea. The Last Crusade. 2010) verweist die Vf.n auf die Seiten 32f. Das Buch von Figes befasst sich aber mit dem Krieg von 1853 bis 1856; die bei der Vf.n gemeinte Zeitspanne 1806 bis 1812 wird auf der Seite 32f. nur erwähnt. Warum die Vf.n ausgerechnet auf dieses Buch und darin auf die Seite 32 verweist, bleibt unklar, wie auch wenn hier diese drei sehr alten russischen Titel als Belege herangezogen werden und nicht aktuellere Literatur. Die „Anweisung des Oberprokurors [Aleksandr] Golicyn“, die die „Übersetzungen der mystischen Literatur aus dem Französischen gar zur obligatorischen Lektüre der weltlichen und monastischen Geistlichkeit“ machte (85), belegt die Vf.n nicht durch die Angabe des entsprechenden Dokuments selbst, sondern

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durch den Verweis auf einen Aufsatz von A. Etkind („Umirajuščij Sfinks“: Krug Golicyna-Labzina i peterburgskij period russkoj mističeskoj tradicii. In: Studia Slavica Finlandensia 13, 1996, 17–46, hier 22f.). Der Umstand, dass der oberste Kirchenleiter den Klerus dazu verpflichtet haben soll, französische Quietisten zu lesen, wäre von solch einer Gewichtigkeit, dass die Rezensentin diese Stelle bei Etkind unbedingt nachschlagen musste. Aber auch dieser beruft sich nicht auf das Dokument selbst; man findet bei ihm allerdings auch nichts von der „obligatorischen Lektüre“. Er schreibt lediglich, dass Golicyn mehr als 3.000 Exemplare eines Buches von Guyon auf Staatskosten „in 39 Eparchien“ verschicken ließ (Etkind, 22f.). Etkind beruft sich dabei seinerseits auf einen Aufsatz von N. Barsov (K istorii misticizma v Rossii. In: Christianskoje čtenie 1–2, 1876, 130 u. 142; dieser Aufsatz fehlt in der Bibliographie des vorliegenden Buches). Aber auch Barsov nennt kein Dokument, das diese Anweisung Golicyns enthalten würde. Auf der Seite 142 bietet er die Statistik der verschickten Exemplare, die aufgrund von „39 Raporten von Eparchialbischöfen und Klosteräbten“ erstellt wurde. Somit irrt sich auch Etkind, wenn er von „39 Eparchien“ schreibt; hier ist die Rede von 39 Personen, die nach der Entlassung Golicyns dem Synod bestätigt haben, die Bücher tatsächlich angeschafft zu haben. Alles in allem: eine „Anweisung des Oberprokurors“ über die „obligatorische Lektüre“ französischer mystischer Literatur für den russischen orthodoxen Klerus kann unter den geschilderten Umständen nicht als belegt gelten; die Existenz eines solchen Dokuments muss wohl überprüft werden. Die Handhabung der Belege durch die Vf.n bedürfte m.E. einer Revision. Ungewöhnlich ist auch die Zitierweise der Bibelstellen („Apostel“ für die „Apostelgeschichte“ [124]; Angabe der Bibelausgabe mit der Seitenzahl [!] [125 mit Anm. 286]; Bezeichnung des „Kapitels“ als „Vers“ [72] usw.). Das Buch enthält eine Reihe von terminologischen Unregelmäßigkeiten. Die Umschrift der russischen Pluralform für die Anhänger der Selbstverstümmelungssekte wird z. B. uneinheitlich gehalten: „Skopcy“ und „Skopzy“ (57, 120); Madame Guyon begegnet auch als „Gion“ (153), „Metropolit“ als „Mitropolit“ (99f.), „geistlich“ (im Sinne der Zugehörigkeit zur „Geistlichkeit“, also Klerus) wird hier zu „geistig“ („Geistige Akademie“ [86], „geistige Zensur“ [86]); die Gebete „vor der Hl. Kommunion“ werden zu den (in der Orthodoxie nicht existenten) Gebeten „an die Hl. Kommunion“ (98; die slawische Präposition „ko“, also „zu“, im Sinne der Vorbereitung zu etwas, die in anderen Zusammenhängen tatsächlich auch „an“ bedeuten kann, wurde hier falsch erfasst). Eine Inkonsequenz zeigt die Vf.n in ihrer scharfen Kritik an pejorativen Bezeichnungen: Während sie in Bezug auf den Tatarinova-Kreis das Wort „Sekte“ meidet, bezeichnet sie die pietistischen Kollegien als „Konventikel“ (73); sie möchte die Bezeichnung „Frankisten“ „nach Möglichkeit“ meiden (169), fährt jedoch fort, sie zu benutzen (z. B. 170, 189, 196, 233, 238). Das Buch erschließt ein breites Themenfeld und stellt eine ausgesprochen reichhaltige Materialsammlung zur Verfügung. Die Methode für deren Bearbeitung weckt aber Fragen. Die Untersuchung basiert auf einigen zentralen

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Kategorien, u. a. der „Liminalität“. Die erste sich aufdrängende Frage ist, ob dieser Begriff hier als die Referenzkategorie wirklich taugt, denn bei Turner geht es wohl um den dynamischen Zustand zwischen zwei Phasen, um einen Übergang. Dieser fehlt m.E. aber sowohl bei Tatarinova als auch bei den Warschauer Anhängern von Jakob Frank. Auch das erklärte Experiment der Vf.n, die Haltung der behandelten Gruppen als „situative Religiosität“ zu konzipieren, überzeugt in Bezug auf Frank nicht, und zwar aufgrund von seiner sehr konsequent betriebenen Politik der Vernetzung mit den Adelshäusern durch die Taufe. Es ist vielmehr danach zu fragen, inwiefern die freundliche Bezeichnung „situative Religiosität“ hier die herkömmlichen Unterstellungen aufzulösen hilft. Zweitens wirkt die von der Vf.n gewählte Methode der Quellenbefragung vielleicht doch etwas gekünstelt: Die Kategorien „liminal“ und „situativ“ kehren ständig wieder und begegnen in den Überschriften, Fragestellungen und Schlussfolgerungen. Man wird den Eindruck nicht los, dass das gesamte historische Material hier lediglich dazu da ist, um in im Voraus festgelegte idealtypische Kategorien eingepasst zu werden. Die Arbeit liefert m.E. ein Beispiel dafür, wie verfänglich die mikrohistorische Methode werden kann, wenn man den Stoff mit einem sozusagen strukturalistischen Anliegen angeht. Die Studie büßt m.E. somit etwas vom Charakter einer echten historischen Untersuchung ein. Drittens blieben mehrfache Erwähnungen von Berührungspunkten und Verwandtschaften der beiden Gruppen mit dem Pietismus (z. B. 73, 93, 105, 122 u.v.m.) nicht wirklich ausgeführt. Die für den Tatarinova-Kreis charakteristischen Merkmale, die hier als typisch pietistisch angeführt werden (das Thema des Herzens, die Unterscheidung zwischen den äußeren und inneren Christen usw.), sind auch für die gesamte asketische Literatur der Ostkirche (allen voran Makarios den Großen, den auch die Pietisten gut kannten) typisch und können in den Tatarinova-Kreis ja einfach durch die orthodoxe Frömmigkeit ‚vor Ort‘ gelangt sein, zumal die Vf.n selbst ein solches Beispiel nennt, wenn sie das In­ troituslied der Gottesleute mit dem hesychastischen Gedankengut verbindet. Es wäre sicherlich sinnvoll, pietistischen Einflüssen genauer nachzugehen, denn gerade im Pietismus selbst liegt doch ein weiterer, so gut greifbarer Ort des Grenzganges, der „Liminalität“ und der ,religiösen Situativität‘. Um nur ein Beispiel zu nennen: Die Funktion Pileckijs, schreibt die Vf.n, der ein Verehrer Jung-Stillings war, „beschränkte sich […] nicht nur auf das Organisatorische. Er verfasste Schriften religiösen Inhalts wie etwa ein Manuskript Über den Weg zur Vereinigung der Westlichen Kirche mit der Östlichen und las die Bibel auf Englisch und Französisch“ (119). (Was meint im Übrigen das genau, dass seine Funktion im Tatarinova-Kreis u. a. im „Lesen der Bibel auf Englisch und Französisch“ bestand?) An dieser Stelle würde man eine Auseinandersetzung mit der genannten Schrift erwarten. Das „prophetische Wort“ könne, so Pileckij an einer anderen Stelle, „nur in den privaten Versammlungen erfahren werden“ (123). Hier würde man m.E. fragen müssen, inwiefern sich diese mit den collegia pietatis

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vergleichen ließen; diese werden aber nicht einmal erwähnt. Die Idee der Geistestaufe sei „auch zentral für die radikal-pietistische Mystik und die Erweckungsbewegung als ein Akt der Wiedergeburt“ (124): Diese Aussage erfährt keine Fortführung und wird lediglich mit der Anm. 283, die eine Bibliographie zum radikalen Pietismus enthält, untermauert. Positiv muss man hervorheben, dass es der Vf.n durchaus gelingt, die mehrfachen religiösen Zugehörigkeiten, Netzwerke und Biographien anhand einer sehr breiten, mehrsprachigen Quellenbasis nachzuzeichnen. Das Buch hat einen weiterführenden Charakter, indem es darauf hinweist, wo nach den einer systematisch-theologischen und kulturhistorischen Untersuchung würdigen Inhalten noch gesucht werden kann. Anna Briskina-Müller

Halle a. d. Saale

Ute Gause: Töchter Sareptas. Diakonissenleben zwischen Selbstverleugnung und Selbstbehauptung. Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2019. – 296 S.; 23 s/w Abb. Ute Gause rückt in ihrem Buch das Leben und Wirken von drei Diakonissen in den Fokus, die zu unterschiedlichen Zeiten dem 1869 gegründeten Diakonissenmutterhaus in Bielefeld angehörten. Die Anstalt bekam 1876 den Namen „Sarepta“ verliehen. Schnell stieg sie zu einer Einrichtung auf, der viele hundert Schwestern angehörten (bald waren es mehr als 1.000), die in unzählige Arbeitsgebiete in Deutschland, Europa und auch darüber hinaus entsendet wurden. Im Jahr 1926 war Sarepta die größte Diakonissenanstalt der Welt (30). Ihren biographischen Studien stellt Gause eine Einleitung voran (11–40), in der sie eine gut verständliche Diskussion der Potentiale und Grenzen historischer Biographieforschung bietet. Eine Besonderheit der Geschichte der weiblichen Diakonie besteht darin, dass es sich bei Diakonissen nicht um „berühmte Frauen“ handelte. „Im Gegenteil: sie sind als Individuen hinter und in ihrer Gemeinschaft kaum erkennbar“ (17). Zugleich jedoch sind im Hauptarchiv Bethel (Bielefeld) viele Selbstzeugnisse von Diakonissen und andere Quellen überliefert, die eine Rekonstruktion des Schwesternlebens oft in vielen Details erlauben. Dies gilt analog auch für andere Diakonissenanstalten. Verwiesen sei hier auf die Bestände im Archiv der Fliedner-Kulturstiftung in Kaiserswerth. Diesen überlieferten Quellen widmet sich die Einleitung ebenso wie auch dem theologischen Konzept Sareptas und allgemein einer überblicksartigen Geschichte dieser Diakonissenanstalt. Das erste und umfangreichste Kapitel des Hauptteils trägt den Titel „Ursprung und Aufbau“ und ist Emilie Heuser (1822–1898) gewidmet (41–140). Heuser stammte aus Schlesien und war die Tochter eines Pfarrers. Nach dem Tod ihres Verlobten trat sie im Jahr 1853 in die Kaiserswerther Diakonissenan-

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stalt ein. Bereits 1854 wurde sie als Diakonisse eingesegnet, zudem konnte sie eine qualifizierte Weiterbildung als Apothekerin belegen. 1857 bis 1862 war Heuser in der Kaiserswerther „Orientmission“ unter anderem in Alexandria, Jerusalem und Beirut tätig, wo sie auf verantwortungsvollen Posten Führungserfahrungen sammelte. Anschließend übernahm sie wiederum eine Führungsposition in einem neu gegründeten Gütersloher Krankenhaus. 1869 schließlich wurde Heuser an das Bielefelder Diakonissenhaus entsandt. Hier sollte sie die Gründungsarbeit unterstützen. Obgleich Heusers „Bindung an Kaiserswerth und ihr Mutterhaus“ stets stark geblieben sei (65), sollte sie ohne Unterbrechungen bis zum Jahr 1895 Vorsteherin in Sarepta bleiben. Auch ihren Lebensabend verbrachte sie letztlich in Bielefeld, wo sie eine regelrechte Dynastie begründete: Ihre Nichten Anna und Marie Heuser traten ebenfalls als Schwestern in Sarepta ein und wurden später Vorsteherinnen der Diakonissenanstalt (131).1 Im Mittelpunkt des zweiten Kapitels mit dem Titel „Praxis“ (141–181) steht Anna Siebel (1874–1975), die nach Gauses treffender Einschätzung „in ihrer Unspektakulärheit wohl die repräsentativste“ der von ihr portraitierten Diakonissen ist (141). Siebel stammte aus dem von der Erweckungsbewegung geprägten Siegerland und war das zweitjüngste von insgesamt neun Kindern einer Familie, die in ärmlichen Verhältnissen lebte. Sie durchlief nur die grundlegenden Stadien der Ausbildung beziehungsweise Probezeit – die bei ihr, wie um das Jahr 1900 üblich, knapp sechseinhalb Jahre dauerte – und war dann von 1906 bis 1948 in der Gemeindepflege tätig. Hervorzuheben ist dabei ihre Arbeit in Herne, die im Januar 1921 einsetzte und erst 1948 endete. Das dritte Kapitel (182–245) – „Transformation“ – widmet sich Liese Hoefer (1920–2009), die als promovierte Psychologin mit bürgerlichem Hintergrund „wenig repräsentativ für die Mehrzahl der Schwestern Sareptas“ ist (182). Hoefer war als junge Frau überzeugte Nationalsozialistin und begab sich nach der durch die Schrecken des Krieges ausgelösten Desillusionierung auf eine spirituelle Suche, die sie 1955 nach Sarepta führte. Bis zu ihrem Tod blieb sie Mitglied der Schwesternschaft. Die Fragen, was das Diakonissenamt ausmacht und wie innerhalb der Diakonie die Sorge für Andere mit einer gelebten Spiritualität in Einklang gebracht werden kann (230), trieben Hoefer zeitlebens um und führten dazu, dass sie in einer Zeit der stark abnehmenden gesellschaftlichen Bedeutung des Diakonissenamtes zahlreiche Reformimpulse ausformulieren und erproben konnte. Im hilfreichen Anhang (259–295) bietet Gauses Buch neben der Bibliographie noch einige für ihre Argumentation zentrale Quellen (vorwiegend Briefe), 1   Zu Heusers Leben siehe auch Claudia Puschmann: Diakonisse Emilie Heuser (1822–1898). Zwischen Demut und Leistungsverantwortung. Berlin, Münster 2019. Puschmanns knapp 100 Seiten umfassendes Buch ist fast zeitgleich zu Gauses Studie erschienen und wurde von ihr daher nicht rezipiert. Nach Einschätzung des Rezensenten ist Puschmanns Arbeit jedoch eher populärwissenschaftlich ausgerichtet.

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die bis dato nicht ediert wurden. Zudem findet sich hier eine Zeittafel zur Geschichte Sareptas sowie eine Liste der Vorsteherinnen und Vorsteher mit ihren jeweiligen Amtszeiten. Den Ausgangspunkt von Ute Gauses Buch bildet ihre Beobachtung, dass die Geschichte Sareptas bis heute nicht historisch-kritisch aufgearbeitet sei (32). Auch an vielen anderen Stellen ihrer Arbeit betont Gause Desiderate in der Erforschung der Geschichte der weiblichen Diakonie. So fehle weiterhin eine moderne Institutionengeschichte der Diakonissenanstalten (250). Gleichwohl liegt eine Reihe einschlägiger Arbeiten zu verschiedenen Aspekten der Geschichte der weiblichen Diakonie vor, auf die Gause in ihrem Buch auch zurückgreift. Als maßgebliche Autorinnen und Autoren seien hier – neben Ute Gause selbst – (unter anderem!) Julia Hauser, Jochen-Christoph Kaiser, Uwe Kaminsky, Silke Köser und Rajah Scheepers genannt. Hauser und Köser2 berücksichtigen dabei in besonders starkem Maß Selbstzeugnisse als Quellen und werfen dadurch Schlaglichter auf die in institutionengeschichtlichen Arbeiten oft unterbelichtete Perspektive der Diakonissen. Genau hieran knüpft Gause an, die mit ihrer Darstellung dazu beitragen möchte – und dies ist ihr nach Einschätzung des Rezensenten gelungen – eine historisch-kritische Aufarbeitung der Geschichte Sareptas voranzubringen. Die Diakonissen selbst, die wegen ihrer Bedeutung für die Gesellschaftsgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts „unverzichtbarer Teil einer Frauengeschichte“ seien (18), müssten dabei in den Fokus gerückt werden. Gauses biographische Fallstudien beleuchten jedoch nicht „nur“ das Leben und Wirken der drei genannten Diakonissen, die gerade wegen ihrer Unterschiedlichkeit so interessant sind. Vielmehr gelingt es Gause, an verschiedenen Stellen die Perspektive zu weiten und ausgewählte Episoden der Geschichte Sareptas bzw. der weiblichen Diakonie insgesamt kritisch zu beleuchten. Exemplarisch genannt sei hier ihre Ausein­ andersetzung mit der Haltung Sareptas und seiner Schwestern während des Nationalsozialismus (u. a. 164–176, 182–193). Fragt man danach, warum die Geschichte der Diakonie und insbesondere der Diakonissen trotz ihrer unbestreitbar großen Bedeutung lange Zeit kaum aufgearbeitet wurde, erweist sich das Konzept des „Gendering Tradition“ als hilfreich. Ulrike Gleixner befasste sich hiermit und schlussfolgerte, dass Akteurinnen „in der Reformbewegung des Pietismus und in der Erweckungsbewegung eine aktive und gestaltende Rolle eingenommen haben“. Zugleich jedoch seien sie aus den jeweiligen Erinnerungskulturen schrittweise verdrängt worden und auch in der historischen Forschung sei dieser Exklusionsprozess oft fortgeschrieben und eine „Generationenabfolge frommer Männer

2   Julia Hauser: Competing Missions. German Religious Women in Late Ottoman Beirut. Leiden, Boston 2015; Silke Köser: Denn eine Diakonisse darf kein Alltagsmensch sein. Kollektive Identitäten Kaiserswerther Diakonissen 1836–1914. Leipzig 2006.

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mit ihren hervorragenden Leistungen“ konstruiert worden.3 Genau dies beobachtet Ute Gause am Beispiel Emilie Heusers, die „recht schnell in Vergessenheit geriet“, obgleich sie neben Friedrich von Bodelschwingh (1831– 1910) „die tragende Säule Sareptas“ war (132; vgl. auch 139f.) und über zwei Jahrzehnte maßgeblich den Aufbau und die Expansion Sareptas prägte. Allen Demutsidealen der Diakonie zum Trotz zeigte Heuser dabei Führungskompetenz und Durchsetzungsvermögen. Gause gelingt es, anhand der Lebenswege ihrer drei Protagonistinnen, die mit vielen Zitaten aus ihren Briefen und anderen Quellen selbst zu Wort kommen, die Grundlinien der Geschichte Sareptas anschaulich zu skizzieren (auch die Abbildungen tragen zu dieser Anschaulichkeit bei). Die Jahrzehnte um 1900 waren dabei durch eine enorme Expansion gekennzeichnet. Mehr und mehr Frauen traten in Sarepta ein und wurden in dem immer dichter werdenden Netz aus medizinischen Anstalten und Einrichtungen der Inneren Mission in Bethel ausgebildet. In Krankenhäusern und Erziehungseinrichtungen im ganzen Kaiserreich wurden Diakonissen eingesetzt und viele Mutterhäuser aus Deutschland entsandten Schwestern ins europäische und außereuropäische Ausland.4 Ab dem frühen 20. Jahrhundert setzten in den von den Diakonissen ausgeübten Berufen Professionalisierungstendenzen ein, von denen die Diakonie zusehends abgehängt wurde bzw. die sie nicht mitgehen wollte. Ganz allgemein standen Frauen auch aus einfachen Verhältnissen zunehmend mehr Optionen für ihre Lebensgestaltung offen. Gleichwohl kam es in Sarepta erst ab den 1960er Jahren – und dies gilt analog für viele andere Diakonissenhäuser – zu einem Rückgang der Schwesternzahlen (212) und in der Folge zur Aufgabe vieler Arbeitsfelder. Diese Entwicklung führte zu Verunsicherungen und Reformversuchen, die ganz maßgeblich von Liese Hoefer geprägt wurden. Den voranschreitenden Bedeutungsverlust der weiblichen Diakonie konnte jedoch auch Hoefer nicht aufhalten. Als besondere Zäsur für die Geschichte Sareptas ist die im Jahr 1995 erfolgte Aufgabe des alten Mutterhauses zu nennen (243). Kritisch zu bemerken ist aus Sicht des Rezensenten, dass die Autorin bisweilen etwas abrupt zwischen einzelnen Themen hin- und herspringt und dabei manchmal die Stringenz in der Darstellung und Argumentation etwas abhandenkommt. Eine Nachjustierung der nicht immer ganz überzeugenden Gliederung wäre hier womöglich sinnvoll gewesen.Wünschenswert wäre ferner etwas mehr Gründlichkeit bei der Endredaktion gewesen, denn an manchen Stellen stören Redundanzen und kleinere Ungereimtheiten den Lesefluss. So erwähnt Gause kurz hintereinander gleich zweimal, dass Emilie Heuser mit von Bodel3   Ulrike Gleixner: Erinnerungskultur, Traditionsbildung und Geschlecht im Pietismus – Einleitung. In: Gendering Tradition. Erinnerungskultur und Geschlecht im Pietismus. Hg. v. U. Gleixner u. Erika Hebeisen. Affalterbach 2007, 7–19, hier 8. 4   Siehe hierzu Michael Czolkoß-Hettwer: Transnationale Möglichkeitsräume. Deutsche Diakonissen in London (1846–1918). Göttingen 2022.

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schwinghs Amtsantritt in Sarepta im Jahr 1872 die Hoffnung auf einen „Neubeginn“ bzw. „Veränderung“ verband (81f.). In ihrer interessanten Analyse der Dissertation Liese Hoefers schreibt Gause zunächst, dass Hoefer im Zuge ihrer Datenerhebung „fast achtzig […] Jugendliche“ befragt hätte (189).Wenig später heißt es: „Es wurden Gespräche mit 80 Jugendlichen […] geführt“ (190). Zudem betont Gause nach Ansicht des Rezensenten etwas zu stark die Desiderate in der Erforschung der Geschichte der weiblichen Diakonie. Dass auf diesem Feld das Potential für zahlreiche weitere Forschungen liegt, die gerade auch mittels der Auswertung der überlieferten Selbstzeugnisse der Diakonissen neue Einsichten in die Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts (bis in die jüngste Zeitgeschichte) gewähren können, steht außer Frage. Zugleich jedoch hat die Geschichte der weiblichen Diakonie – und auch anderer religiöser Schwesternschaften – in jüngerer Vergangenheit erfreulicherweise wachsende Aufmerksamkeit erfahren. Zusätzlich zu den von Gause ausgewerteten Arbeiten sei hier noch exemplarisch darauf verwiesen, dass die Geschichte der Krankenpflegediakonissen in zahlreichen wegweisenden Arbeiten von Karen Nolte und Susanne Kreutzer mittlerweile gut erforscht ist5 und dass mit einer Arbeit Peggy Renger-Berkas eine Studie zur Geschichte des Dresdner Diakonissenhauses im 19. Jahrhundert vorliegt, die institutionengeschichtliche Fragestellungen berücksichtigt und zugleich die Diakonissen als Akteurinnen in den Mittelpunkt rückt.6 Abgesehen von diesen kritischen Bemerkungen sei abschließend betont, dass das besondere Verdienst von Ute Gauses empfehlenswerter Studie darin liegt, dass ihr Buch gleichermaßen für am Thema interessierte Wissenschaftler*innen wie auch für ‚Laien‘ eine anregende Lektüre darstellt. Sie bereichert zum einen aktuelle Forschungsdebatten – beispielsweise zur Frage der Handlungsspielräume von Diakonissen in ihrem Arbeitsalltag – und zugleich hat sie mit ihrem Buch einen verständlich geschriebenen Überblick über die Geschichte Sareptas, der einen anschaulichen Einblick in das Leben und die gesellschaftliche Bedeutung der Diakonissen bietet, geliefert. Michael Czolkoß-Hettwer

Hannover

5   Siehe u. a. Deaconesses in Nursing Care. International Transfer of a Female Model of Life and Work in the 19th and 20th Century. Ed. by Susanne Kreutzer u. Karen Nolte, Stuttgart 2016. 6   Peggy Renger-Berka: Weibliche Diakonie im Königreich Sachsen. Das Dresdener Diakonissenhaus 1844–1881. Leipzig 2014.

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Helge-Fabien Hertz: Evangelische Kirchen im Nationalsozialismus. Kollektivbiografische Untersuchung der schleswig-holsteinischen Pfarrerschaft. 3 Bde. Bd. 1: Thesen, Grundlagen und Pastoren; Bd. 2: NS-Konformität; Bd. 3: NSNonkonformität. Berlin/Boston: De Gruyter 2022. – 1778 S.; 374 Abb. Noch nie ist die Pfarrerschaft einer deutschen Landeskirche so gründlich und so systematisch im Hinblick auf „NS-konformes“ und „NS-nonkonformes“ Verhalten untersucht worden wie die schleswig-holsteinische Pastorenschaft in dieser Kieler Dissertation. Beeindruckend ist nicht nur die Tatsache, dass d.Vf. sich bei seinen Aussagen nicht etwa auf Stichproben oder die Untersuchung von Einzelfällen stützt, sondern dass er die für seine Recherche einschlägigen Akten aller 729 Pastoren, die zwischen 1933 und 1945 in der schleswig-holsteinischen Landeskirche tätig waren, angesehen und durchgearbeitet hat (Personalakten, Entnazifizierungsakten, Akten aus Gemeindearchiven, Nachlässe). Beeindruckend ist auch sein Ergebnis: „Nur wenige Pastoren sahen Christentum und Nationalsozialismus als prinzipiell inkompatibel an; kaum einer leistete über vereinzelte Abweichungen hinausgehende NS-Opposition – kein Störfaktor.Vielmehr wurden die Kirchen auf der Grundlage ihrer Geistlichkeit primär als NS-herrschaftsbereitender, NS-herrschaftskonsolidierender und anschließend als NS-herrschaftstragender gesellschaftlicher Faktor greifbar“ (Bd. 3, 1629). Um das in langjähriger Arbeit erschlossene Material zu gliedern, unterteilt d.Vf. seine Ergebnisse in acht Kategorien, die von „NS-Aktivismus: Zuneigung und radikales Engagement“ bis „Widerstand: Abneigung und Fundamentalopposition“ reichen. Diesen acht Kategorien werden wiederum nicht weniger als 142 Handlungstypen zugeordnet: 81, die NS-konformes Handeln aufzeigen, und 41, die NS-nonkonformes Handeln nachweisen sollen. Ausführlich begründet d.Vf. jeden dieser Schritte. Die Ergebnisse lassen sich in zwei Punkten zusammenfassen: 1. Der weitaus größte Teil der schleswig-holsteinischen Pastorenschaft unterstützte die Herrschaft des Nationalsozialismus von 1933 bis 1945. Eine beträchtliche Zahl der Pastoren hatte sich schon vor 1933 der Hitlerbewegung angeschlossen. Nur wenige Pastoren positionierten sich gegen das Regime. Sieht man ab von Wehrmachtspfarrer Johannes Schröder, der Anfang 1943 in Stalingrad in sowjetische Kriegsgefangenschaft kam und sich im Sommer 1943 dem Nationalkomitee „Freies Deutschland“ anschloss und über Radio Moskau Hörer und Hörerinnen in Deutschland aufforderte, Hitlers Herrschaft zu beseitigen, engagierte sich keiner der schleswig-holsteinischen Pastoren im politischen Widerstand. 2. Bei genauerem Hinsehen verschwimmen die traditionellen kirchenhistorischen Einteilungen. Zwar schloss sich fast die Hälfte aller schleswig-holsteinischen Pastoren der Bekennenden Kirche an. Nur ein kleinerer Teil dieser BKPastoren lehnte das Regime aber ab. Die allermeisten sorgten sich um die Au-

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tonomie der Kirche, unterstützten jedoch gleichzeitig auf vielfältige Weise das Regime.Wie d.Vf. nachweisen kann, gerieten auch einige Pastoren, die sich den Deutschen Christen angeschlossen hatten, mit dem Regime in Konflikt, allerdings, prozentual gesehen, deutlich weniger und deutlich seltener als BK-Pastoren. Am schwersten dürfte aber der in dieser Arbeit geleistete, allerdings inzwischen durchaus nicht neue, hier aber mit einem eindrucksvollen Zahlenmaterial noch einmal geleistete Nachweis wiegen, dass die Mitgliedschaft in der Bekennenden Kirche keineswegs als Beleg für Resistenz, gar für Opposition gegen das NS-Regime gelten kann, so wie das in der Geschichtsschreibung über den Kirchenkampf nach 1945 lange Zeit behauptet wurde.Vielmehr gelte es, jeden einzelnen Fall zu prüfen. Auch wenn man von der komplizierten, von der empirischen Sozialforschung stark beeinflussten Sprache absieht, die der Autor dieser Studie benutzt, bleiben einige Fragen offen: Denn von Theologie, von theologischen Überzeugungen, von theologischen Schulen und Traditionen, ist in dieser Arbeit nicht – oder nur am Rande – die Rede. So erfahren die Leser nicht, welche theologischen Richtungen besonders anfällig für die NS-Ideologie waren. Gerne wüsste man mehr darüber, wo jene Pastoren studiert hatten, die sich begeistert für das NS-Regime einsetzten, wer deren akademische Lehrer waren und deren theologische Vorbilder, auch welche theologischen Bücher gerade diese Pastoren schätzten. Für die Leser dieses Jahrbuchs, die sich besonders für den Pietismus interessieren, bleiben trotz der Länge der vorliegenden Studie somit viele Fragen offen. Um die Frage zu beantworten, wie die Pastoren, die überzeugt waren, sie stünden in der Tradition des Pietismus, auf der vom Vf. erstellten Skala von 1 bis 8 eingeordnet werden können, müsste man sich noch einmal alle Einzelfälle vornehmen. Die gleiche Beobachtung gilt auch für alle jene schleswig-holsteinischen Pastoren, die sich ganz bewusst nicht als Erben des Pietismus verstanden. Für alle, die mit den Methoden der empirischen Sozialforschung nicht vertraut sind, besteht ein weiteres Problem in der Vorgehensweise des Vfs. Dieser verwandelt nämlich einzelne Bemerkungen und Aussagen aus Dokumenten, wie Lebensläufen, Eingaben, Predigten, Briefen und anderen schriftlichen Zeugnissen, in ‚harte‘ Daten, die er dann mit mathematischer Präzision als statistische Daten verarbeitet und anschließend in Tabellen und Grafiken darstellt. Gewiss: Einige Aussagen, die der Vf. gefunden hat, sind eindeutig. Man kann sie ohne weiteres als ‚Fakten‘ ansehen. Bei vielen anderen Aussagen kommt es aber auf den Kontext und damit auf eine angemessene Interpretation an. So wäre beispielsweise bei einigen Aussagen zu prüfen, ob es sich um ein politisches Bekenntnis handelt, das ohne Druck zustande gekommen ist, um eine Schutzbehauptung in schwieriger politischer Lage oder um eine opportunistische Bemerkung, um nur drei von mehreren Möglichkeiten zu nennen. Zusammen mit der Publikation der drei Bände hat d.Vf. seine Ergebnisse in Form einer kommentierten Liste aller schleswig-holsteinischen Pastoren der Jahre 1933 bis 1945 auch ins Netz gestellt. Wer die drei Bände nicht lesen will

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und sich für bestimmte Pastoren interessiert, wird hier fündig, was von Fall zu Fall aber eine Überprüfung der vom Vf. vorgenommenen Einordnung nicht ausschließt. Was vorliegt, ist somit eine außerordentlich gründliche und in vielerlei Hinsicht bemerkenswerte Studie, die weit mehr leistet, als man von einer Dissertation erwarten kann. Mit Blick auf den gewaltigen Arbeitsaufwand, den HelgeFabien Hertz geleistet hat, kann man jedoch bezweifeln, ob in naher Zukunft jemand den Versuch unternehmen wird, die politische Haltung der Pastorenschaft einer anderen deutschen Landeskirche in der Zeit des Nationalsozialismus in ähnlich umfassender und akribischer Weise zu erforschen. Hartmut Lehmann

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Kiel

Bibliographie

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Christian Soboth und Paulien Wagener

Pietismus-Bibliographie unter Mitarbeit von: Brigitte Klosterberg (Halle/Saale) und Claudia Mai (Herrnhut) Anschrift für Bibliographie- und Rezensionsteil des Jahrbuchs: Dr. habil. Christian Soboth, Interdisziplinäres Zentrum für Pietismusforschung der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Franckeplatz 1, Haus 24, 06110 Halle a. d. Saale Gliederung der Bibliographie: I. Allgemeines I.01 I.02 I.03

Bibliographien, Forschungsberichte Sammelwerke, Festschriften Gesamtdarstellungen, Gesamtwürdigungen

II.

Vorgeschichte, begleitende Strömungen

III. Deutschland III.01 Frömmigkeitsbewegung seit Johann Arndt III.02 Philipp Jakob Spener III.03 August Hermann Francke und der hallische Pietismus III.04 Radikaler Pietismus III.05 Reformierter Pietismus III.06 Zinzendorf und die Herrnhuter Brüdergemeine III.07 Württembergischer Pietismus III.08 Regionalgeschichte III.09 Orthodoxie und Aufklärung in ihren Beziehungen zum Pietismus III.10 Übergang zur Erweckungsbewegung III.11 Strömungen und Entwicklungen nach 1830 IV.

Andere Länder

IV.01 England und Schottland IV.02 Niederlande IV.03 Schweiz IV.04 Skandinavien IV.05 Nordamerika IV.06 Östliches Mitteleuropa, Osteuropa, Südosteuropa IV.07 Sonstige

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V.

Übergreifende Themen

V.01 Theologie und Frömmigkeit V.02 Sozial- und Staatslehre, Pädagogik V.03 Ökumene, Mission und Diakonie V.04 Philosophie, Literatur, Kunst, Architektur und Musik V.05 Medizin, Naturwissenschaften und Psychologie V.06 Ökonomie, Industrialisierung V.07 Buch-, Bibliotheks- und Verlagsgeschichte, Medien und Kommunikation V.08 Gender V.09 Geschichtsbewusstsein und -konstruktion Es gelten die Abkürzungen des Abkürzungsverzeichnisses der TRE. Im Folgenden bedeutet: ABQ American Baptist Quarterly AGP Arbeiten zur Geschichte des Pietismus AHR American Historical Review AKG Arbeiten zur Kirchengeschichte ARG Archiv für Reformationsgeschichte ARPs Archiv für Religionspsychologie ASKG Archiv für schlesische Kirchengeschichte ASNS Archiv für das Studium der neueren Sprachen ASSR Archives de sciences sociales des religions BHTh Beiträge zur historischen Theologie BLT Brethren life and thought BPfKG Blätter für pfälzische Kirchengeschichte und religiöse Volkskunde BSHPF Bulletin de la Société de l’Histoire du Protestantisme Français BSHST Basler und Berner Studien zur historischen und systematischen Theologie BWKG Blätter für Württembergische Kirchengeschichte ChH Church history ChM Churchman CrSt Cristianesimo nella storia CScR Christian scholar’s review CTQ Concordia Theological Quarterly CV Communio viatorum DeP Doctrina et Pietas DNR Documentatieblad Nadere Reformatie DtPfrBl Deutsches Pfarrerblatt EMKG.M Evangelisch-methodistische Kirche Geschichte. Monographien EnglSt English studies ERT Evangelical review of theology ETR Études théologiques et religieuses EvQ The Evangelical quarterly EvTh Evangelische Theologie FBPG Forschungen zur brandenburgischen und preußischen Geschichte FiHi Fides et historia FKDG Forschungen zur Kirchen- und Dogmengeschichte

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FZPhTh Freiburger Zeitschrift für Philosophie und Theologie GeGe Geschichte und Gesellschaft GlLern Glaube und Lernen HerChr Herbergen der Christenheit HJ Historisches Jahrbuch HThR Harvard theological review HoLiKo Homiletisch-liturgisches Korrespondenzblatt HS Historische Studien HSR Historical Social Research/Historische Sozialforschung HTS Hervormde teologiese studies JBBKG Jahrbuch für Berlin-Brandenburgische Kirchengeschichte JBLG Jahrbuch für brandenburgische Landesgeschichte JEH Journal of ecclesiastical history JES Journal of ecumenical Studies JETh Jahrbuch für evangelikale Theologie JETS Journal of the Evangelical Theological Society JGNKG Jahrbuch der Gesellschaft für Niedersächsische Kirchengeschichte JGPrÖ Jahrbuch für die Geschichte des Protestantismus in Österreich JHKGV Jahrbuch der Hessischen Kirchengeschichtlichen Vereinigung JLT Journal of literature and theology JRH Journal of religious history JSKG Jahrbuch für schlesische Kirchengeschichte JWKG Jahrbuch für westfälische Kirchengeschichte KHÅ Kyrkohistorisk årsskrift KTP Kleine Texte des Pietismus KuD Kerygma und Dogma LKW Lutherische Kirche in der Welt LuthBei Lutherische Beiträge LuThK Lutherische Theologie und Kirche LuthQ Lutheran Quarterly MdKI Materialdienst des Konfessionskundlichen Instituts Bensheim MEKGR Monatshefte für evangelische Kirchengeschichte des Rheinlandes MennQR The Mennonite quarterly review MethH Methodist history MGB Mennonitische Geschichtsblätter Miss Missiology MoTh Modern theology MSR Mélanges de science religieuse MuK Musik und Kirche MWF Misionswissenschaftliche Forschungen NAKG Nederlands archief voor kerkgeschiedenis NEQ The New England Quarterly. A Historical Review of New England Life and Letters NZfM Neue Zeitschrift für Musik ÖEBB Ökumenische Existenz in Berlin-Brandenburg OGE Ons geestelijk erf OiC One in Christ. A catholic ecumenical review PH Paedagogica historica

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PosLuth Positions Luthériennes PuN Pietismus und Neuzeit PWS Pietist and Wesleyan studies QBGHM Quellen und Beiträge zur Geschichte der Hermannsburger Mission QSt Quaderni storici QuHi Quaker History Ref. Reformatio RestQ Restoration quarterly RExp Review and expositor RGG Religion in Geschichte und Gegenwart RHE Revue d’histoire ecclésiastique RHPhR Revue d’histoire et de philosophie religieuses RHR Revue de l’histoire des religions RKZ Reformierte Kirchenzeitung RoJKG Rottenburger Jahrbuch für Kirchengeschichte RSLR Rivista di storia e letteratura religiosa SCJ The Sixteenth century journal SDLKG Studien zur deutschen Landeskirchengeschichte SKGNS Studien zur Kirchengeschichte Niedersachsens SVRKG Schriftenreihe des Vereins für Rheinische Kirchengeschichte SVSHKG Schriften des Vereins für Schleswig-Holsteinische Kirchengeschichte ThBeitr Theologische Beiträge ThFPr Theologie für die Praxis ThLZ Theologische Literaturzeitung ThR Theologische Rundschau ThRv Theologische Revue ThRef Theologia reformata ThZ Theologische Zeitung TJT Toronto journal of theology TRE Theologische Realenzyklopädie TrSt Trinity studies. Trinity Evangelical Divinity School TrZ.B Trierer Zeitschrift für Geschichte und Kunst des Trierer Landes … Beiheft TThZ Trierer theologische Zeitschrift TynB Tyndale bulletin UnFr Unitas Fratrum VDWI Veröffentlichungen des Diakoniewissenschaftlichen Instituts VMPIG Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte WeZ Wereld en Zending WThJ Westminster Theological Journal WTJ Wesleyan Theological Journal WuD Wort und Dienst. Jahrbuch der Kirchlichen Hochschule Bethel ZBKG Zeitschrift für bayerische Kirchengeschichte ZfG Zeitschrift für Geschichtswissenschaft ZGO Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins ZHF Zeitschrift für Historische Forschung ZKG Zeitschrift für Kirchengeschichte ZMiss Zeitschrift für Mission ZNThG Zeitschrift für neuere Theologiegeschichte

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ZPT ZRGG ZSKG ZSRG.K ZThK Zwing. ZWLG

Zeitschrift für Pädagogik und Theologie Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte Zeitschrift für schweizerische Kirchengeschichte Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte. Kanonistische Abteilung Zeitschrift für Theologie und Kirche Zwingliana. Zürich Zeitschrift für württembergische Landesgeschichte

I. Allgemeines I.01 Bibliographien, Forschungsberichte    1. Bibliography of Methodist Historical Literature. In: Proceedings of the Wesley Historical Society 63, 2, Summer Supplement, 2021.    2. Breul, Wolfgang: Pietismusforschung seit 1970. In: Pietismus Handbuch [s. Nr. 10], 26–42.    3. Faull, Katherine M.: Digital Humanities. In: Pietismus Handbuch [s. Nr. 10], 11–17.    4. Mai, Claudia: Bibliographische Übersicht der Neuerscheinungen über die Brüdergemeine. In: UnFr 79, 2020, 328–336.    5. Otte, Hans: Geschichte der Pietismusforschung bis ca. 1970. In: Pietismus Handbuch [s. Nr. 10], 18–25.   6. Soboth, Christian [u. a.]: Pietismus-Bibliographie. In: PuN 45, 2019 [s. Nr. 26], 339–359.

I.02 Sammelwerke, Festschriften    7. Exploring the Glory of God. New Horizons for a Theology of Glory. Hg. v. Adesola Joan Akala [u. a.]. Lanham: Lexington Books/Fortress Academic 2020. – 174 S. – [enthält Nr. 320, 329].    8. Ausstrahlung der Reformation. Ost-westliche Spurensuche. Hg. v. Natalia Bakshi [u. a.]. Paderborn: Wilhelm Fink 2020. – 240 S. – [enthält Nr. 361f.].    9. Tracing the Jerusalem Code.Volume 3: The Promised Land. Christian Cultures in Modern Scandinavia (ca. 1750–ca. 1920). Hg. v. Anna Bohlin u. Ragnhild Johnsrud Zorgati. Berlin, Boston: De Gruyter 2021. – 520 S. – [enthält Nr. 114, 267–270, 274f., 280, 282, 286–288, 291, 293–295, 394, 398f., 424].   10. Pietismus Handbuch. Hg. v. Wolfgang Breul u. Thomas Hahn-Bruckart. Tübingen: Mohr Siebeck 2021. – 797 S. – [enthält Nr. 2f., 5, 31, 49, 53, 58, 62, 75, 77, 81, 84, 87–89, 91, 98, 108, 111, 131, 134, 139, 153f., 156, 160–162, 169, 172, 174f., 182– 184, 186, 195, 197, 215, 217, 243, 251, 253, 271, 276, 299, 352, 366, 368, 370–376, 378f., 381f., 384, 386, 395, 406f., 415–417, 419, 421–423, 425, 436, 438, 458, 472, 478, 482].   11. Pietismus und Ökonomie (1650–1750). Hg. v. Wolfgang Breul [u. a.]. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2021. – 476 S. – [enthält Nr. 449–457, 459–469].

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  12. Noli me nolle. Sammlung Johann Caspar Lavater. Jahresschrift 2020. Hg. v. Ursula Caflisch-Schnetzler. Zürich: Sammlung Johann Caspar Lavater 2020. – 96 S. – [enthält Nr. 255–258].  13. Bildung als Aufklärung. Historisch-anthropologische Perspektiven. Hg. v. Anne Conrad [u. a.]. Wien: Böhlau 2020. – 622 S. – [enthält Nr. 83, 388].   14. Gerhard Tersteegen (1697–1769). Zeitgenössische Beziehungen und freikirchliche Rezeption. Symposium 2019. Walter Fleischmann-Bisten zum 70. Geburtstag. Hg. v. Reimer Dietze. Münster:Verlag des Vereins für Freikirchenforschung 2020 (Freikirchenforschung, 29). – 296 S. – [enthält Nr. 95, 100f., 103f., 107].   15. Bodies in Early Modern Religious Dissent. Naked veiled vilified worshipped. Hg. v. Elisabeth Fischer u. Xenia von Tippelskirch. Abingdon [u. a.]: Routledge 2021. – 290 S. – [enthält Nr. 94, 400, 447].   16. Heilen an Leib und Seele. Medizin und Hygiene im 18. Jahrhundert. Hg. v.Thomas Grunewald u. Holger Zaunstöck. Halle/Saale, Wiesbaden:Verlag der Franckeschen Stiftungen, Harrassowitz Verlag 2021. – 328 S. – [enthält Nr. 69, 72, 428, 430–435, 437, 439–441, 443, 448].   17. Tracing the Jerusalem Code.Volume 2: The Chosen People. Christian Cultures in Early Modern Scandinavia (1536–ca. 1750). Hg. v. Joar Haga u. Eivor Andersen Oftestad. Berlin, Boston: De Gruyter 2021. – 506 S. – [enthält Nr. 48, 266, 272, 290, 413].   18. „Erinnern, was vergessen ist“. Beiträge zur Kirchen-, Frömmigkeits- und Gendergeschichte. FS Ruth Albrecht. Hg. v. Rainer Hering u. Manfred Jakubowski-Tiessen. Husum: Matthiesen 2020. – 288 S. – [enthält Nr. 90, 191, 390].   19. Manfred Jakubowski-Tiessen: Religiöse Weltsichten. Frömmigkeit, Kirchenkritik und Religionspolitik in den Herzogtümern Schleswig und Holstein. Husum: Matthiesen Verlag 2020. – 286 S. – [enthält Nr. 59, 116f.].   20. An den Rand gedrängt – den Rand gewählt. Marginalisierungsstrategien in der Frühen Neuzeit. Hg. v. Henning P. Jürgens u. Christian Volkmar Witt. Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2021. – 300 S. – [enthält Nr. 32, 37, 190, 240].   21. Down town / down soul. Early Modern Mysticism, the Self and the Political. Hg. v. Marc de Kesel u. Inigo Bocken. Leuven: Peeters 2020. – [enthält Nr. 39, 45, 93].   22. Religion im Transit. Transformationsprozesse im Kontext von Migration und Religion. Hg. v. Gisela Mettele [u. a.]. Berlin, Boston: De Gruyter 2021. – 152 S. – [enthält Nr. 112, 363, 397].   23. Die Verwandlung des Heiligen. Die Geburt der Moderne aus dem Geist der Religion. Hg. v. Detlef Pollack. Wiesbaden: Berlin University Press 2020. – 472 S. – [enthält Nr. 345, 429].   24. Schmölz-Häberlein, Michaela u. Mark Häberlein: Halles Netzwerk im Siebenjährigen Krieg. Kriegserfahrungen und Kriegsdeutungen in einer globalen Kommunikationsgemeinschaft. Halle/Saale,Wiesbaden:Verlag der Franckeschen Stiftungen Halle, Harrassowitz Verlag in Kommission 2020. – 356 S.   25. Johann Adam Steinmetz und Kloster Berge. Zwei Institutionen im 18. Jahrhundert. Hg. v. Christian Soboth. Halle/Saale, Wiesbaden:Verlag der Franckeschen Stiftungen, Harrassowitz Verlag in Kommission 2021. – 272 S. – [enthält Nr. 71, 158f., 163, 165–167, 171, 176–181, 474].   26. Pietismus und Neuzeit. Bd. 45, 2019. Ein Jahrbuch zur Geschichte des neueren Protestantismus. Hg. v. Udo Sträter [u. a.]. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2021. – 377 S. – [enthält Nr. 6, 61, 85, 273, 277–279, 281f., 285, 289, 409, 476, 480].

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  27. The Forgotten Reformation. Hg. v. Andrew Weeks [u. a.]. Leiden, Boston: Brill, Rodopi 2020 (Daphnis, 48). – 327 S. – [enthält Nr. 57, 60, 219, 254, 259f., 263–265, 481].   28. Reform, Revolution and Crisis in Europe. Landmarks in History Memory and Thought. Hg. v. Bronwyn Winter u. Cat Moir. New York, London: Routledge Taylor & Francis Group 2020. – 252 S. – [enthält Nr. 120, 405].

I.03 Gesamtdarstellungen, Gesamtwürdigungen   29. Schäufele, Wolf-Friedrich: Kirchengeschichte II. Vom Spätmittelalter bis zur Gegenwart. Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2021. – 568 S.

II.Vorgeschichte, begleitende Strömungen   30. Anderson, Marvin Lee: ‘Hearing the Inner Word’. The Eckhartian Roots of Radical Dissent and ‘Enthusiasm’. In: Medieval mystical theology 29, 2, 2020, 63–78.   31. Birkedal Bruun, Mette [u. a.]: Quietismus und Jansenismus. In: Pietismus Handbuch [s. Nr. 10], 579–585.  32. Ehlers, Corinna: Eindeutiger Außenseiter? Die Auseinandersetzung des Flaciuskreises mit Schwenckfeld im Vergleich mit anderen innerreformatorischen Debatten. In: An den Rand gedrängt – den Rand gewählt [s. Nr. 20], 107–130.   33. Mennonitisches Lexikon. Hg. v. Hans-Jürgen Goertz. Bd. 5: Revision und Ergänzung. Bolanden-Weierhof:Verlag des Mennonitischen Geschichtsvereins e. V. 2020. – 568 S.   34. Goertz, Hans-Jürgen:Täufer. Aufrührer – Friedfertige – Märtyrer. Bolanden:Verlag des Mennonitischen Geschichtsvereins e. V. 2021. – 124 S.  35. Lienhard, Marc: La RHPR et les dissidents des XVIe et XVIIe siècles. = The RHPR and 16th and 17th Century Dissidents. In: RHPhR 100, 1, 2020, 85–109.   36. Matheson, Peter: Die Täufer.Von der radikalen Reformation zu den Baptisten. In: MennQR 95, 2, 2021, 269–271.   37. Schmidt, Steffie: Die Täufer in der römisch-katholischen Häresiographie des konfessionellen Zeitalters. In: An den Rand gedrängt – den Rand gewählt [s. Nr. 20], 243–268.   38. Strübind, Andrea: Tempel ohne Steine. Bilderkritik und Ikonoklasmus in den täuferischen Bewegungen. In: Bilder, Heilige und Reliquien. Beiträge zur Christentumsgeschichte und zur Religionsgeschichte. Hg. v. Mariano Delgado u. Volker Leppin. Basel: Schwabe, 2020, 199–221.   39. Kesel, Marc de: Love thy Neighbour Purely. Mysticism & Politics in Fénelon. In: Down town / down soul [s. Nr. 21], 113–128.   40. Wenz, Armin: Philologia Sacra und Auslegung der Heiligen Schrift. Studien zum Werk des lutherischen Barocktheologen Salomon Glassius (1593–1656). Berlin: De Gruyter 2020. ­– 907 S.  41. Classen, Albrecht: The Power of Spirituality in the Middle Ages and the Early Modern Age. From the Medieval Mystic Hildegard of Bingen to Jacob Böhme and Johann Scheffler (Angelus Silesius): Messages from the Past for our Future? In: Studies in spirituality 30, 2020, 115–144.

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  42. Micus, Rosa: Balthasar Hubmaier, die Juden und die Täufer. Zum Wirken Hubmaiers in Regensburg und in Waldshut. In: Verhandlungen des Historischen Vereins für Oberpfalz und Regensburg 160, 2020, 137–152.   43. Brunner, Daniel L.: Luther’s Mysticism, Pietism, and Contemplative Spirituality. In: Word & world 40, 1, 2020, 20–28.   44. Goertz, Hans-Jürgen: Nähe Gottes und Veränderung der Welt. Aufsätze zu Thomas Müntzer und den Täufern. Mühlhausen: Thomas-Müntzer-Gesellschaft e. V. 2020. ­– 130 S.   45. Schneider, Wolfgang Christian: Schwenckfeld and Sudermann as Mediators of Late Medieval Spirituality in the Baroque Period. In: Down town / down soul [s. Nr. 21], 75–90.   46. Snyder, C. Arnold: Caspar Schwenckfeld, Pilgram Marpeck, and their followers. An Examination of Similarity and Difference. In: MennQR 94, 4, 2020, 467–537.   47. Williams, Howard Henry Drake (III):Towards a More Systematic Theology. Caspar Schwenckfeld’s Main Theological Themes from His Exposition of Psalm CII in Relation to His Deutsche Theologia with a Comparison to Other Major Reformers. In: Ecclesia semper reformanda. Renewal and Reform beyond Polemics. Hg. v. Peter de Mey u. Wim Francois. Leuven: Peeters 2020, 37–58.

III. Deutschland III.01 Frömmigkeitsbewegung seit Johann Arndt   48. Sparn, Walter: Future Jerusalem? Johann Valentin Andreae’s Vision of Christianopolis. In: Tracing the Jerusalem Code, 2 [s. Nr. 17], 440–458.   49. Illg, Thomas: Pietismus und Johann Arndt. In: Pietismus Handbuch [s. Nr. 10], 55– 63.   50. Sommer,Wolfgang: Johann Arndt und seine Bücher vom wahren Christentum. Eine Erinnerung zu seinem 400. Todestag. In: Deutsches Pfarrerinnen und Pfarrerblatt 121, 5, 2021, 301–303.   51. Böhme, Jacob: Historisch-kritische Gesamtausgabe. Abteilung I. Schriften. Band 5: Ein gründlicher Bericht von dem irdischen Mysterio und dann von dem himmlischen Mysterio (1620). Hg. v. Günther Bonheim. Bad Cannstatt, Stuttgart: frommann-holzboog 2020. –­ 88 S.  52. Gentzke, Joshua L.I.: „From My Body Alone Do I Know This“. Sacrament & Scripture as Technologies of the Self in the Work of Jacob Böhme. In: Gnosis 6, 2, 2021, 156–186.   53. Salvadori, Stefania: Pietismus und Jacob Böhme. In: Pietismus Handbuch [s. Nr. 10], 68–74.   54. Andersson, Bo: Jacob Böhmes Lehre von den sieben Quellgeistern in der Morgen Röte im auffgang (1612). Eine politische Perspektive. In: Daphnis 48, H. 1–2, 2020, 160–183.   55. Bonheim, Günther: Das Problem des absoluten Anfangs. Jacob Böhmes Lehre vom Ungrund und Paul Celans Ungrund-Gedicht. Hg. v. Volker Leppin. Bad Cannstatt, Stuttgart: frommann-holzboog 2021. – 112 S.   56. Koole, Boudewijn: Eenvoud en diepgang in en voorbij alle tegenstellingen (eenheid en complexiteit van alle tegendelen). Inleiding in het denken van Jacob Böhme.

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Over grond, systeem, processen en magie van alle bestaansvormen in de context van open bewustzijn en niet-tweeheid van West en Oost en van wijsheid en verlichting in Böhmes ‚Theoscopia‘ (‚zien als God‘). Haarlem: Uitgeverij De Morgenster 2020. – 303 S.   57. Hannak, Kristine u. Andrew Weeks: Sebastian Franck, Johann Arndt, and the Varieties of Religious Dissent. In: The Forgotten Reformation [s. Nr. 27], 319–327.   58. Hessayon, Ariel: Jane Lead und die Philadelphian Society. In: Pietismus Handbuch [s. Nr. 10], 146–150.   59. Jakubowski-Tiessen, Manfred: Otto Lorentzen Strandigers Weg in den Separatismus. In: Religiöse Weltsichten [s. Nr. 19], 114–135.   60. Weeks, Andrew: Valentin Weigel and Anticlerical Tradition. In: The Forgotten Reformation [s. Nr. 27], 140–159.

III.02 Philipp Jakob Spener   61. Larsen, Kurt E.: Pontoppidan versus Spener. No „Better Times“, but more Personal Piety Within the National Church. In: PuN 45, 2019 [s. Nr. 26], 117–142.   62. Matthias, Markus: Philipp Jacob Spener. In: Pietismus Handbuch [s. Nr. 10], 101–113.   63. Spener, Philipp Jakob: Herzens-Gespräche und heilige Betrachtungen (1716/1717). Hg. v. Dietrich Blaufuß u. Gerhard Philipp Wolf. Hildesheim [u. a.]: Georg Olms 2021. – 334 S.   64. Ders.: Soliloquia et Meditationes Sacrae (1716). Hg. v. Dietrich Blaufuß u. Gerhard Philipp Wolf. Hildesheim [u. a.]: Georg Olms 2021. – 508 S.   65. Ders. u. Henriette Catharina von Gersdorff: Bd.VIII.1: Soliloquia et Meditationes Sacrae (1716). Hg. mit einem Nachwort v. Dietrich Blaufuß u. Gerhard Philipp Wolf (s. Nr. 66). Hildesheim: Georg Olms 2021. – 914 S.   66. Dies.: Bd. V   III.2: Herzens-Gespräche und Heilige Betrachtungen (1716/1717). Aus dem Lateinischen ins Deutsche treulich übersetzt von Henriette Catharina von Gersdorff. Hg. v. Dietrich Blaufuß u. Gerhard Philipp Wolf. Hildesheim: Georg Olms 2021. – 334 S.   67. vom Orde, Klaus: Johann Schilter und Philipp Jakob Spener. Ein interdisziplinäres Gespräch. In: ZGO 168, 2020, 267–284.   68. Spener, Philipp Jakob: Die Werke Philipp Jakob Speners. Studienausgabe. Paket mit Bd. I/1, Bd. I/2, Bd. II. Hg. v. Kurt Aland u. Beate von Tschischwitz. Gießen: Brunnen 2020. – 1882 S.

III.03 August Hermann Francke und der hallische Pietismus   69. Berger, Markus u. Mark Häberlein: Body and Soul. Gesundheit und Krankheit in der transatlantischen Korrespondenz Hallescher Pastoren. In: Heilen an Leib und Seele [s. Nr. 16], 210–221.   70. Haanes,Vidar L. u. Michaela Schmölz-Häberlein: Der Siebenjährige Krieg und das Kommunikationsnetz des Halleschen Pietismus. In: Der Siebenjährige Krieg 1756–1763. Mikro- und Makroperspektiven. Hg. v. Marian Füssel. München, Wien: De Gruyter Oldenbourg 2021, 185–208.

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  71. Schmalz, Björn: Gottes Reich auf Erden? Die Kirchenordnung des Herzogtums Magdeburg von 1739 und der hallische Pietismus. In: Johann Adam Steinmetz und Kloster Berge [s. Nr. 25], 23–42.   72. Soboth, Christian: „Also, wären keine Affecten, so wäre kein Leben.“ Affekt und Affektkontrolle im Halleschen Pietismus. In: Heilen an Leib und Seele [s. Nr. 16], 100–113.   73. Sturm, Anne: „Da sich unter dem Bücherbestande zu Wertvolles findet“. Die Oratorische Bibliothek des Königlichen Pädagogiums zu Halle. In: Historische Schulbibliotheken. Eine Annäherung. Hg. v. Brigitte Klosterberg. Halle/Saale, Wiesbaden: Verlag der Franckeschen Stiftungen, Harrassowitz Verlag in Kommission 2021, 165–182.   74. Taatz-Jacobi, Marianne u. Andreas Pečar: Die Universität Halle und der Berliner Hof (1691–1740). Eine höfisch-akademische Beziehungsgeschichte. Stuttgart: Franz Steiner 2021. – 351 S.   75. Zaunstöck, Holger: Halle und die Glauchaschen Anstalten. In: Pietismus Handbuch [s. Nr. 10], 229–232.  76. Ders.: „Seit Jahrzehnten tot und der Vergessenheit anheimgefallen“? Überlieferungsbedingungen für die Kunst- und Naturalienkammer in der Schulstadt Franckesche Stiftungen. In: Sammeln und Zerstreuen. Bedingungen historischer Überlieferung in Sachsen-Anhalt. Hg. v. Jan Brademann [u. a.]. Halle/Saale: Mitteldeutscher Verlag 2020, 171–206.   77. Breul, Wolfgang: August Hermann Francke. In: Pietismus Handbuch [s. Nr. 10], 122– 136.   78. Francke, August Hermann: Anstalten / die zu Verpflegung der Armen zu Glaucha an Halle gemachet sind. Wie sich solche befinden anno 1698, im Monat Julio. Mit einem Nachwort hg. v. Paul Raabe. 2., veränd. Aufl. Halle/Saale: Verlag der Franckeschen Stiftungen 2020. – 20 S.   79. Ders.: Der rechte Gebrauch der Zeit. So fern dieselben gut und so fern sie böse ist: aus 2. Cor. 6/2. und Eph. 5/16. vorgestellet und auf die Beschaffenheit der jetzigen Zeiten appliciret: den 4. Jan. als zum Anfang des 1713ten Jahrs, im Waysenhause zu Glaucha vor Halle. Mit einem Nachwort hg. v. Carmela Kahlow. 3. Aufl. Halle/ Saale:Verlag der Franckeschen Stiftungen 2020. – 40 S.   80. Yoder, Peter James: Pietism and the Sacraments. The Life and Theology of August Hermann Francke. University Park, PA: Pennsylvania State University 2020. – X, 207 p.   81. Drese, Claudia: Gotthilf August Francke. In: Pietismus Handbuch [s. Nr. 10], 173–177.   82. Neubauer, Georg Heinrich: Was bey Erbauung unsres Waysen-Hauses zu wissen nöthig sey. Der Fragenkatalog Georg Heinrich Neubauers für die Hollandreise 1697. Mit einem Nachwort hg. v. Jürgen Gröschl. 2., aktual. Aufl. Halle/Saale: Verlag der Franckeschen Stiftungen 2020. – 20 S.   83. Engelmann, Sebastian: Aufklärung, Pietismus und Erziehung bei August Hermann Niemeyer. Zur Neufassung einer abgebrochenen Tradition. In: Bildung als Aufklärung [s. Nr. 13], 103–117.   84. van Spankeren, Malte: Johann Jacob Rambach. In: Pietismus Handbuch [s. Nr. 10], 168–172.

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III.04 Radikaler Pietismus   85. Bahl, Patrick: Meister der Heterotopie? Interkonfessionell gespiegelte Argumentationsfiguren bei Gottfried Arnold (1666–1714). In: PuN 45, 2019 [s. Nr. 26], 181– 199.   86. Kirn, Hans-Martin: Gottfried Arnold, Unparteiische Kirchen- und Ketzerhistorie (1699–1700). In: NTT: Journal for Theology and the Study of Religion 74, 3, 2020, 285–295.   87. Vogel, Lothar: Gottfried Arnold. In: Pietismus Handbuch [s. Nr. 10], 137–145.   88. Schäufele, Wolf-Friedrich: Johann Conrad Dippel. In: Pietismus Handbuch [s. Nr. 10], 151–154.   89. Albrecht, Ruth: Johanna Eleonora Petersen. In: Pietismus Handbuch [s. Nr. 10], 114– 121.   90. Matthias, Markus: Das Ehepaar Petersen und die theologische Aufklärung. In: „Erinnern, was vergessen ist“ [s. Nr. 18], 83–98.   91. Shantz, Douglas H.: Johann Friedrich Rock und die Inspirierten. In: Pietismus Handbuch [s. Nr. 10], 155–159.   92. Schütz, Johann Jacob: „Zu Dienst Einer Gottbegierigen Seelen“. Theologisch-Erbauliche Schriften. Hg. v. Andreas Deppermann. Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2021. – 400 S.

III.05 Reformierter Pietismus   93. Westerink, Herman: Jean de Labadie. Mystic – Activist – Politician. In: Down town /down soul [s. Nr. 21], 187–198.   94. Goeury, Julien:The Postures and Impostures of Clothing. Jean de Labadie’s Sartorial Ambiguities. In: Bodies in Early Modern Religious Dissent [s. Nr. 15], 139–152.   95. Demandt, Johannes: Gerhard Tersteegen und die Freien evangelischen Gemeinden. In: Gerhard Tersteegen (1697–1769) [s. Nr. 14], 41–58.   96. Kellermann, Ulrich: Gerhard Tersteegen als Sachwalter der Reformation. Bielefeld: Luther 2020. – 207 S.   97. Maes,Torsten: Gerhard Tersteegen, ein kirchenferner Frommer. In: Jahresgabe / Grafschafter Museums- und Geschichtsverein in Moers e. V. 2020, 23–28.   98. Mennecke, Ute: Gerhard Tersteegen. In: Pietismus Handbuch [s. Nr. 10], 178–183.   99. Dies.: Gerhard Tersteegen als radikaler Pietist. In: Jahrbuch für evangelische Kirchengeschichte des Rheinlandes, 69, 2020, 1–37. 100. O’Malley, J. Steven: Tersteegen in Amerika und sein Einfluss auf den deutsch-amerikanischen „Evangelicalism“. In: Gerhard Tersteegen (1697–1769) [s. Nr. 14], 59–70. 101. Schlachta, Astrid von: Gerhard Tersteegen und die Mennoniten. Einblicke in eine überkonfessionelle Beziehung. In: Gerhard Tersteegen (1697–1769) [s. Nr. 14], 27–40. 102. Zimmerling, Peter: Evangelische Mystik und Stille. Annäherungen am Beispiel von Gerhard Tersteegen und Dag Hammarskjöld. In: Stille. Liturgie als Unterbrechung. Hg. v. Alexander Deeg u. Christian Lehnert. Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2021, 99–114. 103. Balders, Günter: Die Lieder Gerhard Tersteegens in freikirchlichen Rezeption. In: Gerhard Tersteegen (1697–1769) [s. Nr. 14], 74–94.

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104. Barnbrock, Christoph: Geliebt und verachtet. Die Rezeption Tersteegens im konfessionellen Luthertum. In: Gerhard Tersteegen (1697–1769) [s. Nr. 14], 95–105. 105. Klein, Michael:Vom Äußeren zum Inneren. Facetten der Spiritualität Gerhard Ter­ steegens in Wirken und Werken. In: Theologische Beiträge 51, 4, 2020, 247–259. 106. Meyer, Dietrich: Tersteegens Schreiben „Wider die Leichtsinnigkeit“ und seine Nachwirkungen. In: Jahrbuch für evangelische Kirchengeschichte des Rheinlandes 69, 2020, 73–87. 107. Ders.: Tersteegens Schreiben „Wider die Leichtsinnigkeit“ und seine Nachwirkungen. In: Gerhard Tersteegen (1697–1769) [s. Nr. 14], 13–26. 108. van de Kamp, Jan u. Veronika Albrecht-Birkner: Theodor Undereyck. In: Pietismus Handbuch [s. Nr. 10], 96–100.

III.06 Zinzendorf und die Herrnhuter Brüdergemeine 109. Atwood, Craig: The Bohemian Brethren and the Protestant Reformation. In: Religions 12, 5, 2021. 110. Beck, Christoph Th.: Die Brüder und die Blattern. Die medicinischen Committees und ihr Einfluss auf die Synoden 1764 bis 1818. In: UnFr 79, 2020, 43–78. 111. Breul, Wolfgang: Herrnhuter Diasporaarbeit. In: Pietismus Handbuch [s. Nr. 10], 610–614. 112. Ders.: Religiöse Pluralität und Identität im Konzept der Herrnhuter Diaspora. In: Religion im Transit [s. Nr. 22], 99–114. 113. Cranz, David: Geschichte der evangelischen Brüdergemeinen in Schlesien, insonderheit der Gemeinde zu Gnadenfrei. Eine historisch-kritische Edition. Hg. v. Dietrich Meyer. Wien [u. a.]: Böhlau 2021. – 422 S. 114. Engell Jessen, Elisabeth: Citizens in Christ. Moravian Women, Art, and Presence. In: Tracing the Jerusalem Code, 3 [s. Nr. 9], 86–108. 115. Speaking to Body and Soul. Instructions for the Moravian Choir Helpers 1785– 1786. Hg. v. Katherine M. Faull. University Park, PA: Pennsylvania State University 2021. – 200 S. 116. Jakubowski-Tiessen, Manfred: „Er vereinigt sich nicht eher mit mir, bis ich ein Herrnhuter werde.“ Ein religiöser Bruderzwist an der Wende zum 19. Jahrhundert. In: Religiöse Weltsichten [s. Nr. 19], 189–207. 117. Ders.: Opfer der Staatsräson. Maßnahmen gegen Herrnhuter in den Herzogtümern Schleswig und Holstein im 18. Jahrhundert. In: Religiöse Weltsichten [s. Nr. 19], 136–150. 118. Just, Jiří: Die Beziehungen zwischen der böhmisch-mährischen Brüder-Unität und Kurpfalz zu Beginn des 17. Jahrhunderts und deren Folgen zu Beginn des Dreißigjährigen Krieges. In: BWKG 87, 2020, 53–59. 119. Bratrská šlechta v Čechách a na Moravě a formování konfesní identity v raném novověku. Hg. v. Jiří Just [u. a.]. Dolní Břežany, Praha: Scriptorium; Historický ústav AV ČR 2020. – 415 S. 120. Petterson, Christina: Reading the Signs of the Times. The Moravian Brothers’ Quiet Revolution. In: Reform, Revolution and Crisis in Europe [s. Nr. 28], 40–58. 121. Peucker, Paul: A Time of Sifting. Mystical Marriage and the Crisis of Moravian Piety in the Eighteenth Century. University Park, PA: Pennsylvania State University 2021. – (Online-Ausgabe) 264 S.

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122. Reichel, Christoph: Einheit ohne Einigkeit. Unser Verhältnis zur weltweiten Brüder-Unität auf dem Prüfstand. In: UnFr 79, 2020, 279–301. 123. Theile, Dorothee: „… und leuchtet in die ganze Welt“. Der Herrnhuter Stern und seine Geschichte. Herrnhut: Comenius-Buchhandlung 2020. – 80 S.; 40 Abb. 124. Landová, Tabita: O službě slova, víře a spasení. Reformní kazatelství Jana Augusty v kontextu homiletiky Jednoty bratrské = On the Service of the Word, Faith and Salvation. Reform Preaching by Jan Augusta within the Context of the Brethren’s Homiletics. Praha: Univerzita Karlova nakladatelství Karolinum 2020. – 294 S. 125. Riecke, Ulrike: Dr. Joseph Becker – ein Leben als Gemeinarzt in Herrnhut. In: UnFr 79, 2020, 109–142. 126. Meyer, Dietrich: Die Entstehung und Entwicklung der Sozietät Breslau. In: UnFr 79, 2020, 169–206. 127. Cotter, Robert: John Cennick in Germany, His Marienborn Diary, 1745–1746. In: Journal of Moravian History 21, 1, 2021, 60–102. 128. Clemens,Theodor: Johann Amos Comenius (1592–1670) – Bischof der Brüder-Unität.Vortrag zum Gedenktag an den 350. Todestag. In: UnFr 79, 2020, 207–220. 129. Comenius 1592–1670. Doba mezi rozumem a šílenstvím. Jan Amos Komenský a jeho svět. Hg. v. Lenka Stolárová u.Vít Vlnas. Brno, Ústí nad Labem: Moravské zemské muzeum; Fakulta umění a designu Univerzity Jana Evangelisty Purkyně v Ústí nad Labem 2020. – 430 S. 130. Lischewski, Andreas: Wo beginnen? Marginalien zur comenianischen Irenik und Ökumenik. In: UnFr 79, 2020, 221–231. 131. Meyer, Dietrich: Herrnhut und Herrnhaag. In: Pietismus Handbuch [s. Nr. 10], 233–238. 132. Herrnhut — als Modell einer christlichen Sozialutopie. Werkstatt Tagung 26. März 2019. Herrnhut u. 21./22. Nov 2019 in Prag. Hg. v. der Modrow-Stiftung. Berlin: Modrow-Stiftung c/o Rosa Luxemburg Stiftung 2020. 133. Peucker, Paul: Herrnhut 1722–1732. Entstehung und Entwicklung einer philadelphischen Gemeinschaft. Göttingen: Brill/Vandenhoeck & Ruprecht 2021. – 343 S. 134. Faull, Katherine M.: Anna Caritas Nitschmann. In: Pietismus Handbuch [s. Nr. 10], 197–201. 135. Kröger, Rüdiger: Abraham Roentgens problematische Anfangsjahre in der Brüdergemeine. In: UnFr 79, 2020, 233–259. 136. Beck, Christoph Th.: Sexualberatung als Seelsorge innerhalb der Brüdergemeine in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Ein Aufsatz des Arztes Peter Swertner von 1779. In: UnFr 79, 2020, 79–107. 137. McCullough, Thomas J.: Benigna von Zinzendorf’s Reports about Her American Travels, 1741–1742. In: Journal of Moravian History 20, 2, 2020, 149–189. 138. Adler, Simon: Political economy in the Habsburg monarchy 1750–1774. The contribution of Ludwig Zinzendorf. Cham: Palgrave Macmillan 2020. – XV, 288 S.; 10 Abb. 139. Atwood, Craig D.: Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf. In: Pietismus Handbuch [s. Nr. 10], 184–196. 140. Bovet, Félix: Le Comte de Zinzendorf. [1865]. Norderstedt: BoD Frankreich 2021. – 488 S. 141. Wenz, Gunther: Ergriffen von Gott. Zinzendorf, Schleiermacher und Tholuck. München: utz 2021. – 174 S.

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142. Zimmerling, Peter: Nikolaus Ludwig Graf von Zinzendorf als Klassiker der Praktischen Theologie und seine Vermittlung an die Gesamtkirche durch Friedrich Schleiermacher. In: UnFr 79, 2020, 303–324. 143. Zinzendorf, Nikolaus Ludwig von. Materialien und Dokumente. Hg. v. Peter Zimmerling. Bd. 36: Die täglichen Losungen und Lehrtexte der Brüdergemeine 1761– 1800. 40 Teile in 8 Bänden. Hildesheim [u. a.]: Georg Olms 2020. – 5068 S. 144. Ders.: Materialien und Dokumente. Bd. 36.2: Die täglichen Losungen und Lehrtexte der Brüdergemeine 1761–1800. Zweiter Band: 1766–1770. Hg. v. Peter Zimmerling. Hildesheim: Georg Olms 2020. – 520 S. 145. Ders.: Materialien und Dokumente. Bd. 36.3: Die täglichen Losungen und Lehrtexte der Brüdergemeine 1761–1800. Dritter Band: 1771–1775. Hg. v. Peter Zimmerling. Hildesheim: Georg Olms 2021. – 774 S. 146. Ders.: Materialien und Dokumente. Bd. 36.4: Die täglichen Losungen und Lehrtexte der Brüdergemeine 1761–1800.Vierter Band: 1776–1780. Hg. v. Peter Zimmerling. Hildesheim: Georg Olms 2021. – 668 S. 147. Ders.: Materialien und Dokumente. Bd. 36.5: Die täglichen Losungen und Lehrtexte der Brüdergemeine 1761–1800. Fünfter Band: 1781–1785. Hg. v. Peter Zimmerling. Hildesheim: Georg Olms 2021. – 658 S. 148. Ders.: Materialien und Dokumente. Bd. 36.6: Die täglichen Losungen und Lehrtexte der Brüdergemeine 1761–1800. Sechster Band: 1786–1790. Hg. v. Peter Zimmerling. Hildesheim: Georg Olms 2021. – 660 S. 149. Ders.: Materialien und Dokumente. Bd. 36.7: Die täglichen Losungen und Lehrtexte der Brüdergemeine 1761–1800. Siebter Band: 1791–1795. Hg. v. Peter Zimmerling. Hildesheim: Georg Olms 2021. – 616 S. 150. Ders.: Materialien und Dokumente. Bd. 36.8: Die täglichen Losungen und Lehrtexte der Brüdergemeine 1761–1800. Achter Band: 1796–1800. Hg. v. Peter Zimmerling. Hildesheim: Georg Olms 2021. – 634 S. 151. Dose, Kai: „aus dem Text erkläret“. Zinzendorfs Entwurf eines Mährischen Neuen Testaments 1741. In: UnFr 79, 2020, 9–42. 152. Farnbauer, Sophia: Zinzendorfs Ehereligion in der neueren Forschung. In: UnFr 79, 2020, 143–167.

III.07 Württembergischer Pietismus 153. Jung, Martin H.: Württemberg. In: Pietismus Handbuch [s. Nr. 10], 283–291. 154. Ders.: Johann Albrecht Bengel. In: Pietismus Handbuch [s. Nr. 10], 160–167. 155. Schnürle, Joachim: Impulsgeber für die Schriftstellerei von Philipp Friedrich Hiller. In: BWKG 119/120, 2, 2019/2020, 559–571. 156. Weyer-Menkhoff, Martin: Friedrich Christoph Oetinger. In: Pietismus Handbuch [s. Nr. 10], 202–210. 157. Giesbrecht, Eduard: Eduard Wüst. Leben und Werk des württembergischen „Rumor-Predigers“ in Südrussland. Steinhagen: Samenkorn 2020. – 206 S.

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III.08 Regionalgeschichte 158. Göbel-Lange, Paula: Neue Herrschaft – neue Bildung? Ehemals preußische höhere Schulen und Universitäten im Königreich Westphalen. In: Johann Adam Steinmetz und Kloster Berge [s. Nr. 25], 205–222. 159. Labouvie, Eva: Aufklärung, Bildung und die „Erziehung der Menschengeschlechter“. Schulwesen, Bildung und Reformpädagogik in (Mittel-)Deutschland. In: Johann Adam Steinmetz und Kloster Berge [s. Nr. 25], 175–194. 160. Marschke, Benjamin: Brandenburg-Preußen. In: Pietismus Handbuch [s. Nr. 10], 245–259. 161. Prell, Martin: Reußische Grafschaften. In: Pietismus Handbuch [s. Nr. 10], 260– 264. 162. Schunka, Alexander: Thüringen. In: Pietismus Handbuch [s. Nr. 10], 265–271. 163. Teigeler, Otto: Mitteldeutsche Schullandschaft im 18. Jahrhundert. Ein Überblick. In: Johann Adam Steinmetz und Kloster Berge [s. Nr. 25], 195–204. 164. Wurm, Johann Peter: Persönlichkeiten der deutschen Landeskirchengeschichtsschreibung. Tagung des Arbeitskreises Deutsche Landeskirchengeschichte und der Arbeitsgemeinschaft für Mecklenburgische Kirchengeschichte in Güstrow vom 27. bis 29. September 2018. Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2020. – 224 S. 165. Berger, Markus u. Michael Rocher: Schüler und Schulalltag in Kloster Berge 1766–1770. In: Johann Adam Steinmetz und Kloster Berge [s. Nr. 25], 223–248. 166. Klare, Wilhelm: Quellen zum Kloster Berge im Landesarchiv Sachsen-Anhalt. Bestände und Überlieferungsgeschichten. In: Johann Adam Steinmetz und Kloster Berge [s. Nr. 25], 109–118. 167. Poetzsch, Ute: Das Klosterbergische Gesangbuch. In: Johann Adam Steinmetz und Kloster Berge [s. Nr. 25], 93–108. 168. Wendland, Walter: Siebenhundert Jahre Kirchengeschichte Berlins. Berlin, Boston: De Gruyter 2020 [ebook der Ausgabe von 2019]. – 407 S. 169. van de Kamp, Jan: Bremen. In: Pietismus Handbuch [s. Nr. 10], 215–218. 170. Herzig, Arno: Aspekte der Breslauer Geschichte. Reformation – Judentum – Universität. Görlitz: Senfkorn 2020. – 112 S. 171. Pieper-Brandstädter, Katarzyna: Biographische Stationen im Leben des preußischen Grafen Ernst Ahasverus Heinrich von Lehndorff, eines Absolventen der Schule Kloster Berge. In: Johann Adam Steinmetz und Kloster Berge [s. Nr. 25], 249–261. 172. vom Orde, Klaus: Frankfurt am Main. In: Pietismus Handbuch [s. Nr. 10], 212–214. 173. Waczkat, Andreas: Herzog Friedrich „der Fromme“ von Mecklenburg-Schwerin und der Ludwigsluster Pietismus. In: Die Stadtkirche Ludwigslust. Ludwigslust 2020, 84– 89. 174. Albrecht, Ruth: Hamburg. In: Pietismus Handbuch [s. Nr. 10], 219–224. 175. vom Orde, Klaus: Leipzig. In: Pietismus Handbuch [s. Nr. 10], 225–228. 176. Ruhland, Thomas: Die Modell-, Instrumenten- und Naturaliensammlung des Klosters Berge bei Magdeburg. Eine Annäherung und die Frage nach ihrem Verbleib. In: Johann Adam Steinmetz und Kloster Berge [s. Nr. 25], 119–148. 177. Beck, Christoph Th.: Zwischen Orthodoxie, Pietismus und der Geburt des modernen Staates. Der Briefwechsel von Johann Adam Steinmetz mit Friedrich Wilhelm I. in den Jahren 1735 bis 1737. In: Johann Adam Steinmetz und Kloster Berge [s. Nr. 25], 43–58.

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178. Csukás, Gergely: Johann Adam Steinmetz. Pastor, Pädagoge, Publizist im Spannungsfeld von Pietismus, Orthodoxie und Aufklärung. In: Johann Adam Steinmetz und Kloster Berge [s. Nr. 25], 3–22. 179. Meyer, Dietrich: Zinzendorf und Steinmetz. In: Johann Adam Steinmetz und Kloster Berge [s. Nr. 25], 73–92. 180. Soboth, Christian:Vorwort. Johann Adam Steinmetz als theologischer und (kirchen-) politischer Akteur in Kloster Berge. In: Johann Adam Steinmetz und Kloster Berge [s. Nr. 25],VII–XV. 181. vom Orde, Klaus: Abt Steinmetz als Herausgeber von Schriften Philipp Jakob Speners. Das „Verhältnis“ von Steinmetz zu Spener. In: Johann Adam Steinmetz und Kloster Berge [s. Nr. 25], 59–72. 182. Decker, Klaus-Peter: Wetterau. In: Pietismus Handbuch [s. Nr. 10], 272–277. 183. Lückel, Ulf: Wittgenstein. In: Pietismus Handbuch [s. Nr. 10], 278–282.

III.09 Orthodoxie und Aufklärung in ihren Beziehungen zum Pietismus 184. Beutel, Albrecht: Aufklärung. In: Pietismus Handbuch [s. Nr. 10], 593–602. 185. Everdell, William R.: The Evangelical Counter-Enlightenment. From Ecstasy to Fundamentalism in Christianity, Judaism and Islam in the 18th Century. Cham: Springer International 2021. – XIII, 449 S. 186. Matthias, Markus: Pietismus und Lutherische Orthodoxie. In: Pietismus Handbuch [s. Nr. 10], 81–94. 187. Schian, Martin: Orthodoxie und Pietismus im Kampfe um die Predigt. Ein Beitrag zur Geschichte des endenden 17. und des beginnenden 18. Jahrhunderts. Berlin, Boston: De Gruyter 2020 [ND der Ausgabe von 1912]. 188. Witt, Christian Volkmar: Lutherische „Orthodoxie“ als historisches Problem. Leitidee, Konstruktion und Gegenbegriff von Gottfried Arnold bis Ernst Troeltsch. Göttingen:Vandenhoeck & Ruprecht 2021. – 297 S. 189. Bolliger, Daniel: Methodus als Lebensweg bei Johann Conrad Dannhauer. Existentialisierung der Dialektik in der lutherischen Orthodoxie. Berlin, Boston: De Gruyter 2020. – 710 S. 190. Michel, Stefan: Mandate gegen den Pietismus. Zum Versuch der rechtlichen Ausgrenzung einer protestantischen Gruppe ab 1690 und ihre Systematisierung durch Erdmann Neumeister. In: An den Rand gedrängt – den Rand gewählt [s. Nr. 21], 207–222. 191. Soboth, Christian: Tränen, Tugend, Religion. August Hermann Niemeyer als Leser von Klopstock. In: „Erinnern, was vergessen ist“ [s. Nr. 18], 110–122.

III.10 Übergang zur Erweckungsbewegung 192. Heuer, Karin: Johann Heinrich Jung-Stilling (1740–1817) und die kameralistische Tierheilkunde in Deutschland. Berlin: Mensch & Buch 2020. – 400 S. 193. Merk, Gerhard: Johann Heinrich (John Henry) Jung, Named Jung-Stilling (1740– 1817). A Biographical and Bibliographical Survey in Chronological Order. Siegen: Jung-Stilling-Gesellschaft 2020. – 193 S.

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194. Meth, Tanja: Von den „Fußstapfen der Gottheit“. Das Verständnis von der Vorsehung Gottes in der „Lebensgeschichte“ von Johann Heinrich Jung-Stilling. Siegen: Jung-Stilling-Gesesellschaft 2020. – 131 S.

III.11 Strömungen und Entwicklungen nach 1830 195. Hahn-Bruckart, Thomas: Heiligungsbewegung, Gemeinschaftsbewegung und Freikirchenbildung. In: Pietismus Handbuch [s. Nr. 10], 626–634. 196. Plaga-Verse, Matthias: Neupietismus im Nationalsozialismus. Eine Quellenstudie zu neupietistischen Printmedien am Beispiel von „Der Evangelist aus dem Siegerland“. Bielefeld: Luther 2020. – 624 S. 197. Schnurr, Jan Carsten: Erweckungsbewegung. In: Pietismus Handbuch [s. Nr. 10], 615–625. 198. Rahn, Bodo u. Benjamin Ortmeyer: Friedrich Avemarie. NS-Propagandist und NSPädagoge. Zur Entwicklung eines evangelischen Pietisten. Eine biographisch-dokumentarische Fallstudie. Weinheim, Basel: Beltz Juventa 2020. – 108 S. 199. Lányi, Gábor J.: Bishop Albert Bereczky (1893–1966) and the Revival Movement. Albert Bereczky’s Conversion. In: Perichoresis 19, 1, 2021, 91–100. 200. Hübner, Jörg: Christoph Blumhardt. Impulsgeber damals und heute. In: Zeitschrift für evangelische Ethik 65, 2, 2021, 128–133. 201. Ders.: „Es muss ein internationaler Himmel kommen!“ Politische Theologie als Konkretion der Reich-Gottes-Hoffnung bei Christoph Blumhardt. In: BWKG 119/120, 2, 2019/2020, 465–481. 202. Hennig, Gerhard: Wie Papier zum guten Wärmeleiter wird. Zu den Briefen Christoph Blumhardts des Jüngeren. In: Theologische Beiträge 51, 4, 2020, 272–274. 203. Mohr, Jürgen: Macht – Ohnmacht – Vollmacht. Die Entwicklung Christoph Blumhardts des Jüngeren (1842–1919) zum „Großen Seelsorger“. Kamen: Hartmut Spenner 2021. – 448 S. 204. Schwarz, Karl: Academic Relations between Debrecen and Vienna. Exemplified by Eduard Böhl and Sándor Venetianer. In: Perichoresis 19, 1, 2021, 101–113. 205. Schneider, Theodor: Kurt Heimbucher (1928–1988). Ein lutherischer Pietist. In: Confessio Augustana, 2, 2021, 93–102. 206. Wandel, Uwe Jens u. Gudrun Emberger: David Hinderer (1819–1890).Von Birkenweißbuch nach Ibadan. In: BWKG 119/120, 2, 2019/2020, 689–708. 207. Faupel, D. William: Walter J. Hollenweger. Charting the pathway of Pentecostal historiography. In: Journal of the European Pentecostal Theological Association 41, 1, 2021, 20–34. 208. Kulcsár, Árpád: An Encounter and its Impact:The Visit of John R. Mott in Cluj-Napoca/Kolozsvár and His Impression Upon László Ravasz. In: Perichoresis 19, 1, 2021, 75–89. 209. Klein, Fritz: Stond. Unterm Pietismus. Das Tagebuch der Martha Müller. Norderstedt: BoD 2020. – 612 S. 210. Pernet, Martin: Carl Ludwig Nietzsche – Emil Julius Schenk. Briefwechsel. Berlin: J.B. Metzler 2020. – XXVIII, 292 S. 211. Eisenblätter,Winfried: „Die Beförderung des Reiches Gottes“. Carl Friedrich Adolph Steinkopf (1773–1859) und der englische Einfluss auf die kontinentale Erweckungsbewegung. Hamburg: WDL 2021. – 266 S.

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IV. Andere Länder IV.01 England und Schottland 212. Carter, David: Orthodox Influences on Methodism. In: The Ecumenical Review 73, 1, 2021, 86–110. 213. Rodes, Stan: A Tale of Two Sermons. The Quest for Theological Coherence in Early Nineteenth-Century English Methodism. In: Wesley and Methodist Studies 12, 2, 2020, 131–151. 214. Shaw, Ian J.: „Enthusiasm,“ „Passion,“ and Religious Conversion in the Scottish Enlightenment. In: Journal of Religious History 45, 2, 2021, 280–303. 215. Stievermann, Jan: Methodismus. In: Pietismus Handbuch [s. Nr. 10], 603–609. 216. van der Woude, Rolf: Zoeken wat verbindt, niet wat verwijdert. Een interview met Leen van Valen: kenner van het Schotse pietisme. In: DNR 44, 2, 2020, 162–164. 217. van de Kamp, Jan: Pietismus und Puritanismus. In: Pietismus Handbuch [s. Nr. 10], 44–47. 218. Voigt, Karl Heinz: Methodisten. Name – Deutung – Wirkung – Gestaltung. Eine kontinentaleuropäische Perspektive. Göttingen:V&R Unipress 2020. – 472 S. 219. Hessayon, Ariel: ‚Teutonicus‘. Knowledge of Boehme Among English Speakers Before the English Civil War. In: The Forgotten Reformation [s. Nr. 27], 247–269. 220. Teasdale, Mark R.: The Language of Salvation in William Booth’s „In Darkest England“. In: Wesley and Methodist Studies 13, 1, 2021, 24–44. 221. Noll, Mark: Jonathan Edwards in Scotland. An Alternate History. In: Jonathan Edwards Studies 10, 2, 2020, 227–250. 222. Brewer, Kenneth W.: Wesley, National Sins, and Repentance. Does true Repentance Mandate Reparations? In: WTJ 56, 1, 2021, 24–51. 223. Bryant, Barry E.: Wesley, Whitefield, and the „Free Grace“ Controversy. The Crucible of Methodism. In: MethH 59, 3, 2021, 190–192. 224. Butler, Geoffrey: Wesley, Fletcher, and the Baptism of the Holy Spirit. A Pentecostal Analysis. In: Journal of Pentecostal Theology 30, 1, 2021, 181–199. 225. Edwards, Rem Blanchard: Wesley on Love as „The Sum of All“. In:WTJ 55, 2, 2020, 168–189. 226. Grosclaude, Jérôme: John Wesley and the Strange Case of the French Mummified Teenager. In: MethH 59, 1, 2021, 43–50. 227. Moon, W. Jay [u. a.]: John Wesley, Compassionate Entrepreneur. A Wesleyan View of Business and Entrepreneurship. In: Transformation 38, 2, 2021, 105–123. 228. Rigg, James H.: Living Wesley. As he was in his Youth and in his Prime. Norderstedt: Hansebooks 2021 [ND der Ausgabe von 1874]. – 280 S. 229. Scott, John Thomas:The Wesleys and the Anglican Mission to Georgia, 1735–1738. „So Glorious an Undertaking“. Bethlehem [u. a.]: Lehigh University, Rowman & Littlefield 2021. – XXII, 365 S. 230. Shetler, Brian: Regarding old Jeffrey.The Wesley familiy and its Paranormal Disturbances. In: MethH 59, 1, 2021, 51–56. 231. Amanambu, Uchenna Ebony:The Impacts of Revd John Wesley’s Life and Ministry on England and Beyond. A Reflection. In: Journal of Religion and Human Relations 12, 1, 2020, 149–181.

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IV.02 Niederlande 241. Bem, Kazimierz: ‚The Devil Went Down to Oksa‘. Demonic Visitation and Calvinist Piety in Mid-Seventeenth Century Poland. In: Reformation & Renaissance Review 23, 1, 2021, 48–67. 242. Sprunger, Mary S.: From Communalism to Capitalism. Mennonites and Money in the Early Dutch Republic. In: RHR 237, 4, 2020, 675–703. 243. van Lieburg, F. A.: Pietismus und Nadere Reformatie. In: Pietismus Handbuch [s. Nr. 10], 48–54. 244. Op’t Hof, W.J.: William Ames bij Abraham Heidanus en Franciscus Burmannus inzake de geestelijke adoptie. In: DNR 44, 2, 2020, 172–184. 245. Ders.: William Ames bij Franciscus Ridderus en Johannes Hoornbeeck inzake de geestelijke adoptie. In: DNR 44, 2, 2020, 165–171. 246. Franke, Viktoria E.: Rebel with a Cause. Gesellschaftliche Reform und radikale religiöse Aufklärung bei Friedrich Breckling (1629–1711). Münster: Waxmann 2021. – 376 S. 247. van Valen, L.J.: Comrie en het Mergh des evangeliums van Edward Fisher. In: DNR 44, 2, 2020, 146–161. 248. Bisschop, R.: Over leven, werken en invloed van ds. Abraham Hellenbroek. In: DNR 44, 2, 2020, 121–145. 249. Wildt, K. de: Johannes Mühlhäuser. Een luthers-piëtistische zendeling met de godvruchtige avondmaalsganger van Petrus Immens naar Amerika. In: DNR 44, 2, 2020, 98–120.

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250. Telfer, Charles K.: „The Holy Exercises of Piety“ in the Canons of Dort and in Campegius Vitringa (1659–1722) as a Representative of the Nadere Reformatie. In: The Synod of Dort. Historical, Theological, and Experiential Perspectives. Hg. v. Joel R. Beeke u. Martin I. Klauber. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2020, 163–184.

IV.03 Schweiz 251. Dellsperger, Rudolf: Schweiz. In: Pietismus Handbuch [s. Nr. 10], 318–325. 252. Fässler, Thomas: Ökumenisches Tauwetter zwischen Zürich und Einsiedeln. Freundschaftliche Beziehungen zwischen Einsiedler Mönchen und Zürcher Theologen im ausgehenden 18. Jahrhundert. In: Zwingliana 47, 2020, 163–181. 253. Kuhn, Thomas: Basel. In: Pietismus Handbuch [s. Nr. 10], 239–244. 254. Gunnoe Jr., Charles D. u. Dane T. Daniel: Anti-Paracelsianism from Conrad Gessner to Robert Boyle. A Confessional History. In: The Forgotten Reformation [s. Nr. 27], 104–139. 255. Caflisch-Schnetzler, Ursula: Noblesse oblige. Lavater und die europäischen Fürstenhäuser. In: Noli me nolle [s. Nr. 12], 28–39. 256. Eger, Christian: Prekäre Freundschaft. Lavater und das Fürstenpaar Franz und Louise von Anhalt-Dessau. In: Noli me nolle [s. Nr. 12], 6–27. 257. Fasching, Richard: „In den unendlichen Strömen sich wältzt unendliche Dichtkunst“. Ein bisher unbekanntes Gedicht von Johann Caspar Lavater über ein Dichter-Genie. In: Noli me nolle [s. Nr. 12], 75–85. 258. Moser, Andreas: Ein „undruckbares physiognomisches Cabinetchen“. Zur Intermedialität bei Lavater. In: Noli me nolle [s. Nr. 12], 40–62. 259. Gantenbein, Urs Leo: „Himmlische Philosophia“ bei Paracelsus und Caspar Schwenckfeld. In: The Forgotten Reformation [s. Nr. 27], 296–318. 260. Ders.: The Virgin Mary and the Universal Reformation of Paracelsus. In: The Forgotten Reformation [s. Nr. 27], 4–37. 261. Sparling, Andrew: Paracelsus, a Transmutational Alchemist. In: Ambix 67, 1, 2020, 62–87. 262. Thielen, Nora: Die Straße war seine Lehrmeisterin. Die Wanderungen und das Werk des Paracelsus. Norderstedt: BoD 2020. – 68 S. 263. Kahn, Didier: De Pestilitate and Paracelsian Cosmology. In: The Forgotten Reformation [s. Nr. 27], 65–86. 264. Pfister, Kathrin: Zwei Himmel – zwei Körper. Zur paracelsischen Kosmologie im astrologischen Tagesschrifttum. In:The Forgotten Reformation [s. Nr. 27], 87–103. 265. Zemla, Martin: From Paracelsus to Universal Reform. The (Pseudo-)Paracelsian-Weigelian Philosophia Mystica (1618). In: The Forgotten Reformation [s. Nr. 27], 184–213.

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286. Sandmo, Erling: Paradoxes of Mapping. On Geography and History in the Teaching of Christendom in Norway, c.1850–2000. In: Tracing the Jerusalem Code, 3 [s. Nr. 9], 390–409. 287. Skåden, Kristina: Drawing a Map of Jerusalem in the Norwegian Countryside. In: Tracing the Jerusalem Code, 3 [s. Nr. 9], 280–308. 288. Sparn, Walter: Apocalypticism, Chiliasm, and Cultural Progress. Jerusalem in Early Modern Storyworlds. In: Tracing the Jerusalem Code, 3 [s. Nr. 9], 55–73. 289. Claesson, Urban: A Hidden State Pietism? Perspectives on the era of Swedish Absolutism During the Reign of Charles XI. In: PuN 45, 2019 [s. Nr. 26], 19–26. 290. Oftestad, Eivor Andersen: Christiania 1651. A Spiritual Jerusalem. In: Tracing the Jerusalem Code, 2 [s. Nr. 17], 258–265. 291. Hammershøy, Birgitte: Tracing the Jerusalem Code in Christiansfeld. A World Heritage City. In: Tracing the Jerusalem Code, 3 [s. Nr. 9], 117–126. 292. Olsthoorn, Thea: Das Herz auf der Zunge. Der Streit der Herrnhuter mit Hans Egede. In: UnFr 79, 2020, [261]–277. 293. Presno, Jostein Garcia de: „Preparing stones and chalk for Zion“. Jerusalem, Hans Nielsen Hauge, and the Community of Friends. In: Tracing the Jerusalem Code, 3 [s. Nr. 9], 138–162. 294. Zuber, Devin: An Apocalypse of Mind. Cracking the Jerusalem Code in Emanuel Swedenborg’s Theosophy. In: Tracing the Jerusalem Code, 3 [s. Nr. 9], 74–85. 295. Bremmer, Magnus: „Here – right here – where we stood“. Photographic Revelations in P.P. Waldenström’s 1896 Pilgrim Travelogue Till Österland. In: Tracing the Jerusalem Code, 3 [s. Nr. 9], 430–447.

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346. Stievermann, Jan: Admired adversary.Wrestling with Grotius the Exegete in Cotton Mather’s Biblia Americana (1693–1728). In: Grotiana 41, 1, 2020, 198–235. 347. Wildt, Kees de: Johannes Mühlhäuser en Peter Immens’ „Der Tischgenosse des Herrn“ (1834). Een luthers-pietistische zendeling met de godvruchtige avondmaalganger naar Amerika. In: DNR 44, 2, 2020, 98–120. 348. Atwood-Wooten, Allyson: Hauben, Waistcoats, and Gowns. The Invention of Moravian Identity through Dress in Salem, North Carolina, 1780–1830. In: Journal of Moravian History 21, 1, 2021, 1–33. 349. Kimbrough, S.T.: Charles Wesley in America. Georgia, Charleston, Boston. Eugene: Wipf and Stock 2020. – 152 S. 350. Houston, Joel D.:With Their Salvation He Will Be Fully Satisfied. George Whitefield Particular Redemption and the Proclamation of the Gospel. In: Churchman 134, 2, 2020, 157–173.

IV.06 Östliches Mitteleuropa, Osteuropa, Südosteuropa 351. Čiževskij, Dmitrij: Aus zwei Welten. Beitrage zur Geschichte der slavisch-westlichen literarischen Beziehungen. Berlin, Boston: De Gruyter 2020 [ND der Ausgabe von 1955]. – 352 S. 352. Csepregi, Zoltán: Südosteuropa. In: Pietismus Handbuch [s. Nr. 10], 310–317. 353. Hahn, Rebekka: Glaube und Zugehörigkeit. Ich-Erzählung einer jungen russlanddeutschen Frau. In: Osteuropa 70, 5, 2020, 127–139. 354. Die Vier Unvergesslichen. Das russische Zarenhaus und der Oldenburger Hof in der Zeit von Lavater und Tischbein. Hg. v. Anna Heinze u. Stefan Lehr. Berlin: De Gruyter Oldenbourg 2020. – 256 S. 355. Horváth, Levente:The Ambiguous Beginnings of the Modern Mission Movements in the Reformed Church of Transylvania between 1895 and 1918. In: Perichoresis 19, 1, 2021, 3–15. 356. Kovács, Abrahám: British Evangelicals and German Pietists Promoting Revival through the Work of the Bible and Tract Societies in Hungary. In: Scottish Church History 49, 2, 2020, 100–122. 357. Ders.: Revivalism, Bible Societies, and Tract Societies in the Kingdom of Hungary. A Multi-Ethnic Multi-Cultural and Multi-Denominational Work for Spreading the Good News of Jesus Christ. In: Perichoresis 19, 1, 2021, 17–37. 358. Pecsuk, Ottó: The Beginnings of Bible Mission of the British and Foreign Bible Society in Early Nineteenth Century Hungary. In: Perichoresis 19, 1, 2021, 39–47. 359. Kovács, Teofil: The Defenders of Faith. The Correspondence Between Ferenc Balogh, Father of the New Orthodoxy Movement, and Eduard Böhl, Reformed Pietist Professor of Dogmatics from Vienna. In: Perichoresis 19, 1, 2021, 49–73. 360. Paškevica, Beata: Carl Johann Graß. Ein livländischer Literat und pietistischer Pfarrer. In: Zinatniskie raksti 25, 5, 2020, 223–250. 361. Beliakova, Elena u. Taisiya Leber: Die Verbreitung des Pietismus in Russland und die Kirchenreformen in der Zeit Peters des Großen. In: Ausstrahlung der Reformation [s. Nr. 8], 45–66. 362. Kuropatkina, Oksana: Der Einfluss Johann Arndts auf zwei Bischöfe und Aufklärer. Tichon von Sadonsk und Nikolai F.S. Grundtvig. In: Ausstrahlung der Reformation [s. Nr. 8], 67–73.

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IV.07 Sonstige 363. Lehmann, Hartmut: Die Altlutheraner im Hinterland von Adelaide. In: Religion im Transit [s. Nr. 22], 115–126. 364. Boon, Pieter G.: „Settlement and Gradual Expansion of the Europeans in Southern Africa“. A History of the First Centuries of Colonial Rule in South Africa by Moravian Bishop Hans Peter Hallbeck. In: Journal of Moravian History 20, 2, 2020, 190–234. 365. Annese, Andrea: From Risorgimento and Reform to Wesley and Revival. Methodist Strategies in Post-Unitary Italy 1861–1890. In: Wesley and Methodist Studies 12, 1, 2020, 29–46.

V. Übergreifende Themen V.01 Theologie und Frömmigkeit 366. Breul, Wolfgang: Zukunftserwartung. In: Pietismus Handbuch [s. Nr. 10], 399–408. 367. Csukás, Gergely: Topographie des Reiches Gottes. Die „Sammlung auserlesener Materien zum Bau des Reiches Gottes“ und ihre Fortsetzungsserien. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2020. – 409 S. 368. Engelhardt, Juliane: Gefühle. In: Pietismus Handbuch [s. Nr. 10], 479–486. 369. Köhle-Hezinger, Christel: Zur Kulturgeschichte des Gottesdienstes. Quellen aus kulturwissenschaftlicher Sicht. Eine Umschau. In: Liturgisches Jahrbuch 70, 1, 2020, 11–18. 370. Luther, Susanne: Schriftverständnis. In: Pietismus Handbuch [s. Nr. 10], 349–358. 371. Matthias, Markus: Rechtfertigung und Heiligung. In: Pietismus Handbuch [s. Nr. 10], 359–367. 372. Shantz, Douglas H.: Pietismus und mystischer Spiritualismus. In: Pietismus Handbuch [s. Nr. 10], 75–80. 373. Straßberger, Andres: Predigt. In: Pietismus Handbuch [s. Nr. 10], 387–392. 374. Strom, Jonathan: Bekehrung. In: Pietismus Handbuch [s. Nr. 10], 368–377. 375. vom Orde, Klaus: Theologiebegriff und Theologiestudium. In: Pietismus Handbuch [s. Nr. 10], 342–348. 376. Zimmerling, Peter: Gebet. In: Pietismus Handbuch [s. Nr. 10], 428–434.

V.02 Sozial- und Staatslehre, Pädagogik 377. Ajouri, Philip: Policey und Literatur in der Frühen Neuzeit. Studien zu utopischen und satirischen Schriften im Kontext der Guten Policey. Berlin: De Gruyter 2020. – XII, 606 S. 378. Albrecht-Birkner, Veronika: Gemeinschafts- und Sozialformen. In: Pietismus Handbuch [s. Nr. 10], 409–419. 379. Breul, Wolfgang: Nonkonformismus. In: Pietismus Handbuch [s. Nr. 10], 487–493. 380. Cruz, Daniel Shank: Mennonite Speculative Fiction as Political Theology. In: Political Theology 22, 3, 2021, 211–227. 381. Gierl, Martin: Kontroversen und Kritik. In: Pietismus Handbuch [s. Nr. 10], 494– 501.

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382. Jacobi, Juliane: Pädagogik. In: Pietismus Handbuch [s. Nr. 10], 513–522. 383. Kennel, Maxwell: Interdisciplinary Approaches to Mennonite Political Theology. In: Political Theology 22, 3, 2021, 185–191. 384. Kuhn, Thomas: Soziales Handeln. In: Pietismus Handbuch [s. Nr. 10], 523–534. 385. Lohsträter, Kai: „Wer die Welt nicht kennet, der kennet auch sich und GOtt nicht.“ Politische Zeitungen und Religion in der Frühen Neuzeit. Kiel: Universitätsbibliothek Kiel 2020 [ebook des Artikels von 2017]. – 49 S. 386. Marschke, Benjamin u.Wolfgang Breul: Obrigkeit und Politik. In: Pietismus Handbuch [s. Nr. 10], 541–549. 387. Grunewald, Thomas: Politik für das Reich Gottes? Der Reichsgraf Christian Ernst zu Stolberg-Wernigerode zwischen Pietismus, adligem Selbstverständnis und europäischer Politik. Halle/Saale,Wiesbaden:Verlag der Franckeschen Stiftungen, Harrassowitz Verlag 2020. – 464 S. 388. Rocher, Michael: Aufgeklärte Praxis? Ein Vergleich von Konzeption und schulischer Praxis am Philanthropin Dessau und Pädagogium Regium des Halleschen Waisenhauses. In: Bildung als Aufklärung [s. Nr. 13], 209–225. 389. Weidner, Daniel: Berufung, Erweckung und lebendige Lehrart. Johann Gottlieb Fichtes Reden über Wissenschaft. In: Über Wissenschaft reden. Studien zu Sprachgebrauch, Darstellung und Adressierung in der deutschsprachigen Wissenschaftsprosa um 1800. Hg. v. Claude Haas u. D. Weidner. Berlin: De Gruyter 2020, 79–99. 390. Windhorst, Christof: „Der Christ in der Haushaltung“. Ein pietistischer Lebensentwurf des Herforder Pfarrers G.E. Hartog im napoleonischen Königreich Westfalen (1810). In: „Erinnern, was vergessen ist“ [s. Nr. 18], 99–109.

V.03 Ökumene, Mission und Diakonie 391. Ariel,Yaakov S.: A New Model of Christian Interaction with the Jews. Pietist and Evangelical Missions to the Jews. In: Jews and Protestants. Hg. v. Irene Aue-BenDavid [u. a.]. Berlin: De Gruyter 2020, 89–102. 392. Basu Roy, Tiasa: Intertwining Christian Mission, Theology, and History. A Case Study of the Basel Mission among the Thiyyas and Badagas of Kerala 1870–1913. In: Religions 12, 2, 2021. 393. Delfs, Tobias: Die Dänisch-Englisch-Hallesche Indienmission des späten 18. Jahrhunderts. Alltag, Lebenswelt und Devianz. Stuttgart: Franz Steiner 2020. – 286 S. 394. Issa, Rana: Missionary Philology and the Invention of Bibleland. In: Tracing the Jerusalem Code, 3 [s. Nr. 9], 309–327. 395. Kirn, Hans-Martin: Judentum und Kabbala. In: Pietismus Handbuch [s. Nr. 10], 586–592. 396. La Trobe, B.: Moravian Missions. A Glance at 104 Years of Unbroken Missionary Labours. Norderstedt: Hansebooks 2021 [ND der Ausgabe von 1896]. – 52 S. 397. Mettele, Gisela: Atlantiküberfahrten der Herrnhuter Brüdergemeine im 18. Jahrhundert. In: Religion im Transit [s. Nr. 22], 31–44. 398. Okkenhaug, Inger Marie: Scandinavian Missionaries in Palestine. The Swedish Jerusalem Society, Welfare, and Education in Jerusalem and Bethlehem, 1900–1948. In: Tracing the Jerusalem Code, 3 [s. Nr. 9], 518–539. 399. Petterson, Christina: New Jerusalem in Greenland. Aspects of Moravian Mission. In: Tracing the Jerusalem Code, 3 [s. Nr. 9], 109–117.

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400. Pietrenka, Benjamin: Bloody Bodies. Embodied Moravian Piety in Atlantic World Travel Diaries, 1735–1765. In: Bodies in Early Modern Religious Dissent [s. Nr. 15], 84–102. 401. Scott, David W.: The Practice of Mission in Global Methodism. Emerging Trends from Everywhere to Everywhere. Milton: Taylor & Francis Group 2021. – 290 S. 402. Schneider, H. G.: Working and Waiting for Tibet. Sketch of the Moravian Mission. Norderstedt: Hansebooks 2021 [ND der Ausgabe von 1891]. – 104 S. 403. Stolle,Volker: Biblische Orientierung in der Begegnung von Christen und Juden. Die Abkehr vom Judenbild Luthers in der lutherischen Theologie. Leipzig: Evangelische Verlagsanstalt 2021. – 312 S. 404. Storm, Dikka: Pietistic Mission to Senja and Vesterålen in the Early Eighteenth Century. In: The Protracted Reformation in Northern Norway. Bd. 3: The Protracted Reformation in the North. Hg. v. Sigrun Hogetveit [u. a.]. Berlin: De Gruyter 2020, 169–201. 405. Veber, Maria: Missionary Letters. Authority, Masculinity and Reform. In: Reform, Revolution and Crisis in Europe [s. Nr. 28]. 406. Vogt, Peter: Missionsfelder und Internationale Beziehungen. In: Pietismus Handbuch [s. Nr. 10], 568–578. 407. Ders.: Ökumene und Mission. In: Pietismus Handbuch [s. Nr. 10], 378–386. 408. Mottu, Henry: Le barthisme de Georges Casalis, une interprétation missionnaire. In: Etudes théologiques et religieuses 96, 1, 2021, 85–97. 409. Grauer, Sabine: „Die Sache ist, Gott Lob! nicht unsere, sondern des Herrn.“. Zu Peter Fjellstedt (1802–1881) im Dienst der Basler Mission und der Church Missionary Society. In: PuN 45, 2019 [s. Nr. 26], 229–268. 410. Moths, Paul: Ein Held auf dem Missionsfeld. Heinrich Meyer, der Pionier der neueren Kaffernmission der Brüdergemeine. Leipzig, Frankfurt/M.: Deutsche Nationalbibliothek 2021 [ebook der Ausgabe von 1920]. – 56 S. 411. Jensz, Felicity: Moravian Mission Education in the Nineteenth Century. Global Patterns and Local Manifestations at New Fairfield, Upper Canada. Münster: Universitäts- und Landesbibliothek Münster 2021 [ebook der Ausgabe von 2011]. – 22 S. 412. Petterson, Christina: Spangenberg and Zinzendorf on Slavery in the Danish West Indies. In: Journal of Moravian History 21, 1, 2021, 34–59. 413. Haga, Joar: Consecrating the New Jerusalem in Tranquebar. In: Tracing the Jerusalem Code, 2 [s. Nr. 17], 416–439. 414. O’Brien, Glen: „I Wish Them Well, but I Dare Not Trust Them“. John Wesley’s AntiCatholicism in Context. In: Journal of Religious History 45, 2, 2021, 185–210.

V.04 Philosophie, Literatur, Kunst, Architektur und Musik 415. Hahn-Bruckart, Thomas: Bibel. In: Pietismus Handbuch [s. Nr. 10], 420–427. 416. Hänsel, Sylvaine: Architektur und Kunst. In: Pietismus Handbuch [s. Nr. 10], 557– 561. 417. Jacob, Joachim: Sprache. In: Pietismus Handbuch [s. Nr. 10], 475–478. 418. Kaufmann, Sebastian: Ästhetik des „Wilden“. Zur Verschränkung von Ethno-Anthropologie und ästhetischer Theorie 1750–1850. Mit einem Ausblick auf die Debatte über „primitive“ Kunst um 1900. Basel: Schwabe 2020. – 839 S. 419. Kemper, Hans-Georg: Gedichte. In: Pietismus Handbuch [s. Nr. 10], 446–453.

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420. Krummacher, Christoph: Kirchenmusik.Tübingen: Mohr Siebeck 2020. – XV, 511 S. 421. Miersemann, Wolfgang: Lieder und Gesangbücher. In: Pietismus Handbuch [s. Nr. 10], 454–467. 422. Schrader, Hans-Jürgen: Selbstzeugnisse und Biographien. In: Pietismus Handbuch [s. Nr. 10], 468–474. 423. Soboth, Christian: Erbauungsliteratur. In: Pietismus Handbuch [s. Nr. 10], 435–446. 424. Tandberg, Svein Erik: „Jerusalem“ as an Expression of What Is Sacred in Music. Restoration Tendencies in Nineteenth-Century Church Music. In: Tracing the Jerusalem Code, 3 [s. Nr. 9], 265–279. 425. Waczkat, Andreas: Musik. In: Pietismus Handbuch [s. Nr. 10], 562–566. 426. Weber, Norbert: Sophie Christiane von Brandenburg-Kulmbach und das „Schönbergische Gesangbuch“. Ein Zeitdokument des Pietismus und seine Herausgeberin. In: Jahrbuch für fränkische Landesforschung 79/80, 2021, 95–192. 427. Grutschnig-Kieser, Konstanze: „Mit andächtigen Musiquen | in die Gemeinschafft der Auserwählten Himmels=Burger zu tretten“. Zur Einordnung des „Davidischen Harpfen- und Psalter-Spiels“ von Johann Georg Störl in den Pietismus. In: Die Kantate im deutschen Südwesten. Quellen, Repertoire und Überlieferung 1700– 1770. Hg. v. Joachim Kremer [u. a.]. Mainz: Schott 2021, 41–59.

V.05 Medizin, Naturwissenschaften und Psychologie 428. Gehrmann, Saskia: Die Organisation der medizinischen Praxis in den Glaucha­ schen Anstalten. Dienstinstruktionen und Verhaltensregeln. In: Heilen an Leib und Seele [s. Nr. 16], 198–209. 429. Greyerz, Kaspar von: Physikotheologie (1650–ca. 1750) als Erbauung oder Säkularisierung? Überlegungen zu einem konstruktiveren historiographischen Zugang. In: Die Verwandlung des Heiligen [s. Nr. 23], 359–381. 430. Grunewald, Thomas: Die Glauchaschen Anstalten als medizinische Gesamttopographie. In: Heilen an Leib und Seele [s. Nr. 16], 292–321. 431. Ders.: Die Wasserversorgung der Glauchaschen Anstalten. In: Heilen an Leib und Seele [s. Nr. 16], 124–143. 432. Grützner, Thomas: „Ao 1721 ist auch ein Haus zur Verpflegung der Krancken gebauet worden“. Die Baugeschichte des Krankenhauses in den Franckeschen Stiftungen. In: Heilen an Leib und Seele [s. Nr. 16], 184–197. 433. Helm, Jürgen: Medizin im Halleschen Pietismus. In: Heilen an Leib und Seele [s. Nr. 16], 48–59. 434. Jäger, Cornelia: Heilpflanzen im Unterricht.Vom Wandel des Hortus Medicus und Botanischen Gartens am Königlichen Pädagogium. In: Heilen an Leib und Seele [s. Nr. 16], 244–257. 435. Sahmland, Irmtraut: „Der Mensch lebt nicht vom Brot allein“. Grundzüge einer pietistischen Diätetik. In: Heilen an Leib und Seele [s. Nr. 16], 78–99. 436. Dies.: Medizin und Pharmazie. In: Pietismus Handbuch [s. Nr. 10], 550–556. 437. Schmid, Pia: „Die Seele ihrem Heilande entgegen zu tragen“. Krankheit und Sterben in Herrnhuter Lebensläufen 1750–1830. In: Heilen an Leib und Seele [s. Nr. 16], 280–291.

323

438. Shantz, Douglas H.: Pietismus und Alchemie. In: Pietismus Handbuch [s. Nr. 10], 64–67. 439. Vanja, Christina: Von der Krankenstube zum Kinderkrankenhaus – die medizinische Versorgung kranker Kinder in Hospitälern und Waisenhäusern zu Beginn des 18. Jahrhunderts. In: Heilen an Leib und Seele [s. Nr. 16], 170–183. 440. Weiß, Claudia: „[V]on der löblichen Kunst Alchymia“. Alchemistische Pharmazie am Halleschen Waisenhaus im 18. Jahrhundert. In: Heilen an Leib und Seele [s. Nr. 16], 230–243. 441. Zaunstöck, Holger: „Weil nun Seel und Leib in diesem Leben vereiniget sind.“ Medizin, Hygiene und Pietismus im 18. Jahrhundert – zur Einleitung. In: Heilen an Leib und Seele [s. Nr. 16], 11–28. 442. Zorgati, Ragnhild Johnsrud:The Green Line of the Jerusalem Code.Trees, Flowers, Science, and Politics. In: Tracing the Jerusalem Code, 3 [s. Nr. 9], 328–359. 443. Wübben,Yvonne: Psychophysische Medizin in Halle um 1750. In: Heilen an Leib und Seele [s. Nr. 16], 60–69. 444. Schubert, Anselm: Celestial Sex. Paracelsus and the Teaching of the „Heavenly Flesh“ of Christ. In: Church History and Religious Culture 101, 2/3, 2021, 194–213. 445. Willard, Thomas: The Monsters of Paracelsus. In: Beasts, Humans, and Transhumans in the Middle Ages and the Renaissance. Hg. v. J. Eugene Clay.Turnhout, Belgium: Brepols 2020, 151–166. 446. Schreiber, Johann Friedrich u. Christian von Wolff: Elementorum medicinae physico-mathematicorum Tomus I. Hg. v. Sonia Carboncini-Gavanelli [u. a.]. Hildesheim [u. a.]: Georg Olms 2021 [ND der Ausgabe Frankfurt/Leipzig 1731]. – 490 S. 447. Faßhauser, Vera: A Pure Abode for an Unblemished Soul. Medical, Spiritual, and Political Significances of Bodily Characteristics in Johann Christian Senckenberg’s Journals. In: Bodies in Early Modern Religious Dissent [s. Nr. 15], 64–83. 448. Dies.: Beobachtungen zur Erkenntnis meiner selbst und anderer. Körper- und Seelenerfahrung als Basis der medizinischen Praxis bei Johann Christian Senckenberg. In: Heilen an Leib und Seele [s. Nr. 16], 268–279.

V.06 Ökonomie, Industrialisierung 449. Albrecht-Birkner,Veronika: Die Fußstapffen […] Gottes. Theologisches Argumentieren mit ‚Wirtschaftswundern‘ im hallischen Pietismus bis zum Ende des 18. Jahrhunderts. In: Pietismus und Ökonomie (1650–1750) [s. Nr. 11], 87–100. 450. Carté Engel, Katherine: Religion and the Economy. New Methods for an Old Problem. In: Pietismus und Ökonomie (1650–1750) [s. Nr. 11], 119–146. 451. Fulda, Daniel: Heilsökonomien. Pietismus und Komödie in Konvergenz und Konflikt. In: Pietismus und Ökonomie (1650–1750) [s. Nr. 11], 379–402. 452. Homburg, Heidrun: Gläubige und Gläubiger. Zum ,Schuldenwesen‘ der BrüderUnität um die Mitte des 18. Jahrhunderts. In: Pietismus und Ökonomie (1650– 1750) [s. Nr. 11], 301–336. 453. Jacob, Joachim: Freundschaftsökonomie. Der Pietist in der Freundschaft. In: Pietismus und Ökonomie (1650–1750) [s. Nr. 11], 403–416. 454. Kirschstein, Corinna: Pracht, Wollust und Üppigkeit. Zeitverschwendung und Affektökonomie im Halleschen Pietismus. In: Pietismus und Ökonomie (1650–1750) [s. Nr. 11], 417–434.

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455. Kröger, Rüdiger: Das Geschäft mit Luxusartikeln in der Brüdergemeine am Beispiel der Kunstmöbeltischlerei Roentgen. In: Pietismus und Ökonomie (1650– 1750) [s. Nr. 11], 337–356. 456. Lohsträter, Kai: Pietismus, Ökonomie und Nachrichtenpresse im 18. Jahrhundert. Die Hallischen Zeitungen als Wirtschaftsunternehmen der Glauchaer Anstalten. In: Pietismus und Ökonomie (1650–1750) [s. Nr. 11], 175–196. 457. Nipperdey, Justus: Pietistische Wirtschaftsvorstellungen im Kontext des kameralistischen Diskurses um 1700. In: Pietismus und Ökonomie (1650–1750) [s. Nr. 11], 25–46. 458. Ders.: Wirtschaft. In: Pietismus Handbuch [s. Nr. 10], 535–540. 459. Plaga-Verse, Matthias: Der Allmächtige wird dein Gold sein (Hi 22,25). Ökonomische Strukturen und theologisch motiviertes Wirtschaften in separatistisch-pietistischen Gemeinschaften in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts. In: Pietismus und Ökonomie (1650–1750) [s. Nr. 11], 101–118. 460. Schneider, Hans: Pietismus, Ökonomie und Toleranz. Das Büdinger Toleranzedikt von 1712. In: Pietismus und Ökonomie (1650–1750) [s. Nr. 11], 47–69. 461. Schrader, Hans-Jürgen: Fürstengnade und Lotterie. Modalitäten der Finanzierung der Berleburger Bibel. In: Pietismus und Ökonomie (1650–1750) [s. Nr. 11], 227– 248. 462. Schunka, Alexander: Mit Geld zu Gott. Kollektenreisen zwischen Pietismus und internationalem Protestantismus. In: Pietismus und Ökonomie (1650–1750) [s. Nr. 11], 197–218. 463. van de Kamp, Jan: Pietismus und Ökonomie bei deutschen reformierten Kaufleuten südniederländischer Herkunft am Ende des 17. Jahrhunderts. In: Pietismus und Ökonomie (1650–1750) [s. Nr. 11], 149–174. 464. Vogt, Peter: Let Our Commerce Be Holy unto Thee! Economic Practice in the Eighteenth-Century Moravian Church. In: Pietismus und Ökonomie (1650–1750) [s. Nr. 11], 269–300. 465. Safley,Thomas: A Pietist Economy or a Pious Economy? Funding and Administering Social Institutions in Augsburg, 1650–1750. In: Pietismus und Ökonomie (1650–1750) [s. Nr. 11], 249–268. 466. Sträter, Udo: Zeitwahrnehmung und Zeitökonomie bei August Hermann Francke und im hallischen Pietismus. In: Pietismus und Ökonomie (1650–1750) [s. Nr. 11], 359–378. 467. Yoder, Peter James: The Economics of the Unconverted. Idolatry, Greed, and Theft in August Hermann Francke’s Theology of Wealth. In: Pietismus und Ökonomie (1650–1750) [s. Nr. 11], 69–86. 468. Otte, Ann-Kathrin: Ich habe die Sache blos aus Gehorsam angefangen. Gotthilf August Francke und der Seidenbau. In: Pietismus und Ökonomie (1650–1750) [s. Nr. 11], 219–226. 469. Marschke, Benjamin: A Waste of Time. Courtly Entertainments, Adiaphora, and Economy of Time in Halle Pietism and in King Frederick William I’s Prussia. In: Pietismus und Ökonomie (1650–1750) [s. Nr. 11], 435–454. 470. Ressel, Magnus: Protestantische Händlernetze im langen 18. Jahrhundert. Die deutschen Kaufmannsgruppierungen und ihre Korporationen in Venedig und Livorno von 1648 bis 1806. Göttingen: Brill/Vandenhoeck & Ruprecht 2021. – 698 S.; 12 Abb.

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V.07 Buch-, Bibliotheks- und Verlagsgeschichte, Medien und Kommunikation 471. Abrams, Daniel: Suspicion and Evidence. Manuscript Sources of the Hermeneutic Gates of German Pietism. In: Jewish History 34, 2021, 1–16. 472. Klosterberg, Brigitte: Archive, Bibliotheken, Editionen. In: Pietismus Handbuch [s. Nr. 10], 2–10. 473. Vetter, Anne: Woher kommt das europäische Wissen über die Neue Welt? Unweit von Dresden beherbergt das Archiv der Herrnhuter Brüdergemeine einen großen Schatz: bislang kaum veröffentlichte Schriften über die Kolonialzeit. In: Dresdner Universitätsjournal 31, 19, 2020, 7. 474. Knödler, Julia u. Brigitte Klosterberg: Die Bibliothek des Klosters Berge. Quellen, Bestände, Überlieferung in Halle. In: Johann Adam Steinmetz und Kloster Berge [s. Nr. 25], 149–174. 475. Caflisch-Schnetzler, Ursula: Autograph – Abschrift – Exzerpt – Kopie – Druck. Johann Caspar Lavaters Schreibwerkstatt im Lichte einer Digitalen Edition. In: Duplikat, Abschrift & Kopie. Kulturtechniken der Vervielfältigung. Hg. v. Jörg Paulus [u. a.]. Wien: Böhlau 2020, 95–106. 476. Klosterberg, Brigitte: Halle als Vorbild. Das Verlagsprofil der Buchhandlung des Waisenhauses zu Züllichau nach dem Katalog von 1740. In: PuN 45, 2019 [s. Nr. 26], 200–228.

V.08 Gender 477. Häberlein, Mark: Geplagte Gottesmänner. Zur Wahrnehmung und Darstellung von Krankheit durch Hallesche Pietisten im Pennsylvania des 18. Jahrhunderts. In: Männlichkeiten in der Frühmoderne. Körper, Gesundheit und Krankheit (1500– 1850). Hg. v. Martin Dinges u. Pierre Pfütsch. Stuttgart: Franz Steiner 2020, 403– 426. 478. Salvadori, Stefania: Geschlechterrollen, Ehe und Sexualität. In: Pietismus Handbuch [s. Nr. 10], 502–512. 479. Sanders, John: Methodism, the Bible and Same-Gender Relations. In: WTJ 55, 1, 2020, 158–169. 480. Vogt, Peter: Die Herrnhuter Brüdergemeine als Fallbeispiel für Frauen- und Geschlechtergeschichte im Pietismus.Wege der Forschung seit 20 Jahren. In: PuN 45, 2019 [s. Nr. 26], 269–292. 481. Martin, Lucinda: Jacob Böhme and the Spiritualist Reformation of Gender. Exemplified by the Correspondence of Anna Magdalena Francke and the Angelic Brethren. In: The Forgotten Reformation [s. Nr. 27], 214–246.

V.09 Geschichtsbewusstsein und -konstruktion 482. Schäufele, Wolf-Friedrich: Geschichtsverständnis und Geschichtsschreibung. In: Pie­tismus Handbuch [s. Nr. 10], 393–398.

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Register

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Ortsregister Die gerade gesetzten Seitenzahlen verweisen auf den Haupttext, die kursiv gesetzten auf die Anmerkungen, die Nr.-Angaben auf die Bibliographie. 

Adelaide Nr. 363 Alexandria 286 Allendorf 22, 25 Altona 27, 35 Altorf(f) 168f., 169 Amsterdam 130, 136, 144, 165, 207, 209; Nr. 332 Augsburg Nr. 465 Bächingen a.d. Brenz 7, 258­–262 Bad Laasphe 28 Barby 263f. Basel 65, 65, 208–210, 215; Nr. 253, 392 Beirut 286, 287 Berleburg 22–24, 23, 25, 26, 31 Berlin 47, 86, 127, 129, 138, 140, 169, 273f. Bern 25 Berthelsdorf 160, 165, 265f. Bethel 285, 288 Bethlehem, Pennsylvania 254, 265; Nr. 398 Bielefeld 285f. Birkenweißbuch Nr. 206 Bremen 45, 128; Nr. 169 Breslau (Wrocław) 97f., 100; Nr. 126 Christiansfeld Nr. 291 Ciepłowody (Tepliwoda) 97 Cluj-Napoca/Kolozsvár Nr. 208 Debrecen Nr. 204 Dessau Nr. 256; Nr. 388 Dillingen 258 Dresden 6, 150f., 160–163, 162, 168, 176, 179, 180, 182, 182, 228; Nr. 473

Ebenezer 101, 101, 259 Ebersdorf 165, 165 Einsiedeln Nr. 252 Erfurt 25, 29, 31 Erlangen 108 Frankfurt/Main 108, 108–112, 112, 115f., 120, 120, 124–128, 125f., 129, 130, 210, 212, 215f.; Nr. 309 Frankfurt/Oder 237 Fraustadt (Wschowa) 96f., 104 Genf 207 Germantown 239, 251f., 269, 271 Glashütte 25–27 Glaucha 86, 249; Nr. 78f. Göttingen 272–274 Greifswald 59 Halle/Saale 6, 16f., 29, 85–107, 128f., 128f., 133–135, 133, 141, 145, 153, 157, 157, 160–166, 160f., 166, 169, 175, 179–181, 181, 183, 185, 186, 222, 231–234, 247–255, 261–263, 268f., 271, 274–276; Nr. 73–75, 78f., 443, 469, 474, 476 Hamburg 45, 110, 127, 131, 168, 210, 244, 246; Nr. 174 Harvard 209 Hennersdorf 156, 160–162, 179, 180 Herne 286 Herrnhaag Nr. 131 Herrnhut 7, 17, 151, 164f., 169, 185, 242, 262, 265–269; Nr. 123, 125, 131–133 Hopedale/Labrador Nr. 343 Ibadan Nr. 206 Isfahan 177

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Jerusalem 156, 159, 286; Nr. 9, 17, 48, 114, 266–270, 272, 274f., 280, 282, 286–288., 290f., 293–295, 394, 398f., 413, 424, 442 Jessen 43 Kaiserswerth 285f. Kopenhagen 118, 268 Küstrin 237 Lancaster 269, 271 Leiden 208 Leipzig 29, 39, 99f., 120, 124–126, 125, 128, 128, 142, 151, 153, 165, 165, 167–169, 210, 245, 274; Nr. 175 Linz 207f. Lissa (Leszno) 91 Livorno Nr. 470 Löbau i.d. Lausitz 164, 241 London 91, 96, 165, 215, 248, 288 Ludwigsburg 259 Magdeburg 41, 75, 100, 128; Nr. 71, 176 Medzibor (Międzybórz) 97 Meißen 43, 142 Mons 136, 143 Moskau 290 New Fairfield Nr. 411 Northampton 207; Nr. 338 Nürnberg 108, 114, 128, 168f., 168 Oderberg (Bogumin) 98f., 101 Odessa 260 Oksa Nr. 241 Oslo (Christiania) Nr. 266; Nr. 290 Paderborn 28 Paris 134, 137, 144, 148, 165, 167, 179 Philadelphia 57, 215, 250f., 269, 272 Pleß (Pszczyna) 97f., 100 Quedlinburg 128 Regensburg 43, 169; Nr. 42 Rom 7, 45, 63, 76, 81, 137, 154f., 167, 227, 240, 258

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Saint Médard 134 Saint-Denis 76 Salem Nr. 317; Nr. 348 Santiago de Compostela 63 Sarata (Сарата; Sărata) 260 Sarepta 8, 285–289 Saßman(n)shausen 30, 32, 33 Schwarzenau 24, 29 Seeland 208 Sorau (Žarow; Żary) 43, 244 St. Petersburg 279 St. Rupert 73 Stalingrad (Wolgograd) 290 Straßburg 217 Stuttgart 143 Teschen (Cieszyn) 16, 88, 88, 90, 90, 95, 98, 106 Tranquebar (Tharangambadi) 91, 103, 262f.; Nr. 413 Tübingen 142, 168f. Tulpehocken 254 Ubigau 43 Ulm 139, 139, 145 Usingen 25 Vadstena 64, 71 Venedig Nr. 470 Waldshut Nr. 42 Warschau (Warszawa) 280 Weimar 30, 96 Weißenfels 142, 244 Wernigerode 91, 98; Nr. 387 Wetterau Nr. 182 Wetzlar 112 Wien 127, 208 Wittenberg 43f., 43, 50, 54, 153, 156f., 160f., 165, 167, 170, 179, 181 Zduny 97 Zittau (Žitava; Żytawa; Žitawa) 239 Züllichau (Sulechów) 5, 16, 85–107; Nr. 476 Zürich 209; Nr. 314

Personenregister Die gerade gesetzten Seitenzahlen verweisen auf den Haupttext, die kursiv gesetzten auf die Anmerkungen der Beiträge, die Nr.-Angaben auf die Bibliographie. Aus den Rezensionen werden lediglich die historischen Personen verzeichnet. Aaron (indischer Prediger) 103, 103 Abrams, Daniel Nr. 471 Adelhard (Legat) 76 Adelung, Anhard 97–99, 99 Adler, Simon Nr. 138 Ajouri, Philip Nr. 377 Akala, Adesola Joan Nr. 7 Aland, Kurt Nr. 68 Albrecht-Birkner,Veronika Nr. 108, 378, 449 Albrecht, Ruth Nr. 18, 89, 174 Alexander I., Zar v. Russland 281 Amanambu, Uchenna Ebony Nr. 231 Ames, Alexander Lawrence Nr. 296 Ames, William Nr. 244f. Amundsen, Arne Bugge Nr. 266 Andersen Oftsestad, Eivor Nr. 17, 290 Anderson, Marvin Lee Nr. 30 Andersson, Bo Nr. 54 Andreae, Johann Valentin 130; Nr. 48 Anhalt-Dessau, Leopold III. Friedrich Franz, Fürst und Herzog von Nr. 256 Anhalt-Dessau, Louise Henriette Wilhelmine, Fürstin von Nr. 256 Annese, Andrea Nr. 365 Antigonos II. Gonatas, König Judäas 156 Anton Ulrich, Herzog von Braunschweig und Lüneburg, Fürst von Braunschweig-Wolfenbüttel 236 Appelt, Johann Christoph 96 Appenfeller, Georg Gottfried 35 Appenfeller, Johann Georg 27, 27, 32f., 33, 35, 36 Ariel,Yaakov S. Nr. 391 Arnauld, Antoine 17, 147 Arndt, Johann 39, 39, 89f., 128, 147, 213, 216; Nr. 49f., 57, 362

Arnold, Gottfried 16, 40–42, 40–42, 44, 48, 52, 58, 62, 84, 113, 135, 221, 221, 266; Nr. 85–87, 188 Arp, Hans 230 Atwood, Craig D. Nr. 109, 139 Atwood-Wooten, Allyson Nr. 348 Aue-Ben-David, Irene Nr. 391 Augusta, Jan (Jana Augusty) Nr. 124 Avemarie, Friedrich Nr. 198 Bahl, Patrick Nr. 85 Bahrdt, Karl Friedrich 224 Bakshi, Natalia Nr. 8 Balders, Günter Nr. 103 Balogh, Ferenc Nr. 359 Banks, John Nr. 301 Barclay, Robert 16, 40, 44, 46, 46, 56f., 57, 61, 84 Barnbrock, Christoph Nr. 104 Basu Roy, Tiasa Nr. 392 Baumgarten, Siegmund Jakob 274 Baxter, Richard 256f. Bayle, Pierre 17, 166, 166, 185 Bécherand (Bescherand), Abbé 133f., 133f. Beck, Christoph Th. Nr. 110, 136, 177 Becker, Joseph Nr. 125 Beckett, Thomas 48 Beeke, Joel R. Nr. 250 Beer, Meyer Abraham 108–132 Beliakova, Elena Nr. 361 Bem, Kazimierz Nr. 241 Bengel, Johann Albrecht 215, 217, 269; Nr. 154 Benzelius d.J., Eric 63 Bereczky, Albert Nr. 199 Berein, Samuel 96

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Berger, Markus Nr. 69; Nr. 165 Bergmann, Christian Gottlieb 274 Bernhard, Sebastian Gottlob 97–100, 100, 102f., 103 Beutel, Albrecht Nr. 184 Bezzant, Rhys S. Nr. 334 Birgitta von Schweden 15f., 44, 61–72, 74, 79, 81, 83 Birkedal Bruun, Mette Nr. 31 Bisschop, R. Nr. 248 Blake, William 230, 230 Blanckwaldt, Justus 83, 83 Blaufuß, Dietrich Nr. 63–66 Blumhardt, Christoph Nr. 200–203 Bocken, Inigo Nr. 21 Bockendorf, Johann Warner von 46, 46 Bodelschwingh, Friedrich von 288 Bogatzky, Carl Heinrich von 97, 100, 103, 105, 105 Böhl, Eduard Nr. 204, 359 Bohlin, Anna Nr. 9, 268 Böhme (Boehme), Jakob (Jacob) 6, 22, 39, 39, 44, 49, 53, 53, 56, 59f., 59, 213, 228–231; Nr. 41, 51–56, 219, 481 Bolliger, Daniel Nr. 189 Bona, Giovanni 66f. Bonaventura da Bagnoregio (d. i. Giovanni [di] Fidanza) 40f. Bonde, Line M. Nr. 269 Bonheim Günther Nr. 51, 55 Boon, Pieter G. Nr. 364 Booth, William Nr. 220 Bossart, Johann Jakob 264 Bourignon, Antoinette 16, 39, 42, 48–50, 48f., 56, 59, 84 Bouvier de La Motte Guyon, JeanneMarie (gen. Madame Guyon) 39, 41–43, 59, 59, 147, 283 Bovet, Félix Nr. 140 Boyle, Robert Nr. 254 Brademann, Jan Nr. 76 Breckling, Friedrich Nr. 246 Bremmer, Magnus Nr. 295 Brentano di Tremezzo, Clemens von (d. i. Clemens Brentano) 198, 199 Breul, Wolfgang 210–217; Nr. 2, 10f., 77, 111f., 366, 379, 386 Brewer, Kenneth W. Nr. 222

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Brill, Jacob 49, 50 Britz, Dolf Nr. 302 Bromley, Thomas 47, 47 Bruckenthal, Samuel von 233 Brunner, Daniel L. Nr. 43 Brunnholtz, Peter 251, 271 Bruno der Kartäuser (Bruno von Köln) 41 Bryant, Barry E. Nr. 223 Budde(us), Johann Franz 53, 53, 56f., 134, 134f., 136 Bulkeley, Richard 72 Bullinger, Heinrich 207f. Bünau jr., Heinrich von 157, 157 Bünderlin (von Linz), Johannes 207f. Burdach, Karl Friedrich 193 Burgignys, Jean Lévesques de 276 Burmannus, Franciscus Nr. 244 Burmeister, David Nr. 270 Butler, Geoffrey Nr. 224 Buttlar, Eva (Margarethe) von (gen. Mutter Eva) 15, 21–37 Caelestius 139 Caflisch-Schnetzler, Ursula Nr. 12; Nr. 255, 475 Callenberg, Anna Dorothea von 31f. Callenberg, Anna Sidonia von (d. i. Anna Sidonia) 26, 32f., 33 Callenberg, Clara Elisabeth von 31, 31, 36 Callenberg, Johann Heinrich, 100, 100 Calvin, Johannes Nr. 316 Canisius, Petrus 65, 74, 75 Canstein, Carl Hildebrand von 140–142, 140–142 Carboncini-Gavanelli, Sonia Nr. 446 Carl Eugen, Herzog von Württemberg 258 Carpzov, Samuel Benedict 62 Carrick, John Nr. 303 Carté Engel, Katherine Nr. 450 Carter, David Nr. 212 Casalis, Georges Nr. 408 Cave, William 77 Celan, Paul Nr. 55 Cennick, John Nr. 127 Chalmers, Thomas 208 Chios, Theopompos von 177

Chladni (Chladenius), Johann Martin 43, 43 Chladni (Chladenius), Martin 5, 15f., 38–84 Christian Ernst, Graf zu StolbergWernigerode Nr. 387 Christian, Johann 90 Čiževskij, Dmitrij Nr. 351 Clairvaux, Bernhard von 40f., 77f., 77; Nr. 339 Clarke, Samuel Nr. 312 Classen, Albrecht Nr. 41 Clay, Eugene J. Nr. 445 Clemens, Theodor Nr. 128 Clodius, David 115, 115 Cochran, Joseph T. Nr. 304; Nr. 335 Colberg, Ehregott Daniel 39f., 39, 43f., 46, 59 Comenius, Johann Amos (Jan Amos Komenský) Nr. 128f. Conrad, Anne Nr. 13 Cordier, Balthasar 59, 59 Cordoba, Antonio von 65 Corvinus, Johann Friedrich 40, 40 Cotter, Robert Nr. 127 Covington, Sarah Nr. 327 Cranz, David 263; Nr. 113 Crawford, Brandon James Nr. 305 Crisenius, Daniel 160, 180, 180f. Cronomus, Dorothea Elisabeth 29, 31 Crüger, Johann 235, 237 Cruz, Daniel Shank Nr. 380 Csepregi, Zoltán Nr. 352 Csukás, Gergely Nr. 178; Nr. 367 Cyprian, Ernst Salomon 40, 40, 236, 241 Daniel, Dane T. Nr. 254 Dannhauer, Johann Conrad Nr. 189 Darwin, Charles 218 David, Christian 266 Decker, Klaus-Peter Nr. 182 Deeg, Alexander Nr. 102 Defoe, Daniel Nr. 341 Del Rio, Martin 65, Delaney, Terry Nr. 324 Delfs, Tobias Nr. 393 Delgado, Mariano Nr. 38 Dellsperger, Rudolf Nr. 251

Demandt, Johannes Nr. 95 Deppermann, Andreas Nr. 92 Derfflinger, Friedrich von 96 Derfflinger, Ursula Johanna von 96 Descartes, René 17, 166, 166, 185 Désirant, Bernard 139, 139 Dieskau, Karl Wilhelm von 142 Dietze, Reimer Nr. 14 Dinges, Martin Nr. 477 Diniz, Lemuel Nr. 306 Dionysios der Areopagit (gen. PseudoDionysos) 40f. Dippel, Johann Konrad (Conrad) 16, 45, 84, 84; Nr. 88 Dohm, Christian Konrad Wilhelm (von) 277 Dorson, James Nr. 338 Dose, Kai Nr. 151 Drese, Claudia Nr. 81 Druffel, Franz Ferdinand von 198 Du Serre, Felix 138 Duke, Roger D. Nr. 324 Durantus, Consalvus 64, 65 Echternach, Theoderich von 76, 76 Edelmann, Johann Christian 273 Edwards, Jonathan 207f., 256f.; Nr. 221, 301–342 Edwards, Jonathan J. Nr. 311 Edwards, Rem Blanchard Nr. 225 Egede, Hans Nr. 292 Eger, Christian Nr. 256 Ehlers, Corinna Nr. 32 Eisenblätter, Winfried Nr. 211 Ekedahl, Nils Nr. 272 Elers, Heinrich Julius 87, 87, 129, 129 Elzevier, Daniel 136 Emberger, Gudrun Nr. 206 Emeliantseva Koller, Ekaterina 278–285 Emmerich (Emmerick), Anna Catharina von 197 Engelbrecht, Hans (Johannes) 16, 41, 41, 48, 49, 84 Engelhardt, Juliane Nr. 273, 368 Engell Jessen, Elisabeth Nr. 114 Engelmann, Sebastian Nr. 83 Ennemoser, Joseph 199 Erdmann, Johann Eduard 186

333

Ernst, Johann 98 Ernst Ludwig, Markgraf von Hessen-Darmstadt 109 Estius, Wilhelm 65 Everdell, William R. Nr. 185 Evers, Jan-Hendrik 269–272 Farnbauer, Sophia Nr. 152 Faßhauser,Vera Nr. 447 Fasching, Richard Nr. 257 Fässler, Thomas Nr. 252 Faull, Katherine M. Nr. 3; Nr. 115, 134 Faupel, D. William Nr. 207 Fellows, Philip Nr. 232 Fénelon, François (François de Salignac de La Mothe-Fénelon) 117; Nr. 39 Ferreira, Franklin Nr. 336 Feustking, Johann Heinrich 42, 42, 62 Fichte, Johann Gottlieb Nr. 389 Finney, Charles Grandison 207 Fiore, Joachim von 46 Fischbach, Johann Peter 130, 130 Fischer, Elisabeth Nr. 15 Fisher, Edward Nr. 247 Fisk, Philip Nr. 312 Fjellstedt, Peter Nr. 409 Fleischmann-Bisten, Walter Nr. 14 Fletcher, John Nr. 224 Flüe, Nikolaus von der 41, 62 Foligni, Angela von 41, 41f. Fontane, Theodor 236 Forrest, Benjamin K. Nr. 322 Foucault, Michel 225 Fourier, Charles 191 Franck, Sebastian Nr. 57 Franck(e), Johann Christoph 138 Francke, Anna Magdalena Nr. 481 Francke, August Hermann 58, 86f., 87, 89f., 91, 98, 128f., 129, 133, 133, 135, 135, 138, 139, 140–143, 141, 143, 145, 146, 147, 157, 164, 215, 217, 219f., 249, 262, 266, 269f.; Nr. 77–80, 466f. Francke, Gotthilf August 92f., 97, 99–101, 99–101, 103–105, 105, 262–264, 269f.; Nr. 81, 468 Francois, Wim Nr. 47 Frank, Ewa (Eva) 282

334

Frank, Jakob 8, 278, 280f., 284 Franke,Viktoria E. Nr. 246 Franz(iskus) von Assisi 42, 42, 197 Frick, Johann 139, 145 Friedrich II., König von Preußen (Friedrich der Große) 88, 133, 133 Friedrich Wilhelm I., König von Preußen 133; Nr. 177 Friedrich, Herzog zu MecklenburgSchwerin (der Fromme o. der Gütige) Nr. 173 Fritsch, Johann Friedrich 118, 118, 128 Fritsch, Thomas 118, 118, 128 Fulda, Daniel Nr. 451 Füssel, Marian Nr. 70 Gäbler, Ulrich 207–209 Gantenbein, Urs Leo Nr. 259 Garve, Christian 224 Gause, Ute 285–289 Gehrmann, Saskia Nr. 428 Gentzke, Joshua L.I. Nr. 52 Gerhard, Johann 65 Gersdorff, Henriette Catharina Freifrau von, geb. Freiin von Friesen Nr. 65f. Gessner, Conrad Nr. 254 Gfug und Foellendorf, Eleonore Charlotte Freifrau von, geb. Hochberg-Fürstenstein 97–99, 147 Gibson, William Nr. 238 Gichtel, Johann Georg 45 Gierl, Martin Nr. 381 Giesbrecht, Eduard Nr. 157 Glassius, Salomon Nr. 40 Gleditsch, Catharina Margaretha, geb. Schürer 118 Gleditsch, Johann Friedrich 118, 118, 127f., 128 Gleditsch, Johann Gottlieb 118 Gleditsch, Sophia Elisabeth, geb. Hübner 118, 128 Göbel-Lange, Paula Nr. 158 Goertz, Hans-Jürgen Nr. 33f.; Nr. 44 Goethe, Johann Wolfgang (von) 96, 96 Goeury, Julien Nr. 94 Goeze, Johann Melchior 225 Goldschmidt, Nathan Isaak 130, 130

Golicyn, Aleksandr 282f. Goodwin, Thomas 140 Grammlich, Johann Andreas 142–147, 142, 144f. Graß, Carl Johann Nr. 360 Grauer, Sabine Nr. 409 Gretcovius, Daniel 97, 99f., 100, 105, 105 Greupner, George 99 Greyerz, Kaspar von Nr. 429 Gröschl, Jürgen Nr. 82 Grosclaude, Jérôme Nr. 226 Grotius, Hugo 90; Nr. 346 Gruber, Caspar 127 Grundtvig, Nikolai F.S. Nr. 362 Grunewald, Thomas Nr. 16; Nr. 387, 430 Grutschnig-Kieser, Konstanze Nr. 427 Grützner, Thomas Nr. 432 Gudmundsson, Ulf 63 Gunnoe Jr., Charles D. Nr. 254 Haanes,Vidar L. Nr. 70, 274 Haas, Claude Nr. 389 Häberlein, Mark 247–255; Nr. 24, 69, 477 Haga, Joar Nr. 17; Nr. 275, 413 Hagenbach, Carl Rudolf 134 Hahn-Bruckart, Thomas 210–217; Nr. 10, 195, 415 Hahn, Philipp Matthäus 221 Hahn, Rebekka Nr. 353 Hall, Joseph 140, 142, 147 Hallart, Magdalene Elisabeth von 162 Hallbeck, Hans Peter Nr. 364 Hallervordt, Martin 127 Hamann, Johann Georg 224, 274 Hammarskjöld, Dag Nr. 102 Hammershøy, Birgitte Nr. 291 Handschu(c)h, Johann Friedrich 251–254, 271 Hannak, Kristine Nr. 57 Hänsel, Sylvaine Nr. 416 Hartmann, Marta Catharina 26 Hartog, G.E. Nr. 390 Hartung, Johann Friedrich 127 Hauffe, Friederike 202 Hauge, Hans Nielsen Nr. 293 Haykin, Michael A.G. Nr. 313 Hecking, Gottfried 145

Hedinger, Johann Reinhard 147 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 189f., 189f., 193f., 193 Heidanus, Abraham Nr. 244 Heimbucher, Kurt Nr. 205 Heineccius, Johann Michael 72, 135, 138f. Heinze, Anna Nr. 354 Heinzelmann, Johann Dietrich Matthias 271 Heitz, Johann Georg 160 Helbig, Johann Friedrich 246 Helfta, Gertrud von 41f., 42 Hellenbroek, Abraham Nr. 248 Heller, Johann George 97, 99 Helm, Jürgen Nr. 433 Helmuth, Justus Heinrich Christian 248, 250, 271 Henckel von Donnersmarck, Anna Katharina Gräfin 90, 101 Henckel von Donnersmarck, Wenzel Ludwig Graf 90, 97f. Henkys, Jürgen 243 Hennig, Gerhard Nr. 202 Herberger,Valerius 128 Hering, Rainer Nr. 18 Herodes 156, 156 Hertz, Helge-Fabien 290–292 Herzig, Arno Nr. 170 Hessayon, Ariel Nr. 58, 219 Heuer, Karin Nr. 192 Heuser, Anna 286 Heuser, Emilie 285f., 286, 288 Heuser, Marie 286 Heußin, Anna Martha 31, 36 Hildegard von Bingen 15, 38, 42, 42, 44, 61f., 72–83, 72f., 75, 78–83; Nr. 41 Hiller, Philipp Friedrich Nr. 155 Hinderer, David Nr. 206 Hippo, Augustinus von (Kirchenvater Augustinus) 145 Hitler, Adolf 290 Hobbes, Thomas 51 Hochmann von Hochenau, Ernst Christoph 24f., 24f. Hoefer, Liese 286, 288f. Hoehner, Paul J. Nr. 314 Hogetveit, Sigrun Nr. 404

335

Hohenheim, Franziska Theresia Reichsgräfin von 258 Hollenweger, Walter J. Nr. 207 Holtzhausen, Johann Christoph 115, 115 Homburg, Heidrun Nr. 452 Honigsheim, Paul 134 Hoornbeeck, Johannes Nr. 245 Horche, Johann Heinrich 25, 25 Horváth, Levente Nr. 355 Hotaki, Mir Mahmud 177 Houston, Joel D. Nr. 350 Hovey, Alvah Nr. 344 Hubmaier, Balthasar Nr. 42 Hübner, Johann 118, 128 Hübner, Jörg Nr. 200 Hyrkanos 156 Iamblichos 61 Ichtershausen, Sebastian 29f. Illg, Thomas Nr. 49 Illyricus, Matthias Flacius 38, 38 Immens, Peter (Petrus) Nr. 249, 347 Issa, Rana Nr. 394 Itten, Johannes 230 Jacob, Joachim Nr. 417, 453 Jacobi, Juliane Nr. 382 Jaen, Alonso von 64, 64 Jäger (Jaeger), Johann Wolfgang 49, 137, 139, 142 Jäger, Cornelia Nr. 434 Jakubowski-Tiessen, Manfred Nr. 18f., 59, 116, 276 Jancovius, Samuel 96f., 101, 101, 103f., 104 Jansenius, Cornelius 17, 136, 147 Jenichen, Gottlieb Friedrich 139, 145, 145 Jensz, Felicity Nr. 411 Jeon, Heejoon Nr. 315 Jerusalem, Johann Friedrich Wilhelm (gen. Abt Jerusalem) 224 Johannes der Täuf(f)er 146 Johannes vom Kreuz 42 John Wilmot, 2. Earl of Rochester 52 Johnson-Weiner, Karen Nr. 297 Johnson, Dana E. Nr. 337 Juchno, Andrew J. Nr. 317

336

Juncker, H. 99 Jung-Stilling, Johann Heinrich 221; Nr. 192–194 Jung, Anna Regina, geb. Zunner 113f., 113, 116f. Jung, Johann Adam 117, 118, 119, 120, 121, 123–132 Jung, Johann David 117 Jung, Martin H. 214 Jürgens, Henning P. Nr. 20 Just, Jiří Nr. 118f. Kahlow, Carmela Nr. 79 Kahn, Didier Nr. 263 Kandinsky, Wassily 230 Kant, Immanuel 224 Karl VI. Franz Joseph Wenzel Balthasar Johann Anton Ignaz, Römischdeutscher Kaiser 116 Karl XI., König von Schweden Nr. 289 Karl XII., König von Schweden (Schwedenkönig) 88 Katharina von Genua 41, 42, 49 Katharina von Schweden 63 Katharina von Siena 39 Kaufmann, Sebastian Nr. 418 Kellermann, Ulrich Nr. 96 Kelleter, Frank Nr. 338 Kellner, Gottfried 99, 100 Kempen, Thomas von 48 Kemper, Hans-Georg Nr. 419 Kennel, Maxwell Nr. 383 Kerner, Justinus Andreas Christian 17, 202f. Kesel, Marc de Nr. 21, 39 Kiernander, Johann Zacharias 103 Kieser, Dietrich Georg von 192f. Kim, Song Nr. 339 Kimbrough, S.T. Nr. 349 Kirn, Hans-Martin 187, 215, 219–222, 224f.; Nr. 86, 395 Kirschstein, Corinna Nr. 454 Kittlitz (Kitlitz) und Ottendorf, Georg Friedrich von 97–101 Klare, Wilhelm Nr. 166 Klauber, Martin I. Nr. 250 Klein, Fritz Nr. 209 Klein, Michael Nr. 105

Kling, David W. Nr. 318 Klopstock, Friedrich Gottlieb Nr. 191 Klosterberg, Brigitte 16, 133, 186, 214; Nr. 73, 472, 474, 476 Knapp, Georg Christian 252 Knoch, Georg Marcus 149, 153, 167, 167, 170 Knödler, Julia Nr. 474 Knüpfer, Sebastian 245 Koefoed, Nina Javette Nr. 277 Köhle-Hezinger, Christel Nr. 369 König, Samuel 25 Konrad III., König des HRR 75 Koole, Boudewijn Nr. 56 Köpke (Kopkens), Balthasar 17, 115, 140–142, 142, 146 Köster, Heinrich Martin 277 Kovács, Abrahám Nr. 356 Kovács, Teofil Nr. 359 Kremer, Joachim 244; Nr. 427 Kröger, Rüdiger Nr. 135, 455 Kroisos (Krösus), König Lydiens 177 Krüger, Jakob (de) 130 Krümer, Anna Elisabeth 29 Krummacher, Christoph Nr. 420 Kuhn, Thomas K. 207, 209f.; Nr. 253, 384 Kulcsár, Árpád Nr. 208 Kunze, Johann Christoph 250 Kuropatkina, Oksana Nr. 362 Kurtz, Johann Nicolaus 253f. Kyrene, Synesios von 46 La Trobe, B. Nr. 396 Labadie, Jean de Nr. 93, 94 Labouvie, Eva Nr. 159 Lachmann, Joachim 96 Lacy, John 72 Landová, Tabita Nr. 124 Lange, Joachim 49, 90, 140 Langer, Carl Heinrich 97 Lankisch, Friedrich 128, 128 Lányi, Gábor J. Nr. 199 Larsen, Kurt E. Nr. 61 Lauterbach, Johann 96f., 101, 101 Lavater, Johann Caspar 221, 222; Nr. 12, 255–258, 354, 475 Le Maistre, Antoine 135 Le Tourneux, Nicolas 44

Leade, Jane 266; Nr. 58 Leber, Taisiya Nr. 361 Lee, Sang Hyun Nr. 319 Lefèvre d’Étaples, Jacques (d.  i. Johannes Faber Stapulensis) 75, 75 Lehmann, Hartmut 134; Nr. 363 Lehndorf, Ernst Ahasverus Heinrich von Nr. 171 Lehnert, Christian Nr. 102 Lehr, Stefan Nr. 254 Leibniz, Gottfried Wilhelm 169, 224 Leidenhag, Joanna Nr. 320 Lemaistre de Sacy, Louis-Isaac 135 Leopold, Christoph 139 Leppin,Volker Nr. 38, 55 Less, Gottfried 276 Lessing, Gotthold Ephraim 224, 274 Liebau, Heike 92 Liebau, Kurt 95 Liebernickel, Gottfried 127 Liebezeit, Christian 127 Lied, Laurel Nr. 278 Lienhard, Marc Nr. 35 Lindl, Ignaz 260 Lindt, Andreas 214 Linköping, Mat(t)hias von 63, 63f. Lippmann, Elieser 110 Lischewski, Andreas Nr. 130 Ljungberg, Johannes Nr. 279 Locke, John 54, 54, 56, 83 Lohsträter, Kai Nr. 385, 456 Löscher,Valentin Ernst 43, 43 Løvlie, Birger Nr. 280 Lückel, Ulf Nr. 310 Ludolf, Hiob 114, 122 Ludwig XIV., König von Frankreich 144 Luise Ferdinande, Fürstin von AnhaltKöthen-Pleß, geb. zu StolbergWernigerode 98 Luther, Martin 38, 57, 138, 181, 235, 239–242; Nr. 43, 96, 403 Luther, Susanne Nr. 370 Lysius, Johannes 47, 47 Maas, Nathan (d.  i. Nathan Strauß; Nathan Amschel Maas zum goldenen Strauss) 120, 120, 130 Maddox, Randy L. Nr. 239

337

Maes, Torsten Nr. 97 Magdeburg, Mechthild von 41, 75 Mai, Claudia Nr. 4 Major Hackenburg 32 Makarios (der Ägypter; der Große) 284 Marcklowsky, Susanna Elisabeth von 98, 100, 100, 103, 103, 104, 104 Marie de l’Incarnation 41 Marpeck (Marbeck), Pilgram 302 Marperger, Jacob Paul 138 Marschke, Benjamin 210; Nr. 160, 386, 469 Marsden, George M. 321 Martin, Lucinda 228, 230; Nr. 481 Martini, August 167f., 168, 169 Mather, Cotton Nr. 345 Matheson, Peter 36 Mathiasen Stopa, Sasja Emilie Nr. 277, 281 Matthias, Markus Nr. 62, 90, 186, 371 Mayer, Johann Friedrich 128 McClymond, Michael J. Nr. 322 McCullough, Thomas J. Nr. 137 McDermott, Gerald R. Nr. 323 McGlothlin, James C. Nr. 340 Meister Eckhart 41 Mejrup, Kristian Nr. 282 Menasse, Löw (Löb) (d. i. Löb Darmstädter) 108f., 121, 130 Mendelssohn Bartholdy, Felix 236, 240 Mennecke, Ute Nr. 98 Merk, Gerhard Nr. 193 Meth, Tanja Nr. 194 Mettele, Gisela Nr. 22, 397 Mey, Peter de Nr. 47 Meyer, Dietrich 151, 162, 242; Nr. 106, 113, 126, 131, 179 Meyer, H. 99 Meyer, Heinrich Nr. 410 Meyer, Johann Ernst 99 Michaelis, Johann David 276 Michel, Augustinus 138, 139 Michel, Stefan Nr. 190 Micus, Rosa Nr. 42 Miersemann, Wolfgang 234, 237f., 242, 245; Nr. 421 Migeot, Gaspard 136 Milde, Heinrich 232

338

Miller, Eric C. Nr. 311 Miré, Aubert Le 65, 73 Misson, Maximilien 47 Mohr, Jürgen Nr. 203 Moir, Cat Nr. 28 Molinos, Miguel de 56, 58f., 58 Moon, W. Jay Nr. 227 Moosdiele-Hitzler, Johannes 258–261 Morawitzky, Johann Heinrich von 90, 97f. More, Henry 51–54, 51, 56 Moser, Andreas Nr. 258 Moths, Paul Nr. 410 Mott, John R. Nr. 208 Mottu, Henry Nr. 408 Mühlenberg, Heinrich Melchior 98, 248, 251f., 269 Mühlhäuser, Johannes Nr. 249, 347 Müller, Joseph Theodor 150, 152f., 169, 169, 172, 175f., 177, 182, 267 Müller, Markus Nr. 240 Müller, Martha Nr. 209 Müntzer, Thomas Nr. 44 Müteferrika, Ibrahim Nr. 232 Muthmann, Johann 95 Natzmer, Dubislav Gneomar von 160, 181 Naudé, Philipp 56 Nebbien, Anna Maria, geb. Jung 117 Nebbien, Markus Johann 117 Neldner, Johann Gottlieb 99 Nettles, Tom J. Nr. 324 Neubauer, Georg Heinrich Nr. 82 Neumeister, Erdmann 244f.; Nr. 190 Niekamp, J.L. 105, 105 Niemeyer, August Hermann 252; Nr. 83, 191 Nietzsche, Carl Ludwig Nr. 210 Nipperdey, Justus Nr. 457 Nitschmann, Anna Caritas Nr. 134 Njoto, Ricky F. Nr. 325 Noailles, Louis-Antoine de, Erzbischof von Paris 137, 138, 140, 144f. Noll, Mark A. 217; Nr. 221 Norwich, Juliana von 42 Norris, Clive Murray Nr. 233 Norseth, Kristin Nr. 283

O’Brien, Glen Nr. 414 O’Malley, J. Steven Nr. 100 Oesterling, Jason Nr. 341 Oetinger, Friedrich Christoph 39, 148; Nr. 156 Okkenhaug, Inger Marie Nr. 398 Ollilainen, Anssi Nr. 284 Olshausen, Hermann 199, 201f. Olsthoorn, Thea Nr. 292 Op’t Hof, W.J. Nr. 244 Opitz, Martin 242 Oppenheim, Mordechai 110 Optiz, H. 100 Ortmeyer, Benjamin Nr. 198 Österland, Till Nr. 295 Otte, Ann-Kathrin Nr. 468 Otte, Hans Nr. 5 Otto, Daniel 121 Otto, Friedrich Reinhard 130 Paalzow, Christian Ludwig 276f. Papst Anastasius IV. 76 Papst Clemens XI. 135, 139 Papst Eugenius III. 75f., 83 Papst Gregor der Große 69 Papst Leo IX. (Hl. Leo) 143 Papst Zosimus 139 Paracelsus (d. i. Theophrastus Bombastus von Hohenheim) Nr. 259–262, 265, 444, 445 Pâris, François de 134, 134 Paškevica, Beata Nr. 360 Passavant, Johann Karl 193 Paul, Jean (d. i. Friedrich Richter) 236 Pauli, Johann Maximilian 130 Pečar, Andreas 133; Nr. 74 Pecsuk, Ottó Nr. 358 Pelagius 139 Pernet, Martin Nr. 210 Peter I., Zar von Russland (gen. der Große) 281 Petersen, Johann Wilhelm 45, 48, 116; Nr. 90 Petersen, Johanna Eleonora 48, 210; Nr. 89f. Petterson, Christina Nr. 120, 399, 412 Peucker, Paul 265–268; Nr. 121, 133 Pfaff, Christoph Matthäus 137f., 137

Pfister, Kathrin Nr. 264 Pfütsch, Pierre Nr. 477 Phasael 156 Philipps, Jenkin Thomas 51 Pieper-Brandstädter, Katarzyna Nr. 171 Pietrenka, Benjamin Nr. 400 Plaga-Verse, Matthias Nr. 459 Platon 49, 53 Plitt, Johannes 172 Plotin 53 Plütschau, Heinrich 91 Poetzsch, Ute Nr. 167 Poiret, Pierre 48–50, 49, 54, 59f., 62, 66 Pollack, Detlef Nr. 23 Pontoppidan d.J., Erik Nr. 61 Pordage, John 49f., 59–61 Porst (Porstius), Johann 47, 86 Prades, Jean-Martin de 273f. Prell, Martin Nr. 161 Presno, Jostein Garcia de Nr. 293 Procter, Andrea Nr. 298 Puchau, Carl Wilhelm 168 Püntiner, Carl Anton 28 Pythagoras 40 Quesnel (Quenel), Pasquier 17, 133–148 Raabe, Paul Nr. 78 Rahn, Bodo Nr. 198 Rambach, Johann Jakob 90, 141, 246; Nr. 84 Ravasz, László Nr. 208 Rayanayakkan 103 Rechenberg, Adam 39 Reeh, Tine Nr. 285 Rehnman, Sebastian Nr. 326 Reichel, Christoph Nr. 122 Reichel, Gerhard 153 Reimarus, Hermann Samuel 224, Reitz, Johann Henrich 25 Reklis, Kathryn Nr. 327 Resewitz, Friedrich Gabriel 276 Ressel, Magnus Nr. 470 Ridderus, Franciscus Nr. 245 Riecke, Ulrike Nr. 125 Rievaulx, Aelred von 41 Rigg, James H. Nr. 228 Rinckart, Martin 241

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Ritschl, Albrecht 268 Rocher, Michael Nr. 165, 388 Rock, Johann Friedrich Nr. 91 Rodes, Stan Nr. 213 Roentgen, Abraham Nr. 135, 455 Rollmann, Hans Nr. 343 Römeling, Anton Christian 45 Rosenkranz, Karl 193 Rosina (Täufling) 101 Rothe, (Johann) Andreas 164, 266 Rousseau, Jean-Baptiste 245 Rublack, Ulinka Nr. 300 Rüdiger, Johann Michael 127 Ruhland, Thomas 133, 186, 262–264; Nr. 176 Sachsen, Friedrich August I. von (gen. August der Starke) 167 Sack, August Friedrich Wilhelm 224 Sadonsk, Tichon von Nr. 362 Safley, Thomas Nr. 465 Sahmland, Irmtraut 210; Nr. 435 Saint George Marquis de Marsay, Charles Hector de 31, 31 Saint-Simon, Henri 191 Salvadori, Stefania Nr. 53, 478 Samuel (Gottlob) (Täufling) 101, 102 Sander, Nikolaus 65 Sanders, John Nr. 479 Sandmo, Erling Nr. 286 Sauer, Christoph 239 Saurmann, Philipp Gottfried 128 Sayn-Wittgenstein-Berleburg, Casimir Graf zu 23, 23 Sayn-Wittgenstein-Berleburg, Hedwig Sophie Gräfin zu, geb. zur LippeBrake 23, 23 Sayn-Wittgenstein-Hohenstein, Gustav Otto Reichsgraf zu 23 Sayn-Wittgenstein-Hohenstein, He(i) nrich Albert (Albrecht) Graf zu 23, 23 Schäf(f)er (Scheffer), Melchior 164, 266 Schaff, Philip 208 Schäufele, Wolf-Friedrich Nr. 29, 88, 482 Schaum, Johann Helfrich 271 Scheffler, Johann (d. i. Angelus Silesius) Nr. 41

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Scheibe, Johann Adolph 246 Schelle, Johann 242, 245 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph von 193 Scheuer, Beyfuß Salomon 130, Scheuer, Isaak David 130f., 130 Schiff, David zum 120, 120 Schilter, Johann Nr. 67 Schlachta, Astrid von Nr. 101 Schleiermacher, Friedrich 220, 226, 241; Nr. 141f. Schlierbach, Konrad 24 Schlimm, Matthew Richard Nr. 234 Schmalz, Björn Nr. 71 Schmei(t)zel, Martin 233 Schmid, Pia Nr. 437 Schmidt, Batholomäus (Barthel) 114, 114 Schmidt, Steffie Nr. 37 Schmölz-Häberlein, Michaela Nr. 24, 70 Schneider, H.G. Nr. 402 Schneider, Hans 213; Nr. 460 Schneider, Theodor Nr. 205 Schneider, Wolfgang Christian Nr. 45 Schnürle, Joachim Nr. 155 Schnurr, Jan Carsten 214; Nr. 197 Schomans, Georg 45 Schönau, Elisabeth von 39, 42, 75 Schrader, Hans-Jürgen 23, 210; Nr. 422, 461 Schreiber, Johann Friedrich Nr. 446 Schröder, Johannes 290 Schubert, Anselm Nr. 444 Schunka, Alexander 210; Nr. 162, 462 Schürer, Thomas 118, 118 Schürer, Thomas 118, 118 Schütz, Johann Jacob 212; Nr. 92 Schwarz, Karl Nr. 204 Schweitzer, Cameron Nr. 328 Schweitzer, William M. Nr. 329 Schwenckfeld, Caspar 50; Nr. 32, 45, 46, 47, 259 Schwetzel, Johann Ulrich 141 Scott, David W. Nr. 401 Scott, John Thomas Nr. 229 Scriver, Christian 128 Sellius, Adam 237f. Semler, Johann Salomo 275f., 224–226

Senckenberg, Johann Christian Nr. 447, 448 Seuse, Heinrich 42 Seybold, David Christoph 147 Shantz, Douglas H. 210, 215; Nr. 305, 372 Shaw, Ian J. Nr. 214 Shetler, Brian Nr. 230 Shrader, Matthew C. Nr. 344 Siebel, Anna 286 Simon, Richard 136 Sinold, Philipp Balthasar (gen. von Schütz oder Monsieur de Schütz) 145, 151, 153, 165, 216 Skåden, Kristina Nr. 287 Snyder, C. Arnold Nr. 46 Soboth, Christian 133, 186; Nr. 6, 25, 72, 180, 191, 423 Sommer, Wolfgang Nr. 50 Sophie Christiane, Markgräfin von Brandenburg-Kulmbach Nr. 426 Spangenberg, August Gottlieb 150, 151, 164, 171, 172; Nr. 412 Sparling, Andrew Nr. 261 Sparn, Walter Nr. 48, 288 Spener, Jacob Carl 138 Spener, Philipp Jakob 39, 113, 115f., 121, 127–129, 129, 135, 140, 147, 212f., 215–217, 219f., 266, 268, 270, 280; Nr. 61–63, 67f., 181 Spinoza, Baruch de (d. i. Benedictus de Spinoza) 50, 224 Spizelius, Theophilus 51f. Sponheim, Jutta von 73 Sprunger, Mary S. Nr. 242 St. John Bolingbroke, Henry 274 St. Thierry, Wilhelm von 41 St.Viktor, Richard von 60 Steinbart, Gotthilf Samuel 90, 97, Steinbart, Johann Christian 90, 96, 101, 101 Steinbart, Siegmund 85–87, 87, 89, 101, 104 Steinkopf, Carl Friedrich Adolph Nr. 211 Steinmetz, Johann Adam 95, 255; Nr. 25, 71, 158f., 163, 165, 166, 167, 171, 176, 177–181, 474 Stievermann, Jan Nr. 215, 299, 330, 346 Stolárová, Lenka Nr. 129

Stolle,Volker Nr. 403 Stolterfoht, Jacob 82, 82 Störl, Johann Georg (Christian) 244; Nr. 427 Storm, Dikka Nr. 404 Strandiger, Otto Lorentzen Nr. 59 Straßberger, Andres Nr. 373 Sträter, Udo Nr. 466 Strauß, David Friedrich 187, 189 Strimesius, Samuel 45 Strom, Jonathan Nr. 374 Strübind, Andrea Nr. 38 Sturm, Anne Nr. 73 Sudermann, Daniel Nr. 45 Surius, Laurentius 48, 76 Swedenborg, Emanuel 191, 221; Nr. 294 Sweeney, Douglas A. Nr. 330 Swertner, Peter Nr. 136 Taatz-Jacobi, Marianne Nr. 74 Tandberg, Svein Erik Nr. 424 Tatarinova, Ekaterina 278–280, 282–284 Tauler, Johannes 39–41, 39, 48, 60, 62, 83 Teasdale, Mark R. Nr. 220 Teigeler, Otto 17; Nr.163 Telemann, Georg Philipp 246 Telfer, Charles K. Nr. 250 Teller, Wilhelm Abraham 224 Tersteegen, Gerhard 42f., 43; Nr. 14, 95–98, 100–107 Theile, Dorothee Nr. 123 Thielen, Nora Nr. 262 Tholuck, (Friedrich) August (Gotttreu) 15, 17, 186–204, 186; Nr. 141 Thomasius, Christian 29, 33, 138, 142, 224, Thomasius, Jacob 40 Tippelskirch, Xenia von Nr. 15 Tischbein, Johann Heinrich Wilhelm Nr. 354 Tittel, August 142f., 142, 146 Torigni, Robert von 77 Torseth, Robb L. Nr. 331 Torquemada, Johannes von 64, 65 Trajan (römischer Kaiser) 69 Treffurt, Eobanus 26 Tremont, Jean 130 Trithemius, Johannes 73, 83

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Troeltsch, Ernst 134, 221; Nr. 188 Tschischwitz, Beate von Nr. 68 Uckermann, Cunigunda 29, 35 Uckermann, Georg Christoph 29 Undereyck, Theodor Nr. 108 Underhill, Thomas Nr. 342 Unruh, Christoph Siegmund 96 Urbanovič-Piletckij, Martyn 280 Urlsperger, Samuel 143 Vadianus, Joachim 73 Valentini, Michael Bernhard 122, 122 van de Kamp, Jan Nr. 108, 169, 217, 463 van Buskirk, Gregory P. Nr. 235 van der Woude, Rolf Nr. 216 van Lieburg, F.A. 210; Nr. 243 van Melton, James Horn Nr. 300 van Spankeren, Malte Nr. 84 van Valen, Leen J. Nr. 247 van Vlastuin, W. Nr. 332 Vanini, Cesare 52, 52 Vanja, Christina Nr. 439 Veber, Maria Nr. 405 Venetianer, Sándor Nr. 204 Vergil 151, 153, 170, 173, 173, 175, 182 Verók, Attila 231–234 Vetter, Anne Nr. 473 Vio Cajetan, Tommaso de 65 Vitringa, Campegius Nr. 250 Vivaldi, Antonio 245 Vlnas,Vít Nr. 129 Vogel, Lothar Nr. 87 Vogt, Peter Nr. 405 Voigt-Goy, Christopher Nr. 345 Voigt, Johann Ludwig 271 Voigt, Karl-Heinz Nr. 218 Völcker, Johann 127 vom Orde, Klaus 210; Nr. 67, 172, 175, 181, 375 Vopelius, Gottfried 242 Waczkat, Andreas 242, 247; Nr. 173, 425 Walch, Johann Georg 123 Waldenström, Paul Peter Nr. 295 Wall, Robert W. Nr. 236 Wandel, Uwe Jens Nr. 206 Wasmuth, Jennifer 217, 219

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Wattewille (Wattenwyl; Watteville), Friedrich von (de) 164, 266 Weber, Max 134 Weber, Norbert Nr. 426 Weeks, Andrew 231; Nr. 27, 57, 60 Weidner, Daniel Nr. 389 Weigel, Sebastian 59 Weigel,Valentin 58; Nr. 60 Weiß, Claudia Nr. 440 Weiße, Michael 239 Weise, Christian 239 Weismann, Christian 51f. Wendebourg,Valentin 272–278 Wendland, Walter Nr. 168 Wenz, Armin Nr. 40 Wenz, Gunther Nr. 141 Werlin, Balthasar 65 Werner, Gustav 17, 189, 191, 203 Wesley, John Nr. 349, 414 Wesley, Samuel Nr. 1, 213, 220, 222–239, 365 Westerink, Herman Nr. 93 Weyer-Menkhoff, Martin Nr. 156 Whitefield, George 254; Nr. 223, 350 Wied-Runkel, Maximilian Heinrich Graf von 30, 32 Wiedemeyer, Johann 127 Wild, Johann Nr. 240 Wildt, Kees de Nr. 249, 347 Willard, Thomas Nr. 445 Williams, Howard Henry Drake (III.) Nr. 47 Winckler, Johann 45 Windhorst, Christof Nr. 390 Winslow, Lisanne Nr. 333 Winter, Bronwyn Nr. 28 Winter, Justus Gottfried 29–33, 35, 36 Wion, Arnoldus 73f. Wirth, Johann Ulrich 193 Witt, Christian Volkmar Nr. 20, 188 Woellner, Johann Christoph von 226 Wolf, Gerhard Philipp Nr. 63–66 Wolff, Christian (von) 224; Nr. 446 Wride, Thomas Nr. 233 Wright, Jeremiah Nr. 311 Wübben,Yvonne Nr. 443 Wurm, Johann Peter Nr. 164

Württemberg, Eberhard Ludwig, Herzog von 143, 146 Württemberg, Friedrich Ludwig, Erbprinz von 144 Wust, Christoph 115 Wüst, Eduard Nr. 157 Yoder, Peter James Nr. 80, 467 Zasadiusz, Samuel 95 Zaunstöck, Holger 133, 186; Nr. 16, 75, 441 Zemla, Martin Nr. 265 Ziegenbalg, Bartholomäus 91, 220 Ziegler, Caspar 245 Zimmerling, Peter Nr. 102, 142–150, 376 Zinzendorf von Watteville, Henrietta Benigna Justine, geb. von Zinzendorf Nr. 137

Zinzendorf, Georg Ludwig von 180 Zinzendorf, Nikolaus Ludwig von 15, 17, 149–185, 210, 215, 217, 219f., 242, 253, 265–267, 269; Nr. 138–143, 179, 412 Zinzendorf, Otto Christian von 160, 180 Zopf, H. 99 Zorgati, Ragnhild Johnsrud Nr. 9, 268, 442 Zuber, Devin Nr. 294 Zunner, Johann 114 Zunner d.Ä., Johann David 114 Zunner d.J., Johann David 16, 110, 111–122, 114, 115, 125, 127, 129, 129–131 Zunner, Maria Margaretha, geb. Schmidt 114 Zunner, Maria Margret 116, 118 Zwingli, Huldr(e)ych (Ulrich) 207f.

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Beiträgerinnen und Beiträger Kommisarischer geschäftsführender Herausgeber und Redaktion Dr. habil. Christian Soboth, IZP, Franckeplatz 1, Haus 24, 06110 Halle a. d. Saale, christian.soboth@izp. uni-halle.de Beiträgerinnen und Beiträger Dr. Anna Briskina-Müller, Spenerbriefedition der Sächsischen Akademie der Wissenschaften, Dienstsitz: Franckesche Stiftungen zu Halle, Franckeplatz 1, Haus 24, 06110 Halle a. d. Saale Dr. Michael Czolkoß-Hettwer, Niedersächsische Staats- und Universitätsbibliothek Göttingen, Platz der Göttinger Sieben 1, 37073 Göttingen Dr. Juliane Engelhardt, The SAXO-Institute – Archaeology, Ethnology, Greek & Latin, History, Karen Blixens Plads 8, DK-2300 København S Dr. Andreas Flurschütz da Cruz, Lehrstuhl für Neuere Geschichte unter Einbeziehung der Landesgeschichte, Universität Bamberg, Fischstraße 5/7, 96047 Bamberg PD Dr. Sünne Juterczenka, Kulturgeschichte des Mittelalters und der Frühen Neuzeit, Seminar für Mittlere und Neuere Geschichte, Georg-August-Universität Göttingen, Heinrich-Düker-Weg 14, 37073 Göttingen Dr. Brigitte Klosterberg, Studienzentrum August Hermann Francke, Franckesche Stiftungen zu Halle, Franckeplatz 1, Haus 24, 06110 Halle a. d. Saale Oliver Kruk, MA, Lehrstuhl für Neuere Geschichte unter Einbeziehung der Landesgeschichte, Universität Bamberg, Fischstraße 5/7, 96047 Bamberg Pfr. i.A. Frank Krauss, Evang. Pfarrstelle Wörthsee, Weßlinger Straße 16, 82237 Wörthsee Prof. em. Dr. Hartmut Lehmann, Residenz Waldwiese, von-der-Goltz-Allee 2, 24113 Kiel Prof. Dr. Terence McIntosh, History Department, 554A Pauli Murray Hall, 102 Emerson Dr., CB #3195, Chapel Hill, USA-NC 27599–3195 Dipl. theol. Claudia Neumann, Spenerbriefedition der Sächsischen Akademie der Wissenschaften, Dienstsitz: Franckesche Stiftungen zu Halle, Franckeplatz 1, Haus 24, 06110 Halle a. d. Saale Prof. Dr. Bernd Roling, Institut für Griechische und Lateinische Philologie, Freie Universität Berlin, Habelschwerdter Allee 45, 14195 Berlin Prof. Dr. Dirk Rose, Institut für Germanistik, Universität Innsbruck, Innrain 52, A-6020 Innsbruck PD Dr. Christoph Schmitt-Maaß, Institut für Germanistik, Universität Potsdam, Am Neuen Palais 10, 14469 Potsdam Prof. Dr. Franziska Seils, Fachgruppe Musiktheorie und Musikwissenschaft, Evangelische Hochschule für Kirchenmusik, Kleine Ulrichstr. 35, 06108 Halle a. d. Saale Prof. Dr. Jan Stievermann, Professur für die Geschichte des Christentums in den USA, Theologische Fakultät, Universität Heidelberg, Kisselgasse 1, 69117 Heidelberg Dr. Stefanie Siedek-Strunk, Wissenschaftliche Mitarbeiterin am SFB 1472 Transformationen des Populären, Universität Siegen, Herengarten 3, 57072 Siegen Prof. em. Dr. Udo Sträter, Kuratoriumsvorsitzender der Franckeschen Stiftungen zu Halle, Franckeplatz 1, Haus 24, 06110 Halle a. d. Saale Dr.Thea Sumalvico, Professur für Neuere Kirchengeschichte,Theologische Fakultät, Universität Halle, Franckeplatz 1, Haus 30, 06110 Halle a. d. Saale Dr. Otto Teigeler, Am Bonneshof 30, 40474 Düsseldorf Prof. Dr. Dr. h.c. Andreas Waczkat, Professur für Historische Musikwissenschaft, Musikwissenschaftliches Seminar, Kulturwissenschaftliches Zentrum, Universität Göttingen, Heinrich Düker Weg 14, 37073 Göttingen Sabine Wolsink, MA, PhD Candidate, Universitätsassistentin, Institut für Systematische Theologie und Religionswissenschaft, Evangelisch-Theologische Fakultät, Universität Wien, Schenkenstr. 8–10, A-1010 Wien

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