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German Pages 520 [524] Year 2003
HANS-GEORG KEMPER
Deutsche Lyrik der frühen Neuzeit Band 6/TI
HANS-GEORG KEMPER
Deutsche Lyrik der frühen Neuzeit Band 6/II Sturm und Drang: Genie-Religion
MAX NIEMEYER VERLAG TÜBINGEN 2002
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar. ISBN 3-484-10748-0 kart. ISBN 3-484-10749-9 Gewebe © Max Niemeyer Verlag GmbH, Tübingen 2002 Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany. Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier. Satz: pagina GmbH, Tübingen Druck: AZ Druck und Datentechnik GmbH, Kempten
Inhaltsverzeichnis
Zur technischen Einrichtung des Bandes
VIII
Vorwort
IX
Einleitung
l
a) Wider die Marginalisierung des Sturm und Drang: Zur Forschungsdiskussion
l
b) Lebenskrisen als Beginn, ein Kunstprogramm als Ende des Sturm und Drang - Zur Periodisierung (1758/69-1789)
19
c) Zu Theologie, Anthropologie und Geschichtsphilosophie
28
d) Inspirationen: Begeisterte Propheten und durchgeisterte Natur Sturm und Drang, radikaler Pietismus, Hermetik und Spinozismus .
36
e) Ganzheit, Einheit und Präsenz - Zur Aufhebung der Widersprüche .
60
1) Autor-Ästhetik: Gott als »Poet« (Hamann)
66
a) Ein prämoderner Prophet der Postmoderne - Zu Lebenslauf und Werk
66
b) Kreuzigung der Vernunft durch die Inkarnation
72
c) Die »neueste Ästhetick, welche die älteste ist«
77
d) Schöpfungs-»Rede« und sinnliche Bildersprache
79
e) Inspiration der Schöpfung - »alles göttlich und menschlich«
2) Geist(er)-Seherei - Das göttliche Individuum (Lavater)
. . . .
84
. . . .
92
a) Die »ecclesiola« der Genies - Zu Biographie und Wirkung
92
b) »In des Tyrannen Ohr«: >Schweizerlieder< als patriotische Volkslieder (Lavater und Gleim)
101
c) Vom »verfeinerten Deismus« zum »Fühlen« der »Fülle Gottes« oder: Von der Empfindsamkeit zum Sturm und Drang
106
d) »Christusumfassungsgefühle«: Kirchenlieder, Bibeldichtung, geistliche Erlebnislyrik
109
VI
Inhaltsverzeichnis e) Vergottungsprophetie: >Aussichten in die Ewigkeitx
124
f) Physiognomik - Genie-Blicke auf das Individuum
129
g) »Nathanaelismus« - Aspekte einer Video-Kultur
136
h) »Gott oder Natur« - Lavater und Goethe
139
3) »Den Gott im Menschen zu singen« (Der frühe Herder) . . . . 149 a) Der >fragmentarische Holist< - Rezeptions- und Forschungsprobleme
149
b) Mißverständnisse und »Schauder« - Zu Biographie und >BildungsHerkulische< Selbstbegründung in der frühen Lyrik
172
d) In den >Geist< kommen - Zur Einheit von Dichter und Prophet und zur Psychologie des Genies
182
e) Wiederbelebung der Mythologie durch sinnliche Weltaneignung . . . 190 f) Herder als >Mythopoet< (>Der Genius der Zukunftx)
198
g) Zum Ursprung von Sprache und Poesie im »tönenden Affekt«
. . .
209
h) »Nationallieder«, falsche Barden->Töne< und der »nordische Homer« (Bodmer, Percy, Macpherson, Blair)
212
i) Poesie als »Kraft« - Ossian-Poetik und Oden-Theorie
226
j) »Putzige wyndschife gelerte Volckslider« - Nicolais satirische Provokation
239
k) Lieder der Menschheit - Herders idealistische Antwort
244
1) Die Schöpfungs-Hieroglyphe - Poetisch-symbolische Bibel-Deutung . 252 m) Die >Älteste Urkunde< als hermetischer »Kern« der Religion . . . .
259
n) Verähnlichung von Gott und Mensch
263
o) Bibel-Dichtung als »Naturpoesie«
268
p) Kosmisierung der Liebe im Medium der All-Natur (>St. Johans NachtstraumWandrers SturmliedMahomets GesangPrometheusGanymedHöllenfahrt< in die Moderne (>An Schwager KronosInspirierten< als Propheten der GoethezeiK auf (vgl. Ill U.-M. Schneider 1995). Darin werden der >Radikalpietismus und die Erfindung der Subjektivität in ursächlichen Zusammenhang gebracht (vgl. III Kurzke; vgl. dazu Einleitung d). Tatsächlich haben die frommen Sektierer - durch prophetische Leitfiguren inspiriert - ihre Selbst-Bestimmung nur im Kampf gegen die etablierten kirchlichen Konfessionen herausbilden und behaupten können: Individualität gelangt zuerst im Medium der Religiosität zur Sprache! Diese Korrelation steigert sich bei den Autoren des Sturm und Drang zur Genie-Religion. Sie hat drei Bedeutungsaspekte. Zum ersten propagieren die Autoren eine nicht mehr christliche, vielmehr weitgehend pan(en-)theistisch-hermetische Privat-Religion. Diese wird zum zweiten, indem sie sich zum unhintergehbaren ästhetischen Organ des neuen frommen Selbstund Weltbezuges erhebt, selbst zur Kunst-Religion. Dadurch, daß sie zum dritten das Individuum in seiner höchsten schöpferischen Fähigkeit zum >Autor< und >Propheten< dieser Religion erhebt, führt sie zu seiner Sakralisierung als Genie und damit von der Verkündigung einer neuen individuellen >Religion als Kunst< zu einer Religion des Genies, zur Genie-Religion. - Diese Entwicklung zeichnet sich bereits deutlich in der >Empfindsamkeit< genannten mittleren Phase der Aufklärung ab: mit der Intimisierung des Familienlebens, der Bedeutung der Freundschaft, der zur Identifizierung führenden Individualisierung der Dramen- und Romanhelden, der Authentizitätserwartung gegenüber den Autoren, den Formen des individuellen Schreibens in autobiographischen Kommunikationsmedien
X
Vorwort
(vgl. u. a. III Niggl; Müller; Scheuer; Nübel; Wagner-Egelhaaf; vgl. dazu Bd. VI/1). Ihren prägnantesten Ausdruck und Höhepunkt findet diese Entwicklung aber im Sturm und Drang. »Die Genie-Proklamationen«, erklärt Jochen Schmidt in seiner grundlegenden >Geschichte des Genie-Gedankens< (1985), »in denen die literaturästhetische Entwicklung des 18. Jahrhunderts gipfelt, sind Manifestationen des unabhängig gewordenen, auf seine eigenen produktiven Energien stolzen bürgerlichen Menschen, der keine Autorität mehr anerkennt.« (III Schmidt I, S. 4) Mit Recht ordnet Schmidt damit den Geniegedanken dem für die Aufklärung grundlegenden Autonomiestreben zu (vgl. Bd. V/l, S. 23ff.). Das Genie stellt dessen unüberbietbaren Gipfel dar, weil sich in ihm das Individuum in seinen schöpferischen Möglichkeiten geradezu sakralisiert. Die im vorliegenden Band vorgestellten Autoren als exzellente Kenner des theologischen Diskurses und der Religionsgeschichte - Lavater und Herder von Beruf, Hamann und Goethe aus Passion - beerben die (im Pietismus besonders lebendige) Tradition der Inspiration sowie die in der Hermetik ausgeprägten Möglichkeiten der Partizipation am göttlichen Geist (>NousKopf< und >Herz< erheblich gewandelte Anthropologie und Psychologie, ein anderes Verständnis von »socialitas« und >Bildungprophetischen< Dichter in seiner Beschränkung auf religiöse Themen bewußt aufgebrochen, damit säkularisiert und kritisch auf die Gegenstände der zivilisatorischen Welt angewandt. Der Dichter als prophetisch-ganzheitlicher Schöpfungshermeneut klagt und fordert das an der Welt ein, was diesem seinem ganzheitlichen Menschenbild, dem Maßstab der Vervollkommnung und dem Ziel irdischer Glückseligkeit (noch) nicht entspricht. Auf diesen (Außen-)Aspekt konzentriert sich insbesondere die Darstellung von Band VI/3. Er verfolgt die Wirkungsabsichten der Genies >im Kampf mit der WeltProjektemacher< Lenz (vgl. dazu 11.46 Pautler) über den (Barden-)Patriotismus und die Gesellschaftskritik des Göttinger Hains bis zur poetischen Kritik von Stolberg, Bürger, Voß, Schubart und Schiller an den gesellschaftlichen Zuständen im Zeitalter des Absolutismus. Damit beleuchten beide Teile zugleich die zwei Seiten des Geniebegriffs, die geisterfüllte Individualität und deren drohenden Verlust, wenn - wie Goethe bemerkt »der vorzügliche Mensch das Göttliche, was in ihm ist, auch außer sich verbreiten möchte« (II DuW, S. 685, vgl. dazu auch 11.23 Brinkmann, S. 94ff.). Indessen stellen diese Grenzgänger der >Genie-Religion< der schlechten Realität doch auch elegische und idyllische Entwürfe glücklicher - weil >natürlicher< - und unentfremdeter Humanität entgegen. Die Darstellung des zweiten Teilbandes endet insofern konsequent mit Schillers neuplatonisch-idealistischem Glaubensbekenntnis, der >Theosophie des JuliusDie Künstler< historisch und systematisch. Zugleich nutzt er das Medium der Poesie zur Entfaltung des gewichtigen Gattungstyps der Gedankenlyrik, die in ihrer innovativen Bedeutung für die Moderne dem Goetheschen Erlebnisgedicht kaum nachsteht (und vor allem der spätere Goethe hat selbst die Gattung der Gedankenlyrik mit bedeutenden Gedichten bereichert; vgl. dazu 11.23 G. Willems; Trunz; Preisendanz). - Zugleich knüpft Schiller mit der >Theosophie des Julius< nochmals an die wirkungsmächtige Liebestheorie von Marsilio Ficino an, die uns in den vorangegangenen Epochen - sowohl in der Barock-Mystik als auch im Barock-Humanismus sowie im Pietismus und in der Empfindsamkeit - immer wieder begegnet ist. Darin spiegeln sich nochmals aus problemgeschichtlicher Sicht Kontinuität und Einheit
XII
Vorwort
der >Makroperiode< >Frühe Neuzeitx. Es ist erstaunlich zu sehen, wie sehr sich die hermetische Tradition als einheitsstiftendes Band auch für die Autoren des Sturm und Drang erweist: für Lavater, Herder und Goethe, aber auch für Stolberg, Claudius, Schubart und Schiller! Insofern sind beide Bände auch lesbar als weitere Beiträge zur Wirkungsgeschichte der Hermetik, deren Erforschung im letzten Jahrzehnt entscheidende Fortschritte aufweist. Die Verteilung der Sturm und Drang-Poesie auf zwei Bände, die je für sich benutzbar sind, befreit die frühneuzeitliche Lyrik-Geschichte von der vielfach mit Recht beklagten Fokussierung auf den jungen Goethe (als >Ziel< der Entwicklung). Einerseits sind dessen Frankfurter Hymnen - wie sich zeigen wird - im Rückgriff auf zahlreiche mystische und humanistische Traditionen in der Tat der Kulminationspunkt des frühneuzeitlichen Weges zur Autonomie des Individuums im Medium der Poesie (vgl. Bd. I, S. 34). Andererseits hat zeitgleich eine beachtliche Zahl von Autoren ohne Kenntnis der damals noch weitgehend unveröffentlichten Goetheschen Lyrik ebenfalls zum neuen Typ des Erlebnisgedichts gefunden und die LyrikGeschichte um andere originelle Innovationen bereichert. Einheit und Vielfalt der Bewegung gelangen so mit der Aufteilung angemessen in den Blick. Die Einleitung wird es noch verdeutlichen: Der Sturm und Drang als Tendenzen der Aufklärung radikalisierende und kritisierende Phase im Aufklärungsprozeß (vgl. dazu Bd. V/1, S. 34f.) führt auch mit seinen lyrischen Innovationen, der >VolkspoesieGrundrisses in Interpretationem (so der Untertitel) »in vollem Gegensatz« zu der hier erprobten Geschichte, und das führt ihn zu dem Urteil: »Gerade durch den Gegensatz der Konzeption ergänzen sich beide Darstellungen.« (Ebda., II, S. 569) Eingedenk der von Opitz zitierten Beschwerde des Augustus gegenüber Horaz: »Wisse / daß ich mit dir zürne / weil du meiner in deinen Schrifften nicht zum Offtern erwehnest« (II Opitz V-WP, S. iiij), sei darauf verwiesen, daß ich mich in einigen Aufsätzen zum Sturm und Drang sowie zu Hamann, Herder, Goethe und Lenz intensiver mit der Forschung auseinan-
Vorwort
XIII
dergesetzt habe als dies in einer Lyrik-Geschichte möglich ist. Diese Beiträge wurden in entsprechend modifizierter und zum Teil auch aktualisierter Form in die vorliegenden Bände eingearbeitet. Ich widme diese Bände den Kolleginnen und Kollegen der Philologischen Fakultät der Universität Debrecen (Ungarn), mit denen ich die Konzeption mehrfach diskutieren konnte und denen ich mich in Dankbarkeit besonders zugehörig fühle. Wiederum habe ich für bewährte Zusammenarbeit herzlich zu danken: Marion Hiller und Sara Moschner für zuverlässige Literaturbeschaffung, Heinz Drügh und Michael Herrmann für Mithilfe beim Korrekturenlesen, Monika Weiblen für die Erstellung des Manuskripts. Mein besonderer Dank gilt Mark Seidel für die Anfertigung des Personenregisters und für die sorgfältige Überwachung der technischen Einrichtung der Bände. Tübingen, 18. 5. (Pfmgstsamstag) 2002
H.-G. K.
Einleitung
a) Wider die Marginalisierung des Sturm und Drang: Zur Forschungsdiskussion Die historische Bedeutung der nach einem Drama von Friedrich Maximilian Klinger (>Sturm und Drangepochales< Profil des Sturm und Drang zu entwerfen - widersprochen werden. 1) Der Sturm und Drang hat epochemachend gewirkt wie kaum eine andere Richtung in der neueren deutschen Literaturgeschichte und in der historischen »Sattelzeit« des Übergangs von der frühen Neuzeit zur Moderne (vgl. III Koselleck 1972, S. 15; Karthaus, S. 26ff.), seine Autoren haben mit der nachdrücklichen Zeichnung »ihrer eigenen Kontur« (III Perels 1988b) nachhaltig das Bild des modernen Dichters - zusammen mit dem Entwurf einer Autor- und Genie-Ästhetik - geprägt, und die Bewegung hat im Zusammenhang damit eine literarische Sprache kreiert, die uns im Unterschied zu den vorangehenden Epochen ohne historische Sprach- und Verständnisbarrieren unmittelbar zugänglich zu sein scheint. Er hat die literaturwissenschaftliche Werturteils- und die literarhistorische Kanonbildung »grundlegend verändert« (vgl. III Karthaus, S. 220). Nicht nur in der Literaturtheorie, sondern auch in den literarischen Gattungen entstanden in wenigen Jahren wegweisende Paradigmata: ein neues, an Volkspoesie und Erlebnislyrik orientiertes Verständnis von Lyrik, das Geschichtsdrama sowie innovative Experimente mit der Form des Bürgerlichen Trauerspiels, des sozialkritischen Dramas und der Tragikomödie, Experimente mit Autobiographie und Briefroman - und dabei werde, so Pascal mit Recht, oft »vergessen, übersehen oder mißachtet, daß diese dichterische Leistung in einer Umwälzung des ganzen Weltbildes und Wertsystems wurzelt« (III, S. XI).
2
Einleitung
Tatsächlich hat die Literaturgeschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts den Sturm und Drang bereits als »Schreckenszeit« abgewertet oder bestenfalls als gärende Vor-Zeit auf dem Wege zum Gipfel der Klassik gelten lassen (vgl. III Sauder 1984, S. 327ff.). Letztere Deutung findet sich auch in den geistesgeschichtlichen Darstellungen bis hin zu Korff, der den Sturm und Drang als aus der deutschen >Natur< erwachsene Opposition gegen die >undeutscheGoethezeit< gefeiert - und zugleich relativiert werden. Und für die Relativierung konnte man sich auf die gereiften Autoren selbst berufen, die wie Goethe zum eigenen Frühwerk auf Distanz gegangen waren (vgl. III Wakker, S. 2ff.). Umgekehrt verfestigt sich seit etwa 20 Jahren der Trend, den Sturm und Drang doch eher der Aufklärung - oder neuerdings der Empfindsamkeit als Hauptphase in der »Geschichte der Emotionalität« (III Hansen, S. 9) zuzuordnen und ihn als deren radikalen Sprößling zu betrachten, bei dem wieder aus der Sicht der europäischen Empfindsamkeit - »mit der Überreaktion des Zuspätgekommenen« »das anarchische Element überwiegt« (ebda., S. 11; vgl. ebenso III Titzmann, S. 157; zur Empfindsamkeit vgl. auch III Kimmich; Eibl/Willems 1996a; Komfort-Hein 1997; Viering; Koschorke; Luserke 1999; Eibl 2001; Sauder 2001). Im Blick auf die Aufklärung hat Manfred Wacker den Forschungsstand zur Einordnung des Sturm und Drang skizziert: »Frontstellung gegen die Aufklärung oder deren Fortführung - so lautete hier die Schlüsselfrage. Vorbereitung der Klassik oder der Romantik oder beider - so der Ausblick in die andere Richtung.« (III Wacker, S. 4) Unter anderen ideologiekritischen Vorzeichen setzt sich die Entgegensetzung von Sturm und Drang und Aufklärung im Zusammenhang mit der Moderne/Postmoderne-Debatte fort. So hat z. B. Andreas Huyssen - mitinspiriert durch die seit Horkheimer und Adorno virulenten und von der Postmoderne nachhaltig aufgegriffenen Verdächtigungen gegenüber dem Herrschaftsanspruch des aufklärerischen >Logozentrismus< die >Diskontinuität< des Sturm und Drang gegenüber der Aufklärung betont und dabei vor allem auf den Goetheschen Naturbegriff verwiesen, der eine »Versöhnung von Mensch und Natur« intendiere, die »dialektisch auf ihr unabwendbares Gegenteil, die Entfremdung, verweist und gerade darin ihr zivilisationskritisches Moment voll entfaltet« (IV Huyssen 1983, S. 195; vgl. dazu auch III Komfort-Hein 1997, S. 78ff.; Lepenies, S. 290ff.). An-
Einleitung
3
dererseits hat eine Formulierung Gerhard Kaisers weitgehend Zustimmung gefunden: Danach verhalten sich Aufklärung und Sturm und Drang zueinander »wie Evolution und Revolution, deren Neues eine stürmische Erfüllung und Verwandlung des Alten ist.« (Zit. in: III J0rgensen/Bohnen/ 0hrgaard, S. 22). Oder auch: Der Sturm und Drang ist »eine - relativ kleine - Avantgardebewegung junger Autoren, in deren Werken Kulmination und Umschlag der Aufklärung in einem stattfindet.« (III Kaiser 1979, S. 13) Weniger prägnant ist die von Werner Krauss vertretene und von Walter Hinck favorisierte These »vom Sturm und Drang als einem dynamischen Stadium der Aufklärung« (III Krauss, S. 376ff.; Hinck 1978b, S. IX) bzw. als »deren Abwandlung und Ergänzung« (III Siegrist, S. 2). Neuerdings versucht Bertram, in dessen Darstellung der Sturm und Drang aus Herder, Goethe und Lenz besteht, die Bewegung aus diskursanalytischer Sicht in einer Konstitution der Moderne< zu verorten, welche er als »Modernität einer undifferenzierten Vernunft« qualifiziert (III Bertram, S. 8f., 11 ff.)In der vorliegenden Lyrik-Geschichte, die sich der Formel Kaisers anschließt (vgl. dazu auch Bd. V/l, S. 33ff.), wurde Aufklärung folgendermaßen definiert: Sie verhilft den gegen die kirchlichen Orthodoxien gerichteten frühneuzeitlichen Autonomiebestrebungen zum epochalen Durchbruch und leitet damit das Zeitalter der Moderne ein (Bd. V/l, S. 25; zur Begründung ebda., S. 23ff.). Der Aufklärung des 18. Jahrhunderts werden hier also durchaus emanzipatorische Qualitäten zugestanden. Dies schließt auch die mit Recht betonte »Rehabilitation der Sinnlichkeit« als ein häufig selbst vom Mißtrauen gegen den Intellektualismus begleitetes Hauptanliegen der europäischen und deutschen Aufklärung »im Kampfe gegen die theologisch Ontologie und Moral« mit ein (III Kondylis, S. 19, 170ff.). Und von daher lassen sich Empfindsamkeit und Sturm und Drang als Phasen im >Autonomiestreben< der Aufklärung begreifen. Sie setzen historisch zwar unterschiedlich ein - die Empfindsamkeit um 1740, der Sturm und Drang um 1769 -, aber sie begleiten, ja bestimmen die Epoche gemeinsam bis etwa 1789 (darauf komme ich noch zurück). Beide können sich vielfach miteinander verschränken, wie vor allem an Lenz (vgl. Bd. VI/3, S. 60ff., 69ff., 123ff.)> aber auch an den Dichtern des Göttinger Hain (vgl. dazu auch III Peters, S. 121ff., 180ff., 189ff.), ferner an Claudius, Schubart und Schiller zu beobachten ist (vgl. Bd. VI/3, S. 274ff., 387ff., 431ff.). Das unterschiedliche historische In-Erscheinung-Treten beider Richtungen signalisiert aber zugleich den fortschreitenden Autonomisierungs-Prozeß in der Literatur. Die Aufklärung erweist freilich gerade darin ihre übergreifend epochale Bedeutung, daß sich in ihrem Zeichen auch andere
4
Einleitung
Künste und Wissenschaften - vor allem die Philosophie, Humanwissenschaften wie die Medizin und die Naturwissenschaften - ihre Unabhängigkeit erobern und aus der zunehmend fragwürdig gewordenen weltanschaulichen Einheit des christlichen Universalismus und seinem auf Gottes Offenbarung gegründeten Wahrheitsanspruch befreien. Die Wahrheit ist nicht mehr theologisch und metaphysisch begründbar, sie zerfällt im rationalen und empirischen Zugriff in eine Vielzahl von Wahrheiten, deren Richtigkeit sich zunehmend im methodisch geleiteten Experiment erweisen soll. Die Aufklärung führt also zugleich in die weltanschauliche Unsicherheit der Moderne hinüber, indem sie die Freiheit des Denkens - wenn auch nicht des Handelns - erstreitet. - Die Empfindsamkeit, ebenfalls kein nur literarisches Phänomen (vgl. dazu jetzt insbesondere auch III Koschorke), hat diesen Prozeß - orientiert an der Neologie als Theologie der Aufklärung entschieden beschleunigt. Sie hat Gefühl und Sinnlichkeit auf dem Weg zum >ganzen Menschen< zu einem noch von der Vernunft kontrollierten Recht verholfen, damit auch eine ästhetische Weltwahrnehmung legitimiert, die im Anschauen des Schönen und Erhabenen dem Vergnügen und dem Nutzen (dem Ideal der Selbstvervollkommnung) dient, und sie hat mit der Freisetzung der Religiosität zu einem vernünftigen >Privatchristentumordo< (im überkommenen Sinne von >mimesis< und >imitatioVolkNatürlichenErhabenenPhysiognomischen Fragmentem eine tragende Rolle spielt, sind die Stürmer und Dränger maßgeblich beteiligt. Inzwischen hat die Forschung auch einen musikalischen Sturm und Drang entdeckt (vgl. III Lütteken), und auf einer CD >Musik des Sturm und Drang< gelangen Sonaten von Johann Schobert (um 1730-1767), Carl Philipp Emanuel Bach (1714-1788) und Jiri Antonin Benda (1722-1795) zu Gehör (vgl. III Musik des Sturm und Drang). Mit Bendas Namen verbindet sich insbesondere die »kurze, aber üppige Blüte« des Melodramas in den 1770er Jahren, das von Rousseau erfunden wurde (>PygmalionSprache des Herzens< unter Beachtung des Wort-Primats analoge musikalische Ausdrucksmittel zu gestalten (vgl. in diesem Zusammenhang den >Mannheimer Sturm und DrangJery und BätelyClaudine von Villa BellaErwin und ElmireDie FischerinFiseherinUrfaustAuerbachs Kellen enthält deutliche strukturelle Anleihen bei der opera buffa: die Zwischenrufe der Zecher wirken wie Rezitative im Madrigalvers, dem Rezitativmedium dieser Opernform; dabei erscheint das Trinklied von der >Ratt im Keller Nest< (vgl. UF, S. 23f.) als Kontrafaktur des Lutherischen Kirchenlieds, dem es in Metrik und Strophenform gleicht, während Mephistos >Flohlied< (ebda., S. 25f.) die im 18. Jahrhundert für gesellige Lieder verwendete Form des mittelhochdeutschen Hildebrandslieds benutzt (vgl. 11.23 Hartmann, S. 255f.). Gretchens Gesänge gehören eher der ernsten Tradition des Singspiels zu: Ihre Ballade vom >König in Thule< (vgl. UF, S. 34f.) erscheint noch in der objektivierten Form eines Volksliedes, das an dieser Stelle der Handlung einer unbewußten Selbstcharakterisierung dient; demgegenüber ist der Gesang in >Gretchens Stube< (>Meine Ruh ist hinSchwellenzeit< zur endgültigen Durchsetzung der >Schriftkultur< (vgl. dazu III Koschorke, S. 206ff.; Bd. VI/3, S. Iff.) an der akustischen Dimension der Sprache, an ihren oralen Wurzeln, am Liedgut und seiner Überlieferung und damit an der in ihren historischen Ursprüngen engen und wiederzubelebenden Symbiose von Lyrik und Musik (vgl. dazu IV Schneider). Aufschlußreich ist in diesem Zusammenhang Hartmanns Nachweis vom »Primat des Gesangs« in Goethes Musikästhetik: Zeitlebens schätzte er die Vokalmusik höher als die Instrumentalmusik und huldigte deshalb der menschlichen Stimme, wenn in ihrem Gesang Musik und Sprache zur höchsten Wirksamkeit und Vollendung gelangten (vgl. 11.23 Hartmann, S. 166; vgl. dazu auch Einleitung d-4). 3) Auf Grund der Ansicht eines Defizits an Theorie »pflegen neuere Untersuchungen zur Ästhetik autonomer Kunst die Sturm-und-Drang-Epoche zu vernachlässigen oder gänzlich zu überspringen.« (III Willems, S. 1) Das betrifft vor allem systemtheoretische Arbeiten; für diese gilt die Geniekonzeption von Sturm und Drang und Klassik »als Übergangssemantik, die noch am Bezugspunkt Mensch festhält, bevor die Frühromantik die Kunst auf sich selbst gründet und damit dem um 1800 erreichten Stand der Ausdifferenzierung in adäquater Weise Rechnung trägt.« (Ebda., S. 8) Mit Recht hebt Willems demgegenüber die Bedeutung der Genieästhetik für die
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Einleitung
Ausbildung der literarischen Autonomie hervor: Die radikale Delegierung der Verantwortlichkeit für Inhalt, Form und Ordnung der Literatur an die nur der eigenen Innerlichkeit verantwortliche Individualität des Autors entläßt die Literatur radikal aus allen vorgegebenen weltanschaulichen Normen sowie poetologischen Verpflichtungen (»Naturnachahmung«) und Regularien und ermöglicht überhaupt die Ausbildung einer Kunst, die sie »von der Funktion anderer sozialer Bereiche wie Wissenschaft, Ethik, Erziehung etc.« zu unterscheiden ermöglicht (ebda., S. 11, 22f.). Das Genie aber, das seine Innerlichkeit zur Totalität ausbildet, bietet mit der »Idee selbstbestimmter Individualität« eine »zentrale Leitidee der Moderne«, gerade weil der Einzelne in der modernen Gesellschaft seine Individualität nicht mehr den disparaten sozialen Teilsystemen verdankt, in denen er sich gleichwohl bewegen und denen gegenüber er seinen individuellen Standpunkt gewinnen und behaupten muß. Die emphatische Inthronisation von Individualität und damit Autonomie impliziert allerdings eine unaufhebbare »Differenz von Individuum und Gesellschaft« (ebda., S. 39f.). Mit dieser radikalen Exklusion kompensiert das Geniekonzept auch nicht - wie häufig unterstellt - einen >Verlust an Wirklichkeit und betreibt auch keinen Eskapismus oder >ÄsthetizismusEntsagung< und >Bildung< entwickeln). Diese Deutung akzentuiert am Autonomiekonzept, was mit dem Problemhorizont der Moderne kompatibel ist, und blendet aus, was die Chronistenpflicht gleichwohl als gewichtiges Anliegen des Sturm und Drang zu erinnern hat: seine Sehnsucht, Ganzheit und Einheit der Kultur - zum Teil vermittelt über die Propagierung von Nationalismus und Patriotismus wiederherzustellen (vgl. dazu auch Einleitung e; Bd. VI/3, S. 148ff.), und dies war - wie schon Kaiser gezeigt hat (vgl. III 1973, S. 15ff., 70ff., 180ff. u. ö.) - den Autoren ohne ein dominant religiöses Genie-(Selbst-)Verständnis nicht möglich. - Mit ihrer historischen Herleitung und Begründung der Genie-Ästhetik perpetuiert Willems jene Marginalisierung des Sturm und Drang, die sie selbst an der Forschung zu beklagen Ursache hat. Denn was sie erweisen will, setzt sie im methodischen Ansatz und in der Quellenauswahl bereits voraus: einen >autonomen< literaturtheoretischen Diskurs, der im Sinne der Systemtheorie natürlich impliziert, daß sich die Kunst aus der in den anderen Diskursen - namentlich in Theologie, Philosophie und Naturwissenschaften - geführten >WahrheitsautonomenCorpus Hermeticum< selbst enthält drei Hymnen zum Lobe Gottes; vgl. I CHD, S. 62f., 184ff., 314f.) Goethe habe deshalb »mit der Ausdehnung ihrer Prinzipien auf die Ästhetik« »vollkommenes Neuland« betreten (11.23 M. Willems, S. 80). Indessen die Inanspruchnahme der durch Enthusiasmus, >Schau< des Schönen und Partizipation am >Nous< besonders poesieaffinen Hermetik für die Literatur durchzieht Poetik und Ästhetik der frühen Neuzeit seit Opitz (vgl. III Kemper 1995) und bis zu Goethes Mentor Herder, den leider auch Zimmermann nicht als Hermetiker erkannt hat. Zimmermann wiederum hat wie Boyle, Matussek oder Luserke den Pietismus in seiner Bedeutung für die Literaturgeschichte des 18. Jahrhunderts und insbesondere für Goethe unterschätzt bzw. nicht beachtet (vgl. zur diesbezüglichen Kritik am Stand der Forschung III Schrader 1989, S. 23ff., 59ff; U.-M. Schneider 1995, S. 9ff., 127ff.; vgl. dazu jetzt auch III Schlaffer, S. 54ff). Unbeachtet bleibt, daß gerade der radikale Pietismus bedeutendes Vermittlungsorgan hermetischen Gedankenguts auch für Goethe war (vgl. III Schrader 1993, S. 210ff.; U.-M. Schneider 1998; 11.23 Kemper/Schneider; III Kemper 2001b, S. 171ff.; Einleitung d).
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Einleitung
Für die weitgehende Vernachlässigung des theologischen Denkens und der theologischen Bezüge in den literarischen Werken der Stürmer und Dränger - und im Zusammenhang damit auch ihrer Beziehungen zu religiösen (insbesondere häretischen) Richtungen und Gruppierungen des Zeitraums - lassen sich weitere Beiträge anführen (die ich nur in dieser Hinsicht kritisiere und deren andere Verdienste ich damit keineswegs in Frage stellen möchte). »Der Einfluß pietistischer Religiosität und hermetischer Philosophie zeigt keine so tiefgreifende Wirkung, als daß man von einer Prägung sprechen könnte«, behauptet z. B. auch Schärf und zitiert kurz zuvor (auf derselben Seite) ohne Verweis auf die (von Schöne offengelegten) Bezüge zur Hermetik Goethes berühmten, mit einem Verweis auf Plotin versehenen Vierzeiler aus der >FarbenlehreFarbenlehre< ebda., S. 52ff.): »War nicht das Auge sonnenhaft, Die Sonne könnt' es nie erblicken; Lag' nicht in uns des Gottes eigne Kraft, Wie könnt' uns Göttliches entzücken?« (Zit. in: 11.23 Schärf 1994, S. 66)
Gerade im Blick auf die hermetische Grundierung von Goethes Weltbild und Naturanschauung bestätigt sich Kaisers Einsicht, »daß in Goethes dichterischer Welt bei allem Wechsel eine erstaunliche Konstanz herrscht.« (11.23 Kaiser 1992, S. 61; vgl. dazu auch 11.23 Böhme, S. 155ff.) - So greift auch Joachim Ritter zu kurz, wenn er dem Geniegedanken - gegen alle theologischen Bezüge der von ihm angeführten Zitate - eine »Beschränkung auf die ästhetische Sphäre« attestiert (III Ritter, Sp. 292; vgl. ebda., Sp. 286, 295) und wenn er und andere Autoren die Idee des Genies als eine Art Bündelung aus unterschiedlichen, bis in die Antike zurückreichenden literarischen, philosophischen und ästhetischen Traditionen herzuleiten suchen (also etwa aus den Musen-Anrufungen Homers, dem Platonischen Enthusiasmus, dem >furor poeticus< bei Cicero und Seneca, dem »ingenium« Horaz' - an diesen Begriff knüpft Kant 1790 wieder an [II KdU, § 46, S. 160f.], Ovids >Deus in nobisGedanken über die Original-Werke< auf die Stürmer und Dränger ist allerdings - mit Ausnahme Herders - nicht mehr nachweisbar; vgl. 11.88 Sauder, S. 49f.], um all diese Traditionen und Positionen zum Bild des literarischen Genies zu verdichten; vgl. Ill Warning, Fabian, Rit-
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ter; Sauder 1980; Peters, S. 121ff., 138ff.; Bürger 1984; Schmidt; Luserke 1997, S. 66ff.; Weimar; Willems, S. 19ff.). Diese Bestimmungen, zu denen auch die Herleitung aus der >manischen< Variante der Melancholie gehört (vgl. III Lobsien), treffen im einzelnen zu und gelten insbesondere für die Diskussion um das Genie in Frühaufklärung und Empfindsamkeit (vgl. dazu auch III Karthaus, S. 220ff.) sowie auch in Frankreich, wo Voltaire in seinem Artikel >Enthousiasme< des >Dictionnaire philosophique< »seinen Spott vor allem gegen religiöse Begeisterungszustände« richtete (vgl. III Bürger 1984, S. 62; vgl. dazu auch David Humes beißenden Spott über Wunder und Propheten: II, S. 147f., 162, 167). Aber die Addition philosophischer, literarischer, ästhetischer und rhetorischer Aspekte der GenieDiskussion vermag letztlich nicht zu erklären, warum die Genie-Dichtung des Sturm und Drang »das Pathos und die einmalige Verbindlichkeit« einer »Offenbarung von Wahrheiten« erhebt, »die nur dichterisch zugänglich sind und nur vom Dichter vermittelt werden können« (III Schmidt I, S. 1). Schmidt formuliert damit prägnant, daß die Genies mit ihrer Poesie einen Authentizitäts- und Wahrheitsanspruch erheben, den bis dahin die religiöse - kirchliche - Verkündigung für sich reserviert hatte. Und auch Willems gelangt zu dem Resultat, der »Kunst im Sturm und Drang« erwachse »eine neue Bedeutung, die ihr einen Rang zuerkennt, der ehemals der Religion zukam.« (Ebda., S. 40) Diese religiöse Aufladung des Genie-Begriffs vollzieht bereits 1767 Heinrich Wilhelm von GERSTENBERG (1737-1823), und zwar in deutlicher Abgrenzung gegenüber der aufklärerisch-philosophischen Definition Sulzers, dessen bis hin zur Anwendbarkeit auf Tiere ausgeweitetes Verständnis von Genie als einer Art natürlicher, aber besonderer Begabung zu bestimmten Fertigkeiten (vgl. II Sulzer, S. 364f.) Gerstenberg als »bloß bestimmte Fähigkeit, und unzulänglich« ablehnt (II Gerstenberg, S. 385). Stattdessen definiert er Genie von der mitreißenden Wirkung seiner IllusionierungsKraft oder »Lebhaftigkeit der Bilder« her und greift zu deren Verdeutlichung wie selbstverständlich auf den Wirkungszusammenhang der Inspiration zurück (vgl. dazu Einleitung d): »Der beständige Ton der Inspiration, die Lebhaftigkeit der Bilder, Handlungen und Fictionen, die sich uns darstellen, als wären wir Zuschauer und die wir mit bewunderndem Enthusiasmus dem gegenwärtigen Gotte zuschreiben: diese Hitze, diese Stärke, diese anhaltende Kraft, dieser überwältigende Strohm der Begeisterung, der ein beständiges Blendwerk um uns her macht, und uns wider unsern Willen zwingt, an allem gleichen Antheil zu nehmen - das ist die Wirkung des Genies!« (II Gerstenberg, S. 395f.)
Daraus folgert Gerstenberg: »Die Illusion des gegenwärtigen Gottes - die Inspiration - die viuida vis animi - so ists! durch sie allein konnten Erdich-
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tungen Wahrheit werden!« (Ebda., S. 396; noch Novalis notiert sich genau 30 Jahre später: »Genie und Göttliche Eingebung wirken auf gleiche Weise - Sie scheinen oft vermischt.« II PS, S. 373) Prätendierte Wahrheit wird hier also an »unwiderstehliche Inspiration« geknüpft (ebda., S. 409) und diese wiederum am unmittelbarsten mit der Lyrik, insbesondere mit den Oden, verbunden. Gerstenberg versäumt dabei nicht, auf das Modell inspirierten Gesanges hinzuweisen, an dem schon Johann Adolf Schlegel in Auseinandersetzung mit Batteux' universalistischem Nachahmungspostulat die Authentizität der lyrischen Affekte zu beweisen versucht hatte und damit zum Kern des neuen Verständnisses von Lyrik als »Ausdruck wahrer Empfindungen« gelangt war (vgl. Bd. VI/1, S. 262ff.): »Von der Ode brauche ich wohl nichts zu erwähnen. Man muß die Davidischen Gesänge sehr schlecht gelesen haben, wenn man nicht beobachtet hat, wie unendlich hoch sie die Vorstellung einer gottlichen Eingebung über alle anderen Oden erhebe, und wie glücklich diejenigen Dichter gewesen, die eine ähnliche Idee in uns hervorzubringen wußten.« (II Gerstenberg, S. 409)
Hier ist der Kern-Gedanke formuliert, den auch Herder schon gleichzeitig erfaßt hatte (vgl. Kap. 3 b, c), den er zu einem Weltbild weiterentwickeln und den der junge Goethe in seinen großen Hymnen der Frankfurter Zeit »glücklich« in Poesie umsetzen sollte (vgl. Kap. 4 f-i)! Der problemgeschichtliche Erklärungswert einer theologischen Letztbegründung des Genies ist in drei Thesen faßbar. Sie läßt sich erstens verstehen als Antwort auf die beiden grundlegenden Orientierungskrisen der frühen Neuzeit: auf die religiöse Krise des Verlusts der einen christlichen Wahrheit und auf die wissenschaftlich-weltanschauliche, durch die Aufklärung mit ihren divergierenden und widersprüchlichen Erkenntnissen ausgelöste wissenschaftlich-weltanschauliche Krise (vgl. III Gutzen, S. 286ff.; Kemper 2001a, 2001b); denn das Genie-Konzept bot eine heilende Antwort darauf durch Rückgriff auf zwei religiöse Ursprungsmythen: zum einen auf die zu den zentralen charismatischen Gaben des Alten und Neuen Testaments zählende unmittelbare göttliche Eingabe der Wahrheit also die Inspiration (vgl. dazu III Gerleman; Käsemann; Mühlmann) -, zum ändern durch Rückgriff auf die im hermetischen Denken tradierte göttliche Urweisheit selbst, deren Vermittlung über eine Neuinterpretation der theologischen Lehre von der Gottebenbildlichkeit des Menschen von Herder dem Genie zugesprochen wird (vgl. dazu Einleitung d; Kap. 3 c, k-m). Von daher erweisen sich die religiösen Komponenten des Geniebegriffs als entscheidend (vgl. dazu auch III Jeßing). Das gilt auch für das »inspirierte Erlebnis von Natur« (vgl. III J0rgensen/Bohnen/0hrgaard, S. 430ff.; vgl. dazu auch 11.33 Wolf, S. 195ff.; Einleitung d).
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Zweitens vereinigt sich im genialen Menschen ein »schöpferisches Ganzheits-Potential« (III Schmidt I, S. 130: vgl. zur heftigen Kritik an einem solchen angeblichen »Dogmensystem der Geniereligion« III Zilsel, S. 53ff., hier S. 54). Es ist vor allem die interpretatorische Leistung Herders gewesen, in einer Vermittlung von alter und neuer >Weisheit< eben das Genie zum berufensten Hermeneuten eines in religiöser Wahrheit gründenden neuen Welt- und Menschenbildes zu erheben. Indem Herder aber das geniale Potential des Schöpferischen sowohl psychologisch in den un- und unterbewußten Kräften als auch in gewissen numinosen Valenzen der >Muttersprache< als sakraler >Natursprache< und in den daraus erwachsenen gefühlshaft-authentischen Zeugnissen der >VolksGeist< wahrzunehmen vermeint (vgl. dazu auch III Kaiser 1973, S. 180ff.), gewinnt sein Geniebegriff auch einen überindividuellen Charakter, und von daher vermag er im Genie sowohl das ausgezeichnete Individuum als auch zugleich den >MittlerGenieperiode< genannten Bewegung macht nun allerdings auch vor ihrer wichtigsten literarischen Innovation, der Autor- und Ausdrucksästhetik, nicht halt. Denn diese scheint sich heute
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im Zusammenhang mit der postmodernen »Abwendung von der Vorstellung subjektzentrierter Kreativität« (III Blamberger, S. 49) literaturtheoretisch als die größte >Altlast< des Sturm und Drang zu erweisen. Bekanntlich wurde die Kategorie des Autors als sinngebende Instanz literarischer Werke seit einem halben Jahrhundert (zunächst unter dem Einfluß des Strukturalismus; vgl. dazu auch 11.23 Wünsch, S. 12ff.) heftig infragegestellt oder gar abgeschafft - mit der Folge, daß etwa Luserke einer neuen Studie zwar den Titel >Der junge Goethe< gibt, darunter aber nur eine Werk-Einheit versteht (11.23 Luserke, S. 17; vgl. dagegen neuerdings 11.23 Wiethölter). Und wo der Autor als historische Person und als Sinn-Stifter seines Werkes ausgespielt hat, ist die Kategorie des >Erlebens< wie in Gerhard Kaisers >Geschichte der deutschen Lyrik von Goethe bis Heine< (1988) nicht mehr autorbezogen und damit produktionsästhetisch, sondern nur noch werkästhetisch relevant. »Das Erlebnis des Erlebnisgedichts«, erklärt Kaiser, sei verschrieben« (IV 1988, S. 584; ebenso vor Kaiser 11.23 Wünsch, S. 40ff.), und Rudolf Brandmeyer kommentiert dies in seiner neuen >Einführung< in >Die Gedichte des jungen Goethe< zustimmend: »Der berühmte Begriff bezeichnet nun allein die Produktivität eines autonomen Textes« (11.23, S. 19). Deshalb werde in seiner Studie »nicht mehr nach >Erlebnislyrik< gefragt«, sondern nach Strukturen und Formen der Goetheschen Gedichte. Durch die Entmachtung des Erlebnisbegriffs als des bisherigen >Zentrums< der frühgoetheschen Lyrik und auch der damit verbundenen Begriffe von >Unmittelbarkeit< und >Subjektivität< lassen sich für Brandmeyer die »nach 1770 entstandenen Gedichte Goethes und seiner Zeitgenossen dezentrieren«, und an die Stelle einer »Synthesebildung« trete die »Frage nach der Ausdifferenzierung einer Vielfalt von Formen« (ebda., S. 26). Solche diskurs- und textanalytischen Ansätze interessieren sich nicht mehr für die Frage, warum in jener historischen Konstellation des 18. Jahrhunderts die Einführung des Autor-, Individualitäts- und Geniebegriffs sowie eines daraus abgeleiteten neuen Gattungstypus wie des Erlebnisgedichts zustande kam, welche Funktionen diesen neuen Literaturkonzeptionen zugedacht waren, auf welche Epochenprobleme sie eine Antwort darstellen sollten und in welchen größeren konzeptionellen Kontext diese Innovationen möglicherweise gehören (vgl. dazu auch III Foucault 2000, S. 202). Von diesem historischen Interesse her stellt sich zunächst die Frage, wie stichhaltig die theoretischen Gründe für die Abschaffung des empirischen Autors sind und ob wir ohne Annahme bestimmter Eigenschaften, Tätigkeiten und Funktionen eines empirischen Autors nicht wichtige Merkmale seiner Texte methodisch unterbestimmt und unerklärt lassen. Eine methodische Rechtfertigung der Autorfunktion könnte die historische Rekon-
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struktion von Autor- und Genieästhetik im Sturm und Drang zusätzlich plausibilisieren. Vor allem als originelle und souveräne sinnstiftende Instanz ist der Autor bekanntlich in der Literaturgeschichte selbst durch seine Transplantation in die komplexen Organisationsverfahren der Texte und durch seine Dekonstruktion in poststrukturalistischen Literatur- und Diskurstheorien für obsolet erklärt worden (vgl. dazu III Ingold/Wunderlich 1992, 1995; Jannidis/Lauer/Martinez/Winko 1999, 2000; 11.46 Kemper 2002). Jetzt aber, wo die Postmoderne sich selbst historisch zu werden beginnt und der >KonstruktAutorDekonstruktion< - wirksame Verständigung über literarische Texte - über ihren Status als Kunstwerk überhaupt (in Abgrenzung zu nichtliterarischen Diskursen), über ihre Originalität, die Individualität ihres Stils, die Innovationskraft ihrer Ideen? Bekanntlich hat Foucault selbst zur Erklärung gewichtiger wissenschaftlicher Innovationen an dem Begriff des »Diskursivitätsbegründers« festgehalten (vgl. III Foucault 2000, S. 218ff.), und ist er nicht auch selbst ein solcher >Autor