Geschichte der deutschen Poetik: Band 2 Aufklärung, Rokoko, Sturm und Drang [Reprint 2014 ed.] 9783110865493, 9783110026795


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German Pages 698 [704] Year 1970

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Table of contents :
Vorwort zum Zweiten Band
Inhalt des Zweiten Bandes
Einleitung
Teil I. Die Wirkungspoetik und Auflockerungsästhetik der Aufklärung
I. Grundlegung und Auflockerung der „kritischen" Poetik
II. Von der kritischen zur angewandten Poetik
TEIL II. Die Schöpfungs-Programmatik und Organismus-Ästhetik des Sturmes und Dranges
Grund- und Grenzformen geniezeitgemäßen Kunstwollens
Kernbestände geniezeitgemäßen Kunstwollens
Fortwirkender Bestand und letzte Verdichtung geniezeitgemäßen Kunstwollens
Anmerkungen
Verzeichnis der Begriffe, Merk- und Kennwörter
Verzeichnis der Namen
Grundriß der germanischen Philologie
Kleinere Schriften zur Literatur- und Geistesgeschichte
Quellen und Forschungen zur Sprach- und Kulturgeschichte der germanischen Völker
Kurzer Grundriß der germanischen Philologie bis 1500
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Geschichte der deutschen Poetik: Band 2 Aufklärung, Rokoko, Sturm und Drang [Reprint 2014 ed.]
 9783110865493, 9783110026795

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G E S C H I C H T E D E R D E U T S C H E N P O E T I K II

GRUNDRISS DER GERMANISCHEN PHILOLOGIE UNTER M I T W I R K U N G ZAHLREICHER FACHGELEHRTER

B E G R Ü N D E T VON

H E R M A N N PAUL

HERAUSGEGEBEN VON

WERNER BETZ

13/11

BERLIN

WALTER D E G R U Y T E R & CO VORMALS G. J . GÖSCHEN'SCHE VERLAGSHANDLUNG - J . GUTTENTAG, VERLAGSBUCHHANDLUNG - GEORG REIMER - KARL J . TRÜBNER - VEIT 4c COMP. 1970

GESCHICHTE DER DEUTSCHEN POETIK VON

BRUNO MARKWARDT

B A N D II: A U F K L Ä R U N G , R O K O K O , STURM UND D R A N G

ZWEITE, U N V E R Ä N D E R T E A U F L A G E

BERLIN

WALTER D E G R U Y T E R & CO VORMALS G. J . GÖSCHEN'SCHE VERLAGSHANDLUNG - J . GUTTENTAG, VERLAGSBUCHHANDLUNG - GEORG REIMER - KARL J . TRÜBNER - VEIT tc COMP.

1970

Photomechanischer Nachdruck der ersten Auflage, 1956

0 Archiv-Nr. 430570/2 • Printed In Genrany Copyright 1956 by Walter de Gruyter Je Co., Berlin Alle Rechte de« Nachdruck«, der photomechanischen Wiedergabe, der Herstellung von Mikrofilmen, auch auszugsweise, Torbehalten. Druck: Werner Hildebnnd, Berlin 65

VORWORT ZUM ZWEITEN BAND Wenige Jahre vor dem Ausbruch des zweiten Weltkrieges erschien 1937 der erste Band dieser Darstellung einer „Geschichte der deutschen Poetik". So mag es gerechtfertigt sein und verständlich werden, wenn der zweite Band erst nach dem an sich ungewöhnlich großen Abstand von etwa zwei Jahrzehnten folgt. Dagegen wird der dritte Band, der (von den stets ausbaubedürftigen Anmerkungen abgesehen) dank dem Vertrauen des Verlages schon vollständig im Satz steht, unmittelbar anschließend herauskommen können. Das zu erwähnen liegt Anlaß vor, weil der ursprünglich für den zweiten Band vorgesehene Berichtsraum (Aufklärung bis Romantik) nun wegen des inzwischen erfolgten Ausbaus auf zwei Bände verteilt werden mußte, dergestalt, daß jetzt Band II Aufklärung, Rokoko und Sturm und Drang, Band III Klassik und Romantik umfassen wird. Die Einheit dieser beiden Bände wird angedeutet durch den Umstand, daß die „Einleitung" des vorliegenden Bandes (S. 1—24) Klassik und Romantik bereits einbezieht. Ein vierter Band soll über den Realismus bis in die unmittelbare Gegenwart führen. Er bedarf freilich noch der ergänzenden Umformung. Anregende Ermutigungen habe ich zu danken R. Unger (f) und H. A. K o r f f , aber auch Th. Frings, sowie dem Philosophen G. J a c o b y , dem Anglisten M. Lehnert und dem Vertreter der klassischen Philologie Frz. Dornseiff. Immer erneuten Antrieb gab mir das Andenken meines verehrten Lehrers Paul Merker. Unmöglich ist es an dieser Stelle, den gebührenden Dank an die zahlreichen Bibliotheksleiter abzustatten, die mir auch diesmal (wie schon für Bandl) abseitiges Material zugänglich gemacht haben. Hoffentlich spiegeln Darstellung und Anmerkungen die von ihnen erfahrene, vielfach mehr als geduldige Betreuung. Nun wäre es ungerecht gegenüber meinem verständnisvollen Verleger, wenn ich verschweigen wollte, daß sich die Drucklegung dieses Bandes über Gebühr verzögert hat durch den ständigen Ausbau der Anmerkungen sowie durch die Ausfüllung des Begriffsregisters. Dieses tapfere Opfer aber, so hoffe ich, wird von ihm nicht umsonst gebracht worden sein.

VI

VORWORT ZUM ZWEITEN BAND

Und da schon das Wort vom tapferen Opfer gefallen ist, darf in diesem Zusammenhange meine Frau nicht unerwähnt bleiben, die mir in schweren Jahren die Weiterarbeit und Umarbeit durch ihre tätige Berufstüchtigkeit erleichtert, ja über weite Strecken hinweg überhaupt erst ermöglicht hat. Und das bedeutet weit mehr als die Tatsache, daß Irmgard Markwardt-Oeser wiederum die Hauptlast der Korrektur getragen hat, unterstützt von E. B r a n d t und G. Erdmann. Die anderen Helfer in technischen Dingen (Literaturbeschaffung usw.) aus meinem engeren Schülerkreise finden sich durch Hinweise auf ihre im Werden begriffenen Sonderuntersuchungen an entsprechender Stelle in den Anmerkungen erwähnt. Der herzliche Dank an sie, besonders auch an meine jetzige Hilfsassistentin, darf indessen an diesem Ort nicht fehlen. So müßte es schon an mir gelegen haben, wenn alle selbstlose Hilfe für diesen Band nicht fruchtbar geworden sein sollte. Greifswald, den 24. Oktober 1955 Bruno M a r k w a r d t

INHALT DES ZWEITEN BANDES Seite

Vorwort

V

Einleitung

i

Teil I Die W i r k u n g s p o e t i k und A u f l o c k e r u n g s ä s t h e t i k der Aufklärung

25

Grundlegung und Auflockerung der kritischen Poetik (Grundlegung im Gottschedischen Räume)

25

Von der kritischen zur angewandten Poetik Der Gellert-Mösersche Raum

130

Der Lessing-Garvesche Raum

164

Das Kunstwollen des Rokoko (Von Hagedorn zu Wieland)

236

Teil II Die S c h ö p f u n g s - P r o g r a m m a t i k und ä s t h e t i k des S t u r m e s und D r a n g e s

Organismus289

Grund- und Grenzformen geniezeitgemäßen Kunstwollens . 289 Kernbestände geniezeitgemäßen Kunstwollens

357

Fortwirkender Bestand und letzte Verdichtung geniezeitgemäßen Kunstwollens 418 Anmerkungen

477

Verzeichnis der Begriffe

660

Verzeichnis der Namen

682

Einleitung In seiner „ N a c h l e s e zu A r i s t o t e l e s ' P o e t i k " hat Goethe etwa ein halbes Jahrzehnt vor seinem Tode Lessings Deutung des Katharsisbegriffs als „ R e i n i g u n g " der Leidenschaften abgelehnt und an deren Stelle seine eigene als „ A u s g l e i c h u n g " der Leidenschaften und als „aussöhnende Abrundung" eingesetzt. Und indem Goethe die abzuwehrende Meinung so faßt, daß die Tragödie vermeintlich „das Gemüt des Zuschauers reinigen solle", taucht im Raum des zu Bekämpfenden zugleich die Lehre Sulzers von einer „Lenkung des Gemüts" als Zweck der Dichtkunst auf, wie denn der Shakespeareübersetzer und Kunsttheoretiker Eschenburg im Gefolge Sulzers die Katharsis als „ L e n k u n g " der Leidenschaften umschrieben hatte. Vom engen Bezirk dieser Miscelle des späten Goethe, denn mehr wollte die „Nachlese" kaum sein, öffnet sich dennoch der weite Blick auf die Kunstgesinnung der Klassik in Abhebung von der Kunstlehre der Aufklärung, und zwar noch in einer anderen Blickrichtung. Und auf die kommt es vorerst an. Goethe nämlich verwahrt sich nachdrücklich gegen die Auffassung, daß Aristoteles in diesem Zusammenhange überhaupt „an die Wirkung" auf den Zuschauer gedacht habe. „Keineswegs!" würde Aristoteles „in seiner jederzeit auf den Gegenstand hinweisenden Art" auf eine so „entfernte Wirkung" sein Augenmerk gerichtet haben. Vielmehr beziehe sich jene Forderung auf das Kunstwerk selbst und dessen Formungsgesetzlichkeiten. Goethe ist überzeugt, daß Aristoteles von der „Konstruktion des Trauerspiels redet". Und so scheint zunächst eine Verlagerung von der Wirkung zur Schöpfung hin stattzufinden. Aber es geht, näher gesehen, nicht um das geniezeitgemäß Schöpferische um jeden Preis, sondern es geht um die „Bildungskraft" des in sich vollendeten Werkes, die das Werk als Kunstwerk so bildet und formt und prägt, daß in dem Kunstwerk als Kunstwerk jene „Ausgleichung" und „Abrundung" als Einheit und Ganzheit von Organik und Harmonik verwirklicht und vollzogen erscheint. Es ist für unsere Zwecke unwesentlich, daß diese Aristotelesauslegung eigenmächtig wirkt. Sie wirkt nur deshalb eigenmächtig, weil ein mächtiges Kunstwollen hinter ihr wirksam war. 1

M a r k w a r d t , Poetik II

2

EINLEITUNG

Entscheidend bleibt die Abwehr der aufklärerischen WirkungsPoetik und das Hinwegführen über die geniezeitgemäße Schöpfungs-Programmatik zur „Bildungs"-Poetik und „Ausgleichs"Ästhetik der Klassik. Indem Goethe von der Publikumswirkung als einer „entfernten Wirkung" spricht unter ausdrücklicher Abhebung von der „Wirkung" schlechthin, an die indessen Aristoteles ebenfalls nicht gedacht haben soll, schwingt das Wissen um eine an sich näherliegende Wirkung deutlich mit. Es ist dies die das Schaffen begleitende Wirkung und Rückwirkung auf den Schaffenden selbst. Gerade auf diese intimere Begleitwirkung hat die Kunsttheorie der Klassik ganz besonders ihr kritisches Augenmerk gerichtet. Denn die „entferntere Wirkung" auf den Kunstwert-Aufnehmenden, die das Kunstwollen und Kunstfordern der Aufklärung beherrscht hatte, war bereits seit der geniezeitgemäßen Schöpfungs-Programmatik in der Geltung abgesunken. Von der Klassik her gesehen, stand das geniezeitgemäße Kunstwollen gleichsam unter dem Verdacht, zu sehr jener Eigenwirkung verfallen zu sein und die Erregungen dieser Rückwirkung (des Gedankens und der Vorstellung der Wirkung während des Schaffens auf dieses Schaffen) bereits für echten schaffend-bildenden Antrieb und Auftrieb gehalten zu haben. Ganz abgesehen vom Sturm und Drang wird darin die Zwischenform des Dilettantischen erkannt. In den Goethe und Schiller als teils gemeinsame Gedankengänge und Gedankensplitter zugehörenden Aufzeichnungen „ U b e r den D i l e t t a n t i s m u s " (etwa 179g) wird der bloße Liebhaber und Dilettant (die Wortstimmung ist um einige Grade wohlwollender getönt als im heutigen Sprachgebrauch) etwa so gezeichnet und dadurch gekennzeichnet, daß er „seinen Beruf zum Selbstproduzieren erst aus den Wirkungen der Kunstwerke auf sich empfängt". Es handle sich in Wirklichkeit jedoch um ein nur passives und rezeptives, wenn auch recht lebhaftes und sensibles Erleiden von Wirkungseindrücken, das der Dilettant mit der „letzten Wirkung aller poetischen Organisationen", die zwanglos und gleichsam zwecklos wie der Duft einer voll entfalteten, organisch gewachsenen Blüte sich einstellt, voreilig und allzuleicht zu verwechseln geneigt sei. (Jean Paul spricht später vom Typus des „leidenden Grenzgenies"). Das Vorgehen des vermeintlichen Künstlers, des Auch-Künstlers, des Dilettanten, von der vorweggenommenen und vorweggenossenen Wirkung ohne

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weiteres auf das Wesen zurückzuschließen, ist letzten Endes so abwegig und oberflächlich, „wie wenn man mit dem Geruch einer Blume die Blume selbst hervorzubringen gedächte". Der Dilettant glaubt gleichsam, „mit diesen erlittenen Wirkungen wirken zu können". Und indem er die äußerlich ablesbare Wirkung schon für das innere Wesen der Kunst hält, glaubt er und hofft er mit jenem Wissen um diese Wirkung schon „selbst hervorbringen" zu können. Ähnlich steht es mit der Neigung, von irgendwelchen Zwecken, die außerhalb der Kunst liegen, auszugehen und — wie dort auf die bloße Wirkung — nun hier auf derartige außerkünstlerische Zwecke hinzuwirken und zuzugehen. Vielmehr: „Der wahre Künstler steht fest und sicher auf sich selbst; sein Streben, sein Ziel (eben das in sich selbst vollendete, organisch-ganzheitliche Werk) ist der höchste Zweck der Kunst". Ein weiterer Entwurf zu jener ursprünglich für die „Propyläen" vorgesehenen Abhandlung „Über den Dilettantismus" weist in seinen stichworthaften Bemerkungen besonders auch darauf hin, daß aus dem allgemein-menschlichen Trieb, bei lebhaft bewegter Aufnahmefunktion künstlerischer Eindrücke von der bloßen Rezeption zum scheinbar Produktiven (Nachahmung zwecks Erneuerang des gehabten Eindrucks) überzugehen, nicht zum wenigsten der Dilettantismus genährt werde. Indessen: „Nachahmungstrieb deutet gar nicht auf angebornes Genie zu dieser Sache" hin. Geht man noch ein Jahrzehnt weiter zurück, so trifft man auf die Grundlegung dieser das Kunstwollen der Klassik weithin bestimmenden Ideen bei Karl Philipp Moritz. In seinen wegbahnenden Schriften von 1785 und 1788 ist jene Abwehr der Wirkungs-Poetik, aber gerade auch jene Abwehr der bloßen Schöpfungs-Programmatik, gewiß klarer und eindeutiger ausgeprägt als in den Entwürfen Goethes und Schillers zur Dilettantismus-Abhandlung und als in Goethes um mehrere Jahrzehnte später liegenden „Nachlese" zu der Poetik des Aristoteles. Aber die Dauerkraft der Leitideen eines klassischen Kunstwollens und ihr weit in das neunzehnte Jahrhundert hinübergreifendes Fortwirken werden notwendig überzeugender sichtbar, wenn man diese Leitideen auch dort antrifft, wo sie so ohne weiteres gar nicht vermutet werden und denn auch — soweit ich sehe — von der Goetheforschung nicht berücksichtigt worden sind. Den Blick dafür erleichtert und ermöglicht vielleicht erst ein Uberschauen weiterer Entwicklungsausschnitte, wie es für eine Geschichte der Wandlungen des 1•

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dichterischen Kunstwollens nicht schwer fallen kann, während die Goetheforschung ihre Aufmerksamkeit notwendig auf andere Fragen richtet. Das gilt besonders für jenen Beitrag aus der Spätzeit Goethes, der an und für sich keine Bekundung der allgemeinen Leitidee der Klassik war oder sein wollte, vielmehr zunächst einmal auf eng umgrenzte Sonderbestimmungen von dramentheoretischen Einzelbegriffen abzielte. Das Vorhandensein dieser Ideen in der „Nachlese" läßt zugleich erkennen, wie tief diese Züge klassischer Kunstgesinnung sich eingeprägt und eingegraben hatten; so tief, daß selbst die starke und lebensvolle Strömung der Romantik sie nicht verwischen konnte. Das Wissen um die Wirkung (Aufklärung) und die Sensation und Emotion des Schöpferischen (Sturm und Drang) reichen nicht aus, um das vollendete Kunstwerk klassisch „bildender" und „bedeutender" Ausprägung (Klassik) hervorzubringen. Damit bestimmt die Klassik ihre Grenzen gegen Aufklärung einerseits und Sturm und Drang andererseits, der zudem im Streben nach e c h t e r V i e l f a l t u n d l a u t e r Größe sich deutlich genug abhebt vom klassischen Ideal einer edlen E i n f a l t u n d s t i l l e n G r ö ß e (Winckelmann). W e i t ü b e r w i e g e n d n ä m l i c h s i e h t u n d w e r t e t die A u f k l ä r u n g v o n der W i r k u n g des f e r t i g e n W e r k s aus. Sie glaubt von der beabsichtigten oder an anderen vorgeformten Kunstwerken beobachteten W i r k u n g am einfachsten die erforderlichen Mittel, eben diese Wirkung hervorzurufen, gleichsam rückwärts erschließen zu können, gemäß ihrer kausalen Zweckeinstellung. Kenne ich die Wirkung, berücksichtige ich die Wirkung, so muß ich auch den rechten und kürzesten Weg zu dieser Wirkung finden und beschreiten können. Zugleich ermöglicht dem Aufklärer das A u s g e h e n von der W i r k u n g u n d d a s Z u g e h e n auf die W i r k u n g den engen Anschluß der Poetik und der Poesie an die allgemeine kulturpolitische Zielsetzung eines letztlich m o r a l p ä d a g o g i s c h e n B e w i r k e n w o l l e n s , wie sich denn Kausalität und Moralität bei manchen Spannungen doch immer wieder miteinander verflochten zeigen. Diese Einrichtung und Ausrichtung aller Einzelheiten auf die Wirkung und das Wirkungsgesetz erfährt jedoch bald eine gewisse A u f l o c k e r u n g , teils innerhalb der Poetik selbst, teils von der Ästhetik her, die zunächst aus der Poetik hervorwächst. Auch der Empirismus und Sensualismus mit seiner Ausprägung der Seelenkunde sind an jenem

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Auflockerungsvorgang wesentlich mit beteiligt. In diesem Sinne konnte von W i r k u n g s - P o e t i k u n d A u f l o c k e r u n g s - Ä s t h e t i k der A u f k l ä r u n g als den am weitesten übergreifenden Kräften und Verfahrensweisen gesprochen werden. Doch seien diese knappen und daher immer nur behelfsmäßigen Leitbegriffe ergänzt durch das Begriffspaar: d a s A b b i l d l i c h e u n d d a s V o r b i l d l i c h e . Das Abbildliche verweist auf die beherrschende Naturnachahmungstheorie (Mimesislehre), die dann in der Literaturphilosophie der Frühromantik ihre Aufhebung, ja geradezu ihre Umkehrung (Schelling) erfahren sollte. Das Vorbildliche verweist auf klassizistische Normsetzungen einerseits und auf ethische Wertsetzungen andererseits, die als Normsetzungen durch die romantische Ironie und als Wertsetzungen durch die Weite des Wunders in der Romantik aufgehoben wurden. Die Antike — in Wirklichkeit der französische Klassizismus — ist Vorbild als feste Norm, an die man sich vertrauensvoll halten kann. Dieses Vorbildliche erfährt eine Auflockerung durch Ansätze zur kulturpatriotischen Selbstbesinnung, durch Teileinbruch Shakespeares, durch Übergreifen des seelenkundlichen Anteilnehmens und auf andere Weise. Soweit das Vorbildliche auf ethische Wertsetzungen und Wert-Ersetzungen (gemessen am Christentum und mit Hinblick auf dessen Verweltlichung) bezogen ist, vollzieht sich die A u f l o c k e r u n g durch Milderung des moralischen Endzwecks, durch Verbesonderung einer ästhetischen Sittlichkeit (Vorstufen), durch Abzweigung des G e s c h m a c k s als T u g e n d auf ä s t h e t i s c h e m G e b i e t , durch Abwehr des „vollkommenen Charakters" als Zentralgestalt des Dramas, durch Verlagerung vom Verstand auf das Gemüt, um vorerst nur einige wesentliche Beispiele jenes Auflockerungs-Vorganges hervorzuheben. Die A u f k l ä r u n g des V e r s t a n d e s v e r b i n d e t sich m i t einer m e h r ä s t h e t i s c h g e s e h e n e n u n d b e w i r k t e n „ L e n k u n g des G e m ü t s " . Ebenso erfährt das Abbildliche, das auf die Naturnachahmungstheorie und den Wahrscheinlichkeitsbegriff hinausläuft, eine Auflockerung durch die gemilderte und ästhetisch fruchtbarer gedachte und gemachte Ähnlichkeitstheorie (Joh. Elias Schlegel) und durch Ansätze zur Ausdruckslehre (Joh. Adolf Schlegel), teils auch durch die scharfe Kritik an der Wahrscheinlichkeitstheorie als solcher (C. Brämer mit Rückgriff auf Bacon). Näheres bringt die Sondereinleitung zum Abschnitt „Aufklärung, Spätaufklärung, Rokoko". Das Kunstwollen

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EINLEITUNG

des dichterischen deutschen Rokoko verstärkt und beschleunigt den Auflockerungsvorgang und bietet bereits dem klassischen Kunst wollen manche Anknüpfungsmöglichkeit im Fortsetzen wie im Entgegensetzen. Wieweit auch eine rokokohafte Ironie (komisches Epos, komische Romanze) als Vorform der romantischen Ironie gelten kann, bleibe dahingestellt. Auf weltanschaulich aufklärerischem Grunde ruhend, teilt das rokokohafte Kunstwollen jedoch mit der Aufklärung die Einstellung auf Wirkungspoetik und Auflockerungsästhetik, nur daß es in Sonderheit die Wirkungswerte des „Scherzhaften" und „Gefälligen" und „Anmutigen" in Pflege nimmt. Das W a c h s t ü m l i c h - O r g a n i s c h e , das V o l k s t ü m l i c h N a t i o n a l e und das U r t ü m l i c h - O r i g i n a l e erweisen sich als beherrschende Kräfte im Kunstwollen des S t u r m e s u n d D r a n g e s , und zwar besonders für den Anteil: e c h t e V i e l f a l t (Lebensvielfalt im Reflex der künstlerischen Vielfältigkeit). Der Sturm und Drang sieht und wertet ü b e r w i e g e n d v o n der S c h ö p f u n g des w e r d e n d e n W e r k e s aus, wie streckenweise wiederum die jüngere Romantik. Er glaubt, mit dem berauschenden Schöpfererlebnis am weitesten vordringen zu können zu dem — letzten Endes als unaussprechlich Anerkannten — , was sich überhaupt von Dichten und Dichtwerk ahnen und begrenzt aussagen läßt. Im Wachstümlichen der Natur, die er weder als nützliche Natur (Aufklärung), noch als „niedliche" Natur (Rokoko) sieht und erlebt, scheint ihm am ehesten noch dasselbe Geheimnis zu begegnen, das zu jener darstellerisch umworbenen e c h t e n L e b e n s v i e l f a l t führt. Daher umschreibt er das Schöpferische gern als Wachstumshaftigkeit, als Organismus. Selbst die Baukunst belebt er sich vom Organismusgedanken aus. Da die Schöpfung erlebt und erlitten werden will, so kann sie nur als ideale Forderung dem Kunstwollen voranleuchten. Es wird sich also um S c h ö p f u n g s P r o g r a m m a t i k i m Sinne einer Manifestation des Schöpferischen schlechtweg handeln. Indem jedoch der Lebensbezug vom lebendigen Wachstum des werdenden Werkes aus gesucht wird, scheint auch eine Lebensbezogenheit der Ästhetik, wie sie für den Sturm und Drang als unentbehrliche Voraussetzung galt, nur von der Vorstellung des Wachstümlichen, Lebendigen oder (wie der Goethe des Urfaust noch und der Goethe der „Urworte, Orphisch" wieder sagt) „Lebenden" aus zu gewinnen sein. Das „Lebende", das in gewisser Weise auch schon — aber doch anders als in der Klassik —

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als ein „Bildendes" gesehen wurde, ließ sich am ehesten vor einem normierenden Zugriff und vor abstrahierender Verdünnung hinüberretten in die Organik des Ästhetischen. In diesem Sinne wird von O r g a n i s m u s - Ä s t h e t i k gesprochen. In Abhebung von dem Anteil Organismus-Ästhetik der Klassik wird man vielleicht gut tun, die bereits oben vorgeschlagene Formel „ e c h t e V i e l f a l t " in Erwägung zu ziehen, die sich zudem einprägsamer abgrenzt gegenüber der teils mehr dem Plastischen zugewendeten und ja auch vom Bildkünstlerischen (Winckelmann 1755) sich herschreibenden Formel von der „edlen Einfalt". Doch mögen diese knappen und nur behelfsmäßig eingesetzten Leitbegriffe, die für die Stürmer und Dränger „Ideen-Gefühle" (Maler Müller) waren und auch so verstanden und gewürdigt sein wollen (wie wiederum in der jüngeren Romantik), durch das schon kurz vorgestellte Begriffspaar des U r t ü m l i c h - O r i g i n a l e n und des V o l k s t ü m l i c h - N a t i o n a l e n ergänzt werden. Soweit das Urtümliche mit dem Originalen sich deckt, bedarf es keiner weiteren Erläuterung. Aber es greift darüber hinaus ins Frühwüchsige, Genetisch-Werdende, Frühhistorische und Vorhistorische im Sinne des Urtümlich-Urkräftigen, Urtümlich-Urwüchsigen, wie es gern von „wilden", unverbrauchten und gefühlsstarken Völkern abgelesen wird. Herder bricht befreiend nach dieser Seite hin durch, jedoch ohne etwa einfach Rousseau zu verfallen. Auch Hamanns Wort vom „Urbaren" steht in der Nähe. Indem jedoch im gesunden unverfälschten Volksgrund am ehesten noch gegenwärtig erlebbare Fassungen und Formen des Urtümlich-Urkräftigen und auch Urwüchsigen nicht nur im Sinne des Derben, sondern mehr des Urwachstumhaften angetroffen zu werden scheinen, etwa in Ballade und Volkslied, im Volksbuch und Puppenspiel und selbst im Hanswurstspiel, im Bezirk volkstümlichen Aberglaubens auch, so verschmilzt die Vorstellung des Urtümlichen im Sinne des Wurzelechten, Urwachstumhaften ohne weiteres und oft untrennbar mit der Vorstellung des Volkstümlichen oder — wie man damals und teils wieder in der jüngeren Romantik wohl gern sagte — „Volksmäßigen". Das V o l k s t ü m l i c h e als n a t i o n a l e V e r d i c h t u n g s f o r m d e s U r t ü m l i c h e n ist vor allem wiederum vom jungen Herder im Kunstwollen gefordert und neben fast allen Stürmern und Drängern im Kunstschaffen doch besonders von G. A. Bürger gefördert worden. Das Volkstümliche begleitet aber auch den entscheidenden

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Durchbruch junggoethescher Lyrik. Das Volkstümliche hilft zugleich ein volkswürdiges Kunstwollen finden oder doch leidenschaftlich-jugendlich und liebevoll erstreben, unterstützt vom Ideal des Urtümlichen im Sinne des Originalen, des Eigenkräftigen, Eigenwüchsigen, Eigenständigen und also Bodenständigen. Man will „beim Herzen des Volkes anfragen" (Goethe). Man sieht und setzt das „Volksmäßige" als das allein echte und rechte „Siegel der Vollkommenheit" einer Dichtung (G. A. Bürger). Man will, ohne die persönliche Originalität aufzuopfern, unbekümmert von der Volkskunst lernen (Merck). Von hier aus erfährt notwendig und folgerichtig das schlechthin Vorbildliche des Griechentums eine tapfer gemeinte Begrenzung durch das schützende Bewahren schlichten Volkstums in der Kunst. Die Vielfalt und Vielfarbigkeit des „Lebenden", des auf eigenem naturhaften und volksmäßigen Boden „Lebenden", wird als Wert und Wollen moderner Kunst gegenüber der Einfalt griechischer Kunst empfunden und als Eigenwert und Höhenwert mit wachsendem Stolz und warmer Liebe herausgestellt (Gerstenberg, Herder, Lenz, Schubart, Moser u. a.). Die Geltung der griechischen Kunst wird durchweg achtungsvoll, aber unzweideutig eingegrenzt auf eine Nationalkunst, die für ein andersartiges nationales Kunstwollen schlechthin nicht verbindlich sein kann. Streckenweise erfolgt auch eine Umdeutung griechischer Dichtkunst zugunsten der Vorstellung des Urtümlichen und Volkstümlichen (Herder: Homer als Volksdichter). — Auf Sonderausprägungen des geniezeitgemäßen Kunstwollens, wie etwa die „ l a u t e Größe", die vom Wollen her als „ e c h t e G r ö ß e " gemeint war, wird die Sondereinleitung zum Sturm- und Drang-Abschnitt näher eingehen. Die K l a s s i k sieht u n d w e r t e t v o r w i e g e n d von dem Bilden des in sich v o l l e n d e t e n W e r k e s aus. Das Kunstwollen verschmilzt das starr „Vorbildliche" der Aufklärung mit dem „Urtümlichen" des Sturmes und Dranges, wenn es im Griechentum das „Urbild" reinen Menschentums erblicken zu können glaubt. Von hier aus erleichtert es sich den Zugang zum „Urbildlichen" schlechtweg, das im „Typus" der Gattung ihr „idealisches" Denkmal setzt, wie es im „Schicksal" den Typus des Notwendigen manifestiert sieht. Indem mehrfach der Gedanke anklingt, daß griechisches Wesen deutsche Werte befreien helfe, wird mittelbar ein Restbestand nationaler Bezogenheit gewahrt. Der kraftvolle

EINLEITUNG

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Impuls des Sturmes und Dranges kann nicht mehr völlig niedergehalten werden vom Ubergewicht griechischer Urbildlichkeit. Das Urbildliche der Urformen, die jene aufklärerischen Urnormen weit hinter sich lassen, aber dennoch im Prinzipiellen mit ihnen verwandt bleiben und sich ihnen nach erfolgter dogmatischer Erstarrung auch wieder in gewissem Grade nähern, ohne den Auflockerungsgewinn des Rokoko aufzugeben (starke Geltung des „Anmutsbegriffs" sowohl beim Schiller der Reifezeit als auch beim Goethe der Reife-und selbst noch der Spätzeit), das Urbildliche der Urformen verbindet sich mit dem Sinnbildlichen aller Lebens- und Kunstwerte im Sinne des Symbolischen dergestalt, daß ein IdeenPaar: U r b i l d h a f t e s und S i n n b i l d h a f t e s sich deutlich aus den idealen Forderungen des klassischen Kunstwollens heraushebt. Sowohl das Urbildhafte als das Sinnbildhaltige stellt als die entscheidende künstlerisch werkschaffende Funktion das „Bildende" heraus, das Bildende im Sinne des Gestaltenden, Prägenden, Plastischen, des Reifen und Runden. Indem jedoch das „Bildende" das Wachstümliche des Sturmes und Dranges — wenn auch anders gepflanzt und gepflegt — mit einbezieht und indem die „Bildungskraft" zugleich als „Tatkraft" gesehen und verstanden wird (K. Ph. Moritz, aufgenommen von Goethe, entsprechend als „Tätiges" bei Schiller), bewahrt es sich eine dynamische Gegenkraft gegen ein völliges Eingehen und Aufgehen der Idee des „Bildenden" in den Sondersinn der „bildenden Künste". Daher konnte von „Bildungs"-Poetik der Klassik gesprochen werden, ein Terminus, der auch in der werkimmanenten Poetik seine Berechtigung hat und seine Bestätigung findet. Doch empfahl es sich, die Sonderbedeutung von „Bildung" im klassischen Kunstwollen auch äußerlich festzuhalten (daher die Anführungsstriche in der entsprechenden Überschrift). Über die „Ausgleichs"-Idee ist von H. A. Korff so grundlegend gehandelt worden, daß sich eine Rechtfertigung oder Erläuterung der Bezeichnung „Ausgleichs"-Ästhetik erübrigt. Es wurde auch die Bezeichnung B e d e u t s a m k e i t s - Ä s t h e t i k in Erwägung gezogen, weil die Ausgleichsfunktion letzten Endes schon im Begriff „Bildungs"-Poetik eingeschlossen ruht. Aber auch die SchöpfungsÄsthetik und Programmatik des Sturmes und Dranges schlösse in diesem strengeren Sinne die Organismus-Ästhetik in sich ein, die auch in der Literaturphilosophie der Romantik ihre Geltung behält. Und doch sollte möglichst nachdrücklich ein wirklich Beherr-

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sehendes (selbst, wenn es nicht so „schön" klingt) sichtbar herausgestellt werden. Der stark geistigen Haltung der Klassik, wie sie auch in einer stark vergeistigten Sprachauffassung sich ausprägt (Annäherung an die Frühromantik), entspricht es, wenn der Weg vom Urbild zum Sinnbild nicht weit ist, wobei ein Freisetzen und Freihalten des dichterisch fruchtbaren Symbols von der unfruchtbaren Allegorie starke Kräfte der Kunstbesinnung (wie auch des Kunstschaffens) bindet und immer aufs neue beschäftigt. Es ist nicht die geringste Leistung klassischen Kunstwollens, diesen Grenzkampf zwischen dem Symbolischen und Allegorischen nach ihren Kräften und Zielen durchgefochten zu haben, wenngleich nicht restlos, wie das erneute Ringen in der Romantik hinlänglich dartut. Weniger eindeutig ist der (relative) Sieg im Grenzkampf zwischen dem nur Mythologischen und dem Dichterisch-Mythischen, das nächst Goethe vor allem Hölderlin befreien hilft. Das Nordisch-Mythische (Klopstock u. a.) erleidet indessen einen Rückschlag zugunsten des Griechisch-Mythischen. Doch greifen auch hier gewisse Bemühungen (ähnlich wie beim Nationalen, aber schwächer) über, die doch eben dort, wo sie — wie bei dem älteren Herder — kraftvoll wirken, in die Gegnerschaft zum klassischen Kunstwollen hineingedrängt werden, wenn es auch mehr die echte Vielfalt als die laute Größe ist, die Herder gegen die edle Einfalt und stille Größe ausspielt. Das Rein-Geistige der Klassik, das im Rein-Menschlichen einen Ausgleich sucht und findet, verschmilzt mit dem veredelten Größenkultus des Sturmes und Dranges zu dem „Bedeutenden". Die Brücke zwischen dem „ B i l d e n d e n " und dem „ B e d e u t e n d e n " schlägt der kühne Bogen des „Idealischen", das zugleich sein Stützlager im Urbildhaften findet. Aber auch die symbolische S p r a c h a u f f a s s u n g und das Symbol trächtige Spracherleben ist an jener Überwölbung des Bildenden und Bedeutenden wesentlich beteiligt. Denn diese Sprachauffassung läßt nicht nur Bild und Bedeutung, Anschauung und Idee lebendig ineinanderspielen, sondern sie ist durch ihren symbolischen Charakter von vornherein geeignet und geneigt, aber auch fähig, schon im Bildefähigen das Bedeutungshaltige und umgekehrt im Bedeutsamen (Geisthaltigen) das Bildsame bereitzuhalten. Dieses immanente Bereithalten läßt das künstlerische Zubereiten des Bildsamen zum Bedeutsamen und des Bedeutenden zum Bildenden organisch sich vollziehen, ohne den Druck und Aufdruck einer äußeren Sinn-

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gebung auf der einen Seite und einer äußeren Bildgebung auf der anderen Seite nötig zu haben. Eine Eingliederung in die fertigen Begriffe Gehalts- bzw. Gestalts-Ästhetik schien schon deshalb nicht recht ratsam zu sein. Vereinfacht gesagt, neigt das Bildende dem Schönen, das Bedeutende dem Erhabenen zu, wobei die Neigungsgrade etwa denen zwischen Anmut und Würde entsprechen dürften. Aber der Begriff Anmut bringt zu einseitig Rokokohaftes hinein (Schönheit in Bewegung), und der Begriff des Erhabenen war in gewisser Weise doch von der Aufklärung her, der letztlich auch die vorkritische Abhandlung Kants von 1764 noch nahesteht, vorbelastet. Beide Begriffe wurden jedenfalls nicht aus dem Geist der Klassik geboren. Die Klassik will das Wesenhafte bildend und bedeutend erfassen und verdichtend und steigernd formen. Aber sie will auch das Freie der lebendigen Gestalt und das Starke der lebendigen Kraft (Schiller und Herder) durch künstlerische „Tatkraft" und durch geistig freies „Spiel" der Kräfte aufheben zur höheren Einheit und in sich geschlossenen Ganzheit. In dem Grade, wie die „Idee" für Goethe schon lebenshaltig (und nicht einfach nur begriffshaltig), auch nicht nur anschaulich ist im Sinne der „intellektualen Anschauung" Kants, sondern anschaulich im Platon-Plotinischen Sinne, ja selbst noch anschaulich im erfahrungsmäßig erlebbaren Sinne und doch vorherrschend innere Wesensschau des inneren Auges (auf die Pinder weitgehend auch den bildenden Künstler Goethe zurückführen möchte), kann für Goethe auch das „Idealische" mit dem „Realen" höherer Potenz sich im harmonischen Ausgleich begegnen. Und in dem Grade, wie für Schiller das Leben schon ideenhaltig erscheint (und nicht nur erfahrungshaltig), kann für ihn das ästhetisch freie „Spiel" als ein hochgesteigertes Kräftespiel zwischen Stoff und Form walten. In dem Grade aber auch, wie für Schiller die Spannung und Anspannung größer und das dramatisch Dynamische spannungerfüllter beteiligt war als das mehr pflanzenhaft LebendigDynamische bei Goethe, mußte sich für ihn der Wille — und es wirkte der echte Willensidealismus Schillers durch dieses Kunstwollen hindurch — zum versöhnenden Ausgleich bis zur IdentitätsVorstellung aufsteilen. Hölderlin, dem sich die teils von Schiller hinüberwirkende Identitätsvorstellung zugleich von Schelling her verstärkt, vermag schon die Sicherungsstellung des „Harmonisch-Entgegengesetzten"

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aufzusuchen ohne eine derartig machtvolle Anspannung, wie er die Einheit und Ganzheit von Bildendem und Bedeutendem im Mythischen erlebt und auch künstlerisch formsetzend erstrebt. Für Wilhelm von Humboldt scheint das Bedeutende, vor allem von der Seite des ideell Bedeutsamen aus gesehen, der Poesie als solcher besonders gemäß zu sein, doch erfolgt mit Rücksicht auf Goethe die großzügige Einräumung zugunsten der epischen Sonderform. Schillers „ästhetische" Erziehung des Menschen ist recht eigentlich eine „bildende" Erziehung zum „Bedeutenden" und „Bedeutsamen". hin, die ganzheitlich die Lebenskräfte und Charakterwerte formen und prägen, ja überhaupt erst vollmenschlich befreien und entfalten will. Und weil eine so gedachte „Erziehung" zugleich eine „klassische" Erziehung werden mußte, begegnet er sich auch hier mit Goethe. Schon mehrfach öffnete sich der Blick auf ein Weiteres und Wesentliches, auf die A b w a n d l u n g der L e b e n s b e z o g e n h e i t der K u n s t . Während die Aufklärung die Kunst sehr eng an das Leben als ein Leben der — vorkritischen — praktischen Vernunft heranzurücken meint, scheint der Eigenwertgedanke einer autonom gewordenen Kunst, vorgebildet im Sturm und Drang und voll ausgebildet in der Klassik, die Kunst dem Leben und dem Dienst am Leben mehr und mehr zu entrücken. Und vollends die Romantik scheint diesen Vorgang über das Transzendentale in das Transzendente weiter zu treiben. Dem gegenüber steht die historisch klare Erscheinung, daß erst im Sturm und Drang die I d e e des L e b e n d i g e n (im Sinne einer e c h t e n L e b e n s v i e l f a l t ) volle Gewalt gewinnt über das dichterische Kunstwollen und Kunstschaffen, abgesehen etwa von der Teilbewegung der AuflockerungsÄsthetik, die sich dem Sturm und Drang wesenhaft nähert. Zwar auch die Aufklärung erstrebt ein „Leben", wie sie es versteht: eine gesteigerte „Lebhaftigkeit" geistiger Beweglichkeit, wie sie sich am eindrucksvollsten in Lessing bekundet. Und man sollte nicht unterschätzen, daß für die Aufklärung das „Lebendige" von vornherein andersartig gesehen wurde und aufgefaßt werden mußte als etwa vom Sturm und Drang und vollends von der Romantik. Aber die Verbindung von Leben und Kunst in der Aufklärung erweist sich bei näherer Überprüfung doch weit überwiegend als eine mechanische Verklammerung mit Hilfe des Zweckgedankens. Den Lebensnormen — denn eine normenhafte Bewältigung des Lebens erschien dem Verstand zunächst als die

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dringliche (und verstandesmäßig mögliche) Aufgabe — hatten sich die Kunstnormen (besonders deutlich bei den Gattungsnormen) zweckmäßig anzugliedern. Eine „Zweckmäßigkeit ohne Zweck" im Sinne Kants konnte nur von Einzelnen wie Lessing oder — in der Ästhetik — Riedel vorgeahnt und angedeutet werden. Die Emotionstheorie, die Ansätze zur Ausdruckslehre, die Berücksichtigung des „Gemüts" hielten wohl theoretisch-erkenntnismäßig Ausschau nach dem „Leben", ohne es jedoch erlebnismäßig erschließen zu können. Immerhin dürfen derartige Vorwellen, die etwa auch vom Rokoko auslaufen, in ihrem Ansatz und Verlauf nicht einfach übersehen und in ihrer weiterwirkenden Teilkraft zum mindesten im Bereich des Kunsttheoretischen nicht als belanglos abgetan werden. Ihre mannigfachen Ausstrahlungen sind noch in der Romantik erkennbar. Trotzdem kann vorerst verallgemeinernd gesagt werden: soweit vom Lebendigen in der Aufklärung überhaupt gesprochen wurde (und es wurde in kunsttheoretischen Aussagen weit seltener davon gesprochen als im Sturm und Drang),zielte alles zuletzt ab auf eine etwas gemütlich belebte und aufgelockerte Lebenskundigkeit (wie teils schon in der Frühaufklärung), auf bürgerlich bestimmte Lebenstüchtigkeit. Auch Wielands Lehre, daß die Musen „spielend" den „besten Unterricht" zu erteilen verstünden, wenn sie ihre „erste Pflicht", das „Ergötzen", erfüllen wollten, bringt doch nur eine rokokohafte Auflockerung jener Grundeinstellung. Weiterreichende Vorstöße Wielands werden an entsprechender Stelle zu würdigen sein. Das Wertwort lebendig oder lebend tritt verhältnismäßig selten auf und trägt, wenn es auftritt, weniger Gewicht. Es meint oft nur „lebhaft", entsprechend den dunklen, aber lebhaften Vorstellungen, die in Baumgartens „sensitiven Vorstellungen" ihre ergänzende Entsprechung finden. Sturm und Drang und Klassik wie natürlich auch die Romantik verschmähen das mechanische Verklammertsein von Leben und Kunst durch die bloße Zweckbrücke der Lebenskundigkeit und Lebenstüchtigkeit. Sie erstreben ein organisches Verwachsensein von Leben und Kunst; der Sturm und Drang mehr zugunsten des Lebens, die Klassik mehr zugunsten der Kunst. Das d i c h t e r i s c h e R o k o k o um Wieland sucht über die Lebenskundigkeit zur Lebenskunst hinauszugelangen, alte Ideale auf neuer Entwicklungswende höher entfaltend und auch in diesem Betracht seine Mittelstellung und Mittlerstellung wahrend. Es hofft, Formkultur und Lebens-

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kultur wechselseitig aneinander steigern zu können, es möchte K u n s t f r e u d i g k e i t u n d L e b e n s f r e u d e zwanglos ineinander aufgehen lassen. Nicht immer wählt es würdige Wege und ausreichende Lösungen. Es begnügt sich teils mit dem Kompromiß, eine künstlich stilisierte „Kunst" mit einem künstlich stilisierten „Leben" in eine bloße Schein-Einheit zu bringen. Aber das Kunstwollen als Wollen reichte an sich über derartige Notlösungen hinaus. Das Kunstwollen auch der Klassik, von vornherein noch vom Sturm und Drang her gesättigter an unmittelbaren Lebenskräften, glaubte auf dem Umwege über das Urbildliche des Griechentums zu einem gesteigerten, verdichteten und geläuterten Leben gelangen zu können und damit dem organischen Verwachsensein von Leben und Kunst auf seine Weise zu dienen. Einen Umweg, teils auch einen bloßen Abweg erkannten darin damals etwa der spätere Herder und Heinse, in mancher stillen Stunde und in manchem stillen Kampf wohl auch Schiller. Für Hölderlin schien es ein unvermeidlicher Umweg, um deutschem Wesen dann umso näher kommen zu können. Den Winckelmann — K. Ph. Moritz — Goethe — W. v. Humboldt schien es der kürzeste Weg zum Lebendigen zu sein, wobei zugleich der starke Gegendruck abstraktester Geistigkeit im Kantischen Kritizismus diesen Weg der Seele und der Sinne ins Land der Griechen doppelt erholend, fruchtbar und notwendig empfinden lassen mußte. Für den Sturm und Drang galt der Weg über das Urtümliche und Volkstümliche als der kürzeste Weg zum echten Leben und zur lebendigen Kunst. Eine Überzeugung, die von der jüngeren Romantik entsprechend abgewandelt, zuversichtlich teils und teils ein wenig krampfhaft wieder aufgegriffen werden sollte. Vor allem jedoch holten Sturm und Drang und Klassik zunächst einmal nach, was man so lange versäumt hatte trotz mancher bemerkenswerten früheren Ansätze: die Kunst selbst als ein Lebendiges zu deuten vom Kunstwollen her und das Kunstwerk als ein Lebensvolles zu umgreifen und zu bilden vom Kunstschaffen her. Daß dem Sturm und Drang mehr die Lebensvielfalt (echte Vielfalt und laute Größe) das Lebendige barg, daß ihm das lebendige Werden und Wachsen, das Urtümliche und Urwüchsige, das Volkstümliche und Bodenständige volles und reiches Leben zu verheißen und zu verbürgen schien, während der klassischen Kunstgesinnung die „Einfalt" und der „Einklang" (edle Einfalt

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und stille Größe), die beherrschte Größe und die reiche Stille als das eigentlich und wahrhaft Lebenshaltige die werthöchste Lebensdichte zu bergen und zu bieten schien, daß sie über das Urformenhafte und Urbildhafte zu einem Erfassen, Umfassen und Ausformen des lebendigen Wesens in und hinter den Dingen zu gelangen glaubte, daß ihr dieses so verstandene und gemeisterte Leben das wertvollere, weil wertbeständigere, ja das allein menschenwürdige, weil reine Menschlichkeit entbindende Leben war: alle diese Abwandlungen und Verbesonderungen im Kunstwollen ändern dennoch nichts an dem e i n h e i t l i c h e n G r u n d z u g zum L e b e n digen hin u n d d u r c h d a s L e b e n d i g e h i n d u r c h . In diesem Sinne erweisen sich scheinbare und teils auch ernst gemeinte Entgegensetzungen doch zuletzt wieder als abwandelnde Fortsetzungen. Für die Gesamt-Romantik stand hinter dem „Leben" zuletzt der Wertbezug auf das ewige Leben, der die Relativität des Lebenswertes sichtbar werden ließ. Die Aufklärung meinte gleichsam die Kunst ins Leben hineinbringen zu können, bevor sie das Leben (als Lebendiges, Wachstümliches) in die Kunst und das dichterische Kunstwerk hineingebracht hatte. Die kühle und teils noch recht frostige Pracht des „Witzes" verhüllte vielfach nur mühsam den inneren Zwist von Scharfgeistigkeit und Schöngeistigkeit. Selbst die federnde Spannkraft Lessings konnte die mangelnde Blutwärme nicht vollwertig ersetzen. Und dem Gemütvollen Gellerts fehlte die tiefere Quellkraft innerer Lebenserfülltheit. Immerhin hatte die Aufklärung bereits nach ihrem Vermögen und in ihren Grenzen das Bedürfnis nach einem irgendwie Lebendigen in der Kunst gespürt und geäußert. Aber zwischen Geist und Gemüt, zwischen Lessing und Geliert, vollends zwischen Verstand und Gemüt, zwischen Gottsched und Geliert, konnte kein einheitliches und künstlerisch triebkräftiges Lebensgefühl wachsen. Vereinfacht gesehen, war das ganze Ringen im dichterischen Kunstwollen der Klassik und der geniezeitgemäßen Vorklassik zuletzt darauf gerichtet, das Wunder des Lebens in der Kunst herbeizuzwingen, nicht durch kunsttechnische Zaubersprüche und „Kunstgriffe", sondern durch die lebenzeugende Schöpfungskraft (Geniezeit) und die lebenformende Bildungskraft (Klassik) im Kunstschaffen selbst. Es ging darum, an die Möglichkeit dieses natürlichen und doch göttlichen Wunders zu glauben und auch andere gläubig zu machen. Der „ästhetischen Erziehung" mußte gleichsam erst eine ästhe-

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tische Selbsterziehung vorausgehen, eine Erziehung zu jenem Glauben an den inneren Lebenswert der Kunst. In der Romantik fühlte sich die Kunst dann schon inneren Lebens so voll, indem teils religiöse, teils nationale und mythische Ströme erneut bereichernd zuflössen, daß sie das äußere Leben oder richtiger das innere Leben der äußeren Umwelt von sich aus „poetisch" zu machen sich vorsetzen und zutrauen konnte, ja daß die Kunst das Maß des Lebens und das Kunstwerk das Maß des Naturwerkes werden sollte. Die Vorstellung des „Poetischen" wurde dabei so weiträumig, wie die Vorstellung des „Ästhetischen" in der Klassik (und schon in der späteren Aufklärung) oder die Vorstellung des Genialen in der Geniezeit gewesen war. Grundkräfte des Sturmes und Dranges, so die erfrischende, gesundende Quellkraft des Volkstümlichen und des Volkstumeigenen, die der ganz in sich gesammelte Werkwille der Klassik, weil gerade er über die jugendliche Freude des Sturmes und Dranges an der volkstümlichen, „volksmäßigen" Vielfältigkeit und Vielfarbigkeit des Lebens hinaus- oder doch hinwegstrebte zur Dichte einer menschlichen Lebensmitte, nicht ausgewertet hatte, bewähren nun erneut ihre befruchtende Wirkung, besonders im Kunstwollen der jüngeren Romantik. Daß jedoch trotz mancherlei Bemühungen der Aufklärung der Sturm und Drang es war, der dem Totalitätsgefühl des Lebendigen auch in der Dichtkunst zum vollen Durchbruch verhalf, und zwar nicht nur zugunsten der Klassik und Romantik, sondern als dauernden Gewinn der dichterischen Kunstgesinnung bis zur Gegenwart hin, und daß er sich dazu ermächtigt und ermutigt fühlte durch den jugendlich tapferen Rückgriff auf das UrtümlichVolkstümliche, aber auch auf das Religiöse, verstärkt den auch sonst entwicklungsgeschichtlich und ideengeschichtlich zu beobachtenden Eindruck der fördernden Kraft, die von einer organischen Ineinsbildung des Nationalen und Religiösen, des Volksbewußtseins und des Gottesbewußtseins auf allgemein menschlicher Tragschicht auszugehen pflegt. Damit öffnet sich der Ausblick erneut auf die Romantik. Sieht man vom Kräftepaar des Nationalhistorischen und Kulturpatriotischen vorerst ab, so erscheint die Gesamtromantik vor allem beherrscht von einer Gruppe von Leitkräften, die man vielleicht am besten umschreiben kann als die Weite des Wunders und das Wunder der Weite. Sie stellen zugleich Grundwerte der

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Kunstauffassung dar und umspannen wohl auch das „Leben", aber nicht als letzten Wert. Sie anerkennen wohl auch das Bildende und Bedeutende, aber nicht als letzte Erfüllung. Von Wackenroder bis Eichendorff, von Tieck bis Z. Werner durchwaltet die Weite des Wunders und das Wunder der Weite das gesamte romantische Kunstwollen im Spiegel des romantischen Kunstwerks und damit also die gesamte werkimmanente Poetik. Demgemäß findet das Wunderbare eine Wertschätzung wie kaum jemals zuvor, wird doch die Darstellungsfähigkeit des Wunderbaren geradezu zum Merkmal und „Probierstein" der Genialität erhoben, erklärt doch selbst ein Außenseiter der Romantik, der im Spannungsfeld zwischen Empfindsamkeit, Klassik und Romantik seinen eigenen Weg sich bahnt, Jean Paul: „Alles wahre Wunderbare ist für sich poetisch". In der literarischen Programmatik und der Literaturphilosophie der Romantik stehen das Universale im Sinne Fr. Schlegels und das Universum im Sinne Schleiermachers in inniger Wechselwirkung. Und das Erfassen des Universalen strebt zum Ergreifen des Universums und zum Ergriffensein vom Universum. Nicht (oder doch nicht zunächst) das Umgreifen fremder Literaturen, wie es dem Wunder der Weite an sich wesenseigen ist, sondern diese Ausweitung in unendlicher Progression meint die „progressive Universalpoesie". Das In-Sich-Selbst-Vollendete der Klassik widerstreitet der Weite und Würde des Wunders, aber auch dem grenzenlosen Wunder der Weite, wobei Weite (zuvörderst geistigphantasiemäßig bezogen) doch auch die Fernsehnsucht und das Weitenweh einbezieht. Die starke P o l a r i t ä t im k u n s t p h i l o s o p h i s c h e n D e n k e n der Romantik führt nun zu Gruppierungen wie: das W u n d e r b a r e u n d das W u n d e r l i c h e , das B e w u ß t e u n d d a s U n b e w u ß t e (gesteigert zum Überbewußten und zum Unterbewußten), das Transzendentale und das Transzendente, P h a n t a s i e f r e i h e i t und B i n d u n g an die „ B e s o n n e n h e i t " , erklärte S y s t e m f e i n d s c h a f t und mehr oder minder uneingestandene S e h n s u c h t n a c h dem „ S y s t e m " . Was den letzten Punkt betrifft, so waren es kennzeichnenderweise Gegner der romantischen „Modemetaphysik" (wie Clodius oder Bouterwek), die ernstlich einem kunsttheoretischen System zustrebten. Das Bevorzugen von polaren Begriffspaaren wurde den Romantikern, und es geht vorerst um die Frühromantik, erleichtert durch das ermutigende Begleitbewußtsein, mit Hilfe der Identitätsvorstellung 2

M a r k w a r d t , Poetik II

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jene Polarität jederzeit überwinden und „aufheben" (oder wenigstens notdürftig überdecken) zu können. Erst aus Position und Opposition schien die geistig-theoretische Situation ihre hinreichende Belichtung und gültige Erprobung zu gewinnen. So auch wird verständlich, daß den Romantikern vieles von dem „Paradoxen ihrer Lehrart", das H. v. Kleist bedauerte, weit weniger verworren vorkommen konnte, als es dem späteren Betrachter anfangs erscheinen mag. Aber zugleich wird verständlich, daß und warum ihre dichterische Kunstanschauung als „ L i t e r a t u r p h i l o s o p h i e " gefaßt und bezeichnet wird und bezeichnet werden darf. Seit der Aufklärung erfolgte in der Frühromantik der stärkste und tiefste Einbruch der Philosophie in die poetische Theorie, und zwar vor allem als Einbruch der spekulativen Philosophie in die literaturphilosophische Spekulation (Fichte, Schelling). Die jüngere Romantik rückte in demselben Grade vom Primat der Philosophie ab, wie sie sich dem Sturm und Drang auf höherer Wende der Entwicklungsspirale näherte. Doch auch sie vermag trotz betonter Anstrengungen das ihr von der Frühromantik überkommene Erbe nicht einfach abzuschütteln, z. B. nicht in der S p r a c h p h i l o sophie, die allenthalben mit der Literaturphilosophie der Romantik eng verknüpft bleibt bei mancherlei, teils recht beträchtlichen Abstufungen, so etwa hinsichtlich der Ausgangsposition (Sprache schlechtweg als geistiger Funktionswert: ältere Romantik; Nationalsprache als historisch aufgefaßte Manifestation des Volksgeistes: jüngere Romantik). Wenn in der Aufklärung die Poesie von der Philosophie ihren Wert und ihre Würde zugesprochen erhalten und letzten Endes eine Hilfestellung eingenommen hatte (Vermittlung philos. Werte an philos. weniger Begabte), so glaubte die Literaturphilosophie der Romantik mit weitgehender Berechtigung den Anspruch erheben zu können, ihrerseits die Philosophie mit Hilfe der „produktiven Einbildungskraft" inspiriert zu haben. Sie war Vorbild-Poetik nicht allein für den Dichter, sondern auch für den Denker. Denn wo anders konnte etwa die unbewußte Selbsttätigkeit des „Bewußtseins überhaupt" (Fichte) ein reineres. Vorbild suchen und finden als im schaffenden Künstler und wiederum unter den Künstlern reiner ausgeprägt als in der geistigsten Kunst, der Poesie, die denn auch von Schelling, Solger, Clodius, Bouterwek u. a. eindeutig als die ranghöchste der Künste anerkannt wurde. Das galt umso mehr, als diese Poesie bereits in

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sich und für sich eine Steigerung als „Poesie der Poesie" im Sinne eines „Poetischen schlechtweg", aber auch der poetischen Reflexion und progressiven Potenzierung darstellte und von Universalität geleitet wie zum Universum hingeleitet wurde. Wenn trotz einer solchen stolzen Erhebung der Poesie bzw. ihrer Wesens- und Wert-Lehre, der Poetik, selbst noch über die Philosophie als höchstes Bewußtsein (und Selbstbewußtsein im doppelten Sinne) das Begleitgefühl einer gewissen Demut nicht zum Schweigen gebracht werden konnte, und zwar nicht erst von der jüngeren Romantik und der teils mystisch gestimmten Spätromantik (Zach. Werner), sondern auch schon von der Frühromantik (Wackenroder, Novalis): so erwies sich dabei die Weite des Wunders als die stärkere Grundkraft, die auch noch den Triumph der Philosophie und den Triumph über die Philosophie in sich bewahren, ihn aufzuheben und selbst noch diesen vermeintlich letzten Triumph als Scheintriumph aufzulösen vermochte. Kunstdünkel brach dergestalt (nicht nur durch die romantische Ironie) in Kunstdemut um. Und nicht nur, aber doch auch im scheinbar reinsten geistig-phantasiemäßigen Übermut der romantischen Ironie hatte diese Demut teil am Umbrechen der göttergleichen „produktiven" Wichtigkeit in das Gefühl einer eben doch nicht der göttlichen Schöpfungsgewalt ebenbürtigen menschlichen Nichtigkeit. Denn die romantische Ironie ruht nicht allein und nicht einmal zuletzt auf einem philosophischen Traggrund, sondern auch und zutiefst auf einem religiösen Untergrunde. Den Rahmen gab ihr die Philosophie des Transzendentalen. Aber die hindurchschimmernde Folie gab ihr das stete Bewußthalten des Transzendenten. Sie brach den Willen zum Werk (Klassik) nicht allein aus Furcht vor dem Nicht-Vollenden-Können, sondern auch aus Ehrfurcht vor dem Allein-Vollendeten. Und ihre Unendlichkeitsvorstellung ging unmerklich oft, aber zwangsläufig auf und über in die religiös gestimmte und bestimmte Ewigkeitsvorstellung. Denn „wo Sehnsucht ist, da ist auch Genie": das lehrte nicht nur Fr. Schlegel, das hofften sie alle zu leben, wie es im Spannungsraum zwischen Klassik und Romantik Hölderlin wirklich lebte, wirksam bewährte und formulierte. An sich wurde der Geniebegriff selbst im Bezirk des „magischen Idealismus" teils aufgefangen vom Phantasiebegriff, teils vom „Gemüts"-Begriff (Novalis), teils vom Geschmacks-Begriff, indem Genie als „produktiver Geschmack in seiner höchsten 2*

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Wirksamkeit" erschien (A.W. Schlegel). Die betonte Wertsenkung des „Geschmacks" durch den Sturm und Drang in Gegenwehr gegen die unermüdliche Geschmacksdebatte der Aufklärung und den Geschmackskultus des Rokoko, aber auch die klärende Trennung von Genie und Geschmack in der Theorie der Klassik hebt sich deutlich ab von der angedeuteten Einstellung der Frühromantik. Innerhalb der jüngeren Romantik verlagerte sich die Genievorstellung streckenweise zugunsten der Idealvorstellung von einem geheimnisvoll produktiven Volksgeist oder richtiger (und wörtlicher) vom produktiven Volks-,, Gemüt" (Jakob Grimm). Mit dieser Verlagerung (und Stellvertretung) ging eine erneut sich verstärkende Hochschätzung des Unbewußt-Unterbewußt-Unmittelbaren einher, so etwa bei H. v. Kleist als Kritik des reinen Gefühls, die sich bei Kleist besonders als werkimmanente Poetik gleichsam orientierte und als Gegenstück organisierte an Kants Kritik der reinen Vernunft. Aber schon für Görres' „ A p h o r i s m e n ü b e r die K u n s t " (1802), die etwa auch hinsichtlich der Bewertung der Philosophie im Übergang zwischen älterer und jüngerer Romantik stehen (mit überwiegender Ideenneigung zur Frühromantik), läßt sich die Poesie schlechthin als „Echo unsres Gemüts" umschreiben. Bei H. v. Kleist erreicht neben der Herausarbeitung des Dynamisch-Rhythmischen und der unmittelbaren Ausdrucksgewalt die Gefühls- und Gemüts-Bewertung ihre letzte Steigerungsform, während der andere große Außenseiter Jean Paul mehr die empfindsame Ausprägung des „Gemüts" herausbildet und daneben die gemütsmäßige Befreiung im Humor steigert bis zur Vorstellung des „umgekehrt Erhabenen". Dagegen hatte das Prinzip der Zweckfreiheit und Selbstzwecklichkeit der Kunst bereits in der Frühromantik mit der Manifestierung der romantischen Ironie als der „freiesten aller Lizenzen" (Fr. Schlegel) ihre Kulminationsstelle erreicht. Denn die r o m a n tische I r o n i e wird in ihrem Sinn und Sein erst ganz erfaßbar, wenn man sie nicht allein im noch so weit gespannten Rahmen der romantischen Literaturphilosophie und der Transzendentalphilosophie betrachtet, sondern im größeren Entwicklungsraume des Befreiungsvorgangs vom Zweckprinzip längst vor der Romantik (bes. seit dem Sturm und Drang). Die romantische Ironie demonstriert, so verstanden, gleichsam die Fragwürdigkeit nun auch noch des mühsam errungenen Selbstzweck-Ideals der Kunst und treibt dergestalt die Zweck-Losigkeit und die Zweck-Erlösung zur

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letzten Überspitzung einer Selbstaufhebung und Selbstauflösung. Die Kulmination des Autonomiegedankens erweist sich zugleich als Peripethie, indem fast nur noch der Ausweg bleibt, die Dichtkunst in den Dienst jener Übermacht des Göttlichen zu stellen, vor dessen Angesicht ihr stolzer Selbstwert (Klassik) seine innere Unzulänglichkeit enthüllte. Diese Folgerung hat dann in der Spätromantik Zacharias Werner auch programmatisch am sichtbarsten vollzogen. Und von diesem Entwicklungsstand aus fand in der Folgezeit die Zweckbindung und Zweckverbindlichkeit erneut günstige Gelegenheit, sich im Ringen mit dem nachwirkenden Autonomiegedanken vielfach erfolgreich durchzusetzen, vor allem in Form einer politischen Zweckverbindlichkeit. Die Mimesislehre, als Naturnachahmungstheorie eng verbunden mit dem Wahrscheinlichkeitsprinzip, ebenfalls seit langem in Frage gestellt (so z. B. durch die Auflockerer-Gruppe innerhalb der Aufklärung), erfährt ihre Entwertung und völlige Umwertung (bis zur Umkehrung) bereits in der Frühromantik durch A. W. Schlegel und durch Schelling. Dagegen unternimmt die Romantik einen Aufwertungsversuch des Allegorie-Begriffs (bis hin zu Solgers Typenbildung: allegorisch-symbolisch), jedoch unter Beibehaltung der hohen Wertung des Symbol-Begriffs. Und unter den ideelichen Kräftegruppen, deren gegenpolige Ausprägungsformen schon kurz berührt werden konnten, fordert neben dem Religiösen u n d Mystischen, dem N a t i o n a l h i s t o r i s c h e n u n d K u l t u r p a t r i o t i s c h e n (bes. jüngere Romantik), M ä r c h e n h a f t e n u n d T r a u m h a f t e n , der poetischen Reflexion und romantischen Ironie u.s.w. auch das Verhältnis von M y t h o l o g i e u n d S y m b o l i k eine entsprechende Hervorhebung. Gilt doch die Mythologie geradezu als eine „zweite Symbolik" (im Verhältnis zur ersten Symbolbildung im Medium der Sprache als der „dichtenden Symbolik"). Während die Begriffe oder bloßen Merk- und Kennwörter, die zeitweisen Lieblingswörter: Arabeske, Chaos u.a. gleichsam nur versuchsweise am Wege kunstphilosophischer Erkundung mitgenommen und nur vorübergehend und kaum systematisch oder ernstlich begrifflich erprobt werden, ähnlich wie etwa der „magische Idealismus" oder der „grenzenlose" Realismus, behauptet sich die F o r d e r u n g einer „neuen M y t h o l o g i e " und eines „mythologischen Fundaments" für die romantische Poesie, programmatisch von Fr. Schlegel erhoben in der „Rede über die

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Mythologie" innerhalb des „ G e s p r ä c h s ü b e r d i e P o e s i e " , wenngleich wohl im geistigen Austausch mit Schelling gewonnen oder doch geklärt, merklich als einer der theoretischen Leitsätze der Romantik, besonders der Frühromantik. Die Bemühungen des Sturmes und Dranges bzw. der Klopstockgruppe und der BardenTheorie werden dabei nicht aufgegriffen. Dagegen richtet sich der Blick bereits teilweise auf eine christliche Mythologie, ein Zug, der sich bei der jüngeren Romantik und der Spätromantik streckenweise verstärkt ausprägt. Nicht erst Zacharias Werner bildet ihn bis ins Extrem im Rahmen seiner „romantischen Religion" (Christentum) heraus und hinüber, schon Achim von Arnim erhofft von Creuzer ein Werk „über das Historische und Mythische der christlichen Religion", das die „Allgemeinheit der Welterlösung beweist und den Zusammenhang mit allen Hauptlehren aller Weltteile "(an Brentano, Okt. 1811). Aber während J. v. Görres eine Mythengeschichte schrieb (1810) und Creuzer ebenfalls in seiner Art historisch an das Problem heranging, wie von anderer Seite her dann gründlicher Jakob Grimm, lagen die Dinge bei Fr. Schlegel und seiner Forderung einer „neuen Mythologie" in der Frühromantik doch mehr so, daß bei aller Vielfalt der angegebenen Anregungs- und Anknüpfungsmöglichkeiten (bei vorgeformten Mythologien, ob nun in Griechenland oder im Orient, aber nicht im nordischen Bezirk) dennoch der Eindruck überwiegen muß, als ob hier eine künstliche Mythologie „erschaffen" und durch derartige Anlehnungen in ihrem erwünschten Zustandekommen eben nur beschleunigt werden sollte. Zwar diese Mythologie der Phantasie (gemäß dem Primat der geistigen Phanthasie i. d. Frühromantik) sollte aus der „Tiefe des Geistes" schöpfen, aber eben doch eine geistige Mythologie und so letzten Endes eine „Mythologie der Vernunft" werden, wie sie das sogenannte „Älteste Systemprogramm des Idealismus" für die Philosophie verlangt hatte. Dieser Glaube an die (von Schleiermacher angezweifelte) Möglichkeit der Erschaffung einer eigenen romantischen Mythologie erinnert wie mancher andere Zug (Glaube an den Nutzen der literaturhistorischen Erfahrung u. a.) daran, daß die Frühromantik auch von der Poetik her in weit stärkerem Grade als „ S c h u l e " gelten kann als etwa die Klassik oder selbst der Sturm und Drang. Dem entspricht das wesentliche Beteiligtsein von Literaturhistorikern bzw. Literaturkritikern wie Fr. Schlegel und A. W . Schlegel, deren Bedeutung für die Kunsttheorie der Frühromantik der ihres

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Vaters bzw. Oheims Joh. Adolf Schlegel bzw. Joh. Elias Schlegel für die Kunsttheorie der Auflockerer-Gruppe (innerhalb der Aufklärung) nicht so ganz unähnlich sein dürfte. Wie man denn diese anfangs vielleicht etwas gewagt erscheinende Parallele dahin ergänzen könnte, daß die allgemeine kunstphilosophische Stellung Schellings im Raum der Romantik annähernd vergleichbar erscheint mit der Stellung A. G. Baumgartens im Raum der Aufklärung (Auflockerer-Gruppe). Zwar würde sich etwa Fr. Schlegel mit jener verwandtschaftlichen Parallelsetzung kaum zufrieden geben. Aber wenn es ihm in jüngeren Jahren vorschwebte, ein zweiter Winckelmann oder ein zweiter Lessing zu werden, so verweist das in dieselbe Gesamtrichtung. Es liegt darin schwerlich ein unhebbarer Widerspruch zur romantischen Literaturphilosophie. Denn wie für den Denker die philosophische Reflexion, so galt ihr für den Dichter die „poetische Reflexion" durchaus als angemessen und wesensgemäß. In dem Grade jedoch, wie die romantische „Reflexion" mit ihren Spiegelungen, Brechungen und stetigen Potenzierungen wesentlich und wesenhaft von der aufklärerischen Reflexion abwich, unterscheidet sich auch z. B. das Mit-Absicht-Mythologie-Bilden Fr. Schlegels von dem bekannten „Mit-Absicht-Dichten" der Poetik Lessings. Der Erwerb des Sturmes und Dranges und der Klassik lag unverloren zwischen den beiden Stufen einer „bewußten" Lenkung des Kunstwollens durch das frühromantische Richtungs-Programm. Und rein weltanschaulich blieb die Klassik bei aller Würdigung der „Religion der Goethezeit" (Titel einer Schrift G. Krügers von 1931) denn doch der Aufklärung weit näher als die Romantik, und zwar auch als die Frühromantik mit ihrer schulebildenden Neigung und wohl auch Nötigung (nämlich angesichts der Machtstellung der Klassik). Der Weite des Wunders und dem Wunder der Weite, Kräften, die die Romantik beherrschten, bewegten und lebensvoll durchregten, würde im Unendlichkeitsdrange eine bloße, noch so großzügige Auflockerung auch auf einer erhöhten Entwicklungsstufe (also etwa in Form einer Auflockerung der Klassik) niemals Genüge getan haben. Eher schon schien sich die jüngere Romantik wenigstens vorübergehend mit einer Auflockerung oder Aufhöhung mancher Thesen des Sturmes und Dranges zufrieden geben zu wollen. Aber angesichts der bekannten Parallelen sollten die Abweichungen zwischen dem Kunstwollen der jüngeren Romantiker und dem der Stürmer und Dränger nicht übersehen werden.

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EINLEITUNG

Ganz abgesehen davon, daß z. B. der Sturm und Drang mehr nationalpolitisch, und zwar nationalrevolutionär, die jüngere Romantik mehr nationalhistorisch, und zwar national-konservativ eingestellt war, daß der Titanismus und die Forderung des „Kolossalischen", also die „laute Größe" des Sturmes und Dranges zum mindesten in der Kunsttheorie der jüngeren Romantik merklich zurücktritt, daß die inzwischen längst gegen rationalistische Übergriffe gesicherte Genievorstellung in den kunsttheoretischen Bekundungen der jüngeren Romantik bei weitem nicht die Vorrangstellung wie der Geniekultus der Geniezeit beansprucht: es gab auch Bereiche, wie etwa die von Gotth. Heinrich Schubert gleichsam auf den Hintergrund der Naturphilosophie Schellings projizierten „Nachtseiten der Naturwissenschaft" (1808), also halbgeklärte naturwissenschaftliche Neuerwerbungen wie den Galvanismus, tierischen Magnetismus, Somnambulismus usw., die nun zum „Gebrauch der mythischen Physik in der Poesie" (A.W. Schlegel) einluden und bis in die Schwäbische Romantik (etwa Justinus Kerners) hinüberwirkten. Und wenn auch gelegentlich auf Jung-Stillings „Theorie der Geisterkunde" von den Heidelberger Romantikern zurückgegriffen wurde (A. v. Arnim an Brentano, Okt. 1808), so ergaben sich hier mit vermeintlich neuen Einsichten auch für die Kunsttheorie und die werkimmanente Poetik neue Ansichten und Aussichten. Auf der anderen Seite fehlte der jüngeren Romantik eine so überragende Anregernatur, wie sie der Sturm und Drang im jungen Herder besessen hatte, der über die Poetik hinaus eine geniezeitgemäße Ästhetik (bes. in den „ K r i tischen Wäldern") anzustreben die K r a f t besaß. Denn weder J. v. Görres noch J. Grimm bedeuteten für die jüngere Romantik dasselbe wie Herder für den Sturm und Drang. Und Jean Pauls „Vorschule der Ästhetik" (1804) liegt zwar zeitlich ungefähr an der Schwelle der jüngeren Romantik, konnte und wollte jedoch, gemäß der Sonderstellung ihres Verfassers, wesenhaft keine reine Ausprägung jungromantischen Kunstwollens bringen. Dagegen begegnen bei Jean Paul, und zwar sowohl in seiner werkimmanenten Poetik als auch in seiner Vorreden-Poetik (z. B . zum „ Quintus Fixlein") bereits unverkennbare Ansätze zum Kunstwollen des literarischen Biedermeierstils, wie andererseits gewisse Vorformen des poetischen Realismus auch kunsttheoretisch bereits innerhalb der Romantik mit ihrem vielseitigen Ausschauhalten ins Blickfeld gerückt erscheinen.

Die Wirkungs-Poetik und Auflockerungs-Ästhetik der Aufklärung I. Grundlegung und Auflockerung der „kritischen" Poetik G r u n d l e g u n g im G o t t s c h e d i s c h e n R ä u m e Die Aufklärung zuerst und vor allem ist emsthaft an die Aufgabe herangegangen, die Anweisungs-Poetik zu ersetzen durch eine „kritische" Poetik. Sie hat darüber hinaus bereits versucht, aus der bloßen Poetik eine Art von Literaturphilosophie sich entfalten zu lassen, wie denn — schon rein entwicklungsgeschichtlich — aus der Poetik sich (bei A. G. Baumgarten nachweisbar) die Ästhetik herausgebildet hat (und nicht umgekehrt). Die Aufklärung zuerst und vor allem hat daran gewöhnt, die Kunst im größeren kulturellen Zusammenhange zu sehen. Es geschah dies zwar zunächst noch in der Weise, daß die Kunst sich der Philosophie unterzuordnen hatte. Aber eine bloße Unterordnung unter die Redekunst, wie sie die Frühaufklärung gebracht hatte, wurde immerhin frühzeitig überwunden. Jenes Einordnen in größere Bezirke erforderte allerdings von vornherein gewisse Abstriche von der künstlerischen Eigengeltung. Dennoch erfolgte diese Ein- und Zuordnung auf eine Art und Weise, daß späterhin beim Erstarken der Geltung des Künstlerischen schlechthin im Sinne einer Sondergeltung (Geniezeit, Klassik, Romantik) das Bewußtsein der B e z o g e n h e i t auf das Gesamt k u l t u r e l l e r L e i s t u n g e n nicht mehr von einem bloßen genialischen Stürmen und Drängen überrannt werden konnte. Die Aufklärung hat gelernt und gelehrt, die Kunst auch jenseits der Höfe und der Gelehrtenkreise zu sehen. Ging doch ihr Bildungsstreben nicht zum wenigsten dahin, einem geistigen „Stand" jenseits der Standesschranken der Geburt freie Bahn zu brechen. Sie suchte und sah diesen geistigen „Stand" in dem Bürgertum ihrer Tage als dem damals kraftvoll emporstrebenden Stand. Er war ihr indessen nicht Selbstzweck, sondern Mittel zum Zweck, indem er besonders geeignet und also berufen erschien, über den „geistigen" Stand hinweg jenen allgemein menschlichen Zustand

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kulturellen Fortschreitens herbeizuführen, der ihr letztes Ziel war. Geist und Gemüt (auch das Gemüt) wurden dabei als hochgeschätzte Werte ausgespielt gegen irgendwelche und irgendwie ständisch bedingte und begründete Vorrechte und die damit verbundenen Vorurteile. Geistesgaben und Menschenrechte standen in einem innigen Verbände miteinander. Als moralische Begrenzung der Menschenrechte ergab sich die Menschenwürde; als Entfaltungsform eine allgemeine „Erziehung des Menschengeschlechts" und als zugeordnete Voraussetzung jener Erziehungsoptimismus, der die Aufklärung im Gesamt ihrer Bestrebungen und Äußerungen ebenso kennzeichnet wie er sie auszeichnet. Schon von hier aus versteht man die hohe Bewertung aller moralischen und im weiteren Sinne sittlichen Kriterien innerhalb aller Strömungen und Unterströmungen der Aufklärung. Vollends mußte sich diese Rechtfertigung der Aufklärung vor der sittlichen Vernunft und damit gleichsam vor sich selbst noch verstärken aus dem Bewußtsein heraus, die Machtbereiche der Kirche und damit auch die Beiträge der Kirche zu einer wirksamen und gotteswürdigen Erziehung des Menschengeschlechts nicht unbeträchtlich eingeengt zu haben. Und dieses vielfach zurückgedrängte, aber dennoch gerade bei den bedeutenden Aufklärern stets wache Bewußtsein greift nun auch auf Fragen der Kunstbesinnung und Kunstgesinnung über. Die Aufklärung nämlich hat damit begonnen, der Dichtkunst wesentliche Teilwerte zu übertragen, und zwar allen Ernstes und mit voller Verantwortung zu übertragen (und sie ihr nicht nur behelfsmäßig aufzutragen wie z.T. das 17. Jahrhundert), die sonst weit überwiegend der Kirche vorbehalten gewesen waren. Lessings Beharren (gegenüber Mendelssohn) auf der Mitleidserregung innerhalb der Dramentheorie dürfte im letzten Grunde und Untergrunde zurückgehen auf ein solches Bestreben und nicht nur auf Aristoteles. Bis hin zu Schillers bekannter Rede von 1784 und darüber hinaus ist ein derartiger Ubertragungsvorgang spürbar. Die Aufklärung hat im Rahmen ihres Vermögens, das gewiß vielfach nicht ausreichte, und das zur Selbstüberschätzung neigte, um das Klare, Wahre und Gute gerungen mit wechselndem Erfolg, aber nicht ohne ehrliches und in seiner Art begeistertes Streben. Sie hat daran gewöhnt, über dem bloßen Formwert der Kunst das Wirken und Bewirken durch die Kunst nicht aus den Augen zu verlieren. Daß die Richtung

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des Bewirkens mehrfach in undichterische Bezirke abgeirrt ist, unterliegt keinem Zweifel. Grundsätzlich jedoch war wesentlich, daß man der Dichtung ein solches Bewirkenkönnen überhaupt zuerkannte, und zwar mit hoffnungsstarker Bezogenheit auf die Besserung der Menschheit durch Menschlichkeit. Der Blick auf die Wirkung und auf das von dieser Wirkung ausstrahlende Bewirken innerhalb der W i r k u n g s p o e t i k u n d W i r k u n g s ä s t h e t i k der d e u t s c h e n A u f k l ä r u n g gewöhnte den Kunstschaffenden daran, sich v e r a n t w o r t l i c h zu f ü h l e n f ü r die beim Kunstwert-Aufnehmenden h e r v o r g e r u f e n e W i r k u n g . Kunst war Dienst am Menschentum, war ein wesentlicher B e i t r a g zu einer E r z i e h u n g des M e n s c h e n g e s c h l e c h t s . Indem man die Einzelregel ausrichtete auf ein Gesetz und die Sonderregel diesem Gesetz zuordnete, nahm man den Organisationswillen in das K u n s t w o l l e n hinein. Die Gefahr lag darin, daß dieser Organisationswille im Mechanisieren und Systematisieren ein vorschnelles Genüge zu finden drohte, ohne vom Organisatorischen zum lebensvoll Organischen vorzudringen. Ein Vorteil aber wurde dennoch dadurch gewonnen, daß man vom O r g a n i s a t o r i s c h e n her sich a n eine G a n z h e i t - B e z o g e n h e i t g e w ö h n t e , die bei a l l e r G e g e n s ä t z l i c h k e i t von W i r k u n g s ä s t h e t i k u n d O r g a n i s m u s ä s t h e t i k doch den O r g a n i s m u s g e d a n k e n zum m i n d e s t e n von e i n e r S e i t e h e r v o r b e r e i t e t e . Ähnlich wie Lessing über sein eigenes Kunstschaffen aussagte, daß der kritische Kunstverstand ihm etwas geboten habe, was dem Genie sehr nahe kommt, so war der Aufklärung allgemein mit der Durchbildung des Organisationsvermögens etwas gegeben, was streckenweise dem Organismusgedanken der Geniezeit sich nähert. Der mehrfach erfolgende R ü c k g r i f f auf L e i b n i z auch im späteren Entwicklungsraum der Organismusästhetik erinnert daran, daß diese, wenn teils auch recht unzulänglichen Vorarbeiten doch in der Gesamtwirkung nicht zu unterschätzen sind. Indessen: der entscheidende Durchbruch konnte nicht erfolgen, solange die rationalistische Umklammerung bestehen blieb, obwohl vom E m p i r i s m u s u n d S e n s u a l i s m u s wie überhaupt von dem wachsenden B e m ü h e n um die P s y c h o l o g i e z.T. recht wirksame Auflockerungskräfte sich durchzusetzen vermochten. Eine der rationalistischen Hemmkräfte scheint sichtbar zu werden in dem, was man das F o r m p r i n z i p des W i t z e s genannt

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hat. Dieses Formprinzip des Witzes beherrscht indessen verhältnismäßig stärker das Kunstschaffen als das Kunstwollen und die Kunsttheorie. Und selbst das Kunstschaffen der Aufklärung folgt dem Formprinzip des Witzes schwerlich in dem von der Sonderforschung angenommenen Grade. Die Alleinherrschaft kommt ihm keineswegs zu. Das F o r m u n g s - u n d G e s t a l t u n g s p r i n z i p der O r d n u n g stellt einen starken Gegenspieler. Und der Kunstgriff der künstlichen Unordnung sucht aus der Not der latenten Spannung zwischen Witz und Ordnungssinn eine Tugend zu machen, indem er jene Spannung in eine Anspannung verwandelt. Die Ordnung wird dabei nicht eigentlich negiert, sondern gleichsam nur ins Negative umgesetzt; sie wird mit einem Minuszeichen versehen. Und wirkungsmäßig entsteht nicht zum wenigsten daraus für den modernen Leser der Eindruck des Frostigen bei der Aufnahme der „witzigen" Kunstgebilde. Der „ W i t z " erhält in Deutschland nicht einfach das Recht eingeräumt, die Ordnung zu sprengen. Ihm wird vielmehr die Aufgabe zuerteilt, d a s r e g e l m ä ß i g e A n o r d n e n zu b e l e b e n d u r c h ein k u n s t v o l l e s U m o r d n e n . Der Sinn- und Wirkungsbezug auf das Grundprinzip der Ordnung bleibt durchaus und durchweg erhalten und auch in den kunsttheoretischen Manifestationen überall und zwar o f t an e n t s c h e i d e n d e r S t e l l e nachweisbar. Es bleibt erhalten auch der Wertbezug auf die tragenden Grundkräfte des Ethischen. Man ist in der deutschen Poetik von vornherein nicht geneigt, den „Witz" als letzte Höhenform kultureller Lebensäußerung anzuerkennen. Gewiß begegnet man in dieser Hinsicht manchen Schwankungen der Stellungnahme. Und es ist nicht das Bestechende, Blendende, Belebende des „Witz"Begriffes allein, das Schwankungen im sicheren Besitzgefühl einer eigenen Geistigkeit hervorruft. Es ist vielmehr gerade auch der durch Anzweifelung der Möglichkeit eines deutschen „bei esprit" (Bouhours bis Mauvillon) herausgeforderte Wettbewerb mit dem Auslande, der jene Bedenken des deutschen sittlichen Ernstes zeitweise überrennt oder doch im Eifer des Gefechts beiseitedrückt. A b e r f r ü h z e i t i g und d a n n i m m e r w i e d e r r e g e n sich G e g e n k r ä f t e der S e l b s t b e s i n n u n g ; Mißtrauen f l a c k e r t auf, Mahnungen werden wach und begrenzen die W e r t g e l t u n g des „ W i t z e s " . Man würde der deutschen Ausprägung der Aufklärung nicht gerecht werden, wenn man behaupten wollte, daß sie sich vorbehaltlos und bedingungslos

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dem rationalistisch Bestechenden des westlichen „Witzes" preisgegeben hätte. Sie hatte sich vielmehr trotz breitwelliger Überflutung mit der westeuropäischen Aufklärung ein Stück Eigenart wie eine haltbietende Insel gewahrt, auf der sich gerade die Besten neue Kraft der Besinnung holten und den Mut selbst zum aktiven Widerstande. Dem Willen zum Wertmehren im Wettbewerb mit dem Auslande ersteht ein innerer Gegenspieler im Willen zum Wertbewahren. Nicht so zwar, daß der eine Wille den anderen aufgehoben hätte, aber doch so, daß der eine Wille dem anderen Grenzen setzte. Dadurch verlangsamte sich die Hast des Fortschreitens. Aber der Schritt wurde sicherer und zuversichtlicher, als er im Barock gewesen war. Die Kritik band Kräfte, aber verdichtete auch die wertvollen. Die Sichtung führte zu einer Sammlung. Und die Überprüfung der Tragfähigkeit des Kunstwollens erwies sich als so gründlich, daß die Tragschicht sehr bald kühne Belastungsproben — etwa durch die Geniebewegung — aushalten und darüber hinaus m a n c h e n S t ü t z p u n k t f ü r die K l a s s i k bieten konnte, wenigstens auf kunsttheoretischem Gebiet. Der Versuch der Aufklärung, die p h i l o s o p h i s c h e T r a g s c h i c h t breit zu unterbauen, nahm die Dichtkunst und ihre Poetik aus dem Bezirk gepflegter Geselligkeit heraus und stellte sie bewußter hinein in die Wertgruppen weltanschaulicher Haltung und sittlicher Erziehung. Die moralpädagogische Funktion, im Einzelnen längst erstrebt, wurde planmäßiger gefordert und erprobt. Die Aufklärung sah in der Dichtkunst wie den Künsten schlechtweg letztlich nur ein Glied, obgleich der Pflege würdiges Glied im Gesamt ihrer weltanschaulichen Bestrebungen. Sie w o l l t e in i h r e r A r t eine G e s i n n u n g s d i c h t u n g . Sie mußte sie wollen, weil angesichts der Lockerung kirchlicher Lehren und in gewissem Grade auch allgemein christlicher Lehren Ausgleichswerte oder Ergänzungswerte erforderlich wurden, die in der T u g e n d - u n d V o l l k o m m e n h e i t s l e h r e der E t h i k sich verdichteten, aber auch die Ästhetik und Poetik in ihrer prinzipiellen Ausrichtung wesentlich mitbestimmten. Wenn aber selbst die Religion sich eine Überprüfung vor der Vernunft und durch die Vernunft „gefallen lassen" mußte, so fühlte man sich vollends berechtigt, die Dichtkunst und den Geschmack und das Genie vor die R i c h t e r s c h r a n k e n der V e r n u n f t zu rufen und sie von dort aus zu richten; aber auch zu retten und zu werten.

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Denn schon der Umstand, d a ß man überhaupt von der Philosophie her sich mit der Dichtung befaßte, mußte für die Aufklärung als ein Zuwachs an dichterischem Ansehen aufgefaßt werden. Der E r z i e h u n g s o p t i m i s m u s der A u f k l ä r u n g hofft zuversichtlich, durch Dichtung moralisch erziehen zu können, mit anderen Mitteln wie die Tugendlehre, aber mit letztlich gleichem Ziel. Es geht nicht mehr um eine Rechtfertigung der nützlichen Dichtung, um überhaupt ihr Daseinsrecht zu erweisen — wie teils in der Barockpoetik —, sondern es steht der Glaube an eine B i l d u n g s m ö g l i c h k e i t der G e s i n n u n g d u r c h die D i c h t u n g dahinter. Es geht nicht mehr im ersten Betracht darum, daß die Poesie Gott dienen soll; sondern es geht vor allem darum, daß sie an ihrem bescheidenen Teil dem Menschen d i e n e n soll, m e n s c h e n w ü r d i g zu werden. M e n s c h e n w ü r d i g k e i t s t e h t d a b e i f ü r die A u f k l ä r u n g h o c h ü b e r V o l k s w ü r d i g k e i t u n d K u n s t W e r t i g k e i t , die sich erst schrittweise verstärkte Geltung verschaffen. Doch wird mehrfach der W e c h s e l b e z u g von V o l k s w ü r d i g k e i t u n d M e n s c h e n w ü r d i g k e i t erkannt, so etwa bei Abbt, Moser, Sulzer, Garve, Blankenburg u. a. Der H u m a n i t ä t s i d e e der K l a s s i k wird von dieser Seite her in gewissem Grade vorgearbeitet. Bedeutete die Einbeziehung der Dichtung in die philosophischen Bestrebungen eine Hebung des Ansehens, so darf doch nicht verkannt werden, daß in der R a n g s t u f u n g die Dichtung hinter der Philosophie zurückzustehen hat. Und man ertappt nicht selten einen Aufklärer bei dem Hintergedanken, daß die Dichtkunst eine Art von H i l f s l e h r e r i n f ü r M i n d e r b e g a b t e abzugeben hat, die dort einspringen darf und muß, wo der reine philosophische Sinn nicht ausreicht. Wo selbst die Popularphilosophie nicht mehr begriffen wurde, konnte nur noch anschauliche Dichtung helfen. Das ist die K e h r s e i t e des V e r h ä l t n i s s e s von P h i l o s o p h i e u n d D i c h t u n g innerhalb der Aufklärung. Obgleich nicht voll so breit wie im Barock der Wertabstand von Religion und Dichtung klafft, besteht doch auch für die Aufklärung ein unverkennbarer Wertabstand von Philosophie und Dichtung. Der A b s t a n d des a u f k l ä r e r i s c h e n S t i l w o l l e n s im k ü n s t l e r i s c h e n S i n n e von der b a r o c k e n D a r s t e l l u n g s weise wird selbst in Fällen innegehalten, in denen bereits frühaufklärerische Beimischung die barocke Grundfärbung abgeschwächt hatte. Wenn z. B. die Greifswalder „ C r i t i s c h e n V e r -

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s u c h e " (1742) in einer längeren Rezension, die allerdings im wesentlichen nur einen Auszug bietet und bieten will, die „ B r e s l a u e r A n l e i t u n g " von 1725 anerkennend aus der Reihe anderer Poetiken hervorhoben, so vergißt der Rezensent doch nicht den Trennungsstrich dort zu ziehen, wo spätbarockes Formwollen ihm begegnet, und zwar kennzeichnenderweise im Bereiche des M e t a p h o r i s c h e n . Es bestätigt sich zugleich, daß der aufklärerische Kritiker nicht mehr das Wertungsmerkmal des „Natürlichen" erfüllt sieht, während dem spätbarocken Poetiker der „Breslauer Anleitung" die kühne Metapher ganz „natürlich" vorkam. Die R e l a t i v i t ä t d e s N a t ü r l i c h k e i t s b e g r i f f e s wird wieder einmal greifbar. Die Wandlung des Kunstwollens und Kunstforderns führt notwendig zu einem kritischen Einwand, den die „Breslauer Anleitung" von ihrem Standort aus schwerlich anerkennen könnte, vielleicht auch gar nicht verstehen würde: „Wir können in diesem Ausdruck zum wenigsten das Natürliche(!) mit aller Mühe nicht finden, dessen Beobachtung doch der Verfasser (d. Bresl. Anltg.) so nachdrücklich in dem vorigen eingeschärfet hat". Ganz entsprechend weicht der aufklärerische Rezensent dort von der Meinung der Breslauer Poetik ab, wo es um den Unterschied von Redekunst und Dichtkunst geht. Die starke A n n ä h e r u n g v o n R h e t o r i k u n d P o e s i e i n n e r h a l b der A u f k l ä r u n g will nicht zugeben, daß die Barockpoetik eine betonte Abweichung der Dichtkunst von der Redekunst erwartet. Rückblickend ist bemerkenswert, daß der überdurchschnittliche Wert der „Breslauer Anleitung" noch etwa zwei Jahrzehnte nach ihrem Erscheinen klar erkannt wird trotz jener Wandlung im allgemeinen Kunstwollen. Fordert im Rückblicken auf das Barock die Einstellung zur Metapher besondere Aufmerksamkeit, so wird im Vorausblicken auf den Sturm und Drang die Stellung zum Genie sich als aufschlußreich erweisen. Die Kunsttheorie der Aufklärer und Auflockerer hat w e i t l ä u f i g e E r ö r t e r u n g e n ü b e r d a s G e n i e angestellt. Sie hat wohl zahlreichere Definitionen (der Ton liegt auf Definitionen) des Geniebegriffes gebracht als die Geniezeit selbst. In ihren am weitesten zum Sturm und Drang vorgeschobenen Positionen hat sie auch bereits rein erkenntnismäßig das „echte" Genie zu erläutern und zu umschreiben versucht. A b e r sie h a t d a s G e n i e n i c h t e r l e b t . Als Beobachter der Seelenvorgänge

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interessierte man sich lebhaft für das Genie. Als jedoch eine junge Generation das Geniale zum Erlebnis machte, da wurde man stutzig. Nicolai oder Garve, Lessing oder Sulzer: sie alle schrecken zurück vor dem E r l e b n i s des Genialen. Auch Lessing; denn die Versuche, die Umbiegung seiner Genievorstellung in der Spätzeit anders zu deuten, können nicht wirklich überzeugen. Man widerrief lieber seine eigenen theoretischen Erkenntnisse, als daß man dieses wild sich gebärdende Erlebnis der Geniezeit gutheißen wollte. Es war nicht einfach nur die Mißgunst am Werke und das Mißverstehen. Man war ehrlich besorgt, einen k u n s t r e i c h a u f g e b a u t e n M e c h a n i s m u s , der es f a s t bis zur V o r t ä u s c h u n g des O r g a n i s m u s g e b r a c h t h a t t e , mutwillig zerstört zu sehen. Es war zu wenig „Kunst" dabei. Wenn man von „Leichtigkeit" beim Schaffen gesprochen hatte (besonders im Sonderbereich des Rokoko), so meinte man doch nur eine scheinbare Leichtigkeit. Das vorsichtige Wort des Vorbehaltes „scheinen" spielt eine bedeutende, noch viel zu wenig beachtete, ja oft geflissentlich übersehene Rolle in den kunsttheoretischen Deutungen und Definitionen der Aufklärer und Auflockerer. Dieses „ s c h e i n e n " s i c h e r t h ä u f i g die R ü c k z u g s l i n i e auf die h a l t g e b e n d e S t e l l u n g der V e r n u n f t . Abgesehen von den weit vorgeschobenen Erkundungen, die teils auch schon rein z e i t l i c h den Vorstößen des Sturmes und Dranges e r s t n a c h g e f o l g t sind (was gerade in Sonderarbeiten immer wieder übersehen wird), ergibt sich im Durchschnitt etwa folgende Einstellung. Das Genie wird von den meisten Aufklärern vom Talent kaum wesenhaft, sondern vorwiegend graduell unterschieden. Es wird als eine Kombination von Fähigkeiten und psychologisch erklärbaren Teilkräften gesehen. Einzelne greifen darüber hinaus (so gelegentlich Lessing und Mendelssohn). Und nachdem sich die Zuflüsse aus der Ingenium-Vorstellung und der Genius-Vorstellung einigermaßen zusammengefunden haben, verdrängt schon innerhalb der Kunsttheorie der Auflockerergruppe das „Genie" rangmäßig sowohl den „Witz" als auch den „großen Kopf" oder den „großen Geist". Dabei steht das besonders seit Geliert recht verbreitete Wort „Genie" vorerst noch oft genug einfach für „Geist", teils auch für „Wesen". So bezeichnet z. B. die Zusammensetzung „Nationalgenie" nicht etwa die schöpferische Inkarnation einer Volkskraft, sondern steht einfach für Nationalgeist. Ähnlich steht es mit dem „Genie der Sprache"

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für Sprachgeist, Wesen der Sprache usw. Häufig genug verraten beigefügte Attribute, die dem Geniebegriff des Sturmes und Dranges kaum sinnvoll zuzuordnen wären, daß man zwar „Genie" sagte, aber Talent meinte. So spricht man vom kleinen, mittelmäßigen (usw.) Genie. Dagegen läßt sich das Abstufungsmittel, daß man in der Aufklärung immer nur von „Genie-Haben" gesprochen habe, in der Geniezeit dagegen von „Genie-Sein", nicht so unbedingt als verläßlich durchhalten. Denn vereinzelt kennt auch schon die Kunsttheorie der Aufklärung das „Genie-Sein", so etwa bei Resewitz. Das s t ä n d i g e Vergleichen des Geniebegriffes der A u f k l ä r u n g mit dem Geniebegriff des Sturmes und Dranges übersieht leicht, daß auch der Geniebegriff der Klassik vom Geniebegriff des S t u r m e s und Dranges abweicht, ganz abgesehen davon, daß bei Sonderforschungen oft die Vorfrage ungeklärt bleibt, ob denn der Geniebegriff der Gegenwart völlig dem Geniebegriff des Sturmes und Dranges entspricht, ob denn der Geniebegriff der Geniezeit noch heute als restlos verbindlich gelten kann. Von hier aus gesehen, wird manche Schwäche der Genievorstellung der Aufklärung und manches Bedenken gegenüber dem Sturm und Drang seitens der Aufklärung verständlicher erscheinen. Der Geniebegriff des ä l t e r e n Lessing s t e h t gar nicht so weit ab vom Geniebegriff der Klassik; ähnliches gilt für Wieland. Das Aushilfswort Vorklassiker würde so einen gewissen Sinn erhalten. Selbst das Streben zum Gesetzlichen hin wirkt vorklassisch; ebenso der Sinn für Ordnung und Anordnung. Der Weg von der Regel zum Gesetz, den die Aufklärung bewußt einschlägt, sucht von der Vielfalt der Einzelvorschriften, die in der Barockpoetik vorherrscht, zur Einheit und in gewissem Sinne auch zu einer Einfalt der einfachen, alles klärenden Formel zu gelangen. Vorerst aber bietet das Gesetz (das eine beherrschende Prinzip) noch der alten Regelfülle willig Spielraum und Lebensraum, wenn nur diese Regelreihe sich von der Reichweite des Gesetzes notdürftig umspannen läßt. So etwa ist die Situation noch bei Gottsched. Die Regel behält im Rahmen des Gesetzes (Naturnachahmung, bzw. Wahrscheinlichkeit) fast völlig ihr altes Gewicht und ihren alten Wert. Ja, sie erfährt jetzt in gewisser Weise als Teilglied eines mehr oder minder durchgebildeten Systems (oder Schein-Systems) z.T. noch einen entsprechenden 3

M a r k w a r d t , Poetik II

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Geltungszuwachs. D e r V e r b a n d , in dem j e t z t die R e g e l s t e h t , w i r k t v o r e r s t f e s t i g e n d und w e r t s t e i g e r n d auf j e d e E i n z e l r e g e l z u r ü c k . Jede kleine Regel erhält ihr kleines philosophisches Glanzlicht vom vermeintlich aufhellenden Systemwillen aufgesteckt. Von dieser Seite her gesehen, wächst ihr Anspruch und ihr Ansehen. Nur die nicht dem Ganzen des Gesetzes zugeordnete Regel, nur die „wilde" Regel, die gleichsam nicht organisierte, nicht systematisch eingeordnete Regel, verliert vorerst. So ist es verständlich, wenn trotz der Regelreihung im Barock dennoch der Eindruck überwiegt, daß im Entfaltungsraum der Aufklärung die E i n z e l - R e g e l u n t e r d e m S c h u t z des Ges e t z e s erst vollends ihre Herrschaft ausbreitet. So auch ist es verständlich, daß der Sturm und Drang den vom Gesetz ausgehenden Regelzwang der Aufklärung als einen seiner Hauptgegner befehden zu müssen glaubte. Seine Kampftaktik holt gleichsam die Regel unter dem Schutz des Gesetzes heraus, durchbricht jene Gesetzesdeckung. Und er findet den Mut dazu, weil für ihn das Wirkungsgesetz der Aufklärung keine Bannkraft mehr besitzt. Er überwindet das Wirkungsgesetz vom Schöpfungsgesetz her. Der Satz allgemein orientierender Art: an die Stelle der Regel tritt das Gesetz, kann also nur annähernd die veränderte Situation in der Aufklärung umschreiben. Dem näheren Zuschauen stellt sich das Verhältnis etwa so dar: an die S t e l l e d e r N e b e n o r d n u n g i n n e r h a l b der R e g e l r e i h e t r i t t die U n t e r o r d n u n g der R e g e l u n t e r ein G e s e t z . Das Gesetz löst die Regel nicht in dem Sinne ab, daß es sie schlechtweg verdrängt, sondern es löst die alten Regelreihen auf, um sie neuartig zu ordnen, anzuordnen, zuzuordnen und unterzuordnen. In gewisser Weise leitet sich also auch das philosophische Unterbauen und Ausbauen der Poetik her aus der b e h e r r s c h e n d e n G r u n d k r a f t des O r d n u n g s - u n d A n o r d n u n g s s t r e b e n s . Und selbst noch die scheinbaren und streckenweise auch wirklich erfolgenden Regellockerungen finden ihre Entsprechung in dem Formungsprinzip der künstlichen Unordnung im Sinne einer belebenden Auflockerung im Kunstschaffen. Immerhin wird an dieser Stelle eine A u s w e i t u n g s - u n d V e r t i e f u n g s m ö g l i c h k e i t d e r A u f k l ä r u n g s p o e t i k sichtbar. Es ist aber auch zugleich eine der Stellen, wo die Aufklärungspoetik im engeren Verstände bereits übergeht und eingeht in die Wirkungsästhetik der Auflockererepoche. Die Auflockererepoche stellt teils darüber hinaus

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schon die kritische Frage, ob denn überhaupt das abstrakt verdünnte Gesetz dem schaffenden Künstler im Sinne einer angewandten Poetik irgend etwas nützen könne. So endet der zuversichtlich begonnene und eifrig durchgeführte Kampf um allgemeingültige Kunstgesetze mit dem Z w e i f e l an dem t i e f e r e n S i n n d i e s e s K a m p f e s u n d der B r a u c h b a r k e i t und N u t z b a r k e i t s e i n e r v e r m e i n t l i c h e n E r o b e r u n g e n . Derartige Gesetze waren letztlich für den „Kunstrichter", den Kritiker fruchtbarer als für den Kunstschaffenden, den Dichter. Insofern endet die „kritische" Poetik damit, den Kritikern mehr zu bieten als den Dichtem, obgleich das Attribut „Kritisch" anders gemeint war. Vorerst jedoch gewannen einige Gesetze besondere Geltung und fesselten mit den Fragestellungen, die sie klären möchten, merklich die Aufmerksamkeit der führenden Kunsttheoretiker. So etwa das G e s e t z der W a h r s c h e i n l i c h k e i t , das seine Umgrenzung durch Gottsched (und Batteux), seine auflockernde Ausweitung durch die S c h w e i z e r bzw. durch J. E. S c h l e g e l und J. A. S c h l e g e l erfährt. Seine Macht greift selbst in den Bezirk der Erörterungen über das Wunderbare unverkennbar und zugestandenermaßen hinüber. Die Abhandlung „Über das Wunderbare" trägt (schon im Untertitel) das „Verhältnis zur Wahrscheinlichkeit" betont heran als zeitgemäßen Wert. Einen bemerkenswerten Vorstoß, der die Standfestigkeit des Gesetzes schlechtweg in Frage stellte, wagte in kritischen Auseinandersetzungen mit Gottsched und den Schweizern schon 1744 von Danzig her B r ä m e r s wenig beachtete Poetik. Bereits früheren Jahrhunderten als Regel vertraut, gewinnt die Wahrscheinlichkeitsforderung doch erst jetzt Gesetzeskraft, die in kämpferischen Auseinandersetzungen ihre Reichweite erprobt und ihre Grenzen ermißt. Sie begleitet auch das Kunstwollen des achtzehnten und neunzehnten Jahrhunderts und der Gegenwart, bald strenger, bald milder im Führen und Fordern. Aber ihren entscheidenden Durchbruch vollzog sie im Entwicklungsraume der Aufklärung. Ihre streckenweise Einkleidung als Naturnachahmungs-Forderung verwirrt und verhüllt mehr die kunsttheoretischen Grundbestände, die am klarsten im W a h r s c h e i n l i c h k e i t s g e s e t z greifbar werden. Das von L e s s i n g aus dem Wesen und Wirken der Darstellungsmittel abgeleitete G e s e t z der „ H a n d l u n g " , aus dem „Laokoon" und den „Laokoon"-Entwürfen bekannt (den an sich weiterreichenden Handlungsbegriff der Fabelabhandlung scheidet man 3*

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vorerst besser aus), erwächst aus der Zeichenlehre und den sprachphilosophischen Ansätzen der Aufklärung und wird in seiner rationalistischen Fassung vom H e r d e r der „Kritischen Wälder" bekämpft oder doch gedämpft. Es erfährt seine Umgrenzung durch Lessing, der nicht alles darüber ausgesagt hat, was ihm vorschwebte, seine vertiefende Umdeutung mechanischer Bewegung zu organischer Belebung und Dynamik durch Herder („Energie"- und ,,Kraft"-Begriff), kritische Ergänzungen durch G a r v e . Es ragt also in seiner Auswirkung bereits in die Geniezeit hinüber. Daß jedoch der Herdersche Ausweitungs- und Vertiefungsvorgang dieses ursprünglich aus der aufklärerischen Kunstanschauung erwachsenen Gesetzes auch noch einem Aufklärer zugänglich und verständlich sein konnte und in der Tat war, davon zeugt Garves wenig bekannte umfangreiche Rezension der „Kritischen Wälder". Garve, dessen „Laokoon"-Kritik in diesen Zusammenhang sich fügt und dessen Abhandlungen über das Interessierende gewisse Vorarbeiten für den Stürmer und Dränger Lenz und selbst Schiller leisten, verdient (zugleich als Träger kulturpatriotischer Ansätze) im Kunstwollen der Aufklärung eine verstärkte Beachtung. Beide Gesetze: das der Wahrscheinlichkeit (von Gottsched 1730 aufgestellt) und das der Handlung (von Lessing 1766 abgeleitet) kennzeichnen sich trotz einiger Einräumungen durch eine gewisse Starrheit, hinter der das verstandesmäßige Selbstbewußtsein der Aufklärung versteifend steht, aber auch, im weiteren Zusammenhange gesehen, eine gewisse Jugendlichkeit im Aufstellen von Kunstgesetzen überhaupt. U n d so e r l e b e n b e i d e G e s e t z e s c h o n ein J a h r z e h n t n a c h i h r e m E r l a s s e n w o r d e n s e i n ihre kritische Ü b e r p r ü f u n g , A b s c h w ä c h u n g und A b w a n d l u n g . Der Abstand eines knappen Menschenalters, der zwischen beiden Gesetzeserlassen stand, reichte aber bereits aus, um eine Verschiebung vom Wirkungsgesetz zum Schöpfungsgesetz oder doch zur Vorbereitung eines Schöpfungsgesetzes erkennen zu lassen. Das bedeutet, daß der „Laokoon" nicht nur seiner Erscheinungszeit nach, sondern auch seinem Wesen und Wollen nach der Geniezeit weit mehr angenähert ist als Gottscheds „Kritische Dichtkunst". Der Blick für das und auf das D a r s t e l l u n g s m a t e r i a l der D i c h t k u n s t hatte an forschender Schärfe gegenüber der Barockpoetik und der Wortkunsttheorie der Frühaufklärung wesentlich

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zugenommen. Er hatte sich bei B a u m g a r t e n verbunden mit dem Willen, systematisch zu klären, welche Arten von Vorstellungen sich am wirksamsten und geeignetsten dem dichterischen Kunstwollen darbieten würden, wenn man zunächst auf Leibniz-WolffscherTragschicht, wiewohl im eignen Stile, weiterbaute. Als Ertrag dieser Bemühungen, die in den „Meditationes" und der „Aesthetica" greifbar werden, ergab sich ein weiteres Gesetz, das Grundgesetz von den sensitiven Vorstellungen als den vorzüglich poetisch w e r t h a l t i g e n Vorstellungen. Dieses Gesetz der sensitiven Vorstellungen und der extensiven K l a r h e i t blieb indessen um einige Grade enger mit der Wirkungsästhetik der Aufklärung verbunden als Lessings Handlungsgesetz. Es war an sich umfassender gedacht, vermochte jedoch dem Schaffenden weniger unmittelbar Auswertbares zu bieten als Lessings Handlungsgesetz. Baumgarten überprüfte bereits mit seinen philosophischen Mitteln und auf eine strenger systematisierende Weise die G e s t a l t u n g s w e r t e der Poesie. Und indem er die Dichtlehre tiefer als Gottsched u. a. in die Zeitphilosophie hineinstellte, hob er ihre philosophische Würde trotz aller Teileinschränkungen dennoch auf eine neuartige Rangstufe der Geltung empor. Sein Gesetz an sich aber und seine Prägung von der „vollkommenen sinnlichen Rede" wurden — ähnlich jenen anderen Gesetzen der Aufklärungsepoche — erst recht eigentlich fruchtbar, als man ihnen die Starre des Paragraphenwerks nahm und sie — besonders in der Geniezeit — lebensvoller ausdeutete, ohne sich ängstlich an das eigentliche Meinen des Begründers der deutschen Ästhetik zu binden. Wie stark immerhin der Eindruck einer straffen Gesetzgebung und einer verdichtenden Zusammenballung der leidigen Regelreihung vergangener Epochen sich noch der Generation des Sturmes und Dranges mitteilte, bestätigt des jungen Herders Bewunderung angesichts des (Baumgartenschen) Vermögens, das ganze Wesen der Dichtkunst in einer Formel von drei Worten (oratio sensitiva perfecta) vermittelt zu sehen. Und doch wird zugleich erkennbar, wie die erste F r e u d e am F i n d e n ü b e r g e o r d n e t e r Bestimmungen diese Bestimmungen allzugern zu letzten Bestimmtheiten und unabdingbaren Notwendigkeiten hinaufschraubte in eine dünne Schicht a b s t r a k t e r Schlüsse, die erst nachträglich wieder durch Auflockerung und Ausweitung zu Anschlüssen an dieLebenswirklichkeit und an die Schaffenswirklichkeit abgewandelt werden konnten.

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Es ist nicht die geringste Leistung Lessings, derartige „Schlüsse" (Baumgartens, Meiers, Mendelssohns u. a.) zum Anschlußfinden an das Kunstschaffen verlebendigt und gleichsam gebrauchsfertig gemacht zu haben. Nicht zwar im Sinne eines Rückfalles in die Anweisungspoetik, wohl aber im Sinne einer s c h a f f e n s n a h e n A n r e g u n g s p o e t i k . Und wie Gottsched und die Schweizer im Ringen um eine „kritische Poetik", wie Baumgarten, Meier, Mendelssohn und Sulzer im Ringen um eine „philosophische Ästhetik" in entscheidende Zentralstellungen gerückt erscheinen, so hat fraglos Lessing — und neben ihm vielleicht noch Garve — das Ringen um eine Anwendung des Gesetzes auf das Kunstschaffen im Sinne einer „angewandten Poetik" durchstehen müssen. L e i t m o t i v a b e r b l e i b t in allen d r e i E n t f a l t u n g s s c h i c h t e n a u f k l ä r e r i s c h e n K u n s t w o l l e n s d a s B e m ü h e n um v e r l ä ß l i c h e u n d a l l g e m e i n v e r b i n d l i c h e Gesetze. Und es bewegt sich bei allen Abwandlungen zuletzt doch immer im Raum und in der Richtung der Wirkungspoetik und Wirkungsästhetik. Eine machtvoll aus den kunsttheoretischen Triebkräften der europäischen Aufklärung sich erhebende Gewalt schien jedoch dem Ordnungswillen des Gesetzesdranges wirksam widerstehen zu können: der vielberufene „ G e s c h m a c k " . Das U n a b w ä g b a r e des G e s c h m a c k s u r t e i l s drohte die Sprengkraft zu werden, die alle Bemühungen um klar zu berechnende künstlerische Wirkungen von innen her zerstörte. Zum mindesten galt das für die aufklärerische Poetik in Deutschland, die noch nicht auf dem festen Boden einer Klassik fußen konnte und hinter sich nur die Barockpoetik wußte, die eher störend als fördernd empfunden wurde, und die Wortkunsttheorie der Frühaufklärung, die vielfach mehr stilkundlichen und lebenskundlichen Ansätze der „galantkuriösen, politisch-politen" Übergangsepoche, als die sich kunsttheoretisch (nach den vier hauptsächlichen Stichwörtern der Zeit selbst) jene mannigfach in sich gebrochene Vorwelle kennzeichnet. Und der „Geschmack" war noch gefährlicher als der „Witz". Er zeigte das, als er dann im deutschen dichterischen Rokoko ein Teilbündnis mit dem „Witz" einging in der Ausprägung des „Scherzhaften" und „Gefälligen", als etwa J. Riedel den Satz aufstellte: schön ist, was gefällt. Das „je ne sais quoi" des Geschmacks wollte sich aber schon von vornherein jedem Zugriff einer klaren Bestimmung und einer bestimmenden Klärung ent-

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ziehen. Man spürte bald, ohne es sich immer eingestehen zu wollen, d a ß der „ G e s c h m a c k " s c h w e r e r b e g r i f f l i c h m i t r a t i o n a l i s t i s c h e n M i t t e l n zu f a s s e n war a l s der „ W i t z " , für den man frühzeitig Definitionen bereithielt. J . U. K ö n i g , G o t t s c h e d u. a. suchten diesem Übel zu steuern. Man bemühte sich, den natürlichen Feind der begriffsklaren „kritischen" Poetik künstlich umzustimmen und kunstvoll umzubestimmen zu einem Freund, nämlich dem „guten Geschmack"; und was „ g u t " war, glaubte man ganz einfach vorschreiben zu können. Aber er blieb das l a t e n t a u f r ü h r e r i s c h e E l e m e n t , das sich weder mit einem halben Entgegenkommen noch mit kritischen Machtsprüchen bändigen lassen wollte. Und unter seiner Fahne entspann sich denn auch der langwierige Kampfgang zwischen den Gottschedianern und den Anhängern der Schweizer. So erlebte man ihn als S p r e n g k r a f t ; und man hätte ihn doch vielleicht als T r i e b k r a f t wirksam werden lassen können, gleichsam als Gärungsmittel in dem nahrhaft-nützlichen Brote, das man mit den „kritischen Dichtkünsten" zu reichen hoffte. Aus dem Bestreben, ihm irgendwie beizukommen, jenes „je ne sais quoi" dennoch begründend aussagen zu können, entsprang doch nicht zuletzt die ganze B e g r ü n d u n g der Ä s t h e t i k d u r c h B a u m g a r t e n . Es gelang nicht einfach mit der ratio, aber doch zum Teil als analogon rationis. Es gelang nicht als Zuordnung zum „distinkten" Begriff; man mußte zunächst einmal eine Neuordnung mit Hilfe der „sensitiven Vorstellungen" vornehmen. Aber eine endgültige Versöhnung des Rationalistischen mit dem Irrationalen in der Geschmacksvorstellung konnte auch durch die Begründung einer neuen philosophischen Disziplin nicht wirklich erreicht werden. Und noch über das Zwischenspiel des Rokoko — das nicht nur ein bloßes Nebenher war — erzwang sich die Geschmacksdebatte manches Nachspiel bis in die Romantik hinein, um auch später kaum jemals ganz zu erlöschen. Das Vorspiel hatte sich trotz mancherlei Frühansätzen in Deutschland (vgl. Bd. I) doch wesentlich im Auslande vollzogen, in Spanien, in Italien und in Frankreich, z. T. auch in England. E s kann nur stichworthaft angedeutet werden. Nur von der deutschen Poetik her als Vorspiel zu betrachten, entfaltet sich ein Kräftespiel von weitreichender Einwirkung, das zuletzt doch hinausläuft auf eine mehr oder minder ausgeprägte Loslösung des Kunstwollens von der Bannkraft des Rationalismus und ent-

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sprechend hinwirkt zur Ermutigung eines freieren „Subjektivismus". Der objektive Kunstverstand mit seinem Streben nach „reiner" Begrifflichkeit lernt mehr und mehr abzulassen von den Versuchen, die Kunstdeutung hineinzuzwängen in logische Systembauten. Und in demselben Grade wird dem subjektiven Kunstgefühl ein stärkeres Geltungsrecht eingeräumt, teils aus Überzeugung, teils anfangs nur aus Verlegenheit. In Frankreich wird dieses teils ernsthaft erarbeitete und entsprechend mühevolle (Crousac), teils oberflächlich leichte, aber anregend belebte (Bouhours), teils verhältnismäßig zielklarere (Dubos) Losringen der Geschmacksvorstellung von der Umklammerung des Cartesianismus vor allem ablesbar aus den folgenden Beiträgen: B o u h o u r s ' „Entrétiens d'Ariste et d'Eugène" (1671) und „Manière de bien penser dans les Ouvrages d'Esprit" (1687), die auch auf Addison hinüberwirkten und im wesentlichen die rationalistische Scharfgeistigkeit durch Schöngeistigkeit ablösten; C r o u s a c s „Traité du Beau" (1715), der neben seiner starken Einwirkung auf die deutsche Kunsttheorie etwa auch auf den Italiener Conti hinüberwirkt; D u b o s ' „Réflexions critiques sur la Poésie et sur la Peinture" (1719, entstanden etwa 1710) mit ihrer starken Abwehr einer rein verstandesmäßigen Kunstauffassung und ihrer Hinwendung zum Gefühlsmäßigen. In Italien, wo Camillo Ettori mit einem frühen Beitrag zur Geschmacksdebatte „II buon gusto ne' componimenti rettorici" (1696) voransteht in zehnjährigem Vorsprung vor Muratori, ist die Vertrautheit mit den entscheidenden Fachwörtern der Geschmackstheorie an sich sehr viel weiter zurück verfolgbar. Läßt doch Bernardo Trevisanos „Introduzione . . ." im Rahmen von Muratoris (unter dem Pseudonym L. Pritanio stehenden) Erörterungen über das Geschmacksproblem in den „Riflessioni sopra il buon gusto" (1708, 1717) klar erkennen, daß der Neuerwerb und die volle kunsttheoretische Bewußtwerdung des „buon gusto" über das Spanien Gracians erfolgt ist. Fraglos aber mußte Italien dank jener älteren (von Benedetto Croce nachgewiesenen) Überlieferungen und Gewöhnungen besonders aufnahmebereit dem spanischen Einfluß sich öffnen. Und die Umlagerung des mehr lcbenskundlich eingestellten spanischen Geschmacksbegriffes auf das kunsttheoretische Gebiet wurde entsprechend erleichtert. Die Gegenwehr gegen Bouhours, die besonders seit

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Orsis „Considerazioni . . ." (1703) erfolgt, macht ähnlich wie in Deutschland kulturpatriotische Kräfte frei, so etwa in Muratori. Gleichzeitig erstarkt die Eigenart und der Wille zur Eigenwegigkeit an der Kritik des französischen Klassizismus, wobei streckenweise der griechische Klassizismus und der Aristotelismus gegen den französischen Klassizismus ausgespielt wurde, so etwa bei Gravina. Einzelbeiträge bieten vor allem G. V. G r a v i n a mit einem kleineren, die Geschmacksdebatte berührenden Frühwerk von 1692 und dem Hauptwerk „Deila Ragion poetica" (1708), das hinter den wandelbaren Einzelregeln eine philosophische Grundlegung des unwandelbar allgemeingültigen Gesetzes der Poesie aufzuspüren trachtet und das noch 1762 von Winckelmann nachdrücklich empfohlen werden konnte, weil Gravina teils auf eine echte griechische Klassik zurückzugreifen trachtete. Was Gravinas „ragion" meint, ist etwa dasselbe wie „Geschmack". Seine dramentheoretische Sonderbetrachtung „Deila Tragedia uno" (1715) folgt weitgehend Castelvetro und wirkt trotz Abwehr eines starren Aristotelismus doch weniger fortschrittlich. Wesentlich reicher erscheinen die Anregungen, die gerade auch für Deutschland (so etwa f. d. Schweizer) von L . A n t o n i o M u r a t o r i ausgingen. Ausgangsstellung für Muratoris Hauptbeitrag „ D e i l a P e r f e t t a P o e s i a I t a l i a n a " (1706) war — bald nach Orsis Vorstoß — der Gegenangriff gegen Bouhours. Aber schon der Umstand, daß Muratori für sein umfassendes zweibändiges Werk ursprünglich die Titelgebung „Deila Riforma della Poesia Italiana" geplant hatte, deutet an, daß nicht nur alter Bestand verteidigt, sondern auch neuer Erwerb gewonnen werden sollte. Im individualistischen Bereich verfolgt nach Muratori die Kunst das Ziel zu ergötzen; im soziologischen Bereich hat sie die Nutzbarkeit im Sinne der moralpädagogischen Leitidee zu berücksichtigen. Neben dem wandelbaren „besonderen" Geschmack steht der allgemeine Geschmack als ästhetischer Grundwert. Auf weiten Strecken bewegt sich Muratori etwa in der Richtung, die der deutsche Frühklassizismus z.T. schon am Ende des siebzehnten Jahrhunderts aufgenommen hatte, was die an sich sehr dankenswerte Sonderforschung (Robertson) zu übersehen scheint. Doch soll das Vorwärtsweisende in Muratoris Theorie trotz solcher Einschränkung nicht verkannt werden. Im wesentlichen räumt Muratori neben dem Verstände auch der E i n b i l d u n g s k r a f t gewisse Rechte ein, die jedoch durch den Verstand überprüfbar

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bleiben müssen. Muratori lockert die Regelfessel der Phantasie, ohne für wirkliche Phantasiefreiheit einzutreten. Unter Einwirkung der Lehre von den unteren Seelenkräften („apprensiva inferiore") baut er seine Theorie der Einbildungskraft in einem Grade aus, der noch für die Schweizer fördernd wirken konnte. Gefordert wird dabei ein Zusammenwirken von gefühlsmäßiger Einbildungskraft und vernunftmäßiger Beurteilungskraft. Ihren Höhepunkt erreicht diese Theorie vermittelnder Art in der Ausdeutung des „furor poeticus", der poetischen Begeisterung. Die Gemütsbewegungen werden bereits mit in Betracht gezogen („movimenti"), ebenso die anlagegemäßen Voraussetzungen im geborenen Dichter. Aber die irrationalen Teileinsprengungen sind nicht stark genug, um wirklich revoltierend zu wirken. Aufgelockerter Rationalismus ist noch kein Irrationalismus, und ein durch subjektivistische Einsprengungen aufgelockerter Objektivismus ist noch kein Subjektivismus. Die Bezeichnungen und Bewertungen wollen gerade im Deuten von Übergangserscheinungen — und mehr als eine Übergangserscheinung ist Muratori kaum — behutsam abgewogen werden. Das gilt ganz allgemein von der damaligen europäischen und auch von der italienischen Kunsttheorie einschließlich Muratori, dessen zeitlicher Vorsprung in einigen seiner Anschauungen auch erst durch eine weiter zurückgreifende Überprüfung der früheren europäischen Erträge (als Robertson sie vorerst bietet) überzeugend gesichert werden müßte. Wegen einer, wenn auch noch unzulänglichen Shakespearevermittlung sei A n t o n i o C o n t i , dessen Schönheitsdefinition wahrscheinlich von Crousac bestimmt worden war, kurz erwähnt. A. Conti sieht in Shakespeare den unregelmäßigen englischen Corneille, beteiligt sich an den Erörterungen über das Wunderbare und fördert die Homerdeutung. Seine Beiträge erscheinen im wesentlichen nach seinem Tode („Prose e Poesie", 1756), greifen also nicht recht in die Entwicklung ein, abgesehen etwa von dem „Lettre ä Mad. Ferrant" (1719). Antonio Conti darf nicht verwechselt werden mit dem Grafen Pietro dei Conti Calepio (bes. hinsichtlich des von diesem mit Bodmer geführten Briefwechsels). Auf dramentheoretischem Gebiet erstrebt S c i p i o n e M a f f e i , dessen Merope-Drama noch Lessing würdigt, in enger Fühlung mit dem Theaterfachmann Luigi Riccoboni eine Theaterreform. Die Einleitung, die er einer Gottscheds „Deutscher Schaubühne" entsprechenden Dramen-

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Sammlung (Teatro Italiano, 1723/4) mit auf den Weg gibt als „Istoria del Teatro", verteidigt den moralpädagogischen Wert des Theaters unter anderem auch gegen kirchliche Bedenken. Anders als etwa Martelli lehnt Maffei, der zugleich eine Reform der Schauspielkunst anregt (Abwehr des Stegreifkomikers), die Oper ab, da sie eine Unterordnung des Dichters zur Folge habe. Gottscheds Vorgehen erscheint gegenüber dem mehr historisch eingestellten Reformieren Maffeis und dessen Experimentieren mit mehr oder minder künstlichen Neubelebungen als wesentlich planvoller. Riccoboni hat sich späterhin darüber beklagt, daß ein Zurückgreifen auf den Dramenbestand des sechzehnten Jahrhunderts ganz ungeeignet gewesen wäre, das italienische Drama gegenüber Corneille und Racine erfolgreich durchzusetzen. Maffei hat nach Werken über das italienische (1728) und europäische (1740) Theater, die mehr historisch eingestellt waren, noch 1743 von der „Réformation du Théâtre" gehandelt. Angeregt durch die grundsätzlichen Erörterungen Maffeis in dessen „Teatro italiano" schrieb P i e t r o di C a l e p i o den „Paragone della Poesia tragica" (1732). Ähnlich einem, frühen Ansatz Maffeis („Osservazioni", Rodogune-Kritik, 1700) vollzieht Calepio eine kritische Wendung gegen Corneille, dessen dramatisches Schaffen ihm recht eigentlich mehr epische als dramatische Wirkungsziele zu verfolgen scheint. Die kulturpatriotische Abwehr des französischen Vorrangs wird erkennbar im Wettbewerb der Nationen: die Franzosen hätten bestenfalls eine dramatische Sonderform, das heroische Drama (dramma eroico) zur Verwirklichung gebracht, während die eigentliche Tragödie in Italien ihre Pflegestätte gefunden habe. In Corneilles Dramatik sei das eigentlich epische Ziel der Bewunderung zu stark vertreten. Manches von dem Thema des Briefwechsels nicht nur zwischen Bodmer und Calepio, sondern auch des späteren Briefwechsels Lessings mit Mendelssohn über das Wirkungsziel des Trauerspiels steht im „Paragone" zur Debatte. Streckenweise versucht Calepio den Aristoteleskommentar Dariers („Poétique d'Aristote") gegen Corneilles Aristotelesdeutung auszuspielen. Calepio, dessen Kunsttheorie wesentlich auf vergleichender Kritik beruht und vor allem im Sonderbereich der Dramentheorie sich bewegt, gewinnt Bedeutung als Vermittler zwischen Italien und Deutschland. Äußerlich greifbar wird diese Vermittlung in seinem Briefwechsel mit Bodmer (s. d.) und in der Herausgabe seines anonym erschei-

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nenden „Paragone" durch Bodmer, der dem Werk ein lateinisch geschriebenes Vorwort mitgab. Die von Maffei ausgehende Entwicklungslinie, an die Calepio anknüpfte, ist weiterhin erkennbar bei G. C e s a r e B e c e l l i , der zeitlich parallel mit Calepios Werk in seinem Beitrag „Deila novella poesia" (1732) manchen Gedanken Maffeis aufnahm und ausbaute, besonders kraftvoll die Leistung und Leistungsfähigkeit der Modernen (bes. in einigen den Alten noch nicht vertrauten Sondergattungen) hervorhob und — darin über Maffei beachtenswert hinausgehend — nicht zum wenigsten auch der Lyrik bzw. der Theorie der Lyrik eine erhöhte Anteilnahme entgegenbrachte. Dagegen war P. J a c o b M a r t e l l i , wie schon sein Fragen der metrischen Einkleidung erörternder und im Blick auf Joh. Elias Schlegel bemerkenswerter „Discorso del Verso tragico" (1710) vermuten läßt, mit seinem „L'Impostore, dialoge sopra la Tragedia antica e moderna" (Paris 1714, erweit. ital. Ausg. 1715) noch ganz auf die Dramentheorie eingestellt. Die Fühlung mit den französischen Kämpfern im Querelle, mit Fontenelle und Perrault bleibt dabei ohne weiteres spürbar. Hervorzuheben ist in diesem Zusammenhange die bedeutende Geltung, die nicht nur von Martelli, sondern überhaupt von der damaligen italienischen Kunsttheorie dem Urteil des Publikums als Wertungskriterium zuerkannt zu werden pflegte. Der gegen eine irrige Aristotelesdeutung gerichtete Dialog bespricht u. a. die Frage der Einheiten (duldsamer Standpunkt) und die Verwendung von Monologen oder Vertrauten (confidents). Abweichend von Boileau und anders als etwa Mencke oder der frühere Gottsched scheint Martelli die Oper ernsthaft zu verteidigen. Im Gesamt seiner Anschauungen wirkt Martelli befangener im nachwirkenden Querelle (stärkere Bindung an Frankreich) als etwa Muratori. Ungleich weiter ist der Ausblick, der sich von G i a m b a t t i s t a V i c o her eröffnet, wie denn Vico in den größeren Rahmen seines kulturphilosophisch vertieften Werkes „Scienza nuova" (1725) den kunsttheoretischen Teil als Sonderabschnitt eingliedert unter dem Titel „Deila sapienza poetica" (2. Buch der „Scienza nuova"). Nicht zum wenigsten ist es der Neuplatonismus, der Vicos Sehart bestimmen hilft. Manches klingt andeutend auf: von einer Phantasiebewertung als schöpferischer Kraft, von der geistesgeschichtlichen Vorstellung eines „Zeitgeistes", von einem frühen Zeitalter vorherrschenden Phantasieerlebens. Und die Loslösung der Homer-

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Deutung als einer dichterisch-ästhetischen Deutung aus der Umklammerung der gebräuchlichen philologischen Auslegung Homers (vgl. Schupp), wie sie Vico (im 3. Buch) unternimmt, konnte fraglos zu einem allmählichen Hineinwachsen in das rechte Homerverständnis wesentlich beitragen. Doch sieht Vico noch durchaus einseitig und zeitüblich die römische und noch nicht die griechische Antike. Überhaupt scheint die Einflußstärke Vicos auf die deutsche Kunsttheorie von der Sonderforschung jüngster Vergangenheit ganz wesentlich überschätzt worden zu sein, teils unter dem Eindruck ausländischer Forschungen. Robertsons Annahme z. B., daß möglicherweise durch dunkle Kanäle („obscure channals") von Vico aus die Typenbildung Schillers „naiv" und „sentimentalisch" beeinflußt worden sein könnte, bleibt ebenso wie mancherlei Meinungen über eine irgendwie entscheidende Beeinflussung der großen Konzeptionen Herders eine vorerst noch unbewiesene Vermutung. Der Übereifer im Aufspüren von Einflüssen ist offenbar vielfach beträchtlich zu weit, gelegentlich auch einfach fehl gegangen. Wir Deutsche können auch nicht bedauern, daß unser Baumgarten und nicht Vico der wirkliche Begründer der Ästhetik wurde, so anregend mancher Gedankengang bei Vico an sich wirken mag. Die verhältnismäßig eingehende Darstellung der italienischen Kunsttheorie, wie sie durch Robertsons Sonderforschung ermöglicht und nahegelegt wurde, will nur einen wissenschaftlich erforderlichen Ausgleich schaffen gegenüber einer Überbewertung der Parallelentwicklung in Frankreich und England. Sie bedeutet indessen nicht eine vorbehaltlose Annahme aller jener von Robertson angenommenen und mehrfach doch auch nur vermuteten Einflüsse. Es ist verständlich, daß nun vorerst im an sich berechtigten Gegengewicht-Schaffen gegenüber einer gewissen Vernachlässigung der italienischen Kunsttheorie der Wertungspendel etwas zu weit zugunsten der italienischen Kunsttheorie ausgeschlagen ist. Es sollte auch nicht so ganz außer acht gelassen werden, daß in der deutschen Barockpoetik mancher zukunftträchtige Keim verborgen ruht, daß etwa bei J. von Watt leise Vorklänge zum Herderschen Leitmotiv herausgespürt werden könnten, natürlich noch nicht mit der bei G. Vico vernehmbaren Deutlichkeit, aber doch unverkennbar. Was in dem Bemühen, die Geschmacksproblematik zu klären, das nationale Eigenrecht zu stärken, das Kunstschaffen zu

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„reformieren" und dem Subjektiven gewisse Rechte einzuräumen, was aber auch in den großen Vorarbeiten zu einer historischkritischen Poetik innerhalb der früheren deutschen Poetik (bes. seit Morhof) zum Austrag kommt, ist letztlich nur ein Ausschnitt aus dem R i n g e n um e i n e k r i t i s c h - ä s t h e t i s c h e B e u r t e i l u n g s k r a f t , die in dem neuen, dem „kritischen Jahrhundert" ständig an Boden gewinnen mußte. Im europäischen Räume hatte nicht zum wenigsten die Geschmacksdebatte die vorbereitenden Grundlagen der modernen Ästhetik zu errichten versucht; aber zugleich Sprengkräfte oder doch Auflockerungskräfte in diese tragenden Schichten mit hineingenommen, die sich mehr und mehr auswirken sollten. Das Vorspiel der „Politesse" wurde abgelöst vom Vorspiel der „Delikatesse", jenes vielberufenen „je ne sais quoi" des Geschmacks. Die Geltung des „sentiments" wuchs, die man teils dem Rationalismus abtrotzen zu können meinte, teils aus ihm vermeintlich folgerichtig zu entwickeln trachtete, wobei mannigfache Verwerfungen und Überschneidungen dieses breitschichtige Umbereiten des Bodens für die Ästhetik begleiteten. Zwischen Bouhours' „Entrétiens" und seiner „Manière de bien penser" war B o i l e a u s „ A r t p o é t i q u e " (1674) zeitlich eingelagert. Und diese zunächst rein zeitliche Überschneidung, die allzuleicht übersehen wird, kann doch fast symptomatisch wirken für die Entwicklung in Deutschland, wo zudem die kulturpatriotische Polemik gegen Bouhours die im letzten Grunde natürlich weltanschaulich bedingte Hinwendung zu Boileau in gewissem Grade erleichtern hilft. Bei Wernicke kündigte sich dieser Vorgang bereits an, um dann bei Gottsched, zugleich erweitert durch das Stellungnehmen zu Dubos, vollends greifbar sich abzuzeichnen. Die „Art poétique" Boileaus hatte im Ansetzen der Geschmacksdebatte doch durchaus noch den „bon sens" im Rahmen des Rationalismus festgehalten. Und auch späterhin in der Vorrede zu seinen poetischen Werken (1711) war von ihm das Unsagbare des Geschmacksurteils wohl gestreift, aber ganz in seinem Sinne als ein vernunftmäßiges Mittel in die Richtung der „pensées vraies" umgebogen, umgedeutet und mißdeutet worden, indem so gerade das Neuartige und Instinktive als Wesensmerkmal der Geschmacksfunktion nicht zur Geltung gelangt war. Für Boileau sind vernünftige Klarheit und guter Geschmack Deckbegriffe wie letzten Endes auch für Mme. Dacier, die durchaus mit Boileaus

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Augen den Geschmacksbegriff anschaut, wenn sie „Des causes de la corruption du goût" (1715) vom kritischen Standort aus handelt. Boileau hatte, vereinfacht gesehen, für Frankreich auf der Ebene des Cartesianismus dieselben Werte zu verteidigen wie Gottsched in Deutschland auf der tragenden Ebene des Wolffianismus. Und wenn man in der deutschen Kunsttheorie anfangs den Geschmacksbegriff zum Ausspielen gegen den Lohensteinschen Schwulst benutzte (so etwa Wernicke, König und zunächst auch Gottsched), so polemisierte doch schon Wernicke (von der Prasch u. a. ganz abgesehen) in mehrfachen Vorstößen gegen den „bei esprit" Bouhours'. Und Gottscheds gesunder Sinn für eine sittliche Wertung belichtete auch verhältnismäßig frühzeitig in seinen „Vernünftigen Tadlerinnen" (1,1725) die modisch notdürftig verdeckten Schattenseiten an der Lebenshaltung oder den Mangel an Haltung eines sich „galant" gebärdenden Schöngeistes. Darüber hinaus besann sich Gottscheds Verantwortungsgefühl mehr und mehr auf seine kulturelle Sendung, zunächst einmal die Festigung und Reinigung, die Sicherung wie auf sprachlichem so auch auf künstlerischem Gebiet auf der Tragschicht des Wölfischen Systems zu erzwingen. Daraus ergibt sich von innen her das Hingedrängtwerden zu Boileau, das rein äußerlich wie ein Rückschreiten wirken mag, aber doch zum mindesten ein Zurückgehen auf tragfähige Grundlagen in Gottscheds Sinne bedeutete. Gottsched suchte „vor die Deutschen" den festen Boden und wollte den kaum errungenen gesicherten Standort nicht sogleich wieder preisgegeben sehen jener machtvollen, aber vielfach in sich gebrochenen und den Schwemmsand des Relativismus aufwühlenden Welle der Geschmacksbewegung. Seine Stellung zum „sentiment", zum Gefühlskriterium, mußte ähnlich vorsichtig sein im kunsttheoretischen Bereich wie z. B. seine Stellungnahme zu den belebenden Kräften der Mundarten auf sprachlichem Gebiet um der Gemeinschaftswerte einer einheitlichen deutschen Schriftsprache willen. Es ist gewiß kein Zufall, wenn die Geschmacksdebatte im deutschen Bezirk enge Fühlung mit den sprachreformatorischen Bemühungen wahrte und dementsprechend auch eingespannt wurde in das Vorwärtsdrängen eines kulturpatriotischen Geltungsstrebens. Umsomehr, als Bouhours' Herausforderung zur Ab-

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wehr und zur Selbstbesinnung geradezu zwingen mußte. Und wie etwa auch Italien sich zur Wehr setzte gegen das (anspruchsvolle) Auftreten des französischen Theoretikers, so versuchte u. a. in Deutschland J. G. Meister in seinem Vorbericht „Von dem Esprit der Teutschen", den er seinen „Unvorgreiflichen Gedanken von Teutschen Epigrammatibus" (1698) vorausschickte, den Nachweis zu bringen für die Möglichkeit eines deutschen bei esprit. Überdies hatte letztlich auch Thomasius in seinem „Discours" sich um die Erziehung eines deutschen „bei esprit" in seiner Weise bemüht gezeigt. Und zugleich lenkt dieser Seitenblick auf die Geschmacksdebatte, die etwa auch den niederrheinischen Aufklärer Engelbert vom Bruck von einer „Morgenröte des besseren Geschmacks" sprechen ließ, eben jene bereits an anderer Stelle (Bd. I) gewürdigte Geschmacksdebatte, die Aufmerksamkeit wieder auf die Überschneidung spätbarocker und frühaufklärerischer Strömungen. Denn während J. G. Meister sich in seinem „Erweis" gerade auf das Muster der Schlesier, der Lohenstein und Hofmannswaldau stützen zu können glaubt, lehnt Chr. Wernicke in seinen „Überschriften" (1697, 1701 u. bes. 1704) die „Zuckerbeckerey" des schlesischen Geschmacks ab, wie er denn epigrammatisch und doch auch programmatisch ein durch „aufgeblasene" Wörter nur künstlich aufgemachtes und zudem „unverständlich Nichts" als ein Deckungsuchen hinter dem „Unverstand" anprangert. Überträgt man das negative Wertungskriterium ins Positive, so leuchtet hinter solchen Äußerungen bereits die aufklärerische Überzeugung Chr. Wolfis auf, daß der Mensch schlechthin „nichts Vortrefflicheres" von seinem Schöpfer erhalten habe „als seinen Verstand". Und wiederum findet auf der anderen Seite jener Schlesische Geschmack in dem früheren Hunold-Menantes, gleichfalls um „dem Geiste von der Poesie ein Genügen" zu tun, einen zwar in seinen späteren Entwicklungsstadien merklich nachlassenden Verteidiger. Die Unsicherheit, die dergestalt in der Übergangszeit herrscht, erläutert wohl am knappsten C. F. W e i c h m a n n s vermittelnde Meinung, daß „der Geschmack der heutigen Welt" eben „gar mannigfaltig" sei. An solchen Bekundungen, Aussprüchen und Ausflüchten bestätigt sich zum mindesten in gewissem Grade die Begründung und relative Berechtigung für Gottscheds Abwehren und Abdrängen eines leicht zur Verschwommenheit neigenden subjektiv und individuell verbesonderten Geschmacksbegriffs.

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Vorerst nahm Gottsched das verhältnismäßig erst junge und in Eingewöhnung begriffene Wort,.Geschmack" in metaphorischer Verwendung nicht allein recht wohlwollend und empfehlend an, so z. B. in den „Vernünftigen Tadlerinnen" (1725), sondern bekundete seinen Sinn für das Moderne auch dadurch, daß er das dritte Kapitel seiner „Kritischen Dichtkunst" ausdrücklich und nachdrücklich der Erörterung „Vom guten Geschmack eines Poeten" einräumte. In der fünf Jahre vorher liegenden „Breslauer Anleitung" (1725) gab es trotz mancher Fortschrittlichkeit ein derartiges Geschmackskapitel noch nicht. Inzwischen jedoch war in Deutschland die Absicht, durch moralische Wochenschriften die „Tugend und den Geschmack" zu verbreiten, wie sie etwa schon die „Discourse der Mahlern" (i72if.) programmatisch ausgesprochen hatten, bereits ergänzt worden durch den Willen, in kunstphilosophischen Sonderschriften dem Geschmacksproblem ernstlich eine Klärung abzuringen. Hatte die geschmackschulende Tendenz sich in Bodmers Schrift von der „Einbildungskraft", die noch kurz zu würdigen sein wird, mit dem Titelzusatz „zur Verbesserung des Geschmacks" begnügt, so rückte in demselben Jahre J o h . U l r i c h K ö n i g das neue Kunstwort bereits in die Zentralstellung der Titelgebung seiner „ U n t e r s u c h u n g v o n d e m g u t e n G e s c h m a c k in der D i c h t u n d R e d e k u n s t " , die er im A n h a n g e zu seiner Ausgabe von C a n i t z ' „ G e d i c h t e n " (1727, 1734) veröffentlichte. Joh. Ulrich König, der wie in der Geschmacksgeschichte zugleich in der Theatergeschichte eine gewisse Geltung beanspruchen darf, wahrt noch merklich die Abwehrhaltung gegenüber dem „gothischen" Geschmack des Mittelalters. Er steht überdies noch mitten im Abwehrkampfe gegen den Marinismus der Schlesier und führt •denn auch den „guten Geschmack" ins Gefecht gegen die „schwülstigen Metaphoren", die „aufgeblasenen Vorstellungen", gegen die „Hyperbolischen Ausdrückungen", gegen die barocke Antithesenfreudigkeit, jene „zweideutigen Gegensätze" und „weithergesuchten Allegorien", wie sie ihm dort vorzuherrschen scheinen. Das bestätigt gleichzeitig, was schon von den Titelworten Dicht u n d R e d e - K u n s t ablesbar wird, daß im Nachwirken Chr. Weises die Dichtung in enger Verbundenheit mit der Sprach- und Redekunst, also im weiteren Sinne als Wortkunst gesehen und gewürdigt wird. 4 M a r k w a r d t , Poetik II

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J. U. König versäumt nicht, die Neuartigkeit des metaphorischen Terminus Geschmack als „in verblümter Bedeutung" gebraucht, so wie man damals z. B. auch „Salz" für „Witz" (in Benachbarung zum Esprit-Begriff) zu verwenden pflegte, gebührend hervorzuheben, „wie er auch damals noch nicht wagen wollen, das Wort goût teutsch zu geben". Und neben jenem Eingelagertsein des Geschmacksbegriffs in das sprachlich-stilistische Anteilnehmen macht sich gemeinsam mit jener erwähnten Abwehrhaltung ein lebhafter aktivistischer Einschlag und damit das geschmackbildende Zweckmoment innerhalb der Theorie geltend, die Wert und Wirkung des Geschmacks keineswegs auf die Poesie beschränkt, sondern ausweitet auf die ganze Vielfalt der ästhetischen Erscheinungen in Kunstgewerbe, Kunsthandwerk, Mode, Kleidung, Haltung, Gebärde, Gestaltung der Feste, der Geselligkeit usw. Das Ideal der Politesse der galant-curiösen Übergangsepoche, die den „politen" Menschen dem „politischen" Menschen weitgehend annäherte, wird dabei gleichsam vom neuen Programmwert „Geschmack" mit übernommen. Aber dieser Primat des guten Geschmackes wird nun schon zielbewußter in Einklang gebracht mit dem Primat der Vernunft. Der gute Geschmack ist eben zugleich der vernünftige Geschmack. Das wird auch in der theoretischen und psychologischen Ableitung des Geschmacksbegriffs im engeren Sinne deutlich. Denn die „Empfindung", auf die der Geschmack zurückgeht, wird in eine möglichst nahe Fühlung mit der Vernunft gebracht. Ja, fast scheint sie sich nur durch ihr schnelleres Auffassungs- und Urteilsvermögen von dem langsameren und behutsamer begründenden Vernunfturteile zu unterscheiden. Joh. Ulrich König beschwichtigt die Bedenken der kritischen Vernunft durch den beruhigenden Hinweis darauf, daß die begrifflich deutlicher urteilende und genauer untersuchende Vernunft an sich zu demselben Endertrag (der Billigung bzw. Mißbilligung) gelangt sein würde, wenn sie mehr Zeit zur Entfaltung ihres gründlicheren, aber auch umständlicheren Verfahrens zur Verfügung gehabt hätte. In dem Vorsprung der geschmacksmäßigen „Empfindung" liegt nur ein relativer Vorzug, der indessen seiner Bestätigung bedarf durch ein nachträgliches Gutheißen seitens des überprüfenden Vernunfturteils. Der Keim für den Begriff der „Urteilskraft" (noch bei Kant) ist bereits unverkennbar, indem die ästhetische Urteilskraft des Geschmacks gleichsam eine Vernunft-

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mäßige Urteilskraft in verkürzter Form darstellt. Fast wie beim Uhrengleichnis Leibniz' laufen Vernunft und Geschmack parallel. Nur hat die Vernunftuhr ein komplizierteres Räderwerk zu bewältigen. Die Geschmacksuhr hat den schnelleren Pendelausschlag, zeigt jedoch dieselben Stunden an. Bei seiner Begriffsableitung kommt König seine Kenntnis der französischen und wohl auch italienischen Theorien zugute (Robertson nennt an Italienern: Pallavicino, Orsi, Fontanini, Gravina, Muratori). Doch bleibt König, der die zwischen Dubos und der Mad. Dacier bestehenden Meinungsverschiedenheiten nachweisbar kennt und berücksichtigt, zu stark von Boileaus Autorität eingenommen, um Dubos' „Réflexions critiques" und ihrem kühneren Vorstoß, wie er unter Addisons Einfluß erfolgt, zum Siege des „sentiments" über die „ratio" bedenkenlos zu folgen oder gar Dubos' Schlagwort vom „sechsten Sinn" (dem ästhetischen Sinn nach Art Hutchesons) ernstlich zum Richtungswert zu erheben. Er macht im wesentlichen Halt auf der von Crousac vorgezeichneten Linie in dessen „Traité", der die Allgemeingültigkeit einer Schönheit schlechtweg (in Boileaus Sinne) rettete vor der bedrohlichen Geschmackswillkür eines doch irgendwie instinktiven „je ne sais quoi" mit der vorsorglichen Schrankensetzung „II y a donc une beauté indépendante de sentiment". Andererseits war Crousac geneigt, das „sentiment" gelten zu lassen, und zwar auf dem Umwege, daß der vernunftgemäße Gedanke doch nicht gar so weit abstehe vom Sentiment, indem auch der Gedanke einen „fühlbar" werdenden Akt („acte qui se sente") darstelle. Dieses Sentiment pflegt der klaren begrifflich überprüften und begründeten Werterkenntnis voranzugehen und ist das Organ für den „goût". Voraussetzung für ein rechtes und echtes „sentiment" bleibt jedoch die nachträgliche Gutheißung durch das prüfende Vernunfturteil und Verstandesurteil und auch — wie man für das kunsttheoretische Gebiet hinzusetzen darf — durch das überprüfende Urteil des Kunstverstandes. So bemüht sich Königs Geschmacksbegriff um eine vernunftgemäße Rechtfertigung. Man arbeitet nicht auf den Kontrast von irrationaler Empfindung und Vernunfturteil hin, sondern auf einen möglichst engen Kontakt einer bereits rational umgedeuteten „Empfindung" (Vorstellung) mit dem ein wenig zum Fühlbarwerden umgebogenen Vernunftakt. Der Geschmack ist gleichsam eine gefühlsmäßig (oder vorstellungs4*

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mäßig) angeregte Kunst-Verstandesfunktion, eine Funktion zum mindesten immer noch im Grenzgebiet zur Ratio. Ob oder wie weit diese Hindeutung zum Vernunftgemäßen nur ein taktisches Mittel zur erleichterten Gewöhnung an den neuen Begriff „Geschmack" gewesen sein mag, kann hier nicht entschieden werden. Doch darf nicht vergessen werden, daß sich Joh. Ulrich König selbst (damals erfolgreich) als Poet (Dramatiker) versucht hat, also nicht einfach als Leibniz-Wolff-Schüler abgetan werden kann. Zudem bot (was Robertson in diesem Zusammenhange übersieht) innerhalb der deutschen Philosophie und Psychologie L e i b n i z Ansatzmöglichkeiten in seinen „petits perceptions", Ansatzmöglichkeiten, die, teils mit Bouhours in Verbindung stehend, über Wolff u. a. ihre Auswertung finden sollten und in letzten Auswirkungen bis in das „Unbewußte" der Romantik und der romantischen Literaturphilosophie hineinragen. Demgegenüber dürfen die italienischen Einflüsse nicht überschätzt werden. Außerdem muß nach wie vor die Aufmerksamkeit darauf hingelenkt werden, daß innerhalb Deutschlands durch das Zeitalter der „Politesse" bereits in weiteren Kreisen eine Aufnahmewilligkeit gegeben erscheint für die Geschmackswelle der „Delikatesse", gerade auch innerhalb der Entwicklung der Wortkunsttheorie. Die Rücksichtnahme auf eine leichtere Einbürgerung des Geschmacksbegriffs dürfte also nicht ernstlich ins Gewicht gefallen sein. Nach König kommt (in Teilanlehnung an Crousacs entsprechende Definition) unser Gefallen oder Mißfallen „allemal unserer Überlegung oder Untersuchung zuvor; unsere Seele findet dabei eine Zu- oder Abneigung, ohne die deutlichen Begriffe des Verstandes vorher darüber zu Rate zu ziehen". Die Zweigesichtigkeit der Geschmacksvorstellung als „Empfindung" einerseits und „Urteil" andererseits vermag J. U. König nicht auszulöschen. Aber sein ehrliches Ringen (von Ermatinger anerkannt), sein behutsam abwägendes Vorgehen sollte doch nicht so einfach als Eklektizismus (Robertson) abgetan werden. Es geht dabei eben nicht allein um die Fähigkeit, sondern auch um das Wollen, hinter dem bei König durchaus ein gewisses Verantwortungsgefühl spürbar wird. Joh. Ulrich König kannte doch nachweisbar die an sich fortschrittlicheren Anschauungen der ausländischen Theoretiker und Psychologen. Aber er konnte und wollte ihnen nicht bedenkenlos folgen. Er war nicht bloßer Eklektiker, er wollte jedenfalls bewußter Kunsterzieher sein wie zu

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einem regelmäßigen Drama und Theater (vor Gottsched, parallel mit Chr. Konnart u. a.), so zu einem vernunftgemäßen Geschmack. Von diesem Kunstwollen muß ausgegangen werden, nicht von irgendwelchen Möglichkeiten, die in der ausländischen Theorie bereit lagen und König zur Verfügung standen. Er hat sie genutzt, aber auf eigene Weise und nach eigenem Wollen abgewandelt. Und so konnten die „Vernünftigen Tadlerinnen", die König nicht allein wegen seines lustigen Nachspiels vom „Dresdenischen Schlendrian" (1725) reichlich großzügig zum „teutschen Moliere am Dresdenischen Hofe" erhoben, gemäß der Leitidee Gottscheds durchaus den „vernünftigen Geschmack" hervorheben, und zwar nicht allein mit Bezug auf die Übersetzung des „Regulus". Und die „Vernünftigen Tadlerinnen" glaubten sich schon ein Urteil erlauben zu dürfen, wollten doch auch sie der Verbreitung nicht allein der Moral, sondern auch des Geschmacks (als der Tugend auf ästhetischem Gebiete) dienen. Die romanisch gefärbten Termini Gusto und Goüt der galant-curiösen Übergangsepoche wurden nun schnell verdrängt durch das Fachwort Geschmack, das sehr bald zum Modewort werden sollte. „Geschmack" wurde Richtungswort und umschrieb vorerst alles das, was seit Baumgartens „Aesthetica" allmählich durch das Attribut „ästhetisch" bezeichnet wurde. Nicht allein, daß Gottsched dem „Guten Geschmack eines Poeten" ein Sonderkapitel seiner Poetik widmete, daß Bodmers Schrift über die Einbildungskraft im Zusatztitel auf die „Verbesserung des Geschmacks" hinzuarbeiten und sein „Briefwechsel von der Natur des poetischen Geschmacks" zu handeln betonte, daß I. J. Pyra zu „erweisen" suchte, daß die Gottschedianische Sekte „den Geschmack verderbe": bis in journalistische Unternehmungen zweiten und dritten Grades wie z. B. die von J. A. Cramer und Christlob Mylius noch im Gottschedgefolge (als „Hallische Bemühungen") sich betätigenden „Bemühungen zur Beförderung der Kritik und des guten Geschmacks" dringt das anpreisende Schlagwort, in den literarischen Richtungskämpfen vielfach gebraucht und noch häufiger mißbraucht. J. U. König indessen bleibt das Verdienst, frühzeitig ernsthaft um die Prinzipien des Geschmacksurteils („Urteilskraft") nach seinem Vermögen und dem Vermögen seiner Zeit gerungen und ihre philosophische Untergründung unternommen zu haben. Nicht allein bis hin zu Kants Terminus von der ästhetischen „Urteilskraft", auch etwa in dem „Beurteilungsvermögen", von dem

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gelegentlich einer Klärung der Funktion und Mission des Geschmacks in Schillers „Briefen über die ästhetische Erziehung des Menschen" die Rede ist, werden Ausstrahlungen dieser Bemühungen J. U. Königs spürbar, wenngleich Schiller gewiß, indem er den Geschmack als , .Beurteilungsvermögen des Schönen zwischen Geist und Sinnlichkeit in die Mitte" treten läßt, die einseitige Abdrängung zur Vernunft als Schiefheit bezeichnen müßte. Auch war König weit davon entfernt, etwa wie dann der Schiller der „Briefe . . ." dem Geschmack die Möglichkeit, ja die Macht einzuräumen, „selbst die Sinnenwelt gewissermaßen in ein Reich der Freiheit" zu verwandeln und zu erheben. Aber gerade die Aufwertung macht immer noch zugleich den Wert dieser Ansätze erkennbar. Daß auf G o t t s c h e d die Schrift seines Gönners J. U. König, der allerdings bald sein Gegner wurde, nicht ohne Eindruck bleiben konnte, leuchtet ein. Gemeinsam war beiden die hohe Bewertung Boileaus. Und letztlich konnte Gottsched durchaus die praktische Zielsetzung der Geschmackstheorie Königs gutheißen, „durch eine Nachahmung, welche sich auf die Natur und die geistreichen Schriften der alten Griechen und Römer gründete, dem guten Geschmack bei uns wieder aufzuhelfen". Damit wird zugleich das zweite scheinbar Neue in Gottscheds Literaturphilosophie berührt, das N a t u r n a c h a h m u n g s g e s e t z . Gegenüber den früheren Poetiken, in denen er „einen recht vernünftigen deutlichen Begriff" vermißte, sieht er selber darin das Neue. Daß die Formel vom Nachahmen der Natur von der antiken Theorie her vielfach konventionell mitgeschleppt und mitvererbt wurde innerhalb der Poetik des siebzehnten Jahrhunderts, ist bekannt und zudem mehrfach berührt worden (vgl. Bd. I). Dagegen mag einmal die Aufmerksamkeit darauf hingelenkt werden, daß diese Naturnachahmungsformel bereits in der vorgottschedischen Poetik wieder neues Leben oder doch verstärkte Betonung zu gewinnen scheint, und zwar innerhalb der deutschen Poetik selbst. Zum mindesten sollte man nicht so ganz achtlos an der Beobachtung vorübergehen, daß z. B. die Breslauer „Anleitung zur Poesie" (1725) als ersten Satz ihres ersten Paragraphen jene überlieferte Formel voranstellt: „Die Poesie ist eine Nachbildung der Natur". Das will nur als Symptom gewertet sein, nicht irgendwie als Quelle. Denn Gottsched standen andere Gewährsmänner weit näher, selbst wenn man absieht von Pietsch' „Dissertation pro

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receptione" von 1718, deren Einwirkung umstritten ist. Aber als Symptom der Gewöhnung und der Bereitschaft auch, das dann von Gottsched erst grundsätzlich ausgebaute Naturnachahmungsprinzip aufzunehmen, verdienen derartige Zeiterscheinungen fraglos eine gewisse Beachtung. Joh. C h r i s t o p h G o t t s c h e d s „ V e r s u c h e i n e r C r i t i s c h e n D i c h t k u n s t v o r die D e u t s c h e n " (1730, erschienen 1729) ist ähnlich wie viele früheren und manche späteren Poetiken hervorgegangen aus einer Vorlesung, aus einem Collegium poeticum, benutzte ähnlich wie viele früheren Poetiken eigene Dichtuneng als Beispiele — was man in Unkenntnis der Tradition Gottsched häufig zum Vorwurf gemacht hat — und war zugleich angeregt worden durch den Wunsch, der Deutschübenden Gesellschaft in Leipzig etwas Grundlegendes an poetischer Theorie darzubieten, etwas Bedeutenderes auch als etwa B. Menckes „Unterredung von der Deutschen Poesie". Daß diese Poetik Gottscheds, die in die frühere Anlageform der zeitüblichen Poetiken etwas von dem erörternden Darstellungstypus der inzwischen beliebter gewordenen Sonderabhandlungen nach Königs und Bodmers Art hineinnimmt, das Attribut „kritisch" an der Stirn trug, war nach der Verwendung des Begriffs kritisch bei Dubos und Shaftesbury, auf dessen „Soliloquy" sich Gottscheds Bezeichnung „Criticus" ausdrücklich stützt, nichts unbedingt Neues, ganz abgesehen von früheren Einführungen des Terminus bei Dennis, G. Baruffaldi und La Motte. Der Wille und Weg aber, die deutsche Poetik philosophisch zu unterbauen, wurde in Deutschland als neuartig empfunden. Für Gottsched, der es einige Jahre später unternahm, „Erste Gründe der gesummten Weltweisheit" festzulegen, war die Grundlage des Wölfischen Denkens geradezu selbstverständlich. Und so bedeutete ihm der „Kritikus" ein „ P o e s i e - v e r s t ä n d i g e r P h i l o s o p h " mit Einsicht in die Grundregeln, ein Träger der Beurteilungs-Kunst, die verläßlicher bleibt als der bloße Geschmack. In rein denkgeschichtlichem Betracht (mit der Blickrichtung auf Kant hin) mag ihn im Vorraum der Geschichte einer philosophisch untergründeten Ästhetik erst Baumgarten wirklich überholt haben — trotz der unverkennbaren Überlegenheit der Schweizer auf rein wortkunsttheoretischem und kunstpsychologischem Gebiet. An Stelle der überwiegenden Regelreihung früherer Poetiken, die er weitgehend kannte, sollte eine einheitliche W e s e n s b e s t i m -

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m u n g „aus der V e r n u n f t u n d N a t u r " erfolgen, wobei die „ N a t u r " letztlich doch auch wieder nur als eine V e r n u n f t N a t u r gesehen und gewertet wurde. Gottscheds Versuch einer Deduktion aus der Vernunft und Vernunftnatur verfügt noch nicht über die denkerische Stoßkraft des Baumgartenschen Systemwillens. Und so erstarrt und erstirbt der Teilvorstoß vielfach in einem bloßen Nebeneinander von mehr oder minder gefestigter philosophischer Gedankenreihung und einer gelegentlich doch recht unphilosophisch anmutenden Regelreihung, ein Mangel im Gesamtaufbau, der schon G. Fr. Meiers breitschichtiger Kritik der Gottschedischen Poetik auffiel. Grundsätzliches Erweisen und Beweisen auf der einen Seite und praktisches Hinweisen oder gar noch Anweisen auf der anderen Seite überkreuzen sich ähnlich wie in der „Ausführlichen Redekunst". Hartkantig durchstoßen immer wieder die alten Regelgerüste den an sich merklich auf abgerundete Linienführung hin drapierten neuen philosophischen Umhang. Die Schaftstiefel des Leipziger Diktators werden oft genug unter dem Talar des „Philosophen" sichtbar. Indem Gottsched, der wohl weiß, daß sich das Geschmacksurteil „auf bloße Empfindung gründe", diese „Empfindung" wie das französische „sentiment" als eine Art von Analogon rationis auf ein Meinen hinüberdrängt, wird es ihm nicht schwer, den Geschmacksbegriff weitgehend hinüberzuspielen auf die gesichertere und ihm vertrautere Ebene einer urteilsfähigen Vernunftfunktion. Und vollends hinsichtlich der Geschmacksschulung scheint ihm der „Gebrauch der gesunden Vernunft" den besten Zugang zum guten Geschmack zu verbürgen. Von dieser Basis aus verbindet Gottsched die Normgebung der Alten mit der Maßstabgebung durch den vernünftigen Geschmack als „urteilenden Verstand" zu einer engen Wirkungsgemeinschaft. Denn — und der Abstand von Winckelmann wird in voller Breite sichtbar — weil die Griechen die „vernünftigsten Leute" waren, verfügten sie auch über den mustergültigen Geschmack. Wenn Gottsched den Begriff „urteilender Verstand" aus der verschwommenen Geschmacksvorstellung des je ne sais quoi herausretten möchte, so lenkt ihn dabei auch das Hinüberspielen von „Kritikus" (als poesieverständiger Philosoph) zu dem Kritiker (als „Kunstrichter"). Das ungelöste Nebeneinander und unerlöste Gegeneinander von „empfindendem und urteilendem Verstand", das mehrfach sich bei König — und Crousac und Muratori — findet, greift auch Gottsched am Wege

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als eine notdürftig verleimte Krücke auf. Aber da er die „Empfindung", die fast nur die Geltung von innerer Vorstellung eingeräumt erhält, in Wirklichkeit selbst in dieser verdünnten Deutung merklich abwehrt, so ist schließlich doch auch der Verstand Richter darüber, ob in einem „künstlichen Werke" (wie Gottsched noch unter Beibehaltung der älteren Wortbedeutung von „künstlich" für künstlerisch und kunstvoll sagt) die Vollkommenheit erreicht worden ist, die eine Nachahmung der Natur ermöglichen sollte. Damit verbindet sich zugleich der O r d n u n g s b e g r i f f als I d e a l w e r t des F o r m s c h ö n e n . Denn Ordnung ist schlechthin „Quelle aller Schönheit". Und da auch die menschlichen „Gedanken" ebensowohl der Harmonie, Ordnung und Abmessung wie der rechten Verhältnissetzung fähig sind wie die „Figuren und Töne" (Abhebung von den anderen Künsten, Vorspiel zur Unterscheidung von willkürlichen und natürlichen Zeichen, J. Harris, Meier, Mendelssohn, Lessing, Herder; Zeichenlehre), so kann auch ein Gedankenwerk der Wortkunst alle jene Merkmale des Schönen und Vollkommenen gewinnen und bewähren. Zu solcher Vollkommenheit es hinzuleiten: das ist die geschmackspädagogische Zielsetzung. So versucht Gottsched die Geschmackslehre (auf Kosten Dubos' und zugunsten Boileaus) in Einklang zu bringen und zu zwingen mit dem Primat der Vernunft, mit der verstärkten Geltung der Alten, mit dem praktischen Bedürfnis der Kritik (im Sinne einer Kunstrichterei) und mit dem Naturnachahmungsgesetz. In der N a t u r n a c h a h m u n g s t h e o r i e liegt für die Geschichte der Wortkunsttheorie (anders als für die Vorgeschichte der Kantischen Termini) der Kern der Lehre Gottscheds eingeschlossen. Im Rahmen der „Vernünftigen Tadlerinnen" stand diese Theorie gleichzeitig im Dienste polemischer Abwehr der als phantastisch empfundenen Auswüchse der Schlesier. Die Lehre wird jetzt strenger mit vermeintlichen Aristoteles-Stützungen unterbaut. Drei Arten heben sich ab. Nachahmung von Dingen mit den Zielformen: Beschreibung und Schilderung; Nachahmung von Personen mit den Zielformen: Lyrik, Drama; endlich Nachahmung von Handlungen mit der Zielform: Fabel. Die Verworrenheit derartiger Gliederungen zeugt nicht gerade von philosophischer Durchdringung der Poetik. Die Vormachtstellung der Fabel durchstößt überdies die starre Leitlinie der Naturnachahmung und macht sie

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in gewissem Grade ausweitungsfähig. Daß vom rechten Kunstwerke „viel mehr als von der Natur" gefordert werden müsse, ahnen zum mindesten die „Zusätze und Anmerkungen" zum B a t t e u x - A u s z u g von 1754. Die Naturnachahmungsforderung, an sich und in sich schon erweicht durch die Dehnbarkeit des Gottschedischen Naturbegriffs, zielte nicht ernstlich auf eine Wirklichkeitsnähe. Das Geschmackskriterium sowie die moralischen und rationalistischen Bedingungen zogen sorglich Grenzen um die „vernünftige" Natur. Verstandesmäßige und vernunftgemäße Natürlichkeit im Sinne d e r W a h r s c h e i n l i c h k e i t s l e h r e g i l t a l s ausreichend, muß j edoch in historischer Hinsicht (Abwehr von Anachronismen, Abwehr Miltons) und vor allem in naturgesetzlicher Hinsicht (Abwehr des schlechthin Wunderbaren) streng durchgehalten werden. Die beliebten moralpädagogischen Tierfabeln, aber auch das Epos erzwingen dennoch Einräumungen und Einschränkungen. Gottsched rettet sich — vielleicht ermutigt durch J. P. Crousacs „Traiti du beau" — zu einer logischen und hypothetischen Wahrscheinlichkeit im Sinne einer „möglichen" Welt (Leibniz-Wolff). Der zugelassenen hypothetischen Prämisse — z. B., daß Tiere sprechen — muß alles übrige in sich vernünftig und wahrscheinlich abgeleitet folgen, so daß Chr. Wolfis Wahrscheinlichkeitsbegriff auf der Tragschicht des Satzes vom zureichenden Grunde notdürftig aushelfen kann. Doch wandte sich schon die zeitgenössische Kritik, frühzeitig vor allem Brämer, gegen diese schwache Stelle des Wahrscheinlichkeitsdogmas. Gottscheds U m g e h u n g s v e r s u c h e des Wunderbaren setzen sich fort, wenn er das Außerordentliche der Natur (das nur scheinbar Wunderbare) als das für den vernünftigen Aufklärer „Wahrhaftig-Wunderbare" hinstellt. Er braucht es, da er „bedeutende Stoffe" forderte. Dabei bewegt er sich etwa auf der Linie von Fontenelles „vraisemblable extraordinaire". Das übernatürlich Wunderbare dagegen bekämpft die aufklärerische Opposition gegen den Aberglauben wohl mehr noch als Gottscheds Nüchternheit. Unter mancherlei Einschränkungen und unter merklichem Sträuben werden Göttererscheinungen im Drama notfalls geduldet, wenn sie und weil sie bei älteren Motivwelten einigermaßen erträglich seien. In „neueren Zeiten" (als Geschehenszeit der Dramenfabel gedacht) indessen sind sie „sehr unglaublich", ähnlich wie Zaubereien, die sich nicht mehr schicken „vor unsre aufgeklärte

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Zeiten". (Mit fast wörtlichen Anklängen fällen die parodierten Aufklärer im Prolog zu Tiecks Literatursatire „Der gestiefelte Kater" ihren rationalistisch-dünkelhaften Bannspruch über das Wunderbare). Strenger noch umgrenzt die Wahrscheinlichkeitsschranke die Einheiten des Ortes und der Zeit im Drama. (Vorstufen: Chapelain, Corneille u. a.) Eis zeigt sich dabei, daß sich das Wahrscheinlichkeitsprinzip selbstherrlich vom Naturnachahmungskriterium loslöst und sich von jeder Wirklichkeitsnähe, die doch gerade Orts- und Zeitwechsel fordern würde, durchaus entfernt, um ganz auf vernünftige Schlüsse hinauszulaufen. Die psychologische Ebene wird ganz verdeckt von der logischen Schicht. So kann sich die Ortseinheit z. B. verhärten zu der drastischen Formel: „Wo man ist, da muß man bleiben" (weil auch die Zuschauer an demselben Orte verharren). Während selbst Corneille für die Ortseinheit wenigstens eine ganze Stadt beansprucht hatte, übt Gottsched (III. u. IV. Auflage der Kr. Dk.) an Holberg, dessen „Kannegießer", „Deutschfranzosen" und „Bramarbas" er in Dethardings Übersetzungen kennen lernte, Kritik wegen eines Verstoßes gegen die Ortseinheit, „indem einige Auftritte vor, andere aber in den Häusern vorgehen". Bereits ein Tageslauf gilt als zu ausgedehnte Geschehensdauer. Die Einheit der Handlung ergibt sich aus der Einheit des Zweckes, wie sie in „einem moralischen Satz" (später von Lessing bekämpft) zusammengedrängt sein sollte. Das Wahrscheinlichkeitsprinzip stellt die stärksten Beweisgründe im Kampfe gegen die Oper. Von jenem stillen „Vertrag" williger Illusion zwischen Sänger und Zuhörendem, auf den dann Wielands Singspielabhandlung immer wieder zurückgreift, war Gottscheds logisierende Wahrscheinlichkeit noch weit entfernt. Noch weiter entfernt war er natürlich von Goethes Gespräch über „Wahrheit und Wahrscheinlichkeit der Kunstwerke", das den Kunstwert der Oper (als ein organisches Mit-sich-selbst-Übereinstimmen) schon als feste Voraussetzung hinstellen konnte, obgleich auch dort noch der erziehungsbedürftige Zuschauer daran erinnert, daß man die Oper „eben wegen ihrer groben Unwahrscheinlichkeit" lächerlich zu machen versucht habe. Das ist noch ein Gottschedischer Nachklang, den Goethe indessen nur für die kritische Charakteristik des unzulänglichen Zuschauers auswertet. Angesichts der hohen I n h a l t s b e w e r t u n g , die sich bereits längere Zeit vor Gottsched innerhalb der Poetik beobachten läßt,

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gewinnt die Fabel als „Seele der ganzen Dichtkunst" eine beherrschende Stellung. Die Erfindung einer guten Fabel wird als entscheidende dichterische Leistung gebucht, während etwa der Historiker seine Geschichte vorfindet, nicht jedoch erfindet. Daraus ergibt sich folgerichtig die Minderbewertung gewisser lyrischer Gattungen, die keine „ F a b e l " enthalten (Ode, Elegie u. a.). Alles fabelbildende Dichten ist allein wesenhaft und werthaft „poetisch". Alles fabellose Dichten dagegen bestenfalls der „äußeren Form nach poetisch". Diese Meinung greifen noch die „ B e o b a c h t u n g e n " über den richtigen und falschen Wortgebrauch (1758) auf unter ihrem S t i c h w o r t „Dichten, Dichtkunst, Gedicht", wobei gegen D o r n b l ü t h s Vorschlag „Verskunst" die Bezeichnung „Dichtkunst" verteidigt wird, weil die Dichtkunst „Fabeln erfinden und Gedichte machen", nicht aber nur silbenzählend reimen lehre. Dem entspricht es, daß der R e i m s t r e i t n i c h t s W e s e n t l i c h e s für Gottsched betreffen konnte. Soweit es sich um die Nachbildung gewisser antiker Formen handelt, deren Möglichkeit er — wie einst schon Prasch — der deutschen Sprache zugesteht, erscheint z. B. das reimlose Metrum als angemessen. Um derartiger Sonderformen willen braucht jedoch nicht ein allgemeines „Abschaffen" der Reime einzusetzen. Im Hinblick auf Joh. Elias Schlegel mag erwähnt werden, daß Gottsched den Vers in der Komödie für zulässig erklärt. In späteren Auflagen der „Kritischen Dichtkunst" wächst das Interesse für den Hexameter, der indessen strenger gebaut sein müßte als bei Klopstock und Ewald von Kleist, eine Polemik, die im „Neuesten aus der anmutigen Gelehrsamkeit" ihre entsprechende Ergänzung findet. Die hohe Bewertung der Fabelerfindung, die angesichts der Anteilnahme Gottscheds an Fragen der Sprachkunst, Redekunst und Stilkunst doppelt beachtet sein will im Rahmen des Verhältnisses von Erfindung und Formung, ist bei alledem nicht ohne weiteres gleichzusetzen mit einer hohen Phantasiebewertung. Eine unbeeinträchtigte Phantasiefreiheit ist vielmehr unvereinbar mit Gottscheds Zielsetzung. Die W i d e r s p r ü c h e i n d e r B e g a b u n g s b e w e r t u n g , die teils zu billigen Verdammungsurteilen, teils zu übereifrigen Rettungsversuchen Gottscheds geführt haben, werden vielleicht einem rechten Verstehen und gerechten Beurteilen zugänglicher, wenn man Gottscheds rein t h e o r e t i s c h e s E r k e n n e n u n d h i s t o r i s c h e s K e n n e n einerseits unterscheiden

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lernt von seinem p r a k t i s c h e n W o l l e n u n d s e i n e m k u n s t e r z i e h e r i s c h e n S t r e b e n auf der anderen Seite. Gottsched erkennt durchaus, daß Einbildungskraft und Empfindung förderlich sind; sogar die Oden-,,Begeisterung" Pindars ist ihm bekannt, obwohl er einschränkend über „das berühmte Göttliche" sich äußert. Und selbst wenn er es nicht aus ästhetisch-kritischer Einsicht erkannt hätte: es war ihm einfach schon aus der Theorie seiner Vorgänger im In- und Auslande bekannt. Er kannte die Definition aus der französischen Sentiments-Lehre; er kannte selbst Leibniz' „perceptions confuses". Er kannte — wenn auch kaum allzu gründlich — Shaftesbury. Aber er will dem Subjektivismus ausweichen. Er strebt nach sicheren Grundlagen. Und dieses Streben und Wollen überschneidet sich mit jenem Kennen und einem — wohl doch teilweise zuzugestehenden — Erkennen. Er beobachtet, wie etwa selbst die in ihrer Sprache und Dichtkunst gefestigter dastehenden Franzosen sich, z. B. beim „Schwatzen" über die „Cadance" (innerhalb metrischer Erörterungen), hinter dem bloßen je ne sais quoi (Bouhours u. a.) verstecken, hinter dessen Schutz sie keine Ursachen und Regeln anzugeben brauchen. Und so sieht er in Shaftesbury mehr den Mahner und Warner, um das Überschätzen subjektiver „Einfälle" (humour) und „wunderlicher Phantasie" (fancy) als vermeintlich ausreichende Bürgschaft für den Schönheitswert energisch zurückzuweisen. Man braucht nur einen Seitenblick zu werfen auf die ganz dem Geschmacksrelativismus zugeneigte V o r r e d e Joh. Gottfried S c h n a b e l s zu der „ I n s e l F e l s e n b u r g " (1731), um das unbekümmerte Übergehen der Wahrscheinlichkeitsforderung in der gehobenen Unterhaltungsliteratur zu erkennen. Die Geschmacksfrage löst Schnabel mit dem beruhigenden Hinweis auf die Verschiedenartigkeit des individuellen Geschmacks, der noch auf „curieuse Leser" zugeschnitten ist, nach dem Leitspruch: „Was dir nicht gefällt, charmiert vielleicht 10, ja 100 und wohl noch mehr andere Menschen". Eine derartige Willkür, die sich als Großzügigkeit geben möchte und sich einem unbegrenzten Geschmacksrelativismus hingibt, erklärt manches von Gottscheds Strenge, die vielfach auf Gegengewicht berechnet war und berechnet sein mußte. Gottsched kennt durchaus die Fähigkeit der „Gemüts-Kräfte". Er kennt natürlich auch die Lehre vom Geborenseinmüssen des Dichters. Er weiß, daß der Dichter eine starke Einbildungskraft,

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viel „Scharfsinnigkeit" und bedeutenden Witz „schon von Natur besitzen" müsse. Aber er will, lebhaft beunruhigt durch die Bannkraft des Wunderbaren und leichter beunruhigt durch die Vordringlichkeit des „Witzes", verhindern, daß von solchen Begabungskräften irgendwelche Rechte auf Willkür und Phantasiefreiheit abgeleitet werden könnten. Deshalb schaltet er von vornherein Kontrollkräfte wie Gelehrsamkeit, Erfahrung, Übung, Fleiß ein. Deshalb will er die „hitzige" Einbildungskraft von einer „gesunden Vernunft" gebändigt sehen (krit. Abwehr der Lohenstein und Hofmannswaldau, Ariost, Tasso, Camoens u. a. m. als zugleich unwahrscheinlich). Deshalb muß selbst der vielumworbene Witz sich Einschränkungen gefallen lassen. Dieselbe Beurteilungskraft, die den Geschmack leitet und den Witz gleichsam umschult zur Mitarbeit an regelmäßigen, geschlossenen Kompositionen (z. B. im Epos), hat auch die Triebhaftigkeit des Schaffens abzudämmen, damit der freie Abstand einer wählenden Auslesefunktion gewahrt bleibt. Es kommt darauf an, den wirklich besten Einfall zu sichern vor einem Uberranntwerden von den ersten besten Einfällen. In seinen A n m e r k u n g e n zu der Ü b e r t r a g u n g „ H o r a t i u s : Von der D i c h t - K u n s t " , die er der Kritischen Dichtkunst voranstellt, spricht er es unumwunden aus, daß eine „kluge Wahl" einen guten Poeten verbürge, wie denn die ersten Einfälle nicht immer die besten seien (vgl. noch Lessing). Gottsched schreibt keine zweckbefreite Theorie. Er will etwas. Diesem Wollen ist das theoretische Erkennen untergeordnet. So hebt sich ein gutes Stück jener umstrittenen Zweiseitigkeit auf. „Philosophische" Poetik und angewandte Poetik überkreuzen sich. Wissen und Wollen geraten in Widerstreit, so daß das an sich vorhandene Wissen nicht überall fruchtbar ausgewertet, sondern vom anders gerichteten Wollen beiseitegedrückt oder tendenziös umgebogen erscheint. Das wird schon im historischen Eingangsteil vom „Ursprünge und Wachstume der Poesie", der mehrfach Scaliger und Morhof heranzieht, auch auf Le Bossu und den Aristoteles-Übersetzer A. Dacier (Abwehr des geistlichen Ursprungs) Seitenblicke wirft, deutlich ablesbar. Dieser durchweg zu wenig beachtete Eingangsteil bringt — worauf wenigstens Albert Köster einmal hingewiesen hat — wohl die verhältnismäßig kräftigsten Gefühlseinschläge bei der Würdigung einer Frühstufe einfältiger, einfach den Affekt ausdrückender (keimhafter Ansatz für die Ausdruckslehre), liedhafter, noch eng mit der Tonkunst

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verschwisterterDichtformen(Wirkiingsziel: „Gemüts-Bewegung"). Ob sich von diesem Kapitel der Kritischen Dichtkunst Gottscheds aus etwa über Fr. J. W. S c h r ö d e r s „Lyrische, elegische und epische Poesieen nebst einer k r i t i s c h e n A b h a n d l u n g " (1759) bis hin zu Herders Odenabhandlung von 1764 irgendeine, wenngleich in sich gebrochene Linie ziehen ließe, mag dahingestellt bleiben. Rein erkenntnismäßig steht Gottsched hier vor ganz ähnlichem Material. Die Frühform der Poesie als der jüngeren „Schwester" der Musik entspringt aus den „Gemüts-Neigungen des Menschen". Aber während Herders liebevolle Einfühlung aus dieser Urdichtung auffrischende Belebungskräfte für eine verstandesmäßig erstarrte Gegenwartsdichtung erhofft, bleibt sie für Gottscheds Gegenwartsstolz eine längst und gottlob überholte Elementarstufe, die, jetzt höchstens noch als Bänkelsängerpoesie erhalten (keimhafter Ansatz f. d. Theorie d. komisch. Romanze), nur „den Pöbel einzunehmen" pflege. Und während Herder die Verschwisterung mit der Musik auswertet zur Deutung der Dichtkunst als einer „Musik der Seele", ist Gottsched, vorerst noch als Gegner der Opern („die von dem Getreuen Schäfer des Guarini ihren Ursprung haben"), eifrig bemüht, die „Schwestern" möglichst bald wieder zu trennen, um die Dichtung weiter an die Vernunft der sinnreichen Menschenrede heranrücken zu können. Die Glanzlichter einer musikalischen Gefühlsdichtung, die in jenem Kapitel die Blicke auf sich ziehen könnten, erweisen sich bei näherem Zusehen als bloße Glanzlichter des Wissens um jene frühen Formen. Und sie verblassen vor der vernunftstolzen Erleuchtung durch die Aufklärung. Ja, sie verwandeln sich im Gottschedischen Blickfelde geradezu in Irrlichter, denen der Gegenwartsdichter nicht verfallen darf. Gottscheds Teilinteresse für schäferliche Dichtformen allein gönnt ihnen ein sehr begrenztes Wohlwollen, das jedoch sogleich unter kritische Kontrolle gestellt wird. Das Dichten wird zuletzt immer wieder als ein assoziativer und kombinatorischer Vorgang erläutert, der ein geistiges „Vergnügen" erweckt. In diesem Sinne soll schon für Gottsched die Poesie „zum Vergnügen der Menschen gereichen", aber letzten Endes doch nur zum „Vergnügen des Verstandes und Witzes", das in die „Bremer Beiträge" leicht abgewandelt hinüberwirkte, mehr jedoch an die Titelgebung von Joh. J o a c h i m S c h w a b e s „Belustigungen des Verstandes und Witzes" erinnern könnte. Der Ordnungssinn, der

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z. B. am naturhaft frei wachsenden Baume „nur ungestalte Äste und Reiser" entdecken kann, findet nun besonderes „Vergnügen" — und das heißt dem damaligen Sprachgebrauch nach etwa Wohlgefallen, Befriedigung — an der gutgeordneten und angeordneten Proportion und Regelmäßigkeit. Die Regelmäßigkeit umschließt zugleich das Ideal der Zweckmäßigkeit. Der Dichter hat nicht nur das Recht, er hat die Pflicht, eine zweckerfüllte Absicht mit wacher Bewußtheit zu verwirklichen. In der „ A u s f ü h r l i c h e n R e d e k u n s t " erklärt Gottsched dasjenige Kunstwerk als „unstreitig am besten eingerichtet, welches den Zweck seines Urhebers zu befördern am geschicktesten ist". Darüber aber hat nicht der persönliche Geschmack oder irgendein geheimnisvolles ästhetisches Kriterium zu entscheiden, sondern die urteilsfähige Vernunft. So enthüllt sich ein gutes Stück der Grundeinstellung Gottscheds, wenn er einmal (in der „Redekunst") knapp und bündig zusammenfaßt: „Man denke nicht: es klinge doch hübsch oder neu oder hoch. Denn Weis nicht vernünftig ist, das taugt gar nicht!" Versöhnend wirkt die k u l t u r p a t r i o t i s c h e A u s r i c h t u n g der Bestrebungen und Bekundungen Gottscheds. Da es ihm um eine Teilerfolge sichernde Unterbauung der nationalen Kulturund Kunstleistung auf der festen Grundlage des objektiven, vermeintlich „klassischen" Geschmacks und der ordnenden und anordnenden Vernunft ging, so hätte er z. B. den „gotischen" Geschmack als „barbarisch" (so König) verdammen müssen. Auf seinen Frühstufen sieht er sich denn auch einige Schritte in diese verneinende Richtung gedrängt. Hans Sachs' Verse gefallen ihm nicht; und Hans Sachs galt schon als „gotisch". Aber schrittweise ringt er sich durch zu einem Teilverständnis für Hans Sachs, zum mindesten auf dem Gebiete der komischen Wirkungsformen. Von Auflage zu Auflage erstarkt überhaupt die Wertschätzung des älteren deutschen Schrifttums in der Urteilsbildung der Kritischen Dichtkunst. Die dritte Auflage (1742) stellt schon deutsche Dramen in ernsten Wettbewerb neben die Dramatik der Franzosen, Engländer und Italiener. Und es sind doch nicht nur persönliche Bindungen, wenn in der vierten Auflage S c h ö n a i c h s künstlerisch recht schwaches „Hermann"-Epos zuversichtlich in die Wagschale geworfen wird, während Posteis „Wittekind" nicht gut zu retten war. Die kulturpatriotische Leitkraft bestimmt ihn, die „Erfindung" der Romanform für englische, friesische und deutsche Dichter in

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Anspruch zu nehmen. Sie setzt sich durch, wenn er — ein fast rührender Zug — seine eingeschworene, zudem von der frühklassizistischen Tradition nahegelegte Opernfeindschaft ganz vergißt, als es ihm möglich erscheint, auch die „Erfindung" der Oper seinen lieben Deutschen als Verdienst zusprechen zu können, während Mylius sich mit dem Argument des sprachfördernden Einflusses der gesungenen Sprache begnügte (Privileg. Ztg.). So sehr ihn sein Regelglaube und sein mangelhaft ausgebildeter historischer Sinn an einer vollen Wertung germanischer Dichtung hindern mögen: es wirkt doch das Bestreben fühlbar mit, die Vorstufen einer germanischen Heldendichtung werthaft zu heben und in Parallele zu stellen mit dem Wachstum der griechischen Dichtkunst (4. Aufl. d. Kr.Dk.). Manche Unklarheiten bleiben bestehen, so etwa die Vermischung von Minnesängern und Meistersingern. Und das Sichlosringen vom Vorurteil gegenüber Hans Sachs gelingt nach Milderungen der ursprünglich kritischen Einstellung recht eigentlich doch erst in der E i n l e i t u n g zu seiner „Reinicke-Fuchs"-Ausgabe (1752). Die Verstärkung der kulturpatriotischen Leitlinie wird in ihrer Bedeutung voll erkennbar, wenn man daran erinnert, daß M a u v i l l o n in den „Lettres fran^aises" (1740) die Möglichkeit eines deutschen Dichtertums (nach Bouhours* Vorgängerschaft) erneut und grundsätzlich in Frage gestellt hatte. Natürlich versäumte Gottsched in seiner Übersetzung von P. B a y l e s „Dictionnaire" (I. Teil 1741) nicht die Gelegenheit, durch einen ausführlichen Zusatz zum Stichwort Bouhours' die „französische Windmacherei" erneut bloßzustellen, wie denn schon die „Vernünftigen Tadlerinnen" (1725) den alten Stein des Anstoßes berührten. Die Kritische Dichtkunst von 1729/30 zwar macht einen schwächeren Eindruck, nicht zum wenigsten durch die damals noch eingeflochtenen eigenen Dichtungsproben. Und mit den „Göttingischen Zeitungen von Gelehrten Sachen auf das Jahr 1742" wird man einen Vorzug der dritten Auflage auch darin sehen, daß Gottsched die Beispiele aus eigener Dichtung ersetzt hatte durch Probestücke „von unseren besten Dichtern" (Opitz, Fleming, Dach, Tscherning, Neukirch, Rachel, Hunold, Canitz, Pietsch, Besser), so wenig fortschrittlich für das Jahr 1742 diese Muster auch an sich wirken mögen. Dennoch bringt z. B. bereits die erste Auflage etwas mehr zur damals noch wenig berücksichtigten R o m a n b e w e r t u n g , als die Sonderforschung vermuten läßt, und 6 M a r k w a r d t , Poetik II

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zwar nicht sowohl in dem Epos-Kapitel (wo man eine entsprechende Stellungnahme vermuten sollte und offenbar auch vermutet hat) als vielmehr in dem Kapitel „Von den poetischen Nachahmungen" (IV. Kap. d. Kr. Dk.). Gegenüber der wenig wohlwollenden Stellungnahme der Schweizer zum Roman in den „Discoursen der Mahlern" (1721) hatte Gottsched in den „Beiträgen zur kritischen Historie der deutschen Sprache und Beredsamkeit" (1733) gelegentlich einer Besprechung der „Asiatischen Banise" Ziglers für den „regelmäßigen" Roman Stellung genommen. Rangmäßig allerdings wird dort dem Roman im System der Dichtgattungen nur „eine der untersten Stellen" zugewiesen. Und nur „insofern er als ein Gedichte angesehen wird", erhält der Roman überhaupt ein Daseinsrecht unter den Gattungen notdürftig zugebilligt. Schon vorher jedoch behauptet in der angedeuteten Stelle der Kritischen Dichtkunst die „epische Fabel, so sich vor alle Heldengedichte u n d R o m a n e schicket", die Rangstellung des „fürtrefflichsten, was die ganze Poesie zu Stande bringen kann, wenn sie nur auf gehörige Art eingerichtet wird". Gewiß schwebt Gottsched bei der weiteren begeisterten Ausführung die lange umworbene und führende Gattung des Epos vor. Aber daß er zugleich die Romangattung nicht ganz aus den Augen verloren hat, beweist etwa zwei Seiten später der Zusatz: „Ein jeder sieht wohl, daß die gemeinen Romane in einer so löblichen Absicht nicht geschrieben sind". Es fehle bei solchen unzulänglichen Romanen das Verständnis der „Regeln der Poesie", aber auch die „wahre Sittenlehre". Dennoch bleibt die M ö g l i c h k e i t eines I d e a l r o m a n s für Gottsched damals durchaus aufrechterhalten, und zwar müßten derartige vollwertige Romane in Haltung und Gestaltung dem Epos nacheifern. Denn „wenn sie erbaulich sein sollten, müßten sie nach Art eines Heldengedichtes abgefaßt werden, wie Heliodorus, Longus, Cervantes und Findion getan. Ziglers Banise ist bei uns Deutschen noch der allerbeste Roman, das macht, daß er in wenigen Stücken von den obigen Regeln abweicht". Es bedurfte des näheren Eingehens auf diese Grund- und A u s g a n g s s t e l l u n g der R o m a n t h e o r i e , bzw. der Romanbewertung in der ersten Auflage der Kritischen Dichtkunst (die sogar beiläufig Chr. Wolff zugunsten. des Romans bemüht), weil die Sonderforschung über die Romantheorie für die drei ersten Auflagen ein Nichtbeachten des Romans zu verzeichnen pflegt. So jedoch ergibt sich eine wesentlich andere Sicht: G o t t -

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scheds Eifer e r h o f f t anfangs den hochwertigen R o m a n n a c h d e m V o r b i l d d e s E p o s . Diese Einstellung spiegelt sich auch im zeitgenössischen Reflex, etwa bei Brämer (Poetik 1744), der in kritischer Auseinandersetzung mit Gottsched feststellt: „ D a s Wesen der g r ö ß t e n u n d w i c h t i g s t e n Stücke als der Heldengedichte, der Romanen, der Schauspiele usw. setzet er (G.) in der wahrscheinlichen Fabel". Die erste Auflage wurde also damals durchaus in dem Sinne verstanden, daß Gottsched die Romane zu heben versuchte. E r lockert die Strenge der Idealforderung schon in den „ K r i t i s c h e n B e i t r ä g e n " , die überdies im Bewerten eine labile Haltung erkennen lassen, gibt dem Roman freieren Spielraum, um dann in der vierten Auflage der Kritischen Dichtkunst die ideale Nähe des Epos weitgehend aufzugeben und in einem neu eingefügten Sonderabschnitt „Von milesischen Fabeln, Ritterbüchern und Romanen" zu handeln. E s ist ihm fraglich geworden, ob man „den Liebesgeschichten eben das Joch auflegen" dürfe und solle, „welches die Heldendichter drückt". E r schwankt jetzt auch, ob der Romandichter nicht füglicher im „Mittelstande" seine Gestalten suchen solle oder doch den Griff in die große Welt der Geschichte wagen dürfe. Trotzdem schwingt auch in dieser vierten Auflage noch der alte Wunsch mit, den Roman vom Epos lernen zu lassen, wie denn die besten der „alten Romanschreiber" von Homer gelernt hätten. Klargestellt werden mußte vor allem der A n f a n g d e r R o m a n t h e o r i e Gottscheds (1730). Das Labile seiner späteren Haltung kommt in der Sonderforschung hinreichend zur Geltung. Und auch in jenem Ansatz fehlt es — im Kapitel „ V o n der Epopee oder dem Helden-Gedichte" — im historischen Überblick nicht an Polemik, die sich teils an Boileau, teils an die „Discourse" der Schweizer anlehnt. Allein das kunsttheoretisch Entscheidende, das eigentliche Fordern und Mustersetzen findet sich eben nicht in diesem Kapitel, sondern weit vorher, wo Gottsched offenbar mit seiner eigenen Meinung (auch über Ziglers „Banise") hervortritt. Ein Originalwerk war die Kritische Dichtkunst gewiß nicht. Außer den ihm bekannten deutschen Poetikern, die er gelegentlich seiner „Ersten Gründe der gesamten Weltweisheit" (Vorrede) selber angibt, wie Opitz, Rotth, Omeis, Hunold-Menantes u. a. trachtete Gottsched gerade auch die einschlägige Auslandsliteratur auszuwerten, so Boileau, Le Bossu, Fontenelle, Dacier, Perrault, 6*

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Richelieu-d'Aubignac und Maffei-Riccoboni, St. Evremont, Crousac, Shaftesbury und manche andere (Callier, Furetiere; jedoch an der Hauptstelle der Aufzählung i. d. Kr. Dichtkunst selber nicht Dan. Heinsius, den A. Köster etwas zu betont hervorhebt). Trotzdem war sich Gottsched bewußt, eine Poetik „vor die Deutschen" (2. Aufl. 1737: „für die Deutschen") zu schreiben. Auch dann noch und gerade dann auch, als er in den späteren (3. u. 4.) Auflagen diese Widmung als solche fallen ließ. Denn das geschah offenbar in dem stolzen Gefühle, nun schon von Deutschland her auf das Ausland hinüberwirken zu können. In der Tat richtet sich z. B. in Rußland Michael Lomonossows Drama „Tamira und Selim" (1750), das zugleich im Sinne der VorbildPoetik dem Muster des „Sterbenden Cato" folgt, durchaus nach den dramentheoretischen Forderungen der „Kritischen Dichtkunst". Jedenfalls durfte Gottsched als Anzeichen einerwachsenden Geltung des deutschen Schrifttums im Auslande die Beobachtung in der Vorrede zum „Nötigen Vorrat zur Geschichte der deutschen dramatischen Dichtkunst" (1757—1765) verzeichnen, daß die „Ausländer allmählich begierig" geworden seien, über die deutsche Dichtung näher unterrichtet zu werden. Von diesem Achtungszuwachs aus gesehen, erscheint innerhalb der B ü h n e n - u n d D r a m e n r e f o r m die Abwehr des Stegreifspiels in einem wesentlich anderen Lichte, besonders angesichts der damaligen Theaterverhältnisse. Denn die lässige Gewöhnung an das Stegreifspiel drohte ein hochwertiges Drama als Dichtung und damit eine wesentliche Kulturleistung entbehrlich zu machen oder es doch zum bloßen Lesedrama zu entwerten. Gottscheds Reformwille war ausgerichtet auf das klassizistische Hochstildrama, auf eine zum mindesten regelmäßige Tragödie. Hinter ihr stand beherrschend die Lehre vom guten Geschmack. „Die Deutsche Schaubühne" (1741—1745) sollte, „nach den Regeln der alten Griechen und Römer eingerichtet" (1746—1750), den reformwilligen Schauspielertruppen regelmäßige Bühnenwerke zur Verfügung stellen. Gottsched griff damit nur eine Bestrebung auf, die vor ihm schon in mehrfachen Ansätzen gegeben war, so in Leipzig selbst noch im siebzehnten Jahrhundert durch C h r i s t o p h K o r m a r t , der in der Einleitung zu seiner Bearbeitung von Corneilles „Polyeucte" gefordert hatte: „Die Trauerspiele wollen mit wichtig ausführlichen Vernunftschlüssen abgehandelt sein". Corneilles „Cid" wurde in deutscher Übertragung von Gottfried Lange,

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einem Zeitgenossen Kormarts, aufgeführt. Im ersten Drittel des achtzehnten Jahrhunderts bringt J. U. König eine Versübertragung von Pradons „Regulus" heraus. Auf Königs Vorbild bezieht sich Gottsched in den „Vernünftigen Tadlerinnen" (44. Stück, 1725) bei seinem ersten Eintreten für das regelmäßige „Theater" und seiner Abwehr des Stegreifspiels und der Harlekinaden. Die Vorrede zu Gottscheds vermeintlichem Musterdrama, dem „Sterbenden Cato" (1732), das weitgehend aus den Cato-Dramen Addisons und François Deschamps zusammengesetzt worden war, stellt die B ü h n e n Verhältnisse so dar: „Lauter schwülstige und mit Harlekinslustbarkeiten untermengte Haupt- und Staatsaktionen, lauter unnatürliche Romanstreiche und Liebesverwirrungen, lauter pöbelhafte Fratzen und Zoten waren dasjenige, so man daselbst zu sehen bekam". Für seine Bühnenreform gewinnt er die Schauspielertruppe unter Johann und Karoline Neuber. Diese Truppe hatte schon mit J. U. König zusammengearbeitet und z. B. beim Einkommen um das kursächsische Theaterprivilegium zugesichert, sich nach des „Hofpoeten König Anleitung" zu richten. Sie war auch bereits von den theaterreformatorischen Ansätzen in Braunschweig unter Herzog Anton Ulrich berührt worden. Gottsched verstärkte also eine schon im Werden begriffene Entwicklung. Er schaltete das Hanswurstspiel als Hauptstützkraft des Stegreifspiels aus. Damit führte er die Entwicklung fraglos vom Volk fort. Noch der junge Goethe meint, „seit Hanswurst verbannt ist", habe sich das deutsche Bühnenwerk vom „Gottschedianismus" nicht befreien können (an Salzmann, März 1773). Gottsched begnügte sich nicht damit, das Volkstümliche auf das Volkswürdige einzuschränken, eine Möglichkeit, die durchaus bestanden hätte und die dann J. Mosers Verteidigung des Harlekins auszuwerten verstand. Aber er glaubte dadurch das kulturelle Ansehen des deutschen Dramas und der deutschen Bühne zu fördern, und zwar gerade auch vor dem Auslande, wobei er mit dem damals maßgebenden frühklassizistischen Geschmack, der von allem Volkstümlichen weit entfernt war, rechnen zu müssen meinte. Dieser frühklassizistische Geschmack kommt etwa auch zur Geltung in Joh. A n t o n v o n W a a s b e r g h e s „Freidenker"Wochenschrift (1741—43), die gelegentlich der Würdigung einer Cid-Aufführung den „Sterbenden Cato" nicht unerwähnt läßt und im Rahmen einer der frühesten Theaterkritiken gegen jede Form des Stegreifspiels Stellung nimmt zugunsten des „regelmäßigen"

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Theaters unter Abwehr der „elenden zotenhaftigen und unregelmäßigen Stücke". Auf der anderen Seite ist nicht zu übersehen, daß z . B . bereits der Lustspieldichter J o h . C h r i s t i a n K r ü g e r (1723—50) in dem Vorwort zu seiner Marivaux-Übersetzung (1747/49) nicht allein gegenüber Gottscheds Bevorzugung des Fünfakters den Dreiakter befürwortete, sondern auch Gottscheds schroffe Abkehr vom Harlekin-Spiel eindeutig ablehnte. Krüger ging in der Ehrenrettung des Harlekins also Justus Moser (und auch Lessing) voran. Krüger, der in der Truppe Schönemanns schauspielerische Erfahrungen gesammelt und im „Bauer mit der Erbschaft" merklich von Marivaux gelernt hat, ist, von Gottsched ausgehend, aber sich frühzeitig von seinem Einflüsse (auch hinsichtlich des Primats der Wahrscheinlichkeit) lösend, vor allem durch seine standessatirischen Lustspiele (die „Geistlichen auf dem L a n d e " ; die „Candidaten") aus den vierziger Jahren (1743 bzw. 1747/8) bekannt geworden. Doch verdient in diesem Zusammenhange auch sein Einakter „ D e r Teufel, ein Bärenhäuter" Erwähnung. Rein volkstümlich allerdings war sein Schaffen nicht. Gottsched war nicht der Mann und nicht die geistige Macht, entgegen der Aufklärung und ihrem vorherrschenden Kunstwollen (Ordnung, Proportionalität, Vernunftgemäßheit und „ W i t z " , Regelmäßigkeit und bürgerliche Tugend) auf etwaige Ansätze zu einer volksnäheren Theatralik (oder gar Mimushaftigkeit) zurückzugreifen und auf ihnen weiterzubauen. C h r . F e l i x W e i s s e hat wenigstens einige Schritte in dieser Richtung unternommen, während P h i l . H a f n e r s „Verteidigung der Wienerischen Schaubühne" (1761) doch mehr in eigner Sache urteilte und kämpfte. Im Prinzipiellen der kunsttheoretischen Bewertung erfolgte die deutlichere Schwenkung erst ein Jahr nach Gottscheds Tod (also zeitlich parallel mit Ph. Hafners Vorstoß, der sich in dessen liter.satir. „Reisenden Komödianten" 1762 verschärfte) durch Justus Moser. Gottsched fehlte aber nicht allein die weitschauende Aussicht, sondern einfach auch die Einsicht darin, daß er mit dem fraglos bestehenden Wildwuchs zugleich doch auch tiefergreifende Wurzelkräfte und Wachstumskräfte zu zerstören oder doch zu hemmen sich anschickte. Sich anschickte: denn wären jene Kräfte wirklich in einem ausreichenden Grade vorhanden gewesen, (wie von gewisser Seite vorschnell behauptet worden ist) so würden sie sich durch Gottscheds Reform schwerlich haben hemmen oder gar unterdrücken lassen. Hinrich Borkenstein z. B . lehnte zwar in der

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Vorrede zu seinem derb volkstümlichen „Bookesbeutel" (1741) die Harlekin-Späße ab, ohne sich jedoch in der Praxis gar so ängstlich nach dieser vorschriftsmäßigen Verfemung zu richten. Von den beiden Kulturmächten, die auf weiten Strecken das deutsche Drama nähren und bilden: Antike und National-Volkstümliches, verschmähte er das Volkstümliche und ergriff die Stütze der Antike in der Hoffnung, schon eine deutsche Klassik heraufführen zu können. Er stand aber weder im Sturm und Drang mit dessen herzlicher und herzhafter Bemühung um das National-Volksmäßige (G. A. Bürger bevorzugt das Wertattribut „volksmäßig"), noch in der Klassik, sondern in der Aufklärung. Und so ergriff er den französischen Klassizismus (der dort Klassik war), wo er die Antike zu erfassen meinte oder doch zu erfassen vorgab. Gottsched war kein Herder, kein Gerstenberg und kein Moser; er war nicht einmal ein Joh. Elias Schlegel. Möglich, daß darin, entwicklungsgeschichtlich gesehen, ein Fehlgriff lag; aber er griff dann fehl wenigstens aus gutem Wollen und aus ernster Sorge um einen kulturellen deutschen Geltungszuwachs. Zum mindesten glaubte er an derartige Motive, die er betont in den Vordergrund zu rücken pflegte. Einer kritisch schärferen Überprüfung der tiefer liegenden Ursachen wird nicht entgehen, daß zu einem wesentlichen Grade der etwas billige Bildungsstolz und Geschmacksdünkel des selbstgerechten Aufklärers mit am Werke waren, also jene entwicklungshemmenden Kräfte, die nicht auf diesem Gebiete allein Gottscheds Teilverdienste immer erneut in Frage zu stellen drohen. Selbst seine spracheinigenden und sprachfestigenden Bestrebungen blieben von solchen Hemmkräften umklammert, die dann bei seinen Schülern und Anhängern greller belichtet zutagetraten. Zu welchen Folgen und Folgerungen jene selbstgerechte Haltung führen mußte, wenn sie Verantwortungsgefühl sich selbst und den anderen vortäuschte, während sie längst in schulmeisterliche Besserwisserei oder ödes Kunstbanausentum verfallen war, beweist aus der Anhängergruppe Gottscheds vielleicht am schlagendsten der Freiherr C h r i s t o p h O t t o v o n S c h ö n a i c h mit seinem satirisch-parodistischen Wörterbuch. Denn als Schönaich der Dichtersprache Klopstocks, Ewald von Kleists, Hallers und besonders den gewiß teils recht schwachen Poesien Bodmers ebenso erbarmungslos wie verständnislos auf den Leib rückte, da fühlte sich der kampflustige Freiherr, der an sich auch manchen sym-

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pathischen Z u g aufzuweisen hat, durchaus als Verfechter einer guten Sache. E r führte den Kampf in der ernsten und ehrlichen Meinung, den Neuerwerb der Gottschedischen Sprachreinigung und Spracheinigung vor Verfallserscheinungen bewahren zu müssen. Der Nachzügler im Gottschedstreit, gewonnen durch die Dichterkrönung von Gottscheds Gnaden und angespornt durch Gottscheds unverdient wohlwollende Erwähnung seines „Hermann"-Epos in der Kritischen Dichtkunst, fühlte sich als Träger des Fortschrittes, da er doch — historisch gesehen — einen Musterfall von Rückschrittlichkeit bietet. Diese Selbsttäuschung wurde dadurch erleichtert oder recht eigentlich erst ermöglicht, daß Schönaich in Klopstock und den anderen vermeintlichen oder echten Miltonanhängern (ähnlich wie Gottsched selbst) einen Rückschritt, einen Rückfall zum barocken „Schwulst", zum Lohensteinischen Geschmack und zu einer neuaufgelegten barocken Dichtersprache beobachten und entsprechend anprangern zu können meinte. Und so richtet sich seine reichlich durchsichtige Ironie und sein offener Spott — denn Liscows bei aller persönlichen Unbeherrschtheit dennoch formal beherrschtes stileinheitliches Festhalten der ironischen Haltung, das auch Lichtenberg von der Satire fordert, geht ihm durchaus ab — gegen dieselben Hauptschäden und Schwächen: Wortschöpfung, neuartige Wortzusammenstellung, Kühnheit der Gleichnisse und dichterischen Bilder, metrische und stilistische Unzulänglichkeiten und Unregelmäßigkeiten, gegen die bereits die Kritiker und Satiriker teils der Barockzeit selbst und natürlich vor allem der Frühaufklärung mit paralleler Frontrichtung gegen die Barockdichtung vorgegangen waren. Nur jetzt meinte man eine weit stärkere Macht (Gottsched) hinter sich zu haben und für einen weit gesicherteren Wert (Sprachreinheit und Sprachklarheit auf Grund der Lehren Gottscheds) eintreten zu können. Wenn Schönaich, nachdem er schon 1752 eine Satire „Der Dichter" (bes. gegen Bodmer, aber auch Gleim) losgelassen hatte, dann im Jahre des Batteux-Auszuges Gottscheds sein berühmtberüchtigtes, mit zahlreichen Proben glossiertes Lexikon „ D i e g a n z e Ä s t h e t i k in e i n e r N u ß o d e r N e o l o g i s c h e s W ö r t e r b u c h " (1754) herausbrachte, so sollte der n e u e T e r m i n u s Ästhetik daran erinnern, daß damals schon der erste Teil von Baumgartens „Aesthetica" (1750) erschienen war und also daran, daß Schönaich sich auch insofern ein fortschrittliches Ansehen

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gab. Der Gesamttitel jedoch, der mit breiten Titelzusätzen „als ein sicherer Kunstgriff, in 24 Stunden ein geistvoller Dichter und Redner zu werden" usw. usw. ausgestattet sich spreizt, bestätigt in seiner parodierenden Aufmachung als Titel einer Barockpoetik, daß Schönaich das Rückschrittliche bei den Gegnern suchte und sah, nicht jedoch bei sich selber. Die etwas monotone Angriffstaktik war angelehnt an den 1734 von J. J. S c h w a b e übertragenen und abgewandelten „Antilongin" Jon. S w i f t s , auf den sich Schönaichs Wörterbuch mehrfach als Quelle beruft, und in der Anlageform an des Abbés Desfontaines „Dictionaire Néologique". Die Ausgangs- und Grundstellung des Kampfes sichert neben Gottsched auch Boileau. Die satirisch gehaltene „Vorrede", die etwa nach Art von Liscows „Verteidigung der elenden Skribenten" (aber weit ungeschickter in der Form) einen Vertreter der zu bekämpfenden Partei zu Worte kommen (aber Schönaich mehrfach dazwischenreden) läßt, „beschwert" sich darüber, daß Boileaus „verdammte Regeln die schönsten Einfälle zunichte" machten, womit natürlich die Regelwidrigkeit der klopstockisierenden Neutöner im ironischen Reflex bloßgestellt werden soll. Und das Neologische Wörterbuch selbst endet mit einem Zitat aus den Satiren B o i l e a u s . Ausgerüstet mit Gottscheds Kritischer Dichtkunst (seiner Redekunst usw.) und Boileaus „Art poétique", die er als vermeintlich schneidige Waffe in der Vorrede bedrohlich aufblitzen läßt, glaubt Schönaich die „Schöpferkraft" Klopstocks niederschlagen zu können. Das edle Wort „ S c h ö p f e r k r a f t " , überhaupt Zusammensetzungen, die mit dem „Schöpfer"-Begriff arbeiten, gelten ihm von vornherein als sichere Merkmale jenes Schrittes, der vom Erhabenen zum Lächerlichen führt. So ist die Widmung im Titelzusatz seines „neumodischen Wörterbuchs für angehende Dichter" gemeint, die das umfängliche und teils recht verfängliche Werk „den größten Wort-Schöpfern" zueignet. Was den Stürmern und Drängern Ehrenname wird, ist ihm Spottname, wie ihm „Mutter Natur" und „Mutter Erde" nichts als schiefe Metaphern darstellen. Schönaich sieht das dichterische Schöpfertum und den Anspruch auf dichterisches Schöpfertum von diesem Blickwinkel: „Ein jeder Dichter ist Schöpfer, nicht von Narrenspossen : nein! er ist wirklich ein Schöpfer, unter dessen Hand aus Nichts etwas wird: aus Unsinn Wörter, aus Wörter Rätsel. Ich bin also Schöpfer und so schaffe ich" (Vorrede).

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Das Prometheussymbol Shaftesburys erscheint seinen Augen als bloße Karikatur. Man sieht Schönaich als Symptom für die Gottschedreaktion gegenüber den Schweizern und Klopstockianern durchweg zu isoliert. Im weiteren Zusammenhange gesehen, bringt er nur eine N e u a u f l a g e der K a m p f g ä n g e der F r ü h a u f k l ä r e r gegenü b e r dem b a r o c k e n K u n s t w o l l e n . Man hatte dort auch einen stiltheoretischen bzw. metrischen Gesetzgeber zur Verfügung gehabt, Christian Weise. Und so hatte man längst vorher ganz ähnlich polemisiert und parodiert. Dort jedoch stand man einem Kunstwollen gegenüber, das seine Vollendung im wesentlichen hinter sich hatte; während der Freiherr von Schönaich einem Kunstwollen gegenüberstand, dessen schöpferkräftige Verwirklichung jenseits Klopstocks erst im keimhaften Werden war. Jene waren Nachrichter abblühenden Lebens. Dieser erhob sich zum Scharfrichter über aufblühendes Leben. Darin liegt der bittere Beigeschmack, der diesem Kunstbanausentum anhaftet. Indem jedoch manches Überschwängliche und Verdämmernde, besonders in Klopstocks „Messias", auch ernster zu nehmenden Kritikern — so Lessing — Ansatzmöglichkeiten bot und indem vor allem auch die künstlerisch tatsächlich recht schwache Partriarchadendichtung der Schweizer und darüber hinaus Halbtalente wie Naumann mit seinem „Nimrod"-Epos ohne jedes Gefühl für Wertabstände wahllos zusammengewürfelt wurden, ergab sich für Schönaich wenigstens streckenweise so etwas wie ein Schein des Rechts zur Polemik. Darin liegt aber zugleich das — wie Herder sagen würde — Schielende und teils wohl doch bewußt Schiefe der ganzen kritischen Blickrichtung. Am bündigsten kennzeichnet die alle Einzelurteile beherrschende Grundeinstellung Schönaichs jene Überzeugung, die Gottscheds „Redekunst" in der absichtlich hier wiederholten Fassung ihm übermittelt hatte: „Man denke nicht: es klinge doch hübsch oder neu oder hoch. Denn was nicht vernünftig ist, das taugt gar nicht!" Das leichte Geplänkel der Vorrede über Verstand und Vernunft und ihren Unterschied kann mit seinem witzelnden Gehaben nicht über die witzarme Behäbigkeit hinwegtäuschen, mit der sich „eine gesunde Vernunft" breitmacht und zum Richter aufwirft über alles Künstlerische, zum mindesten soweit es die Dichtersprache angeht.

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Schmerzlich ist dem heutigen Leser, für den das beabsichtigte Schandmal der „nagelneuen" Wörter an sich längst zu einem Ehrenmal der sprachebereichernden Leistung Klopstocks geworden ist, besonders das Hineingezerrtwerden von Wörtern wie „Schöpfer" und „Schöpferkraft" in die Drecklinie (das Wort ist nicht zu hart) literarischer Streitereien. Man möchte die Prägung „Schöpferkraft", die als Träger einer Kunstgesinnung zugleich für das Kunstwollen von Gewicht sein muß, weit lieber bei dem jungen Herder oder Goethe erstmalig antreffen. Aber Schönaich verzeichnet das Wort 1754 (Goethe, soweit ich sehe, erst 1774), wenn natürlich auch nur als eine der Neubildungen, an denen das vorschriftsmäßige Ärgernis zu nehmen ist. Und es bleibt ein kleiner Trost, daß er sich dabei auf einen schwärmerischen Anhänger Klopstocks bezieht; er hieß nicht gerade poetisch Joh. S a m . P a t z k e , erfuhr jedoch eine wohlwollende Würdigung durch den jungen Lessing. So wird dieser denkwürdige Terminus doch wieder dem wesensfremden Kreise entzogen und in den wesensgemäßeren Klopstockkreis einbezogen. Schönaich war nicht nur von großem Ungeschick beseelt, sondern er scheint auch ehrlich Pech gehabt zu haben. Denn gerade die Großen hat sich der Kleingeist, der gern Scharfgeist sein wollte, ausgesucht: neben Klopstock auch Lessing. Jenseits seines Wörterbuchs hat er etwa hundert Epigramme gegen den allerdings damals nicht ohne Blößen dastehenden jungen Lessing abgeschnellt, also in eine Richtung, wo doch selbst für Schönaichs Bedürfnisse hinreichend Vernunft vorhanden war. Er reibt sich an dem „Jungen Gelehrten", den er gern als Porträt Lessings hinstellen möchte, und auch ein wenig am „Henzi"-Fragment, wobei wiederum die sprachlich-metrische Einzelheit (falsche Betonung des Namens Henzi im Alexandriner) aufgestochen wird. Ein näheres Eingehen auf S c h ö n a i c h s „Neologisches Wörterbuch" würde voraussetzen, die ganzen Zeit- und Streitschriften aus dem Konflikt Gottsched-Schweizer auszubreiten. Das ist hier nicht beabsichtigt. Und was Einzelbezüge betrifft, so macht Albert Kösters gediegene Herausgeberarbeit, die den seltenen Verband von Gründlichkeit und Grazie auch in diesem Falle bewährt, eine nachträgliche Auslegung überflüssig.

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Abwandlung und Auflockerung der „kritischen" Poetik ( D i e S c h w e i z e r u n d die S c h l e g e l ) Fruchtbarer als auf den vielerörterten Streit der Schweizer J. J. B o d m e r und J. J. B r e i t i n g e r mit Gottsched einzugehen, jene langwierige Polemik, die im letzten Untergrund — nämlich im beiderseitigen Fußen auf Wolff — des tragfähigen Anlasses entbehrt, muß es erscheinen, ihre Poetik in einigen Grundzügen zu entwickeln, um so mehr, als in der Auseinandersetzung selbst Gottsched auf das Wesentliche ihrer Abweichungen kaum eingegangen ist. Das im Anlageplan Bedeutsame liegt in dem Versuch, ihre Poetik systematisch-philosophisch zu unterbauen. Es geschah dies in Deutschland zeitlich vor Gottsched zum ersten Male, und zwar nicht sowohl in der späteren Breitingerschen „Kritischen Dichtkunst", als vielmehr in der früheren Schrift Bodmers und Breitingers, die jedoch im entscheidenden Anteil Bodmer zuzuschreiben ist und „ V o n dem E i n f l ü s s e u n d G e b r a u c h der E i n b i l d u n g s k r a f t ; zur Verbesserung des Geschmacks . . ." (1727) handelt. Der philosophische Unterbau war der Wölfischen Lehre entlehnt worden. Und anders als späterhin etwa Winckelmann zielte Bodmer noch zuversichtlich auf eine „mathematische Gewißheit" ab. Wie denn auch der Abhandlung ein ausdrückliches Widmungsschreiben an Wolff mit auf den Weg gegeben wird. Es ist dies vor Baumgarten ein e r s t e r A n s a t z z u r E r o b e r u n g des ä s t h e t i s c h e n B e r e i c h e s als Ergänzung zur damaligen Beherrschung des logischen Gebietes durch Wolff. Schon dieser Umstand sollte davor warnen, zuviel echte Gefühlswertung, zuviel echten Geniekultus gar in diese Schrift hineinzudeuten. Addisons „Imagination", die nicht so ohne weiteres mit einem spontanen Schöpferdrang gleichzusetzen ist, hat nicht zum wenigsten die hohe Bewertung der Einbildungskraft durch Bodmer hervorrufen und bestärken helfen. Und wo man dem Worte „Empfindung" begegnet, ist nicht sowohl der Gefühlsgehalt der gegenwärtigen Wortbedeutung herauszulesen als vielmehr durchweg der Sinn von „sentiment". Dennoch ist nicht zu leugnen, daß gerade dem jüngeren Bodmer zum mindesten ein Ahnen aufstieg von der gefühlsmäßigen Bedingtheit der Dichtkunst. Ein Satz zwar wie der: „daß der Schriftsteller das Gemüts-Innere zu schildern vermag, ist der Punkt, der den Schreiber vor dem Maler am meisten erhebt", kann nicht als

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Neuerwerb gelten. Immerhin deutet sein Aufnehmen in die eigenen Anschauungen oder auch die Anregung, „daß der Schreiber niemals schreibe, als wenn er selbst von denen Regungen gerührt wird, die er in den Lesern erregen will", hinreichend an, wie sich eine Bevorzugung der Gemütswerte durchzusetzen trachtet. Fr. v. Hagedorn stellt etwas später ähnliche Forderungen, nur eben in Versform auf. Die Einbildungskraft nun sei das Mittel solcher Selbsterregung. Sogar vom „poetischen Enthusiasmus" weiß Bodmer — wie vorher die Breslauer Anleitung — schon recht warm zu künden. Indessen durchstößt immer wieder das Streben nach verstandesmäßiger Erkenntnis jene Nachempfindungsströmungen und lenkt sie oft beträchtlich ab. Schon in der Vorrede dieser Schrift von 1727 wurde eine prinzipielle Poetik (in fünf Teilen) angekündigt, und zwar sollte der erste Teil von der Einbildungskraft, der zweite von dem Witz (Geist) als einer Fähigkeit des „Gemüts" (also Gemüt noch nicht in unserem Sinne), der dritte von der Dichtfähigkeit und dem Geschmack, der vierte von den Gattungen, der fünfte endlich von dem höchstmöglichen Grade der Vollkommenheit, dem Erhabenen, handeln. Ausgeführt wurde dieser Plan nicht. Aber die späteren Schriften der Schweizer lassen doch wesentliche Teile des ursprünglichen Programms erkennen. Dem belebenden E i n s t r ö m e n d e s e n g l i s c h e n (vorwiegend Lockeschen) E m p i r i s m u s über Addisons Abhandlungen im „Spectator" (bes. 1712) in die rationalistische Struktur ihrer Poetik erweisen sich die Schweizer aufnahmefreudig geöffnet. Und d o c h b a u e n b e i d e i m m e r w i e d e r H e m m u n g e n e i n , damit das geweihte System des Rationalismus nicht zersprengt werde vom frischen Andringen jener Strömung. In diesem A u f geschlossensein einerseits und Gehemmtsein anderers e i t s l i e g e n A u s w e i t u n g u n d B e g r e n z u n g der S c h w e i z e r P o e t i k und Literaturphilosophie — nicht selten auch in Widersprüchen — offen zutage. J. J. Bodmers „ B r i e f w e c h s e l v o n d e r N a t u r d e s p o e t i s c h e n G e s c h m a c k e s " (1736), der zurückgeht auf einen im Jahre 1729 mit dem italienischen Grafen Pietro di Calepio (aus dem Geschlecht der Conti) geführten persönlichen Briefwechsel Bodmers, sieht eine Erfüllung dichterischen Wirkungswillens im „affizieren, bewegen, rühren, neigen", also in einer Rückübertragung der Sinneseindrücke über die Phantasie des Schaffenden auf die Phantasie des Kunstwert-Aufnehmenden.

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Und seine „ C r i t i s c h e n B e t r a c h t u n g e n ü b e r die p o e t i s c h e n G e m ä h i d e der D i c h t e r " (1741) meinen offenbar den englischen Empirismus, wenn sie von der „neuen Philosophie" sprechen, die durch „neue Werkzeuge" dem Dichter neue Bilderwelten erschließe. Voransätze zu einer psycho-physiologischen Grundlegung der Ästhetik, wie sie späterhin der junge Herder in Angriff nahm, sind bereits in Bodmers „Kritischen Betrachtungen" nachweisbar. Die Grundthesen, daß die Sinne „die ersten Lehrer der Menschen" und Vorraussetzung für „alle Erkenntnis" schlechtweg gewesen seien, können für die Poetik ausgewertet werden in der Weise, daß mit diesem sinnlich vermittelten Erkenntniszuwachs ein gewisses „Ergetzen" verbunden auftritt. Es wachzurufen durch Wiederbelebung von Erinnerungsbildern sinnenhafter Eindrücke mit Hilfe der Einbildungskraft, ist Aufgabe der Dichtkunst: „Das E r g e t z e n , welches die Poesie sich zu ihrer Absicht vorgesetzet hat, ist kein anderes als das allgemeine sinnliche Ergetzen, welches die Natur selbst dem Menschen zugedacht und ihm zu dem Ende die Werkzeuge der Sinnen mitgeteilet hat". Dieses „Ergötzen" steigert sich an der Freude des Aufnehmenden über die Ä h n l i c h k e i t v o n W i r k l i c h k e i t s u r b i l d u n d P h a n t a s i e a b b i l d , wie denn auch das ä s t h e t i s c h e W e r t u n g s k r i t e r i u m vom Gelingen der Bildreproduktion abhängig zu machen ist, und überhaupt die Wesensgesetzlichkeit der Dichtkunst für die Schweizer stark auf die Wirkensgesetzlichkeit zurückgeführt erscheint, indem Wirkung und Wertung nahe aneinanderrücken. Vorzugsweise ist es d a s A u g e , das noch a l s der p o e t i s c h e S i n n Vorrang genießt für die malende Idealpoesie der Schweizer (ähnlich bei Addison), während kennzeichnenderweise Herder den Gesichtssinn als den geistigsten, „kältesten" Sinn in der ästhetischen Funktion zurückdrängte. Und es ist nur folgerichtig, wenn Breitingers „Kritische Dichtkunst" auch den Höhenwert der Einbildungskraft nicht achtungsvoller zu umschreiben vermag als dadurch, daß er sie das „ A u g e der S e e l e " nennt, während für Herder die Wortkunst (wenn auch nur andeutungsweise) als eine „Musik der Seele" am innigsten erfaßbar wurde. Die „Kritische Dichtkunst" Breitingers bewegt sich bereits ganz in der Richtung der „Kritischen Betrachtungen" Bodmers über die Wesens- und Wirkensverwandtschaft von Wortkunst und Bildkunst, wenn sie den Stoffbereich des dichterisch Verwertbaren so umreißt:

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„Wie nun der Maler zur Materie der Nachahmung alles dasjenige nehmen kann, was dem sinnlichen Werkzeuge des Gesichtes durch Licht und Farben kann begreiflich gemacht werden; also stehet es in dem Vermögen der poetischen Malerkunst, alles, was mit Worten und Figuren der Rede auf eine sinnliche, fühlbare und nachdrückliche Weise kann nachgeahmet und der P h a n t a s i e a l s dem A u g e der Seele eingeprägt werden, nach dem Leben und der Natur abzuschildern" (Kr. Dk. I, 53). Sowohl den rationalistischen Einschlag wie den verstärkten Einwirkungswillen auf das Phantasieerleben bringt die „Kritische Dichtkunst" dadurch zur Geltung, daß sie vom Idealpoeten fordert, „durch wohlerfundene und lehrreiche Schildereien die Phantasie des Lesers angenehm einzunehmen und sich seines Gemütes zu bemächtigen". Und selbst das Bemühen, die „Erlebnistiefe" für die Schweizer zu retten (wie es z. B. bei Bosch sich ausgeprägt findet), kann doch nicht daran vorübergehen, daß etwa auch Bodmers „Kritische Betrachtungen" zur Erläuterung der Bildeinprägung „in das Gehirne" sich wiederum „der Sprache des Herrn Descartes" bedienen. Im größeren Entwicklungszusammenhange enthüllt sich gerade in den immer erneuten Umschreibungen jener P h a n t a s i e g e m ä l d e und Naturabschilderungen der Schweizer überraschend weitreichend im äußeren Ergebnis die Parallele mit teils wörtlich anklingenden Wendungen der Barockpoetik. Im ä u ß e r e n Ergebnis: denn der i n n e r e Z u g a n g wurde, wie angedeutet, von anderer Seite her gewonnen. Und so ist zweifellos die Wesens- und Wirkungsform dieser Wortbild-Kunst wesenhaft nicht unbedeutend abgestuft. Das ut pictura poesis erscheint auf neuer Entwicklungsebene neu aufgefunden und in seiner Berechtigung bestätigt. Geläufige Lehren der Barockpoetik von dem Gebrauche der „Wortfarben", die mit dem „Pinsel des Verstandes" (die Wendung begegnet noch bei Winckelmann 1755) aufzutragen seien, werden in neuartig empiristischer und psychologistischer Sinnwendung aufgegriffen, wenn Bodmer auf das leere „Tuch" der Phantasie den Dichter die Worte zeichnen läßt, „wie der Mahler die Farben auf die Leinwand . . . ; die F e d e r d i e n e t i h m s t a t t des P i n s e l s " . Und selbst die Einsicht in die stolze Aussicht auf die erweiterte Motivwelt des Dichterischen, das über die Naturwirklichkeit hinaus „gar Chimären und ungeheure Gestalten" kraft der unbeengten Wortmittel erfassen könnte, selbst

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diese Einsicht und Aussicht waren bereits der Barockpoetik (wie schon der Humanistenpoetik) vertraut. Denn von dieser Überlegenheit des Dichterischen hatte innerhalb Deutschlands zu Beginn des sechzehnten Jahrhunderts schon J o a c h i m von W a t t den Vorrang der Dichtkunst abgeleitet. Sie mußte jedoch nach der Zwischenlagerung der Chr. Weiseschen Wortkunsttheorie erneut von einer über Zeit- und Wesensabstand hinweg doch irgendwie verwandten Malkunst- bzw. Wortmalkunst-Theorie erkämpft werden, besonders auch als Seelenmalerei für das „Auge der Seele" und als wunderwillige Überflügelung der gegenständlichen Schranken. Die Vielfältigkeit der im Wort beschlossenen Symbolkräfte ermöglichte bald eine Vorherrschaft der visuellen Elemente und damit ein näheres Heranrücken an die Malerei, bald eine Vorherrschaft der akustisch-musikalischen Elemente und damit eine Annäherung an die Musik. In beiden Fällen mit der Neigung, die eigentliche Wortheimat mehr oder minder weitgehend aufzugeben zugunsten der mit der „wunderbaren" Macht der Worte zu erobernden Nachbargebiete. Auch Bodmer empfindet es durchaus als „wunderbar", daß der Dichter als „magischer Mahler" den Bildkünstler im eigenen Bereiche noch zu überbieten vermag, ohne seine „Kritischen Betrachtungen" von diesem gegebenen Ansatzpunkte zu sprachphilosophischen Betrachtungen zu vertiefen. Die visuell-malerische W o r t a u f f a s s u n g ist es nicht zum wenigsten, die jene Annäherung an die Barockpoetik spürbar werden läßt: auch hier auf anderer Erkenntnisebene. Denn vom empiristischen Standort aus betrachtet, liegt für Bodmer das Überraschende nicht zum wenigsten darin, daß bloße Worte, „die nicht nur unfühlbar, sondern auch unsichtbar sind", derartige „Gemähide" auf der Phantasiefläche hervorzuzaubern vermögen. Unausgesprochen hebt sich damit zugleich das „willkürliche Zeichen" der Wortkunst vom „natürlichen Zeichen" der Bild- und Tonkunst im aufklärerischen Sinne doch wiederum merklich ab. Und der emsige Vergleich mit den „Farben" des Malers reicht doch nicht völlig aus, von einer letztlich logisierenden Grundauffassung der Wortzeichen als abstrakter Mittel freizukommen. Setzt doch Breitinger in der „Kritischen Dichtkunst" die Parallele geradezu so an, daß „Reden nichts anders ist, als seine Begriffe und Gedanken durch Zeichen zu verstehen" zu geben. Ansätze zur Zeichenlehre sind wie bei Chr. Wolff

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selber auch in dem von der Philosophie Wolfis beherrschten Entwicklungsstadium der Schweizer Poetik zu verzeichnen. Und es wird deutlich, wie vom Ansehen und Auffassen des S p r a c h m i t t e l s Abstufungen für die frühe Literaturphilosophie bereits gegeben sind. Wobei für Chr. Weise und letztlich auch für Gottsched das Wort im Wortverband des syntaktischen Gefüges als Sinnträger beherrschend wird, während weiterhin Lessing den Zentralbereich des Wortkünstlerischen zurückzuerobern sucht im Erfassen der Wortsukzession in der Zeitfolge, bis endlich HamannHerder die Wortbeseelung als dichterische Urheimat erobern und dergestalt Sprachphilosophie und Literaturphilosophie in innige Berührung bringen im Sinne einer notwendigen Einheit von Ausdruckswollen und Ausdrucksmittel. Für die Schweizer war das Wort schließlich doch wieder Mittel zum Zweck, wie ihnen die sinnlich frischere Empirie Mittel zum Zweck blieb, zum Zweck der Erkenntnisbereicherung über den Umweg des „Ergetzens", also im Bereiche der unteren Seelenkräfte. Die rationalistische Systematik hält den empiristischen Neuerwerb fest umklammert und lenkt seine Stoßstärke in die eigne Richtung ab, die allerdings eine elastische Schwenkung vollzieht. Und in diesem elastischen Ausweiten — das keineswegs ein Durchbrechen war — liegt zum Wesentlichen die Aufgabe und die T e i l a r b e i t , die den Schweizern innerhalb der Auflockerung der a b s t r a k t e n N o r m p o e t i k zufiel. Es galt vorerst, der Dichtung freieren Lebensraum zu schaffen, ohne den Schutz entbehren zu müssen, der im Ansehen der Leibniz-Wolffschen Systembildung verbürgt zu sein schien. Und so wird immer wieder verfolgbar, wie die Schweizer unter fürsorglicher Schonung des rationalistischen Prestiges von innen her diesen ausweitenden Lebensraum zu erobern trachten, und zwar vorzüglich mit den eigenen Waffen des Rationalismus, ähnlich fast wie Lessing Shakespeare unter dem Schutz der Aristoteles-Autorität hineinzureiten trachtet in die rationale Geltungswelt. Der Verstand zügelt für Bodmer die Phantasie, daß sie sich dem Primat der Wahrscheinlichkeit in gewissem Grade fügt und das „Reich des Unmöglichen" meidet. Die elastische Ausweitung durch E i n b e z i e h u n g des W u n d e r b a r e n wird durchgesetzt; aber nicht die Überwindung der Wahrscheinlichkeit, sondern die „Verbindung mit dem Wahrscheinlichen" ist das Ziel, 4 M a r k w a r d t , Poetik II

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das bereits die Titelgebung herausstellt: „ C r i t i s c h e A b h a n d l u n g v o n dem W u n d e r b a r e n in der P o e s i e und dessen Verbindung mit dem Wahrscheinlichen" (1740). Und dieses Zwischenziel, das noch nicht der schöpferischen Phantasie vorbehaltlos die Bahn freigibt und sich begnügt, von „einer Art Schöpfung, die der Poesie eigen ist", zu sprechen, sucht Breitingers „Kritische Dichtkunst" behutsam schrittweise zugänglich zu machen unter fortlaufender Abwehr des Schreckgespenstes der „Unvernünftigkeit" und unter dem sichernden Geleite der rationalistischen Vorstellung von den „möglichen Welten". Denn dieses vorsichtige Abheben von wirklichen und historischen Wahrheiten und „poetischen Wahrheiten" allein scheint zur Sicherung doch als nicht recht ausreichend empfunden zu werden. Daher der Umweg: „All diese möglichen Welten, ob sie gleich nicht wirklich und nicht sichtbar sind, haben dennoch eine eigentliche Wahrheit, die in ihrer Möglichkeit, so von allem Widerspruch frei ist, und der alles vermögenden Kraft des Schöpfers der Natur gegründet ist" (Kr. Dichtk. I). Die Theodizee muß Hilfestellung bieten. Der Vorwurf jedoch der Anmaßung, die den Dichter sich erkühnen läßt, die „beste der möglichen Welten" noch zu überbieten durch Erschaffung einer eigenen poetischen Welt, jener bedrohlich sich aufdrängende Vorwurf, wird abgebogen mit Hilfe der Entlastung, daß es dem Menschen versagt sei, die Vollkommenheit des Weltganzen und des Weltenplanes „auf einmal zu übersehen", ein Gedanke, der bis zu Schiller hin nachwirkt und zur Forderung des organisch-harmonischen Weltbildes im Kleinen, im Mikrokosmos des Dichtwerks ins Positive gewendet wird (abgewandelt noch bei Adalbert Stifter). Etwas kühner erklärt Bodmer, der in der Verteidigung allegorischer Gestalten über Addison hinausgeht, „eine Art Erschaffung" für „des Poeten eigenes Amt". Religiöse Vorstellungen spielten hinein, wenn sich den Schweizern das Wunderbare mit dem Schöpferischen verwob, aber auch r e l i g i ö s e B e d e n k e n , wenn das Wunderbare und Schöpferische Gottes vom Wunderbaren und Schöpferischen des Künstlers vorsorglich abgehoben wurde. Zugleich erfolgt — schon rein terminologisch — eine b e h u t s a m e G e w ö h n u n g an d a s W e r t w o r t „ w u n d e r b a r " , das teils recht großzügig auch für ein bloßes „Ansehen der Neuheit" schon in Anspruch genommen wird. Breitinger nennt „wunderbar" bereits jedes dichterische Auswerten des Sinnenscheins im bloßen

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Bildgebrauch (z. B. optische Täuschungen), wie am Beispiel vom Sonnenuntergang (Opitz) oder vom Monduntergang, das er Posteis künstlerisch schwachem „Wittekind"-Epos entnimmt, oder auch am benachbarten Beleg aus H. Brockes mühelos erkennbar wird. Er nennt „wunderbar", und zwar unter Stützungsuchen bei Aristoteles, weiterhin bereits die bloßen affektbedingten Übertreibungen eines von der Gemütsstimmung her beeinflußten Eindrucks und dessen — durchweg metaphorische — Wiedergabe. Und es kommt für die Wirkungsästhetik der Auflockerer natürlich darauf an, „diese kunstreiche (!) Anwendung des Betrugs der Affekte" (affektbedingte Täuschungen) n u n vor allem „ w u n d e r b a r " u n d a u c h „ h e r z r ü h r e n d " in W i r k u n g u m z u s e t z e n . Selbst der Affekt der Liebe wird dergestalt abgeschätzt auf die letzten Endes kunsttechnische Möglichkeit, „die wunderbaren Würkungen" herauszuholen. Die Bezeichnung des „Wunderbaren" ist damals ebensowenig eindeutig wie die Bezeichnung der „Empfindung". Kurz, das „wunderbar" im Munde der Schweizer klingt nicht selten fast so Verblasen und unbestimmt, wie einst das Wertattribut „natürlich" bei den Barockpoetikern geklungen hatte. Die Bezeichnung schwingt in ihrer Bedeutung z. T. über die Wirkungseinstellung (Sehart von der ästhetischen Wirkung her) hinüber in das, was wir „wundervoll" nennen würden, aber in der Umgangssprache wohl auch noch gelegentlich „wunderbar" nennen. Es greift andererseits weiter hinüber in den B e z i r k des E r h a b e n e n . Und es ist kein bloßer Zufall, wenn etwa eine Untersuchung vom Erhabenen Heineckes gerade in diesem Zusammenhange von Breitinger — obwohl im Einzelfall (Besser) kritisch — herangezogen wird. Weit überwiegend ist jedenfalls nicht das „Wunderbare" gemeint, das etwa G. A. Bürger wie überhaupt der Sturm und Drang oder vollends die Romantik verteidigen. Eine wesentliche Ursache für jene zaghafte und vorsichtige Gewöhnung an das „Wunderbare" nämlich enthüllt sich bei näherem Zusehen als ein s c h o n e n d e s R ü c k s i c h t n e h m e n auf den z ä h e n K a m p f der A u f k l ä r u n g gegen j e d e F o r m des A b e r g l a u b e n s volkstümlicher Art, gegen das Märchenhafte und Sagenhafte. Und nur dann, wenn der Dichter in jedem Einzelfalle „große Behutsamkeit" anwendet, vermag er nach Breitingers Auffassung auch diese Art des „Wunderbaren" der Sage „mit gutem Nutzen" zu verwerten.

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Als mildernder Umstand vor dem Richterstuhle der Wahrscheinlichkeit, dessen Zuständigkeit in dichterischen Dingen nicht ernstlich beanstandet, sondern nur ein wenig eingeschränkt wird, gilt die motivlich begründete Anpassung an den Zeitgeist und an den Glauben früherer Epochen (ähnlich wie sonst bei der antiken, aber auch späterhin der nordischen Mythologie), wobei historischer und kulturhistorischer Sinn sich vorerst noch tastend vorwagt. Wie schon bei Bodmer wird ein A u s w e g mehrfach auch von Breitinger gesucht und vermeintlich gefunden in der mittelbaren Brechung von Wirklichkeit und Wahn, aber auch von Bild und Sinn im a l l e g o r i s c h e n W i r k u n g s m i t t e l . Gewiß darf bei alledem nicht unterschätzt werden, daß die Eingewöhnung des Neuen oder doch von der Zeit als neu Empfundenen vielfach vorerst den Übergang zu erleichern sucht, indem sie — wie etwa auch bei der Shakespeare-Vermittlung — möglichst weitgehend an das Altgewohnte anknüpft. Dieses taktische Verfahren darf auch für die G e w ö h n u n g an d a s „ W u n d e r b a r e " d u r c h die S c h w e i z e r in Anspruch genommen werden. Aber damit fehlte dem an sich gewagten Vorstoß die innere Stoßkraft. Es fehlte auch die unbekümmerte Folgerung, die z. B. B r ä m e r zog, indem er das Wunderbare einfach vom Primat des Wahrscheinlichen freisetzte. Diese mangelnde Entschlossenheit und die Neigung zum Kompromiß, die der Reichweite der Schweizer Poetik überall Grenzen zog, kennzeichnet ebenso die Stellung zu einer herrschenden Macht der Poetik, zum „Geschmack", dessen irrationale Keimkräfte wohl gespürt, aber nicht voll entfaltet werden. Die Erörterungen über das Geschmacksproblem in Bodmers „ B r i e f w e c h s e l v o n der N a t u r des p o e t i s c h e n G e s c h m a c k s " (1736) bedürfen aber nicht nur einer näheren Würdigung unter dem Blickpunkt des Verhältnisses von Rationalismus und Empirismus, sondern auch unter dem Blickpunkt italienischer Anregungen, die indessen nicht ohne kritische Überprüfung und nicht vorbehaltlos von Bodmer angenommen werden. Der 1736 als kunsttheoretische Abhandlung veröffentlichte „Briefwechsel" war keine bloße Einkleidung, sondern ging zurück auf einen mit dem italienischen Grafen Pietro dei Conti di Calepio in den Jahren 1728—1731 (bes. 1729) geführten Privatbriefwechsel Bodmers. Dabei versucht Bodmer die Objektivität des Geschmacks an sich trotz aller zeitlichen und nationalen Abwandlungen festzuhalten und so eine verläßliche Instanz zu wahren, während Calepio

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williger dem Einflüsse Dubos' sich geöffnet zeigt. Das „Ergötzen" führt Bodmer entsprechend dem Nachahmungsbegriff der Schweizer zurück auf die Übereinstimmung von Vorstellungsbild und Phantasiebild, während Calepio die Anschauungen der Emotionstheorie verficht, gerade auch hinsichtlich des Wirkungszieles des Dramas, das Bodmer auf die Bewunderung (Vergleich mit dem bewunderten Helden, Ähnlichkeit von Urbild und Abbild) zurückführt. Das heroisch-stoische Ideal hat Bodmer späterhin in einem Beitrag zum Stichwortartikel „Politisches Trauerspiel" im Rahmen von Sulzers „Allgemeiner Theorie" zum mindesten für die als berechtigt verteidigte Sonderform des politischen Dramas herausgestellt. Gestützt auf die politische Funktion des griechischen Theaters, das als „Werkzeug gebraucht" worden sei, „das Volk in den Empfindungen von dem Werte populärer Grundsätze und Rechte zu unterhalten", scheint ihm gegenüber den modernen Theaterstücken, die vorwiegend individuellen Schicksalen und besonders der „Weiberliebe" gewidmet seien, das Motiv der „Vaterlandsliebe" angemessener für das politische Trauerspiel, das „so große Angelegenheiten umfasset, wie die Nationalinteressen sind". Unter laufendem Gefecht gegen leichte und verliebte Motive spielt er die „öffentlichen" Kräfte gegen die bloßen „Privattriebe" aus. Es bedürfe der „stoischen Seele" sowohl auf Seiten des Dichters wie des Zuschauers. Die „Leser" müßten „populäre, patriotische Personen" sein. So gesehen, sei das Drama berufen, „Patriotisme, Naturrechte, Staatsbegriffe, populäre Empfindungen einzuprägen". Bodmer begegnet hier also auf dem Wege Sulzer-Schiller, wenn auch noch recht unbeholfen im Schritt und ohne Schillers schwungvolle Gangart. Schon in seinen „Briefen" verteidigte er das Erhabene, während Calepio lebhafter das Rührend-Bewegende (seinem Emotionsbegriff entsprechend) herausarbeitet. Es spielt bei Calepio wohl auch die Abwehrstellung gegen die heroische Tragödie Corneilles mit. Auf diese Auseinandersetzung über die Tragödie weist der Zusatztitel des Briefwechsels hin, der auf die Frage des E r h a benen Bezug nimmt. So kann dieser Briefwechsel als Vorstufe zum Lessingschen Briefwechsel mit Mendelssohn und Nicolai über den Zweck des Trauerspiels gelten. Dabei wird das Geschmacksproblem in Beziehung zum Empfindungsproblem ausgiebig zur Erörterung gestellt, und zwar

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unter Abwehr der kühneren Empfindungsbejahung Dubos'. Das Regulativ der „Betrachtung", der urteilsfähigen Bewußtwerdung kann für die Bändigung etwaiger Geschmackswillkür nicht entbehrt werden. Diese Betrachtung als Trägerin des ästhetischen Lustgefühls geht nur mittelbar auf eine zudem verfeinerte Empfindung zurück. Die „Grundregeln", nach denen der Geschmack — wenngleich „seiner eigenen Natur gemäße" — reagiert, werden letztlich doch wieder „ d u r c h die V e r n u n f t f e s t g e s e t z t " . Bodmer ringt um eine synthetische Überwölbung des analytisch abgeleiteten Ncbeneinanders von empfindungsgemäßem Geschmack und verstandesmäßig (kritisch) urteilender Vernunft (Joh. Ulrich König). Sein Rückzug von Descartes auf Leibniz wirkt allerdings in diesem Zusammenhange nicht gerade als ein philosophisch geordneter Rückzug. Aber wie immer Bodmer diese etwas schneidige — und zweischneidige, daher auch umstrittene — Schwenkung auch gemeint haben mag: erkennbar wird die ständige Rückversicherung beim Leibniz-Wölfischen System gegenüber vermeintlichen Waghalsigkeiten der französischen Geschmackslehre einerseits, wie auch gegenüber den mannigfachen Zuströmen aus der italienischen Ästhetik und aus der Kraft der empiristischen englischen Welle andererseits. Erspürbar mehr als erkennbar wird das instinktiv richtige Erahnen von Möglichkeiten gerade in der Philosophie Leibnizens auch für den Einbau und Ausbau des Ästhetischen, ohne auf die letzten Endes — wenngleich teils auch oppositionell — von Descartes weltanschaulich bedingten französischen Theoreme angewiesen zu sein. Gerade dort, wo vorwärtsweisende Wirkungskräfte innerhalb der deutschen Wortkunsttheorie, Literaturphilosophie und Ästhetik sich durchzusetzen trachten, bei Baumgarten, Mendelssohn, Lessing, bei Herder und in gewissem Grade auch bei Kant, wird mehrfach die große Linie auf den Denker Leibniz hin sichtbar aus all den Strömungen und Einflüssen ausländischer Theorie und Ästhetik. Von diesen Erwerbungen des Auslandes kommt nicht nur England für die Schweizer in Betracht, sondern vor allem auch der Italiener Muratori, der die „fantasia" ebenso stark betont wie Addison die „imagination" (bzw. d. „fancy"). Die weitgreifenden A n r e g u n g e n der i t a l i e n i s c h e n K u n s t t h e o r i e und Ästhetik, wie sie vor allem durch Robertson (u. a.) aufgedeckt worden sind, beschränken sich keineswegs auf Muratori,

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obgleich von ihm die stärkste Antriebskraft, besonders auch für Breitinger, ausgegangen sein dürfte. Bodmer zeigt trotz seines frühen Aufenthalts in Italien vorerst keine eingehende Vertrautheit mit der italienischen Kunsttheorie. Er folgt zunächst einmal dem ,,Spectator",und zwar vor allem Addisons, .Pleasures of thelmagination" und steht teils unter dem Eindruck von Lockes „Thoughts concerning Education" (1693), wobei er anfangs französische Übersetzungen bevorzugt, um sich dann ins Englische einzuarbeiten und sich Addisons Beiträgen über Milton und Miltons Werk selbst zuzuwenden. Derartige Eindrücke der Frühzeit, die sich z . T . noch mit Nachwirkungen Boileaus und Fenelons nicht gerade organisch überkreuzen, bestimmen in wesentlichen Zügen das Gesicht der „Discourse der Mahlern", n o c h v o r dem vollen Einsatz der italienischen Strömungen. Über die Beschäftigung mit dem englischen Drama (Addison, Dryden, Congreve u. a.) und dessen Vergleichung mit italienischen Dramen war besonders über Maffeis „Teatro italiano" bereits eine Zugangsmöglichkeit zur italienischen Wortkunsttheorie gegeben. In der Schrift von der „Einbildungs-Krafft" (1727) scheint schon die Erläuterung des „poetischen Enthusiasmus", der in der stimmungsmäßigen Konzentration, dem leidenschaftlichen Gebanntsein des Schaffenden von seiner Schöpfung und dem Gegenwärtighalten des Vorstellungsbildes unter Abdämmung aller äußeren Ablenkung gesehen und entsprechend umschrieben wird, in gewissem Grade sich anzunähern den Erörterungen in Muratoris „Deila perfetta poesia italiana" (1706) über den „furor poeticus" (Kap. 17), ohne daß eine unmittelbare Abhängigkeit notwendig anzunehmen wäre. Es ist zu berücksichtigen, daß die Erörterungen über den Enthusiasmus auch andernorts in der europäischen Ästhetik begegnen, etwa in S h a f t e s b u r y s ,,Letter concerning Enthusiasm" (1708). Und es darf einmal daran erinnert werden, daß bereits in der deutschen Poetik des siebzehnten Jahrhunderts aus den Satiren über den „furor poeticus" von dem ins Negative der Satire übertragenen Zerrbild doch auch eine positive Vorstellung vom Dichter verhältnismäßig deutlich ablesbar wird. Es enthält diese Vorstellung schon manche jener Attribute, aus denen man dann in den europäischen Bemühungen zu Anfang des achtzehnten Jahrhunderts sich das positive Idealbild eines echten Dichters zusammenzufügen bestrebt. Doch fehlt es nicht an

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vereinzelten Vorstößen ins Positive, so etwa bei Kaspar Stieler und Christian Günther. Doch dies nur zur Warnung vor einer einseitigen Überschätzung der Auslandseinflüsse und ihrer vermeintlichen Neuartigkeit. Ihre Bedeutung soll keineswegs unterschätzt werden. Und fraglos sind bei weitem nicht alle fruchtbaren Keime innerhalb der deutschen Kunsttheorie aus früherem Ideenerbe zur Entfaltung gebracht worden von den späteren Generationen, die teilweise zeitnähere Auslandseinflüsse bevorzugten, nicht zwar ohne vielfach umwandelnde Überpflanzung der Anregungskeime auf eigenen Anschauungsboden. Soweit Bodmer M u r a t o r i s „Perfetta poesia italiana" heranzog, kommt die s p ä t e r e A u s g a b e mit den Anmerkungen von A. M. S a l v i n i (Venedig 1724) in Betracht. Diese Fassung dürfte auch Breitinger vorgelegen haben, dessen „Kritische Dichtkunst" u . a . mit ihrer L e h r e v o m ä s t h e t i s c h e n W e r t d e s N e u e n , U n g e w ö h n l i c h e n , Ü b e r r a s c h e n d e n in den wörtlichen Anklängen mehr Muratori folgt als Addison, obgleich den Schweizern diese Lehre bereits dem Sinne nach aus dem „Spectator" vertraut war. Der Briefwechsel Bodmers mit P. d. Calepio und die Herausgabe von Calepios „Paragone" durch Bodmer lassen weiterhin die Spuren jener wechselseitigen Beziehungen zwischen Italien und Deutschland verfolgen. So scheint z. B. auch der Hinweis Bodmers (in seiner Vorrede zu Breitingers „Kritischer Dichtkunst") auf einen Kritiker, der behauptet habe, daß die Natur vor den Regeln bestanden habe, nicht unbedingt auf Dubos gemünzt zu sein, sondern auf Maffei Bezug zu nehmen. Jedenfalls klingen Bodmers Sätze recht ähnlich wie entsprechende Wendungen im „Paragone", der auf Maffei Bezug nimmt. Im wesentlichen stellen Muratori und Calepio die Hauptanregungen, soweit italienischer Zustrom in Frage kommt. Streckenweise mag neben Maffei auch G r a v i n a als mögliche Einflußquelle ins Auge gefaßt werden. So könnte die Schreibweise „Sasper" für Shakespeare in Bodmers „Kritischen Betrachtungen über die poetischen Gemälde der Dichter" auf Antonio Conti (s. o.) zurückgeführt werden, um nur einiges hervorzuheben. Wenn es abgelehnt wurde, den Streit Gottscheds und der Schweizer (der noch in Chr. F e l i x W e i ß e s literatursatirischer Komödie „Die Poeten nach der Mode" [1751] sich abspiegelt) in seiner kunsttheoretisch unfruchtbaren Breite zu entfalten — Einzelnes wie Meiers Kritik, Bodmers Streitschrift in Sachen der

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Schäferdichtung u. a. wird späterhin gelegentlich berührt werden können — , so muß doch schon an dieser Stelle von einer Streitschrift etwas ausführlicher gehandelt werden, weil sie aus der Enge des Streites die Weite mancher Ansicht und Aussicht zu gewinnen wußte. Es ist I m m a n u e l J a k o b P y r a s „ E r w e i s , d a ß d i e G o t t s c h e d i a n i s c h e S e k t e den G e s c h m a c k v e r d e r b e " (1743), dem im Todesjahre Pyras eine „ F o r t s e t z u n g d e s E r w e i s e s . . ." (1744) folgte. Pyra richtete seine beachtenswerte Kampfschrift gegen das von Mylius und Cramer herausgegebene Organ der Gottschedgruppe, die „Bemühungen zur Beförderung der Kritik und des guten Geschmacks" (Halle 1743f.). Aber wie sein Lehrgedicht „ D e r T e m p e l d e r w a h r e n D i c h t k u n s t " (1737) trotz äußerer Anlehnung an Popes „Temple of Fame" und Voltaires „Temple du bon goût" religiöse Klänge eines beseelten Dichtertums aufklingen läßt und in mancher — auch metrischer — Beziehung hinüberweist auf Klopstock, so löst sich aus jener Streit- und Zeitschrift, und zwar besonders aus deren „Fortsetzung" von 1744, der eigene Entwurf einer Dramaturgie, die in manchem Ansatz — zwar nicht auf Lenz, aber doch (wenn man vom zeitparallelen Bemühen Joh. Elias Schlegels absieht) schon auf Lessing vorausdeutet. An Joh. Elias Schlegel erinnern die starken nationalen Bezogenheiten, an Lessing der Versuch, über eine verzerrende Aristotelesdeutung auf Aristoteles selbst zurückzugehen und dabei doch fruchtbare dramaturgische Winke vorwärtsweisender Art einzuflechten. Und es ist gewiß bedauerlich, daß Pyra „wegen Mangels des Raumes (am Schlüsse der Fortsetzung) abbrechen" mußte. Es ist zugleich tragisch, daß es der Mangel an eigenem Lebensraum und eigener Lebensentfaltung war, daß es der Tod war, der dem so verheißungsvoll ansetzenden jungen Dramaturgen die Feder aus der Hand zwang. Pyra behält neben den aufzuspürenden Wirkungsgesetzen auch deren Anwendung im Auge. Dennoch bleiben jene bemerkenswerten Ansätze von mancherlei Restbeständen gehemmt, wie andererseits der Ertrag nicht auf dramentheoretische Betrachtungen und Beobachtungen beschränkt bleibt, wenn man die Kampfschrift als Ganzes kurz zu umschreiben versucht. Aus dem Wirrwarr der Kampfhandlung, die vielfach mehr Einzelnes hastig aufgreift und angreift, löst sich doch an mehreren Stellen der geballte Vorstoß gegen die Front der Gottschedianer

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in dem zusammenfassenden Vorwurfe, „daß sie den i n n e r e n G r u n d der D i c h t k u n s t gar nicht verstehen". Und dieses so verkannte Grundwesen des Dichterischen findet nun Pyra einmal mit Hilfe der Schweizer, indem er es als ,,eine Würkung der Einbildungskraft" bestimmt. Zum anderen aber scheint Baumgarten die ausbauende Sondererklärung erleichtert zu haben; denn „die Einbildungskraft hat mit lauter klaren und sinnlichen Vorstellungen zu tun, die abgesonderten allgemeinen Begriffe gehören einzig und allein für die Vernunft". Die an B r ä m e r gerichtete kritische Mahnung in der Nachschrift des „Erweises" setzt zudem die Kenntnis der „Meditationes" Baumgartens voraus. Die Verteidigung des Wunderbaren in Miltons Dichtung, das vom Aufklärerstandpunkt der Halleschen „Bemühungen . . ." als abenteuerliches Gespensterunwesen kritisiert worden war, sammelt wie in einem Brennpunkte die kunsttheoretische Ausstrahlung von den Schweizern, aber auch von Baumgarten her und die weltanschauliche Ausstrahlung vom Pietismus her. Pyras religiöses Gestimmtsein bewegt sich notwendig in eigener Wertungslinie vorbei an den polemischen Einwänden z. B. Voltaires (gegen Engelerscheinungen), den die Gegenseite als Gewährsmann bemüht hatte. Aber gerade diese r e l i g i ö s e W e r t u n g s w e i s e erleichtert das E r s t a r k e n einer ä s t h e t i s c h - ethischen W e r t u n g s w e i s e , die das nur Vernünftige, Prosaische und Platte beiseitedrückt und das Sonderrecht des Dichterischen freikämpfen hilft, obwohl es in dieser Hinsicht bei Teilerfolgen bleibt. Daß es bei bloßen Teilerfolgen bleiben mußte, lag letzten Endes darin begründet, daß Pyra sich selbst noch nicht oder nicht mehr in männlicher Reifung freizuringen vermochte vom überkommenen Bildungserleben, wie etwa von der Mustergültigkeit der Franzosen und der Alten. Er wird sich, eingeklemmt in Autoritätsvorstellungen, des Vorteils seiner Kampflage gar nicht einmal voll bewußt, kann sie also auch nicht von jener an sich gegebenen Kernposition her ausbauen. So sucht er teils Stützen, die ihm wenig wesensgemäß waren: Wernicke, dessen Bedeutung als Vorkämpfer der Kritik an sich erkannt und dessen Erwähnung Miltons hervorgehoben wird, Liscow, in dem er einen Kampfgefährten begrüßen zu dürfen glaubt. Wenige Jahre später wäre ihm Klopstocks überlegene Hilfe zugewachsen. Jetzt muß er mit der Gruppe Bodmer und Breitinger, die er durch Haller eifrig zu verstärken sucht, durchhalten. Und auch die nähere Kenntnis der Schweizer

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Lehren hat er erst der Vermittlung und Anregung seines Freundes G. S. Lange zu danken. Was unter diesen Umständen herausspringt, ist weniger, als Pyra anlagemäßig hätte leisten können. Immerhin arbeitet er verhältnismäßig deutlich den Gegensatz: Vernünftigkeit und Einbildungskraft im vielfach ablenkenden Gefechtsgang heraus. Die schwache Stelle der Gegner, die Nüchternheit und Flachheit innerhalb der künstlerischen Geschmacksschicht behält er als dankbares Angriffsziel ständig im Blickfeld. In wiederholten Vorbrüchen stellt er klar, daß Gottsched „anstatt des Lohensteinischen Geschmacks wieder einen Weisianischen eingeführet" habe. E r erkennt, daß es vor allem darauf ankommt, den Gegnern die beliebte Waffe einer Gleichsetzung von Lohenstein und Milton aus der Hand zu schlagen, mit deren Hilfe die Gottschedianer die Schweizer in den — damals als solchen geltenden — Strafraum und Strafwinkel „Lohensteinischer Schwulst" hineinzudrängen versuchten. Daher ist er bestrebt, einige Beiträge zur Freisetzung Miltons von Lohenstein zu bieten. Und es glückt ihm die wirksame, obgleich kaum restlos treffende Prägung, daß Milton „ein Herr der Regeln, Lohenstein hingegen ein Rebelle" gewesen sei. Milton habe von den Alten gelernt, Lohenstein habe gegen die Gesetze der Alten rebelliert und von dem „Italiänischen Schwulst des Marino" sich „blenden lassen". Der Maßstab der theoretischen und praktischen Mustergeltung der Alten dient im zweiten, für die D r a m e n t h e o r i e P y r a s aufschlußreichen Stück der „Fortsetzung des Erweises" als Waffe, um die Geltung von Gottscheds vermeintlichem Musterdrama, dem „Sterbenden Cato", niederzukämpfen. In eingehender Werkanalyse unternimmt es Pyra, die Verstöße Gottscheds gegen die Forderungen des Aristoteles, aber auch das Abweichen von den Mustern: Euripides (Iphigenie) und Sophokles (ödipus) nachzuweisen, teils mit geschärftem und allzu spitzem Kampfsinn, wie man ihn dem Lyriker Pyra kaum zutrauen würde. An Idealforderungen der regelmäßigen Tragödie, die dergestalt als Beiträge für Pyras Dramentheorie mittelbar von dieser Kritik ablesbar werden, vermißt Pyra am Catodrama Gottscheds die Verwirklichung des Handlungsbegriffes in seinem organischen Zusammenhange (Begebenheiten verbürgen noch nicht Handlung), die rechte Eingliederung und Verknüpfung der Episoden im Verhältnis zur Haupthandlung (Nachwirkung der „Meditationes" Baumgartens)

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und die Wahrung des Grundsatzes der Wahrscheinlichkeit. Zugunsten der echten Wahrscheinlichkeit und aus der Einsicht heraus, daß mit dem Fortfalle des Chores die Notwendigkeit engerer Verbindung der Geschehensausschnitte aufgehoben sei, befürwortet er, vorerst noch an dem Gesetz der „dreifachen Einheit" festhaltend, denn doch eine gewisse Lockerung der Ortseinheit. Im Schlußteil der „Fortsetzung des Erweises" dehnt sich diese Teillockerung aus zu einer Werteinschränkung der Einheiten überhaupt, die „noch kein Schauspiel vollkommen" machen könnten. Tastende Fühler scheinen sich nach einem Charakterdrama hin vorzustrecken, wenn der Handlungsertrag in organischen Zusammenhang mit der Charakteranlage des Helden gerückt wird. Indessen verharrt dieses Vortasten im Ungewissen und Ungeklärten. Und es wäre übertrieben, hier schon von einer Vorarbeit für Lenz zu sprechen. Denn obgleich das Lenzische Wort vom Helden als dem Schlüssel zu seinem Schicksal schon abgedämpft und zaghaft vorklingt, bleibt doch Pyra, der die Antriebskraft Shakespeare noch entbehren muß, zu eng an das Muster der Alten und selbst an das Muster der französischen Hochstiltragödie klassizistischer Prägung gebunden, um sich die Bahn freibrechen zu können zu einem Original-Drama. Das Ahnen von der nationalen Dramatik klingt nur dort etwas deutlicher auf, wo er vom Dichter die Vermittlung einer „solchen Sittenlehre" verlangt, „die seinen Landsleuten gemäß ist", erscheint jedoch nicht stark genug, die Bannkraft der gräko-romanischen Vorbildlichkeit zu durchstoßen. Ein k u l t u r p a t r i o t i s c h e s T e i l k r i t e r i u m begegnet bei der knappen Skizze eines würdigen Kunstrichters, dem neben einem „hellen und geübten Verstand" doch auch „ein aufrichtiges und patriotisches Herz" als ein „wesentlich Hauptstück" zu eigen sein sollte. Im Gegensatz zur hohen Bewertung des Dramas scheint — wie einige beiläufige Nebenbemerkungen andeuten („romänenhafte Erfindung", „dahergeplaudert") — der Roman nicht voll anerkannt zu werden. In diese durchweg in der Aufklärung beobachtbare Richtung weist nicht zum wenigsten das an der Kampfstellung abzumessende Urteil, daß Gottsched wohl eher einen Roman als ein Drama würde zustandebringen können. Immerhin kennt Pyra auch — jenseits der „Cato"-Kritik — so etwas wie „eine gute Romäne". Im Ganzen verfällt die „ F o r t s e t z u n g des Erweises" jenseits der „Cato"-Kritik, der verschärften Kampflage entsprechend.

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in den ertragärmeren Charakter der Streit- und Zeitschrift im Sinne streitentbundener und zeitverbundener Haltung. Man findet bestätigt, daß der „Tempel der wahren Dichtkunst" zum mindesten noch streckenweise im Schatten der Gottschedischen Poetik errichtet worden ist, aber auch, daß er bereits erhellendes Licht von der Schweizer Poetik erhalten hat. Man findet weiterhin bestätigt, daß Wernicke trotz Schwabes Gegenbehauptung dank seiner Erwähnung Miltons als Vorgänger verteidigt wird, daß Lange für Pyra Vermittler der Schweizer Theorie wurde, daß Homer an Ansehen gewinnt, daß Baumgartens „Meditationes", und zwar unter Hinweis auf den „Auszug in den Gryphswaldischen Versuchen" gegen Gottscheds Poetik ausgespielt wird, daß der kritische Kampf sich stark zu einer Verteidigung Hallers neben der Verteidigung Bodmers und Breitingers verdichtet, um nur einiges hervorzuheben. An sich nicht neuartig, aber in der Klangfärbung doch von manchen inhaltlich ähnlichen Äußerungen merklich abgehoben, wirkt im „Erweis" bzw. dessen „Fortsetzung" die Wendung „Wen die Dichtkunst nicht selbst, sondern nur ein Lehrbuch erleuchtet, der kann nicht ihr Priester sein". Inhaltlich nicht neuartig, wie denn Pyra an dieser Stelle zugleich bei Boileau Stützung suchen kann, ganz abgesehen von früheren Bekundungen in der Geschichte der Poetik (vgl. Bd. I). Aber das „erleuchtet" und die latente Forderung, die im „Priester sein" spürbar wird, läßt von hier aus auf das kunsttheoretisch eingestellte, allegorische Lehrgedicht in fünf Gesängen „ D e r T e m p e l der w a h r e n D i c h t k u n s t " (1737) zurückschauen. Trotz der Teileinwirkung der Gottschedischen Poetik gewinnt diese halb programmatisch gehaltene Dichtung aus der r e l i g i ö s e n Grundstimmung heraus teilweise eine gefühlswärmere Stellung zur Dichtkunst, deren begeisterndes Feuer „aus dem Himmel stammt". In Pyras Munde erhält das alte Wort innere Beseelung. Und in diesem Betracht wird Pyras noch ungeklärte Position aus mancherlei rationalistischen Trübungen und Beimischungen (Bewertung des Wissens als Voraussetzung für die Dichtkunst u. a.) doch in größerem Zusammenhange erkennbar als eine, wenngleich in sich gebrochene Zwischenstellung zwischen dem einstigen Standort Birkens im Barock und dem späteren Standort Hamanns in der Geniezeit oder doch — näherstehend — Klopstocks im Vorraum der Sturm und Drang-Bewegung.

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Das in sich Gebrochene dieser Schicht tritt zutage nicht nur in der Überschneidung Gottsched-Milton und dem Rückbezug auf Vida, sondern auch in dem stillen Ringen zwischen der Anhänglichkeit gegenüber dem Bildungserleben der Antike einerseits und dem Zugewandtsein dem pietistischen Seelenerleben andererseits. Denn so ganz ungestört von der E n t w e i h u n g „ d u r c h G ö t z e n t a n d " vermag der pietistische Pyra die Dichtkunst der Alten nicht anzusehen. Hierin berührt er sich ein wenig mit den „Vernünftigen Gedanken über die Anrufung der . . . heidnischen Götter" (1746) J. Dan. Müllers. Von der aus der Poetik des 17. Jahrhunderts vertrauten, obschon hier pietistisch abgewandelten christlich-moralischen Leitlinie her werden die Alten nur mit Vorbehalt, aber doch mit merklicher Achtung vor ihrer künstlerischen Leistung einbezogen, während sie Birkens starre Christlichkeit verworfen hatte. Die christliche Umschmelzung und Einschmelzung der Mythologie vermag erst die Übernahme zu rechtfertigen, sie „heiligt erst den Raub". Das richtet sich fordernd als Mahnung an die Dichter, die an sich ein neues Lied anstimmen sollen und dürfen. So erhält Milton nicht nur wegen seiner dichterischen Werte, sondern vor allem — und ein wenig ja letztlich auch bei den Schweizern — deshalb im Tempel der wahren Dichtkunst einen Ehrenplatz zugewiesen, weil er „die Poesie vom heidnischen Parnaß ins Paradies geführet" habe. Und wenn Gottsched die Vermischung der heidnisch-griechischen mit der christlichen „Mythologie" an dem Portugiesen Camoens abgelehnt hatte aus Gründen der Unwahrscheinlichkeit, würde Pyra aus Gründen des Glaubens ähnlich geurteilt haben. In dem ernsten Übergewicht eines religiösen Inhalts und der würdigen Gewichtigkeit einer pietistisch gefärbten christlichen Haltung sucht sich der junge Pyra bereits damals ein Gegengewicht gegen den an sich noch unverkennbaren Eindruck der Lehren Gottscheds auf jener Entfaltungsstufe seines Selbstbewußtseins. Die Neuartigkeit der metrisch freieren Gangart, die empfohlen wird und die besonders auf Klopstock vorausdeutet (Arno Holz kam sich in diesem Betracht moderner vor, als er war), mag im Rahmen der rokokohaften Lockerungen reimtechnischer und metrischer Art berührt werden. In diesem Zusammenhange jedoch sei einmal die Frage aufgeworfen, die angesichts des Eingreifens Pyras in den Streit Gottsched-Schweizer nahegelegt wird: ob nicht doch zuletzt die Hartnäckigkeit dieses Kampfes, über die sich

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schon urteilsfähige Zeitgenossen wunderten, über das Kunsttheoretische (und teils Persönliche) hinaus zurückzuführen sein könnte auf letzten Endes weltanschauliche Gegensätze, die tiefer griffen als das rein philosophisch ähnliche Haltsuchen bei Chr. Wolf f. Ein Kernbezirk des Streites: das Wunderbare wird im Untergrunde bei den Schweizern religiös-christlich empfunden, wenn auch teils Wolffisch erläutert und gerechtfertigt; bei Gottsched dagegen im Ganzen doch aufklärerisch. Indessen mag diese Fragestellung nur im Sinne einer Anregung, diesen Dingen vielleicht einmal nachzugehen (trotz der bestehenden Sonderforschung), beiläufig aufgeworfen werden. Übrigens legte jener mit J . D. M. (Joh. Dan. Müller ?) zeichnende Gegner der „heidnischen" Mythologie ausdrücklich Wert darauf, nicht etwa als grundsätzlicher Gegner Gottscheds zu gelten, wie denn auch seine Abhandlung, die nichts für „schädlicher und törichter" hält als die Anrufung der alten Götter in der neueren Poesie (und in ihrer ersten Hälfte die positiven Beweisgründe, in ihrem zweiten Teile die Abwehr von Einwürfen bringt), der „Deutschen Gesellschaft zu Leipzig" gewidmet worden war. Während Pyra unter dem religiösen Impuls zwar gewisse Sprengkräfte in die rationalistische Umschränkung getragen hatte, die einen Durchbruch in die F r e i h e i t d e r E r l e b n i s d i c h t u n g v o r b e r e i t e t e n , aber das Wahrscheinlichkeitsprinzip trotz einiger Auflockerung im wesentlichen beibehielt, erwuchsen dem Naturnachahmungsprinzip in J o h a n n E l i a s S c h l e g e l und in J o h a n n A d o l f S c h l e g e l Kritiker, die eine Überwindung der Mimesislehre wirksam in Angriff nahmen. War es Johann Elias Schlegel, der die starre Übereinstimmung von Urbild und Abbild durch eine in sich aufgelockerte „Ähnlichkeit", durch eine biegsame Entsprechung ersetzt wissen wollte, so hielt Johann Adolf Schlegel bereits Ausschau nach einem Ersatzwert der Naturnachahmung und näherte sich dabei mit einigen bedeutsamen Schritten der A u s d r u c k s l e h r e , indem er — allerdings erst in der zweiten Fassung seiner Batteux-Übertragung — die Poesie als den „sinnlichsten Ausdruck" des Schönen und Guten durch das Medium der Sprache umschreibt. Berücksichtigt man außerdem die weitreichenden Verdienste, die sich Johann Elias Schlegel, der bedeutendste Dramatiker und Lustspieldichter der Aufklärung vor Lessing, auf dem Gebiet der Dramentheorie und der Wechselbezogenheit von Dichtung und

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Nation, von Dramencharakter und Nationalcharakter (i. d. Richtung der vergleichenden Literaturgeschichte) erworben hat, würdigt man gebührend Johann Adolf Schlegels Bemühungen um eine Wesensbestimmung der Lyrik und Epik (Romantheorie) sowie sein Eintreten für die Berechtigung einer „prosaischen Dichtkunst" und seine Ansätze zur Erfassung des Geniebegriffs, so möchte man fast versucht sein, den B r ü d e r n J o h a n n Elias Schlegel und Johann Adolf Schlegel innerhalb der A u f k l ä r u n g zum mindesten der Gottschedzeit, also der älteren Aufklärung vorwiegend Wolffischer Grundhaltung, eine ähnliche Geltung einzuräumen, wie sie ihre Söhne beziehungsweise Neffen Friedrich Schlegel und August Wilhelm Schlegel f ü r die ältere R o m a n t i k besitzen. Wenn auch der Grad dieser Geltung und Einwirkung wesentlich geringer ist als bei den Brüdern Fr. Schlegel und A. W. Schlegel in der Romantik, so sollte doch zum mindesten dieser älteren Generation der kunsttheoretisch stark veranlagten Familie Schlegel etwa die gleiche Beachtung entgegengebracht werden, wie sie die Schweizer Bodmer und Breitinger in weit stärkerem Maße gefunden haben. Denn entscheidend ist nicht der Umstand, daß jemand eine umfassende „Kritische Dichtkunst" geschrieben hat, sondern das Suchen nach vorwärtsweisenden Wegen. Und die zudem nur bedingte Geltungsverstärkung der Einbildungskraft oder des Wunderbaren ist in der Entwicklung des Kunstwollens und der Kunstbesinnung nicht höher einzuschätzen als die erwähnten kunsttheoretischen Beiträge der Brüder Johann Elias und Johann Adolf Schlegel. Auslandseinflüsse aber sind dort wie hier gleichermaßen wirksam gewesen, entsprechend dem damaligen Stand und Rückstand der deutschen Poetik. Im R ä u m e der N a t u r n a c h a h m u n g s t h e o r i e ist die Leistung der Brüder Schlegel fraglos größer als die der Schweizer, die unter Anregung von England her doch auch eine Ablenkung erfuhren von der innerhalb der deutschen Philosophie vorgezeichneten Richtung, deren Ansatzmöglichkeiten im „Witz"-Begriff und der Ähnlichkeitstheorie sie noch weniger auszuwerten verstanden als Gottsched. Und dieses Unterlassen wiegt um so schwerer, als ihr Eingestelltsein auf die malende Dichtkunst und die Gleichnisse an sich eine Neudeutung des Nachahmungsbegriffes nahegelegt hätte. Hinsichtlich der Naturnachahmungstheorie konnte G o t t s c h e d zu seiner Genugtuung auf Charles B a t t e u x und dessen nach-

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haltig wirkende Lehre als eine nachträgliche Bestätigung seiner eigenen — übrigens keineswegs neuen und in Wirklichkeit von Batteux abweichenden — Stellungnahme in der „Kritischen Dichtkunst" hinweisen in seinem „ A u s z u g aus H e r r n B a t t e u x Schönen K ü n s t e n , aus dem einzigen Grundsatz der Nachahmung hergeleitet" (1754). Der triumphierende Ton ruht schon in der Titelgebung auf „Nachahmung". Denn Batteux' „Les beaux arts réduits à un même principe" (1746, anonym), bzw. sein „Cours des b e l l e s l e t t r e s " (1747—1750) trugen die „imitation de la belle nature" nicht ängstlich und äußerlich an der Stim. Wohl aber war hier inhaltlich tatsächlich das Prinzip der Naturnachahmung („une copie artificielle de la nature; imitation artificielle") als Untergrund und Urgrund aller Künste und aller Kunstübung in die Zentralstellung der Dichtungsdeutung gerückt. Und wenn auch spätere Batteuxforschung nachgewiesen haben mag, daß es Batteux in erster Linie nicht um den bloßen nachahmenden dichterischen Vorgang ging, sondern letztlich um eine Gegenüberstellung der Natur als Wirklichkeit und Existenz (Sein) mit dem Abbild (Schein), daß er eben das „materielle Substrat" der wirklichen Naturobjekte unterscheiden wollte von ihrer bloßen Fiktion in der Kunst: so waren doch breiteren Kreisen jener Zeit derartige begrifflich feine Abstufungen nicht deutlich erkennbar und verständlich, wohl aber — und darauf kommt es für den Einfluß des Werkes auf die Zeit an — die einleuchtende, vergröbernde Einfachheit dieser Zuriickführung auf eine handliche Formel besonders willkommen. So hat denn Batteux mit seiner einprägsamen und zudem längst Gewohntes (durch auffrischende Einbeziehung d. Enthusiasmuslehre) neuartig zugänglich machenden Lehre, die 1751 von J . A. S c h l e g e l , 1756—1758 von K.W. R a m l e r ins Deutsche übertragen wurde, wohl stärker noch als jenseits des Rheines in Deutschland die Poetik und darüber hinaus die gesamte Kunsttheorie mit einer zeitweise autoritativen Geltung beherrscht. Noch zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts bringt es Ramlers Batteux-Übersetzung zu einer sechsten Auflage. Neben der Auflockerung und teilweisen Erwärmung der rationalistischen Grundströmung durch die Enthusiasmuslehre (eine mit Enthusiasmus angeschaute schöne Natur) waren Ansätze zum Geniebegriff, obgleich sie den Schöpfungsbegriff dem Geschmacksbegriff unterordneten und den Schöpfer („créateur") immer wieder auf das Nachschaffen des schon Vorhandenen und 7 M a r k w a r d t , Poetik II

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von ihm nur Beobachteten einschränkten, geeignet, Batteux auch noch für die anspruchsvolleren Kunsttheoretiker schmackhaft zu machen. Dennoch war in aller Stille, noch bevor Batteux Gottscheds Lehrmeinung in vertiefter Fassung zu bestätigen schien, aus Gottscheds eigenem Schülerkreise 1741 ein Aufsatz hervorgegangen, der 1745, also fast ein Jahrzehnt v o r jenem triumphierenden „Auszug . . ." nicht ohne eine gewisse Schicksalsironie in den „Neuen Beiträgen zum Vergnügen des Verstandes und Witzes" (Bd. I, 5. Stück.) veröffentlicht wurde. Es war dies die „ A b h a n d l u n g , d a ß die N a c h a h m u n g der S a c h e , der m a n n a c h a h m t , z u w e i l e n u n ä h n l i c h w e r d e n m ü s s e " ; sie stammt von Gottscheds ungetreuem Schüler J o h a n n E l i a s S c h l e g e l . Obgleich Joh. Elias Schlegel als L u s t s p i e l d i c h t e r , der von L u d w i g H o l b e r g zu lernen versteht, nur (von Nebenwerken abgesehen) in seinem Einakter „Die stumme Schönheit" (1747) zur Versform (gereimte Alexandriner) greift (die Jambusform des Ubersetzungsfragments „Die Braut in Trauer" gehört dem Drama an), hing es doch nicht zum wenigsten mit dem Bemühen, den Vers für die Komödie zu retten, zusammen, wenn er in seinen Abhandlungen über die Nachahmung frühe und kühne Vorstöße wagt und eine erste Lockerung der Nachahmungslehre befürwortet und anstrebt. Gerade jener erwähnte Aufsatz, dem dann eine längere Erörterung folgte (gedruckt 1742—1745 in Gottschedischen Zeitschriften), würde dem noch ganz jugendlichen Verfasser eine überragende Genialität und Originalität auf kunsttheoretischem Gebiete zufallen lassen, wenn nicht nähere Prüfung zeigen würde, daß Schlegel durch f r a n z ö s i s c h e V o r a r b e i t e n (Fraguier, Vatry, Massieu, Sallier, Quatremere de Quincy, Remond de St. Mard) nicht unwesentliche Anregungen erfahren und aus ihnen offenbar auch übernommen hat, während ein Zurückgreifen auf G. J. Vossius' „ D e imitatione" (1647) kaum anzunehmen ist. Trotzdem bedeutet ihre durchweg selbständige Verarbeitung, wie überhaupt das Wagnis des Vorstoßes an sich, in Deutschland eine beachtenswerte Leistung, obwohl auch in Deutschland, und zwar in Gottscheds Witz-Begriff, gewisse Anknüpfungsmöglichkeiten für den Ähnlichkeitsbegriff bereitliegen mochten. In der formalen Anlage und der formalen Begriffsbildung stützte sich J. E. Schlegel zwar auf den philosophischen Unterbau Wolfis.

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Aber er hat ideelich auch hier die Begriffe: Ungleichheit, Gleichheit und Ähnlichkeit für seine Zwecke und Ziele umzuwerten verstanden, um von einer mechanistischen Illusionstheorie loszukommen. Im Grunde setzt er — um nur das Wesentliche hervorzuheben — Ähnlichkeit statt Gleichheit; genauer: das Übereinstimmen der b e s t i m m e n d e n , d e t e r m i n i e r e n d e n Teilstücke genügt; nicht alle Teile von Vorbild und Abbild müssen sich gleichen. Er verteidigt so das Recht der subjektiven Auswahl gegenüber der objektiven Realität und fordert anstelle einer völligen Täuschung für den Aufnehmenden (Leser, Zuschauer usw.) im Gegenteil die A u f r e c h t e r h a l t u n g des G e f ü h l s im N e b e n b e w u ß t s e i n , daß dieser ein spezifisch poetisches Abbild (Schein), kein Wirkliches (Sein) vor sich habe. Darin eben liege nicht zum wenigsten der ästhetische Reiz. Damit überholt J. E. Schlegel zugleich die Schweizer, die trotz ihrer Hervorhebung der Einbildungskraft als ideales Ziel eine möglichst restlose Deckung von Urbild und Abbild gefordert hatten. Und hier mündet die andere Strömung ein: die Z u r ü c k d r ä n g u n g der B e l e h r u n g g e g e n ü b e r dem V e r g n ü g e n als dem eigentlichen Eindrucks- und Wirkungsziel der Dichtkunst. Mit energischem Ruck verlagert er in dem alten Gleichgewicht des prodesse et delectare das Schwergewicht eindeutig zugunsten des delectare: „Wenn wir aber fragen, welches von beiden der Hauptzweck sei, so mögen die strengsten Sittenlehrer sauer sehen, wie sie wollen; ich muß gestehen, daß das Vergnügen dem Unterrichten vorgehe". Es sollte nicht vergessen werden, daß J. E. Schlegel, der also bereits den Terminus „Vergnügen" bringt und nicht Ergötzen setzt, Anfang der vierziger Jahre einen kühnen E r k u n d u n g s z u g unternommen hat in die R i c h t u n g des ä s t h e t i s c h e n W o h l g e f a l l e n s , und zwar noch vor Mendelssohn, dessen Lehre vom „Vergnügen" also durchaus nicht unvorbereitet erscheint und entwicklungsgeschichtlich tiefer untergründet ist, als man vielfach angenommen hat. J. E. Schlegel läßt das Vergnügen als ästhetisches Wohlgefallen erweckt werden durch das reizvolle Nebengefühl und das ständige Begleitbewußtsein einer trotz aller Nachahmung dennoch bestehenden, wünschenswerten und künstlerisch fruchtbaren Abstufung von Urbild und Abbild. Zugleich mildert er entsprechend die strenge Forderung der Wahrscheinlichkeit, die eng mit der Naturnachahmungsforderung verbunden aufzutreten pflegt. 7

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Schon in dem „ S c h r e i b e n an den H e r r n N. N. ü b e r die K o m ö d i e in V e r s e n " (1740) hatte dieser ketzerische Geist wenig Gläubigkeit gegenüber Gottscheds Dogmen bewiesen, indem er etwa die Einheit des Ortes als untergeordnet beiseiteschob, Dichtung mehr auf ein Vergnügen als ein Unterrichten abzielen ließ und überhaupt für die dramatische Gattung der niederen Standespersonen, die Komödie, Verse, also die hohe Schreibart der hohen Tragödie verteidigte. Zwar G o t t s c h e d selbst hatte sich in Fragen des Verses und Reimes verhältnismäßig anpassungswillig und nachgiebig bewiesen. Nach dem Vorstoß gegen den Reim in seiner Rezension einer Milton-Übertragung (aus dem Jahre 1682) „Über Miltons Paradies wegen einer Übersetzung" (Beiträge zur kritischen Historie, I) war die anfängliche Versteifung auf das Wahrscheinlichkeits- und Natürlichkeitsdogma einer schwankenden Haltung in der ersten Auflage der „Kritischen Dichtkunst" gewichen. Und der Blick auf die Antike und das Ausland, auf Menander, Terenz und Molière hatte ein Sichverengen des Blickfeldes wenigstens soweit verhindert, d a ß G o t t s c h e d s p ä t e r h i n , wenngleich immer noch zögernd und einschränkend, dem V e r s g e b r a u c h ein s t ä r k e r e s G e l t u n g s r e c h t e i n r ä u m e n k o n n t e . Doch sind noch aus den Jahren 1732 und 1735 Angriffe auf den Reim in Rezensionen Gottscheds zu verzeichnen, wobei teils erkennbar wird, daß neben dem Wahrscheinlichkeits* und Naturnachahmungskriterium und mit ihm verbunden das ständische Zuordnungskriterium die Stellungnahme beeinflußt hat. Das spätere, halb noch widerstrebende Nachgeben Gottscheds dürfte wohl schon zum Teil auf Joh. Elias Schlegels Verteidigungsschrift zurückzuführen sein. Jedenfalls glaubte der Gottschedianer Gottlob Benjamin S t r a u b e in seinem „ V e r s u c h e i n e s B e weises, d a ß eine g e r e i m t e K o m ö d i e nicht gut sein k ö n n e " (1740) das Wahrscheinlichkeitsprinzip mit aller Starrheit gegen ein Sprechen in Versen und Reimen ins Feld führen zu sollen. Und Gottsched deckte dieses radikale Vorgehen in der Vorrede zu seiner „Deutschen Schaubühne". Etwa auf der Gottsched nicht unbekannten Position A. H. de la Mottes hielt sich im Gottschedkreise A. D a n i e l R i c h t e r mit verwandten Erörterungen über die Tragödie, den „ Z u f ä l l i g e n G e d a n k e n v o n dem V e r s e u n d R e i m e des T r a u e r s p i e l s " . Erwähnenswerter als S t r a u b e s hilflose Entgegnung „ A n d e r e V e r t e i d i g u n g d e r n i c h t g e -

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r e i m t e n K o m ö d i e " (1741), die bestenfalls durch den notgedrungenen Rückzug auf den „Rhythmus" als die eigentliche „Form oder das Wesentliche der Dichtkunst" einige Beachtung verdient (mehr, was den Terminus „Rhythmus" anbetrifft), erscheint die Verteidigung der Reime durch J. Fr. C h r i s t , Schlegels und Lessings Lehrer, im Anhang zu seinem „Villaticum" (1734 bzw. 1746) und durch A. G. K ä s t n e r in dessen Gedicht „ U b e r die R e i m e " . Kästner anerkennt als rationalistisches Wertmerkmal die durch Vers und Reim verstärkte „Ordnung", als national gemäßes Merkmal der Haltung den „gesetzten Schritt" des „ernsten Verses" und als ästhetisch-kunsttechnisches Merkmal „mehr Kunst", also die höhere Kunstfertigkeit: „Der schreibt, der dichtet nicht, der Zeil auf Zeilen häuft / Wo der entreimte Vers so leicht wie Prosa läuft". Allerdings ist Kästners gutgemeinte Reimerei nicht gerade geeignet, Vers und Reim zu empfehlen. Und wenn man an Straubes Worte über den Rhythmus denkt, so kann dessen späteres Umschwenken zu den Messias- und Klopstock-Verehrern nicht als völlig wahllos und zufällig erscheinen. Der frühe Gottschedanhänger Straube aber verdiente sehr wohl die Abfertigung durch Joh. Elias Schlegels Aufsatz, der in seiner kämpferischen Stoßrichtung wohl mehr durch Straube als Gottsched verursacht worden war. Aus der Enge metrischer Formungsfragen, die aber doch bedeutsam von Äußerem auf Inneres übergreifen, weitet sich der Blick zu einem f r ü h e n A u s s c h a u h a l t e n n a c h e i n e r v e r g l e i c h e n d e n L i t e r a t u r g e s c h i c h t e , wenn der junge Joh. Elias Schlegel eine ursprünglich wohl kulturpatriotisch im Sinne des kulturellen Wettbewerbs mit dem Auslande gedachte „ V e r g l e i c h u n g S h a k e s p e a r e s u n d A n d r e a s G r y p h s " (1741) unternimmt. Äußeren Anlaß gab die erste deutsche Ubersetzung des „Julius Cäsar" durch Wilhelm von Borcke. Aber sie tritt sehr bald zurück gegenüber dem Ringen Schlegels um eine gerechte Einfühlung in die beiden großen Dramatiker. Er geht dabei aus von der Gesetzeskritik Gottscheds, die ihn mit klassizistischen Maßstäben, also für diesen Fall so unglücklich wie nur möglich, ausgerüstet hat. Und viele schiefe Einzelurteile erfolgen notwendig aus der Schiefheit dieser Maßstäbe. Aber a u s d e m B e u r t e i l e n W o l l e n w i r d u n v e r s e h e n s ein V e r s t e h e n - W o l l e n . In d i e starre normative Gesetzeskritik dringen Belebungsk r ä f t e und f r ü h e K e i m k r ä f t e e i n e r E i n f ü h l u n g s k r i t i k .

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Das bedeutet aber, daß in dieser Abhandlung über Shakespeare und Andreas Gryphius nicht nur Ansätze für Lessing, sondern auch schon gewisse Ansätze für eine Herder gemäße Art der Dichtungsdeutung spürbar werden, was die Art der kritischen Bewertungsweise und Betrachtungsweise betrifft. Gewiß, die Einfühlungskritik kann damals noch nicht recht gelingen, aber sie wird unbewußt bereits versucht. E i n w e n i g w i t t e r t Joh. E l i a s S c h l e g e l in S h a k e s p e a r e s T r a g ö d i e n s c h o n d a s g e r m a n i s c h e C h a r a k t e r d r a m a , d a s ihm i n s t i n k t i v z u s a g t . Trotz der bedrohlichen Nähe Gottscheds verwirft Schlegel die Möglichkeit, etwa das Regelmäßige hineinzudeuten: „so will ich auf die Charaktere. . . gehen, worinnen die Stärke des Engelländers vor andern besteht". Mag er im Räume des aufklärerischen Klassizismus auch allem „Schwulst" des Bildkräftigen noch recht hilflos und dem Wertungsverhältnis von formulierender und gestaltender Charakteristik noch recht unsicher gegenüberstehen: die Gewalt der Menschengestaltung im englischen Drama bleibt nicht ohne Eindruck. Er sieht und erkennt — offenbar im stillen Vergleichen mit dem französischen Klassizismus — hier „mehr Nachahmungen der Personen, als Nachahmungen einer gewissen Handlung". Er erkennt auch, daß das Schicksalhaft-Historische eine dramatisch fruchtbare Größe besitzt, wie sich denn überhaupt ein historischer Sinn schüchtern regt. Er faßt das historische Drama aufmerksam ins Auge und ist überzeugt, „daß die unglücklichen Zufälle der Großen und die Staatslehren einnehmend genug sind, die Leidenschaften zu erregen". Er ist auch schon fähig, sich zu freuen an diesen „alten Poeten", in denen „mehr ein s e l b s t w a c h s e n d e r G e i s t als Regeln herrschen" und in denen „etwas Rauhes" zum Lebensrecht und zur Größe strebt, das nicht abschrecken dürfe, wenn man verstehen wolle. Die Entscheidung über das rechte V e r h ä l t n i s v o n D i c h t u n g und D a t e n t r e u e , das besonders die Charaktere betrifft (wie dann auch bei Lessing), wird mehrfach gesucht, aber noch nicht recht gewagt. Wesentlich erscheint ihm letzten Endes nicht der Umstand, ob ein Charakter aus der Geschichte übernommen worden oder ob er freier gestaltet worden ist, sondern die Kunstfertigkeit („so ist es künstlich"), mit der ein Ausgleich zwischen geschichtlicher und freier Gestaltung gefunden worden ist. In wenngleich abgeschwächtem Grade zeigt sich daran das Aus-

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gleichungsstreben der Aufklärung beteiligt. Die Vorstellung des dichterischen Schöpfungsvorganges als einer Funktion der kombinierenden Phantasie spielt merklich mit hinein. Kurz, überall dort, wo der Schüler des Gottschedischen Klassizismus, der J. E. Schlegel in diesem frühen Aufsatze weit mehr bleibt als der spätere Schlegel der Schrift über das dänische Theater, das Wort führt, empfindet und erkennt man das Verharrende. Dort jedoch, wo er sich im Vertrauen und dunklen Gefühl der eigenen Fähigkeit freiringt von der vorgezeichneten Sehart, wendet sich sein Blick verheißungsvoll in jene Richtung, die der Lessing des siebzehnten Literaturbriefes, aber teils auch noch der Lessing der „Dramaturgie" dann ungleich zielklarer, bewußter und entschlossener einschlägt. Die gefühlsmäßig werbende Art des Verstehen-Wollens jedoch deutet in ihren fernen Folgen selbst schon auf Herder voraus. Ein tastendes Vorfühlen aber in diese vorwärtsweisenden Richtungen bedeutete 1741/42 einen sehr bemerkenswerten Beitrag zur geschichtlichen Bewußtwerdung. Das gilt um so mehr, als bedeutende historische Tragödien neuerer Formungsweise damals noch in Deutschland so gut wie ganz fehlten. Und erst J. E. Schlegel selbst muß sich nach der Schulung antikisierender Dramatik mit seinen historischen Dramen (dem „Hermann", dem „ K a n u t " , dem ,,Gothrika"-Fragment) einen eigenen Weg, auf dem auch Übersetzungsversuche Shakespearescher Dramen nicht fehlen, zu bahnen suchen, den zu betreten Tapferkeit verrät in einer Zeit, der Gottsched seinen „Sterbenden Cato" als Musterdrama aufdringen konnte, und zwar noch 1757 in zehnter Auflage. Aber ähnlich wie dann bei Lessing blieb Bruchstück, was sich über die Stoffwahl hinaus der englischen Gestaltungsweise anzunähern verhieß. Und ähnlich wie bei Lessing erscheint die Schrittweite des Theoretikers Schlegel beachtenswerter als die Kunstleistung, die indessen, so etwa beim Lustspiel, nicht unterschätzt werden soll. Die historische, keimhaft völkerpsychologische Bewußtwerdung einer Verschiedenartigkeit der Volkscharaktere verstärkt sich um ein Mehrfaches der Ansätze jener frühen Abhandlung nun aber vor allem in J. E. Schlegels „ G e d a n k e n z u r A u f n a h m e d e s d ä n i s c h e n T h e a t e r s " (1747). Jetzt wird, da auf dem Boden Dänemarks der Blick sich weitet und das Verständnis sich vertieft für andere Völker, die innige W e c h s e l w i r k u n g v o n N a t i o n a l c h a r a k t e r u n d B ü h n e n w e r k , wird die verschiedenartige

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nationale Gebundenheit und jeweilige volksmäßige Bedingtheit der Tragödie und Komödie als stofforganisierende Leitidee beherrschend herausgearbeitet. Mit solcher Eindringlichkeit und Ausführlichkeit war bisher noch niemals in der deutschsprachlichen Poetik Wesen und Wert des Dramas vom „Charakter einer Nation", und zwar gerade auch von fremden Völkern her bestimmt worden. Und eben darin liegt (im Sinne der vergleichenden Literaturgeschichte) die Bedeutung dieser Schlegelschen Abhandlung, wobei unerheblich bleibt, ob Teilanregungen von Dubos ausgegangen sein mögen, und unwesentlich bleibt, daß die Sondersituation ihn das dänische Theater und seine Entwicklung ( = „Aufnahme") fördern hieß, also einen unmittelbar praktischen Zweck nahelegte. Denn im kunsttheoretisch bedeutsamen Anteile der Erörterungen geht es n i c h t u m T h e a t e r u n d D r a m a e i n e r e i n z e l n e n N a t i o n , sondern u m d i e g r u n d l e g e n d e E i n s i c h t und Erkenntnis der jeweils national bedingten Werde- und Wirkungsform der dramatischen Gattungen überhaupt, um das Verstehen und Vergleichen der verschiedenartigen Volkscharaktere schlechtweg. Entsprechend dem Primat der Wirkungsästhetik innerhalb der Aufklärung überwiegt dabei das Beachten und Herausstellen der Wirkung, ohne daß jedoch das nationale Bestimmtsein des Werdens übergangen würde: „Denn eine jede Nation schreibt einem Theater, das ihr gefallen soll, durch ihre v e r s c h i e d e n e n S i t t e n a u c h v e r s c h i e d e n e R e g e l n vor; und ein Stück, das für die e i n e Nation gemacht ist, wird selten den a n d e r n ganz gefallen". Unwesentlich bleibt weiterhin, ob J. E. Schlegel in seiner Gegenüberstellung und Kennzeichnung des englischen und französischen Nationalcharakters oder des dänischen Nationalcharakters überall das Entscheidende getroffen hat. Ist doch noch die Forschung unserer Gegenwart mit diesen Fragen beschäftigt — will doch auch die Betrachtungs- und Bewertungsweise der vergleichenden Literaturgeschichte dazu helfen, aus dem historischen Werden heraus zur Wesensbestimmung der Nationalcharaktere klärende Beiträge zu bieten. Wesentlich ist vielmehr, daß J. E. Schlegel im Ausland das Drama (die Komödie u n d die Tragödie) unter dem Blickwinkel betrachten lernt, inwieweit es als Ausprägungsform der Nationalcharaktere im Bereich des Geistigen und Künstlerischen gewürdigt werden kann und bewertet werden muß. Wesentlich ist zum

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andern die Aktivierung der Erkenntnis zu der zielsetzenden Forderung: „daß ein Theater, welches gefallen soll, nach den besonderen S i t t e n und nach der G e m ü t s b e s c h a f f e n h e i t einer Nation eingerichtet sein muß und daß Schauspiele von französischem Geschmacke in England und vom englischen in Frankreich gleich übel angebracht sein würden". Ausdrücklich auf die Verhältnisse in D e u t s c h l a n d bezieht sich J. E. Schlegel, wenn er den bestehenden Mangel an T h e a t e r f r e u d i g k e i t darauf zurückführt, daß jene Forderung dort noch nicht erfüllt und ihre Notwendigkeit noch nicht einmal voll erfaßt worden sei. Bloße Übersetzungen und Anpassungen an den dramatischen Vorbildtypus einer fremden Nation sind nicht geeignet, Volk und Bühne zu verbinden. Auf die Dauer entsteht aus einem derartigen Vorgehen „ein großer Schade für den Witz einer Nation". Bei alledem ist sich J. E. Schlegel bewußt, daß der Nationalcharakter in sich reich gestuft erscheint und nicht auf eine enge und strenge Norm oder gar auf billige Schlagwörter gebracht werden kann, was den Dramatikern erlaubt und erleichtert, „ihrer Nation das Vergnügen der Mannigfaltigkeit zu verschaffen" und Erstarrung ausschließt. Jede nationale Dogmatik würde als Erstarrungsform diese lebensvolle Vielfalt der V o l k s k r ä f t e ersticken. Die Abhandlung, die auch praktische Aufgaben einbezieht, stößt von der kurz gekennzeichneten Tragschicht einer vergleichenden Literaturgeschichte weiter vor zu volkserzieherischen Möglichkeiten im Sinne einer Vervollkommnung des Nationalcharakters. Dabei greift der allgemeine Erziehungsoptimismus der A u f k l ä r u n g auf das Sondergebiet ermutigend über, so daß zum mindesten Ansätze zu einem volkserzieher i s c h e n O p t i m i s m u s erkennbar werden. Der r a t i o n a l i s t i s c h e K u l t u r w i l l e setzt sich merklich durch, wenn „die Auszierung und Verbesserung des Verstandes bei einem ganzen Volke" durch die Schauspiele gewinnen soll, aber eben: die Ü b e r t r a g u n g des Bildungsideals von der Einzelpersönlichkeit auf ein ganzes Volk ist vollzogen. Ähnlich erfolgt die Ausweitung der zweiten aufklärerischen Leitkraft, der Moral, auf die Gesamthaltung einer Nation. Zugleich aber lockert J. E. Schlegel die moralpädagogische Bindung, entsprechend seinem Primat des „Vergnügens" (= Wohlgefallens) und Ergötzens. Und zwar zugunsten der volkserzieherischen (nationalpädagogischen) Ver-

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bindlichkeit, indem er weit mehr um die nationalen „Sitten", um die Sitte und das kulturelle Gesittetsein, seine Gedanken und Worte kreisen läßt als um die Sittlichkeit im engeren Verstände. Die „Auspolierung" und „Verbesserung der Sitten" einer Nation nimmt offenbar das Ideal der „Politesse" und der „Delikatesse" mit hinein; aber auch das „Politische" etwa im Sinne Thomasius'. Noch nicht werden Sitte und Brauchtum volkskundlich erfaßt. Für den Aufklärer überdeckt noch das Bildungsideal als solches die tiefen, im Volk verwurzelten Kräfte, die dann von Herder freigelegt wurden- Vorerst begnügt man sich mit der noch unbestimmten Vorstellung allgemeiner „Sitten", der ganzen Lebensweise einer Nation, wobei die älteren Wertsetzungen der Lebenskundigkeit und Lebenstüchtigkeit (vgl. Bd. I) mit hineinragen in dieses nicht näher umgrenzte Gebiet der „Sitten" eines Volkes, die noch nicht klar als Volkssitten gesehen werden im Sinne von Sitte und Brauch. Heimischer fühlt man sich im Bereiche der R ü c k w i r k u n g e n s t ä n d i s c h e r G l i e d e r u n g auf das Dichtwerk, besonders das Bühnenwerk. Denkt man an die breiten Schichten unterhalb des Bürgertums, so spricht man, immer noch bildungsstolz beengt, von „Pöbel". So auch J. E. Schlegel. Aber er streift doch schon wenigstens den Gedanken, ob es berechtigt sei, diese Schichten so ganz mißachtend beiseite zu schieben. Und er berührt dabei das E l e m e n t des V o l k s t ü m l i c h e n , lässig zwar und selbst nachlässig und nicht ohne den Bildungsstolz des Aufklärers: „Diejenigen, die von ihrer Studierstube aus Regeln vorschreiben, halten dafür, daß man den Pöbel gar nicht achten und nichts aus Gefälligkeit für ihn tun soll; wie denn Boileau dieser Gefälligkeit wegen den Molière tadelt". Was anfangs verhältnismäßig positiv klingen könnte, mündet im weiteren Verlaufe des Gedankenganges dann ein in bloße theaterpolitische Erwägungen (Kassenfrage, Unterhalt der Schauspieler), eine Frage, die auch noch J.Moser beschäftigt, und in ein wohlwollendes Dulden gelegentlicher Belustigungen jener „niederen" Schichten, eben des „Pöbels . . ., wenn er feiert und Zeit hat, den Schauplatz zu besuchen". In solche Stücke sind „nützliche Sittenlehren" einzustreuen, während die „andern" Zuschauer, „die nicht Pöbel sein wollen", daran ablesen können, „wie schlecht pöbelhafte Sitten stehen". Von einem Verständnis für das Volkstümliche im modernen Sinne kann also bei J. E. Schlegel, der sich ganz als Kunstdichter

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fühlte, nicht gut gesprochen werden. So wenig, daß er anders als J. Moser, obgleich mehrfach gegen Gottsched vorstoßend, gar nicht die Gelegenheit auswertete, etwa von der Frage des Harlekins, des Hanswursts aus die Gottschedische Reform polemisch zu treffen. Daran denkt nach Moser sogleich der junge Goethe, als er in einem Briefe Theaterfragen berührt, aber noch nicht J. E. Schlegel. Indessen ist — wie bei Gottsched — der Wille zur Geschmackserziehung zu berücksichtigen, der vorwiegend derbe Possenspiele auf der Bühne antraf und nun die Kunstwertigkeit zu steigern versuchte durch ein Hinüberleiten zum künstlerisch wertvolleren Bühnenstück, der auch besorgt darum war, ob denn jene volkstümlichen Possenspiele auch volkswürdig seien. Eine fortschrittliche A u f l o c k e r u n g der s t ä n d i s c h e n Z u o r d n u n g s k r i t e r i e n im Drama selbst wird hinsichtlich der Personen- und Lebenskreise insofern wirksam, als sich J. E. Schlegel nicht mit Ausnahmen, wie durchweg das siebzehnte Jahrhundert, begnügt, sondern grundsätzlich an die Stelle der ständischen Voraussetzungen für Tragödie und Komödie die W i r k u n g e n a l s M e r k m a l f ü r die A r t g l i e d e r u n g setzt. Zwar ein restloses Brechen mit der Stufung nach dem Personenrang erfolgt noch nicht. Aber zu dem Standeskriterium tritt als letztlich entscheidend das Wirkungskriterium. Nur soweit Handlungen hoher Personen Leidenschaften erregen, führen sie zur Tragödienform. Sobald sie Lachen erregen — wie etwa in Plautus' „Amphitruo" — können sie auch Motive für die Komödie bieten. Das Anrecht des Lustspiels auf hohe Standespersonen wird ausdrücklich und unzweideutig anerkannt und nicht — wie etwa bei Gryphius — als Ausnahme betrachtet. Doch kann man nicht — wie teils die Sonderforschung meint — behaupten, daß für Schlegel „das Dogma vom Ständeunterschied verschwunden" sei. Eine derartig revolutionäre Haltung darf bei J. E. Schlegel noch nicht erwartet werden. E r w a r A u f l o c k e r e r , n i c h t R e v o l u t i o n ä r . Das offenbart sogleich die dritte Sonderform, die zwar Handlungen niedriger Personen als leidenschaftserregend anerkennt, aber nicht als Tragödie (Richtung: bürgerliches Trauerspiel) gilt, sondern als Komödie. Überprüft man die fünf Sonderformen, die J. E. Schlegel aufstellt, so werden alle dramatischen Arten, in denen „niedrige Personen" allein oder gemeinsam mit hohen auftreten, Komödien genannt, auch solche, die jetzt als Schauspiele oder bürgerliche

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Trauerspiele aufgefaßt werden würden. Die Bezeichnung selbst behält noch eine ständisch bedingte Teilfärbung. Doch erfährt die Bezeichnung Komödie eine merkliche Ausweitung und eine teilweise Aufwertung. Wie zäh die Bezeichnung als Komödie festgehalten wurde, auch für jene Zwischenformen, bestätigt noch in der Geniezeit die Unsicherheit Lenz' in der Artbezeichnung. Ursprünglich wollte er den „Hofmeister" und die „Soldaten" Komödien nennen. Hinsichtlich des „Hofmeisters" erwog er dann das „Lust- und Trauerspiel", hinsichtlich der „Soldaten" bat er Zimmermann, „Schauspiel" für „Komödie" einzusetzen. J. E. Schlegel erkämpft also noch keine klare Befreiung vom ständischen Zuordnungskriterium. Das Neue liegt darin, daß er die ausnahmsweise Duldung (Plautus' Amphitruo) zur grundsätzlichen Geltung erhebt. Und es ist kennzeichnend für das Vorherrschen der Wirkungsästhetik und Wirkungspoetik der Aufklärer, daß dieser Durchbrach der Komödie in den geweihten Bezirk der hohen Standespersonen mit Hilfe des W i r k u n g s kriteriums unternommen worden ist. Selbst dieser Zuwachs des Wirkungskriteriums reicht aber nicht aus, die ständische Umschränkung der Tragödie zugunsten der niederen Personen zu Fall zu bringen. Offenbar fehlen J. E. Schlegel noch geeignete Benennungen, und das Vorbild Frankreichs (comédie gaie, comédie sérieuse, comédie larmoyante) wirkte mit, das Kennwort Komödie für die an sich erkannten Abstufungsformen beizubehalten. Die Sache wird schon zum Teil richtig gesehen; aber der Name fehlt noch. Insofern begegnet J. E. Schlegel auf dem Wege zur Theorie der Comoedia commovente (Geliert). Unter seinen Beispielen und theoretischen Gewährsmännern in dieser induktiv angelegten Abhandlung trifft man auf Aristoteles, Euripides, Boileau, Hédelin d'Aubignac, Brumoy, La Chaussée, Riccoboni, Racine, Corneille, Molière, Voltaire, Destouches, Steele, Addison, Congreve und andere. Von Steele glaubt Schlegel die Anmerkung sich erlesen zu haben, daß gute Dichter in England „ihre Stücke nicht nach Rezepten machen, wie das Frauenzimmer seine Puddings", zugleich ein kleines Beispiel für die Abwehr der bloßen Anweisungspoetik und mittelbar für das Verhältnis von Theoretisieren und Produzieren. Den Erkenntniszuwachs dieser Abhandlung dankt Schlegel nicht zum wenigsten seiner induktiven Methode. Doch die Suche der Aufklärer nach dem begrifflich faßbaren Gesetz legt es ihm

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nahe, eine Dramaturgie auf seinem Ähnlichkeits-Begriff zu begründen, also eine Deduktion zu versuchen. Indessen diese seine eigentliche Dramaturgie hat Schlegel nie geschrieben, wohl aber geplant, und zwar kennzeichnenderweise auf G r u n d s e i n e r R e f o r m der N a t u r n a c h a h m u n g s t h e o r i e , wie er selbst betont: „Meine vormaligen Gedanken waren, auf meine Sätze von der Nachahmung eine ganze Theatralische Dichtkunst (=Poetik) zu bauen". So fruchtbar und zukunftsträchtig seine Gedanken waren: es fehlten ihnen im Gesamt doch die geistige Stoßkraft Lessings, die philosophische Durchdringung Mendelssohns oder der mitreißende Gefühlsschwung Herders, um sie wirkungsvoll durchzusetzen, um so mehr, als seine Werke erst 1764 geschlossen (vorher nur verstreut) herauskamen. Seine unmittelbare Einwirkung auf die Entwicklung der Poetik war daher unverdient gering. Eine entschiedene Befreiung von der Naturnachahmungslehre liegt hier noch nicht vor, wohl aber ein beachtenswerter Befreiungsversuch. Vorerst stellt Baumgarten das Gegengewicht gegen Batteux, nicht aber J. E. Schlegel. Erschwerend kommt hinzu, daß das Übergewicht der Nachahmungstheorie Batteux', deren Einwirkung in voller Stärke unmittelbar n a c h Joh. Elias Schlegels Reformbestrebungen einsetzte, diese verheißungsvollen Keime von vornherein erdrückte oder doch nicht recht zur Entfaltung kommen ließ. Nun war aber vor Ramlers Batteux-Übersetzung das einflußstarke Werk Batteux' — in seinem wesentlichen Kernstück wenigstens — bereits 1751 von J. E. Schlegels jüngerem Bruder J o h a n n A d o l f S c h l e g e l , dem Vater der Romantiker, nicht nur übersetzt, sondern auch mit einem Anhange einiger eigener A b h a n d l u n g e n versehen worden, die sich z. T. kritisch mit Batteux auseinandersetzen und fruchtbare Keime in sich bergen. Unter dieser Gruppe von Aufsätzen interessiert besonders der dritte „ V o n dem h ö c h s t e n u n d a l l g e m e i n e n G r u n d s a t z e der P o e s i e " (1751), dessen zweite Fassung (1759) eine verstärkte Aufmerksamkeit beanspruchen darf. Joh. A d o l f S c h l e g e l kommt von der L y r i k her. Und das wurde entscheidender als die teils wohl doch überschätzten Auslandseinflüsse. Denn wenn er auch in seiner eigenen dichterischen Kunstübung bei nicht gerade wertstarken religiösen und lehrhaften Gedichten stehen blieb, so wurden doch seine persönlich erlebte Liebe zur lyrischen Wirkungsform und seine entsprechend

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warmherzige Verteidigung der lyrischen Position für seine Beiträge zur Poetik außerordentlich wertvoll. Gerade die Lyrik hatte die früheren Poetiker vielfach in Verlegenheit gesetzt. Und doch hing die spätere Umwälzung in der Dichtungsdeutung und Kunstauffassung, die nicht sowohl Lessing als vielmehr Herder vollziehen half, aufs innigste zusammen mit einem vertieften Verstehen der lyrischen Wesensform als Ausdruck eines Gefühlserlebens. Deshalb gewinnt auch der an sich unscheinbare Vorstoß Joh. Adolf Schlegels in diesem Zusammenhange an Bedeutung. Sein Bruder Johann Elias hat als Dramatiker diese günstige Einsatzmöglichkeit von der Lyrik her nicht so deutlich erkannt und z. B. auch Oden zur Nachahmung gerechnet. Immerhin hat Joh. Elias Schlegel, wenn auch nur beiläufig, bemerkt, es gäbe „Gedichte, wo der Poet so gar seine eignen Affekte ausdrücket". Zwar rechnet er dazu Allegorien, also Einkleidungen eigenen Erlebens in verhüllende Sinnbilder; aber ein kleiner Ansatz war doch auch bei ihm gegeben. Wesentlich weiter geht in diesem Betracht J o h . Adolf Schlegel. Er wendet gegen Batteux ein, daß der Dichter beim produktiven Vorgange „nicht bloß den Gegenstand (der nachzuahmen ist) vor Augen gehabt", sondern daß er darüber hinaus die diesem Gegenstand angemessene Gattung zu wählen und zu berücksichtigen habe, daß vor allem jedoch die s u b j e k t i v e S t i m m u n g wesentlich und wesenhaft mitwirke. Joh. Adolf Schlegel glaubt, „daß es sogar darauf ankömmt, ob das Auge, das den Gegenstand betrachtet, fröhlich oder schwermütig, mutwillig oder sanft sei". Die erlebnismäßig gefärbte, subjektiv individuelle Bedingtheit des Eindrucks wird damit unzweideutig, wenn auch ein wenig allzu behutsam als ein berechtigter, formmodifizierender Faktor innerhalb des Nachahmungsvorganges mit in Rechnung gestellt. Die Formulierungen — bei Joh. Elias „sogar", bei Joh. Adolf „ich glaube . . . sogar" — verraten in überzeugender Weise, wie ungewöhnlich und gewagt damals noch eine Auffassung erschien (ähnlich auch Resewitz beim Unbewußten des Geniebegriffs), die späteren Zeiten ganz selbstverständlich werden sollte, obwohl etwa schon F r i e d r i c h von H a g e d o r n das Erlebnismäßige von der rokokohaften Belebungssphäre aus auch im programmatischen Fordern deutlich genug hatte vorklingen lassen. Aber indem Joh. Adolf Schlegel auf die temperamentmäßig und stimmungsmäßig bedingte und entsprechend wandelbare Auf-

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nahmefunktion schon bei der Eindrucksverarbeitung der wirklichen Gegebenheiten hinwies, indem er ein wenig schon die Natur, gesehen durch ein Künstlertemperament (E. Zola; vgl. jedoch Temperamenten-Lehre), abhob von einer Natur als bloßer Vorbildlieferantin für die Nachahmung, näherte er sich nicht nur einem irrationalistischen „Subjektivismus" vorromantischer Art. Vielmehr stand er an dieser Stelle letztlich schon vor der Frage, ob denn überhaupt noch die Naturnachahmung das Wesentliche und Grundsatzbietende sein könnte. Anfangs ist er sich dessen noch nicht voll bewußt, obgleich ihm schon die Teileinsicht in das Wesen des Lyrischen die Antriebskraft und den Mut gibt, jene subjektivistischen Abwandlungskräfte hervorzuheben. Einige Jahre später jedoch gelangt er aus dem Bedürfnis heraus, dem neuen Gedanken nun auch eine neue Prägung zu geben, fast zwangsläufig zu einer Ausscheidung des Baumgarten nahestehenden Terminus „sinnlichste Vorstellung" und zu dessen Ersetzung durch den Terminus „ s i n n l i c h s t e r A u s d r u c k " . Und so steht jetzt (1759) an der Stelle der Definition Batteux' mit ihrer Verbindlichkeitserklärung des Naturnachahmungsbegriffes die grundsätzlich abgehobene Wesensbestimmung Joh. Adolf Schlegels: „ D i e P o e s i e ist der s i n n l i c h s t e A u s d r u c k d e s S c h ö n e n o d e r des G u t e n oder des Schönen und Guten zugleich d u r c h die S p r a c h e " . Während jene frühere Fassung („sinnlichste Vorstellung") noch wie ein Ausspielen Baumgartens gegen Batteux wirken könnte, obgleich J. A. Schlegel schon damals den Anspruch der Originalität eines Erkennens neben Baumgarten erhebt, weist diese zweite Fassung verheißungsvoll und ahnungsvoll in ein neues Land, das besonders als eine „ P o e s i e d e r E m p f i n d u n g " bewußt abgegrenzt wird gegenüber einer „ P o e s i e der M a l e r e i " . Wird doch auch die Beseelung des Ideellen und die innere Beteiligung des „Herzens" zugleich gefordert und verteidigt. Mag die Sonderforschung (A. Tumarkin) Anregungen der englischen Kunsttheorie (J. Harris) annehmen: entscheidend bleibt der Blick Joh. A. Schlegels für das Vorwärtsweisende dieser Idee und seine Kühnheit, als Übersetzer und Erläuterer Batteux' dennoch diese Gegenkraft in Deutschland zur Geltung zu bringen, wenn auch gleichsam nur versuchsweise. Und es ist nicht so, daß dieser Vorstoß etwa nur von der neueren Schlegelforschung erst entdeckt, von seinen Zeitgenossen aber gänzlich unbeachtet

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geblieben wäre. Eine Rezension der „Neuen Bibliothek der schönen Wissenschaften" (Jahrgang 1771) erkennt an, daß die literarische Kritik „unserm Verfasser viel, sehr viel schuldig" sei, daß Joh. Adolf Schlegel durch die Bekämpfung des Batteuxschen Grundsatzes „einen g r o ß e n S c h r i t t z u r E r f i n d u n g d e r b e s s e r n u n d r i c h t i g e m T h e o r i e getan" habe; denn „ s e i n Unterschied zwischen N a c h a h m u n g und A u s d r u c k hat u n s v i e l l e i c h t z u e r s t auf die B a h n g e h o l f e n , die Unterschiede der verschiedenen Künste und der verschiedenen Unterarten einer Kunst (wahrscheinlich denkt der Rezensent dabei an die Poesie der Malerei und die Poesie der Empfindung) auf genaue Begriffe zu bringen". Vielleicht steht man bei dieser Rezension vor einer jener Stufen, die den Ausdrucksbegriff zu Garve und Sulzer weiterleiten. Gewiß, die Folgerungen Herders hat weder Joh. Adolf Schlegel noch Garve noch Sulzer (aus den etwaigen Anregungen Harris' ?) zu ziehen verstanden. Und doch scheint es fraglich, ob J. A. Schlegel Herder nicht trotz aller Einschränkungen verhältnismäßig näher gekommen ist, als ihm Sulzer an dieser Stelle kommen konnte, weil bei Schlegel wie bei Herder der Zugang von dem R i n g e n u m eine n e u a r t i g e W e s e n s e r k e n n t n i s der L y r i k aus erfolgt. Es entspricht solcher Grundeinstellung, wenn dem Genie neue Wege offen gehalten werden, auf denen es Neues zu finden vermag, „ohne zu suchen", das ihm ein „gewisses glückliches Ohngefähr" jenseits der kunstverstandesmäßigen Wegweiser einräumt, wenn es vor dem anmaßenden Zugriff der Kritik geschützt wird, der es nicht zukomme, das Genie „einzuschränken". Allerdings geht es dabei um das Recht der A u f f i n d u n g u n d V e r w i r k l i c h u n g n e u e r D i c h t g a t t u n g e n . Und in diesem Betracht war man auch sonst verhältnismäßig großzügig. Die Ursache für eine derartige Großzügigkeit lag bei der früheren Poetik im kulturpatriotisch bestimmten Streben, die deutsche Dichtkunst durch Einführung neuer „Arten" zu bereichern und sie mit der Poesie des Auslandes wettbewerbsfähig zu machen. Das wirkte zum Teil noch nach. Auf der anderen Seite aber erhob sich die Frage nach dem V e r h ä l t n i s v o n G e n i e u n d K r i t i k ganz naturgemäß nicht zum wenigsten dann, wenn ein Dichter eine Neuerung gewagt hatte und die Kritik nun vor der Entscheidung stand, ob sie von vornherein auf Grund der alten Wertungsmaßstäbe diese Neuerung zu verurteilen oder ob sie entsprechend angepaßte

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Maßstäbe einer gerechten Wertung erst zu suchen und gleichsam mit Hilfe des Genies zu finden habe. Der Kritiker „von Geschmack", so meint Joh. A. Schlegel, wird den zweiten Weg bevorzugen, und der Kunsttheoretiker wird aus dem neuen Werk neue Gesetze aufzuspüren wissen (ähnlich Geliert). Jedenfalls sieht Joh. Adolf Schlegel das rechte Wechselspiel und fruchtbare Zusammenwirken der beherrschenden Kräfte: Grundsatz (Gesetz), Genie, Geschmack, Kritik (Kunsttheorie) und Regel etwa so: „Wir können nicht allezeit aus Grundsätzen schließen, was in der Ausführung möglich sein und wohlgeraten werde, sondern wir müssen aus der Erfahrung auf die Grundsätze zurückschließen. D a s Genie w a g t V e r s u c h e , der Ges c h m a c k u r t e i l t v o m E r f o l g e ; dann ziehet die Kritik aus den vom Geschmack gebilligten Arbeiten die Regeln ab und verbessert aus ihnen die Begriffe" (Vorrede). Wenn es auch vielfach nur um den Rechtfertigungskampf neuer oder doch als neuartig empfundener Dichtarten und Sondergattungen ging, deren Zahl man sich nicht einfach von der kunstgesetzgebenden Instanz einengen und begrenzen lassen wollte, wie etwa auch bei Gellerts Kampf um das rührende Lustspiel deutlich werden wird, so werden doch in solchen v o r e r s t überwiegend gattungstheoretischen Lockerungsbestreb u n g e n zugleich gewisse Vorarbeiten für eine Ergänzung der Gesetzeskritik durch die Einfühlungskritik nicht zu verkennen und entwicklungsgeschichtlich nicht zu unterschätzen sein. Kräfte des Empirismus greifen belebend ein. Das Genie erhält ein wenig mehr Spielraum, die Machtstellung der Kritik wird ein wenig eingeschränkt. Sie steigt von ihrer diktatorischen Höhe um ein paar Schritte herab und wird um ein paar Schritte kunstnäher und damit lebensnäher. Aber alles das bleibt Ansatz. Jedenfalls sind für Joh. Adolf Schlegel neuartige Gattungen, „die wir nicht vermuteten", nicht nur erlaubt, sondern auch •erwünscht. Sie sind nicht aufs Geratewohl und prinzipiell zu bekämpfen, sondern in Pflege zu nehmen und verantwortungsbewußt auszubilden. Auch die Musterpoetik, die das Werk eines Genies als Vorbild setzt, darf nicht vergessen, daß ein n e u e s Genie sein gutes Recht auf Eigenwegigkeit beanspruchen darf. Man soll also weder das Genie mit Hilfe des Gesetzes, noch das j ü n g e r e aufstrebende Genie mit Hilfe des anerkannten ä l t e r e n Genies zurechtweisen und vom Schaffen abschrecken. & M a r k w a r d t , Poetik II

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Diese freiere Einstellung erleichtert Joh. Adolf Schlegel offenbar auch eine verhältnismäßig wohlwollende Haltung gegenüber der vielfach mißachteten R o m a n - G a t t u n g . Wird dergestalt auf gattungstheoretischem Gebiet eine größere Bewegungsfreiheit gefordert oder doch gebilligt, so wirken die Zugeständnisse an das Wunderbare in einer weiteren Abhandlung „Von dem W u n d e r b a r e n der Poesie, b e s o n d e r s der E p o p e e n " doch recht begrenzt. Sie beziehen sich außerdem nicht sowohl auf freigeschaffene Phantasiegebilde als vielmehr nur auf die „poetischen Maschinen", mit denen das zeitgenössische Epos allzu gern arbeitete. Fast im Gottschedischen Sinne wird das Wunderbare nur als ein Außerordentliches, Überraschendes zugelassen ohne Verstoß gegen das Prinzip der Wahrscheinlichkeit; denn „ein Augenblick der Überlegung läßt uns die Wahrscheinlichkeit der wunderbaren Begebenheit einsehen". In diesem Betracht macht J. A. Schlegel Halt etwa auf dem Entwicklungsstande der Schweizer, nicht ohne Neigung, auf die Position Gottscheds zurückzugehen. Wie denn auch das Wunderbare im Roman so angelegt sein muß, „daß es mit dem Wahrscheinlichen sich verträgt". Hier wird aber sogleich deutlich, daß J. A. Schlegels Zurückhaltung gegenüber dem Wunderbaren teilweise aus bewußt erzieherischen Absichten entsprang und aus dem Willen und der zeitgegebenen Notwendigkeit einer Abwehr der „romanhaften" Wucherungen und Entartungserscheinungen des Wunderbaren sich erklärt, also nicht einfach als Rückschritt zu werten ist. Und wenn man es als seltsam empfunden hat, daß schon ein „Wunderbares" im Stil dort gesehen wird, wo die Schreibart Figuren eines gesteigerten Darstellungswillens (wie Oxymoron, Antithese, Paradoxon) zur Anwendung bringt, so bestätigt sich eben nur, daß die Bezeichnung „wunderbar" unbestimmter war und teils mehr dem Außergewöhnlichen schlechtweg, teils auch, dem Wundervollen im heutigen Wortverstande angenähert blieb. Hervorhebung indessen verdient J. A. Schlegels Bemühen, die E i g e n g e l t u n g e i n e r „ p r o s a i s c h e n D i c h t k u n s t " ernstlicher in das Blickfeld kunsttheoretischer Betrachtung zu rücken, und zwar besonders in der Abhandlung „Von der E i n t e i l u n g d e r s c h ö n e n K ü n s t e " . Darin geht er nicht nur über Batteux, sondern auch über die Schweizer und Baumgarten hinaus. Prosadichtungen, wie etwa der Roman und andere, die vorwiegend eine

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„Poesie der Sachen" jenseits der Poesie der (metrischen) Formen pflegen, erhalten so ihren Eigenbezirk innerhalb der Einteilung zugewiesen; denn „unter der Benennung der p r o s a i s c h e n D i c h t k u n s t würden sie sich am füglichsten zusammenfassen lassen". Bei alledem wurden Teilanregungen Dubos' mitverarbeitet, nicht zum wenigsten hinsichtlich einer verstärkten Beachtung der Romanformen. Und es muß, soweit es um das Verhältnis von Prosa und Poesie geht, nachdrücklich auf die wenig beachtete D a n z i g e r P o e t i k B r ä m e r s v o n 1 7 4 4 verwiesen werden. Ganz abgesehen davon, daß z. B. schon G. S t o l l e in seiner Gelehrtengeschichte gelegentlich von einer „Poesie in Prosa" in Unterscheidung von der „gebundenen Poesie" gesprochen hatte, und zwar auch schon im Rahmen einer Gliederung. Trotzdem darf J. A. Schlegels Bestreben nicht unterschätzt werden, obgleich es sich vorerst nicht durchzusetzen vermochte und späterhin von Schlegel selbst unter dem Eindrucke einer modisch werdenden, rhythmisierenden „poetischen Prosa" allzu vorsichtig abgebogen wurde von der früheren zielklareren Richtung. Innerhalb der Geschichte der Gattungstheorie hebt sich jedenfalls die z.T. mit jenen Bemühungen um eine Sondergruppe der „prosaischen Dichtkunst" verbundene E h r e n r e t t u n g d e s R o m a n s vorteilhaft ab von der recht zwiespältigen Stellungnahme zum Roman, wie sie die Aufklärung vielfach ablesen läßt. Im wesentlichen hatte sich dabei die Einstellung, wie sie für die Frühaufklärung angedeutet werden konnte (Bd. I), auch weiterhin fortgesetzt, weil sie vom weltanschaulichen Hintergründe in ihrer Richtung bestimmt wurde. Die Entartung des Wunderbaren zum Abenteuerlichen, die vielfach nichts weniger als moralpädagogische Vorherrschaft von Liebesgeschichten, das Regellos-Krause der Episodenwucherungen u. a. m., alles das mußte innerhalb des Kunstwollens und des mit diesem eng verbundenen Ordnungswillens der Aufklärung auf Widerstand stoßen. Vorerst schien auch die u. a. von Lafontaine vorgebildete Tierfabel, eine Lieblingsgattung der Zeit (Hagedorn, Meyer von Knonau, Lichtwer, Pfeffel, Langbein, Willamovu. a.), den moralpädagogischen Zwecksetzungen weit angemessener zu sein als die umständlichere Romanform, die außerdem vom Barock her vorbelastet erschien. Für die Poetik vollends ergab sich darüber hinaus die leidige Problematik der Eingliederungsmöglichkeit. Gerade vom hochangesehenen Epos aus gesehen, fiel der Roman unendlich weit ab. 8 *

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Und doch war er dort beim Epos-Kapitel noch am ehesten unterzubringen. Nicht selten übergeht man ihn völlig oder erwähnt ihn doch nur beiläufig. Noch Sulzers umspannendes kunsttheoretisches Großwerk ( i j j i i . ) kennt kein Stichwort „Roman". Dennoch ist die Gesamthaltung nicht einseitig ablehnend. Mannigfache Brechungen werden in der Entwicklung der Romantheorie wirksam. Einiges konnte im Gottschedabschnitt berührt werden. Es fehlt G o t t s c h e d vorerst das deutsche Muster, das er als Ideal setzen möchte. Er versucht es mit der „Asiatischen Banise" Ziglers, erkennt dann jedoch, daß das Muster nicht ausreicht, möchte gewisse Entfaltungsmöglichkeiten offen lassen und senkt so seine Forderungen. Nur der Blick auf die „alten Romanschreiber" ermutigt ihn wieder zu einem leichten Emporbiegen der Ansprüche. Als Joh. A d o l f S c h l e g e l seine Romantheorie skizziert, kann er wenigstens schon auf Gellerts „Schwedische Gräfin" (kaum mehr als der Titel von Joh. Gottlob Benj. Pfeils „Grafen von P.", 1756 könnte als Anklang gelten) hinweisen. Und als B l a n k e n b u r g seinen breitschichtigen „Versuch über den Roman" um Jahrzehnte später unternimmt, da stellt schon Wielands „Agathon" das stützende Muster. Dazwischen liegt das Kunstgespräch über den Roman in Hermes' „Sophiens Reise" (12. Brief), in dem Gellerts Roman Erwähnung findet. M a n k ö n n t e f a s t s a g e n , d a ß die H ö h e n l a g e d e r b e g l e i t e n d e n T h e o r i e j e d e s m a l e t w a der H ö h e n l a g e des M u s t e r s , d a ß a l s o die D e u t u n g der z e i t p a r a l l e l e n L e i s t u n g e n t s p r e c h e . Nicht in demselben Grade gilt das von theoretischen Ansätzen innerhalb von Rezensionen, etwa in Mendelssohns recht kritischer und wenig verständnisvoller, von Hamann bekämpfter Besprechung von Rousseaus „Nouvelle Hölofse" (166. Lit.-Brief f.) oder in Wielands Besprechung von J . T . Hermes' „Sophiens Reise" (im „Teutschen Merkur"); wahrscheinlich meint Hermes diese Rezension, wenn er in einer Anmerkung (3. Ausgabe) seine eigene Romantheorie überschätzt findet. Der Rezensent nämlich neigt nicht selten dazu, kunsttheoretisch recht hohe Forderungen zu stellen, schon um den kritisch überlegenen Abstand zu sichern. Besonders gilt das für Fälle, die — wie Mendelssohn — mit rationalistischer Gesetzeskritik und noch nicht mit jungherderscher Einfühlungskritik arbeiten. Joh. Adolf Schlegels B e i t r ä g e z u r R o m a n t h e o r i e entfalten sich im Rahmen der Erörterungen über das Wunderbare und das

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Epos. Das war vielfach der Ort, an dem in den kunsttheoretischen Schriften und Poetiken der Roman berührt wurde. Durchweg erwies sich jedoch diese Einlagerung als wenig vorteilhaft für das Ansehen der in ihrem Geltungsrecht noch umstrittenen Romangattung. Froh oder wohl auch ein wenig erschöpft von den Anstrengungen, das Wunderbare der „Maschinen" im Epos einigermaßen mit dem Wahrscheinlichkeitsprinzip in Einklang gebracht zu haben, entschädigten sich dann wohl die Theoretiker, indem sie nun dem übertrieben und entartet „Wunderbaren" im Roman als dem „Romanhaften", im Sinne des Abenteuerlich-Verstiegenen, recht schneidig auf den Leib rückten. B r ä m e r kann es 1744 als allgemeingültig voraussetzen, daß man an den Romanschreibern tadele, „wenn sie wider den bewiesenen Lehrsatz (der Wahrscheinlichkeit) geflügelte Pferde und Löwen, goldene Bäume und dergleichen dichten, davon man keine Ursache in der Natur finden kann". Trotz der Stützung auf Dubos gehörte um 1750 herum für J. A. Schlegel also noch Mut dazu, gegen derartige landläufige Vorurteile sich anzustemmen. Schlegel weiß, daß der Roman nicht zum wenigsten „von der Seite des Wunderbaren übelberüchtigt" ist. Er weiß, daß man geradezu „das Abenteuerliche mit dem Namen des Romanhaften beleget hat" — was im Grunde noch im Stichwortartikel „Romanhaft" des Sulzerschen Lexikons geschah. Aber er weiß auch, daß man den Roman nur retten kann, wenn es gelingt, sein „Wunderbares" mit dem Wahrscheinlichkeitsprimat in Einklang zu bringen. Deshalb bemüht er sich, dem Roman „sein e i g e n t ü m l i c h e s echtes Wunderwerk" zuzuweisen, das in Abhebung von den Entartungsformen „mit dem Wahrscheinlichen sich verträgt". Schwer wiegt das Attribut „eigentümlich"; denn es k a m a l l e s d a r a u f a n , den R o m a n i r g e n d w i e auf s i c h s e l b s t z u s t e l l e n , t r o t z a l l e r e h r e n v o l l e n N ä h e des E p o s . Von einer anderen Seite her bereitet sich ein Freistellen des Romans insofern vor, als J. A. Schlegel die „hohe" Schreibart, die man gerade den älteren, durchweg noch barocken Romanen vorwarf, mit Hilfe der „Schwedischen Gräfin" Gellerts als entbehrlich und nicht notwendig „poetisch" abwehren konnte, um so mehr, als ihm das Rückzugs- und Rettungsgebiet der „prosaischen Dichtkunst" zur Verfügung stand. Schon an dieser Stelle mag auf den erwähnten Beitrag zu einer Theorie des Romans im Kunstgespräch des zweiten, hauptsächlich

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in Betracht kommenden Romans Hermes' „Sophiens Reise von Memel nach Sachsen" (1769—73) kurz eingegangen werden. Der pommersche Pastor Joh. T i m o t h e u s H e r m e s (1738—1821) zwar möchte, wie eine Anmerkung zur dritten Ausgabe seines Romans in bescheidener Selbstkritik bekundet, jene Ausführungen des zwölften Briefes im ersten Teil seines mehrbändigen Romans nicht so ernsthaft als „meine Theorie vom Roman" aufgenommen und gar „mit stattlichen Dissertationen" (offenbar innerhalb der Rezensionen) bedacht sehen. Indessen enthält doch jenes auch von der zeitgenössischen Kritik beachtete Gespräch, das — außer bei Fragen der literarischen Originalität, beim Sprachstand als literarischer Voraussetzung, bei erlaubter Anverwandlung fremder Anregungen — besonders beim Wesen und Wert der Romane verweilt, eine Reihe von Bemerkungen über Berechtigung und Wirkung des guten Romans, über die Motivwandlung, den Episodengebrauch, das Aufrechterhalten der Spannung, den „ernsthaften Zweck", die Komposition, aber auch die bereits von J. A. Schlegel berührte Frage einer Verwendung des Wunderbaren. Im Sinne einer Vorbild-Poetik werden Richardson, Fielding, Smollet, aber auch (mehr beiläufig und etwas ausweichend) Geliert mit seiner „Schwedischen Gräfin" ins Blickfeld gerückt. Geliert, der sonst häufig als vorbildlich im Verlaufe des Romans eine ehrenvolle Erwähnung findet, kommt hinsichtlich seines Romans etwas kurz weg in diesem dem 12. Briefe Sophiens eingelagerten Kunstgespräch, dessen Technik gewiß noch nicht so ausgebildet erscheint wie zur Zeit der Romantik. Immerhin ist die Absicht unverkennbar, kunsttheoretische und programmatische Forderungen und kritische Wertungen durch eine aufgelockerte und anregende Plauderei der Reisenden zu vermitteln. Die Anerkennung des Romans als Sonderform tritt dabei unverkennbar zutage. Es wird z. B. hervorgehoben, daß der gute Roman die Weltkenntnis und die Kenntnis fremder Nationen zu fördern durchaus geeignet sei. Es geht in gewisser Weise um den kulturellen Bildungswert des Romans, Auslandsromane können in beschränktem Grade eine Bildungsreise ersetzen oder doch gleichsam vorbereitend vorwegnehmen. Im Sinne der Wirkungs-Poetik wird der Wert also vor allem von der Wirkung abgelesen. Auch bei etwaigen Umformungen oder späteren Werken hat der Romanschriftsteller von der Wirkung zu lernen, und zwar nicht allein von der Wirkung auf die Kunstrichter, sondern auch von der

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Wirkung auf wertvolle Leser. Hinsichtlich der Komposition wird besonderes Gewicht gelegt auf eine gleichmäßige Verteilung des Leser-Interesses über den Gesamt-Roman hinweg, und zwar in der Weise, daß der Leser sich lange Zeit hindurch gleichsam gar nicht recht entscheiden können muß, welcher Romangestalt er denn nun eigentlich seine hauptsächliche Anteilnahme zuwenden solle. Übernimmt ein Romanschriftsteller einen Charaktertypus, so muß er ihn zum mindesten an andersartigen Verhältnissen entfalten und erproben. Auch der Bedeutung des Romans für die Frauenbildung wird gedacht. Das „Ich werde nicht ruhig sein, bis wir einen guten Roman haben" der Romangestalt (Herr Selten) ist offensichtlich ein persönliches Bekenntnis Hermes', das mehr aus moralischer Verantwortung als aus Ehrgeiz abgelegt worden ist. Bereits vor J. A. Schlegel und Batteux hatte die Problematik der gebundenen und ungebundenen Rede als Wert- und Wesensmerkmale des Poetischen gründlich und ein wenig pedantisch der Danziger Poetiker C. F. B r ä m e r erörtert mit dem Ertrag, daß wohl jede der vermeintlich spezifisch poetischen Stilarten in Wirklichkeit auch in der Prosa nachzuweisen sei. Aber nicht darin liegt die Hauptleistung Brämers. Seine ausgesprochen kritische Poetik zielt als „ G r ü n d l i c h e Untersuchung v o n dem w a h r e n B e g r i f f e der D i c h t k u n s t " (Danzig 1744) frühzeitig auf die Schaffung einer kunsttheoretisch und kunstphilosophisch haltbaren Position n e b e n und u n a b h ä n g i g v o n G o t t s c h e d u n d den S c h w e i z e r n . Manches in dieser formal spröden und in der Haltung eigenwilligen Poetik wirkt auf uns Spätere wie müßige Spiegelfechterei. Aber manches blitzt auf wie ein ehrliches und tapferes Erkämpfen auf einsamem Posten (Brämer ist sich der „Dunkelheit" seines Namens durchaus bewußt), und manches wirkt wie ein Anpacken von Schwierigkeiten, die zu überwinden Brämers Kraft, völlig auf sich gestellt, nicht ausreichte. Verhältnismäßig vereinzelt dürfte er mit seinem überraschenden V o r s t o ß g e g e n d a s W a h r s c h e i n l i c h k e i t s g e s e t z dastehen, wobei unklar bleibt, ob diese kühne Wendung aus Kraft oder Verlegenheit oder ob sie am Ende gar nur aus kritischer Oppositionslust erfolgt. Brämers kritischer Sinn, zwischen Scharfsinn und Spitzfindigkeit schwankend, aber eben deshalb fähig, Spitzfindigkeiten auch bei anderen Theoretikern aufzuspüren, erkennt mühelos

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die gewundene Art, in der Gottsched und die Schweizer (besonders im Bereiche der Fabeltheorie) zwischen dem Wunderbaren und Wahrscheinlichen zu lavieren versuchen. Die „hypothetische Wahrscheinlichkeit" (zugunsten der Tierfabel eingeräumt) wird als unhaltbar und als ein in der Beweisführung nur erschlichener Notausgang Gottscheds verworfen. Nicht besser ergeht es Breitinger (Kapitel von den Äsopischen Fabeln) und einigen französischen Fabeltheoretikern. Brämer ruft den Empirismus zur Hilfe. Das K r i t e r i u m wird die „ E r f a h r u n g " , die es als unwahrscheinlich erkennen muß, daß Tiere mit Vernunft und Rede begabt sein könnten. Aber er verdammt nun nicht etwa wahrscheinlichkeitsgläubig die Tierfabel, sondern er behauptet die Fragwürdigkeit des Wahrscheinlichkeitsgesetzes in seiner starren Form und Fassung. Zum mindesten für die „bedeutenden", allegorischen oder, wie er auch wohl sagt, „ h i e r o g l y p h i s c h e n E r d i c h t u n g e n " leugnet er geradezu die Verbindlichkeit des Wahrscheinlichkeitsprinzips. Man solle doch aus all den Schwierigkeiten und kunsttheoretischen Pressungen ehrlich die Folgerung ziehen; denn auch die Einkleidung derartiger Erdichtungen als Träume bringe keine Lösung und würde zur Einförmigkeit führen, bzw. wieder andere poetische Traumfiktionen in Mißkredit bringen. Eine Dichtart jedoch — und damit vollzieht Brämer eine beachtenswerte Wendung —, die volkserzieherisch „viel Gutes" zu bewirken vermöge und, in glücklichen Fällen und bei günstigen Umständen angebracht, „ein ganzes Volk bewegt habe", darf um eines vermeintlich unerläßlichen Kunstgesetzes willen nicht irgendwie eingeengt und eingezwängt werden, mögen noch so achtbare Poetiker dieses Gesetz erlassen haben. Allerdings hat auch in diesem Falle, wie im Schlußteile der Poetik sichtbar wird, B r ä m e r s G e w ä h r s m a n n Bacon ihm den Mut gestärkt zu jenem Vorstoß gegen die Machtstellung des Wahrscheinlichkeitsgesetzes. Ganz allgemein entscheidet im Sinne der Wirkungsästhetik das Erreichen einer Absicht, eines Zweckes im Sinne des Wirkens und Bewirkens. Fördert die Wahrscheinlichkeit die jeweils im Gedicht beabsichtigte Wirkung, so berücksichtige man sie. Hemmt sie die angestrebten Zwecke, so kann man sie unbeschadet des künstlerischen Wertes einer Dichtung unberücksichtigt lassen. Durch diese L o c k e r u n g des W a h r s c h e i n l i c h k e i t s p r i n zips, durch eine gewisse V o r a r b e i t f ü r den , ,Laokoon", durch

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die W a h l d e r P s y c h o l o g i e a l s A u s g a n g s s t e l l u n g und nicht zum wenigsten durch eine verhältnismäßig eingehende B e r ü c k s i c h t i g u n g der national bedingten B e s t i m m u n g s k r ä f t e fordert und verdient Brämers Poetik, ganz abgesehen von seinem K l ä r u n g s v e r s u c h des V e r h ä l t n i s s e s von gebundener u n d u n g e b u n d e n e r R e d e , ein etwas näheres Eingehen. Brämer möchte fast nach Art eines kritischen Forschungsberichts im ersten Teil seiner „Untersuchung" die bisherigen Begriffsbestimmungen sammeln und kritisch sichten, um dann im zweiten Teil, dem „dogmatischen Abschnitt", sich der kritischphilosophischen Poetik mit eigenen Erörterungen anzunähern. Zeitlich umgreift jene kritische Überschau in skizzierender Linienführung die Entwicklung von Aristoteles bis hin zu Baumgartens „Meditationes" von 1735. Dabei läßt Brämer eine Linie von Aristoteles ausgehen (Nachahmungsprinzip) und verfolgt polemisch eine andere im historischen Ansatz etwas unklare Linie (Verskriterium), die als eine Art kunsttheoretischer Erbsünde das Merkmal der Versform mit sich schleppt. Bei Horaz vermische sich schon Nachahmungskriterium und Verskriterium. Und diesem Trugziel (des überwiegenden Verskriteriums) seien nun die weitaus meisten Theoretiker (Vossius, Opitz, Morhof, Boileau, Dacier, Voltaire) gefolgt, wobei Opitz zwar vom „Nachäffen der Natur" spreche, aber doch in seiner Gesamthaltung der Vers-Richtung Horaz' zuneige. Gewisse Verbesserungsansätze glaubt Brämer dort zu erkennen, wo man die Höhenlage der Schreibart (Stilhöhe), die hinter der äußeren Versform gleichsam als gesteigerter Darstellungswille sich wirksam zeige, zum „wahren Merkmal einer Poesie" erhoben habe (Racine, Arnold). Die eigentliche Aristoteles-Linie, die bestenfalls bei Le Clerc berührt werde, ist erst von Francis Bacon von Verulam würdig aufgegriffen worden. Bacons „De dignitate et augmentis scientiarum" (1623) hatte die Poesie als eine „willkürliche Nachahmung wirklicher Geschichte" zu der Historie in Beziehung gesetzt, ihr die Einbildungskraft zuerkannt, dagegen den Wert des Versmerkmals abgewehrt. Mit Hilfe Bacons gelangt Brämer nach vielen Umständen zu der Bestimmung, daß die Poesie „durch Erdichtungen a u f e i n e u n v e r m e r k t e A r t z u e r b a u e n " habe. Die Methode kehrt noch vierzig Jahre später ganz ähnlich bei der spätaufklärerischen Gruppe Eschenburg-EngelEberhard (1783) wieder. Denkt man an Lessing, so ist es weit mehr

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die Taktik der Fabelabhandlungen als die Methode des „Laokoon", die teils ein wenig plump noch erprobt wird. Die Wahl Bacons als Wegbereiters gewinnt an Wert und Gewicht, wenn man daran erinnert, daß in anderem Zusammenhange die Sonderforschung Bacon als einen der „Ahnherren der neueren Ästhetik" würdigt. Im Rückgriff Brämers auf Bacon liegt in diesem Sinne kein Rückschritt vor, sondern das Aufspüren einer wirksamen Antriebskraft, die er zwar kaum voll auszuwerten versteht. Die Vorarbeit oder richtiger das andeutende V o r s p i e l f ü r den „ L a o k o o n " dagegen liegt darin, daß Brämer „ B e g e b e n h e i t e n " (Lessings Handlung: Sukzession) und „ D i c h t u n g s b i l d " (Lessings schildernde „Koexistenz") verhältnismäßig klar unterscheidet. Am weitesten nähert er sich dem „Laokoon" dort, wo er über die „Bilderkünste" (bild. Künste) und ihre Grenzen sagt: „Denn alle Bilderkünste gehen nur auf zugleich vorhandene Sachen; und Veränderungen, Begebenheiten und Fabeln können sie nicht vorstellen, als insoweit sie gewisse Figuren und Stellungen ausdrücken können, womit gewisse Bewegungen menschlicher und anderer Körper verknüpft zu sein pflegen" (Gründl. Untersuchung S. 114). Die Dichtkunst jedoch wird im Gegensatz zum „Laokoon" nun keineswegs auf „Begebenheiten" eingeschränkt, obgleich sich dieser Terminus und Begriff „Begebenheit" an und für sich dem „Handlungs"-Begriff des „Laokoon" nahe verwandt erweist. Denn hinsichtlich des Zugleichseienden, also der „Sachen", bei denen „alles, woraus sie bestehen, zugleich und zusammen vorhanden ist", erfolgt keine Grenzsetzung und keine entsprechende Einschränkung der Poesie. Vielmehr kann die Poesie a u c h dieses Bildhaft-Zuständliche erfassen, und zwar in dem, was Brämer „ D i c h t u n g s b i l d " nennt. Er ist sich dabei durchaus bewußt, diesen Terminus „Dichtungsbild" neu geprägt zu haben. Gerade umgekehrt als der Lessing des „Laokoon" beansprucht Brämer für b e i d e Sonderformen der Darstellung (Begebenheit und Dichtungsbild) noch eine v ö l l i g e G l e i c h b e r e c h t i g u n g im Bereiche des Dichterischen, dessen vermeintlich Aristotelische Einschränkung auf bloße „Nachahmung von Handlungen" er auch im Schlußteil seiner „Gründlichen Untersuchung von dem wahren Begriffe der Dichtkunst" erneut ablehnt unter ausdrücklichem Hinweis auf den nicht zum wenigsten allegorischen, „bedeutenden" Wert der „ D i c h t u n g s b i l d e r " . Die bildende Kunst

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(„Bilderkünste") dagegen vermag — ähnlich dem „Laokoon" — nur jenes Zugleich-Seiende zu gestalten. Im Vorraum des „Laokoon" ist bemerkenswert, daß also nicht nur im Kunstschaffen die „malende", bildernde Poesie stark ausgeprägt war, sondern daß auch in der Kunsttheorie das „Bild" eine beträchtliche Geltung besaß. Noch 1752 definiert z. B. Joh. Andr. Fabricius in seiner „Historie der Gelehrsamkeit" (I. Band) die „Dichterei" (die er von der „Dichtkunst" als Poetik terminologisch abheben will) als „eine Art Beredsamkeit, etwas mit artigen Erdichtungen, o d e r Bildern vorzustellen". Zwar so rückständig war Brämer schon ein Jahrzehnt vorher nicht mehr; aber dem „Dichtungsbild" räumt er vollgültiges Heimatrecht in der Poesie ein. Kurz, es geht Brämer noch nicht um eine Grenzfindung und Grenzfestigung zwischen Malerei und Poesie, sondern um den N a c h w e i s einer r a n g m ä ß i g e n , reichere S t o f f w e l t e n bew ä l t i g e n d e n Ü b e r l e g e n h e i t der P o e s i e ; denn „sie stellet uns sowohl einen Zusammenhang auf einander folgender als zugleich vorhandener Dinge vor". Ein organisches Inbeziehungsetzen der Motivbereiche mit der Reichweite und Artung der Darstellungsmittel erfolgt ebenfalls noch nicht. Die Z e i c h e n l e h r e J. J. Harris' wurde erst 1744 zugänglich, kaum schon für Brämer (der sein Vorwort Febr. 1744 zeichnet). Aber er macht sich doch schon Gedanken über das Wort als Bezeichnungsmittel. Und das ist nicht zufällig, hält er doch auch grundsätzlich eine s p r a c h p h i l o s o p h i s c h e E r h e l l u n g der P o e t i k für dienlich und erstrebenswert. Er selbst allerdings geht nur ein paar tastende Schritte auf dieses ferne Ziel zu. Da er Chr. W o l f f allgemein voraussetzen kann, so darf er sagen: „Es sind Worte, wie ein jeder weiß, Zeichen unserer Gedanken und der Sachen, so selbige vorstellen". Aber aufhorchen läßt die Überlegung: „Haben gleich die Worte mit den vorgestellten Sachen keine Ähnlichkeit, so ist doch das Bild, so sie ausdrücken, ihnen gleichförmig". Im Hintergrunde steht die Frage, wie denn überhaupt der Dichter die Natur durch Worte nachahmen könne. Der Scheinvorsprung des Malers wird bald von der ideellen Schrittweite des Dichterwortes überholt. Aber im Anfange haben beide eine ähnliche Ausgangsstellung; „denn erstlich werden Maler und Skribent derselben Idee folgen müssen, wenn beide dieselbe Sache mit gleichem Glücke vorstellen wollen". Bei Brämer darf ruhig der Maler vom Dichter lernen. — Doch müssen diese Andeutungen genügen, um Annähe-

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rung und Abstand im Verhältnis der Poetik Brämers zu Lessings „Laokoon" fühlbar werden zu lassen. Es verdient Hervorhebung, daß Brämer bereits die S p r a c h p h i l o s o p h i e als H i l f s w i s s e n s c h a f t f ü r die P o e t i k ins Auge faßt mit der Begründung, daß zunächst einmal unsere Vorstellung „von der Sprache überhaupt" geklärt werden müsse. Seine Poetik bzw. kritische „Untersuchung" aber will gerade die „Grund- und Hilfswissenschaften" in den Kreis der Betrachtung rücken. Und wenn er unter ihnen die „ P s y c h o l o g i e zum G r u n d e s e t z e n " möchte., wenn er dem Kritiker verläßliche Maßstäbe einer gesicherten Wertung von einer regelsetzenden Kunsttheorie her zur Verfügung stellen möchte (wie in der Spätaufklärung z. B. noch Eschenburg), wenn er den Mißbrauch der Kritik als Gefahr erkennt, eben „weil sie sich in ein ungemeines Ansehen gesetzet hat": so werden bei aller rationalistischen Umklammerung in solchen und ähnlichen Zügen teils doch vorwärtsweisende Kräfte zum mindesten in Keim- und Frühformen erkennbar. Zu derartigen vorwärtsweisenden Kräften tritt verstärkend die Berücksichtigung nationaler Bindungen und Unters c h e i d u n g e n . Brämer begegnet nämlich als einer der Vorläufer innerhalb der höchst bedeutsamen Richtung, die über Lessing verlaufend, bereits auf Herder einschwenkt. Nicht zwar, als ob Brämer zielbewußt diese Richtung kraftvoll vorwärtsgetrieben hätte. Er berührt sie indessen, und zwar auf demselben Teilgebiete (Streit um das Wunderbare) wie dann Joh. Adolf Schlegel und M. C. Curtius. In seinem ersten „Hauptstück" (dogmatischer Teil), das „Von Erdichtungen und ihrer Wahrscheinlichkeit" handelt, zieht er ausdrücklich und ausführlich die nationale und zeitliche Wandlung des relativ geltungsberechtigten „Wunderbaren" heran. Die kritische Einstellung zum Wunderbaren muß gebührend den „Unterschied bei ganzen Nationen und Völkern und in verschiedenen Zeiten" mit in Rechnung stellen, wenn anders sie nicht voraussetzungslos ins Unbestimmte und Ungerechte verfallen will. Die Wirkungsabsicht der Dichtung schlechtweg ist stets eingestellt gewesen auf „gewisse Zeiten, auf gewisse Nationen und auf eine gewisse Art Leser". So ergeben sich genetisch und graduell volksmäßig, zeitmäßig und bildungsmäßig (Leserschicht) entsprechende Wertsetzungen von Eigengeltung, die nicht auf eine absolute Geltung einer Dichtkunst an und für sich gepreßt werden dürfen. Aber eine erlebnismäßige Überzeugung

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oder gefühlsstarke Gesinnung vermag sich bei Brämer im Rahmen seiner nüchternen Gesamthaltung noch nicht durchzusetzen, ebensowenig wie eine kunstnahe Einfühlung. R a t i o n a l i s t i s c h e D e f i n i t i o n s f r e u d i g k e i t , die hinter der „förmlichen und untadeligen Erklärung" der Weisheit letzten Schluß vermutet, feiert manchen Scheintriumph über die bequem zum Angriff aufgebauten „Gegner". Einer jener Scheintriumphe liegt z. B. in der willkürlichen und verständnislosen Umbiegung der Kerndefinition Baumgartens. Wenn Brämer die von der „unteren erkennenden Kraft" herrührenden „sinnlichen Vorstellungen" Baumgartens zuletzt doch wieder umdeutet und mißdeutet als „undeutliche" im gewöhnliche]! Wortsinne und die spezifische Färbung dieses Terminus einfach übersieht — obgleich er ihn offenbar kennt — , so wird durch die entsprechende Verschiebung der Prämisse ihm die erwünschte Fehlfolgerung, die schon Pyra beanstandet hat, etwas allzu leicht gemacht. Er schließt nämlich, daß Baumgartens Ansicht nicht haltbar sei, weil die Poesie sowohl wie die Redekunst ihrer „Absicht gemäß bald deutliche, bald undeutliche Vorstellungen ausdrücken und erwecken müsse: und also kann man ihnen unmöglich lauter undeutliche zueignen". Zudem ginge dergestalt die Abstufung gegenüber der Redekunst verloren. Hier berührt er doch wohl eine schwache Stelle im System Baumgartens (Abhebung von Poesie und Redekunst). Entwicklungsgeschichtlich bemerkenswert ist es immerhin, daß bei dieser Gelegenheit — wie später mehrfach in der Geschichte der Wortkunsttheorie und Sprachphilosophie — die Schwierigkeit des sprachlichen Mediums berücksichtigt und außerdem die Subjektivität bei der Aufnahmefunktion psychologisch einbezogen oder doch wenigstens gestreift wird. Während Brämer es nach Möglichkeit vermeiden will, „ohne Not neue Begriffe zu schmieden", und doch einen nicht einmal so ganz unbrauchbaren Begriff wie „Dichtungsbild" prägt, gebärdet sich M i c h a e l C o n r a d C u r t i u s (1724—1802) ungleich neuerungsfreudiger und recht eifrig, „neue Begriffe zu erfinden", die er bei den maßgebenden Theoretikern und Kritikern zu vermissen meint. Irgendwie muß ihm schon 1753 etwas von J. J. Rousseau und dessen Preisschrift von 1750 angeflogen sein. Man trifft jedenfalls auf vereinzelte, aber unverkennbare Klänge, die aus den Leitmotiven der Sturm- und Drang-Zeit verirrt zu sein scheinen und die kaum anders als durch eine sehr frühe unmittelbare oder

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mittelbare Kenntnis des „Discours" zu erklären sind, die bereits 1751 von Lessing im „Neuesten" auszugsweise vermittelt worden war, und zwar nicht ohne kritisches Empfinden dafür, daß J. J. Rousseau „zu weit geht", trotz des anerkannten Mutes gegenüber dem Vorurteil. Reichlich gebrochen im rationalistischen Raum hallt es doch von dem Preis der „wilden Seele" wilder Völker wider, die „keine falsche Zärtlichkeit" kennen, von dem, was „ihre Sinne angenehm und harmonisch finden" und was „von der Natur selbst" dafür erkannt werden zu müssen scheine. Man hört von „Zwang und Sklaverei" als dem Los „gesitteter Völker" und ähnliches, das aber unorganisch eingebettet und nur angelesen wirkt. Zwar auch vor Rousseau sind ja Stimmen zu verzeichnen wie die Pelloutiers, die vom „mépris des lettres" den wirklichen und eigentlichen Ursprung der Poesie ableiteten. Immerhin weicht das alles, woher immer Curtius es bezogen haben mag, beträchtlich von Brämers steifer Vernünftigkeit ab. Und es kann in der Nähe von Nicolais „Briefen" von 1755 als Vorklang zum Sturm und Drang beiläufig verzeichnet werden. Anderes erinnert ein wenig an Brämer, so etwa die Titelgebung in einer der Abhandlungen Curtius' „ V o n d e m W e s e n der w a h r e n B e g r i f f e der D i c h t k u n s t " (Anhang zur Aristoteles-Übertragung). Die Bezeichnung „Dichtkunst" in der Titelgebung scheint (wie auch bei C. F. Brämer) nicht mehr eindeutig auf „Poetik" hinauszulaufen. An sich besaß das Wort Dichtkunst damals (wie noch später) die Doppelbedeutung Poesie—Poetik, wobei Poetik teils überwog (Dichtkunst = Theorie der Poesie). So etwa definiert Joh. Andreas Fabricius in seinem (mehrbändigen) „Abriß einer allgemeinen Historie der Gelehrsamkeit" (1752—54), und zwar in dessen erstem Bande von 1752 die „Dichtkunst" als „eine Wissenschaft der Regeln der Dichterei". Für Poesie steht also „Dichterei" (ohne wertsenkenden Nebenton) ; „Dichtkunst" dagegen steht für Poetik wie in den Titeigebungen der Poetiken Gottscheds, Breitingers u. a. In Gottscheds „Beobachtungen . . . " von 1758 stehen zusammen „Dichten, Dichtkunst, Gedicht", jedoch nicht als Synonyme; vielmehr steht Dichtkunst auch dort für Poetik (wie erwähnt, verteidigt Gottsched diese Bezeichnung gegen Dornblüths Vorschlag „Verskunst"). Als der Ästhetiker Fr. Bouterwek in seiner „Ästhetik" (1806), die eine „Poetik" enthält, ausdrücklich den Terminus „Dichtkunst" (für Poesie) bevorzugt, weil durch die Romantik und deren Literaturphilosophie der Terminus „Poesie" zu aus-

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geweitet erscheint, da braucht er nicht mehr ein Mißverstandenwerden (Dichtkunst = Poetik) zu befürchten. Curtius kritisiert nicht Baumgarten wie Brämer, sondern er will in Einzelfällen überall Baumgartens Definition nachweisen, hält sich aber vorwiegend an dasAttribut „sinnlich", wobei er das „sensitiv" einfach als sinnlich = anschaulich nimmt unter Beimischung jener Klangfarbe Rousseauscher Art. Nach alledem kann C u r t i u s einige Aufmerksamkeit erwarten für seine „ K r i t i s c h e n A b h a n d l u n g e n " , die er zusammen mit „ G e d i c h t e n " 1760 herausbrachte. Curtius ist zugleich in die Reihe der Aristotelesübersetzer einzugliedern mit einer Übertragung von „ A r i s t o t e l e s " D i c h t k u n s t " (1753), die er als Mitglied der Deutschen Gesellschaft in Göttingen „mit Anmerkungen und b e s o n d e r e n A b h a n d l u n g e n versehen" veröffentlichte und die bereits in demselben Jahre eine wohlwollende Kritik durch den jungen Berliner Rezensenten Lessing erfuhr. Allerdings spielt die Rezension Lessings merklich diese zustande gekommene Aristotelesübersetzung Curtius' polemisch aus gegen Gottscheds bloße Planung einer eigenen Aristotelesübertragung. Und mit jener Anerkennung der Leistung Curtius' sollte wohl auch ein wenig Gottsched der Mut zu einem Parallelunternehmen genommen werden. Indessen dehnt der junge Berliner Kritiker sein Wohlwollen aus auf die der Ubersetzung beigegebenen eigenen Abhandlungen Curtius', denen er zugesteht, daß sie „sehr viele schöne Gedanken von dem Wesen und dem wahren Begriffe der Dichtkunst (Anklänge der Titelgebung Brämers?), von den Personen und Handlungen eines Heldengedichts, von der Absicht des Trauerspiels, von den Personen und Vorwürfen der Komödie, von der Wahrscheinlichkeit und von dem Theater der Alten" zu vermitteln wüßten. Dabei bleibt zu berücksichtigen, daß es sich um den frühen Rezensenten Lessing handelt, der sich damals noch nicht eigene kunsttheoretische Leitgedanken erobert hatte. An sich dürfte der Eigenbestand an programmatischen Ideen in diesen „eigenen" Beiträgen Curtius' doch nur gering sein. Denn noch angesichts der „Kritischen Abhandlungen" von 1760 vermißt z. B. eine verhältnismäßig eingehende Rezension in der „Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freyen Künste" (Bd. X V I I , 1. Stck., 1761) jeden neuartigen Gesichtspunkt und stellt mit aller Härte fest, (zum mindesten in der „ A b h a n d l u n g v o n d e m E r h a b e n e n in d e r D i c h t k u n s t " ) nicht nur „nichts

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neues, sondern auch viel falsches angetroffen" zu haben. Selbst wenn man dieser einseitig abfälligen Kritik einräumt, daß Curtius' Beanstandungen gegenüber Longins Wesensbestimmung des Erhabenen, die besonders seit K a r l H e i n r i c h H e i n e k e s LonginÜbersetzung (nebst Anhang) von 1737 leicht zugänglich war, nicht überzeugen können, so verdient doch Curtius' Hinweis darauf, daß im Aufnahmevorgang wie im Schaffensvorgang das Erhabene wirksamer erfühlt als lehrbar erkannt werden müsse, Beachtung im Vorraum der Auflockererepoche und vielleicht selbst in zeitlicher Parallele mit K l o p s t o c k s gefühlsmäßiger Erhabenheitsvorstellung in der Abhandlung „Von der heiligen Poesie" (1760) und damit im Vorraum der Geniezeit mit ihrer leidenschaftlich stürmischen Einfühlung in das „Colossalische". Den zwar noch rationalistisch beengten Auflockerer kennzeichnet und ein verantwortungsbewußtes Abschätzen der Wirkung des Kunstwerkes, (und seiner beherrschenden Motivkraft) bekundet die Wendung, die Curtius der E r h a b e n h e i t s - B e s t i m m u n g in Richtung der Wirkungsästhetik zu geben sich bemüht. Er sieht die Wirkungsaufgabe des Erhabenen darin, daß es „das menschliche Gemüthe mit Bewunderung anfüllet" und die Herzen aufschließt für ein „ e h r e r b i e t i g e s E r s t a u n e n " . Innerhalb der D r e i s t u f i g k e i t , in die sein rationalistischer Klassifikationseifer das Erhabene im Kunstbereich aufgliedert, bindet neben der Stufe der an sich schon erhabenen Motive auch das Interesse vor allem jene Modifikation, die den K u n s t s c h a f f e n d e n durch die G e s t a l t u n g s a r t u n d „ D e n k u n g s a r t " , also durch „seine Art", diese Motive zu erleben, oder — wie Curtius sagt — „zu gedenken", die Wirkung des Er-, habenen erzwingen läßt. Denn was Curtius dabei berührt, nähert sich in der Persönlichkeitswertung des Schaffenden doch in gewissem Grade dem, was man im modernen Wortgebrauch gern mit dem Kennwort der „Haltung" zu umgreifen pflegt. Damit ragt Curtius' Deutung wesentlich über das hinaus, was etwa Joh. G. W a i t h e r in den „Belustigungen des Verstandes und Witzes" (1742) vorgebracht hatte. Mag Curtius dem System Baumgartens nicht überall gerecht werden, mag er etwa in der Frage der künstlerischen Berechtigung von Geistererscheinungen (Beitrag zur Theorie des Wunderbaren) eine gewisse aufklärerische Begriffsverhärtung verraten, die mit dem Wahrscheinlichkeitsprinzip sich verklammert zeigt: man wird doch nicht achtlos und verständnislos vorübergehen an jenen

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ethischen Wertsetzungen im Erhabenheitsbegriff und an den Ansätzen zu einem n a t i o n a l e n Bedingtsein und Bestimmtsein, aber auch Begrenztsein der Wirkungsfähigkeit und Wirkungsart. Die Abhebung von den Alten und deren Zeitgeist („Denkungsart ihrer Zeiten") erfolgt mit dem Anspruch des Rechtes, daß „sich unsere Dichter nach den Vorurtheilen des Alters (Zeitalters) und der Nation richten, in welchem und für welche sie schreiben". Das Hineinbauen in den luftleeren Raum wird also verworfen zugunsten eines zielklaren Wirkungswillens auf Gegenwart und Nation. Unter Abdrängung eines historisierenden Werkschaffens, wie sie Curtius allerdings bedenklich erleichtert worden sein dürfte durch unzulänglichen historischen Sinn und unzureichende historische Ehrfurcht, wird z. B. im Problembereich des Wunderbaren und seiner künstlerischen Verwertung gefordert, daß Geistererscheinungen nicht nur durch Motivwahl und durch Wahl einer dem Wunderbaren gläubig geöffneten Geschehenszeit gerechtfertigt werden sollen, vielmehr: „Der Dichter muß sie so einrichten, daß sie den Begriffen seiner Nation wenigstens nicht ungereimt oder widersprechend vorkommen". Allerdings wirkt hierbei das Nationale doch ein wenig als Deckung nur äußerlich vorgeschoben, um das Rationale wirksam dahinter zu verschanzen. Denn die Hemmungen gegenüber dem Wunderbaren im Zeitraum der Aufklärung verdienen es schwerlich, als nationale Bindung künstlich aufgewertet zu werden, sondern sie sind ein internationales Kriterium der europäischen Aufklärung und zeugen nicht gerade von Volksnähe. Wesentlich jedoch erscheint im Rahmen der Wirkungs-Ästhetik, daß Curtius an sich wohl mehr unbewußt, die Problematik einer allgemeingültigen ästhetischen Wirkung wenigstens streift. Und zwar arbeitet er dabei einige gewiß noch verschwommene Züge von Individualcharakter und Nationalcharakter unsicher, aber doch unverkennbar heraus, nicht ohne Teileinbauten naturwissenschaftlicher Vorstellungen psycho-physiologischer Art; denn er gibt zu bedenken: „Gleiche Gegenstände haben bei Leuten von unterschiedener Zusammensetzung der Blutgefäße oder Gemütsbeschaffenheit nicht die gleiche Wirkung". Das Sehen durch verschiedenartige Temperamente wurde also (längst vor E. Zola) berücksichtigt, gemäß der Temperamentenlehre. Etwa nach Art Joh. Elias Schlegels werden weiterhin verschiedene Nationalcharaktere flüchtig skizziert, bis ein wenig im Sinne der vergleiS M a r k w a r d t . Poetik II

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chenden Literaturgeschichte die Folgerung für den Dichter angeschlossen wird, daß er „den Charakter der Nation und Person, für welche er schreibt, insbesondere vor Augen haben" müsse. Gewisse Sprödigkeiten rein vernünftiger Nüchternheit bleiben bei Curtius ebenso hart spürbar, wie die mangelnde Folgerichtigkeit auffällt, die z. B. für die Ode oder die Oper die Geistererscheinungen wiederum zuläßt. Das nationale Wirkungskriterium der Kunstwertung wird also unbedenklich vom ästhetischen Gattungsund Artkriterium durchstoßen. Trotz alledem darf der Abhandlung Curtius' über das Erhabene (1760), nur wenige Jahre vor den „Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen" (1764) des vorkritischen Kant, in der Geschichte des Erhabenheitsbegriffes (zu der K. Vietors Abhandlung „De Sublimitate" manchen bemerkenswerten Beitrag bietet), eine wenngleich werthaft begrenzte Bedeutung nicht mehr abgesprochen werden. Demgegenüber tritt die Anteilnahme an Curtius' Abhandlung über den poetischen Gebrauch der „ G l e i c h n i s s e u n d M e t a p h e r n i n der D i c h t k u n s t " notwendig zurück auf die Rangstufe, die ihr im Entwicklungsraume der stoffverwandten Schweizer Erörterungen immerhin zukommt.

II. Von der kritischen zur angewandten Poetik Der Gellert-Mösersche R a u m (Verstärkung volkstümlicher Bezogenheiten) Neben dem fraglos vorherrschenden übernationalen und kosmopolitischen Grundzuge der Aufklärung werden gewisse Teilströmungen einer verstärkten volkstümlichen, kulturpatriotischen und allgemein national gestimmten Bezogenheit erkennbar, die teilweise schon hinter dem Bürger und Kleinbürger das Volk in seinen breiteren Schichten in das Blickfeld der Betrachtung rücken. Gleichzeitig (und mit diesen Teilströmungen mehr oder minder eng verbunden) erfolgen Bemühungen, sich über das Verhältnis der verschiedenen Nationalcharaktere in Bezug auf die verschiedenen Nationalliteraturen Klarheit zu verschaffen, teils schon ein wenig im Sinne einer vergleichenden Literaturgeschichte. Für die Poetik ergeben sich in diesen Bezirken Fragestellungen wie die nach dem vorherrschenden Geschmack einer Nation im Vergleich zu anderen Nationen (Joh. Elias Schlegel), nach der Einordnung der Dichtkunst in die Rangstufung der anderen „Verdienste" (Thomas

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Abbt, Zimmermann u. a.), nach dem Verhältnis der moralpädagogischen und volkserzieherischen Aufgaben der Poesie (neben den Genannten bes. Justus Moser, Sulzer und Geliert), nach der Berechtigung, Verwendungsmöglichkeit und den Vorzügen gewisser als volkstümlich und volksnah empfundener und entsprechend erläuterter Dichtungsgattungen und Dichtarten wie etwa dem lustigen Stegreifspiel der Harlekinspossen (Justus Moser) oder der volkstümlich ausgemalten Fabel (Geliert, Lichtwer), die man z.T. als dialogisierte gereimte Versfabel zur beliebten Gesprächsform hinüberbildete (Joh. G. Willamov), in gewissem Grade auch der mehr kleinbürgerlich eingestellten rührenden, „bewegenden" (Lessing: „weinerlichen") Komödie und in allerdings vorerst nur schüchternen Ansätzen (mit späterem theoretischen Widerruf) einer realistisch volkstümlichen Spielform des Schäferstücks („theatralisches Landgedicht", Geliert). Manches würdige, aber auch manches warnende Wort wußte der Schweizer Joh. G e o r g Z i m m e r m a n n „Von dem Nationalstolze" (1758) zu sagen, anfangs mehr für seine engere Heimat bestimmt, dann (in der Ausgabe von 1760) jedoch mit erweitertem Blickfeld. Dabei entfaltet er in aufklärerischer Art aus der Negation, wie sie Lessing besonders im vertraulichen Zeugnis des Privatbriefes bekundet hat, und aus der Analyse eines f a l s c h e n Nationalstolzes (Nationaldünkel) die Position, und zwar nicht zum wenigsten im kulturpatriotischen Sinne. Davon zeugt vor allem das (12.) Sonderkapitel, das ausdrücklich „ V o n dem S t o l z e , der d u r c h d e n R u h m e i n e r N a t i o n in K ü n s t e n u n d W i s s e n s c h a f t e n e n t s t e h t " , handelt. Vorformen der Humanitätsidee überschneiden sich recht unorganisch mit Zeittendenzen (Gleim als „neuer Tyrtäus", Hinweis auf „skandinavische Dichter"), die fast wie ein kleines Vorspiel zur Bardendichtung anmuten mögen. Die moralpädagogische Hauptströmung, die vorerst noch in tränenreicher Trübung doch irgendwie der Klarheit der Humanitätsidee zustrebt, mischt sich vielfach recht eigenartig mit den teils durch Zeittendenzen in ähnlicher Weise getrübten nationalpädagogischen Einflüssen (i. d. Lande Pestalozzis etwa auch in J. Iselins „Patriotischen Träumen eines Menschenfreundes"), letzten Endes aber doch wiederum ganz ähnlich wie in Lessings „Philotas"-Einakter oder dem „Kleonnis"-Fragment. Nach ihrem noch unzulänglichen Vermögen versuchte es vor der Klassik schon die Aufklärung, die reine Menschlichkeit irgend9»

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wie mit dem Heroischen in Einklang zu bringen, wobei das ReinMenschliche leicht ins Weinerlich-Rührende, das Heroisch-Erhabene jedoch ins Gedanklich-Berechnende zu geraten pflegte. Eine befriedigende Synthese wollte weder im Kunstschaffen noch in der Dichtungsdeutung und Kunsttheorie gelingen. Aber die ehrlichen und ernsthaften Bemühungen darum sollte man nicht unterschätzen. Dieses Einerseits-Andererseits, bei dem es vielfach doch eben nur bleibt, kommt mit Bezug auf die Aufgabe und den Rang der Poesie bei Zimmermann etwa so zum Ausdruck, daß einerseits der Held Achill ohne Homer, „ohne den Vater der Poesie in einer ewigen Vergessenheit geblieben" wäre und daß andererseits Virgils höchster Triumph als Dichter darin gesehen und gesetzt wird, daß der Kaiser Augustus, „durch seine Dichtkunst gerühret", habe „in Tränen zerfließen" müssen. Das Vertrauen zum Rührenden ist bei alledem merklich größer als das zum Erhabenen. Selbst für den Nationalcharakter anderer Nationen gilt die Fähigkeit, Rührung zu erwecken, geradezu als Maßstab ihrer künstlerischen Leistung und ihres sittlichen, rein menschlichen Wertes. Die Franzosen können — so meint Zimmermann, indem er die bei esprit-Polemik streift — trotz der (bzw. durch die) Vorherrschaft des bei esprit noch nicht (bzw. nicht mehr) allen tieferen Werten entfremdet sein; denn sie „zwingen uns in dramatischen Gedichten Tränen ab". Es bleibt zu berücksichtigen, daß drei Jahre vor Zimmermanns Schrift die „Miß Sara Sampson" den Zeitgeschmack durchaus getroffen hatte und daß Lessing in der Vorrede zu seiner Thomson-Übersetzung ausdrücklich die „Tränen . . . der sich fühlenden Menschlichkeit" als das einzige Wirkungsziel des Trauerspiels bezeichnete. Beachtenswert erscheint in größerem Entwicklungszusammenhange, daß von Zimmermann gelegentlich seiner Erörterungen über die Kunst der Franzosen schon das als Voraussetzung angenommen werden kann, um was frühere Jahrzehnte (im Kampfgang um den „bei esprit") erst gerungen hatten: daß nämlich der „Witz" keineswegs den letzten und würdigsten Wert darstelle, daß schon die eigne Selbstkritik der Franzosen am bloßen „Feuerwerke" witziger Einfälle keine restlose Befriedigung mehr finden könne, daß etwa das Madrigal und der „epigrammatische Geist" noch keine Geistigkeit, noch keine „Vernunft" darstelle oder gar verbürge. Daß inzwischen auch schon das Rührende (z. B. als rührendes Lustspiel durch P. M. M. de Chassiron)

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eine Selbstkritik erfahren hatte, das übersah oder überging Zimmermann. Seine G e n i e v o r s t e l l u n g zieht neben dem Individualgenie das Nationalgenie heran. Gegenüber dem Frühansatz in dem „Leben des Herrn von Haller" (1755), wo Genie noch als bloße „Fertigkeit der Seele" und als Summe aus teils verstandesmäßigen Kräften erklärt worden war, sind in der Schrift „Von dem Nationalstolze" einige Fortschritte zu verzeichnen. Man hört jetzt immerhin von „Männern, die mit einem schöpferischen Geiste (aber vgl. „esprit créateur") angeflammet, der gemeinen Bahn entwichen" zu sein scheinen. Man hört von der bedeutsamen Vorbildkraft, die vom Genie ausströmt und den ehrbegierigen „Jüngling" zur Nacheiferung ermutigt und ermächtigt. Zimmermann spricht wohl auch vom „Genie" ganzer Völker, teils um den Gesamtbestand an Begabungen und Fähigkeiten innerhalb eines Volkes — ähnlich wie Sulzer — zu umschreiben. Wie weit nun aber und ob nun aber das Einzelgenie eine Verdichtung und Spiegelung des Nationalgenies darstellt, wird nicht recht klar herausgearbeitet. Doch bewertet Zimmermann im kulturpatriotischen Sinne die Bereicherung, die vom überragenden Einzelgenie für den Bestand an geistiger Höhenleistung des ganzen Volkes ausgeht, als Zuwachs der in der gesamten Nation vorhandenen, gleichsam bereitliegenden „Masse des Genies". Seine soziologische Betrachtungsweise rückt das Wertverhältnis von Einsamkeit und Geselligkeit des Genies in das Blickfeld, wobei die Vorzüge der Einsamkeit für die Entfaltung des Genies überwiegen, jedoch so, daß kein f a l s c h e r S t o l z aus dieser Einsamkeit erwachsen darf. Vor dem geistigen Hochmute warnt Zimmermann bei aller Anerkennung eines berechtigten Leistungsstolzes. Wie der Nationaldünkel wird also auch der Individualdünkel abgewehrt. Gleichsam ergänzend hat vor einem Provinzialdünkel der reifere Lessing der „Hamburgischen Dramaturgie" (22. Stück) gelegentlich einer H i p p e l - K r i t i k gewarnt, wobei die vorschnelle Gleichstellung des „Provinzialen" mit dem „Nationalen" verworfen wird. Im Besonderen wamt Lessing dort den Lustspieldichter vor der Neigung, die „Sitten" seiner engeren Heimat und die „Gewohnheiten des Winkels, in dem er geboren worden, für die eigentlichen Sitten des gemeinschaftlichen Vaterlandes" zu halten. Ganz ähnlich klingt es in F r i e d r i c h K a r l von Mosers

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anonym erschienener Schrift „Von dem deutschen NationalGeist" (1765), die der „Nationaldenkungsart" einer „allgemeinen Vaterlandsliebe" von einer einseitigen Vorrangstellung Preußens Gefahren drohen sah, wenn K. v. Moser meint, eine Verkümmerung und Verengung des umspannenden Volksgeistes bzw. Nationalgeistes „bei dem großen Haufen des gemeinen deutschen Mannes" anzutreffen, „welcher nur den Strich Erde, worauf er geboren und erzogen ist, vor sein wahres und alleiniges Vaterland hält". Wesentliche Erträge für die Poetik bietet Mosers Schrift nicht. Blickt man von hier aus zu T h o m a s A b b t und dessen ein wenig schon geniezeitgemäß anmutendem Manifest im 244. Literaturbrief (22. Juli 1762) hinüber, so nähert sich dort mancher Schritt und Fortschritt weit mehr dem 12. Kapitel Zimmermanns aus dessen Schrift vom Nationalstolz. Denn Abbts bekannter Literaturbrief berührt sich im Aufrufen des kommenden Genies mit der Vorstellung Zimmermanns von der Sendung des künstlerischen Genius, von sich aus zur Bereicherung des Nationalgenies beizutragen. Gerade auch im B e r e i c h e der k u l t u r e l l e n L e i s t u n g soll sich die Nation ihres Wertes bewußt werden und dieses Wertes würdig erweisen. Thomas Abbt möchte die „Schriftsteller" (wie er sie schon nennt) ermutigen und ermächtigen, „mit Originalzungen reden" zu lernen. Und in der Reihe der Ermunterungen zur Originalität und Genialität noch vor dem vollen Durchbruch zur Geniezeit des Sturmes und Dranges darf jedenfalls auch Abbts Literaturbrief von 1762 einen bemerkenswerten Platz beanspruchen. Prüft man jedoch das Gesamt der Stellungnahmen und Äußerungen Abbts, etwa in den Schriften „Vom Tode" (1761) oder „Vom Verdienste" (1765) und einer Reihe von Rezensionen, so überwiegt durchaus die aufklärerische Einstellung auf die W i r kungspoetik und Wirkungsästhetik, soweit überhaupt derartige Fragen berührt werden. Das komische Heldenepos etwa erweckt Bedenken wegen seiner Wirkung. Der Leser könnte „das Vergnügen zu bewundern" verlernen; denn „das Possierliche erstickt alle ernsthaften Leidenschaften". (Vgl. noch Herders GesprächsFragmcnt „Von der komischen Epopoe als einem Korrektiv des falschen Epos"). Und es erweist sich bei näherem Zusehen, daß er mehr um den rechten Geschmack als um das echte Genie besorgt ist. Er ist besorgt, daß die Gewöhnung an die rokokohaften „angenehmen Süßigkeiten" (Geschmack wird noch lebhaft als

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Metapher empfunden) den rechten Genuß am edlen Wein beeinträchtigen könnte. Als Beispiel für eine derartige vermeintliche Verfeinerung des Geschmacks (an Witzeleien und rokokohaften „Scherzen"), die in Wirklichkeit eine Vergröberung des Geschmacks bedeute, gilt Racines Lustspiel „Les plaideurs". Überhaupt wird die Geltung des „Angenehmen" in Frage gestellt oder doch kritisch überprüft zugunsten des Erhabenen. Nicht aber Erschütterung ist das eigentliche Wirkungsziel, sondern wiederum die Rührung. Die Neigung, das Erhabene von seiner Höhe „herunterzuspotten", von der Abbt ähnlich schon spricht wie späterhin Schiller gelegentlich der idealen Deutung bzw. Rettung der „Jungfrau von Orleans" (Abwehr von Voltaires „Pucelle"), diese Verflachungstendenz eigne nicht nur dem „Pöbel" im damaligen ständischen Sinne, sondern auch dem geistigen Pöbel; denn „die Entfernung vom vornehmen bis zum niedern Pöbel ist nicht so groß, als man insgemein glaubt". Es herrscht also nicht mehr ein ständisches Zuordnungskriterium. Vielmehr werden die Unwürdigen und Wertlosen innerhalb a l l e r Stände als „Pöbel" gekennzeichnet. Daß er gewisse politische Wirkungen vom Drama erhofft, geht nicht nur aus der Benennung als „Schule der Könige" hervor, die das Theater einst bei den Alten gewesen sei und wieder werden möge. Gelegentlich habe es denn auch „in unsern Zeiten" nach dieser volkserzieherischen Richtung hin „Früchte" getragen. Er bewertet auch Gellerts Fabeln nach ihrer geschmacksbildenden und volkserziehenden Wirkung; denn sie hätten „wirklich dem Geschmacke der ganzen Nation eine neue Hülfe gegeben" und die Freude an der Poesie selbst in Kreise getragen, die sonst von der Dichtkunst nicht berührt würden. Bei alledem ist Abbt Aufklärer genug, um der Kunst innerhalb der Rangstufung der nationalen Verdienste doch nur einen bescheidenen Platz einzuräumen (etwa gegenüber dem Gesetzgeber und Staatsmann). Er ist Aufklärer genug, um trotz der Kritik am nur tändelnden „Witz" dennoch den „denkenden Geist" als Richter darüber anzuerkennen, was echter Patriotismus und was bloße Schwärmerei sei. Er ist Aufklärer genug, um z. B. die „meisten Helden der Legenden" für arge Schwätzer und Toren gelten zu lassen. Die mannigfachen Anregungen, die aus Abbts Gedankenwelt für Herder fruchtbar werden sollten, und zwar für die S p r a c h p h i l o s o p h i e ebenso wie für die H u m a n i t ä t s i d e e , eine gewisse

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Kräftigung des historischen Sinnes und eine entsprechende Überwindung aufklärerischen Gegenwartsdünkels, die in der MöserRezension Thomas Abbts wieder aufgenommene Verteidigung des H a r l e k i n s : alles das sind Züge, die in Th. Abbt mehr als einen bloßen Durchschnittsaufklärer erkennen lassen. Aber eben doch auch kaum mehr als einen der Auflockerer. Denn der aufklärerische Untergrund wird wohl aufgelockert, aber nicht verlassen. Die Ansätze zur H u m a n i t ä t s i d e e — zugleich eine der Stellen, wo sich Aufklärung und Klassik berühren — kommen noch nicht voll zur Entfaltung, weil das Nutzprinzip der Aufklärung auf ihnen lastet. Die Verteidigung der Harlekinsgestalt erfolgt nicht zum wenigsten deshalb, weil sie durch ihre lebensklugen Sprüche zum „moralischen Vergnügen", und damit zu einem allgemeinen Wirkungsziel der Aufklärungsästhetik beitragen könne. Und wenn Abbt gelegentlich in den L i t e r a t u r briefen Erörterungen über das Wesen der „Elegie" anstellt, so wird man an der Definition („sinnlich vollkommene Beschreibung unserer vermischten Empfindungen") sowohl die Nachwirkung der bekannten Gedicht-Definition Baumgartens ablesen als auch die vor allem durch Mendelssohn herausgebildete und dann bald allgemein zeitläufige Lehre von den „vermischten" Empfindungen, die dramengeschichtlich weit bedeutsamer wurde als für Sonderausprägungen des Lyrischen. Gerade die vergleichende Gegenüberstellung mit Herder, wie sie durch die Sonderforschung erfolgt ist, läßt unschwer erkennen, wo die Grenzen von Ausweitung und Umschränkung bei Thomas Abbt liegen. Und zwar gilt das auch von kleineren gattungstheoretischen Beiträgen über die Satire gelegentlich einer KlotzRezension oder über das Schuldrama in einer breiter angelegten Besprechung, ebenfalls im Rahmen der Literaturbriefe. Hinsichtlich der Satire, deren Wesen als geistige „Urbanität" gefaßt wird, unterscheidet Abbt die Gruppe Juvenal und La Bruyère von der Gruppe Horaz, Lafontaine ünd Geliert, und zwar nach den Graden der Schärfe bzw. Milde des Satirischen. Wenn er das Schuldrama verwirft, weil darin aus pädagogischen Gründen ein vollkommener Charakter dargestellt werden soll, während aus dramentheoretischen Gründen kein vollkommener Charakter vorgestellt werden darf, so übernimmt er und überträgt er nur die zeitübliche (wohl nur von Garve durchbrochene) Ansicht, daß ein absolut vollkommener Charakter für das Drama untauglich

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sei. Äußerungen allgemein-ästhetischer Art, wie sie besonders anzutreffen sind in der Abhandlung „ V o m E i n f l ü s s e d e s S c h ö n e n auf die s t r e n g e r e n W i s s e n s c h a f t e n " , lassen trotz einiger gefühlsmäßiger Einschläge („nur ein Herz, das das Schöne fühlt"; jedoch verbunden mit „Verstand" und „Vernunft"), die seit Dubos nicht neu waren und ähnlich bei Geliert und anderen Auflockerern begegnen, das Grundprinzip der Ordnung deutlich erkennen, das den Ordnungssinn weitgehend dem Schönheitssinn gleichsetzt. Denn nach Th. Abbt wird gerade der „Geist, der sich zur E m p f i n d u n g der O r d n u n g gewöhnt und die nötige Sicherheit darin erlangt hat, das V e r g n ü g e n der S c h ö n h e i t schmecken". Das „proportionierte Ganze", das seitens des Aufnehmenden einer „proportionierten Spannung der Nerven" entspricht, weist ebenfalls auf das Ideal des Wohl-Proportionierten zurück; in gewisser Weise jedoch auch auf das Ideal der Klassik, obwohl erst in dumpfen keimhaften Ansätzen voraus. Nimmt man die unleugbar gegebenen A n s ä t z e zum (wenigstens z. T. ästhetisch eingestellten) H u m a n i t ä t s b e g r i f f hinzu, die V e r b i n d u n g auch d e s H a r m o n i e g e d a n k e n s m i t dem H u m a n i t ä t s g e d a n k e n , so wird man in Thomas Abbt einen jener Theoretiker der Auflockerergruppe erkennen und anerkennen müssen, die in manchen noch unausgebildeten, aber doch hinreichend deutlich vorgebildeten Zügen bereits eine A r t v o n V o r k l a s s i k innerhalb der Poetik der Auflockerer spürbar werden lassen. Jedenfalls scheint das, was von Abbt zur Klassik hinüberdeutet, nicht weniger der Beachtung wert als das, was von Abbt zum Sturm und Drang hinüberleitet. Innerhalb der Aufklärung jedoch bleibt vor allem ein charakteristischer Zug Abbts die nationale Wendung, die trotz ihrer aufklärerischen Brechung an mancherlei Hemmungen und einer recht rationalistischen Staatsauffassung dennoch weit kraftvoller und klarer wirkt als etwa Fr. K . v. Mosers anspruchsvolle Schrift vom Nationalgeist. In der „Allgemeinen Deutschen Bibliothek" erschien im sechsten Bande (1766) eine Rezension, die sogleich das Anspruchsvolle in jener Titelgebung klar herausstellte und den Vorschlag machte, den als ungerechtfertigt empfundenen Titel „Nationalgeist" zu ersetzen durch den weit angemessener erscheinenden Titel „Der Geist der deutschen Höfe". Es entspreche nicht der ehrlichen Art eines „deutschen Biedermanns", von Hofmännern und bestenfalls, noch Gelehrten, von Staatsstreitigkeiten und Reichsinteressen z u

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handeln, dabei jedoch die „wahren Bestandteile" der Nation offenbar absichtlich zu übersehen. Gewiß sei es heutzutage schwerer, diese echten Bestandteile, die wirklichen Träger des Nationalgeistes, aufzufinden als etwa in jener Zeit, wo noch der Franke oder Sachse sein „von keinem Lehns- oder Gutsherrn abhängendes Erbgut" als freier Mann verwaltete; aber daß auch damals mehr vom Volk zu erkennen war, hat der Rezensent in vielen seiner Schriften selbst bewiesen. J u s t u s Moser nämlich hat diese R e z e n s i o n g e s c h r i e b e n . Und er besprach (ebenfalls i. d. „Allg. Dt. Bibl.") wohlwollender die Gegenschrift eines Hofrats B ü l o w (unter „Noch Etwas zum deutschen Nationalgeiste"), der unter der „Larve eines alten Dorfpfarrers" in teils launiger Weise gegen K. v. Moser kritisch Stellung genommen und in seine richtigstellende Definition vom „Nationalgeist" das „ V o l k a l s V o l k " gebührend mit einbezogen hatte. Zu Bülows Bemühung um eine Bestimmung des Begriffs „Nationalgeist" meint allerdings Mosers gesunder Lebenssinn: „man empfindet ihn leicht und erkläret ihn nie". Etwa ein Jahrzehnt vor Lessing geboren, steht J u s t u s M o s e r generationsmäßig durchaus im Räume der Aufklärung. Und sein Trauerspiel „ A r m i n i u s " von 1749 verleugnet z. B. in der Personengruppierung nicht ein Anlehnungsbedürfnis an Gottscheds „Sterbenden Cato". Aber wie in diesem künstlerisch unzulänglichen Versuch der Fürst als Diener des Volkes („Knecht des Volkes") und d a s V o l k s c h o n am G e s c h e h e n b e t e i l i g t gesehen wird (ebenso wie z. B. in Lessings Dramenskizze vom „Befreiten Rom"), so wehrt die V o r r e d e das von Tacitus entworfene Bild der Germanen ab, so schweift der vergleichende Blick schon auf „unsre niedersächsischen Bauern", eine Blickrichtung, die mit weit überlegenem dramatischen Können dann im neunzehnten Jahrhundert Chr. Dietrich Grabbe neu erlebt und schöpferisch verwirklicht. Mosers l i e b e v o l l e H i n w e n d u n g z u m V o l k u n d z u m V o l k s t ü m l i c h e n , sein h i s t o r i s c h e r S i n n und seine L e b e n s n ä h e weisen bereits zum Sturm und Drang hinüber. Trotz aller nationalen Teilkräfte, die etwa Thomas Abbts Schriften durchregen und die — neben der Dankesschuld für erfahrene Anregungen — mitwirkten, wenn Herder seinen Abbt-,,Torso" (1768) errichtete, wirken die aufklärerischen Hemmkräfte in Abbts Gesamthaltung trotz gewisser Bezüge zu Herder störender als bei Justus Moser, der sie zwar auch nicht

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völlig abzuschütteln vermag — im persönlichen Bereiche kennzeichnend dafür ist die enge und lange Freundschaft mit Nicolai — , aber doch weit unbekümmerter in Haltung und Gestaltung zum Volkstümlichen vorzustoßen wagt. Selbst Sulzers bedeutsame kulturpolitische Bemühungen, die von dem späteren Moser in seinem Verteidigungsschreiben „ Ü b e r die d e u t s c h e S p r a c h e u n d L i t e r a t u r " (1781) unter Eingehen auf den nationalen Wirkungswert der Künste warm gewürdigt werden, übertrifft Moser mindestens insofern, als der Schweizer Sulzer — ähnlich wie Abbt — unter Nation vorzugsweise den Staat begreift, während der Niederdeutsche Moser bereits die F ü h l u n g m i t dem V o l k sucht und, soweit damals möglich, auch wirklich zu finden und herzustellen weiß. Und es ist gewiß nicht Zufall, wenn wiederum Herder es war, der Goethe auf die volkserzieherischen Werte in Mosers „Patriotischen Phantasien" hinwies, und zwar schon bald nach der Zeit, als die einzelnen Aufsätze in den „Osnabrückischen Intelligenzblättern" (1766 u. bes. 1768 f.) erschienen waren. Wie denn der junge Goethe nicht nur in einem Briefe an Mosers Tochter als Herausgeberin der Sammlung seine lebhafte Anteilnahme bekundet (Dez. 1774), offenbar aus der Stimmung der Volksnähe des Sturmes und Dranges heraus, sondern auch jenseits dieses unmittelbaren Eindrucks seiner Wertschätzung Mosers treu geblieben ist. Noch bevor Moser ein wenig nach Art der aufklärerischen moralischen Wochenschriften, aber mit stärkerer politisch-gemeinnütziger Einstellung seine politischen und kulturpolitischen Plaudereien in seinem Osnabrücker Blättchen begonnen hatte, noch bevor die mit Recht berühmte „Osnabrückische Geschichte" (1765) mit ihrem bemerkenswerten Herausstellen des „Nationalcharakters" erschienen war, ließ seine kühne Verteidigung der von Gottsched verfehmten Harlekinade in der verhältnismäßig umfangreicheren Schrift „ H a r l e k i n o d e r V e r t e i d i g u n g des G r o t e s k e - K o m i s c h e n " (1761, zweite Auflage 1777) die Zeitgenossen aufhorchen. Schon in demselben Jahre erkennt eine längere Rezension in der „Neuen Bibliothek" mit Nachdruck an: „Hier sind neue Ideen", von denen „unsre halbreifen Genies" lernen könnten, weil hier eine „reiche Ernte von künftigen B e r e i c h e r u n g e n der g a n z e n t h e a t r a l i s c h e n W i s s e n s c h a f t verborgen" liege. Doch sieht der Rezensent das Neue und Zukunfthaltige nicht etwa in den Ansätzen und Anknüpfungen in der

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volkstümlichen Richtung. Daran sieht er völlig vorbei. Die entwicklungsgeschichtliche Bedeutung einer Einfühlung in den volkstümlichen Geschmack geht ihm nicht auf. Aber auch Thomas Abbts zustimmende Rezension in den „Literaturbriefen" arbeitet diese Seite nicht irgendwie betont heraus. Allerdings handelte es sich dabei um eine Moser wohl selbst kaum schon vollbewußte, mehr stimmungsmäßige Grundvoraussetzung, die wir leichter herausspüren, weil wir den ganzen Moser vor uns haben. Man kann nicht so ohne weiteres sagen, daß er hier zielstrebig und zielklar das Volkstümliche in der Bühnenkunst programmatisch herausstellt, obgleich er eine v o l k s t ü m l i c h e S o n d e r f o r m tapfer und wirkungsvoll verteidigt. Der Moser von 1761 ist n o c h n i c h t der Moser von 1781, der aus der Sturm- und Drang-Dramatik vor allem des „Götz von Berlichingen" ein Kunstwerk im Sinne eines musterhaften V o l k s s t ü c k s sich entfalten sehen möchte. Er schreibt damals im Raum der gelehrten Kritik, die er nur mit ihren eigenen Waffen schlagen zu können glaubt. Die Schrift von 1761 nahm zwar den — zudem streckenweise verloren gehenden — Ton des Harlekins an, steckt aber voller gelehrter und kenntnisreicher Bezüge (etwa auch auf die Karikatur in der bildenden Kunst) und reicher Belege, wie denn auch jene Rezension (in der „Neuen Bibliothek") eine „geistreiche Belesenheit der besten Alten und Neuen" hervorhebt. Um einen andeutenden Einblick in die Weite der kunstgeschichtlichen und kunstkritischen, aber auch kunsttheoretischen Kenntnisse des damaligen Moser zu vermitteln, seien wahllos eine Reihe der erwähnten Namen herausgegriffen: Homer, Aristophanes, Plautus, Terenz, Aristoteles, Cervantes, Swift, Fielding, Despreaux, Pope, Voltaire, Klopstock, Goldoni, Molière, du Bartas, Corneille, Racine, Dryden, Ben-Johnson, Berrin, St. Evremont, Joh. Elias Schlegel,. Lessing, Zachariä, Dusch, Gresset, Vadé, Scarron, Buttler, Garth, Michelangelo, Rubens, Vinkenboom, Watteau, Teniers, Douw, Callot, Hagedorn (L.v.), Hogarth, dessen „wahre Wellenlinie der Schönheit", berücksichtigt wird, Young, Remond von Saint Mard (gelegentlich der Opem-Verteidigung) und manche andere mehr. Es geht — rein kunsttheoretisch — um die V e r t e i d i g u n g d e s G r o t e s k - K o m i s c h e n , wie schon der Untertitel betont, durchaus im Sinne und nach Art einer kunsttheoretischen und kunstkritischen „Rettung" unter Zuhilfenahme kunsttheoretischer Begriffe, so vor allem der Umschreibung des Komischen bzw..

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Groteskkomischen als einer „ G r ö ß e ohne S t ä r k e " . Der Moser von 1761 erkennt — trotz situationsgegebener Polemik hinsichtlich des fragwürdigen Publikumserfolgs — den überlegenen Eigenwert des klassizistischen Hochstildramas durchaus an und will nicht etwa die „hohe" Tragödie dem Hanswurst-Spiel aufgeopfert wissen, wie er denn ausdrücklich das Auftreten des Hanswurstes im hohen Trauerspiel verwirft, ebenso im Zwischenakt der Tragödie und selbst im „weinerlichen Lustspiel". Die „ E i n h e i t des T o n s " gilt es stets zu wahren, sowohl im Trauerspiel als im Harlekinspiel. Daher verteidigt er Racine gegen Dryden und hält es für berechtigt, daß Racine seine Heldin nicht im Tone eines „rasenden Heringsweibes" ihren Affekt sich äußern lasse. Er verschmäht also eine an sich gegebene Anknüpfungsmöglichkeit an D r y d e n s V e r t e i d i g u n g r e a l i s t i s c h e r Einschläge. Und diese „Einheit des Tons", die kunsttechnisch mindestens dieselbe Beachtung verdient wie die bekannten und von Moser damals nicht ernstlich bekämpften drei Einheiten, herrsche fraglos in den Harlekinaden. Selbst Drydens Hinweis auf Homer, der wohl auch Achill seinen Zorn wie ein „erhitzter Packenträger" äußern lasse, verleitet Moser nicht zu einem Aufgeben seiner Forderung der Stimmungsund Stileinheit im Sinne einer Einheit des „Tons". Es geht ihm vielmehr nur darum, dem Harlekin-Spiel seinen gesonderten Geltungsraum und freien Spielraum neben den anderen Gattungen zu erkämpfen. Das Verfahren der Rettung ist also ähnlich — nur weit weniger trocken — wie etwa Gellerts Verteidigung des „rührenden L u s t s p i e l s " , das trotz „dem strengen Herrn von Chassiron" übrigens auch von Moser als b e r e c h t i g t e S o n d e r f o r m anerkannt wird. Er will die verteidigte Gattung zunächst einmal freimachen von der drohenden Umklammerung durch die dramatischen Großformen und sie bewahren vor dem Erdrücktwerden durch die Gesetze der hohen Kunst. Oder wie er es im angenommenen Harlekinston ausdrückt: es sei immer ratsamer, „ein eignes Tier in meiner Art zu bleiben als wie der Löwe zum Katzengeschlecht gezählt zu werden". Unter dem Schutz des Harlekin-Gewandes darf Moser es wagen, den Blick hinter die Kulissen aufklärerischer Tugendlehre freizugeben, der zufolge zwar in „unseren gedruckten Vorreden" vorschriftsmäßig die „Besserung der Sitten" als Wirkungsabsicht der Schaubühne angegeben werden müsse, daß jedoch in Wirklichkeit das Ziel der Belustigung des Gemüts oft viel wesentlicher sei. Damit aber gewinnt er für

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das Harlekin-Spiel freies Feld. Darüber hinaus gewinnt er damit den letztlich entscheidenden Anschluß an das Volkstümliche in der Erkenntnis, daß für breite Kreise (aber auch für die hohen Stände) eine „ B e l u s t i g u n g " d e s G e m ü t e s nicht selten ebenso wertvoll und unentbehrlich sein kann wie eine moralisch-erzieherische „ L e n k u n g " des Gemüts im Sinne Sulzers (der noch nicht genannt wird). Die „ S t i m m e d e s V o l k s " habe zugunsten der „Ermunterung" durch das Harlekin-Spiel entschieden, das zudem „nur ein Nebenzimmer auf der Bühne" und nur „eine Stunde aus dem Tage des Weisen" für sich verlange. Auch fehlt nicht der — leicht auf Sulzer vorausweisende — Hinweis darauf, „wie viel dem Staat daran gelegen" sein müsse, daß die Harlekinade einen „ b e d r ä n g t e n U n t e r t a n i n s e i n e r L a s t e r m u n t r e " , wie sie denn allgemein ein „wildes Gemüt besänftige, ein niedergeschlagenes erhebe, ein ermüdetes von neuem begeistre". Die Vorrede zur zweiten Ausgabe bzw. Harlekins „Stoßgebet" kleidet den Nutzwert einmal in das Bild, daß man nicht immer die hohen Gestirne erstreben könne und zum mindesten „auf dieser dunklen E r d e " oft besser bedient sei mit einer „notdürftigen Handlaterne", also mit den oft in Sprichwortform vermittelten Alltagserfahrungen und dem volksnahen und lebensnahen Mutterwitz des Harlekins. Was das V e r h ä l t n i s v o n H a r l e k i n u n d H a n s w u r s t betrifft, so gebraucht Moser etwa nur zweimal die Bezeichnung Hanswurst und zwar in beiden Fällen im kritischen, wertsenkenden Sinne und mit Betonung des Abstandes vom Harlekin. Die zweite dieser Anwendungsstellen verstärkt den Eindruck, daß Moser das Harlekin-Spiel bereits als eine k ü n s t l e r i s c h t r i e b k r ä f t i g e r e V e r f e i n e r u n g s f o r m des groben, gleichsam noch vorkünstlerischen Hanswurst-Spiels anzusehen und zu bewerten geneigt ist. Wie aus der anfangs nur „gereimten Zote" das schon wertvollere „Gassenlied" — von „Volkslied" spricht Moser damals noch nicht — entstanden sei, so sei die H a r l e k i n a d e schon verfeinert gegenüber dem Hanswurstspiel. Und sie berge noch weitere Entwicklungsmöglichkeiten in sich, bis die „groteske Sittenmalerei zu ihrer Vollkommenheit" heranreifen werde. Hier also klingt etwas von dem Gedanken an, aus volkstümlichen Wurzelschichten höhere Kunstformen organisch sich entfalten zu lassen, damals noch im Bereiche der Komik wie später (1781) im Bereiche des Tragischen aus dem Sturm- und

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Drang-Volksstück (Prototyp: „Götz"). Aber es fehlt noch die kulturpatriotische Leitidee, solche Entwicklung um der Erstarkung und Entfaltung einer eigenen Bühnenkunst willen zu fordern und zu fördern. Daß jedoch Moser trotz Orientierung an dem bereits mehr als Kunstform empfundenen italienischen Stegreifspiel die ständigen Bezüge auf eine volkstümliche Wirkungsweise und einen volkstümlichen Wirkungswert nicht aus den Augen verliert, verrät sein Vergleichsblick auf die Wirkungsform der Tierfabel. Besonders in jener Vorrede zur zweiten Ausgabe, wo er von dem Plan, einmal über die „Komödie mit stehenden Charakteren" zu schreiben, berichtet, erscheinen ihm die typischen, in ihrer Art und ihrer Bedeutung von vornherein feststehenden Gestalten der grotesken Komödie irgendwie verwandt zu sein mit den typisierten Tier-Charakteren in der Fabel. Der kunsttechnische und volkstümlich verständniserleichternde Vorteil liege darin, daß diese Gestalten (wie letztlich auch die mythologischen Gestalten des Epos) „sogleich den ganzen Charakter des Handelnden auf dem kürzesten Wege zur Intuition bringen". Die Charakter-Bestimmtheit erleichtert die Charakter-Erfassung. Hinzu kommt das sinnbildliche, typische Kostüm: „und die ganze Menge sieht, kennt und belacht" jene leicht begreifbaren Gestalten, weil sie so gut wie die Göttergestalten des Helden-Epos „intuitive Begriffe" darstellen, nur eben: dem Volke bekannte und vertraute. Dem kunsttheoretisch-gelehrten Grundcharakter der Schrift, in die sich auch manche r o k o k o h a f t e n Züge eingemischt haben, entspricht es, daß neben und teils verbunden mit der Harlekinverteidigung wesentliche allgemeine k u n s t t h e o r e t i s c h e Gedanken und Bestimmungen in dieser vielgenannten und wenig bekannten Abhandlung Mosers enthalten sind, die z. T. schon flüchtig begegneten. So die Bestimmung des Komischen als „Größe ohne S t ä r k e " in Abhebung von Aristoteles' Deutung, die Moser als „Übelstand ohne Schmerz" umschreibt. So ganz leicht, wie der Rezensent der „Neuen Bibliothek" meinte, der besonders den Größenbezug beim Harlekin vermißte (jedoch das Requisit des „Schwertes"), läßt sich diese Definition denn doch nicht erledigen. Und G. Chr. L i c h t e n b e r g nimmt mit ausdrücklichem Bezug auf Moser die Definition als durchaus brauchbar an : „Stärke ohne Größe ist nie lächerlich, aber Größe ohne Stärke fast immer." Moser meint ja nicht nur die körperliche Größe ohne

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Stärke, wobei er Cervantes' „Don Quichote" heranzieht und man etwa auch an Shakespeares Schreinermeister im „Sommernachtstraum" und Fr. Hebbels „Schnock" denken könnte, sondern er spricht auch von „innerer Seele oder Stärke", setzt also beides gleich, so daß er die Diskrepanz von äußerem Schein und innerem Sein berührt. Allerdings scheint es mehr der Blick auf die komischen Heldengedichte gewesen zu sein, der Moser zu jener Definition des Komischen bzw. Groteskkomischen hingelenkt hat. Denn in einer „Größe des Vorsatzes ohne S t ä r k e des Geistes" sieht er geradezu den „Schlüssel" zum Wesen und Wollen der komischen Heldenepen, eine Beobachtung, die im Hinblick auf Duschs Theorie bemerkenswert erscheint. Der Weg zu J e a n Pauls Deutung des Humoristischen als des „umgekehrt Erhabenen" ist noch weit, zeichnet sich jedoch schon aus der Ferne ab. Als Ertrag jenseits des Spezialthemas darf die schon erwähnte Forderung der „Einheit des Tons", der inneren und äußeren Stileinheit und Stimmungseinheit des K u n s t w e r k s gelten, wobei der lernende Dichter fruchtbare Vorbilder in der Malerei und Musik finden kann. Und die Verteidigung derOper vertieft sich zu einem energischen Teilvorstoß gegen das aufklärerische Wahrscheinlichkeitsprinzip und die Mimesislehre. Es komme nur auf die Gestaltungskraft des Künstlers an, jene kühne Opernweit dem Zuschauer „glaubhaft" zu machen. Die wirkliche Welt erweist sich nicht selten als „zu eng für die Einbildungskraft des Dichters". Darüber hinaus zeuge alles, was der „Opernschöpfer", ohne kunsttechnisch dazu gezwungen zu sein, aus der bloßen Wirklichkeitswelt entlehne, geradezu „von seiner Schwäche". Es ist nicht kritisch gemeint, wenn Moser in diesem Sinne sagt: „Die Opernbühne ist das Reich der Chimären; sie eröffnet einen gezauberten Himmel". Und von dieser vorbereitenden Ausgangsstellung kann dann der recht weittragende Vorstoß gegen die Mimesislehre erfolgen: „Es kann also der größte L o b s p r u c h , den man einer Oper oder einem Heldengedicht, welches seine eigne Welt h a t , geben kann, eben darin bestehen, daß beide in Vergleichungen unsrer Welt völlig u n n a t ü r l i c h sind". Wenn nun allerdings Moser in diesem Zusammenhange auch in Shakespeare weit mehr sieht als einen „Maler der Natur", nämlich einen „Schöpfer neuer Urbilder", so stützt er sich dabei — indessen

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mit der entscheidenden Prägung nicht wörtlich — auf P o p es bekannte Vorrede zu Shakespeares Werken. Immerhin bleibt die Wendung von Shakespeare als dem „Schöpfer neuer Urbilder" aller Beachtung wert. Als kunsttheoretische Sonderschrift muß diese Verteidigung der Harlekinade, von der Moser selbst ein Beispiel zu bieten versucht in seinem Einakter „Harlekins Heirat", notwendig bedeutsamer erscheinen als die mehr verstreuten und zudem zeitlich über weitere Entwicklungsspannen verteilten Äußerungen über Fragen der Dichtkunst in den Aufsatzsammlungen und Plaudereien der „ P a t r i o t i s c h e n P h a n t a s i e n " (1774—1786), die (im Titel anklingend an J. Iselins „Patriotische Träume . . .") ihre lebendig volkstümliche Unterhaltung in den Dienst einer Förderung des Gemeinwohls und Gemeinnutzes stellen. Wenn z. B. dort in einer kleinen Erzählung „Die Spinnstube" (1766) die Berechtigung des gemeinsamen Arbeits- und Unterhaltungsraumes überprüft wird, so streift Moser zwar auch das Geschichten-Erzählen, Rätselraten und Liedersingen, aber nur beiläufig, weil sein hauptsächlicher Erziehungswille auf die volkserzieherischen Werte einer engen Fühlung zwischen Herrschaft und Gesinde gerichtet ist. Oder wenn in einem anderen Aufsatze die Frage nach „Einer einheimischen, beständigen, wohlfeilen Schaubühne" (1773) gestellt wird, so berührt Moser wohl auch hier einen kunsttheoretisch bemerkenswerten Gedanken, nämlich den, daß vielleicht „die eigentliche feine Lebensart der Kunst mehr schädlich als vorteilhaft sei". Aber seine — theatergeschichtlich gewiß nicht uninteressante — Hauptabsicht richtet sich doch eben auf die wirtschaftlichen und praktisch-technischen Fragen und führt zu dem Vorschlag, daß man den Schauspielern Nebenerwerb schaffen sollte. Dabei zeigt sich, daß Moser seinen Riccoboni (vielleicht durch L. Schröders Übertragung) kennt, aber nicht gutheißt. Derartige Beispiele ließen sich vermehren. Schon die angedeuteten Fälle aber bekunden, wie stets das G e s u n d e u n d S c h l i c h t e , organisationsmäßig Durchführbare und praktisch Brauchbare von Moser ohne aufklärerisches Banausentum aus den Fragestellungen herausgespürt wird, so etwa in der Abwehr von Entartungserscheinungen, ob es sich um jene Schauspielertypen handelt, die „meistenteils hohle Figuren mit einer erschlafften Seele" verbunden zeigen oder um übersteigerte Empfindsamkeit, gegen die sich ein Aufsatz, der „Für die Empfind10 M a r k w a r d t , Poetik II

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samen" (1776) berechnet ist, nicht ohne gesunden Humor und gedämpfte Satire wendet. Trotz der themagemäß und anlagegemäß vorherrschenden allgemein volkserzieherischen und besonders volkswirtschaftlichen, gelegentlich wohl auch volkskundlichen Gesamteinstellung teilt doch Moser, der auch hinsichtlich der V o r b e r e i t u n g des G e n i e b e g r i f f e s berücksichtigt sein will, nicht so ohne weiteres die Anschauung Th. Abbts vom unbedingten Vorrang des Gesetzgeber-Genies vor allen anderen und damit auch den künstlerischen Genie-Arten. Er weist vielmehr ausdrücklich auf die Gefahr hin, daß der Primat des Gesetzes mit Anspruch auf Allgemeingültigkeit allzu leicht „in den Werken der Natur wie in den Werken der Kunst manches Genie ersticken" könnte. Die Gefahr abplattender Einförmigkeit („immer einförmiger machen") droht von einem derartigen einseitigen Gesetzesdruck auszugehen. Moser fordert einen gewissen Wuchsraum für die Besonderheiten, für das Originale. Als er jedoch den Wildwuchs der Geniezeit allzu üppig ins Kraut schießen sieht, da schreibt er eine kleine fabel- oder parabelartige Geschichte: „Die Regeln behalten immer ihren großen Wert" (1777), in der er aus dem Exempel vom Wegweiser, der nicht auf den Seiltänzer oder den gewandten hindernisnehmenden Reiter eingerichtet und eingestellt sein dürfe, die Lehre zieht, daß die „gemeinen Wege oder Regeln immer nötig bleiben, wenn die Genies sich auch noch so weit davon entfernen". Dort, wo er Ratschläge gibt, „Wie man zu einem guten Vortrage seiner Empfindungen gelange" (1780), warnt er vor der Überschätzung des „ersten Anfalls" einer „glühenden Einbildungskraft", befürwortet er die Auswertung von späteren Hilfskonzeptionen, weiß und betont aber auch, daß man eine „glücklichere Stunde" der Konzeption abwarten solle und daß diese fruchtbare Stunde „durchaus von selbst kommen muß". Und der Blick auf den genialen Schauspieler Garrick vollends, dem schon die englische Übersetzung seiner Harlekin-Verteidigung (1766) gewidmet war, läßt ihn volles Verständnis gewinnen für das spontane Sich-Ausleben und rückhaltlose Sich-Hingeben einer „mächtigen Seele", die sich auch ihrem Augenblicksgefühl anvertrauen darf. „Und das muß ein jeder tun, der eine mächtige Empfindung mächtig ausdenken will". Derartige Wendungen lassen — ähnlich wie die Opernverteidigung, die Shakespearedeutung u. a. aus der Harlekin-Abhandlung — unzweideutig erkennen, daß Mosers Kunstanschauung doch wesent-

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lieh und wesenhaft über den gesunden Menschenverstand hinausgreift. Allerdings sind vielfach schon Erträge der Sturm- und Drang-Poetik mit verarbeitet worden. Manches Bürgerlich-Begrenzte erklärt sich indessen einfach aus der volkstümlichen Wirkungsform der behaglich-besinnlichen Plaudereien. So etwa, wenn Moser einen biederen Weinhändler in einem Briefbericht „ U b e r d a s K u n s t g e f ü h l " (1780) sein Sprüchlein sagen läßt. Der Weinhändler ist da in einen Kreis ästhetisch sich gebärdender „junger Herren" geraten, die „immer das Wort Kunstgefühl im Munde hatten". Anfangs scheint es so, als ob der Weinhändler, der den „Geschmack" wörtlich auf das rechte Herausschmecken der Weinjahrgänge und ihrer Wuchsheimat bezieht, philisterhaft an den Dingen vorbeiredet, da doch vom künstlerischen Geschmack zu handeln wäre. Aber bald erweist sich, daß er die überlegene Weisheit der Erfahrung vertritt, daß er die K u n s t e r f a h r u n g als Voraussetzung für das rechte Kunsturteil und die rechte Kunsttheorie fordert, daß er z. B. M e n g s deshalb für einen brauchbaren Kunsttheoretiker gelten läßt, weil Mengs zuvor selbst als Maler Erfahrungen des Kunstschaffenden gesammelt habe. Moser lockert in derartigen Fällen allmählich die Fiktion solcher sinnbildhaften Gestalten. So kennt dieser Weinhändler auch Lavaters physiognomische Theoreme, denen er sich jedoch dank eigener Menschenkenntnis überlegen fühlt. Denn seine Erfahrung ermöglicht es ihm, „viele Tangenten" nach dem zu Beurteilenden auszustrecken: „mein ganzes Gefühl fließt um seine Form". Neben der Erfahrung entscheidet also das anschmiegsame Gefühl, gleichsam das Tastgefühl im Herderschen Sinne, nur mehr ins Geistige übertragen und nicht auf die Plastik eingeschränkt. Aber auch dieses künstlerische Tastgefühl wird erst und wird nur durch Kunsterfahrung gesichert. In diesem Sinne darf Moser sagen, nur dort „fehle es an Kunstgefühl und Geschmack" (der Geschmack ist ja auch jenseits Mosers um 1780 herum längst wieder zu Ehren gekommen), wo die Gelegenheit fehle, „sich Tangenten zu erwerben". Die Möserschen „Tangenten" sind die zahllosen Fühler, über die ein erfahrenes Kunstgefühl verfügt. Mehr und mehr tritt nun Moser hinter seinem Weinhändler hervor, den er von vornherein natürlich nur wegen der GeschmacksMetapher (die immer noch als solche empfunden wird) gewählt hat, und zieht endlich die Folgerung, daß in der E r z i e h u n g d e r J u g e n d die K u n s t d e r S c h a f f e n d e n der K u n s t w i s s e n io#

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s c h a f t der D e u t e n d e n v o r a u s g e h e n müsse zur Bereicherung des Kunstgefühls, ohne das alle Theorie müßig sei. Dieses Kunstgefühl muß sich verdichten zu einem Gefühl der Eigenständigkeit, Eigenwegigkeit und Eigenwüchsigkeit deutscher Art und Kunst, wenn es gilt, Werte und Wege für eine vollwertige, dem Auslande ebenbürtige deutsche Kunstleistung im Bereich des Dichterischen trotz der kritischen Zweifel Friedrichs II. nachzuweisen. Das geschieht unter der Einkleidung eines „Schreibens an einen Freund" in den programmatischen Thesen der Abhandlung „ Ü b e r die d e u t s c h e S p r a c h e u n d L i t e r a t u r " (1781). Die tragende Leitidee folgt der Zielsetzung: „Meiner Meinung nach müssen wir also durchaus mehr aus uns selbst und aus unserm Boden ziehen, als wir bisher getan haben". Verheißungsvolle Anzeichen sind bereits vorhanden, vorhanden ist Goethes „Götz von Berlichingen", den Moser ausdrücklich a l s „ V o l k s s t ü c k " auffaßt, als „edles und schönes Produkt unsers Bodens". Solche bodenständigen und urwüchsigen Grundformen sollten nicht abschrecken, sondern ermutigen, sie „zu der ihrer Natur eignen Vollkommenheit aufzuziehen". Der Gefühlsausdruck, den die Kunst verlangt (Moser berührt hierbei die Ausdruckslehre), muß eine dem deutschen Wesen und Sehnen gemäße tragfähige Wurzelschicht finden, indem man dem deutschen Empfinden einen freieren Entfaltungsraum zugestehen würde, auch in den Äußerungen des öffentlichen Lebens. K l o p s t o c k , G o e t h e und B ü r g e r (Schiller lag noch nicht im Berichtsraum) könnten den wirksamen Ausgang bieten für eine „ V e r e d l u n g e i n h e i m i s c h e r P r o d u k t e " . Wie R o u s s e a u oder K l o p s t o c k müsse man Mut haben, „aus sich selbst zu schöpfen und s e i n e E m p f i n d u n g e n a l l e i n a u s z u d r ü c k e n " . Kurz, die gesamte Grundeinstellung der „Rettung" deutscher Dichtung vor einem Messen mit fremden Maßen gehört, wie es die Entstehungszeit nahelegte, bereits dem Geist des Sturmes und Dranges an, wie leitmotivisch die Wendung von deutscher Art und Kunst die Abhandlung durchzieht als stolze Erinnerung zugleich an Mosers eigne Mitarbeit an den bahnbrechenden „Blättern von deutscher Art und Kunst" von 1773. Mögen die Deutschen im Überschwang, wie etwa Goethe in „Werthers Leiden", allzusehr der „erhöheten Empfindung" zu folgen und wohl gelegentlich die „logische Wahrheit der ästhetischen" aufzuopfern geneigt sein, „allein wir bringen doch damit eigne edle Erze zu Tage", deren Läuterung geduldig und zuversichtlich abgewartet werden sollte.

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So verschüttet unter zeitgebundenen Bedingtheiten Mosers Schrift („Harlekin . . .") von 1761 erscheinen mag, der keimhafte Ansatz des Gedankens, aus verurteilten, aber triebkräftigen volkstümlichen Formen höhere organisch zu entwickeln, war schon dort in großen Umrissen vorgezeichnet. Die Harlekinade schien ihm damals eine derartige Keimzelle zu sein. Aber mehr gattungstypologisch, artbereichernd, wenn auch dem Volkstümlichen schon sich annähernd, war jener Vorstoß gedacht, noch nicht aus deutscher Art und Kunst entfaltet und gekräftigt. Jetzt sind 1781 würdigere Voraussetzungen gegeben, aber auch kulturpolitisch klarere Zielsetzungen gewonnen. Trotzdem lebt in beiden Abhandlungen, die Grenze und Reichweite seiner Kunsttheorie am eindrucksvollsten umschreiben, der ganze Justus Moser. Ein Zug, den er mit Herder teilt, der auch in allen Schriften voll gegenwärtig wirkt. Unter den theoretischen Bahnbrechern der nationalen Bezogenheit nennt Moser (1781) auch Sulzer. Wenn etwa für Thomas Abbt die Gesetze des Staates der Kulturleistung Entfaltungsraum zu sichern haben, so erfolgt bei Johann Georg S u l z e r ein weiterreichender E i n b a u der K u n s t w e r t e in den großen W i r k u n g s r a u m der k u l t u r p a t r i o t i s c h e n W e r t e unter ausgeprägter Berücksichtigung der Dichtkunst und der Künste überhaupt, entsprechend der Reichweite seiner umfassend angelegten, naturgemäß aber noch nicht die letzte Entwicklungshöhe Mosers erreichenden „ A l l g e m e i n e n T h e o r i e " (1771 und 1774). Nicht eine Privatangelegenheit ist die Kunst und das Kunstwerk als Wesens- und Wirkungsform, sondern eine öffentliche Angelegenheit mit Pflichten gegenüber der Öffentlichkeit, aber auch mit Rechten des Schutzes und der Pflege von Staats wegen. Nicht zum wenigsten das — auch von Bodmer unter diesem Blickpunkt gewertete — Bühnenkunstwerk darf, weil es unmittelbar in die Öffentlichkeit hinüberwirkt, diesen Schutz erwarten, wenn es jene Pflicht erfüllt. Natürlich erfaßt Sulzer noch nicht gefühlsmäßig das triebhafte Hinüberdrängen der Kunst aus ihrer ästhetischen Einsamkeit in die staatliche Gemeinsamkeit; aber erkenntnismäßig zeichnet sich doch eine solche Einsicht in groben Umrissen bereits ab. Nicht nur Wielands volkserzieherische Wendung dankt die entscheidende Ermutigung Sulzer: manche Einzelanregung wird noch für Schillers machtvolles Emporbrechen zu einer volksbezogenen und volkserzieherischen Dramaturgie wenn nicht wegbe-

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reitend, so doch wegerleichternd auswertbar. Ebenso geht auch die noch aufklärerische Grundeinstellung zur Schaubühne als „moralischer Anstalt" auf die Sulzersche Position zurück (s. auch Wielands „moralisches Institut" d. Schaubühne), so daß sich moralpädagogische und volkserzieherische Elemente vermischen. Wie Sulzer (dessen kulturpatriotische Entsprechungen mit Bodmer hier nicht näher verfolgt werden können) der bildenden Kunst bedeutende Aufgaben entwirft, um zur Ehrfurcht „großer Verdienste um ein ganzes Volk" und zu „einer edlen Nacheiferung" solcher Verdienste, ob nun durch Statuen oder Gemälde mit ihren Darstellungen beizutragen und anzuspornen: ebenso steht für ihn die Möglichkeit einer künstlerisch wertvollen Gesinnungsdichtung über jedem Zweifel. Voraussetzung aber bleibt für Dichter und Volk, daß „bei dem Künstler d a s g r o ß e Genie m i t einem g r o ß e n H e r z e n v e r b u n d e n , und die Regenten der Völker auch Väter derselben (Künste) wären, die der Wirksamkeit des Genies der Künstler ihre rechte Lenkung gäben". Mitten in dem nüchternen Raum und Rahmen eines Lexikon-Artikels gibt sich Sulzer dem Zukunftstraume hin, nicht ohne die innere Sicherheit, daß, „wenn diese Betrachtungen bloß süße Träume sind", ihnen dennoch die Verwirklichungsmöglichkeit (die „Möglichkeit der Sache") keineswegs mangle, da sie auf inneren Gesetzlichkeiten der Künste gründen. In diesem Sinne auch warnt er vor einer allgemeinmenschlichen Abstraktheit und vor einem entsprechend verblassenden „allgemeinen Ideal". Greifbar und haftkräftig kann zuletzt immer nur die ständisch, national und zeitlich verwurzelte Gestaltungsweise wirken. Auch das Allgemein-Menschliche nämlich gewinnt erst recht Farbe auf eigenem Boden, in der Ortsheimat und der Zeitheimat. „Wir raten keinem Künstler für alle Völker und sogar für alle n a c h f o l g e n d e n Z e i t e n zu arbeiten; dies wäre der Weg, bei k e i n e m Volk und in k e i n e r Zeit nützlich zu sein". An diesen Wendungen werden aber auch die Grenzen seiner Anschauungen deutlich erkennbar und hart fühlbar. Was sich an solchen Stellen besonders verdichtet zu grundsätzlichen und bewußt gesinnungsmäßig betonten Forderungen und Mahnungen, durchzieht manchmal in Nebenbemerkungen, aber eben deshalb um so gleichmäßiger verteilt, das gesamte lexikalische kunsttheoretische Großwerk Sulzers und seiner Mitarbeiter. Dort, wo er etwa im Artikel „Dichter" den Voraussetzungen des „poetischen Genies" nachspürt und auf die verwandten Vorausset-

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zungen in den anderen Künsten verweist, ist es ihm selbstverständlich, unter den Empfindungen und Vorstellungen des „Gemüts", die es in eine „heftige oder sanfte Schwärmerei" zu versetzen vermögen, auch solche Empfindungen einzubeziehen, die „durch ihre religiöse oder p o l i t i s c h e G r ö ß e " jene Gefühlssteigerung hervorrufen. Homer spricht für ihn in dem „feierlichen enthusiastischen Ton eines Menschen, der seiner Nation die wichtigsten Dinge zu erzählen" und also zugleich eine kulturelle Sendung zu erfüllen hat. Gerade der Dichter vermag seinen Darstellungen einen „unwiderstehlichen Reiz" zu verleihen. Der Dichter besitzt in seiner Kunst die Möglichkeit, sich durch seine „Talente" (Talent steht immer noch nahe bei dem Genie) „zum Propheten, zum Lehrmeister und Wohltäter seiner N a t i o n " und von dieser unerläßlichen und allein tragfähigen Grundlage aus „sogar a l l e r g e s i t t e t e n N a t i o n e n " zu erheben. Ein Teilwiderspruch wird dabei allerdings spürbar mit der Warnung vor dem Unterfangen, „für alle Völker" wirken zu wollen. Wenn Sulzer das bloße „Vergnügen" (abweichend von Mendelssohn) abwehrt und (im Artikel: „Ergötzend") unter beachtenswertem Rückgriff auf die Naturnachahmungslehre meint, daß die Natur für mehr oder minder triebhafte Genüsse schon selbst Sorge trage, verfehlt er nicht, das Soziologisch-Politische betont abzuheben als das Gebiet, das die Kunst über die Natur hinaus ergänzend erfassen und bevorzugt in Pflege nehmen müsse; denn „für die verschiedenen politischen Veranstaltungen, die bei jedem Volk und in jedem Zeitalter nach zufälligen Umständen anders sind, konnte sie (die Natur) nicht besonders sorgen, und d a r i n e r w a r t e t sie die H ü l f e der K u n s t " . Dementsprechend ist das nur „Ergötzende" in seiner Wertgeltung und in seinem Wirkungswert wie auch in den ihm zugeordneten Motivbereichen einzuschränken. Von hier aus ist Sulzers A b w e h r s t e l l u n g gegen d a s d i c h t e r i s c h e R o k o k o ohne weiteres gegeben. Sulzer sieht indessen durchweg den Staat, wenn er von Nation spricht. Er sieht noch nicht so sehr das Volk wie etwa der Sturm und Drang, der oft über das Staatliche hinweg dem Volksmäßigen zudrängte. Hier sind ihm merklich Grenzen gesetzt, die nur gelegentlich überschritten werden. Aber Sulzer sah verhältnismäßig scharf die wechselseitigen Wirkungsmöglichkeiten von Staat und Kunst. Er sah sie früher und klarer als mancher Stürmer und Dränger, sah sie im größeren Zusammenhange und weniger indi-

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vidualistisch und subjektivistisch, auch weniger von Stimmungen abhängig. Was ihm unleugbar abging an Einfühlungsfähigkeit in das innere Wesen und Werden echter Erlebnisdichtung, was ihm fraglos fehlte an Fähigkeit und Entschlossenheit, Ansätze zu ästhetischen Erkenntnissen wirksam und fruchtbar auszubauen, das Schwanken zwischen dem Alten und dem Neuen: alle diese Mängel werden in gewisser Weise zwar nicht aufgehoben, aber doch zum Teil ausgeglichen durch den tapferen und in seiner Art zielstrebigen Vorstoß in volkserzieherisches und kulturpatriotisches Gebiet. Erleichtert wurde ihm diese Einsicht durch seine v o r h e r r s c h e n d p ä d a g o g i s c h e E i n s t e l l u n g , die eine Ausweitung auf kulturpatriotische Bereiche nahelegte. Sulzers Gesamtstellung will ähnlich wie die Garves nicht immer nur vergleichend gemessen werden an dem Neuerwerb des Sturmes und Dranges. Den Anteil Besonnenheit, den er noch lehrt und der ihm Hemmung bleibt gegenüber der Geniezeit, mußte die Frühklassik schon wieder zur Hilfe rufen, um vom geniezeitgemäßen Schöpferrausch zur dauerkräftigen Gestaltung und „Darstellung" zu gelangen. Zu einer Schöpfungsästhetik oder auch nur zu einem vorbehaltlosen Eingehen auf die von anderer Seite bereits vorliegenden Bemühungen um eine Schöpfungsästhetik war er weder berufen noch geneigt; wohl aber zu einer anders gesehenen Annäherung der Dichtung an das Leben und Erleben, nicht an das rein ästhetisch-schöpferische Erleben, sondern an das kulturpatriotische und politische Erleben. Die Kräftigung des Nationalbewußtseins ergreift selbst ursprünglich weltbürgerlich eingestellte Aufklärer zweiten und dritten Grades, wie sie etwa den Publizisten E n g e l h a r t v o m B r u c k noch als abgeschwächte Welle soweit zu heben vermag, daß er sich in der Spätaufklärung zu einer „Rede über Patriotismus und Toleranz" (1798) ermutigt fühlte. Die v o l k s e r z i e h e r i s c h e S e n d u n g , d i e zu erfüllen C h r i s t i a n F ü r c h t e g o t t G e l i e r t für seine damalige Zeitgemeinschaft nicht zuletzt berufen war, weil er nicht nur im Theoretisieren vom „Herzen" sprach, sondern auch in seinen Dichtungen, besonders in seinen Fabeln dem Volke wirklich zu Herzen zu sprechen verstand, diese volkserzieherische Wertsetzung, die er dergestalt in seiner Art und in seinen Begabungsgrenzen zu verwirklichen wußte, ist nicht der geringste Gewinn, den Geliert auch späteren Generationen weiterzugeben vermochte. Gewiß, die Mittel, wie sie

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Geliert im zeitgebundenen Wirkenwollen anwandte, entsprechen nicht mehr so ohne weiteres dem modernen Ideal charakterlicher Art. Der Menschentypus, den Geliert heranzieht, gilt uns als zu wehmütig, ein wenig auch zu bequem, zu bedachtsam kleinbürgerlich. Aber Geliert wollte mehr den werteerhaltenden deutschen Bürger heranbilden helfen, wie etwa auch M. G. Lichtwers Versfabel „Der Hänfling" das Glücksanrecht als „des Mittelstandes Recht" beansprucht. Und schon der Umstand, daß er überhaupt auf den Individualcharakter und den Volkscharakter so gesund erzieherisch einzuwirken weiß, daß er wirklich in b r e i t e s t e n S c h i c h t e n des V o l k e s eine gewiß nicht großartige, aber zunächst einmal gesunde, wackere, biedere Gesinnung mit Hilfe des Dichterwortes wachhält und kräftigt, sichert ihm eine Achtung, die durch das billige Achselzucken über den „Vater Geliert" nicht ernstlich beeinträchtigt werden kann. Die V e r s c h m e l z u n g des V o l k s t ü m l i c h e n mit dem V o l k s w ü r d i g e n , die Geliert, wie sein Hineinwirken ins Volk bewies, geglückt ist, blieb naturgemäß zeitgebunden und begabungsgebunden; aber ihre Schwierigkeit und Seltenheit sollte nicht ganz übersehen werden. In den Bereich des Bürgerlichen, und zwar dorthin, wo es an das Volkstümliche grenzt, folgt denn auch sein Theoretisieren den bürgerlichen und teils volkstümlichen Wirkungsformen vor allem des rührenden Lustspiels, aber doch auch mit einigen Schritten der Fabel und einem im Grunde bürgerlich gesehenen Schäferspiel. Noch G. A. B ü r g e r hob Geliert hervor als einen der wenigen, bei denen Kunstwollen und Kunstschaffen, Theoretisieren und Produzieren innig ineinandergreifen, so daß die Äußerungen der Kunstbesinnung von der Kunstgesinnung her an Wahrheit und Wärme gewinnen, aber auch an praktischer Nutzbarkeit. Und es ist nicht Zufall, wenn Geliert den „ W i t z " gern ablöst durch das „ H e r z " , das Verstandesmäßige durch das Gemütvolle. Es ist dies wesenhafte Hinneigen zum „Herzen" (auch als Merk- und Kennwort) bedeutsamer als der an sich häufige Gebrauch des Wortes „Genie", das er rein sprachgewöhnungsmäßig einbürgern half. Denn trotz einiger kühnerer Vorstöße zum Geniebegriff hin stellt Geliert dennoch das Genie dem Geschmack sehr nahe, unterstellt er es dem entscheidenden Urteile des Geschmacks, gibt er sich noch 1767 damit zufrieden, daß das „günstige Jahrhundert des guten Geschmacks für die Deutschen erschienen" sei, während andere damals schon nach dem Zeitalter des Genies riefen. Ge-

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s c h m a c k w a r f ü r G e l i e r t T u g e n d auf ä s t h e t i s c h e m G e b i e t . Der Tugendbegriff, den er nicht zum wenigsten mit ausbilden half, findet im Geschmacksbegriff eine entsprechende und sehr zeitgebundene Ergänzung. Aber wie Geliert als Mensch nicht über aller Leidenschaftlichkeit von vornherein erhaben war, so auch lockt ihn gelegentlich der geheimnisvolle Reiz des Geniebegriffs. Und zwar begegnen Keim- und Vorformen des Geniebegriffs bei Geliert nicht nur vereinzelt in der latenten Poetik seiner Dichtungen, sondern auch, und zwar weit ausgeformter, in seiner R e d e ü b e r d e n „ N u t z e n der R e g e l n " , die zugleich auf den Grundtypus der a n g e w a n d t e n P o e t i k schon in ihrer Themastellung hinweist. Über die F a b e l t h e o r i e allerdings hat er, dessen Fabeln am volkstümlichsten wurden, n u r B e i l ä u f i g e s ausgesagt. Seine Leipziger Habilitationsschrift „De poesi apologorum eorumque scriptoribus" (1744) gelangt kaum irgendwie über seine Gewährsmänner La Motte und Breitinger hinaus, während nach der praktischen Seite hin ein Unbefriedigtsein von den Fabeln Riederers, Trillers und Stoppes immerhin aufmerken läßt. Dagegen bietet die „ N a c h r i c h t und E x e m p e l von alten deutschen F a b e l n " (1746), obgleich sie für die Theorie der Fabel grundsätzlich auf L a Motte, Breitinger und Bodmer verweist, wenigstens einige Anhaltspunkte. Man begegnet etwa dem Hinweis, daß die Fabel (Tierfabel) als „unstreitig . . . älteste Spur des menschlichen Witzes" zu den Urformen menschlicher Geistes- und Gemütsbildung zu rechnen sei, und zwar als Ersatzform und Vorform für die Bereiche des „Witzes" und der Moral. Geliert ist überzeugt, daß ein Wohlgefallen an der Fabel vor der Regelkenntnis vorhanden war, was indessen nicht die andere Überzeugung ausschließt, daß manche der an sich recht achtbaren alten deutschen Fabeln den „völligen Glanz" doch erst gewonnen haben würden, wenn das „Rauhe und Grobe" durch eine verfeinerte Kunstfertigkeit abgeschliffen worden wäre. Während die Stürmer und Dränger in ähnlichem Falle gerade von diesem Rauhen und Groben als ursprünglichen Merkmalen entzückt gewesen wären, bedauert Geliert, daß es dem alten Fabeldichter und „seinem unbearbeiteten Witze wie einem ungeschliffenen Demanten" ergehe, der nur vereinzelte Strahlen zu versenden vermag. Das ältere Ideal der „Politesse" wirkt noch merklich nach. Bei alledem ist Geliert eine g e w i s s e h i s t o r i s c h e E i n f ü h l u n g s f ä h i g k e i t , die natürlich in keiner Weise an die Herders

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heranreicht, nicht ganz abzusprechen, wie er denn sowohl den älteren metrischen als auch sprachlichen Bestand bei seinem Würdigungsversuch alter deutscher Fabeln verständig und liebevoll mit in Rechnung stellt. Nicht ohne Wärme und nicht ohne Andeutung seines eigenen ihm wesensgemäßen Fabelideals begrüßt er besonders herzlich die „ungekünstelte Anmut" und die „natürliche Einfalt" dieser älteren deutschen Fabeln, deren „treuherzige Miene" so vorteilhaft absticht von manchen „spitzfindigen Betrachtungen" nicht nur in der lateinischen, sondern auch in der vielfach „frostig" gezierten neueren Erzählweise der deutschen Fabel. Mit wenigen Worten steht sogleich Geliert vor uns, auch im persönlichen Hervortretenlassen seines Geschmacksurteils, jener Geliert, der die „natürliche Einfalt" einer gewissen gesunden Volksnähe — „nach meiner Empfindung" — als etwas überaus Wohltuendes und „sehr angenehmes" herausspürt und empfehlend herausstellt. In seiner Zeitnähe bewahrte übrigens der Jagdliebhaber J. L. Meyer v. Knonau einige dieser Vorzüge in seinen TierFabeln. Die Fabel wiegt als eine zugleich belebte Verdichtungsform in ihrer erzieherischen Wirkung ganze moralische Systeme auf (Abweichung von Mendelssohn). Soviel zugleich als Ergänzung (der Sonderforschung) auf einem für Geliert charakteristischen Gebiet, auf dem sich Kunstwollen und Kunstleistung innig berühren. Geliert scheut oder vermeidet durchweg ein tieferes Eindringen in kunstphilosophische Fragestellungen und ist mit der Zeitpsychologie weit weniger vertraut als etwa Joh. Elias Schlegel, ja selbst Gottsched oder die Schweizer (und vollends als Mendelssohn oder Sulzer). Er geht im Grunde von der Meinung aus, es sei die Aufgabe der Dichtkunst, „Dem, der nicht viel Verstand besitzt / Die Wahrheit durch ein Bild zu sagen" (Annäherung an Mendelssohn). Aber er kämpft um ein Sichlösen von dieser Grundund Ausgangsposition. Teilweise durch eine leicht selbstkritische Belichtung jener — der Philosophie gegenüber — zwiespältig erscheinenden Wertgeltung der Poesie versucht er von dem Eindruck ihrer nur dienenden, untergeordneten Leistung freieren Abstand zu gewinnen. So etwa in der kunsttheoretisch beachtenswerten Szene seines eigenen rührenden Lustspiels „Die zärtlichen Schwestern" (1747), in der die Grenzen der Weisheitsvermittlung durch eine lehrreiche Fabel — und damit der ganzen Fabelwirkung überhaupt — aufgedeckt zu werden scheinen; aber auch dadurch,

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daß nicht nur ein Stück „Wahrheit" durch eine dichterisch-bildhafte Einkleidung verstandesmäßig vermittelt wird, sondern ein Stück rührender Lebenshaltung und edler Gesinnung mehr dem mitfühlenden Nacherleben zugänglich gemacht wird. Und auf diesem zweiten Wege, auf dieser zweiten Schicht der Dichtungsdeutung, der Bestimmung des Dichtungswertes und der von der Philosophie her gefährdeten Würde der Poesie, läßt sich die A u f l o c k e r u n g s l e i s t u n g des W i t z b e g r i f f e s und (teilweise auch) G e s c h m a c k s b e g r i f f e s durch die V o r s t e l l u n g und E r l e b n i s w e i s e des G e m ü t l i c h e n und G e m ü t h a f t e n vor allem verfolgen und näher beobachten. Ohne die bewußte oder irgendwie betonte Absicht, einen neuen kunsttheoretischen Terminus einzuführen, erleichtert Geliert durch seine bloße V o r l i e b e f ü r den A u s d r u c k „ H e r z " wesentlicher und wirkungsvoller den Ubergang zum Gefühlsmäßigen, als es durch eine noch so schöne — schöne, nicht gute! — Definition hätte erreicht werden können. Während „Empfindung" als psychologisch-ästhetisches Fachwort bereits belastet war mit einer ganzen Reihe von Kernund Teilvorstellungen, wie etwa: psychische Vorstellung, Eindruck, Sentiment, teils auch „sensation", war — trotz Dubos — das eindeutig gefühlshaltige Wort „Herz" weniger der Gefahr ausgesetzt, in die Zone des Staubes der reinen Theorie zu geraten. Geliert weiß darüber hinaus sehr wohl, daß der Eindruck auf das „Herz" moralpädagogisch letztlich immer nachhaltiger bleibt als ein bloßes Mehren des Wissens um die Tugend und das Edle. Er will Gemüt und Wollen beeinflussen. Er will durch rührende Wallungen wertvolle „Wollungen" anregen und fördern, nicht nur das moralphilosophische Betrachten und Erkennen. Von dieser Seite her dringt eine leichte gefühlsmäßige Erwärmung in den nur belehrenden Zweckwillen. Dichtung soll erziehen, soll bilden, nicht nur belehren. Das Mittel ändert sich, die Absicht nur taktisch insoweit, als es diese Bereicherung der Mittel mit sich bringt. Und indem eine linde Welle des Erlebnismäßigen den harten Untergrund des Erkenntnismäßigen überspült, wird eine kleine Vorwelle des Sturmes und Dranges sichtbar. Zum mindesten aber nähert sich Geliert der „Lenkung des Gemüts" Sulzers. Das Herzbewegende des rührenden Lustspiels, das L e n k e n und L e i t e n des Gemütes geben ihm den Antrieb zu der Verteidigungsschrift „ P r o comoedia c o m m o v e n t e " (1751). Unter dem Titel „Des Hm. Prof. Gellerts Abhandlung für das rührende Lust-

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spiel" hat Lessing aus Anlaß einer Erörterung über das „weinerliche Lustspiel" (wie Lessing die „comédie larmoyante" als erster übersetzt) die Abhandlung in seine „Theatralische Bibliothek" (i. Stück, 1754) aufgenommen. Lessing stellte neben diese Verteidigung einen früher liegenden Angriff auf die Rührkomödie, der bereits in Frankreich selbst erfolgt war unter der Titelgebung „Betrachtungen über das weinerlich Komische aus dem Französischen des Herrn M. D. C." Es handelt sich um Chassirons „Réflexions sur le Comique-larmoyant" (1749), die in ihrem Contra (nicht Pro, wie Borinski meint) besonders gegen die Vermischung der Dramenarten vorstießen, nicht ohne ein gewisses Gefühl für das wesenhaft Komische und Tragische unter Abwehr des Rührenden als nur „quasi tragique". Eine Wendung der Lustspielmotive ins Ernsthafte und Rührende war in Frankreich streckenweise vollzogen worden durch Nivelle de la Chaussée, Destouches u. a., während an der theoretischen Zielsetzung bzw. Rechtfertigung Marmontel, Diderot, E. C. Fréron, La Harpe u. a. teils lebhaften Anteil nahmen. Voltaires Gegnerschaft wandelte sich in gewissem Grade in eine Befürwortung (Vorrede zum „L'enfant prodigué", 1736), ohne daß Voltaire jedoch zu einer einheitlichen Stellungnahme gelangt wäre. Diderots programmatische Äußerungen im Zusammenhange mit dem „Fils naturel" bieten im Herausstellen des „genre sérieux" schon eine gewisse Ansatzmöglichkeit für das bürgerliche Trauerspiel. Das ständische Wertungskriterium wird dabei in der Welse ausgeweitet, daß die bloße Beschränkung (auf niedere Standespersonen) zu einer Umschränkung (Herausarbeitung des ständischbürgerlichen Lebenskreises) veredelt und so künstlerisch fruchtbar gemacht werden soll. Wie stark das ältere Kriterium des Standes im Sinne der gesellschaftlichen Rangordnung gerade in der Komödientheorie nachwirkte, wird z. B. ablesbar im Räume der italienischen Kunsttheorie an einem Briefe (Mai 1737) Riccobonis an Muratori, in dem das Einbeziehen des Adels und anderer Standesherren in die Welt der Komödie durch N. de la Chaussée (..L'école des amis", 1737) als Neuheit empfunden, aber dennoch gutgeheißen wird. Es wird aber auch greifbar, wenn Joh. G. Benj. Pfeil, (bloßer Titelanklang an Geliert in „Graf von P.") im Sinne der Rechtfertigungs-Poetik in einem Begleitaufsatz zu seinem bürgerlichen Drama „ L u d e Woodvil" (1756) wohl Rührung, jedoch nicht tragische Erschütterung dem Bürgertum zuerkannte.

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Für Geliert steht die Wertgeltung des Bürgerlichen von vornherein gesicherter da, wie ihn denn weniger die ständische Seite als die damit verbundene moralpädagogische Wirkungsmöglichkeit beschäftigt. In Deutschland hatte sich schon ein Jahrzehnt vor Geliert, im merklichen Abrücken von Gottscheds Lächerlichmachen des Lasterhaften als Komödienziel, derAnnaberger Rektor A. D a n i e l R i c h t e r mit seinen „ R e g e l n u n d A n m e r k u n g e n d e r l u s t i g e n S c h a u b ü h n e " (1741) dem Problemkreis der moralisch erbauenden, positiv tugendhaften Lustspielform genähert. Und Joh. Elias Schlegels „Schreiben über die Comödie in Versen" (1740) kannte schon Voltaires „Enfant prodigue", wenngleich er die Versübersetzung natürlich im Sinne seiner Leitthese (Berechtigung der Verskomödie) heranzog. Wenn J. E. S c h l e g e l in seinen Äußerungen über die Untergliederung der dramatischen Wirkungsformen, wie sie durch seinen Bruder J. A. Schlegel gelegentlich der Batteux-Übertragung vermittelt wurden, nur die heroische Tragödie hohen Stils als Heldentragödie scharf abgehoben, alle übrigen dramatischen Sonderformen jedoch der (in ihrem Motivbereich und ihrem ernsten Wirkungswert entsprechend ausgeweiteten) Komödien-Gattung zugewiesen hatte, so durfte sich nun Geliert darauf berufen bei seinem Eintreten für die neue Sonderform. E r durfte sich aber vor allem berufen auf die eigene Erfahrung als Schaffender und konnte sich stützen auf die eigene Lebensstimmung und Wesensart, so daß gewisse Einwirkungen von dritter Seite, etwa von W e h r e n f e l s „Oratio de comoedia" oder hinsichtlich der Wesensbestimmung des Lustspiels durch den Engländer J. T r a p p zurückstehen hinter dem lebhaften Eintreten für eine erlebte Überzeugung. Geliert fordert als Eindruckswirkung das stillere, nach innen verlegte Lächeln, den Frohsinn eines bewegten Herzens und die Rührung eines bewegten Herzens. Die Mischform, die ihm im wesentlichen vorschwebt nach dem inneren Vorbilde seiner Lustspiele, hat behutsam die Anteile Frohsinn und Traurigkeit, Lächeln und Gerührtsein, Witz und Gemüt gegeneinander abzuwägen, und zwar wohlmotiviert und wohltemperiert, so daß Einsatzstelle und Steigerungsgrad des Rührenden pfleglich eingebettet und bedachtsam abgemessen erscheinen. Eine mechanische Abfolge und Abwechslung von lustigen und ernsthaft rührenden Auftritten ist — wie überhaupt der grelle Kontrast — füglich zu vermeiden. Rührende Szenen ergeben

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sich zwanglos etwa bei der Lösung des Konflikts, eine Forderang, die Geliert mit dem letzten Auftritte seines „Loses in der Lotterie", das nicht zufällig die Devise „Für die Tugend" trägt, erfüllt zu haben hofft. Der Motivkreis der hohen Tragödie braucht von der neuen Sonderform nicht gesprengt zu werden, da hinreichend bürgerliche Tugenden ohne tragisch-heroischen Größenanspruch für das ernsthaft bewegende, rührende Lustspiel zur Verfügung ständen. Besonders gesellige und gesellschaftliche Tugenden und Gemeinschaftswerte im engeren Lebenskreise (Familie) kommen als Motivbereich der rührenden Komödie zu, die keineswegs die lustige Komödie verdrängen, sondern nur ein eigenes Geltungsrecht sich erwerben will. Das rührende Lustspiel, „feiner und bescheidener" im Erregen des Vergnügens, wird nicht gerecht eingeschätzt, wenn man ihm eine „abgeschmackte Nachäffung des Trauerspiels" vorwirft. Es verwirklicht vielmehr nur die durchaus bestehende Möglichkeit, „emsthaftere" Gemütsbewegungen in die komödienhafte Wirkungsform einzubeziehen, um „die Gemüter auf eine angenehme Art zu rühren". Nicht nur kritisch-satirisch erziehen, auch gemütlich erziehen soll also das Lustspiel. Es bestätigt sich, d a ß d a s M i t t e l der E r z i e h u n g sich w a n d e l t , n i c h t a b e r die A b s i c h t des E r z i e h e n s an sich. Abschreckend darf dieses Mittel jedoch nicht ausfallen. Daher beruhigt Geliert: nur ein „Schein der Traurigkeit" werde erweckt, in Wirklichkeit seien die gerührten Begleitempfindungen „an und für sich selbst ungemein süße". Man sieht dabei als Vorzug und Vorteil in Anspruch genommen, was der Gegenwartsgeschmack leicht als Nachteil und Mangel empfindet, das reichlich Süßliche, Weich- und Wehmütige, ja selbst Wehleidige derartiger LustspielRührung. Und man erkennt in größerem Zusammenhange in dieser Rührung gleichsam eine „Als-Ob-Erschütterung" oder „Als-ObTraurigkeit" in deutlicher Entsprechung zur „Als-Ob-Natürlichkeit" der Aufklärung, wie sie etwa im Sonderfall Geliert innerhalb der Briefstilreform ganz ähnlich spürbar wird, wo man auch in Wirklichkeit n i c h t s c h r e i b e n soll wie m a n s p r i c h t , s o n d e r n als ob m a n s p r ä c h e . Ein wohliges, etwas bequemes Gerührtsein ist den Zuschauern eher abzugewinnen, und vor allem wird es ihre bürgerlichen Herzen williger auflockern für die Tugendsaat. Denn „die Tränen, welche die Komödie auspresset, sind dem sanften Regen gleich, welcher die Saat nicht allein erquickt, sondern auch

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fruchtbar macht". Diesem Wirkungsgesetz hat die Anwendung aller Einzelregeln und Einzelhinweise Geltung zu verschaffen. Das Verfechten der Berechtigung einer neuen Gattung führt bei Geliert — wie bei zahlreichen anderen Theoretikern und Dichtern — zu einer A u f l o c k e r u n g des R e g e l g l a u b e n s : „In Dingen, welche empfunden werden und deren Wert durch die Empfindung beurteilt wird, sollte ich glauben, müsse die Stimme der Natur von größerm Nachdrucke sein als die Stimme der Regeln. Die Regeln hat man aus denjenigen dramatischen Stücken gezogen, welche ehedem auf der Bühne Beifall gefunden haben. Warum sollen wir uns nicht eben dieses Rechts bedienen können ?" Das Beurteilen durch die „Empfindung" erinnert daran, daß in der Geschmacksdebatte das „Sentiment" eine hervorragende Rolle eingeräumt erhielt. Geliert nähert sich dem „Sentimentalismus", aber er nähert sich auch der Sentimentalität. Er hat noch einmal gesondert die Frage aufgeworfen „ W i e w e i t s i c h der N u t z e n der R e g e l n in der B e r e d s a m k e i t u n d P o e s i e e r s t r e c k e " , um sie dahin zu beantworten, daß die Regeln das Vermögen des Dichterischen nicht verleihen, sondern nur sagen, „wie wir's anwenden sollen". Die a n g e w a n d t e P o e t i k wird deutlich erkennbar. Die Anwendungsart fordert aber doch wieder die Hilfe des Geschmacksurteils, so daß die N ä h e der „ k r i t i s c h e n " P o e t i k bestehen bleibt. Mit Quintilian erkennt Geliert die Reihenfolge an: erst das Werk, dann die Regel, erwägt aber schon den Gedanken, daß die Regeln als noch nicht bewußt erfaßte und also auch nicht formulierte Leitideen dennoch „in dem Geiste" des ersten großen Dichters bereitgelegen und mitgewirkt haben müssen (Annäherung an den Begriff einer werkimmanenten Gesetzlichkeit). Ein bemerkenswerter Beitrag immerhin zu der Frage, ob denn immer das Theoretisieren dem Produzieren nur zu folgen vermöge (am schärfsten formuliert bei K. Gutzkow), oder ob nicht doch das Theoretisieren dem Produzieren auch voranzugehen vermöge. Wenn Geliert „auf gnädigsten Befehl" des sächsischen Kurfürsten eine Rede halten mußte „ V o n den U r s a c h e n des V o r z u g s der A l t e n v o r den N e u e r n " (1767), so wendet sein Erziehungsoptimismus die wohl anders gedachte Themastellung so, daß er die Neuen ermutigt, sich nicht von der „Last der Regeln" (die von den Alten abgeleitet seien) erdrücken zu lassen. Weder

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nach Anlage, Motivreichtum oder „Klima" (abweichend von Gottsched, aber auch von Winckelmann) seien die Alten bevorzugt gewesen. Nicht Nachahmung der Alten, sondern Nachahmung der Natur wie die Alten (wohin im Grunde auch Winckelmann zielte) muß zum Wettbewerb anspornen. „Die Natur war ihre Lehrmeisterin; und so soll sie auch die unsrige sein". Die erzieherische Wirkung der satirischen Schreibart, die dergestalt durch Gellerts für Deutschland mustersetzendes Beispiel und die begleitende Theorie eine Ergänzung fand in der rührenden Schreibart, bedurfte schon damals einer kritischen Überprüfung ihrer Voraussetzungen und Schranken, wie sie G o t t l i e b W i l h e l m R a b e n e r in seiner Abhandlung „ V o m M i ß b r a u c h e der S a t y r e " (1751) unternahm. Die Sonderform der ProsaSatire, die den Poetikern so manches Kopfzerbrechen verursacht hatte, fand im Zeitalter des „Witzes" günstigen Nährboden, hatte in den Satiren Liscows volle Schärfe angenommen und wesentlich weniger „stachlichte" Gewächse bei Rabener hervorgetrieben. Seine Warnungen vor dem „Mißbrauche der Satyre" bergen zugleich positive Zielsetzungen für einen rechten Gebrauch der Satire, für ihre Wirkungsgesetze und deren Anwendung in sich, die letzten Endes entscheidender sind. Denn die negativen Kriterien gehen kaum wesentlich über das hinaus, was über eineinhalb Jahrhunderte hinweg im betreffenden Abschnitt der Poetiken über •die Satire gesagt worden war, z. T. gestützt auf das vierte Kapitel der Aristotelischen Poetik. Vor der persönlichen Zuspitzung der Satire war seit Opitz häufig genug gewarnt worden, Thomasius begegnete auf jenem Wege so gut wie Wernicke und Abel oder Mencke u. a. Gottsched hatte in seinen „Vernünftigen Tadlerinnen" die echte Satire vom „ehrenrührigen Pasquille" abzuheben versucht, wie ihm auch z. B. in der Kritischen Dichtkunst diese Unterscheidung als grundlegend erscheint. Zwar die christliche Unterbauung in Dariers Abhandlung von der Satire, daß nämlich der Satirenschreiber die durchaus christliche Aufgabe der „brüderlichen Bestrafung" zu vollziehen habe, sagt Gottsched nicht recht zu. Ihm ist der rechte Satirenschreiber der philosophisch urteilsreife Kopf mit „gesunder Vernunft" und „gutem Geschmack". Da der Satirenschreiber ein „Weltweiser" sein muß, wird er freieren Abstand wahren und Anlässe aus Neid, Rachgier und •sonstigen unlauteren Affekten als seiner unwürdig vermeiden. 1 1 M a r k w a r d t , Poetik II

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Im Anschluß an Boileaus Discours über die Satiren, der die Namensnennung des Angegriffenen zu rechtfertigen sucht, schwankt Gottsched merklich, ob er sich in dieser Meinung von seinem Gewährsmann Boileau loslösen soll und wählt den Ausweg, auf die Methode der Engländer hinzuweisen, die mit einzelnen Buchstaben den Namen anzudeuten pflegen. Doch darf der Satirenschreiber den Unmut der Betroffenen nicht fürchten, sondern muß ihm die Stirn zu bieten wissen. Soweit Gottsched, der — z.T. aus zweiter Hand (Dacier, Boileau) — von dem ungebundenen Spottgedicht handelt. Der Rückblick auf Gottsched läßt erkennen, daß Rabener, dem mehr die P r o s a s a t i r e vorschwebt, in seiner breitschichtigen und umständlichen Abhandlung nichts wirklich Neues sagt, wenn er das Pasquill mit der Satire nicht verwechselt sehen will, wenn er Neid und Rachsucht wie überhaupt persönliche Gehässigkeit als verunreinigte Antriebskräfte für die Satirendichtung verwirft. Darüber hinaus erstreckt sich seine Mahnung insofern, als auch ein jugendlicher „Mutwille" nicht als geeigneter und vertrauenerweckender Träger satirischen Erziehungswillens gelten kann. Doch begegnet er sich auf diesem übrigens wohlwollend bevaternden Streifzug gegen jugendlichen Übermut wieder mit Gottsched im Anpreisen des reifen Verstandes und der erfahrenen Einsicht. Im allgemeinen werde man beobachten, daß diese spottfreudigen Jünglinge „aufhören zu spotten, so bald sie anfangen zu denken". Ein wenig muß man auf den jungen Lessing des „Vademecums" vorausblicken, wenn Rabener vermerkt, daß durchweg gerade die jugendlichen Satiriker „in den gelehrten Kriegen das größte Lärmen machen", wie etwa auch dort, wo er mahnt, einem Geistlichen etwaige „Donatschnitzer" nicht allzu schwer anzukreiden. Als wesentliche Voraussetzung wird lautere und charaktervolle Gesinnung hervorgehoben. Denn „wer den Namen eines Satirenschreibers verdienen will, dessen Herz muß redlich sein". Er muß an die Tugend als Glücksgrundlage ehrlich glauben, muß über eine sittliche Stützung in echter religiöser Uberzeugung und in Achtung vor der weltlichen Obrigkeit verfügen. Das Verantwortungsbewußtsein des „rechtschaffnen überhaupt die charaktermäßige Würdigkeit erscheint für die schwierige Aufgabe des Satirendichters kräftig arbeitet und prägt sich gerade auch als p o l i t i s c h e

Mannes", dergestalt herausgeVerant-

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w o r t l i c h k e i t in kulturpatriotischem und z.T. auch nationalpädagogischem Sinne aus. Der Satirenschreiber „muß eine edle Freude empfinden, wenn er sieht, daß sein Spott dem Vaterlande einen guten Bürger erhält und einen andern zwingt, daß er aufhöre, lächerlich und lasterhaft zu sein". Sein Hineingestelltsein und sein Hineinwirken in die breite Öffentlichkeit darf niemals die das Volkswohl gefährdenden Möglichkeiten einer zersetzenden Wirkung außer Acht lassen. Besonders hat er unter diesem Blickpunkt Stände zu schonen, deren Ansehen gesichert bleiben muß um der öffentlichen Ordnung willen, so etwa Jugenderzieher und Geistliche. Mag sein Pfeil auch die persönlichen Schwächen solcher Männer der Erziehung sich zum Ziele wählen, so muß das Ansehen ihres Berufes doch unangetastet bleiben um der übergeordneten Pflicht willen, das Vertrauen der Jugend und der breiten Volksschichten unerschüttert zu bewahren. Die weltliche Obrigkeit muß überhaupt sichergestellt sein vor den Angriffen von Kritikastern, die sich nicht anmaßen dürfen, aus ihrem beengten Gesichtskreis, aus „ihrem finstern Winkel heraus die Position der politisch Leitenden begutachten zu wollen, da doch jene den Zusammenhang des Ganzen vor Augen haben". Bestenfalls kann ein derartiger, notwendig blinder Besserungseifer als „übereilter Eifer" verstanden, aber, weil er nur Schaden stiftet und überwiegend aus einer überheblichen Anmaßung erwächst, keinesfalls gebilligt werden. Rabener will also das Wirkungsgesetz des Satirischen in der Weise angewandt sehen, daß die Satire sowohl des Satirendichters als auch seines Volkes würdig bleibt. Die gesunde Grundhaltung Rabeners, sein schon von Klopstock anerkanntes Bemühen um Gerechtigkeit und eine entsprechende Dämpfung des satirischen Angriffsgeistes mögen dazu beigetragen haben, daß er in der literatursatirischen Komödien-Skizze Lenz* „Pandaemonium germanicum" verhältnismäßig glimpflich davonkommt — zwar, vom Stürmer und Dränger her gesehen, mit dem „Bauch" der launigen Behäbigkeit ausgestattet, der Raum braucht, „daß er bequemlich auslachen kann", und mit dem Zerrspiegel der Satire ausgerüstet, aber doch von Liscows rücksichtsloser Derbheit vorteilhaft abgehoben wird. Wesentlicher noch als diese Spiegelung in der Literatursatire des Sturmes und Dranges erscheint entwicklungsgeschichtlich der Umstand, daß für Rabener als charaktermäßige und gesinnungsmäßige Voraussetzung für den wertvollen Satirendichter eine m e n s c h e n f r e u n d l i c h e G r u n d e i n s t e l l u n g gilt. 11 •

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Im „ V o r b e r i c h t " zum vierten und letzten Teile seiner Satiren von 1755 hebt er hervor, daß es ihm darum gegangen sei, der Satire als dichterischer Sonderform ein „ehrwürdiges Ansehen zu erwerben" und sie von dem Vorurteile zu befreien, daß entstehen mußte, „so lange ein jeder boshafte Pasquillant behauptete, er schreibe Satiren". Nicht der boshafte, nicht der böswillige, sondern gerade der gutwillige, wohlmeinende Charakter verbürge eine Satire, die als „Freundin der Tugend" und Religion Anspruch auf Achtung und Beachtung machen dürfe. Nicht beleidigend, sondern betrachtend, nicht persönlich zugeschnitten, sondern allgemein gehalten müsse die gute und in ihrem psychologischen Untergrunde gütige Satire sein. Wohl dürfe und solle die Satire Schwächen und Fehler des Menschen, nicht jedoch den Menschen selber lächerlich machen. Und Rabener berichtet und bekennt in eigener Sache, damit zugleich das Verhältnis von Kunstwollen und Kunstschaffen berührend, daß es ihm durchweg weniger Mühe gemacht habe, bestimmte, erlebte und beobachtete Modelle in ihren Schwächen zu treffen, als sie nachträglich durch hinzugefügte Ergänzungszüge als Personen der Wirklichkeit „unkenntlich zu machen". Dieses humane Verfahren ist nur ein Ausschnitt aus dem Gesamtbilde jenes idealen Satirendichters, der trotz seines scharf beobachtenden kritischen Blickes „doch mit redlichem Herzen ein Menschenfreund sein könne" und im Sinne der kunsttheoretischen Forderung sein müsse. In gewissem Grade nähert sich Rabeners Theorie der Satire dergestalt schon einer Umschreibung des Humors, wie denn auch ganz entsprechend im Kunstschaffen sich seine Satiren z.T. der Humoreske nähern, weit stärker jedenfalls als bei Liscow. Im Grunde war er sich klar über die Unmöglichkeit, unter den damaligen Machtverhältnissen überhaubt echte Satiren schreiben zu können.

Der Lessing-Garvesche Raum Die Nähe zur Dichtung, wie sie bei Geliert und Rabener auch als Theoretikern in hohem Grade besteht, teils in dem Grade, daß die Theorie sich Schritt für Schritt der Schaffensart anpaßt, erscheint bei F r i e d r i c h N i c o l a i entsprechend gelockert. Aber als Kritiker schwebt ihm doch mittelbar stets das Verhältnis von theoretischer Forderung und praktischer Erfüllung vor. Sowohl die miltonfreundliche „Untersuchung, ob Milton . . . " (1753) wie

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die „Briefe über den itzigen Zustand der schönen Wissenschaften in Deutschland" (1755), die kunsttheoretische und kritische Hauptschrift des jungen Nicolai; sowohl die Mitarbeit an den „Literaturbriefen" wie die „Vorläufige Nachricht" zur „Bibliothek der schönen Wissenschaften .' . ." (1757): alle diese Beiträge stellen sich unmittelbar in den Dienst an dem dichterischen Schrifttum der Zeit und wollen angewandte und anwendbare Poetik bieten. Diese Poetik des jungen Nicolai — und nur der junge Nicolai kommt hier in Betracht — verspricht trotz aller Zwiespältigkeit mehr, als der ältere und vollends der alte Nicolai gehalten hat, der sich mehr und mehr in eine unfruchtbare Opposition verrannte. Allerdings, auch den jüngeren Nicolai sollte man nicht zu nahe an den Sturm und Drang heranrücken; denn der erkenntnismäßig erläuterte Geniebegriff ist noch keine erlebte Genievorstellung. Selbst der kunstverstandesmäßig erörterte Geniebegriff des jungen Nicolai wirkt noch in sich vielfach gebrochen und recht uneinheitlich. Und nicht jeder jugendliche Einschlag ist schon Sturm und Drang. Die überaus zahlreichen Einflüsse (Boileau, Batteux, Dubos, Shaftesbury, Breitinger, Baumgarten, Sulzer u. a.) und deren Ineinanderfließen und teilweises Gegeneinanderprallen führen zu entsprechend zahlreichen Widersprüchen. In der N a t u r n a c h a h m u n g s t h e o r i e steht Nicolai noch recht nahe bei Batteux und vollzieht nur zögernd eine leichte Schwenkung mit Hilfe der „Illusions"-Lehre, wonach die oberen Seelenkräfte sich der angenehmen Täuschung durch die unteren Seelenkräfte bewußt bleiben. Eine „schöne Nachahmung" der Natur ist etwa das Ergebnis. Und zwar ist nicht die Schönheit der Gegenstände allein maßgebend, sondern die Art ihrer Verarbeitung in der Darstellung (239. Lit.-Brief). Reine Phantasiegebilde gelten als bloße „Hirngespinste", und der Dichter darf „niemals" dem stürmischen Schöpferdrang bedingungslos folgen und nicht gleichsam „auf Gottes Rechnung Sachen erdichten". Ebensowenig darf die Einbildungskraft jemals dem überwachenden Verstände „davonlaufen". Dagegen mag eine leicht r e a l i s t i s c h e W e n d u n g beim jungen Nicolai spürbar werden, die jedoch nicht überschätzt werden sollte. Wie der Nachahmungsbegriff trotz vorbeugender Abwehr der „Mittelmäßigkeit" dennoch die „Mittelstraße" bevorzugt, so

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letztlich auch der moralästhetische Leitbegriff. Auf dramentheoretischem Gebiet erkennt die „ A b h a n d l u n g v o m T r a u e r s p i e l " ein krasses Sichwiderstreiten von Leidenschaf tsverlauf und sittlicher Forderung als notwendig nachteilig und wertsenkend. Ein Gegenmittel gegen solches Widerstreben und Auseinanderstreben sucht und findet Nicolai in einer „vernünftigen" Schilderung menschlicher Leidenschaften. Zwar widerlege die Erfahrung die „Grille", daß die „Schaubühne eine Sittenschule" sei (201. Lit.-Brief), was Lessing später einmal im Privatbrief ähnlich kritisch zum Ausdruck bringt. Aber mittelbar bleibe dennoch die moralische Wirkung bestehen, und zwar etwa im Sinne der Emotionstheorie (später z. B. Eberhard u. a.). Das Fortschrittlichste, was die „ B r i e f e ü b e r den i t z i g e n Z u s t a n d der s c h ö n e n W i s s e n s c h a f t e n in D e u t s c h l a n d " über den Geniebegriff bieten, ist der bekannte Satz: „Das Genie, die vivida vis animi ist die einzige Tür zu dem Vortrefflichen in den schönen Wissenschaften; Gelehrsamkeit und Arbeitsamkeit, mit der unsere schlechten Schriftsteller dasselbe ersetzen wollen, dienen nur, den Mangel desselben zu verraten" (Brief 18). Noch Gerstenberg kommt in den Schleswigischen Literaturbriefen bei seiner Bemühung um Klärung des Geniebegriffs nicht ganz aus ohne den Rückgriff auf die „Vivida vis animi" (Gerstenberg, Brief 20), wenn er auch darüber hinaus vordrängt. So trägt jener Satz Nicolais weit. Aber er trägt für Nicolais Kunsttheorie nicht entfernt die Früchte, die er zu verheißen scheint, ganz abgesehen davon, daß um 1750 herum auch beim ganz frühen Lessing ähnliche kecke Vorstöße zu verzeichnen sind. Einige frische Züge wahrt dennoch das Bild des jungen Nicolai. Die Musternachahmung wird vom Originalitätsstandort aus abgewehrt, ebenso die Verbindlichkeit der Gesetze des Aristoteles. Das jugendliche Lebensalter spielt merklich mit. Wenn auch mehr eine bloße Selbständigkeit als eine spezifische Originalitätswertung der Originalgenies gemeint ist, so kann man doch — trotz Fr. v. Hagedorns Vorgängerschaft — nicht einfach an einem Satz vorbeisehen wie etwa: „Oh — wenn doch kein Dichter Empfindungen ausdrücken wollte, die ihm fremd sind", wo also schon die Erlebnisdichtung ahnungsvoll herüberzuschimmern scheint und andererseits vielleicht doch nur eklektisch irgendeine fremde Anregung (Bodmer, J. A. Schlegel) aufgenommen wurde.

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Eine eigentliche Erklärung für diese unzeitgemäßen Betrachtungen gibt die Sonderforschung nicht. Es hält schwer, sie zu finden, wenn auch nach der weitverzweigten Vorgängerschaft und nach ähnlichen Ansätzen von den verschiedensten Seiten derartige — oft nur psychologische — Einschläge gefühlsmäßiger Art in der Aufklärungs- und Auflockerungsstruktur nicht mehr als wirkliche Ausnahmen befremden und überraschen können. Auslandseinflüsse, die durch psychologisches Interesse gegebene Blickrichtung auf den Produktionsvorgang und das Wesen des Dichters sind als motivierende Zeitkräfte in Rechnung zu stellen, während nach der individuellen Seite der Hinweis auf eine typisch jugendliche Haltung naheliegt. Darüber hinaus sei erweiternd zur Erläuterung der Umstand berücksichtigt, d a ß N i c o l a i O p p o s i t i o n s n a t u r um j e d e n P r e i s g e w e s e n z u s e i n s c h e i n t . Man könnte deuten: wie er in späteren Jahren gegen jede neu aufkommende Richtung (Geniezeit, Klassik, Romantik) zu Felde zog, so hatte überhaupt sein Geltungsstreben, hinter dem keine entsprechende geistige Größe stand, eine stark oppositionelle Färbung. Nicolai möchte sich abheben. So eben in seinen Anfängen von der Gottschedgruppe. In gewissem Grade bestätigt wird diese Annahme durch die Beobachtung, daß Nicolai gelegentlich im Angriff auf Gottsched zu jener Geniebetonung gelangt, so etwa im zweiten der „Briefe". Überhaupt stehen die „Briefe" in stetigem Abwehrkampfe gegen Gottsched, aber auch gegen die Schweizer. Indessen, in gemäßigter Form polemisierte schon B r ä m e r (1744) gegen beide Kampfgruppen. Und neuartige Klänge waren zwei Jahre vor Nicolais „Briefen" bereits in C u r t i u s ' Abhandlungen vernehmbar gewesen. Die innere Gegenwehr gegen den äußerlich schon recht weitgehend umschriebenen Geniebegriff Nicolais geht merklich aus vom rationalistischen Ordnungsbegriff, und zwar von dessen kunstverstandesmäßiger Ausprägungsform und Spielart, dem Anordnen. So großzügig auch immer das Freimachen des Genies vom Regelzwang erfolgt, so erlösend auch immer das Freimachen des künstlerischen Genies von der Gelehrsamkeit sich auszuwirken verspricht: so unverrückbar behauptet sich die Vorstellung des Schöpfungsprozesses als eines Vorganges p l a n v o l l e r K o m b i n a t i o n . Der „Plan eines Werkes", den die „Beurteilungskraft" zu überwachen hat, die „Bildung des Planes", die das echte „erhabene Genie" abhebt vom „mäßigen Genie", die Möglichkeit,

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daß das Genie „durch seinen Plan" und eine entsprechende „Ausführung" dieses Planes „ein Original werden" kann: sie sind unabdingbare Forderungen an das Genie, wie sie unerläßliche Attribute des Genies sind. Eine zweite Gegenkraft, die trotz der sensationellen Glanzlichter der Geniedefinition Nicolais nicht übersehen werden darf, ist die Unterordnung des Genies unter die Kritik. Anders als etwa Joh. A. Schlegel wahrt Nicolai das Recht der Kritik, und zwar auch gegenüber dem Genie, obgleich die „Vorläufige Nachricht" (1757) wenigstens ein Abschrecken des Genies durch Kritik zu vermeiden beabsichtigt. Das unausgeglichene S c h w a n k e n z w i s c h e n Geniebef r e i u n g u n d G e n i e b e g r e n z u n g legt die Vermutung nahe, daß einige verstandesmäßig erkannte Wesensattribute des echten Genies wohl angenommen, aber nicht irgendwie erlebnismäßig erarbeitet worden sind. Daher wird derselbe Weg zum Geniebegriff, den jene kühneren Einzelvorstöße verheißungsvoll zu öffnen scheinen, sogleich wieder mit einer ganzen Reihe von Warnungstafeln verbaut. Daher wird das „Genie" ermahnt, „nicht die Einfälle einer enthusiastischen Stunde zur Wirklichkeit bringen zu wollen" (17. Brief), daher die Besorgnis angesichts der ersten „Hitze", daher die Rückversicherung beim „bon sens". Nicolais Jugendlichkeit, sein damals zur Fortschrittlichkeit zwingender Oppositionsgeist, das Sichgetragenfühlen von ausländischen, besonders englischen Einflüssen verbinden sich, um ihn ein paar kecke Schritte voranzubringen. Aber dem kritisch überprüfenden Blick werden schon in diesen Ansätzen nicht die gleichzeitig gegebenen Hemmkräfte entgehen, die dann beim späteren Nicolai die Herrschaft an sich reißen. Noch etwa ein Jahrzehnt nach den „Briefen" sucht Nicolai Schritt zu halten mit der Entwicklung. In der „Allgemeinen Deutschen Bibliothek" bemüht sich z. B. die R e z e n s i o n über das Gedicht eines Skalden (1767), den Geniebegriff weiter voranzutreiben und die Regelentwertung fortzuführen. Bemerkenswerter noch wird der dort erhobene Ruf nach einem „nordischen Ariost" und die positive Einstellung zur Frage der dichterischen Verwendbarkeit der nordischen Mythologie. Wenn auch diese Rezension die lebhafte Aufgeschlossenheit des jüngeren Nicolai für damals zeitbewegende Fragen bekundet, die frühzeitig aufgeworfen worden waren in Gottfried Schützes Verteidigungsschrift einer achtbaren Kulturstufe der „alten Deutschen" (1746), so wird man sie dennoch im Rahmen des

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Gesamtbildes Nicolais kaum für mehr ansehen können als eine ein wenig m o d i s c h e A n g l e i c h u n g an die zeitparallele Bewegung der Bardendichtung und als ein bloßes Aufgreifen der um ein Jahrzehnt zurückliegenden Hinweise Henri Mallets u. a. Jedenfalls würde es Nicolai eher halten mit dem Nationalsinn des Pastors G. Schütze als mit dem ausgesprochen religiös-kirchlichen Sinn, der mit J. D. M. (wahrscheinlich Joh. Daniel Müller) gezeichneten „Vernünftigen Gedanken über die Anrufung der . . . heidnischen Götter in der heutigen Dichtkunst" (1746), die unter Berufung auf Buschka ebenso umständlich wie unerbittlich den altvertrauten Kampfgang mit den heidnischen Göttern weiterführen mit Waffen der Vernunft und des guten Geschmacks, aber vor allem doch aus christlichem Glaubenseifer. Etwa zur Zeit der „Briefe" des jungen Nicolai und der GenieAbhandlung des jungen Sulzer bietet der Mitarbeiter an den „Literaturbriefen" und der „Allgemeinen Bibliothek" Nicolais M a r t i n R e s e w i t z seinen Beitrag zur Vorbereitung des Geniebegriffs, und zwar besonders in seinem „ V e r s u c h ü b e r d a s G e n i e " (1759). In der Aufmachung weniger sensationell als der junge Nicolai, scheint Resewitz ernstlicher untersuchend über Baumgarten hinauszustreben, indem er die anschauende Erkenntnis auch den oberen Seelenkräften, auch der Vernunft, zuerkennt. Aber es ist fraglich, ob das auf eine höhere Wertung der Dichtung und ihrer Möglichkeiten abzielt. Und es ist weiterhin fraglich, ob dieser philosophische Achtungserfolg für die Entfaltung des Dichterischen günstig sein konnte in einer Epoche, die an sich schon eine nur allzu vernünftige Dichtung bevorzugte. Ebenso ist es gewiß beachtenswert, wenn Resewitz neben der Wendung „Genie haben" s c h o n die Z u s a m m e n s t e l l u n g „ G e n i e s e i n " k e n n t . Aber es ist trotz einiger beachtlicher Äußerungen zweifelhaft, ob Resewitz mit dieser Fassung „Genie sein" schon eine vertiefte Auffassung vom Genie verbunden hat. E s ist d o c h r e c h t k e n n z e i c h n e n d , d a ß er w o h l d a s „Genie haben" näher erläutert, nicht aber das „Genie sein". So wird Genie doch wieder zu einer Geschicklichkeitsanlage, zu einer Fähigkeit, und zwar für Resewitz vor allem zur Fähigkeit anschauender Erkenntnis. Das Auswerten distinkter Begriffe und Vorstellungen für das anschauende Erkennen, das Resewitz für möglich hält, ist schwieriger und eben deshalb verdienstvoller und seltener als das Aus-

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werten sensitiver Vorstellungen. So steht der geniale Mathematiker schließlich im Rang höher als der geniale Dichter, da das eigentlich Schöpferische nicht erfaßt wird. Der Wert des Unbewußten wird recht eigentlich noch mehr angestaunt als ein Kuriosum, nicht aber in seiner Bedeutung erkannt und anerkannt: „es gibt selbst Genies, welche auf den Weg nicht merken, den ihre Seele nimmt". Die jeweils vorherrschende „Fähigkeit", die sich mit leichter Auffassungsgabe verbinden muß, bestimmt die Richtung des Genies und verbürgt zugleich die erforderliche Konzentration. Die. Meinung, daß das Spezialgenie neben seiner tätigen und vorherrschenden Fähigkeit gleichzeitig eine gewisse gesteigerte Aufgeschlossenheit für andere Gebiete aufweise, erinnert an Lessings Bemerkung, daß ein wahres Genie zugleich ein berufener Kunstrichter zu sein vermöge. In gewissem Grade hebt Resewitz bereits das Genie ab vom Talent, dem ähnlich wie bei Garve mehr die kunsttechnisch ausführende Funktion zufällt. Die Schnelligkeit des Konzeptionsvorganges nach Auffindung des Motivs wird von Resewitz bereits berücksichtigt, aber noch nicht im Sinne der Geniezeit ausgedeutet. Im W e r t v e r h ä l t n i s v o n E r f i n d u n g u n d F o r m u n g scheint er die Erfindung höher zu stellen. Besonders gilt das von den Ur-Erfindungen, an denen die frühen Dichter notwendig reicher sein konnten als die späteren. Wer noch in der neueren Zeit „einer Erfindung den Anfang gibt und sie zugleich auch zur (gestaltungsmäßigen) Vollkommenheit bringt . . . der muß gewiß ein seltenes und großes Genie sein". E s läßt aufhorchen, wenn Resewitz gerade an dieser Stelle von „Genie sein" und nicht von „Genie haben" spricht; aber weitergehende Schlüsse darf man schwerlich daraus ziehen. Und wenn Leop. Aug. U n z e r , der in seiner Darstellung „Über den Wert einiger deutschen Dichter" (1771) z. B. Geliert das Genie absprach, definierte: „das Genie besteht hauptsächlich in der Kraft zu schaffen", so kommt ihm sicher der Erwerb der Geniezeit zur Hilfe. Die Genie-Abhandlung Resewitz' wurde im Rahmen der „ L i t e r a t u r b r i e f e " von Moses M e n d e l s s o h n kritisch gewürdigt. Und die philosophische Anlage und Vertiefungsbemühung dieser Rezension erinnert sogleich daran, daß man Mendelssohns Beiträge nicht zum wenigsten im Bereiche einer „philosophischen Poetik" und p s y c h o l o g i s c h e n Ä s t h e t i k auf der Linie zwischen Baumgarten, Meier, Sulzer, Riedel und Kant wird erwarten

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dürfen, etwa in der Vorbereitung des „interesselosen (uninteressierten) Wohlgefallens", im Ausgleichsstreben der unteren und oberen Seelenkräfte, Ausbau der Lehre vom „Vergnügen" unter Zuhilfenahme der Emotions-Psychologie u. a. m. An dieser Stelle dagegen sind zunächst einmal seine B e i t r ä g e z u r a n g e w a n d t e n P o e t i k und Kunsttheorie im engeren Sinne zu würdigen, also etwa seine Vorarbeit für den „Laokoon" Lessings, besonders durch Vermittlung und verfeinernden Ausbau der Zeichenlehre, seine Mitarbeit an der Diskussion über den Zweck und das Wirkungsziel des Trauerspiels und des Dramas im weiteren Sinne, seine Lockerungsbestrebungen der einseitigen Moralgebundenheit der Poesie (theatralische Sittlichkeit), sein — zwar etwas spät unternommener — Versuch einer Theorie der Lyrik, besonders der lyrischen Arten, oder auch seine Stellungnahme zum Geniebegriff, zum Verhältnis von Dichterschaffen und Regelgeltung. Um jedoch vorerst bei der Genievorstellung zu bleiben. Im V e r h ä l t n i s v o n D i c h t e r s c h a f f e n u n d R e g e l g e l t u n g erfährt die Autorität der Regel eine ähnliche Abschwächung wie der Primat der Moral im Verhältnis von Lebenssittlichkeit und „theatralischer Sittlichkeit". Eine Auflockerung älterer Dogmen wird in einem fortschrittlichen Sinne angestrebt. Doch geschieht dies bedeutsamer als in der Moralfrage, weil das Problem Mendelssohn noch zu wenig erhellt erscheint: „Unsers Wissens haben die Kunstrichter noch sehr wenig daran gedacht, die Grenzen des Genies und der Regeln auseinanderzusetzen". In den Briefen „ Ü b e r die E m p f i n d u n g e n " (1755), die zeitlich parallel liegen mit Nicolais „Briefen über den itzigen Zustand der schönen Wissenschaften . . . " und — Winckelmanns „Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke . . . " ( ! ) , wirft Mendelssohn die Frage auf, warum manche „Epopoen", obgleich regeltreu gebaut, dennoch kein rechtes Gefallen zu erregen vermögen. Die Antwort, daß eben Regeln schlechtweg nichts taugen, erscheint dem behutsamen kritischen Verfahren Mendelssohns zwar als zu übereilt. Aber er will Regeln und theoretische Erwägungen nicht als entscheidende Hilfsmittel, sondern nur als „Vorbereitungen" gewertet und verwertet sehen. Denn „die Regeln sind Vorbereitungen, dadurch der Dichter sich selbst und seinen zu bearbeitenden Gegenstand in die Verfassung setzen soll, die Schönheiten in ihrem mächtigsten Reize zu zeigen. B e i der A u s a r b e i t u n g m u ß er

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s i c h h ü t e n , sie a l l z u d e u t l i c h v o r A u g e n z u h a b e n " . Die Ausgabe von 1771 der Briefe „Über die Empfindungen" schaltet noch den Satz ein „Als Vorbereitungen können sie dem Virtuosen ersprießliche Dienste leisten, aber in der Hitze der Ausarbeitung müssen sie ihn nicht stören". Das Hinüberwirken der Regeln auf die Einbildungskraft „nur gleichsam von ferne" (Fassung: 1755) wird jetzt (Fassung: 1771) näher erläutert, und zwar in dem Sinne, daß die Regeln während des Schaffensvorganges „die Einbildungskraft nicht in Zügel halten", sondern nur fürsorglich aus der Ferne ihren Weg zu überwachen haben, um ein Abirren der Phantasie zu verhindern. Und die zuversichtlichere Meinung, daß die Regeln, dergestalt angewandt, den „Mangel eines außerordentlichen Genies ersetzen" könnten (1755), weicht der vorsichtigeren Bemerkung, daß die so gehandhabten Regeln „das geringere Genie dem größern an die Seite setzen" könnten (1771). Also nur eine den Grad der Begabung steigernde Beihilfe der Regeln bleibt anerkannt. Das Grundwesen der Begabung jedoch gilt nun nicht mehr als durch eine bloße Regelhilfe abwandelbar. Es bestätigt sich am Sonderfalle im Vergleichen der beiden Fassungen, daß inzwischen von anderer Seite die Geltung der Regeln weiter eingeschränkt worden war und daß Mendelssohn diesen Zuwachs an kunsttheoretischen Erkenntnissen erkennt und auswertet. Ebensowenig indessen wie Lessing läßt er sich von der übermächtigen Welle des Geniekultus zu einer bedenkenlosen Gläubigkeit gegenüber einer schlechtweg regelfreien oder gar gesetzlosen Genialität gefühlsmäßig mitreißen, eine Haltung, die Lessing etwa auch dem jungen, von ihm, Leibniz und Mendelssohn beeinflußten K. W. Jerusalem zuschrieb und zwar wohl doch nicht nur, um das Vorbild vom Abbild („Werther") gewinnend abzuheben. Vielmehr läßt er noch 1771 — nach Hamanns Eingreifen und Herders Jugendwerken — die alte Einschränkung bestehen, daß die Regeln „den Dichter das l e h r e n " könnten, „was sein Geist vielleicht zu klein war, zu erfinden". Das bleibt aus der Fassung von 1755 offenbar bewußt als aufklärerischer Wellenbrecher mitten im Sturm und Drang, im Jahr des Urgötz und der junggoetheschen Rede zum Shakespearetag. Man tut nämlich gut, sich hin und wieder an die z e i t l i c h e Ü b e r s c h n e i d u n g zu erinnern, die bei Sonderuntersuchungen vielfach außer Beachtung gelassen wird. Die Briefe „Über die Empfindungen" lagen im Jahre der „Miß Sara Sampson"; ihre zweite

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Fassung jedoch im Jahre der ersten Fassung des „Götz". Trotzdem wäre es verfehlt, kurzweg eine bloße Rückschrittlichkeit zu vermuten. Denn zeitlich weit früher lagen Bemerkungen wie etwa die ausdrückliche Ermahnung an den allgewaltigen Kunstrichter „Hat der Dichter Genie genug . . . . so macht sich der Kunstrichter lächerlich, wenn er . . . nach Regeln urteilt, über die sich der Dichter weit hinweggesetzt hat". Etwas irgendwie Umstürzendes bringt Mendelssohn damit zwar nicht; denn ganz ähnliche Wendungen begegnen z. T. zeitlich früher bei Geliert und dem jungen Lessing (Berliner Rezension). Aber im Vorbereitungsstadium der Genievorstellung darf (1759) auch diese Prägung nicht übersehen werden. Der allmählich sich Bahn brechende Geniebegriff hatte noch manche Hemmung zu überwinden. Und Mendelssohn war weder geeignet noch gesonnen, kämpferischer Wegbereiter zu sein für jene teils fraglos übersteigerte Genievorstellung der Geniezeit. Er war auch als Philosoph kein Genie, kein „zweiter Spinoza", den einst der jüngere Lessing in ihm erhofft hatte. Aber er war verdienstvoll beteiligt an einer p s y c h o l o g i s c h e n U n t e r g r ü n d u n g d e r P o e t i k , wie sie schon der wenig bekannte und genannte Poetiker Brämer etwa ein Jahrzehnt vor den Briefen „Uber die Empfindungen" erhofft hatte. Und darin lag gewiß keine geringe Leistung. Denn was uns (von der methodisch geschulten und anerzogenen historischen Einfühlung abgesehen) schon rein stimmungsmäßig oft uneingestanden und unerkannt befremdet an Bekundungen der Kunsttheorie, und zwar auch noch der „kritischen" Poetik im Gottschedischen Räume und darüber hinaus, das erklärt sich nicht zum wenigsten aus einem merklichen Mangel an psychologischer Grundlegung. Mag man auch diese Bemühungen Mendelssohns besser im Abschnitt über die philosophische Poetik würdigen, auch für die angewandte Poetik war dieses Zurückgehen auf die psychologischen Voraussetzungen keineswegs unfruchtbar. Und man darf vielleicht sagen: wie Lessing die Regeln zurückgeführt hat auf das Gesetz, wie er die Voraussetzungen kritisch überprüfte, so trug Mendelssohn wesentlich dazu bei, die psychologischen Voraussetzungen und Vorbedingungen kritisch zu überprüfen. Die Leistung Baumgartens bleibt dabei ungeschmälert, ebenso die Leistung Sulzers. Was nun jene kritisch bedachtsame Einstellung zum Geniebegriff angeht, jene offenbar bewußt abbremsende und abdämp-

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fende Art, kunstverstandesmäßige Hemmungen und Widerstände einzubauen, so muß bei der gerechten Einschätzung dieser unleugbar vorhandenen Erscheinung berücksichtigt werden, daß auch eine an sich kämpferisch gestimmte und bestimmte Natur wie Lessing sich in dieser Hinsicht offensichtlich ganz bewußt dem „Neuen" versagte. Beide waren sich im Klaren über die zeitweise ernstlich drohende Gefahr eines Überranntwerdens a l l e r Gesetze und a l l e r davon abgeleiteten Regeln durch das jugendliche Ungestüm der „Genies". Und entspricht nicht schon die Genievorstellung der Klassik wiederum weit mehr jenen Anschauungen Lessings oder Mendelssohns oder Garves oder Sulzers als etwa den Ausgeburten des Genieapostels Kaufmann oder selbst Lavaters? Und stimmt nicht auch unsere moderne Genievorstellung weit eher mit jenen besonnen abwägenden Begrenzungen überein ? Es geht eben nicht an, in kulturgeschichtlicher oder auch nur geistesgeschichtlicher Würdigung des Neuerwerbs einer Epoche oder einer Reihe von bedeutenden Persönlichkeiten in dieser Epoche immer nur den Blick starr auf die zunächst folgende Entwicklungsstufe zu richten. Vielmehr läßt oft schon ein orientierendes Vorausblicken auf die „übernächste" Stufe oder richtiger vielleicht auf die entsprechende (d. h. eine Entsprechung bringende) Rückwendung der Entwicklungsspirale mühelos erkennen, daß die anfangs ins Auge springende Entgegensetzung inzwischen durch eine organische Umsetzung dann doch wieder in gewisser Weise zu einer Fortsetzung der früheren Erkenntniserträge umgebildet worden ist. Ein Beispiel dafür, wie eine scheinbare Entgegensetzung zugleich doch eine Fortsetzung durch Umsetzung sein kann, bietet etwa die Art, wie K a r l P h i l i p p M o r i t z als einer der bemerkenswertesten Träger des Kunstwollens der Klassik im Rahmen kunsttheoretischer und allgemein ästhetischer Besinnung und Wegbereitung gelegentlich seines „Versuches einer Vereinigung aller schönen Künste und Wissenschaften unter dem Begriff des in sich selbst Vollendeten" (Berliner Monatsschrift, 1785) sich kritisch auseinandersetzt mit Mendelssohns Aufstellung des Wirkungszieles „Vergnügen" (gegenüber der Batteuxschen Naturnachahmungstheorie). Selbst das „Vergnügen" Mendelssohns schien ihm immer noch zu zweckbestimmt und mittelbar zweckgebunden. Doch wird darüber bei der Darstellung des Kunstwollens der deutschen Klassik Näheres zu sagen sein. Hier kam es nur darauf an, eine der Spuren solcher Fortsetzung durch Ent-

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gegensetzung anzudeuten, die von der Aufklärung über den Sturm und Drang hinweg zur Klassik hinübergreift. Mendelssohns Konzeption bot K. Ph. Moritz eine Stufe, auf der er und über die hinweg er leichter die Höhenschicht der Konzeption des „In sich selbst Vollendeten" erreichen konnte. Obgleich selbst zeitweise im Sturm und Drang stehend, knüpfte er (wenngleich polemisch) bei einem der Auflockerer (im engeren Sinne der Zweck-Auflockerer) an, nicht bei einem Stürmer und Dränger. In gewissem Grade waren auch die Vorstellungen über das Genial-Schöpferische der Klassik wirksamer an die Vorarbeit der Auflockerer (innerhalb der Aufklärung) anzuknüpfen als an die Genieumschreibung der Geniezeit. Ganz abgesehen davon darf in diesem Zusammenhange darauf hingewiesen werden, daß rein kunstverstandesmäßig manche der Äußerungen über das Genie innerhalb der Auflockerergruppe definitionsmäßig klarer erscheinen als die begeisterten Aussprüche und Ausbrüche der Geniezeit selbst. Und zu diesen Äußerungen müssen auch Mendelssohns Umschreibungen des Geniebegriffs gezählt werden. Eine wesentliche V o r a r b e i t f ü r den „ L a o k o o n " Lessings hat Mendelssohn nicht ausschließlich, aber vor allem doch durch die sogenannte Z e i c h e n l e h r e und deren Einbaufähigkeit in die angewandte deutsche Kunsttheorie und Poetik geleistet. Zwar als eigener Erwerb Mendelssohns kann die Lehre von den „Zeichen" mit ihrer U n t e r s c h e i d u n g v o n n a t ü r l i c h e n u n d w i l l k ü r l i c h e n Z e i c h e n nicht gelten. Als Unterscheidungskriterium für die Sonderkünste war sie bereits benutzt worden von D u b o s in dessen „Réflexions critiques sur la poésie et la peinture" (1719). In England begegnet sie vor allem bei Shaftesburys Neffen J. H a r r i s in dessen „Three treatises, concerning art, music, painting and poetry, happiness" (1744, Harris „Discourse" wurde 1756 ins Deutsche übersetzt). Schon Oskar Walzel konnte darauf hinweisen, daß der Einfluß Harris' auf Lessings „Laokoon" über3chätzt worden sein dürfte und daß Lessing dasjenige, was „sich mit Harris berührt", bereits in einem Aufsatze Shaftesburys hätte finden können. Was die Zeichenlehre betrifft, so greift sie in Deutschland nach allgemeinen Ansätzen bei Chr. Wolff vor allem G. Fr. M e i e r , der Popularisator Baumgartens, auf in seinen „Anfangsgründen aller schönen Wissenschaften und Künste" (1748/50) und baut sie bereits in voller Breite ein in seinen w e n i g b e a c h t e t e n und kaum (auch von O. Walzel nicht) genannten „ V e r s u c h

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e i n e r a l l g e m e i n e n A u s l e g u n g s k u n s t " (1757). Etwa gleichzeitig erörtert sie M e n d e l s s o h n in seinen „ B e t r a c h t u n g e n ü b e r die Q u e l l e n . . . der s c h ö n e n K ü n s t e u n d W i s s e n s c h a f t e n " (1757/58) und in deren zweiter Fassung, den „ H a u p t g r u n d s ä t z e n der s c h ö n e n K ü n s t e und W i s s e n s c h a f t e n " (1761). Von diesem Werke Mendelssohns aus wirkt die Zeichenlehre weiter hinüber auf Lessings „Laokoon" (1766) und auf Herders „Kritische Wälder" (1769), wo sie, teils unter Zurückgreifen auf Harris' Vorarbeit, eine wesentliche Vertiefung erfährt. Erst durch Mendelssohns Vermittlung und verfeinernden Ausbau also hat die Zeichenlehre bestimmenden Einfluß auf wesentliche Werke zur Kunsttheorie gewonnen; denn ebenso wesentlich wie der „Laokoon" für die Kunsttheorie innerhalb der Aufklärung wurden Herders „Kritische Wälder" für die Kunsttheorie der Geniezeit. Nach Mendelssohns Definition handelt es sich um „natürliche" Zeichen dann, „wenn die Verbindung des Zeichens mit der bezeichneten Sache in den Eigenschaften des Bezeichneten selbst gegründet ist . . . hingegen werden diejenigen Zeichen willkürlich genannt, die vermöge ihrer Natur mit der bezeichneten Sache nichts gemein haben, aber doch willkürlich dafür angenommen worden sind". So galten etwa Farbe, Linie, Ton, Gebärde, tänzerische Bewegung als n a t ü r l i c h e Z e i c h e n (Bildkunst, Tonkunst, Tanzkunst), dagegen die artikulierten Töne der Sprachen, die Wörter, aber auch die Buchstaben der Schrift als w i l l k ü r l i c h e Z e i c h e n (Dichtkunst, Redekunst). Doch bleibt Mendelssohn nicht bei den Grundformen der Zeichenlehre stehen, wie denn J. Harris schon Zwischenformen kannte. Vielmehr sucht er einen Ausbau im wesentlichen dadurch zu gewinnen, daß er neben den gröberen Grundformen auch die feineren G r e n z f o r m e n u n d Ü b e r g a n g s m ö g l i c h k e i t e n berücksichtigt, so etwa die Allegorie in der Bildkunst, die Lautmalerei in der Wortkunst u. a. Sein ausgeprägter S i n n f ü r die A u s n a h m e n erweist sich als geeignet, auch den subtileren Spielarten gerecht zu werden. Und sein Spürsinn für „vermischte Empfindungen" ist merklich mit am Werke, wenn er den Mischformen und Zwischenstufen seine Aufmerksamkeit zuwendet. Durch diese gerechte Berücksichtigung der Zwischenstufen und Übergangserscheinungen, die ihm allerdings teilweise durch seine Gewährsmänner erleichtert worden sein mag, entgeht

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er von vornherein der Gefahr der Erstarrung, von der Lessing im „Laokoon", wie bald schon der junge Herder erkannte, nicht so ganz freigeblieben ist. Und diese Einfühlungsfähigkeit in die Ausnahmen ist es denn auch nicht zum wenigsten, die der junge Laokoon-Kritiker Herder an Mendelssohns behutsamer Art begrüßt. Auf der anderen Seite hindert dieser ausgesprochene Sinn für die Ausnahme, für das leicht Übersehene, Übergangene und Vernachlässigte Mendelssohn daran, nun etwa selbst klare, handliche Formeln für die angewandte Poetik aufzustellen. Der Blick für das zunächst einmal Wesentliche und Brauchbare und Erforderliche ist beim Kritiker Lessing offensichtlich klarer, während er bei dem auf Feinheiten bedachten Psychologen Mendelssohn leicht getrübt oder doch abgelenkt erscheint durch den Seitenblick auf Stufungswerte und Nebenwerte. Das gilt nicht nur für diesen Sonderfall (vgl. etwa auch den Befreiungsversuch vom Naturnachahmungsprinzip Batteux'). Das liebevolle Eingehen auf das Besondere hilft ihm jedoch einen Fund zu machen, der auch für die angewandte Poetik im Sinne der Auflockerung erstarrter älterer Lehren recht bedeutsam werden sollte: das Herauslösen einer besonderen, wie Mendelssohn sagt „theatralischen Sittlichkeit" aus der Umklammerung des übermächtigen moralpädagogischen Prinzips. Mendelssohn ist — soweit ich sehe — der erste, der eine „theatralische Sittlichkeit" m i t p h i l o s o p h i s c h e r B e g r ü n d u n g unterscheidet von der allgemein verbindlichen Lebenssittlichkeit. Die Art, wie das geschieht, ist um so bemerkenswerter, als die Leidenschaften als Wuchsgrund für jene theatralische Sittlichkeit anerkannt werden: „Die S c h a u b ü h n e h a t i h r e b e s o n d e r e Sittlichkeit. Im Leben ist nichts sittlich gut, das nicht in unsrer Vollkommenheit gegründet ist; auf der Schaubühne hingegen ist es alles, was in der heftigen Leidenschaft seinen Grund hat". Es geht hier nicht mehr um jenes Ausweichen der älteren Poetik (und besonders der Vorwort-Poetik) in die bloße Deckung einer harmlosen dichterischen Fiktion, besonders mit Bezug auf die Lyrik (Liebesgedichte galanter, schäferlicher, späterhin rokokohafter Formen). Es geht allen Ernstes um eine Verselbständlichung der künstlerischen, im Sonderfalle der bühnenmäßigen dramatischen Sittlichkeit. Und zwar wurde sie von Mendelssohn bereits in den Briefen „Über die Empfindungen" vollzogen. Für die angewandte Poetik wurde so der Dichtkunst ein freierer Entfaltungsraum jenseits der moral12 M a r k w a r d t , Poetik II

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pädagogischen Kriterien erkämpft. Es darf dieses Vorgehen nun aber nicht dahin mißdeutet werden, als ob Mendelssohn großzügig hinsichtlich der Moralität verfahren wäre. Das lag dem Moralphilosophen durchaus fern. Vielmehr sollte zunächst einmal der Zuschauer geschützt werden vor Irrlehren oder moralisch bedenklichen Eindrücken der Bühne, dadurch, daß ihre Befolgung oder Nachahmung oder praktische Auswirkung im Leben (etwa hinsichtlich des Selbstmordes, um den die Erörterung geht) verworfen und verhindert werden sollte. Bereits dieses merkliche Bemühen, den Zuschauer vor etwaigem sittlichem Schaden zu bewahren — und die mittelbaren Wirkungen von Goethes „Werther" bestätigten zum mindesten für die epische Wirkungsform, daß derartige Verwirrungen tatsächlich vom Kunstwerk ausgehen konnten — erinnert daran, daß wir in Mendelssohn nicht nur den Psychologen und Ästhetiker, sondern auch und nicht zuletzt den Moralphilosophen vor uns haben. Und gerade dieser Moralphilosoph war es, der die „theatralische" Sittlichkeit abgehoben wissen wollte von der Lebenssittlichkeit. Nicht, weil er besonders großzügig gewesen wäre — Großzügigkeit oder auch nur Großlinigkeit steht seinem bedachtsamen, subtil prüfenden Wesen wenig zu Gesichte — sondern gerade umgekehrt, weil er die Lebenssittlichkeit behüten wollte vor übermächtigen und unmittelbaren (oder auch nur mittelbaren) Übergriffen von der Bühne her. Eine säuberliche Trennung schien diese Gefahr zu bannen. Auch der Wert der Musik wird nach ihrem „Nutzen in der Moral" abgeschätzt. Und was die Poesie insgesamt betrifft, so ist zwar ihr moralisches Vermögen größer als das der Musik, die man deshalb nicht von der Poesie trennen darf, wenn anders sie wenigstens einen gewissen Moralwert behalten soll. Jedoch gemessen am sittlichen Range der Philosophie gilt die Poesie b e s t e n f a l l s als eine M o r a l p h i l o s o p h i e z w e i t e r Klasse. Mendelssohn hält im Grunde die Dichtkunst, da sie doch nur im Räume der halbdunklen, wenngleich lebhaften Vorstellungen bzw. Seelenkräfte geboren wird (das Zusammenwirken von unteren und oberen Seelenkräften ist erst ein Ideal, um das M. ringt), nicht ernstlich für fähig und nicht vollgültig für berufen, die volle Leuchtkraft des Ethischen auszustrahlen. Kurz, er empfindet die Dichtkunst als unzulängliche, unvermögende oder doch nicht ganz ausreichende und den strengeren Ansprüchen nicht genügende Trägerin schwerwiegender ethischer Forderungen. Damit ist er wesentlich und wesenhaft entfernt von

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Schillers immer neu umworbenem Glauben an eine wertsteigernde Synthese aus dem Ethischen und Ästhetischen. Aber was auch immer im Einzelnen im Räume der philosophischen Poetik die Gründe waren und sein mochten, die ihn eine Deckung von Moral der Kunst und Moral des Lebens verneinen ließen: für die angewandte Poetik ergab sich eine Auflockerung der moralischen Zweckbindung als zunächst einmal fortschrittlich gedachte Folgerung. Die Situation wird vielleicht deutlicher, wenn man die Stufung so erläutert: wie die Religion die Moralphilosophie nicht als gültige Vertretung einer christlichen Ethik und damit für sie einer Ethik schlechthin anerkannte, ebenso verfuhr die aufklärerische Moralphilosophie mit der Poesie. Was jedoch für die Dichtkunst dabei an Positivem gewonnen wurde, war ein gewiß wertvolles Stück Freiheit, das später von K. Ph. Moritz (auch gegenüber Mendelssohn) noch wesentlich weiter ausgebaut und ideelich vertieft wurde im Sinne einer erhöhten Zweckfreiheit. Auf dem Sondergebiete der G a t t u n g s t h e o r i e sind Mendelssohns Beiträge zur Theorie der dramatischen Wirkungsform bekannter als seine Beiträge zur Theorie der Lyrik. Zunächst sah Mendelssohn das W i r k u n g s z i e l d e s T r a u e r s p i e l s in der Erregung der Leidenschaften im Rahmen der Emotionstheorie und Affektenlehre. Er ersetzte dann in der bekannten Briefdebatte (1756/57), besonders in Auseinandersetzung mit dem Mitleidsbegriff Lessings, diese Zweckbestimmung (Erregung von Leidenschaften) durch das (sonst durchweg dem Epos zugewiesene) Ziel der B e w u n d e r u n g . Ganz einheitlich und eindeutig wirkt die Bestimmung nicht; denn noch im 66. Literaturbrief (1759) bringt er die an sich recht bemerkenswerte Definition: „Die Absicht des Dramas ist, Handlungen und Gemütsneigungen der Menschen nach dem Leben vorzustellen und g e s e l l i g e L e i d e n s c h a f t e n zu erregen". Das scheint noch ganz der Wesens- und Wirkungsbestimmung des Trauerspiels in den Briefen „Über die Empfindungen" (Leidenschaftserregung) zu entsprechen. Die Bedingung „nach dem Leben", die an sich einen realistischen Teilzug offen hält, legt in anderem Zusammenhange (Moralbefreitheit) den Einwand nahe, woher denn die Sonderform einer „theatralischen Sittlichkeit" ihr Sonderrecht herleiten könne, da doch die Handlungen und Gemütsneigungen im Drama „nach dem Leben" (und also auch nach der Lebenssittlichkeit) erfaßt und geformt werden sollen. Aber vielleicht sah Mendelssohn in dieser theatralischen 12 •

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Sittlichkeit (betr. Selbstmord, ähnlich wie Lessing hinsichtlich der Gespenstererscheinungen auf der Bühne) vorerst eine der Ausnahmen, denen er auch sonst ein verstärktes Interesse entgegenzubringen pflegte. Von der angewandten Poetik aus gesehen, ist beachtenswerter wohl der Umstand, daß neben der Handlung auch den Gemütsneigungen (etwa nach Art des verinnerlichten Handlungsbegriffs Lessings i. d. Fabelabhandlung) ebenbürtige Geltung eingeräumt wird und daß es „gesellige" Leidenschaften und nicht nur individuelle Leidenschaften sind, die erregt werden sollen. Allerdings darf nicht so ganz übersehen werden, daß Trauerspiel und Drama für die Kunsttheorie der Zeit keineswegs dasselbe bedeuten, vielmehr recht betont unterschieden werden, besonders seit den Ansätzen zu einem bürgerlichen Trauerspiel und den Vorformen im „bewegenden, rührenden Lustspiel" (Geliert, teils Joh. Elias Schlegel). Und in der Tat dürfte der Abstand der „geselligen" Leidenschaften von den „bürgerlichen" Gemütsneigungen nicht allzu groß gewesen sein. Während Mendelssohn in die Klärungsversuche der Dramentheorie frühzeitig eingegriffen hat, liegt sein überdies fragmentarischer Aufsatz „Von der lyrischen Poesie" (1778), der seine T h e o r i e der L y r i k ablesen läßt, rein zeitlich zu spät, um in die Entwicklung zu einer gefühlsmäßigen Erlebnisdichtung noch wirksam eingreifen zu können. Abgesehen von einer philosophischpsychologischen Einleitung, die an entsprechendem Orte kurz berührt werden mag, wäre das Fragment im Gesamt doch mehr der angewandten Poetik zuzuordnen. Die Affektstärke des lyrischen Ausdrucks kommt durchaus zu ihrem Rechte („Gewalt des Affekts — Abwesenheit des Geistes — Verzückung — Begeisterung"), ebenso die „Gemütsbewegung". Aber neuartig konnte das damals nicht mehr klingen. Und ebenso wichtig, wenn nicht fortschrittlicher, war die ausdrückliche Bezeichnung „lyrisches Gedicht" rein als Benennung; denn vielfach sprach man noch von Ode (Herders Odenabhandlung 1764). Jedenfalls gehört Mendelssohn zu denjenigen, die frühzeitig den Terminus einbürgern halfen. Denn die erste Einbürgerungswelle hatte sich nicht recht durchgesetzt. Die von Ramler bezogenen Beispiel-Gedichte werden weniger stutzig machen, wenn man sich an eine ähnliche Überschätzung Ramlers durch Lessing wie überhaupt an Ramlers enge persönliche Verbundenheit mit dem Berliner Kreise erinnert. Allerdings, wenn ein so unbefangen urteilender Gelehrter wie der

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Lessingbiograph Erich Schmidt ein „vernünftelndes Bedürfnis" in Mendelssohns Vorgehen erkannte, so wird man es nicht zum wenigsten in der Nähe Ramlers und der — Lyrik zu spüren glauben. Abgesehen davon, daß diese Vorstellungen teils „gesunkenes Kulturgut" von der Odentheorie her darstellten, nachdem Herders Freikämpfen der Lyrik erfolgt war, wirken Wendungen wie die von den „Sprüngen" und „plötzlichen Übergängen" (Herder nennt das wohl auch „Würfe") nicht geradezu überraschend, bekunden jedoch die Verarbeitung der inzwischen gewonnenen neuen Erkenntnisse. Gegenüber „wilden" Völkern zwar macht er wohl nicht zufällig seine Einschränkungen, indem er von „ungebildeten" spricht. Und es klingt entsprechend aufklärerisch gebrochen, wenn ernüchtern mehr als begeistert feststellt: „Alle Völker haben lyrische Gedichte, selbst die ungebildetsten nicht ausgenommen". Für die Naturlyrik wird zwar der subjektive Stimmungsausdruck angenommen, für die Kunstlyrik dagegen als Unterscheidungsmerkmal eine obwohl „verborgene Ordnung des Vorsatzes". Diesen absichtsbetonten Plan, diesen bewußten „Vorsatz" muß der Lyriker eben nur überdecken mit gefühlsmäßiger „Teilnehmung". Das bekannte „mit Absicht Dichten" Lessings steht auch zeitlich recht nahe. So interessant Mendelssohns p s y c h o l o g i s c h e r D e u t u n g s v e r s u c h der l y r i s c h e n S o n d e r f o r m e n (Lied, Elegie, Ode) sein mag und auch fraglos ist, und zwar gerade im Aufspalten der rationalen und irrationalen Teilfunktionen, so bleibt es doch kennzeichnend für die rationalen und spezifisch aufklärerischen Einschläge, daß es J. J. Engel mit seinen vorherrschend spätaufklärerischen „Anfangsgründen einer Theorie der Dichtungsarten" (1783) war, der diese Mendelssohnsche Theorie der Lyrik aufgriff und dankbar benutzte. Und es wirkt ebenso kennzeichnend für Mendelssohns Hingedrängtwerden zur Wortkunsttheorie im engeren Sinne durch äußere Anlässe und Einwirkungen von dritter Seite (so von Lessing und Nicolai i. d. Trauerspieldebatte, Wortkunst; von Winckelmann i. d. Bildkunst), daß erst Engels Anfragen jenes Fragment über die Lyrik Zustandekommen ließen. In der Persönlichkeitsgeltung und in der Eindruckskraft seiner Gesamtleistung überragt G o t t h o l d E p h r a i m L e s s i n g (1729 bis 1781) nicht allein Nicolai und Mendelssohn, sondern darüber hinaus die Gesamtgruppe der Auflockerer, zum mindesten, was die angewandte Poetik im Grenzbezirk von Produzieren und Theore-

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tisieren, von Kunstkritik und Kunsttheorie betrifft. Denn im Bereich der allgemeinen Ästhetik sind Mendelssohns und Sulzers Beiträge auf dem Wege von Baumgarten über Meier und Justus Riedel zu Kant bedeutender, und in Sondergebieten gattungstypologischer Art, wie etwa der Wesenserkenntnis des Lyrischen oder in der Ausdruckslehre, mögen J.A.Schlegels relative Neuerwerbungen als wertvoller erscheinen. Lessing schrieb keine „kritische Dichtkunst", keine „kritische" Poetik nach Art der Gottsched und Breitinger, also im Sinne der Zeit, die unter „kritischer" Poetik so etwas wie „philosophische" Poetik verstand. Aber er schrieb als Kritiker seine Poetik und insofern eine kritische Poetik im modernen Sinne. Er schrieb sie nicht nur als Kritiker, sondern auch als ein künstlerisch Schaffender. Denn wenn man (wie schon ein ebenso tapferes wie verständnisvolles Lessing-Epigramm Paul Heyses es in aller Knappheit getan hatte) nicht so ganz mit Unrecht davor gewarnt hat (H.Rempel u. a.), in Lessings Dramen zu sehr eine bloße Erprobung seiner kritischen und kunsttheoretischen Einsichten und Erkenntnisse zu sehen, wenn man sich mit Recht bemüht hat, wenigstens einmal den Versuch zu machen, den Kunstschaffenden in Lessing frei zu halten von jenen vielberufenen kritisch-kunsttheoretischen Verflechtungen und vermeintlichen Verpflichtungen (freilich ganz so weitgehend, wie es die Sonderforschung unternommen hat, wird ein derartiges Freimachen und Herauslösen ohne entsprechende Verzeichnungen des Lessingbildes nicht möglich und also auch nicht ratsam sein), selbst wenn man die Geltung jener geläufigen Lessingdeutung einschränkt, so bleibt es doch umgekehrt für den Kunstkritiker und den Kunsttheoretiker Lessing nicht gleichgültig, daß er zugleich Dichter, wenn auch nur ein aufklärerisch bestimmter und aufklärerisch gestimmter Dichter war. Und es ist in diesem Zusammenhange auch nicht unwesentlich, daß Lessing als glänzender Stilist, als einer der großen Meister des deutschen Sprachstils seinen Beiträgen jene Eindringlichkeit und Haftkraft zu verleihen verstand, die nicht selten weiter gewirkt haben als der rein gedankliche Inhalt. Nicht nur in der Geschichte der dramatischen Dichtkunst, auch in der Geschichte der Stilkunst darf Lessing einen hohen Rang beanspruchen, so bescheiden er immer sein mochte. Ja, im kulturellen Gesamtbereich war diese Leistung vielleicht noch wegbahnender und fortschrittlicher als die des Dichters und Dramatikers Lessing. Zum mindesten war sie

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ihr ebenbürtig, ohne bisher eine ebenbürtige und angemessene Würdigung gefunden zu haben (eine eigene Arbeit über „Lessings Sprachstil als Vollendungs- und Uberwindungsform rationalistischer Sprachgestaltung" konnte seinerzeit nicht veröffentlicht werden). Das entwicklungsgeschichtlich Entscheidende lag vor allem darin begründet, daß Lessing durch seine eigene Sprachgestaltung zum ersten Male und in großem Maße das überzeugend und nicht nur überredend verwirklichte und bewies, was bislang ein gut gemeinter kulturpatriotischer Eifer und Übereifer im wesentlichen doch immer nur behauptet oder erhofft hatte: daß deutscher Geist sich in deutscher Form, daß deutsches Meinen sich in der Muttersprache ein vollwertiges Machtmittel und Kunstmittel des Sichauswirkens zu erobern vermochte, und zwar auch im Bereiche der kritischen Erörterungs- und Abhandlungsprosa, der belebten Auflockerungsprosa und nicht zuletzt einer schlagkräftigen und doch vornehmen Kampfprosa. Die Kunst der deutschen Prosa, von der dann im 19. Jahrhundert Th. Mündt schrieb, ist als Kunst ganz bewußt von Lessing gepflegt worden. Und wer, etwa unter dem Eindruck der bekannten Briefstellen, Lessing die innere Nähe zum Nationalen absprechen möchte, mag sich gerade auch beim Sonderthema Poetik daran erinnern, daß Lessing wegen darstellungsmäßiger Schwierigkeiten noch vorübergehend erwägen mußte, ob er seinen „Laokoon" nicht wirksamer in französischer Sprache abfassen würde. Daß er es nicht tat, daß er etwaige Mängel nicht der deutschen Sprache, sondern bescheiden und selbstkritisch dem eigenen Unvermögen zugewiesen sehen wollte, beweist auch im Einzelfall, daß Lessing in kulturpatriotischer Hinsicht durchaus deutsch empfand, wenn er auch einen falschen Nationalstolz im Sinne Zimmermanns ablehnte. Im kunsttheoretischen Besinnen und kunstkritischen Beweisen Lessings regen sich Erkenntnisse, die über das Wegreinigen und Richtungklären hinaus zu einer Zielweisung ansetzen, die zwar teilweise über keine schöpfunganregende Gewalt vom Werte mitreißender Wegbahnung (etwa nach des jungen Herders Art) verfügten, weil sie durchweg Erkenntnis blieben und nicht Erlebnis wurden. Lessings Besinnung findet ihre starke Untergründung in seiner Gesinnung — dort ruht das Erlebnismäßige, Eigene und Echte — und schöpft ihre besten Antriebe aus dem Glauben an eine gesinnungstärkende Fähigkeit und Aufgabe der Dichtkunst. Und zwar ist es eine rein menschliche Gesinnung, die ihm nicht nur

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in der „Erziehung des Menschengeschlechts" vorschwebt als leuchtendes fernes Ziel, sondern etwa auch in den „Freimaurergesprächen" als gültige Voraussetzung gesehen und gesetzt wird. Wie der Kunsttheoretiker Lessing über die Regel vorwärts drängt zum Gesetz, so drängt er über die Moral vor zur Gesinnung. Und wie er im Gesetz kein bloßes Mosaik von Regeln sucht und sieht, so bedeutet ihm Gesinnung kein bloßes Mosaik von Einzelmoralen, sondern sie ist ihm der gesunde Wuchsgrund für alle Einzelbewährung in Einzelfällen (vgl. die Definition in den Freimaurergesprächen). Allerdings, das Abgebrauchte und Mißbrauchte am Gesinnungsbegriff der Gegenwart muß man billigerweise zurückdrängen, wenn man die freudige Frische jenes Erlebens einer Gesinnung durch Lessing nachempfinden will. Lessing, der um ein männliches Tapfersein nicht nur, sondern auch um ein menschliches Vornehmsein selbst noch und gerade auch in bedrängten und bedrohten Kampflagen gerungen hat, war weit eher als manche zeitgenössischen Gesinnungsprediger (wie Geliert oder Sulzer) berufen, das rechte Wertverhältnis von Gesinnung und Gestaltung abzuwägen, ohne einseitige Übergewichte zu dulden. E s war, so gesehen, nur folgerichtig, wenn ein weltanschauliches Ideen- und Problemdrama gleichsam als bewußte Gesinnungsmanifestation von der Bühnenkanzel herunter — eben der „Nathan" — das Werk letzter Reife geworden ist. Und es bestätigt jenen erwärmenden Zustrom, den Lessings vernünftige Kühle vom Gesinnungsmäßigen her zu erfahren pflegte, wenn auch die dichterische Formung (nicht nur durch das schon in früheren Fragmenten versuchte Versgewand) gültiger und geglückter wirkt. Auf der anderen Seite sind es rokokohafte Teilwerte, die Lessings Dichtung auch jenseits der „Minna von Barnhelm" noch in der „Emilia Galotti" in stärkerem Grade beleben, als vielfach angenommen wird. Das Bewegende und Belebende, das „Lebhafte" aber ist es, was Lessing in immer neuen Formen und Fassungen in sich und für sich fruchtbar zu machen versucht. Das Umsetzen einer hochgradigen geistigen Vitalität in eine künstlerische Lebenserfülltheit geschah nicht ohne Mühe und nicht ohne Mißlingen. Aber es wird erstrebt, auch vom Kunsttheoretiker. Lessing hat als Kritiker und Theoretiker (die praktischen Versuche wollten in den Fragmenten nicht recht gelingen) die Vorbildlichkeit der Franzosen durch die Vorbildlichkeit der Engländer zu ersetzen getrachtet, weil er hier den deutscher Art gemäßeren Weg zu erkunden meinte. Das war gewiß

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etwas Wesentliches, die Entwicklung z. T. Vorwegnehmendes. Auch Joh. Elias Schlegel hatte schon auf das Charakterdrama Shakespeares hinübergeschaut. Aber ob man es gar so sehr bedauern soll, daß Lessing zwar als Theoretiker und im kritischen Theoretisieren die Fruchtbarkeit der Engländer erkannte, im eigenen Produzieren jedoch es in dieser Richtung mit einigen nicht vollendeten Anläufen bewenden ließ und sich vielmehr weiterhin, z. T. merklich, an die Franzosen hielt, bleibe dahingestellt. Fraglos ist die Entwicklung vorerst in jener shakespearenahen Richtung verlaufen. Aber die Klassik mußte wieder die französische Formstrenge zur Hilfe rufen, um einen Ausgleich zu finden. Im Sinne einer Vorklassik war es gar nicht einmal so unvorteilhaft und unerwünscht, wenn L e s s i n g s dichterisches Kunstwollen als Ganzes, wie es sich ja nicht nur im Theoretisieren, sondern auch im Produzieren (also als werkimmanente Poetik) äußert, bereits einer Synthese beider Einflußkräfte zustrebt, ohne sich dessen überall programmatisch bewußt zu werden. Es fragt sich auch — und diese Fragestellung möchte ebenfalls einen Zugang zum ganzen Lessing aufschließen helfen — ob nicht jenseits jener Richtungsklärung (Ablösung vom französischen Vorbild und Hinlenkung zum englischen), wie sie von der Entwicklung über das Thomson-Vorwort zur „Hamburgischen Dramaturgie" hin vertraut zu sein pflegt, auch und nicht weniger durch das immer wieder verfolgbare H e r a u s a r b e i t e n des Dynamischen in den grundlegenden Thesen des „Laokoon" ein der deutschen Art und (gelegentlich auch nachteiligen) Eigenart Gemäßes für die lebendige Wortkunst (in Abhebung von den bildenden Künsten) gewonnen worden ist. Denn diese Linie des Werdenden, Strömenden, Lebendigen, obwohl von Lessing noch nicht gefühlsmäßig erlebt wie dann vom jungen Herder, hebt sich dennoch in der zwar reichlich spröden Keimhülle des Lessingschen Handlungsbegriffes bereits wesenhaft ab. Es ist jene Entfaltungslinie, die über die Geniezeit (bes. Herder) in Schiller (auch als Theoretiker) den Bewahrer fand auch innerhalb einer deutschen Klassik und von der Romantik dann aufgenommen und teils allzu kraftlos ausgeweitet ins „Progressive" ausschwingt, ihren genialen Erneuerer findet in H. v. Kleist (so weit er immer von Lessing abstehen mag), um auch späterhin wiederholt kräftigende Raffung zu erfahren, so etwa bei Büchner und Grabbe, Hebbel und Otto Ludwig u. a. m. Und so gesehen, dürfte es nicht mehr nur als zufällig

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erscheinen, daß es innerhalb der Kunstphilosophie England gewesen war, das in J. J. Harris diese Kunstanschauung (bes. durch die Zeichenlehre) vorgeformt hatte. Zwar: ähnlich wie Lessing in seinem dramatischen Schaffen einen hoch kultivierten Mechanismus nur bis zur Grenze des Organismus vortreibt, ähnlich wie ihm die Kritik etwas gibt, was dem Genie nur „nahe kömmt", so auch reicht sein Handlungsbegriff (auch wenn man die Fabelabhandlung und den „Laokoon"-Nachlaß mit einbezieht) nur bis zur Grenze eines Überganges oder doch einer Übergangsmöglichkeit zum eigentlich Organisch-Dynamischen. Ganz entsprechend reicht sein Sprachstil bis an den Übergang einer Vollendungsform rationalistischer Sprachgestaltung in die Überwindungsform rationalistischer Ausdrucksmöglichkeiten. Aber wie man nun in dieser Sprachgestaltung und Stilform neben der hochgespannten geistigen Bewegung stets die Kraft des Ausgleichsstrebens bis in das Ausbalancieren und das Gleichgewichtsgefühl innerhalb der Satzteile und Gefügeglieder verfolgen kann, so auch setzt sich im Kunstwollen Lessings in der oben bereits angedeuteten Weise die ausgleichende Hemmkraft gegenüber einer ungezähmten Leidenschaftsbewegung immer wieder durch. Wer das bedauert, läuft Gefahr, die „deutsche" Linie zu sehr in eine formfremde, wenn nicht formfeindliche Bewegtheit um jeden Preis abirren zu lassen. Das Seelendrama Goethes konnte an den verinnerlichten Handlungsbegriff der Fabelabhandlung Lessings ebenso berechtigt anknüpfen wie das Charakterdrama Schillers (das streckenweise doch auch Handlungsdrama ist) an den Handlungsbegriff des „Laokoon" hätte anknüpfen können. Auch der bereits berührte Umstand, daß Lessing weit jenseits der „Kleinigkeiten" im eigenen Kunstwollen, wie es das Werkschaffen ausdrückt, also im Sinne einer werkimmanenten Poetik, eine gewisse rokokohafte Belebtheit erstaunlich treu zu bewahren trachtet, spricht für eine Auffassung der „Schönheit in Bewegung" (s. d. „Reitz"-Begriff des „Laokoon"), die neben dem Bewegten stets das bleibend Bildende und bildend Bleibende, wie überhaupt das formend Gebändigte und Gemeisterte durchaus zu schätzen weiß. Gewiß war diese Welt mehr die Welt Wielands. Und gewiß war die Welt des Bildenden mehr die Welt Winckelmanns. Aber Lessing nähert sich diesen Welten, wo er ein Gegengewicht gegenüber dem nur „Handlungs"-Mäßigen sucht. Daß er es sucht, entspricht wiederum einem nicht überall hervortretenden,

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aber eben darum recht tiefgreifenden A u s g l e i c h s s t r e b e n v o r klassischer Art. Dieses Ausgleichsstreben bestimmt ebenso das Verhältnis und die Spannung von Individualfreiheit und Gemeinschaftsbindung. Auch der geniale Einzelne bleibt verantwortlich dem Gemeinwohl (etwa in der „Werther"-Kritik). Das Einwirkenkönnen und Einwirkensollen auf Andere setzt Grenzen für das Sichauswirken und Sichauswirkendürfen des Einen. In dem Maße, wie für Lessing Wirkungsgesetzlichkeiten höher stehen als Schöpfungsgesetzlichkeiten, räumt er der Verantwortlichkeit gegenüber dem Gemeinwohl — etwa in der Stellungnahme zu Goethes „Werther" — den Geltungsprimat ein gegenüber dem Einzelnen, selbst gegenüber dem genialen Einzelnen. Es ist eben doch nicht so (wie man teils recht unbekümmert behauptet), daß im Geniebegriff ein Freikämpfen deutscher Selbstbewußtwerdung erfolgt wäre, sondern daß eine zuchtvolle männliche Gehaltenheit — gerade auch und nicht zum wenigsten in Lessing — sogleich die Verantwortlichkeit der genialen Persönlichkeit im Hinüberwirken auf die Gemeinschaft ermißt und bald dieses Sich-Verantwortlichfühlen im kritischen Sinne vermißt, als er ein Sichauslebenwollen im Geniekultus beobachten muß. Man neigt teilweise dazu, den reiferen Lessing zu stark an den jüngeren Herder heranzurücken unter Verkennung oder doch Verdrängung der entscheidenden Stufungsunterschiede in ihrem Wesen und Wollen (in diesem Zusammenhange ist Franz Koch gleichfalls abzuwehren). Wohl aber hat Lessing vielfach recht tiefgreifend den Boden gelockert und die Überwindung des Rationalismus von innen her wesentlich erleichtern helfen. Ähnlich wie Lessing einen Ausgleich erstrebt zwischen Geltungsrecht der Persönlichkeit und Geltungsanspruch der Gemeinschaft, so auch sucht er einen Ausgleich zwischen dem Geltungsrecht des Nationalen und dem Geltungsanspruch des Übernationalen, allgemein Menschlichen. Der sittliche Geltungsprimat aber wird dabei dem Gemeinwohl der ganzen Menschheit eingeräumt. Die „Erziehung des Menschengeschlechts" ist ihm wichtiger und wesentlicher, auch offenbar persönlich wesensgemäßer als die nationalpädagogischen Sonderbemühungen, wie sie etwa bei Sulzer u. a. begegneten. An dieser Stelle durchbricht eine starke und gläubige Sehnsucht die sonst so zweifelsfrohe kritische Kühle. Man braucht Lessing nicht auf das im privaten Briefe ausgesprochene Wort von der „heroischen Schwachheit" festzulegen. Aber auch für den Maior von Teilheim in der „Minna" ist das Tapfer-

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Soldatische nur ein Durchgang, kein Ziel. Das Ziel sieht und setzt Lessing immer wieder in einer „sich fühlenden Menschlichkeit", in einer sich ihres Wertes und ihrer Würde bewußt werdenden Menschlichkeit. So schon keimhaft, aber deutlich genug in der Vorrede zur Thomson-Übertragung, so in der Briefdebatte mit Mendelssohn und Nicolai über den Zweck des Trauerspiels, so letzten Endes auch in der „Hamburgischen Dramaturgie", wo die Furcht wohl entbehrt werden kann, nicht jedoch das Mitleid. Und wenn die „Furcht" ein „auf uns selbst bezogenes Mitleid" darstellt, so wird nicht nur der „Schrecken" als für eine „sich fühlende Menschlichkeit" entbehrlich ausgeschieden, sondern auch die „ F u r c h t " zu einer A r t v o n E h r f u r c h t vor dem S c h m e r z des a n d e r e n , der uns jederzeit auch treffen könnte, zu einer in diesem Sinne sozialen Ehrfurcht vor dem Menschentum in uns selbst und im Nächsten. Der Pastorensohn aus Kamenz ist nicht ganz vergessen, wenn eire zuletzt doch christliche, nur eben aufklärerisch umgefärbte Nächstenliebe immer wieder durch den Mitleidsbegriff tätig hindurchgreift. Seit er über die „Gefangenen des Plautus" gehandelt hatte, sah er ein Mittel, die „Sitten der Zuschauer zu bilden und zu bessern" in der Vorbildkraft „großmütiger Seelen", die Rührung hervorzurufen vermögen. Die beiden Vorstellungskerne, um die seine Gedanken und Gefühle stets erneut kreisen, Menschlichkeit (vom Einzelnen her) und Menschengeschlecht (vom Gesamten her gesehen), wachsen mehr und mehr einander zu. Es ist anzunehmen, daß sie in der „Erziehung des Menschengeschlechts", wenn Lessing mehr als die Einleitung völlig ausgeführt hätte, sich endgültig und gültig organisch verschmolzen haben würden. Und es ist in diesem Zusammenhange auch nicht zufällig, wenn bei Lessing gewisse V o r s t u f e n f ü r den T y p u s - B e g r i f f der K l a s s i k zu erkennen sind. Menschengesinnung, noch im „Nathan" als überkonfessionelle Bindung aufgebaut, Menschentum als Erprobungsfeld der Menschlichkeit in ihren Minderwertigkeiten (satirisches Lustspiel), Mittelwertigkeiten und Tugenden (rührendes Lustspiel, eigner Plan „Die Großmütigen"), Menschengeschlecht und Menschentypus: das sind Welten und Werte, die Lessing zuletzt doch wieder höher stehen als ein Sichausleben des Genialen. Auch insofern bleibt er der Wirkungspoetik treu. W e r k s c h a f f e n u n d K r i t i k stehen (trotz H. Rempels Lockerungsversuch) für Lessing in inniger, leistungsteigernder Wechsel-

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Wirkung. Nicht nur die Werkbewertung, auch das Werkschaffen erfährt entscheidende Anregungen von der Kritik her. Die Kritik, deren Ansätze im siebzehnten Jahrhundert mehrfach begegneten, die aber durchweg in der Abwehr des Mangelhaften oder Unzulänglichen sich erschöpfte, hatte etwa auch für Wernicke in erster Linie eine fehlerberichtigende und also gleichsam im negativen Sinne des Bewahrens und Vorbeugens leistungüberprüfende Funktion zugewiesen erhalten, obgleich in den „Anmerckungen und Erklärungen" zu Wemickes „Überschriften" in der Sonderform der Selbstkritik vereinzelt bereits ein befruchtendes Eingreifen der Kritik in den Schaffensvorgang sichtbar wurde. Wie Lessing von der Einzelmoral vordrängt zur allgemeingültigen Gesinnungsethik, von der Einzelregel zum allgemeingültigen Wirkensgesetz, so verdichtet er die Einzel-„Erinnerungen" und „Bedenken" zur produktiven Kritik. Und wie seine Kunsttheorie den kritischen Ansatz und kritischen Antrieb bevorzugt, im „ L a o k o o n " — und vielleicht noch greifbarer im „Laokoon"-Entwurf — angetrieben von einem Abwehrenwollen der Schilderungssucht, in der „Hamburgischen Dramaturgie", die unmittelbar aus der praktischen Kritik erwuchs, oder den „Fabelabhandlungen", angetrieben vom Sichten und Abwehren verfehlter Anschauungen, so bekennt er mehrfach unzweideutig und freimütig, daß er an sich selbst und an seinem Werkschaffen die leistunganregende und leistungsteigernde Wirkung der Kritik erfahren habe. Dort, wo er am Schluß der „Hamburgischen Dramaturgie" auf den Anspruch der rein schöpferischen Veranlagung selbstkritisch und bescheiden zugleich Verzicht leistet, sich die „lebendige Quelle" eines zwanglos in die Gestaltung hinüberdrängenden Schöpfertums abspricht und sein Angewiesensein auf künstliches technisches „Druckwerk" im Sinne kunstverstandesmäßiger Leistungssteigerung zugesteht (eine gefährliche Bescheidenheit, vor deren Mißbrauch P. Heyses erwähntes Versepigramm warnte), fühlt er die Dankespflicht gegenüber der vielgeschmähten Kritik: „Sie soll das Genie ersticken: und ich schmeichelte mir, etwas von ihr zu erhalten, was dem Genie sehr nahe kömmt". Und was er dergestalt in aller Öffentlichkeit mit persönlichem Eintreten hervorhebt, spricht er nicht weniger klar dem Freunde Ramler gegenüber im vertraulichen Bezirk des privaten Briefwechsels (21. April 1772) so aus: „Kritik, will ich Ihnen nur vertrauen, ist das einzige Mittel, mich zu mehrerem aufzufrischen oder vielmehr aufzu-

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hetzen. Denn da ich die Kritik nicht zu dem kritisierten Stücke anzuwenden im Stande bin . . .: so nutze ich die Kritik zuverlässig zu etwas Neuem". Die Wendung der kritischen Funktion ins Positive, die etwa innerhalb der Kampfprosa Lessings neben die Streitschrift die „Rettung" stellt, öffnet vom W i s s e n um die G e s e t z e einen Zugang zum werkschaffenden V e r w i r k l i c h e n j e n e r G e s e t z e . Damit erobert Lessing der Kunsttheorie und Literaturphilosophie eine S c h l ü s s e l s t e l l u n g zwischen theoretischer Bes i n n u n g u n d p r a k t i s c h e r B e w ä h r u n g . Gerade indem er ihr die Selbstherrlichkeit einer zweckbefreiten Theorie abspricht, erkennt er ihr das Herrschen durch Dienen zu und die Fähigkeit und das Berufensein zu einem dienenden Helfertum für den Werkschaffenden, nicht mehr im Sinne der äußerlichen Anweisung, sondern des inneren Entfaltens immanenter Gesetzlichkeiten. Lessing fordert vom Kritiker nicht die Fähigkeit zum Bessermachen. Aber er glaubt an ein Bessermachenkönnen mit Hilfe der Kritik. Und er fordert vom Schaffenden den verantwortungsbewußten Willen zur Kritik. Die von den Gegnern der Kritik, an denen schon Wernicke keinen Mangel sah, gern als Abwehrwaffe gebrauchte und mißbrauchte angebliche Verpflichtung zum Bessermachen verneint Lessing mit der Entscheidung seines Nachlaßaufsatzes „ D e r R e z e n s e n t b r a u c h t n i c h t b e s s e r m a c h e n z u k ö n n e n , w a s er t a d e l t " (etwa 1769). Das Begründen seines Urteils hebt den „Kunstrichter" ab vom ästhetisierenden „Mann von Geschmack" und überhebt ihn der Verpflichtung eines beispielsetzenden Bessermachens, wenn und weil sein begründendes „Denn" letzten Halt findet im kritischen Gesetz, nicht nur in den Einzelsensationen von Geschmacksempfindungen. Und Lessing stellt weiterhin klar, daß er sich des Unterschiedes eines schöpferischen Genies, obwohl er dessen tiefste Wesensart nicht voll nachzuempfinden berufen ist, und des aus produktiv gewordener Kritik Werkschaffenden, als den er sich selbst fühlt, durchaus bewußt bleibt. Vermag doch die Kritik nicht die lebendige Quellkraft zu schenken und immer nur und bestenfalls nur eine Leistungshöhe sich zu erarbeiten, die dem Genie „ n a h e k ö m m t " . Sowohl jene Abhebung des Kritikers vom Genie, wie die Forderung des werterhöhenden Vermögens der kritischen Funktion innerhalb und eben doch a u c h innerhalb des genialen Erschaffens umgreift einmal die „Hamburgische Dramaturgie" recht treff-

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sicher mit der Prägung „Nicht jeder Kunstrichter ist Genie: aber jedes Genie ist ein geborener Kunstrichter. Es hat die Probe aller Regeln in sich". Es hat, indem es das Werk setzt, nicht die Einzelregel vor sich (davor warnte auch Mendelssohn), sondern gleichsam eine G e s e t z e s g e s i n n u n g in sich, die sich spontan auswirkt als instinktive Auslese der ihm wesensgemäßen und seinem Wollen angemessenen Gesetze, und also nicht begabungsbeeinträchtigend oder gar leistunghemmend wirken kann. Das kritische Gesetz, so recht verstanden und verwertet, greift von innen her als latenter Begabungsanteil formorganisierend durch den Schaffensvorgang hindurch, nicht von außen her auf ihn über. So wird zum mindesten bei gleicher Talenthöhe der kritikfähige Dichter den kritiklosen übertreffen. Das a b s i c h t e r f ü l l t e S c h a f f e n , wie es die sittlich erziehende Tendenz fordert, findet dergestalt seine Ergänzung im e i n s i c h t e r f ü l l t e n S c h a f f e n unter gestaltungskritischer Tendenz. Die Kritiker werden abgelehnt, die im Nachgeben gegenüber der Zeitmode dem Genie „schmeicheln" und es in der Gefahr einer der Verantwortung entzogenen Selbstherrlichkeit noch bestärken, statt Ermahner und Begrenzer zu sein. Und es wird aus mancherlei Abtönungen, wie sie Lessings geistiger Beweglichkeit entsprechen, dennoch der Grundgedanke klar: Verantwortung gegenüber dem Gemeinschaftswert des Sittlich-Würdigen erfährt ihre Ergänzung durch die Verantwortung gegenüber dem Persönlichkeitswert und Ewigkeitswert des Künstlerisch-Würdigen. Neben den Gesinnungserzieher tritt der Kunsterzieher Lessing, um unübertragbare Werte zu bewahren vor einer Übersteigerung und einem eigenmächtigen Übergreifen des Geniekultus. Aber offenbar setzte er nicht nur Grenzen, sondern ihm waren auch anlagegemäß Grenzen gesetzt, soweit es um eine wirklich freischöpferische Genialität ging. Die ihm von der Zeit zugetragenen Bildungserlebnisse im Bereich des Geniebegriffs vertiefen und vereigentümlichen sich nicht zum wahren Schöpfungserleben. Der begabte Könner aus Kunstverstand verdeckt für Lessings Kunstanschauung leicht den begnadeten Schöpfer aus Kunstinstinkt. Virtuosentum und Genialität überschneiden sich mehrfach trotz z.T. recht energischer Trennungsversuche. Das k o n s t r u k t i v o r g a n i s i e r e n d e P r i n z i p , das im systematisch bindenden Ordnen und proportionierend gliedernden Anordnen

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eine Grundschicht der Lessingschen Stileinheit trägt, die erst durch seine geistige Spannkraft und Intensität Auflockerung erstrebt in künstlicher „Unordnung", recht eigentlich aber im belebenden U m o r d n e n und durch sein Klärungsbemühen Aufhellung erfährt im Vergleichsbild und Kräftigung erzwingt durch stoßstarke Gesinnungsberedsamkeit (bes. in der Kampfprosa), dieses konstruktiv organisierende Prinzip sieht Lessing am Werke und in Wirkung nicht nur beim Ausgestaltungsvorgang, sondern beim Schöpfungsvorgang selbst. Die letztlich vom Weltanschaulichen untergründete Vorstellung des durch Ordnung gegliederten Weltbaus, des Ordnenden und Gliedernden schlechthin, das alle Verbesonderung überwölbt und durchregt, bestimmt auch die Vorstellung •eines Ordnenden, Planenden schon beim ersten und gerade beim ersten Kräftespiel auf der Frühstufe der Schaffensbereitschaft und Schaffensfreude. Nicht als schöpfungsträchtige Vision oder als dämonischer Schaffensrausch wird das Gestimmtsein auf der Konzeptionsstufe erlebt und erläutert, sondern als b e s o n n e n e F r e u d e an p l a n voller W e r k t ä t i g k e i t , als erhebendes Selbstbewußtsein und b e r e i c h e r n d e s S e l b s t g e f ü h l einer sammelnden, sichtenden, wählenden, konstruktiv gliedernden, sinnvoll ordnenden und kunstvoll anordnenden Funktion: „So lange der Virtuose Anschläge fasset, Ideen sammlet, wählet, ordnet, in Plane vertheilet: so lange genießt er die sich selbst belohnenden Wollüste der Empfängnis" (Fabelabhandlungen). Der Hinweis darauf, daß bei der Ausgestaltung, bei der formsetzenden Verwirklichung technische Schwierigkeiten zu überwinden sind, bewegt sich in die Richtung der allgemeinen Anschauung: „Aber so bald er einen Schritt weiter gehet, Hand anleget, seine Schöpfung auch außer sich darzustellen: sogleich fangen die Schmerzen der Geburt an, welchen er •sich selten ohne alle Aufmunterung unterziehet". Bemerkenswert erscheint immerhin die eingelagerte Teilansicht, daß auch im Verlaufe des Ausgestaltungsvorganges anregende Hilfskonzeptionen, die wahrscheinlich wiederum von der kritischen Belebung ausgehen sollen, unentbehrlich seien. Das Wesentliche jedoch bleibt jenes Anderssehen und Andersempfinden der Empfängnisstimmung, der ersten Konzeptionsfreudigkeit, die von vornherein eine Verlagerung erfährt zugunsten des ordnenden und anordnenden Prinzips. Soweit ein Göttliches im Erschaffen gesehen wird, entspricht es etwa der Schöpfervorstellung Leibniz'.

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Der D u r c h b r u c h v o n d e r R e g e l z u m G e s e t z , um den die Poetik seit Gottsched und den Schweizern ringt, wird von Lessing gerade dadurch erfolgreich vollzogen, daß er nicht blassen, allgemeinen Theorien nachjagt, daß er seine Kräfte nicht verzettelt, sondern sie verdichtend sammelt, um in einem klar überschaubaren Angriffsraum das Gesetz zu erobern. D i e r e i n e Ä s t h e t i k u n d d i e p h i l o s o p h i s c h e P o e t i k s i n d n i c h t sein L e b e n s b e r e i c h . Er nutzt sie nur, soweit sie die Tiefe des Angriffes verbürgen und sichern können. Er kennt ihre Gefahren, darunter die Hauptgefahr, die Fühlung mit den Wirklichkeiten und Möglichkeiten der Kunst selbst zu verlieren, wie er denn gelegentlich seiner Herausgabe der Schriften Karl Wilh. Jerusalems eine vorschnelle Aufhöhung der Regel zum Gesetz abwehrt. Er sieht seine Sendung nicht zum wenigsten darin, die z.T. recht empfindlich spürbare Trennung von Theoretisieren und Produzieren, von Ästhetik und werkschaffender Kunstleistung zu beseitigen und die vielfalch verloren gegangene F ü h l u n g v o n K u n s t d e u t u n g u n d K u n s t s c h a f f e n entschlossen wieder herzustellen. Abstriche waren dabei auf beiden Seiten zu machen: die philosophische Poetik mußte ihre Kunstfeme und teilweise Kunstfremdheit, die angewandte Poetik ihre bloße Regelsetzung aufgeben. Eben deshalb war Lessing kein Systematiker im strengen Sinne des Wortes. Er wollte im ersten Betracht dem Leben der Kunst und der Lebenskräftigung der Kunst dienen. Deshalb verharrt er nicht starr auf irgendwelchen Standorten theoretischer Art, sondern wächst mit seiner Erfahrung und wandelt sich mit ihr; aber auch mit den jeweils als erforderlich und förderlich erkannten Notwendigkeiten der deutschen Dichtkunst. Die ursprünglich abwehrende Einstellung zum rührenden Lustspiel z. B. weicht bald einer wohlwollenden Duldung. Die anfangs gutgeheißene Neigung zur schildemd-malenden Dichtweise wird später energisch bekämpft. Der Handlungsbegriff erfährt mehrfache Wandlungen (Fabelabhandlungen, Laokoon, Privatbrief an Nicolai 1769, Nachlaß zum Laokoon). Die vorerst jugendlich-keck eingesetzte Geniefreiheit — und es sei bei dieser Gelegenheit hervorgehoben, daß gerade die Genievorstellung nicht allein von irgendwelchen Kunstrichtungen, sondern wesentlich auch vom Lebensalter mitbestimmt zu werden scheint — , jene anfangs fast überraschende Geniebejahung weicht einer verantwortungsbewußten Überprüfung, stößt erneut und jetzt innerlich gefestigter (und z.T. durch Diderot IS M a r k w a r d t , Poetik II

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ermutigter) weit zum Sturm und Drang hin vor, in mancher Wendung fast schon Gerstenberg überholend, um dann angesichts mancher ihm nicht wesensgemäßer Ausprägungsformen der Geniezeit eine betont kritische Sichtung und strengere Begrenzung zu erfahren. Dem kecken „ E r schöpfet aus sich selbst" von 1746 folgt ein Menschenalter später das geistige Bewußtheit und gesinnungsmäßige Verantwortlichkeit rettende und dennoch das Wollen des Genies verstehende „ E s schöpfe immer nur aus sich selbst; aber es w i s s e doch wenigstens, was es schöpft" (1776). Die Wertung und W e r t ü b e r p r ü f u n g d e r R e g e l läßt ganz zu Beginn den naturbegnadeten „Mustergeist" noch alles „durch sich" selbst, läßt ihn „ohne Regeln groß" werden. Mag manches von dem, was um 1749 herum, also beim zwanzigjährigen Lessing an kühnen Vorstößen begegnet, und zwar in dem ihm wenig gemäßen Raum und Rahmen didaktischer Poesien, aus P o p e ihm zugetragen worden sein. Es wird doch zugleich ein gutes Stück eigenen Sturmes und Dranges, ganz einfach aus der Haltung des Jugendlichen heraus, mit am Werke gewesen sein, um ihn in seiner Art ein wenig schwärmen zu lassen von dem „ A d l e r " , der sich auch mit „ungelerntem Flug" zur Sonne emporhebt. Man sollte vor bewundernder Überraschung angesichts solcher Stellen nun nicht sogleich Lessing geniezeitgemäß umstempeln. Überrascht kann eigentlich nur der sein, der sich den jungen Lessing zu gottschedisch vorstellt. Die unendlich bewegliche und eroberungsfreudige geistige Spannkraft Lessingscher Art war sehr wohl fähig und willig, aufzubegehren und aufzustreben in revoltierender Jugendzuversicht. Aber es ist die Verstandesrevolution der Aufklärung, nicht die Gefühlsrevolution der Geniezeit. Der junge Lessing nannte nicht nur behelfsmäßig das „ G e n i e " den „großen Geist"; er sah vorerst auch noch Genialität als bloße Großgeistigkeit an. Und etwas von dieser Grundauffassung ist seiner Genievorstellung immer eigen geblieben. Auch seine bedingte Regelbekämpfung hängt damit zusammen. Offenbar trug dann der Abwehrkampf gegen Gottsched zu der Regelkritik wesentlich bei, während die Einwirkung der „Briefe" Nicolais nicht überschätzt werden darf. Denn ganz abgesehen von den erwähnten Vorstößen spricht der junge Lessing schon in dem „Neuesten" . . ." (1751) gelegentlich der B a t t e u x - K r i t i k nicht gerade achtungsvoll von Regeln, „deren Theorie zu nichts hilft, als daß sie den Geist fesselt, ohne ihn zu erleuchten" und die man

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„bloß vermittels des Gefühls" besser erfassen könne, soweit Brauchbares und Fruchtbares in ihnen stecke. Der Verfasser der „ V o r r e d e z u T h o m s o n s T r a u e r s p i e l e n " spricht das unzweideutig aburteilende Wort von dem „schulmäßigen Gewäsche" der Einzelregel, während die Kenntnis des menschlichen Herzens und die „magische K u n s t " , die Entstehung, den Ausbruch und das Wachstum der Leidenschaften vor dem schauenden Auge des Kunstwertaufnehmenden gestaltend zu beschwören, die wahre und wertvolle „Kenntnis sei, die kein Aristoteles, kein Corneille lehrt". Es folgt dann das bekannte Gleichnis als tapferes Eingeständnis, daß er lieber eine lebendige, wenngleich verkrüppelte Menschengestalt bilden möchte als eine tote, wenn auch formvollendete Statue (das Dramatisch-Dynamische in Lessing wehrt sich zugleich gegen das Statisch-Statuarische), daß er unendlich lieber der Dichter des „Kaufmanns von London" (Lillo) als des „Sterbenden Cato" (Gottsched) sein wolle, „gesetzt auch, daß dieser alle die mechanischen Richtigkeiten hat, derentwegen man ihn zum Muster der Deutschen hat machen wollen". Indessen, vorsichtig schränkt der prüfende, stets wache Verstand den durch Gottsched-Opposition erleichterten Vorstoß des Empfindungsmäßigen („ich rede nach Empfindung") sogleich wieder dahin ein, daß der Nutzen der Regeln „nicht g a n z " zu leugnen sei. Schon damals zieht er einen Engländer heran als Verstärkung gegen die „antibritische Partei von Kunstrichtern". Vorläufig erst T h o m s o n ; denn den größeren: S h a k e s p e a r e hatte er damals noch nicht voll erkannt, wenn auch schon beiläufig (1750) genannt. Aber schon damals wählt er den Rechtfertigungsweg wie später hinsichtlich Shakespeares. E r sucht das britische Muster einer rationalistischen Kunstgesinnung schmackhaft zu machen durch den Nachweis, daß Thomson „so regelmäßig als stark" sei. Es war denn doch etwas mehr als eine bloß vorbeugende Entschuldigung des Fabeldichters Lessing, wenn er in der V o r r e d e zu den „ F a b e l - A b h a n d l u n g e n " (1759) etwaige Verstöße seiner Praxis gegen die eigenen Regeln seiner Fabeltheorie damit begründet, daß das „Genie seinen Eigensinn" habe, daß es „den Regeln selten mit Vorsatz folget und daß diese (Regeln) seine wollüstigen Auswüchse zwar beschneiden (also doch), aber nicht hemmen (also immerhin) sollen". Daß er in den Regeln mehr die „mechanischen" Vorschriften der Kunsttechnik sieht, daß er deren Überschätzung auch noch späterhin abwehrt, beweist die Polemik 13*

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der „Hamburgischen Dramaturgie" gegen die „kahlen Kunstrichter", die in den bloßen „mechanischen Gesetzen" die einzige Quelle für die „Vollkommenheit eines Dramas" sehen, „ d e m Genie zum Trotze". Es darf nicht verwirren, wenn Lessing manchmal „ R e g e l " und „ G e s e t z " im (damals noch durchweg hierin schwankenden) Sprachgebrauch für einander eintreten läßt. Dort z. B., wo Lessing davor warnt, einfach dem persönlichen Geschmack zu folgen und diesem individuellen Geschmack eine gesetzgebende Funktion zuzuerkennen, spricht er recht eigentlich von Gesetzen. Der wahre Kritiker habe seinen „Geschmack nach den Regeln gebildet, welche die Natur der Sache erfordert". Das aber sind in Wirklichkeit Gesetze, vom Wesenhaften her gesetzt (fast schon wie Goethes Gesetz vom „Stil"). Daß er um eine klärende Abhebung des Gesetzes von der Regel mehrfach auch rein terminologisch bemüht ist, bekundet eine Äußerung aus dem Jahre 1776, die vor der Täuschung oder dem Getäuschtwerden warnt, „wenn man die Regeln sich als Gesetze denket, die unumgänglich befolgt sein wollen". Die Regel ist in diesem Sinne nur eine kunsttechnische Satzung, nur ein „guter R a t " , den auch das Genie unbeschadet seiner Eigengeltung hinnehmen dürfe. Man versteht von dieser Position aus, die ja zeitlich schon hineinmahnt und hineinspricht in die allzu unbändig wilde Sturm- und Drangwoge, daß die Stürmer und Dränger das anspruchsvoll auftretende Kunstgesetz fast noch stärker bekämpfen zu müssen glaubten als die einzelne Kunstregel, den Einzelhinweis, der ihrer kunsttechnischen Unerfahrenheit gelegentlich uneingestandenermaßen dennoch recht „gelegen" kam (wohl auch eingestandenermaßen, wie z. B. bei Goethes „Clavigo"). Das Gesetz, dem Lessing zustrebt, soll die k r i t i s c h e V o r f r a g e n a c h s e i n e r B e r e c h t i g u n g durchlaufen haben. So viel und so oft andere Aufklärer „kritisch" sich geben und gebärden: es fehlt ihnen — von Lichtenberg vielleicht abgesehen — die Scharfgeistigkeit der genialen Kritik Lessings. Und so behält er den Vorsprung beim allgemeinen E r s t r e b e n d e s k r i t i s c h ü b e r p r ü f t e n G e s e t z e s . Den W e g der Vorfragen, der Sicherung der stillen Voraussetzungen, wie ihn etwa Joh. Elias Schlegel hinsichtlich der Naturnachahmung beschritten hatte, geht Lessing zielsicher weiter. E r will nicht nur im „Laokoon" versuchen, „die Sache aus ihren ersten Gründen herzuleiten". Das Gesetz der Dichtkunst schlechtweg in Abgrenzung gegen die bildende Kunst

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erstrebt der „Laokoon" (Handlung auf Grund des zeitlichen Nacheinander der willkürlichen Zeichen), ergänzt durch das spätere Einbeziehen der natürlichen Zeichen (Schauspiel, Oper, Pantomime) im Privatbrief an Nicolai (Mai 1769) und im Plan für den zweiten Teil des „Laokoon". Nach verschiedenen Vorstufen (Thomson-Vorrede, Briefdebatte mit Mendelssohn u. Nicolai über den Zweck des Trauerspiels) erstrebt die „Hamburgische Dramaturgie" das Gesetz des Dramatischen (Übung im Mitleiden, Reinigung), das Gesetz der Fabel die Fabelabhandlung (Einkleidung des moralischen Lehrsatzes mit dem von Baumgarten, Wolff u. a. beeinflußten Wirkungsziel der „anschauenden" Erkenntnis), das Gesetz des Epigramms erkunden die „Anmerkungen über das Epigramm" (überraschende Befriedigung einer Erwartung). Die Regel konnte entbehrt werden, wo das Gesetz als das Wesentliche und Entscheidende daneben stand. Dort, wo es — vorerst — um Thomson geht, steht das Gesetz des Trauerspiels daneben. Und dort, wo dem jüngeren Lessing ein gefühlsmäßiges Vertrautsein mit den Regeln genügte, stand daneben das Gesetz des B a t t e u x , das noch lange viel Bestechendes für Lessing behielt, weil es eine Fülle von Einzelregeln zu umschließen — und also entbehrlich zu machen — versprach. Auch hinter den Regeln der Fabeltheorie sucht Lessing sein Wirkungsgesetz; darin sicherer als in der Vorbild-Poetik, in der Phädrus gegenüber Äsop unterschätzt wird und z. B. Lafontaine kaum Gerechtigkeit erfährt. Alle wesentlichen Gesetze sind für Lessing W i r k u n g s g e s e t z e . Lessings gesamte Kunsttheorie gründet auch insofern auf einer Kritik, die das fertige Werk überprüft, nicht so sehr in das werdende Werk sich einfühlt und einlebt (Herder). Das Eingerichtetsein eines Kunstwerkes auf die beste Wirkung entscheidet. Auch der Umstand, daß Lessing rein methodisch gezwungen ist, auf den Schaffensvorgang gelegentlich einzugehen, darf darüber nicht hinwegtäuschen, daß die beherrschende Geltung dem Wirkungsgesetz gehört. Dabei sind W i r k u n g s g e s e t z u n d G a t t u n g s g e s e t z e n g v e r b u n d e n . Die „Hamburgische Dramaturgie" (79. Stück) stellt klar heraus: „Nicht genug, daß sein Werk Wirkungen auf uns hat: es muß auch die haben, die ihm vermöge der Gattung zukommen". Die Wirkungs- und Gattungsgesetze sind vorwiegend auf ein moralpädagogisches Bewirken ausgerichtet, wobei jede Gattung ihren Sonderbezirk vorzugsweise in Pflege nehmen muß: die Tragödie durch Vervollkommnung in der

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„Fertigkeit" des Mitleidübens als einer sozialen und menschlichen Tugend zugleich, die Komödie durch das „Lächerliche" als Abschreckung und entsprechende Vorbeugung vor allem Ungesunden, charakterlich oder ständisch Verbildeten, die Fabel im engeren Bezirk der sittlichen Einzellehren, das Epos durch Bewunderung erhabener Gesinnung usw. Lessing ist bei alledem nicht Geliert. Seine Sittlichkeit fordert mehr als bloße Tugend. Er sieht nur „elende Verteidiger des Theaters" in denen, die es „mit aller Gewalt zu einer Tugendschule machen wollen" und dadurch in Wirklichkeit „mehr Schaden als zehn Göze" (gemeint ist der Hauptpastor Göze) anrichten (an Nicolai, Okt. 1769). Und seine Zweckbewußtheit ringt bereits auch grundsätzlich um eine Lösung von der Enge einer bloßen „Moralität des Zwecks". Damit werden jedoch bereits Grenzen und Grenzdurchbrüche Lessings berührt, die noch nicht zu einem vollen Ergreifen des Neuen führen. Und das herb-beherrschte, entschiedene: „Bessern sollen uns alle Gattungen der Poesie" bleibt in seiner Grundhaltung unerschüttert, weil es verankert ist im E r z i e h u n g s o p t i m i s m u s der A u f k l ä r u n g . Doch hat Lessing auch diesen Erziehungsoptimismus der Aufklärung seine kritische Überprüfung durchlaufen lassen, so daß er reiner und fester und in der Lebenshaltung kämpferischer wirkt als bei den meisten Aufklärern (Joh. Elias Schlegel, Geliert usw.). Man wird bei alledem nicht das A u f r u f e n z u m g e s i n n u n g v e r e d e l n d e n V e r h a l t e n im L e s s i n g s c h e n „ M i t l e i d " überhören dürfen, in dem doch mehr steckt als eine bloße „Sentimentalität" oder „ästhetische Humanität". Hinter Lessings Fertigkeit im Mitleidfühlen als Wirkungsziel der Tragödie steht das Gefühl des Starken, der gern tapfer gemeinte „Rettungen" unternimmt, nicht die Weichlichkeit. Er will das Gerechte erkämpfen, nicht aber erbetteln. Lessings Mitleidüben wie sein Bessernwollen birgt zum mindesten eine s o z i a l e B e r e i t s c h a f t in s i c h , die d e n n d o c h w e i t m e h r b e d e u t e t als e i n S i c h h i n g e b e n an w e i c h l i c h e R ü h r u n g . Hinter dem Mitleidsbegriff Lessings steht nicht mehr nur der Vorredner zu Thomsons Trauerspielen, sondern der ganze Lessing. Es ist nicht das mehr Geliert angenäherte tränenselige Mitleid der „Miß Sara Sampson". Es ist nicht uninteressant, selbst über die „Miß Sara Sampson" ein zeitgenössisches Urteil zu hören, daß daran erinnert, wie man selbst in dieser Weichlichkeit noch Spuren des Erhebenden suchte und fand. Daß

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die Zeitgenossen doch auch a n d e r e Werte als bloße Sentimentalität darin zu entdecken meinten, davon legt z. B. im Rahmen der Geschichte der Kunsttheorie ein bemerkenswertes Zeugnis ab F r . J u s t u s R i e d e l in seiner „Theorie der schönen Künste" (1767). Als Beleg nämlich für ein Wechselspiel und ein Zusammenspielen des Erhabenen und Naiven bringt Riedel eine Wendung aus dem Zwiegespräch Mellefont-Sara, um zu beweisen, daß „dieses Sentiment so erhaben und so naiv "sei, „als irgend eines unter solchen Umständen sein kann". WEIS Riedel hier mit einem damals modischen Wort „Sentiment" nennt, entspricht nicht einfach dem Sentimentalen. Lessings Mitleidsbegriff auf der anderen Seite, um ihm die bloße Ausrichtung auf das Rührende zu nehmen, allzu sehr vom Sittlichen zu lösen und ihn unter Stützung auf das „auf uns selbst bezogene Mitleid" zur formal-ästhetischen Funktion der „Einfühlungs"-Fähigkeit umzudeuten (eine Funktion, die eher Herder entspräche als Lessing), dürfte zu einer Verdünnung der begrifflichen Kernsubstanz führen, so anregend eine solche Deutung immer sein mag. Wesentlich erscheint, daß Lessing vorwiegend d e n S c h w a c h e n , n i c h t a b e r d e n s c h l e c h t h i n B ö s e n zum Bewirken des tragischen Miterleidens im Zuschauer geeignet hält. E r selbst wählt in Mellefont wie im Prinzen (Emilia Galotti) Menschen, die „mehr schwach als schlecht" erscheinen sollen, als Gelegenheitsmacher für das tragische Miterleben des Leides. Der Restbestand des allgemeinen, philanthropischen Mitgefühls mit dem schlechthin Bösen, der leidet, ist im Sinne Lessings k e i n tragisches Mitleid. Für Lessings kämpferischen Vernunftidealismus ist es gerade die mangelnde Beherrschung der Vernunft, die zum Tragischen hinführt, ohne daß nun von hier aus sogleich von der Tragödie als einer Darstellung der „Erbschuld einer allgemeinen menschlichen Willensschwäche" gesprochen werden müßte. Selbst wenn man von einer „maßlosen Sühne einer Schuld" spricht, darf Lessings wachsame Umgrenzung dieser Maßlosigkeit nicht übersehen werden. Die Wirkungsgesetze nähern sich, indem sie nach dem Woher der Wirkung und nach den Möglichkeiten, gerade diese Wirkung für diese Gattung zu erreichen, fragen, in gewissem Grade den Schaffensgesetzlichkeiten, so daß Lessing auch darin auflockernd der Geniezeit vorarbeitet. E s sind schon werkimmanente Kunstgesetzlichkeiten, die Lessing vorschweben, wenn er mit Bezug auf K l o p s t o c k daran erinnert, daß das, „ w a s die Meister der Kunst

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zu beobachten für gut befinden", die eigentlichen „Regeln" seien. Das W e g b a h n e n d e d e s G e n i e s ist ihm durchaus vertraut und als Kämpfernatur besonders lieb, wie ihm das E r o b e r n d e des G e n i e s auch nacherlebbar ist, jenes Erobern von Neuland, jene mustersetzende Bewährung, dessen Verwirklichungen uns oft erst nachträglich die von anderen übersehenen Möglichkeiten erkennen und durch die Macht ihrer Werkwirkung bewundernd anerkennen lassen. Mag um 1760 herum D i d e r o t manchen Schritt Lessings in der Genieauffassung beschleunigt haben: das Wesen und der Wert des Genialen war Lessing als Erkennendem und Erstrebendem nichts Fremdes. Kunstverstandesmäßig erkannte er es. Er wußte, daß es mit Gelehrsamkeit nichts zu tun habe, daß es vom nur Geistreichen, vom „ W i t z " scharf zu unterscheiden war: „Das Genie liebt Einfalt, der Witz Verwicklung". Er weiß, daß — wenn schon Einwirkungen vorliegen sollen — ein Genie nur von einem anderen Genie entzündet werden kann (Gegenüberstellung von Shakespeare und Klopstock als Genies mit Corneille und Cramer als Nicht-Genies). Er weiß und spricht es aus, daß ein schöpferisches Werk einen „ S c h a t t e n r i ß v o n dem G a n z e n des e w i g e n S c h ö p f e r s " bedeutet. Er weiß endlich auch, daß das aus dem „eigenen Gefühl" Hervorbringen das Genie ausmacht, nicht aber irgendein schulknabenhafter Gedächtnisvorrat. Er weiß das alles. Er erfaßt das — und damit ist zugleich der weite Abstand von Gottsched umschrieben — mit lebensvoller geistiger Gewalt, mit jener geistigen Erlebnisintensität, die überhaupt die vorherrschende Art seines Erlebens war. Aber er erlebt es im gewiß nicht engen Raum und Rahmen der Welt L e i b n i z ' , die ja nicht die Welt W o l f i s war. Er erlebt das Organische im Genie noch nicht geniezeitgemäß im strengeren Sinne. Die Leibnizische Harmonie behält für ihn etwas kunstvoll Mechanisches. Es ist ein unendlich verfeinerter und sehr hoch entwickelter Mechanismus, der die „Triebfedern" des Herzens vor den Augen „spielen" zu lassen versteht. Und das Wundervolle und fast ein wenig Wunderbare liegt eben auch für den Dramatiker Lessing darin, daß er diesen präzise arbeitenden Mechanismus — etwa in der „Emilia Galotti" — zu einer Vollendung emporzutreiben versteht, daß er wie ein O r g a n i s m u s w i r k t , a l s o im S i n n e der W i r k u n g s ä s t h e t i k den o r g a n i s c h e n E i n d r u c k h e r v o r z u r u f e n v e r m a g . Ein geschulter, beobachtender und gestaltender Kunstverstand hat hier eine Dichte, eine Kraft, eine

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Beweglichkeit und eine Leidenschaft erreicht, daß diese geistige Triebkraft kaum noch — oder nur durch den näher überprüfenden Blick — vom heißen Herzschlag zu unterscheiden ist. Das empfindlicher hinhorchende Ohr wird beim stillen Lesen — denn die Bühne überbrückt manches — die metallischen Nebengeräusche spüren, wenn ein Zahnrad des Dialogs in das andere greift oder die Seelenvorgänge zergliedert und demonstriert werden. Es ist mehr die Kühle dieses Metallischen als die Marmorkühle, die man dem Klassizismus nachzusagen geneigt ist, was der Organiker G o e t h e sogleich instinktsicher herausfühlte. Es ist in der Grundsubstanz dasselbe Metallische, das der prachtvollen und machtvollen Kampfprosa Lessings ihre schneidige Schärfe sichern hilft. Und die eigentliche, die entscheidende Differenz zwischen dem Handlungsbegriff Lessings („Laokoon", der gewiß nicht den ganzen Handlungsbegriff Lessings in sich birgt) und dem Energiebegriff Herders konnte letztlich ebenfalls auf den Unterschied des verfeinert Mechanischen und des lebensvoll Organischen zurückgeführt werden. Ganz ähnlich wie Lessing eine wundervoll gesteigerte Kritik etwas gab, was dem Genie sehr nahe kommt, so verleiht dieser wundervoll zusammenwirkende Mechanismus Lessing etwas, das streckenweise dem Organismusgedanken sehr nahe kommt. Aber er erlebt diesen G r e n z w e r t z w i s c h e n M e c h a n i s m u s u n d O r g a n i s m u s wie den wachsenden Kristall seiner Dramenkunst und seiner Sprache letzten Endes doch als die höchste Steigerung einer Kombinationsfähigkeit, nicht als dämonisches Schöpfertum oder gar als Schöpferrausch, gegen den er sich in dem NachlaßAufsatz „ Ü b e r eine z e i t i g e A u f g a b e " (etwa 1776) nachdrücklich zur Wehr setzt. Das Unbewußt-Rauschhafte trifft sein hartes Wort „Trunkenbold", wenn es auch in dieser Schärfe durch die Polemik bedingt ist. D a s G e n i e i s t ihm ein e h r f u r c h t g e b i e t e n d e r T r ä g e r des h ö c h s t e n K u n s t g e s e t z e s , ist ihm auch kühner Erneuerer dieses Kunstgesetzes, das er keinem Schwärmer anvertraut sehen möchte. Seine stolze geistige Bewußtheit und selbst seine Gottesvorstellung verbinden sich, um auch das Bewußt-Planvolle vom genialen Dichter zu fordern. Deshalb steht ihm zuletzt doch wieder das „mit-Absicht-Dichten" höher als alle Dichtung um ihrer selbst willen. Er sucht eine höhere Zweckmäßigkeit, noch tastend zwar, aber fast schon auf Wegen Kants, wenn er erklärt: „wir lieben das Zweckmäßige so

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sehr, daß es uns, a u c h u n a b h ä n g i g v o n der M o r a l i t ä t d e s Z w e c k s , Vergnügen gewähret". Doch ist dabei zu berücksichtigen, daß dieser Weg von Burke, Riedel, Mendelssohn schon damals erkundend ins Auge gefaßt wurde. Es darf auch nicht ganz übersehen werden, daß Lessing weit überwiegend als Dramatiker und Dramaturg urteilt, wie f a s t seine g e s a m t e K u n s t a n s c h a u u n g eine g e w i s s e E i n f ä r b u n g v o m D r a m a t i s c h e n u n d D r a m a t u r g i s c h e n her erfahren zu haben scheint. Und daß die weitausladende, gliederungsreiche dramatische Wirkungsform aus immanenter Gattungsgesetzlichkeit heraus weit stärker auf die geistig-konstruktiven Bildekräfte angewiesen ist als etwa die Lyrik, von der kennzeichnenderweise Herder den Hauptvorstoß führte, leuchtet ohne weiteres ein. Von hier aus erhielt die Genievorstellung Lessings einen weiteren Antrieb für eine vorherrschende Hinwendung zum Strukturhaft-Planvollen, Bewußt-Durchgestaltenden. Wo Lessing Lyrik vor sich hat oder doch vor sich zu haben glaubt wie bei G l e i m , nähert er sich williger der Vorstellung einer gefühlsmäßigen Erlebnisdichtung (Vorrede zu Gleims Grenadierliedern, Vorrede zu L o g a u ) . Und selbst das V o l k s l i e d m ä ß i g e ermutigt ihn schon im Frühling 1759 in den „Literaturbriefen" (33. Brief), recht einsichtsvoll von den anspruchslosen litauischen „Liederchen" zu urteilen. Ein bedeutsamer Ausblick, der noch fast ein Jahrzehnt später für G e r s t e n b e r g und seine ,.Schleswigischen Literaturbriefe" zur fruchtbaren Anregung werden sollte. Lessing erkennt und bekennt schon damals, „daß lebhafte Empfindungen kein Vorrecht gesitteter Völker" seien, preist in den litauischen „Dainos" die „reizende Einfalt" und sieht darin — trotz W i n c k e l m a n n s „Gedanken" — einen Beweis, „daß unter jedem Himmelsstriche Dichter geboren" würden. Er hat später als unbestechlicher Kritiker die billige und bissige Verspottung der Volkslieder durch Nicolai entschieden zurückgewiesen und ihn belehrt, daß er Volkslieder offenbar mit „Pöbelliedern" verwechselt habe. Bemerkenswerter wohl noch wirkt der Brief an Gleim vom 22. März 1772, der Gleims unzulängliche „Lieder fürs Volk" zweifellos überschätzt. Aber zugleich bietet dieser Brief einen verhältnismäßig aufschlußreichen B e i t r a g L e s s i n g s z u r F r a g e v o l k s t ü m l i c h e r D i c h t u n g . Volkstümlich zu schreiben bedeute nicht, sich nur in der Verstandesschicht („lediglich auf den V e r s t a n d gezogen")

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zum Volke „herabzulassen", sondern auch und vor allem sich zur E i n f ü h l u n g in die s t ä n d i s c h e S c h i c h t („Herablassung zu dem Stande") bereitzufinden, sich in die berufliche Sphäre und die „mancherlei Umstände des Volkes" willig zu versetzen. Wer dieser zweiten letzten Endes sozial bestimmten und sozial gestimmten Versetzung fähig sei, dem werde jene rein geistige Anpassung ohne weiteres zufallen. Überdies dürfe man sich das Volk in seinen breiten Schichten, und zwar auch die handarbeitenden Schichten („den mit seinem Körper tätigen Teil" des Volkes) nicht zu wenig gewitzt und auffassungsarm vorstellen, da es diesem Volksteil „nicht sowohl am Verstände als an der Gelegenheit fehlt, ihn zu zeigen". Volkstümliche Dichtungen seien besonders wertvoll, wenn sie das Volk nicht von der Arbeit ablenkten, sondern es zu ihr hinlenkten und es auch die leicht vergessene Weisheit der „fröhlichen Armut" neubelebt lieben lehrten. Gewiß, Lessing schreibt auch damals (1772) noch nicht im begeisterten Ton der Stürmer und Dränger. Er läßt auch nicht den Dichter zum Volke gehen, um von ihm zu lernen, sondern der Dichter hat das Volk zu belehren. Aber die Voraussetzung, die zum Ziele führen kann, wird mit echt Lessingscher Klarheit und Leidenschaftslosigkeit dennoch gefunden. Und es fehlt nicht an kritischen Seitenhieben gegen die Trennung einer Dichtweise „für das vornehme und für das gemeine Volk". Aber daß Lessing immer noch bei Gleim diese Erfüllung sucht und zu finden meint, beleuchtet zugleich seine Grenzen im Verstehen der jungen Generation und ihres Kunstwollens, erinnert aber auch daran, daß ihm Lyrik weniger gemäß war als die Dramatik. Immerhin darf jener Märzbrief Lessings von 1772 auch im Vorausblicken auf die spätere Auseinandersetzung zwischen Schiller und G. A. Bürger hervorgehoben werden, wie andererseits ein Zurückblicken auf Fr. v. Hagedorn naheliegt. Lessing scheut das Geheimnisvoll-Dunkle der Leidenschaften, weil ihm W a h r h e i t und K l a r h e i t l e t z t e W e r t e darstellen. Und die „Wahrheit läßt sich nicht so in dem Taumel unsrer Empfindungen haschen". Der Erkenntnisdrang, der geradezu als Gottnähe von ihm nicht nur erkannt, sondern erlebt wird, muß die Leidenschaft als feindlich empfinden. Denn „nichts verdunkelt unsere Erkenntnis mehr als die Leidenschaften". Lessing weiß, daß das Dichterische das Leidenschaftliche braucht; gerade auch der „wahre Tragicus", von dem die „ S o k r a t e s " - A b h a n d l u n g

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spricht. Aber er will für den Dichter das Absichtsvoll-Bewußte selbst hier retten, indem sich der Dichter kraft seiner biegsamen Geistigkeit „in alle Leidenschaften zu setzen weiß". Von wesentlich anderer Seite kommt er doch zu ähnlichen Folgerungen und Forderungen wie späterhin F r i e d r i c h Schlegel im Raum romantischen Stimmungsvirtuosentums. Nicht diejenigen, die „nur" als Wirklichkeit Leidenschaften erleben können, sind dichterisch fruchtbar, sondern diejenigen, die in sich Leidenschaften „durch willkürliche Vorstellungen rege zu machen" fähig sind. Wieder indessen klingt diese Deutung weniger rationalistisch bzw. psychologistisch, wenn man an den Dramatiker denkt, als wenn man an den Lyriker denken würde. Lessing kennt und liebt die Fassung vor dem Schicksal. Er schaltet gern fassungerleichternde Hemmkräfte ein, wenn die Leidenschaft schicksalhaft zupackt im Leben (Tod E.v.Kleists, Tod seiner Frau und seines Kindes), im Drama und in der kunsttheoretischen Auslegung und Ausdeutung. Nicht selten werden diese V o r b e h a l t e der B e w u ß t h e i t g e g e n ü b e r dem U n b e w u ß t e n , die sich stilistisch vielfach in einem „gleichsam" oder in einem „scheinen" äußern und auch in den kunsttheoretischen Umschreibungen zu behaupten wissen („das alles bloß der Natur zu danken zu haben scheinet"), allzu leicht (und gerade auch in Sonderforschungen) übersehen oder übergangen. Sie sind jedoch außerordentlich bezeichnende Merkmale dafür, daß Lessing die kritische Reserve möglichst weitgehend aufrechterhält. Die Abstufung „scheinen" wiegt stilistisch damals weit schwerer (als heute) als einer der hervorhebenden und abhebenden Stufungswerte. Ihr kommt auch jenseits Lessings im größeren Zusammenhange der Genievorstellung der Aufklärung eine noch zu wenig beachtete Bedeutung zu. — Jene Bewußtheit aber, die auch hinter diesem „scheinen" steht, setzt sich im kunsttheoretischen Bereich durch, wenn Lessing H o m e r mit „Kunstgriffen" wirken läßt und darin ein Zeichen dichterischen Könnens erblickt. Und sie setzt sich durch, wenn er Shakespeare auf Aristoteles umdeutet, mag dabei immer ein wenig Taktik im Sinne einer Erleichterung der Shakespeare-Einbürgerung mitgewirkt haben, um nur einige Beispiele herauszustellen. Es ist darauf hingewiesen worden, daß sich Lessing nirgends grundsätzlich und im Zusammenhange mit der N a t u r n a c h a h m u n g s l e h r e auseinandersetzt. Daß ihn B a t t e u x in jüngeren Jahren anzog, wurde erwähnt. Im Gesamt seiner Einstellung

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bleibt Lessing entsprechend seiner Aristoteleswertung dem Naturnachahmungsprinzip nahe. Noch im 69. Stücke der „ H a m b u r g i s c h e n D r a m a t u r g i e " steht, wenn auch nur als beiläufige Begründung eines Einzelurteils, dieser Maßstab fest; „denn nichts kann ein Fehler sein, was eine Nachahmung der Natur ist". Doch findet sich in der Nachbarschaft dieser Stelle ein näheres Eingehen, das zeigt, wie Lessing auch dieses Gesetz der kritischen Überprüfung unterzieht und es keineswegs unbesehen hinnimmt. Das 70. Stück läßt ihn „einige Gedanken hinwerfen", die ausgesprochen nur als Anregung gedacht sind. Ohne sich zu entscheiden, entwirft Lessing einige gegensätzliche Anschauungen, um dann selbst auszuführen, daß die Kunst die Aufgabe habe, aus der unendlichen Verflochtenheit der Wirklichkeit, die zudem nie als bloßer Gipsabdruck kunstwertig umgesetzt werden könne, eine in sich organisch gebundene und kausal verbundene Gruppe abzusondern und „lauter und bündig" als ein Besonderes, planvoll Gesondertes erlösend herauszuheben und vor den Betrachtenden und Aufnehmenden hinzustellen. Die Natur in ihrer reichen Verflochtenheit und „unendlichen Mannigfaltigkeit" vermöchte selbst nur ein Schauspiel zu bieten für einen „unendlichen Geist". Absonderung, Auswahl, Anordnung und Verdichtung ergeben sich als entsprechende Aufgaben für den Künstler, der mit der Auffassungsgrenze „endlicher Geister" zu rechnen hat. Die Vorstellung vom Makrokosmos und Mikrokosmos gewinnt unter Lessings ruhig klärenden Händen an nachhaltiger Eindruckskraft. Das Wesentliche und Wesenhafte ist aus dem Naturverbundenen zu lösen. Wie weit jene „hingeworfenen" Gedanken Lessings reichen, wird man spüren, wenn man noch in H ö l d e r l i n s Fragment „Über die Verfahrungsweise des poetischen Geistes" in entsprechend abgewandelter geistiger Situation jenen Fragen nach einer Umschränkung des poetischen Stoffes trotz des Bezuges auf das Lebensganze begegnet. Neben dieser Auslese hat für Sondergattungen auch die charakterwertende Auslese zu erfolgen, so nicht zum mindesten für das Drama, dessen Gestalten dann „keine Gegenstände der poetischen Nachahmung sein" dürfen, wenn ihnen an Lebenserfahrung und Menschenkenntnis das „Unterrichtende" fehlt. Schon von hier aus könnte der Blick auf G a r v e gelenkt werden. Aber es scheint angebracht — und auch dazu nimmt Garve Stellung — noch kurz für die oft kritisierte Einseitigkeit Lessings hinsichtlich des V e r h ä l t n i s s e s v o n h i s t o r i s c h e m G e s c h e h e n

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u n d h i s t o r i s c h e n P e r s o n e n eine Deutung zu versuchen, und zwar nicht aus dem vielerörterten Mangel an historischem Sinn Lessings. Vielmehr bestimmt — m. E. — dabei offenbar die Gesamttendenz der „Hamburgischen Dramaturgie" die Urteilsbildung (zugunsten des historischen Charakters und zu ungunsten des historischen Geschehens) gegenüber dem romanischen Geschehensdrama, das germanische Charakterdrama zur vollen Geltung zu bringen. Zum anderen und damit ursächlich verbunden wirkt sich Lessings starkes Gefühl für die Größe der Persönlichkeit aus. Von dieser Achtung vor der bedeutenden Persönlichkeit aus fand Lessing noch am ehesten einen ihm gemäßen Zugang zur Ehrfurcht vor der Geschichte. Das historische Geschehen galt ihm als Ausstrahlung des historischen Charakters. Daß die „Dramaturgie" im allgemeinen den Wert der „Fabel" und der Handlung hervorhebt, wird dabei nicht unterschätzt, darf jedoch auch nicht überschätzt werden. Im Lebensalter jünger als Lessing ur.d bereits Generationsgenosse Herders,hat der Kritiker und PopularphilosophChristian G a r v e (1742—1798) als Kunsttheoretiker eine noch zu wenig beachtete Stelle inne, die Lessing ergänzt, ohne Herder zu erreichen. Garve bleibt ein würdiger und wertvoller Mittler zwischen beiden, weil er auf abgeschwächter Begabungshöhe doch an der Betrachtungsweise beider teilhaben kann. Als Kritiker unterscheidet er sich von Lessing, dessen kämpferische Stoßstärke ihm fehlt, durch eine gewisse Behutsamkeit im Urteilen und Fordern sowie durch eine verstärkte Sicherung seines Urteilens von der „Seelenlehre" her (vgl. Mendelssohn). Als Kunsttheoretiker bietet er B e i t r ä g e z u r K l ä r u n g des „ I n t e r e s s i e r e n d e n " , z u r Z e i chenlehre und Ausdruckslehre, zum V e r h ä l t n i s von D i c h t k u n s t und Malerei, zum H a n d l u n g s b e g r i f f , zum G e n i e b e g r i f f , zur R o m a n t h e o r i e , zum V e r h ä l t n i s v o n S i n n g e b u n g u n d A k z e n t v e r t e i l u n g , um eingangs nur einiges Wesentliche herauszustellen. Neben dem seelenkundlichen verbindet sich ein gewisses s p r a c h p h i l o s o p h i s c h e s I n t e r e s s e fördernd mit den kunsttheoretischen Fragestellungen. Die allgemeine Bedeutung Garves konnte bereits mehrfach berührt werden. Mit Sulzer und Blankenburg wird er, der teils schon unter dem Eindruck der geistigen Welt Herders steht, zum Träger starker fortschrittlicher Strebungen. Vor dem Volkstümlichen schrickt er nach Aufklärerart wohl zurück, nähert sich ihm aber tastend

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gelegentlich der Romantheorie, die das Problem der ständischen und beruflichen Entfremdung, die als unerwünscht gilt, aufgreift. Der Schlesier Garve, dessen Beiträge zur Poetik vorwiegend zur Zeit seiner Professur in Leipzig als Nachfolger Gellerts entstanden, ist wie Geliert durch die Anteilnahme Friedrichs II. hervorgehoben worden, der ihn späterhin zu einer CiceroÜbersetzung („Von den menschlichen Pflichten", 1783) angeregt hat. A l s Ü b e r s e t z e r tritt Garve auf dem Gebiete der Kunsttheorie hervor mit „ B u r k e s Untersuchung über den Ursprung unserer Begriffe vom Erhabenen und Schönen" (1773) und dem nicht weniger einflußreichen „Versuch über das Genie von A l e x a n d e r G e r a r d " (1776). Gemeinsam mit Engel hatte Garve außerdem die Übersetzimg Joh. Nikolaus Meinhards „ H e i n r i c h H o m e , Grundsätze der Kritik" (1772) herausgebracht. Eine ganze Reihe kunsttheoretisch bemerkenswerter R e z e n s i o n e n u . a . ü b e r W e r k e L e s s i n g s und H e r d e r s stammen aus seiner Feder. Und etwa gleichzeitig (1769—1771) läßt er eine Reihe von Abhandlungen erscheinen, von denen die mehrteilige Abhandlung „ Ü b e r d a s I n t e r e s s i e r e n d e " und die andere über die „ V e r s c h i e d e n h e i t e n in den W e r k e n der ä l t e s t e n und n e u e r n S c h r i f t s t e l l e r " erwähnt seien. Die seelenkundliche und sprachphilosophische Neigung läßt ihn — um das mehr zur Metrik Hinüberweisende vorwegzunehmen — in seiner R e z e n s i o n über „Karl Wilhelm R a m l e r s O d e n aus dem Horaz" (1770) die Frage stellen, warum wohl in jedem Satze immer nur e i n e Akzentverteilung mit der rechten Sinngebung übereinstimme und wie die brauchmäßige Verbindung zwischen „gewissen Ideen . . . und gewissen Tönen" zu erklären sei. Von hier aus ergeben sich ihm Einsichten in die metrische Theorie, indem er — Herdersche Anregungen ergänzend — von der historischgenetischen zur wesenhaft-grundsätzlichen Bestimmung des V e r h ä l t n i s s e s v o n Q u a n t i t ä t und A k z e n t übergeht. Mag die Prosodie der Alten regelmäßiger wirken, so kann die der Neueren „vielleicht mannigfaltiger" und überdies leichter zugänglich werden, weil man das Metrum „durch die gewöhnliche Aussprache" findet.Trotz mancher Überschneidungen, von denen sich Garve eine weitere belebende Auflockerung der Versmasse verspricht, bleibt der Grundgedanke bestehen, daß Quantität und Akzent „wirklich zwo ganz verschiedene Bestimmungen unsrer Töne" seien. Nur scheint ihm der Akzent, der sich als der Stärkere erwiesen habe,

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mehr den Sinn hervorzuheben und also „eigentlich auf den Verstand" zu wirken, während die Silbenquantität „nur zum Wohlklange" gehöre und beitrage. Neben den verstheoretischen ergeben sich (wie die Sonderforschung bereits erkannt hat) aus dieser Position auch entwicklungsgeschichtlich bemerkenswerte Erträge für die Stiltheorie. Und noch Arno Holz hätte sich manches ersparen und erleichtern können, wenn er den alten Popularphilosophen Garve nicht verschmäht hätte. Für die Poetik fruchtbarer erweist sich sogleich die „ L a o k o o n " B e s p r e c h u n g (1769). Garves eigene Ideen kreisen schon damals um das Kriterium des „Interessierenden". Nur daß er noch den Terminus „einnehmend" gegenüber „interessant" bevorzugt. Von der Bildkunst wollen wir vorwiegend „ergötzt", von der Dichtkunst „eingenommen" werden. Die Dichtkunst hat es vor allem „unmittelbar mit unserem Herzen zu tun". Sie muß das Herz für oder gegen eine dichterische Gestalt zu gewinnen wissen und den Aufnehmenden „einzunehmen" verstehen. Die Schilderung einer körperlichen Schönheit tritt notwendig für den Dichter zurück, auch in der Wirkung, weil sich der Aufnehmende doch vorzugsweise aus Charakter, Verhalten und Tun gleichsam selbst ein Bild zu machen pflege vom Aussehen der betreffenden Person. Und indem Garve einen wertvollen Fund Joh. A d o l f S c h l e g e l s , den „ A u s d r u c k s " - B e g r i f f einbaut und ein wenig ausbaut (zeitlich v o r Sulzer), kommt er zu dem Ergebnis, daß bei den auf „Illusion" und auf „Imagination" angewiesenen Künsten, also auch bei der Dichtkunst, das beherrschende Gesetz „ d e r A u s d r u c k " , bei den auf unmittelbare Gegenstandsbeziehung eingestellten Künsten dagegen „die Schönheit das höchste Gesetz" sein müsse. Das bloße „Vergnügen der Nachahmung" (Batteux) finde beim Dichtwerk nicht statt. Im Übrigen bereitet Garve die Position vor, die er später in der „Laokoon"-Frage zwischen Lessing und Herder bezieht (HerderRezension), indem er auf die Leistung der nachschaffenden und ergänzenden Phantasie seitens des Aufnehmenden hinweist. Der Dichter setzt hinsichtlich des Anschaulich-Bildhaften die Einbildungskraft des Lesers gleichsam „nur in Aktivität"; die Bilder selbst muß auch die „ K r a f t des Lesers selbst" hervorbringen. Unmögliches will auch Garve ihr nicht zumuten: sie muß bei ihrem Weiterwirken stets an Bekanntes anknüpfen können. Nicht ganz klar wird der innere Zusammenhang zwischen dieser Einbeziehung

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der ergänzenden Phantasie und der vorher aufgestellten bzw. aufgenommenen Lehre von den „ K ü n s t e n des A u s d r u c k s " . Den Weg, das Ausdrucksstarke, Interessante in Beziehung zu setzen zu dem Charakteristischen und von hier aus die Antithese zum Schönen zu gewinnen (Sturm und Drang), verfolgt Garve noch nicht. Aber einige Schritte bewegt er sich doch vorwärts in der Richtung, die dann im Sturm und Drang voll sich entfaltet. Gelegentlich läßt eine Wendung aufhorchen. So etwa, wenn Garve, der das Zurücktreten des körperlich-schönen Gestaltwertes in der Poesie erläutert hat, fortfährt: „Dieses Verschwinden der Gestalt, dieses unmittelbare Anschauen der Seele des andern, wenn ich so sagen darf, kann in gewissem Grade durch Gemälde gewürkt werden" (bes. durch Porträts). Wesentlich bleibt jedoch das Herausstellen des „Ausdrucks" gleichsam als innere, moralische Gestalt für die Theorie der Dichtkunst. Vereinfacht gesagt soll für den Dichter die schöne Seele höher stehen als der schöne Körper (mittelbare Einwirkung des Anmutbegriffes, Zufluß vom Rokoko); das Körperliche hat er nur soweit einzubeziehen, als es Ausdruck des Seelischen, Gesinnungsmäßigen ist und den Eindruck des charakterlichen Verhaltens bestätigt. Fordert er so im Aufnahmevorgang die Bemühung einer aktiv mitarbeitenden Einbildungskraft, also eine gewisse Anspannung, so ist er sich zugleich der inneren Spannung, wie sie zwischen „ E m p f i n d u n g s k r a f t und V e r n u n f t " im Dichter selber besteht, durchaus bewußt, wie aus seinem „ V e r s u c h über die P r ü f u n g der F ä h i g k e i t e n " (1769) deutlich hervorgeht. Und Garve erschwert sich in diesem Versuch, der weiterhin um eine Klärung des Witzbegriffes und Geniebegriffes bemüht ist, jene Überbrückung noch dadurch, daß er das Wort nur als „Zeichen für abgezogene Begriffe" anzusehen gewöhnt ist. Eben diese Auffassung hemmt ihn auch bei einem fruchtbaren Ausbau der Ausdruckslehre. Aber gerade in dem hohen Anspruch einer Vereinigung des scheinbar Widerstrebenden liege das „Eigentümliche und das Seltene" des dichterischen Genies. Es ist kein bloßer Restbestand der Aufklärung; es ist zum mindesten ein Ahnen des geistigen Charakters der Dichtkunst, um dessen Erfassung etwa gleichzeitig der vierte der „Kritischen Wälder" Herders tiefergreifend ringt, wenn Garve (Jean Pauls schönes Wort von der Hirnkammer und Herzkammer vorwegnehmend) etwas trocken formuliert: „ E m p f i n d e n und Denken zug l e i c h , das ist die große Kunst des Dichters". 14 M a r k w a r d t , Poetik II

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Der geistig-seelische Charakter der Poesie, der auch in jenen Abhebungen von der Bildkunst spürbar wurde, läßt den oberflächlichen „Witz" nicht ausreichen, der in entwicklungsgeschichtlich beachtenswerter Weise (Abwehr des eitlen Blendertums) eine beträchtliche Einschränkung seiner Geltung (etwa in Lessings Sinne) erfährt. Voraussetzung des Schöngeistigen hat immer und überall das Geistig-Gesunde zu sein. Einer der Grundgedanken, der auch jenseits des „Versuches" begegnet, ist Garves Überzeugung und Lehre, daß nur ein gesunder Boden die Schönheitswerte, und besonders das Schöngeistige vor (Entartung und) Verbildung in den verschiedenen Wuchsformen bewahren kann. Diese Blickrichtung auf die Lebenszusammenhänge läßt zum mindesten leichte b i o l o g i s c h e A n s ä t z e spürbar werden. Um 1769 kommen schon Teileinwirkungen vom Sturm und Drang her in Frage. Garves R e z e n s i o n der „ H a m b u r g i s c h e n D r a m a t u r g i e " (1770) bringt vor allem seinen Beitrag zur Katharsisdeutung, und zwar in der Weise, daß die Unterschiedlichkeit von F u r c h t u n d M i t l e i d nicht — wie bei Lessing — in einem bloßen Auswechseln der Bezogenheiten (Furcht als ein auf uns selbst bezogenes Mitleid, Lessing) aufgehoben werden könne. Und es gibt Stellen, wo Garve, der seine Abstufung durch Gegenüberstellung des ödipus und des Philoktet und durch philologische Ausdeutung der Begriffe bei Aristoteles zu stützen versucht, ganz nahe vor der Lösung steht, die „Furcht" als das Wuchtig-Erhabene, Erschütternd-Große zu bestimmen und so den entsprechenden Ergänzungsbegriff zur Mitleidstheorie zu finden (Vergleichsbild der vom Sturm niedergeschmetterten Eiche: Furcht; des absterbenden, durch menschliche Hilfe vielleicht noch zu rettenden Fruchtbaums: Mitleid). Außerdem meldet Garve kritische Bedenken an gegenüber der Einseitigkeit Lessings, der im Verhältnis von D i c h t u n g u n d D a t e n t r e u e für den historischen Charakter weitgehende historische Treue, für die Behandlung des historischen Geschehens dagegen dichterische Freiheit forderte. Die Schwäche der Position Lessings in diesem Punkte ist seit Garve, wenn auch vielfach unabhängig von ihm, häufig vermerkt worden. Eine Deutung dieser Einseitigkeit aus dem programmatischen Kunstwollen der „Hamburgischen Dramaturgie" heraus (germanisches Charakterdrama unter Abwehr des romanischen Handlungsdramas) wurde unter Berücksichtigung der Lessingschen Persönlichkeitswertung bereits im Lessing-Abschnitt versucht.

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D a das für die Ästhetik und Poetik bedeutsamste vierte „Kritische Wäldchen" Herders, das vorerst ungedruckt blieb, von Garves R e z e n s i o n ü b e r d i e „ K r i t i s c h e n W ä l d e r " (1769/70) nicht erfaßt werden konnte, liegt das Schwergewicht bei der Stellungnahme zu Herders „Laokoon"-Kritik (Erstes Wäldchen). Garve benutzt die Gelegenheit — und darin ist das kunsttheoretisch Eigene und Wesentliche zu erblicken — , um seine Ideengänge von der M i t a r b e i t d e r n a c h s c h a f f e n d e n P h a n t a s i e , wie sie seine „Laokoon"-Rezension angesponnen hatte, weiter auszubauen. Garve geht zwar auch aus von den Darstellungsmitteln und den Darstellungsmöglichkeiten, ergänzt jedoch in gewissem Grade die grundlegende Zeichenlehre (Meier-Mendelssohn) von den willkürlichen und natürlichen Zeichen und befragt vor allem die geistig-seelischen Vorgänge beim Kunstwert-Aufnehmenden. Die ersten Eindrücke, die bei den bildenden Künsten sinnlich sind, bei der Dichtkunst dagegen geistiger Natur, pflegen danach ohne weiteres eine Ergänzungsfunktion beim Aufnehmenden auszulösen. D a beim Werk der bildenden Kunst die sinnlichen Vorstellungen als ein Zuständliches gegeben sind, kann die Seele ihre eigene Ergänzungsleistung ganz der Aufgabe zuwenden, nun den „nächstvergangenen und nächstfolgenden" Zustand „imaginativ" hinzuzufügen und den so gewonnenen Bewegungsansatz durch entsprechende Erinnerungsvorstellungen weiterhin zur Handlung auszubauen. Bei der Dichtkunst dagegen, die zunächst und „eigentlich nur auf den Verstand" durch das Wort einwirkt, muß die Einbildungskraft in Tätigkeit treten. Und da auch das abstrakte Denken zum Bildhaften neigt — der Symbolbegriff oder doch die Allegorie steht im Hintergrunde — , so werden die ursprünglich unbildlichen Vorstellungen dennoch das „ihnen zugehörige Bild in der Imagination rege" machen. Nur das völlig Unbekannte vermag die nachschaffende Phantasie nicht zu ergänzen. Die Wirkungsästhetik, denn zu einer wirklichen Schöpfungsästhetik dringt Garve nicht vor, verfolgt hier einmal die Wirkung und gleichsam M i t w i r k u n g u n d N a c h w i r k u n g s e i t e n s d e s A u f n e h m e n d e n , und zwar mit Mitteln der damaligen Seelenlehre. Garve spricht in diesem Zusammenhange geradezu von einer „geistigen Handlung". Noch nicht vertraut dagegen ist ihm eine schon im Wort ruhende Bildhaftigkeit, die jenes Ergänzen von sich aus erleichtern würde. Das Wort bleibt als Wort abstrakter Begriff, wenigstens im Rahmen dieser grundsätzlichen Erörterungen. 14

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Bereits diese Herder-Rezension Garves läßt das Grundthema der Abhandlung über das „Interessierende" einmal recht vernehmlich anklingen, um von hier aus Verschiedenartigkeiten der Malerei und Dichtkunst anzudeuten. Da er in knapper Prägung dort schon vieles von dem aussagt, was dann jene Abhandlung eingehender ausführt, mag die Definition hier voranstehen: „Das, was man bei den Dichtern Interesse nennt, besteht beinahe in nichts anderem als in einer gewissen begierigen Erwartung der Folge der Begebenheit und des Fortgangs der Handlung". Die weitschichtig angelegte Abhandlung, die immerhin mehr bietet als „ E i n i g e G e d a n k e n ü b e r d a s I n t e r e s s i e r e n d e " (1771/72, ergänzt durch einen „Anhang" 1779), hätte sich manchen Umweg ersparen können, wenn sie den B e g r i f f des S p a n n e n d e n aus dem Schöße der Interessiertheit entbunden hätte. Denn alles Wesentliche, was dort von der erkenntnisbereichernden Vorstellung und von der seelenbelebenden Empfindung abgehandelt wird, kreist immer wieder um das Moment der Spannung, in der zugleich das D y n a m i s c h e in der emotionellen Funktion eingeschlossen erscheint. Anregung und Spannung, das durch Erwartung Fesselnde oder das ringend Umkämpfte und Umworbene meint letztlich das so mannigfach definierte und erläuterte „Interessierende" Garves. Angeregt und gefesselt, bzw. in seiner Anteilnahmebereitschaft entfesselt wird der aufnehmende Leser seitens des Dichters, so meint Garve, durch ein Aufklären und Erweitern des Erkenntnisvermögens, durch ein gesteigertes Wiedererwecken selbstgehabter Eindrücke mittels der Veranschaulichungsfähigkeit des Dichters, durch ein Ausweiten des Besonderen zum Allgemeingültigen (Ansatz zum Typusbegriff), durch ein Entbinden von Ideen in der verfeinerten Form der Sentenz, indem der Dichter „der Idee so zu sagen aus ihrer Hülse heraushilft", durch ein Auflockern der Stimmung mit Hilfe der „Laune", durch ein Auflockern der Aufmerksamkeit vermöge einer mitdenkenden und mitfühlenden Anteilnahme. Obgleich eine zähe B i n d u n g an die V o r s t e l l u n g s t h e o r i e und E m p f i n d u n g s t h e o r i e , die die Abhandlung nahe an die Seelenkunde der Zeit heranrückt, Garve streckenweise vergessen läßt, daß seine Abhandlung „für die Dichter und Schriftsteller" bestimmt sein soll, sind immerhin einige Erträge für die mehr beschreibende und angewandte Poetik zu buchen. So ist es wohl kein bloßes Zurückflüchten zur Vollkommenheitsästhetik,

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wenn Garve entgegen den herrschenden „Meinungen der Geschichtsschreiber und der Kunstrichter" den Glauben an die dichterische Möglichkeit eines „vollkommenen Charakters", den Lessing ablehnte, festhält. Gegenüber dem herrschenden Primat der „vermischten Charaktere" (auf dem Hintergrund der „vermischten Empfindungen" Mendelssohns) gilt ihm der vollkommene Charakter als das „interessanteste Gemälde, das aus der Feder eines Dichters fließen kann" und zugleich als ein, wenn auch noch fernes Idealziel der Dichtkunst schlechtweg. Voraussetzung für die Verwirklichung und Glaubhaftmachung sei jedoch die c h a r a k t e r m ä ß i g e W ü r d i g k e i t u n d Größe der D i c h t e r p e r s ö n l i c h k e i t . Wir kennen zwar nur eine Vollkommenheit „der ganzen Gattung", nicht des Einzelmenschen. Der Dichter von hohem Persönlichkeitswerte indessen hat sich weitgehend dem idealen Gattungswerte anzunähern. In der Gestaltung hat er aus der Fülle der individuellen Verbesonderungen — offenbar unter Nachwirkung von Winckelmanns „idealischer" Schönheit — das Edle, wenn nicht vereint, so doch „stückweise aufzusammeln". Eine entsprechende Ansatzstelle für den Typusbegriff der Klassik zeichnet sich, obwohl noch unscharf, doch unverkennbar ab. Derartige anregende E i n l a g e r u n g e n k e i m t r ä c h t i g e r N a t u r innerhalb der etwas spröden Erörterungen Garves gewinnen entwicklungsgeschichtliches Leben, wenn man beobachtet, wie auf der tragenden Ebene der Emotionstheorie eine E r s t a r k u n g des n u r E m o t i o n a l e n zum D y n a m i s c h e n stattfindet. Oder wenn sich unter den an sich moralpädagogischen Einfärbungen die gesunde, frische Farbe der Tatbereitschaft, des Tätigkeitsdranges einer Seelenhaltung kräftigt, die auf die Willensbildung fördersam und heilsam übergreifen möchte. Das Wort „Tapferkeit" begegnet, wie der Torso eines Denkmals auf Thomas Abbt, häufiger und erscheint bei Garve zuversichtlicher als vielfach bei den Aufklärern in der Reihe der Tugenden. Ein „weibisches, tändelndes Wesen" (Abwehr der Anakreontik) sagt ihm nicht recht zu, obgleich er sich klar darüber zu sein glaubt, daß seine Gegenwart mehr einer spezifisch weiblichen als einer männlichen Lebensstimmung sich zuneige. Leben gewinnen solche Einschläge allerdings erst dann, wenn man sie in größerem Zusammenhange zu sehen versucht. Wenn dem Wiederauftauchen jener beiläufig berührten Merkm a l s g r u p p e n : m ä n n l i c h - w e i b l i c h auch in späteren Entfaltungsräumen der Literaturphilosophie ausgereifter wiederbe-

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gegnet, besonders bei J. Görres, Jean Paul u. a. Wenn man den Ansatz zum Dynamisch-Aktivierenden im Zusammenhang mit dem Sturm und Drang, wenn man das Gattungsideal im Zusammenhang mit dem Typusbegriff der Klassik zu erkennen sich bemüht. Und nicht zum wenigsten wird die aufbauende Teilkraft in Garve sichtbar, wenn man sein ernstes Ringen um Persönlichkeitswertung im Dichtertum späterhin verstärkt antrifft, etwa bei Schiller, bei Platen, im Münchener Dichterkreise, bei Paul Ernst, um nur einige „Orte" kurz einzuzeichnen. Die Frage, wie denn der Dichter nun durch Leidenschaftsschilderung „interessieren" oder „einnehmen" könne, verbindet sich im späteren „Anhang" zu der Abhandlung (ihre Veröffentlichung in der „Neuen Bibliothek" war Fragment geblieben) mit dem Handlungsbegriff Lessings, und zwar mehr dem der Fabelabhandlung als dem des „Laokoon". Im Seelengemälde des Dichters ist die Leidenschaft dasselbe, „was die Bewegung in der Schilderung der Körper ist". Sie enthüllt die im Charakter wirksamen Kräfte und Gewalten (Wiederannäherung an die Ausdruckslehre). Die Gefahrenzone bei der Darstellung hoch emporgetriebener Leidenschaften wird im Schwülstigen gesehen. Leicht verrate sich darin ein „Mangel an Urteilskraft" und „Geschmack". Garve hat also auch den Terminus „Urteilskraft", der, besonders seit Gottsched geläufig, später durch Kant geweiht werden sollte, obgleich er für die Kunstdeutung beträchtliche Nachteile in sich barg. Wieder drängt Garve aber auch auf das in sich Gesunde und das Edle zu und damit erneut ein wenig in die Richtung der Klassik. Denn „das wahrhafte und männliche Genie zeigt sich am meisten, wenn es die Natur in ihrer Reinigkeit und Gesundheit schildert". Dieser Grundwert des Gesunden setzte sich schon in dem „Versuch über die Prüfung der Fähigkeiten" durch und begleitet auf weite Strecken hin Garves Kunstanschauung. Während die Abhandlung „Uber das Interessierende" bei betonter Herausstellung der„Gemälde unsrerZeit und unsrer Nation" eine Loslösung von den Alten mehr von der gegenwartsstolzen, letztlich aufklärerischen Abwehr antiken Götter- und Schicksalsglaubens aus vollzogen und die erwähnte Ramler-Rezension die sprachlich-metrischen Verschiedenheiten erörtert hatte, soll die gerechte Abhebung in der Gestaltungsweise ermöglicht oder doch erleichtert werden durch die „ B e t r a c h t u n g e n einiger Verschiedenheiten in den Werken der ä l t e s t e n und neuern

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S c h r i f t s t e l l e r , i n s b e s o n d e r e der D i c h t e r " (1770). Und indem Garve Haltung und Gestaltung der „ältesten" Dichter erläutert als eine absichtlose und zwanglose Naturnähe mit entsprechender „Simplizität" des Ausdrucks, und indem er den neueren Dichtern ein absichtvoll-bewußtes Verfahren (Lessing) zuschreibt, nähert er sich um einige, wenige Schritte der Position Schillers in der Abhandlung „Über naive und sentimentalische Dichtung". Damit ist zugleich die größte Reichweite dieser Erörterungen, die Gellerts verwandte Ausführungen weit überboten, im Räume der Vorklassik umschrieben. S p r a c h p h i l o s o p h i s c h e A n s ä t z e bringen unter Berühren des Symbolwertes und bei Vorherrschen der Zeichenlehre eine Art von Stufung nach dem Grade der Deutlichkeit: hieroglyphisch, allegorisch, symbolisch (s. Frz. Schultz). Neben der Sprachstufe (Herder) entscheidet die Kulturstufe. Vorzugsweise sieht Garve eine Möglichkeit für die Neueren, trotz der Alten original zu sein, auf dem Gebiete „innerer", geistig-seelischer Analyse, gemäß der Überlegenheit der neuzeitlichen Seelenlehre und Seelenkunde. Die Stoffwelt der Neueren ist eingeschränkter, kann aber vertiefter erfaßt werden durch die Auswertung verfeinerter psychologischer Beobachtungen. Es kommt auf ein Spielenlassen und Aufdecken der „geheimem kleinem Triebfedern" der Seele an. Was man also etwa an Lessings Dramen in der Charakteristik vielfach als störend empfinden mag, die „Zergliederung" seelischer Vorgänge, entsprach durchaus dem Kunstwollen der Zeit und verwirklichte dessen kühnste Ziele. Zugleich bestätigen und verraten derartige Metaphern — die allerdings noch lange nachwirken — , daß man in Kreisen der Popularphilosophen immer noch die Seelenvorgänge als (wenngleich sehr feinen und komplizierten) Mechanismus ansah. Daran ändert auch wenig der Umstand, daß in Garves Geniebegriff schon manches leicht geniezeitgemäß Gefärbte nachzuweisen ist, aber doch eben zu einer Zeit, als Hamann, Gerstenberg und auch Herder schon zu Wort gekommen waren, und zwar in einer auch sonst zeitüblichen Weise. Am ehesten wäre neben den schon oben gelegentlich gewürdigten Faktoren (Bewährung des männlich Genialen im Ergreifen des Reinen und Gesunden der Natur) der Wunsch einer nationalen Wirksamkeit des Genies, die Vorstellung des Adeligen im Genie und die Auffassung der G e n i a l i t ä t d e s E i n z e l n e n a l s eine V e r d i c h t u n g der N a t i o n a l b e g a b u n g (gesammeltes Hervortreten der sonst im Begabungsbestand der

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Nation verteilten, wohl auch versteckten Kräfte; Vorform der romant. Anschauung J. Grimms) besonderer Hervorhebung wert. Daß es schwer ist, über alle Erscheinungsweisen des Genialen „bis zur wirkenden Kraft selbst" (eben dem Genie) vorzudringen, darüber ist sich schon der Garve der G e l l e r t - A b h a n d l u n g von 1770 durchaus klar. Bei alledem wird die Grenze des „Auflockerers" nicht wesentlich überschritten, auch beträchtliches rationalistisches Erbgut mitgeschleppt. Es ist nicht unwahrscheinlich, daß der Hinweis Garves auf das Sondergebiet des „innern Menschen" in jenen „Betrachtungen" über die Alten und Neueren anregend auf Blankenburgs Versuch einer Romantheorie hinübergewirkt hat. Garve selbst hatte A n s ä t z e zu e i n e r R o m a n t h e o r i e geboten. Ein wenig wohl auch aus der Gesamttendenz der „Betrachtungen" heraus. Denn der Roman wurde als eine der Gattungen empfunden, die nicht von den Griechen als Muster gesetzt waren. Wesentlich aber erscheint die Wendung, daß neben dem Schauspiel gerade auch dem Roman eine s t ä n d e - und b e r u f ü b e r b r ü c k e n d e A u f g a b e zugewiesen wird. Die neue Zeit habe durch notgedrungenes Spezialistentum die wünschenswerte Fühlung zwischen den Berufen und Ständen in einem bedauerlichen Grade verloren gehen lassen. Der aus der lebendigen Gemeinschaft (der Alten) gelöste und vereinsamte moderne Mensch findet nun durch die Dichtkunst und nicht zum wenigsten durch den Roman behelfsmäßige Brücken sowohl zu den höheren Ständen der „Großen", die dem Bürgertum nicht mehr offen stehen, als auch zu den „niedrigsten Klassen", die das Bürgertum aus „Vorurteil" meidet. Auch der Umstand, daß Garve in dieser Haltung ein Vorurteil sieht, ist recht bemerkenswert. Durch den Romanschreiber und Dramatiker lernt der Aufnehmende in jenen ihm ständisch und beruflich entfremdeten Welten gerade des einfachen Mannes manche Herzensregungen, Gemütswerte und „Äußerungen der Natur" wieder kennen und schätzen, „die uns bei uns selbst (im gebildeten Bürgertum der Aufklärung) gefallen". Wir müssen uns also durch die Dichtung wieder erobern, was die Alten von Natur aus besaßen. Etwa nach der Art Herders, den Garve mit Nutzen gelesen hat, kapituliert auch Garve nicht vor dem Kulturpessimismus Rousseaus. Aber er vertritt auch nicht mehr den rein aufklärerischen Gegenwartsdünkel, sondern kennt die Schwächen, die im verdünnten Bildungserleben und in der Mittelbarkeit der Erlebnis-

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weise der Neueren liegen. Und er möchte dem Roman, dem er hier gewiß nicht zufällig die angesehene Stelle neben dem Schauspiel einräumt, die kulturpolitisch bedeutsame Fähigkeit und Möglichkeit zuerkennen, jener Vereinsamung entgegenzuwirken. Damit folgt er dem allgemeinen A u s g l e i c h s s t r e b e n d e r A u f k l ä r u n g . Aber es verdient Hervorhebung, daß es dabei nicht um ein Ausgleichsstreben zwischen den Religionen und Konfessionen (im Sinne der Toleranz) oder um ein Ausgleichsstreben zwischen Bildung und Unbildung im Allgemeinen (im Sinne der Popularphilosophie) geht, sondern spezifisch um ein Ausgleichsstreben zwischen den verschiedenen Berufsständen, und zwar unter Einbeziehung nicht nur des Bürgertums, sondern auch der „niederen" Berufsklassen. Die Stärke des Vorwurfs, die darin liegt, daß Garve jenes Mißachten der „niederen" Stände und die Scheu vor ihrer Schlichtheit als „Vorurteil" bezeichnet, wird erst voll erkennbar, wenn man gebührend berücksichtigt, ein wie schwerer Vorwurf für den Aufklärer im „Vorurteil"-Haben lag und der ganzen Stoßrichtung der aufklärerisch-fortschrittlichen Weltansicht und Lebensauffassung nach auch liegen mußte. Wie Garve das Genie, ohne ihm Schranken setzen zu wollen, doch vorzugsweise wirken sehen möchte auf Gebieten, die dem Volke und der Zeit förderlich sind, so überträgt C h r i s t i a n F r i e d r i c h v o n B l a n k e n b u r g , der Fortführer der Sulzerschen „Allgemeinen Theorie" (Literarische Zusätze), die k u l t u r p o l i t i s c h e n F o r d e r u n g e n , die Sulzer (wie Bodmer) vorwiegend für das Schauspiel erhoben hatte, auf den Sonderbezirk der R o m a n t h e o r i e . Blankenburgs anonym erscheinender, breitschichtig (über 500 Seiten Umfang) angelegter „ V e r s u c h ü b e r d e n R o m a n " (1774) ist bereits im Grundgedanken bestimmt und getragen von dem Verantwortungsgefühl, gerade die Dichtungsgattung bzw. Dichtungsart, die am weitesten in die breiten Schichten des Volkes hineinwirkt, in würdige Pflege zu nehmen, damit das Volkstümliche zugleich volkswürdig und kunstwertig werden könne. Blankenburg drückt das anders aus; aber er zielt in diese Richtung. Der Freiherr von Blankenburg setzt sich entschieden dafür ein, daß eine falsch verstandene geistige Vornehmheit nicht länger eine Inangriffnahme der Theorie des Romans verschmähen dürfe, daß nicht mehr oder minder mißachtend über eine Dichtart hinweggegangen werden sollte, die „nun einmal d i e U n t e r h a l t u n g d e r M e n g e " darstellt. Eben deshalb aber werde jene

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„Sorglosigkeit strafbar" aus soziologischem Verantwortungsgefühl heraus, das vielmehr „zuvörderst" darauf hinarbeiten müsse, „dem größten Teil des menschlichen Geschlechts gesunde Nahrung zu verschaffen". Der Roman ist das Epos der modernen Völker. Die Geschmackswandlung gegenüber den Alten ist kein „Verfall", sondern ein zeitmäßig und volksmäßig bestimmtes und berechtigtes Anderssein. Selbst der auf das allgemein Menschliche gerichtete Romandichter — und sein Streben wird gutgeheißen gerade für den zu erstrebenden „classischen" Roman — kann doch nur dann wirklich „glücklich" und erfolgreich wirksam werden, wenn er „sein Volk doch nie mit seinen Besonderheiten dabei vergißt, sondern in seiner Art so national ist, als es die griechischen Dichter für ihr Volk waren. Dadurch glaub' ich, kann der Romandichter classisch, und sein Werk des Lesens wert werden" (Vorbericht). Das Wertwort „classisch", an sich von Lessings empfehlender Äußerung über Wielands „Agathon" nahegelegt (und Wielands Werk gilt neben Fielding und — Hermes vorerst als Vorbild-Poetik), begegnet also in einer bemerkenswerten Verbindung nicht nur mit dem Menschlich-Allgemeinen und dem Antiken, sondern auch mit demNationalVerwurzelten. Es war dies der kühne Entwurf einer Synthese, die in der deutschen Klassik doch nur teilweise und nur, weil Schiller neben Goethe stand, erreicht werden konnte. Der Entwurf stammte von Sulzer. Aber daß Blankenburg ihn aufgriff, war wesentlich, obgleich Merck vier Jahre später in einem romantheoretischen Aufsatze im „Teutschen Merkur" spotten konnte, der Ruf nach dem „Teutschen" sei in der Romanproduktion eben doch nicht erfüllt worden. Merck macht dann mit der Forderung Ernst, wirklich einmal von der Erzählweise des Mannes aus dem Volke zu lernen, entsprechend der Grundhaltung der Geniezeit. So weit geht Blankenburg, der am Übergang von Aufklärung und Sturm und Drang verharrt, noch nicht. Doch lehnt er, zwar ohne die Schärfe der geniezeitgemäßen Angriffe, Aristoteles als für die Deutschen verbindlich ab, da er an die „eigentümliche Denkungsart seines Volkes" gebunden geblieben wäre. Es müßte vielmehr ein „neuer Aristoteles aufstehen und eine deutsche Poetik schreiben". Die nationale und nationaleigene (das etwa sagt das Attribut „eigentümlich", dem Volkscharakter als Eigentum zugehörig) „Denkungsart" zu berücksichtigen, hatte an bedeutsamer Stelle schon Lessings siebenzehnter Literaturbrief gelehrt. Und

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mehr auf Lessing als auf Herder fußt Blankenburg, nicht ohne dieses und jenes von Herder angenommen zu haben. Lessings Stil wird als „original deutsch" mit kulturpatriotischem Stolz herausgestellt. Und Herders Name fällt, als es um die Abwehr eines undeutschen, verweichlichten und „entmannten" Sprachstils geht, den Blankenburg mit Herder bekämpft. Lessings kulturpatriotischer Appell gelegentlich der Empfehlung von Wielands „Agathon" wird für die Gegenwartsleistung mit Wärme aufgegriffen, wie Blankenburg aus der Vergangenheit Wolfram von Eschenbach als den „ältesten Romandichter" in Anspruch nehmen zu können glaubt. Allerdings das Epos, weil es auch mit dem Motiv national verwurzelt sei oder doch sein sollte und nicht nur mit dem Dichter, gilt als noch inniger der nationalen Denkungsart verbunden, wenngleich nicht als Volkspoesie wie bei J. Grimm (im 19. Jh. Wilhelm Jordan). Das Epos aber sollte sich im Sinne der Wirkungsästhetik und der mit ihr verbundenen kulturpatriotischen Leitidee bemühen, nun auch in der Tat „Einfluß auf ein deutsches Publikum" zu gewinnen. Da das Epos mehr Taten, der Roman mehr den menschlichen Zustand, mehr „Sein" und Wesen des Menschen darstellend zu erfassen hat (hier hätte noch Karl Gutzkow anknüpfen können), so vermag die Kulturgeschichte „wichtige B e i t r ä g e z u r G e s c h i c h t e des G e s c h m a c k s u n d der S i t t e n " der Völker aus einer Geschichte des Romans zu entnehmen. Vom Romandichter her gesehen, stellt sich diese Seite so dar, daß ein starkes Einbeziehen der Umwelt, und zwar besonders der „einheimischen Sitten" verlangt wird. Eben dadurch aber vermag „der Dichter für die Nation höchst lehrreich" zu werden, fruchtbarer als durch ein Einflechten allzu geschätzter „Sentenzen". Damit mündet Blankenburgs Romantheorie auch in ihren späteren Teilen wieder ein in die angedeutete Linie. Ideengeschichtlich ist nun besonders fruchtbar zu beobachten, wie die kulturpatriotische Linie keineswegs die Herausbildung einer Art von H u m a n i t ä t s b e g r i f f im Sinne des allgemeinen „ M e n s c h e n t u m s " ausschließt; doch fordern derartige Ansätze zum Humanitätsbegriff nicht nur im Hinblicken auf Herder und W. v. Humboldt verstärkte Aufmerksamkeit. Gern herangezogen werden als G e w ä h r s m ä n n e r vor allem Home und Diderot, vereinzelt auch Helvetius mit der für die Entwicklung des Geniebegriffs bemerkenswerten Schrift „De 1'esprit"

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(1758). Blankenburg rückt dabei zwar vom Philosophen Helvetius betont ab, verweist aber auf Nutzungsmöglichkeiten seitens der Ästhetik. Zugleich ein kleiner Beitrag zum Umstrittensein der Geltung Helvetius' (Baeumler-Cassirer). Bekannt sind weiterhin Burke, der aber noch nicht wie bei Riedel vom interesselosen Wohlgefallen aus erfaßt wird; außerdem Garve u. a. Wenn also Blankenburg das Nichtkennen und Nichtkennenwollen des für Romanfragen so beliebten Gewährsmannes Huet (s.Bd.I) hervorhebt, so bedeutet das nicht eine Absage an Theorie und Theoretiker schlechtweg. Vielmehr verleiht eben das Wissen um den Besitz einer philosophisch und psychologisch unterbauten Ästhetik und Poetik, die er an entscheidenden Stellen immer wieder zu nutzen versteht, ihm den Mut und die Zuversicht, einen von Grund auf neuartigen „Versuch über den Roman" unternehmen zu können, ohne erst den überholten Huet befragen zu müssen. Aber er will doch auch nicht selbst eine philosophische Roman-Ästhetik bieten, sondern Anregungen geben und Forderungen ableiten. Blankenburg begnügt sich in der Tat durchweg mit „Winken". Die Regel steht 1774 nicht mehr hoch im Kurs. Und er tat gut, gerade innerhalb seiner Schlußpolemik gegen die psychologischen Unwahrscheinlichkeiten des Briefromans die Einräumung zu machen, die zugleich den Zuwachs an Geltung des Genies erkennen läßt: „Es sei ferne von mir, dem Genie Grenzen vorzeichnen zu wollen! Es kann vielleicht auch diese Einkleidung der Geschichte in Briefen so behandeln, — ob ich es gleich nicht abzusehen vermag — , daß der kaltblütigste Untersucher nicht Anlaß zum Tadel erhält" (S. 525). Erschien doch in demselben Jahre Goethes „Werther" 1 An entscheidenden Erträgen und durchgängig herausgearbeiteten Forderungen treten bei aller Weiträumigkeit der Anlage des „Versuches" dennoch greifbar zutage: I n d i v i d u a l i s i e r u n g u n d M o t i v i e r u n g , wobei die Individualisierung letzten Endes nach der grundsätzlichen Seite auf Baumgarten zurückgehen dürfte, aber natürlich durch geniezeitgemäße Teilimpulse damals schon gekräftigt worden sein kann. Die Motivierung wirkt teils noch recht rationalistisch, teils doch aber auch empiristisch-psychologisch als enger Verband von „Ursache und Wirkung". Der „Romanendichter" (so durchweg) soll vor allem „seine Personen individualisieren". Daraus erklärt sich die Empfehlung, durch reiche „Einzelzüge" den Charakteren epische Fülle (gern als„Rotun-

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dität" oder „Ründung" auch jenseits der Romantheorie Blankenburgs umschrieben) zu sichern und sie nicht nur als ideelles „Skelett" anzudeuten. Lessings Marinelli aus der „Emilia" dient als Beispiel eines mustersetzenden Verschmelzens der beruflichständischen Wesenszüge (Diderot) mit den menschlichen Charakterzügen. Diderots bloße Standescharaktere werden mit Passilot jedoch als zu einseitig abgelehnt. Was hier schon anklingt, kennzeichnet überhaupt das Gesamtwerk Blankenburgs, das unter Ablehnung einer strengen Trennung der Dichtgattungen (diese Lehre, wie auch z. B. die von den „Einheiten" sei nur ein „Wahn") und des Redezuteilungs-Kriteriums den D i a l o g für den Roman retten möchte. Soweit nämlich eingehende Analysen geboten werden, überwiegen in dieser Romantheorie die — Dramenanalysen, so von Shakespeare und Lessing. Die Erörterungen über Shakespeare dürften gewonnen haben durch die Kenntnis von John Dennis' „Essay on the genius and writings of Shakespeare". Doch versuchte sich Blankenburg bekanntlich selber als Shakespeareübersetzer. Der Übergang zum eigentlichen Thema erfolgt vielfach so, daß dem Romandichter die Nutzanwendung auf seinem Sondergebiet überlassen bleibt mit dem tröstlichen, aber doch etwas verlegenen Hinweis: „Die Anwendung für den Roman wird dem Romandichter nicht schwer werden". Der Bestand an wertvollen deutschen Romanen schien Blankenburg zu gering, um eine tragfähige Grundlage für die Theorie bieten zu können. Denn Wieland allein reicht bei aller Anerkennung nicht aus, genügende Beispiele zu stellen (Richardson wird teils kritisch bewertet). So ergibt sich wie für das Prinzipielle auch für das Besondere ein ständiger Übertragungsvorgang vom Drama auf den Roman. Ohne es zu wissen oder zu wollen, behalf sich Blankenburgs Romantheorie im letzten Drittel des achtzehnten Jahrhunderts also ganz ähnlich, wie sich streckenweise die Romantheorie bzw. die Theorie des Epos im siebzehnten Jahrhundert beholfen hatte (s. Bd. I). Abgewehrt werden verlogene Liebesgeschichten, die den Leser lebensfremd machen, verworrene Abenteuer- und Reiseromane und ähnliche Formen. Blankenburg regt an, daß neben dem Typus des Liebesromans andere Formen, für die vorerst noch der Tristram Shandy und der „Sebaldus Nothanker" Nicolais die Vorbild-Poetik stellen müssen, weil sie „so höchst selten" seien, in weit verstärktem Grade in bewußte Pflege genommen werden sollten. Überhaupt

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hebt Blankenburg (trotz der Vorrede!) durchgängig die „gewöhnlichen Romane" ab von der zu erstrebenden und teils schon erreichten (Wieland) Idealform. In den Grundzügen hatte eine ähnliche Haltung in der Wertung des Romans schon Gottsched vorgezeichnet. Das Prinzip der Individualisierung jedoch greift wesentlich tiefer. Die Zuteilung des im öffentlichen Leben stehenden „Bürgers" (Epos) und die davon abgehobene Zuteilung des „Menschen" schlechtweg (Roman) scheint eher geeignet, Verwirrung anzurichten als Klärung zu schaffen. Denn — und das wird von Sonderuntersuchungen teils übersehen — Blankenburg meint ja eben doch den ausgeprägt b ü r g e r l i c h e n Menschen, wenn er vom Romanhelden spricht, so daß in der Tat Joh. C a r l W e z e l in der V o r r e d e zu „Herrmann und Ulrike" (1780) die Linie folgerichtig innehält, wenn er vom „eigentlichen" Roman als von einer „bürgerlichen Epopöe" spricht. Bedeutungsvoll würde jene Beharrlichkeit Blankenburgs, das „Menschliche" zu betonen, erst dann werden, wenn man daran erinnert, daß um 1774 mehrfach bereits bedeutsame Ansätze vorbereitender Art zur Klassik hin erkennbar werden. Blankenburg versteht unter „Bürger" den politischen Menschen, unter „Menschen" aber den vielfach unpolitischen Bürger des 18. Jahrhunderts, wenngleich mit einer g e w i s s e n T e i l t e n d e n z zum Humanitätsbegriff. Im Widerhall der zeitgenössischen Kritik stellt schon eine umfangreiche, zweiteilige R e z e n s i o n der „ N e u e n B i b l i o t h e k " (1775/76) sogleich die Unterscheidung von „Mensch" als Zentralgestalt des Romans und „Bürger" ( = politischer Mensch) als Zentralgestalt des Epos deutlich, aber nicht ohne kritische Einwände gegen Blankenburg heraus. Ein Abdrängen des Epos zur bloßen „Helden- und Staatsaktion" müsse vermieden und zum mindesten der Versuch gemacht werden, a u c h d a s E p o s m e h r n a c h der S e i t e des R e i n m e n s c h l i c h e n h i n z u e n t w i k k e l n . Die Rezension bemüht sich um eine Theorie des Epos, wobei eine Parallele zwischen Epos und Ode hinsichtlich der feierlich gesteigerten Darstellungsweise eben jener Beweisführung dienen soll, daß der epische Held nicht immer ein historischer Held zu sein brauche. Was den Roman betrifft, so wird neben dem Charakter (Blankenburg schwebt der Charakterroman vor) die Begebenheit gefordert, dergestalt daß „interessante Charaktere" mit „merkwürdigen Schicksalen" sich verbinden müßten. Außerdem

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habe Blankenburg (der übrigens in Wirklichkeit die ungünstigen politischen Voraussetzungen in Deutschland für den Humoristen betonte) den „komischen Roman", für den ein freierer Episodengebrauch gestattet sei, zu wenig berücksichtigt. Es mag indessen in diesem Zusammenhange hervorgehoben werden, daß Blankenburg den Humor des „Kopfes" von dem des „Herzens" unterscheidet, ja, daß er geradezu zwei Klassen von „Humoristen" je nach Denkungsart oder Empfindungsweise voneinander abheben möchte. Wenn der Rezensent über die Form des Briefromans zuversichtlicher urteilt als Blankenburg, so ermutigt ihn dazu die große inzwischen zugänglich gewordene Leistung des Schaffenden, Goethes „Werther". Offenbar ist unter diesem Eindruck das Idealattribut „empfindungsvoll" durchweg neben das alte Idealattribut „verständig" gestellt worden, wo immer vom echten „Erzähler" die Rede ist. Eine H a l l e r - R e z e n s i o n der „Neuen Bibliothek" (1775), die ebenfalls von der kunsttheoretischen Sonderforschung übersehen worden zu sein scheint, geht gelegentlich einer Besprechung von A. v. Hallers „Fabius und Cato" auf den Sondertypus der „ p o l i t i s c h e n R o m a n e " ein, die von den „hergebrachten" Grundsätzen und Theorien abweichen, deshalb aber nicht einfach abzulehnen sind. Hallers „Usong" und „Alfred" gelten als gute „politische" Romane auf Grund der „ l e i c h t e n u n d s c h ö n e n E i n f a l t " der Anlage und des Ineinandergreifens von Charakterzeichnung und Handlung. Die m o r a l i s c h e n Romane sind von den p o l i t i s c h e n zu unterscheiden. Die moralischen Romane — und es wird schon die Bezeichnung „individuelle Klasse" für diese Romangruppe erwogen — schildern Begebenheiten und Schicksale von „Privatpersonen" (das meinte recht eigentlich Blankenburg, wenn er vom „Menschen" als Romanhelden sprach). Der politische Roman müsse die Menschen „in Absicht der Vereinigung vieler zu einem Zwecke" (Hobbes ? Abbt ?) darstellen und so das Verhalten „großer Gesellschaften gegen einander". Der „politische Romandichter" würde sich, wenn er wie im moralischen Roman die Menschen, wie sie sind, schildern wollte, zu sehr dem Historiker nähern. Für ihn bleibt, da utopische Romane fragwürdig erscheinen, nur die „dogmatische" Gattung übrig, die mehr politische Zustände und Verhältnisse belehrend-idealisierend erfasse und vermittle, „wie sie sein sollten". Der politische Roman, der die „Vereinigung vieler zu einer großen Gesellschaft, deren

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Grundsatz das allgemeine Wohl" ist, und ähnliche Motive bevorzugen müsse, verlange von vornherein ein anspruchsvolleres Publikum, fordere als Leser wahre „Kenner". Doch sollten derartige Hinweise dem „künftigen Genie" im Bereiche des politischen Romans keine Fesseln anlegen. Die Kunsttheoretiker und Kritiker sind damals schon weit bescheidener geworden als zu Gottscheds Zeit. Dennoch weicht man von der mühsam genug eroberten Machtstellung der Gesetze nur schrittweise zurück (. . . „allein so lang dies nicht geschehn i s t . . . " , gelten die Gesetze als verbindlich) und hält in diesen Kreisen die kunsttheoretische und kritische Position so lange, bis die geniale Leistung zum Aufgeben der Stellung zwingt. Soviel zur Ergänzung der Romantheorie jenseits Blankenburgs. Auf seine launig und weltklug plaudernde, nicht überall scharfgeistig zugespitzte Art, die im Aphorismus und Brief und Fragment die rechte Darstellungsform sucht und findet, hat G e o r g C h r i s t o p h L i c h t e n b e r g (1742—1799), der den Lebensdaten nach also schon Generationsgenosse Herders war, aber weit mehr als Lessings Artverwandter wirkt, ein kleines Fragment „ Ü b e r den d e u t s c h e n R o m a n " entworfen. Er bedauert in dieser lustigen Plauderei mehr schalkhaft als ernsthaft den deutschen Romanschriftsteller (als vollwertige Dichtungsgattung gilt der Roman offenbar noch nicht), weil „unsere Lebensart nun so simpel geworden und alle unsere Gebräuche so wenig mystisch", weil „unsere Städte meistens so klein, das Land offen" und „Alles sich so einfältig treu" sei, daß „ein Mann, der einen deutschen Roman schreiben soll, fast nicht weiß, wie er Leute zusammenbringen oder Knoten schürzen soll". Das junge Mädchen sei so häuslich auf das Ideal der zukünftigen „Koch- und Nähmama" ausgerichtet, daß es schier „ein unüberwindliches Hindernis für den Romanschreiber" werden müsse. Der englische Kamin gestatte doch noch romanhaften Liebhabern romanhafte Zugangsmöglichkeiten. Aber „in Deutschland käme ein Liebhaber schön an, wenn er einen Schornstein hinabklettern wollte". Entsprechendes gelte von den prosaisch hartsitzigen Postkutschen mit ihren höchst problematischen Anschlußmöglichkeiten. Bestenfalls blieben noch einige Klöster als romanhafte Bestände verfügbar, jedoch „wenn es einmal keine Klöster mehr gibt, so ist das Stündchen der deutschen Romane gekommen". Kurz, die kleine Skizze, die trotzdem in ihrer Art ausmalt, hat offenbar das im Auge, dem listig und lustig

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zwinkernden Auge des humoristisch gedämpften Satirikers, was Sulzers Lexikon unter dem Stichwort „Romanhaft" verzeichnet. Lichtenberg will auf die Bloßstellung romanhafter Liebesgeschichten hinaus. Daß Lichtenberg aber auch schon den ernster zu nehmenden „ R o m a n " kannte, der im Stichwortreichtum Sulzers vorerst noch fehlte, deuten eine Reihe von Aphorismen an, unter denen einer den „Sebaldus Nothanker" Nicolais anscheinend anerkennend erwähnt, indem er angesichts der Übersetzung des „Nothanker" ins Englische fragt: „Warum schreibt ihr denn keine Romane wie den Nothanker?" Dieser Aphorismus scheint zudem auf das Fragment „Über den deutschen R o m a n " unmittelbar Bezug zu nehmen. Nicht ohne das leise Glitzern und Knistern der Ironie, das manchen Aphorismus erst voll lebendig macht, schlägt er in einem anderen Aphorismus die Gründung einer Gesellschaft zur „Beförderung des Romanschreibens" vor. Aber Ernsthaftigkeit schwingt im Fordern mit, wenn diese an sich komisch belichtete Gesellschaft nun Beobachter ins Land und ins Leben auszusenden hat, die „Charaktere sammeln" oder „Redensarten" und selbst „Flüche" einschicken sollen. Zwar mit dem Charaktere-Sammeln, zum mindesten mit dem „Originalcharaktere"-Finden sei es in Deutschland zur Zeit noch recht schlecht bestellt. So meint wenigstens Lichtenbergs Satire gegen die Originalitätssucht im ebenfalls nur fragmentarischen „ P a r a k l e t o r " . Denn der nach erfolgter Rezeption der englischen Romane in Deutschland vielfach vernommene Ruf und die laut erhobene Forderung „ W i r wollen deutsche Originalcharaktere hinein"-haben in den neu zu schaffenden Originalroman, werde wohl — wie Lichtenberg skeptisch meint — solange unerfüllt bleiben müssen, als die Menschen in Deutschland nicht von Grund auf umgeprägt und andersartig, d. h. selbständig erzogen und gelenkt würden. Originalcharaktere wären für Lichtenberg vor allem Selbstdenker gewesen, die er bislang noch vermißt, ähnlich wie er in einem der Aphorismen der Möglichkeit deutscher Originalcharaktere und „deutscher Sitten" im deutschen Drama recht kritisch gegenübersteht. An sich geht also Lichtenberg ähnlich wie Merck aus von der Polemik gegen den billigen Patriotismus, der nach deutschen Originalromanen ruft. Aber er bleibt wesentlich im kritischen Bedenken stecken, während M e r c k „Über den Mangel des epischen Geistes in unsertn lieben Vaterland" (1778) ernsthafter nachdenkt, 15 M a r k w a r d t , Poetik II

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um von bloßer Negation zur neuen Position vorzustoßen im Sinne einer produktiven Kritik, und zwar zu der geniezeitgemäßen Forderung an den Romandichter, vom einfachen Manne und der einfachen Frau des Volkes die dort unverfälscht anzutreffende Kunst des Erzählens zu erlernen. Wenn sich auch L i c h t e n b e r g in jenem Vorschlag einer Romanschreiber-Gesellschaft mit organisierten Beobachtern (gleichsam eine köstliche Vorahnung des Fragebogensystems der Volkskunde) um einige Schritte dem Standort Mercks nähern mag, so stand doch nicht der Wille und der Mut zu echter Volkstümlichkeit dahinter, sondern die Freude und Wertung des Beobachtens der wirklichen Welt und ihrer sprachlichen Erscheinungen, die Lichtenberg immer erneut anziehen. Die vielgenannte und weniger bekannte Satire gegen die „Geniesucht" und Originalitätsseuche hält als knapper Entwurf „ P a r a k l e t o r oder T r o s t g r ü n d e f ü r die U n g l ü c k l i c h e n , die k e i n e O r i g i n a l g e n i e s s i n d " keineswegs das, was der verheißungsvolle Titel verspricht. Sie macht sich lustig, aber sie macht sich auch ernstliche Sorgen angesichts des „zügellosen, widersinnigen Geschreies" nach „Originalgenies und Originalwerken". Zu einem wirklichen Anti-Young, worauf alles abzielt, reicht offenbar die Geduld Lichtenbergs nicht aus. Während die Stürmer und Dränger unmittelbaren Ausdruck zu bringen strebten und ihn erzwingen zu können glaubten, meint Lichtenberg gerade umgekehrt, daß sie „auf ihren Steckenpferden in Spiralen um ein Ziel herum" ritten, „das sie den Tag zuvor in einem Schritt erreicht hätten". Die älteren Schriftsteller, die nun ja leider als Nichtgenies trostbedürftig sind, dagegen „gingen von Empfindung und Gedanken zum Ausdruck immer in der kürzesten Linie". Lichtenberg will offenbar die bildhaft übersteigerte Sprache treffen. Unmittelbar parodierend knüpft er an Kraftstellen der Genie-Dramatik an in Wendungen wie die: „Raum und Zeit in einen Kirschkern geklappt und in die Ewigkeit verschossen" (so etwa an den Ausbruch Wilds in Klingers „Sturm und Drang" I,i). Kunsttheoretisch Wesentliches wird erst gegen Schluß des Fragments sichtbar im Ausspielen des aufklärerischen SymmetrieIdeals gegen die geniezeitgemäße Symmetriefeindschaft. Mit grotesker Wendung schlägt nun Lichtenberg, „nachdem die Theorie v o n d e r N o t w e n d i g k e i t eines Mangels an S y m m e t r i e , um o r i g i n a l zu sein, ist gegeben worden", vor, den Zuwachs an Originalköpfen dadurch zu steigern, daß man in der Kindheit die

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„Symmetrie des Gehirns etwas verrückte", und zwar durch entsprechend zweckmäßig angebrachte Schläge auf den Schädel, die sich für die Satire natürlich in drastische Ohrfeigen für die Originalgenies verwandeln sollen. Den in den Aphorismen angemerkten Plan, den „Parakletor" auf polemische Parallele zu dem vielgerühmten Ideal des unordentlichen Englischen Gartens anzulegen oder aber nach Art von Liscows „Verteidigung der elenden Skribenten" eine ironische Scheinverteidigung der Stürmer und Dränger vorzunehmen, ist in dem vorliegenden Fragment nicht ausgeführt worden, wenn auch jene „Spirale" etwa den verschlungenen (aufklärerisch gesehen: umständlichen) Wegen des englischen Gartens sich im satirischen Meinen nähert. Vielfach ist die Polemik gegen die Geniezeit in den Aphorismen, aber auch in Seitenhieben etwa des satirischen Berichtes „ V o n ein p a a r a l t e n d e u t s c h e n D r a m e n " , in denen ihm manches „so modern, so drangmäßig kühn und kraftvoll" vorkommt, wirksamer als im „Parakletor-" Fragment. Im Gegensatz zum Roman-Essay kommt hier allerdings Lichtenberg zu dem Ergebnis, daß die modernen Menschen schon viel zu kompliziert seien: „Jeder Küchenjunge ist eine Repetieruhr". Aber aufklärerisch wirkt doch diese Verspottung eines unzulänglichen Heimatschriftstellers, der nach Art der Moralitäten etwa auch die „fünf Paradigmata der Deklinationen" als handelnde Personen auf die Bühne gestellt hat, so daß Lichtenberg seine lapidare Prägung anbringen kann: „Alles atmet Liebe und Syntax". Der mißachtende Vergleich mit Hans Sachs verrät jedoch die schiefe Einstellung zu historisch gewachsenen Dramenformen. Das laufende Gefecht gegen die „Originalköpfe" und selbst gegen die Originalzöpfe, wie es das „ F r a g m e n t v o n S c h w ä n z e n " als Parodie der Physiognomik Lavaters (die auch von J. K. Musäus' „Physiognomischen Reisen" 1778 polemisch getroffen wurde), nicht ohne Seitenhieb auf Goethe und den Homerkultus improvisiert, darf bei alledem nicht darüber hinwegtäuschen, daß Lichtenberg selbst eine recht anspruchsvolle Auffassung von Genialität und Originalität besaß. Es war die Auffassung des Scharfgeistes, der in seiner Weise doch auch Schöngeist oder, wie er es wohl ausdrückte, „Schöndenker" sein wollte, der mehr war als ein planer Aufklärer, der einer vermeintlichen Menschen- und Weltkenntnis dieser Jungen mißtraute, der selbst in ihrer Originalität nur eine Sonderform der negativen, der gleichsam umgekehrten Nachis»

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ahmung aufdecken zu können glaubte: „Grade das Gegenteil tun, heißt auch nachahmen; es heißt nämlich das Gegenteil nachahmen". Der Widerspruch um jeden Preis, der Widerstand gegen das Bestehende schien ihm gleichsam der Gegen-Stand zu sein, den diese Jungen brauchten, um überhaupt so etwas wie einen eigenen Standort zu finden oder wenigstens sich vorzutäuschen. Dabei entgeht ihm, daß auch seine eigene Genieauffassung und Originalitätsauffassung weitgehend in ihrer Position durch Opposition bestimmt wurde. In Lichtenberg lebt noch etwas vom ursprünglich revolutionären Zug der Aufklärung. Eben deshalb und ein wenig auch wegen des von Eitelkeiten nicht ganz freien persönlichen Geltungsstrebens ist Lichtenberg nicht geneigt, den Wettbewerb des gefühlsmäßig revolutionären Zuges des Sturmes und Dranges zu dulden. Wer gegen die hergebrachten Urteile und die herrschenden Meinungen fest bleibt, hat Originalität. Der Originalkopf, der geniale Mensch, wie ihn Lichtenberg sieht, ist eine Art von Mephistopheles, der jedoch aus der Verneinung heraus die Erneuerung herbeizwingen hilft. Die Höchstform der produktiven Kritik gilt ihm letzten Endes als Genialität, zum mindesten als Originalität. Aber streckenweise genügen ihm auch das Eigenwegige, Eigenwillige und selbst das Abwegige, um der Reflektion einen Schein von Intuition abzugewinnen. In seiner Genievorstellung steckt auch ein Anteil von „Herrenmenschentum", das bewußt nicht der Herdenmode folgt. Nietzsche hätte mehr als nur die klare Prosa an Lichtenberg schätzen können. Nur daß es bei Lichtenberg zu einer Umwertung aller Werte nicht ausreichte an Tiefsinn oder — Leichtsinn. Das Dynamische ist an sich in Lichtenbergs Genievorstellung vorhanden; aber als geistige Spannkraft, die nicht duldet, daß die Menschheit dogmatisch erstarrt, die das Leben wach erhält und immer neu aufjagt, „wenn es sich setzen will". Er, der einmal in einem Aphorismus über etwaige physiologische Ursachen des schnellen Schließens grübelt, erkennt bereits in der Schnelligkeit der seelich-geistigen Funktion ein wesentliches Charakteristikum des Genies: „Bei einem großen Genie gehet das in einem Augenblick vor, was oft bei einem andern ganze Stunden dauert", so schreibt er schon in den frühesten Aufzeichnungen seiner Aphorismen. Aber die nähere Erläuterung zeigt, daß er mehr an die geistige Auffassungsgabe als an Intuition denkt. Daß die Regel dem unzulänglichen Dichter nicht zu helfen vermag, ist ihm wie fast allen Aufklärern klar, denn „was helfen der Nessel

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die Regeln für die Zeder". Dem wirklich Ursprünglichen und in Hamanns Sinne „Urbaren" jedoch mißtraut er, wie er der Reichweite der Vernunft vertraut. Indessen auch wieder nur bedingt vertraut. Er ist sich klar darüber, daß man auch „aus Vernunft ein Narr werden kann". Damit war für einen Aufklärer immerhin schon einiges gewonnen. Zwar mit solcher, doch eben nur gelegentlich geäußerten Einsicht ist die vernünftige Grandeinstellung nicht aufgehoben, aber doch wesentlich aufgelockert. So wird bereits die Sonderstellung Lichtenbergs sichtbar, die ihn keineswegs bedingungslos der Aufklärung folgen läßt. Der kraftvoll ausgeprägte Wille (teils auch eine gewisse von Eitelkeit nicht freie Sucht) zum eigenen Urteilen ist an sich in dem vertieften Sinne jedenfalls, in dem Kant die Aufklärung definierte, aufklärerisch. Aber nicht jeder Aufklärer verfügt über diesen Willen zum eigenen Urteilen in dem Grade wie Lichtenberg oder Lessing, dem zwar Lichtenberg auch in diesem Betracht wie in seiner vielgerühmten Prosa immer noch beträchtlich nachstehen muß. Was Lichtenberg Lessing gegenüber voraushat und was ihn in manchem Stück der Gegenwart „modemer" erscheinen läßt, war sein überlegenes naturwissenschaftliches Können und eine entsprechende Ausweitung des Weltbildes nach dieser Richtung hin. Auch sein empiristisch-induktives Verfahren verweist auf diese Linie, die nun nicht sogleich auf Herder bezogen zu werden braucht. Denn man wird Lichtenberg, zum mindesten als Kunsttheoretiker und Kritiker durchaus gerecht, wenn man ihn der Auflockerergruppe zuordnet. Garve steht weit eher zwischen Lessing und Herder als Lichtenberg, der sich Garve jedoch als Beobachter von Leben und Kunst überlegen zeigt. Die Anerkennung für Garve verbindet Lichtenberg mit der Polemik gegen Lavater einmal so: „Daß Garve aufgehört hat zu schreiben, ist ein (eben) so großer Verlust für unsere Literatur, als daß Lavater angefangen hat". Der eigene Urteilswille und die eigene Urteilsfähigkeit verbinden sich — wie mehrfach bei den späteren Aufklärern und Auflockerern, bei denen man sich daher nicht über entsprechende geniezeitgemäße „Elemente" zu wundern braucht und bei denen man also auch mit dem sensationellen „schon" etwas vorsichtiger umgehen sollte — mit mancher Anregung aus der als Ganzes bekämpften, in Einzelheiten jedoch genutzten Sturm und Drang-Bewegung, die zeitlich die Datierung auch der frühesten Aphorismenhefte aus dem Nachlaß Lichtenbergs (1764—71; 1772—75) überschneidet.

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So darf bei der Auswertung der auf Grund nachgelassener Handschriften herausgegebenen „ A p h o r i s m e n " ein gelegentlich geniezeitgemäß gestimmter Ton nicht überraschen. Die weiteren Bestände der „Aphorismen" reichen noch wesentlich weiter, zeitlich teils parallel liegend mit dem Abebben der Sturm und Drang-Woge (Heft Drei: 1775—79), teils bis in die Klassik hineinragend (Heft Vier: 1789—93). Die Jahreszahlen wurden bewußt vermittelt, um die geistesgeschichtliche Situation, aus der heraus oder neben der her Lichtenberg seine nachdenklichen Notizen — denn längst nicht alles in diesen Heften sind „Aphorismen" als Kunstformen, wenn auch die echten Aphorismen etwa auf zweitausend geschätzt worden sind (A. Köster) — deutlich werden zu lassen. Man braucht nur einmal ein paar Blicke in die Namensregister zu werfen, um zu ermessen, über welche Fülle von einschlägigen Kenntnissen und Anregungsquellen Lichtenberg verfügte. Aber auch die Aphorismen selbst geben oft ihren Gewährsmann an. So wird Herders Lehre vermerkt, nicht zu denken, was die Alten dachten, sondern wie die Alten dachten, um damit die pädagogische Forderung zu verknüpfen, daß man die jungen Menschen „anhalten" sollte, „Individua im Denken zu werden". Oder die Bemerkung Rousseaus im „Emile" über den Akzent als die Seele der Rede führt zu Betrachtungen über die Rückwirkung des Akzents auf die Stilbildung. Aus Rousseaus „Nouvelle Hdlolse" notiert sich Lichtenberg das Gleichnis von Geschmack als Mikroskop des (ästhetischen) Urteils. Benachbarte Aphorismen aus den frühesten Notizheften beweisen ein lebhaftes Interesse an Rousseau. Shakespeares Originalität und Gegenständlichkeit im Bildgebrauch ist ihm aufgefallen. Zugleich aber ist ihm die Gefahr, die von Shakespeare als Vorbild ausgehen und von eigener Originalität fortleiten kann, durchaus bewußt. Er erwägt in diesem Zusammenhange das V e r h ä l t n i s v o n D i c h t e r u n d N a t u r . Folgt ein Dichter einem großen Vorbild (etwa Shakespeare) und erreicht er es nicht, so erfolgt die Abweichung zumeist in der Richtung, „die von der Natur noch weiter abweicht". Noch näher an die Natur heran als das große Vorbild vermag der Nachahmer und Nacheiferer nicht zu kommen, will er also original wirken oder scheinen, so würde er notwendig von der Natur abgedrängt. Wohl aber kann ein „großes Genie" ein großes Vorbild gleichsam als nachträglich überprüfenden Maßstab zur Kontrolle der eigenen Naturerfassung heranziehen. Mehrfach begegnen bei Lichtenberg

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Gedanken, wie das „Natürliche" in der Dichtung gefördert werden könnte, ob nun in „Komödien" oder in Romanen. Er denkt darüber nach, welchen Nutzen die Mathematik einem „bei esprit" bringen könne und ist doch selbst der beste Beweis, daß im Grenzbezirk von Scharfgeistigkeit und Schöngeistigkeit die Mathematik sehr wohl Nutzen zu stiften vermag. Aber man überhöre angesichts des Mathematikers und Physikers, man übersehe angesichts des Aufklärers Lichtenberg nicht Selbstermahnungen wie diese, die das Gefühl gegen die Schlußfolgerung ausspielt: „Sprich nicht immer: weil nun das ist, so muß dieses so sein; laß deine Empfindung auch einmal zum Wort kommen". Die Vernunft habe nun das ihr lange entzogene Wort allzulange oder allzu einseitig gehabt. Man könnte in diesem Falle angesichts des ungefestigten Wortsinns von „Empfindung" (das Lichtenberg oft im empirisch-psychologischen Sinne für Wahrnehmungs-Eindruck setzt) noch zweifelhaft sein, ob hier nur der Empirismus gegen den Rationalismus zum Einsatz gebracht wird. Und auch der etwas später liegende Aphorismus (Drittes Heft), der verheißungsvoll so anhebt: „Man soll seinem Gefühl folgen und den ersten Eindruck, den eine Sache auf uns macht, zu Wort bringen", läßt wohl Gefühlsmäßiges und Unmittelbares im Verhältnis von Gegenstand und Wort aufklingen, mündet aber im weiteren Verlauf — wie schon das Wort „Eindruck" vermuten läßt — ein in den Empirismus und nicht in den Gefühlsausdruck des Irrationalismus im engeren Sinne. Lichtenberg spricht dort von der „unverfälschten Stimme unserer Erfahrung" und von Philosophie, nicht von Dichtung, von denkerischer Unmittelbarkeit (längeres Nachdenken nämlich würde uns leicht in Vorurteile zurückfallen lassen), nicht jedoch von dichterischer Unmittelbarkeit. Doch enthalten gerade die frühen Hefte manche unzweideutigen Entscheidungen zugunsten des Gefühls. Besonders bemerkenswert wird eine derartige Bekundung im Rahmen sprachtheoretischer Überlegungen. Man würde eher beim jungen Herder als bei Lichtenberg diesen Satz vermuten: „Eine Empfindung, die mit Worten ausgedrückt wird, ist allzeit wie Musik, die ich mit Worten beschreibe; die Ausdrücke sind der Sache nicht homogen genug". Daß Lichtenberg dabei an die Grenzen der unmittelbaren Ausdruckskraft des Dichterwortes denkt, geht klar aus dem Beispiel hervor, wonach der Dichter beim Mitleiderregen immer auf die Mittelbarkeit eines Vor-

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stellungsbildes im Zuschauer angewiesen bliebe und erst mittelbar „auf die Sache" verweisen könne. Lichtenberg greift an solchen Stellen über sein vielfach geäußertes s t i l t h e o r e t i s c h e s I n t e r e s s i e r t s e i n hinaus und auf das s p r a c h p h i l o s o p h i s c h e Gebiet hinüber, lenkt dann jedoch wieder auf Fragen des Materialstils zurück. Die Musik und Malerei arbeiten — denn darauf zielt der Aphorismus hin — mit natürlichen Zeichen, die Dichtkunst mit willkürlichen Zeichen. Aber Lichtenberg hilft sich doch eben nicht mit dem landläufigen Hinweis auf die Verschiedenartigkeit der „Zeichen" über die Problematik des Sprachlichen hinweg. Er rührt an den WortDing-Bezug und an die Ausdruckslehre und ermißt die Grenzen der Sprache. Er fragt sich auch, warum die „metaphorische Sprache" einen so hohen Grad von ästhetischem Wohlgefallen zu erregen pflege und sieht die Antwort darin, daß die bildhafte, bilderhaltige Sprache „eine Art einer natürlichen Sprache" darstelle, die man sich mit an sich zwar „willkürlichen", aber doch zugleich gegenständlich-konkret „bestimmten Wörtern" gleichsam „baut", also in gewissem Grade selbst schafft (Annäherung an Brämer bzw. Garve). Der Aufklärer Lichtenberg denkt häufig über den Mystiker Jakob Böhme nach, und zwar gerade hinsichtlich der sprachlichen Möglichkeiten und Notwendigkeiten. Wenn es schon so schwierig sei, ein Natürliches durch die Darstellungsmittel der Sprache unmittelbar zu erfassen, wieviel schwieriger müsse es dann sein, Ubernatürliches in das Wort zu bannen und durch das Wort zu beschwören. Es sei daher abwegig, über Jakob Böhmes kühne Wortbildung zu spotten: „Als wenn das Übernatürliche, das er sprechen wollte, natürlich klingen könnte". Die Beurteilung des sprachlichen Ausdrucks- und Darstellungsvermögens hat sich also nach dem jeweils zugrundeliegenden Ausdrucks- und Darstellungswollen zu richten. Jakob Böhme hat offenbar auf Lichtenberg eine eigenartig genug zwischen Widerstreben und Achtung gespannte Anziehungskraft ausgeübt. Zu Lavater, in dem Lichtenberg den Prototyp des Schwärmers und Phantasten erblickt, ist die Einstellung grundsätzlich anders und scharf polemisch, eine Polemik, über die sich höchstens „die Kandidaten der Empfindsamkeit", die Lichtenberg so gut aufs Korn nimmt wie Moser, erregen dürften. Stets erneut stoßen die Aphorismen wie manche Entwürfe und Schriften gegen Lavaters Physiognomik vor, ohne doch

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ein merkliches eigenes Anteilnehmen an physiognomischen Fragen verhehlen zu können oder auch nur verhehlen zu wollen. Ganz ohne Seitenhieb gegen die Physiognomik kommen auch die sogenannten „ B r i e f e aus E n g l a n d " nicht aus, die an Heinrich Christian Boie gerichtet waren und zuerst in dem von Boie und Gotter herausgegebenen „Deutschen Museum" (1776 u. 1778) erschienen. Die Briefe selbst sind 1775 datiert, liegen also zeitlich im Sturm und Drang und versäumen denn auch nicht, gelegentlich gegen die „jungen geniesüchtigen Originalköpfe" mit ihrem „Schwall von Götterprosa", an denen es in England so wenig wie in Deutschland mangle, die jedoch nur „ihren jungen schwärmerischen Anbetern zum Wonnegefühl" gereichen könnten, mit aufklärerischem „Abscheu" Front zu machen. Die „Briefe aus England" zeigen den klugen Beobachter Lichtenberg vor allem als selbständigen Beurteiler der englischen Bühne, so daß sie durch eingehende Bemerkungen über Garricks Spielweise, den Lichtenberg in Dramen Shakespeares, Ben Johnsons, Georg Farquhars (bekannt durch motivliche Einwirkung seines „The constant couple" auf Lessings „Minna von Barnhelm"), Francis Beaumonts und John Fletchers u. a. kennen gelernt hatte, aber auch über andere Schauspieler, über die Art, wie z. B. der HamletMonolog vom Schauspieler vermittelt und vom Zuschauer aufgenommen wird, mehr das theatergeschichtliche als das kunsttheoretische Interesse auf sich ziehen. Sie werden besonders aufschlußreich, wenn man etwa Wilhelm von Humboldts Eindrücke von der französischen Schauspielkunst aus seiner Pariser Zeit danebenstellt. Während bei Humboldts Briefen aus Paris das Kunstwollen der Klassik im Hintergrunde steht, urteilt Lichtenberg aus dem Kunstwollen der Aufklärung heraus. Und es ist nur folgerichtig, wenn er für eine von Garrick zu abstrahierende T h e o r i e der S c h a u s p i e l k u n s t einen englischen Lessing fordert. Kennzeichnend für den Aufklärer in ihm erscheint es weiterhin, daß er sich Garricks Begabung als ein achtenswertes „System von Schauspielertalenten" vorstellt, daß er sich den Vorgang der Neubelebung der Rolle recht rationalistisch deutet als ein bloßes Abstrahieren „aus der Absicht des Dichters", daß er sich über die „Absurditäten der italienischen Oper" beklagt und anderes mehr. Dennoch verrät die warme Begeisterung für Shakespeare, aber auch das lebhafte Mitgehen mit großen schauspielerischen Leistungen den in seiner Weise kunst-

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liebenden Beobachter, der auch ein Teilnehmender zu werden verstand. Die „Aphorismen" gewähren einen intimeren und letztlich auch sachlich tieferen Einblick in Lichtenbergs Wesen und Wollen als seine Schriften, unter denen der Aufsatz „Über den Roman" bereits kurz gewürdigt werden konnte, während das Hauptwerk, die „Ausführliche Erklärung der Hogarthschen Kupferstiche" (1794 f.) mehr dem auf satirisch-humoristischem Gebiet recht einfühlungsfähigen Kunstbetrachter und Kunstdeuter angehört. Auf gefühlsmäßig-dichterischem Gebiet dagegen erweist sich Lichtenbergs Einfühlungsfähigkeit wie teils auch seine Einfühlungswilligkeit nur als recht gering und unzulänglich ausgebildet. Das bekunden eindeutig seine Fehlurteile über Goethe und besonders über Goethes „Werther". Von seinem männisch-kämpferischen Standort aus erscheint ihm die Werther-Gestalt als ein im Grunde verweichlichter und daher lebensfeiger Mensch, so daß ihm die „Stelle" am besten im ganzen Roman gefällt, wo Goethe den „Hasenfuß" endlich erschließt. Etwas mehr in die Tiefe führt ein längerer Aphorismus, der das herbere männlichere Gefühl der Aufklärer, wie man es etwa auch bei Lessing antrifft, in seinem stilleren unaufdringlichen Eigenrecht und seiner Eigenart verteidigt gegenüber dem rückhaltlos sich hingebenden, jugendlichen Gefühlsüberschwang der Stürmer und Dränger. Man sollte — so meint Lichtenberg — derartige Gefühle nicht zum Hervorrufen eines beneidenden Mitleids mit dem „stürmenden Herzen" (das Lichtenberg also durchaus herausspürt) mißbrauchen. Die sittliche und charaktermäßige Gefahr liege darin, daß sich ein Beneiden verunreinigend in das Mitgefühlhaben einmische. Lichtenberg beobachtet dabei an sich richtig den Lebens- und Erlebnishunger der Jungen, der gleichsam mit Neid auf eine solche Werthersche Erlebnisfülle hinüberzublicken geneigt sein mußte. Die künstlerische Gefahr liege in dem krampfhaften Vergrößern des Leidgefühls, das schon die Titelgebung „Die L e i d e n des jungen Werthers" herausstellt, durch die ganze Art der Betrachtungs- und Darstellungsweise. Der Physiker Lichtenberg erläutert das wieder einmal am Gleichnis vom Mikroskop: „Jedes Gefühl, unter dem Mikroskop betrachtet, läßt sich durch ein Buch durch vergrößern. Ist es nötig, oder ist es gut ?" Ob es künstlerisch schön sei, fragt Lichtenberg hierbei nicht. Der Aufklärer jedoch bleibt selbst nicht so ganz neidfrei angesichts der Stärke und innigen

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Gewalt der Leidenschaftsäußerung. Und so sucht er dem Manne der Vernunft auch den höheren Grad des Affekts zuzuschreiben: „Der Weise, so wie er mehr denkt, als er sagt, genießt auch mehr, als er ausdrücken kann und will". Gerade in einem Aphorismus über „Werthers Leiden" eröffnet diese Abhebung des männlichreifen Gefühls weitere Ausblicke und auch Einsichten darin, warum es angesichts der geniezeitgemäßen Dichtung — über den Einzelfall Lichtenberg hinaus — neben der Einfühlungsfähigkeit vor allem auch an Einfühlungswilligkeit mangelt. Nicht aber mangelt es bei der kritischen Natur Lichtenbergs an Selbstkritik, gerade auch in dieser Hinsicht. Da es sich um einen bemerkenswerten Beitrag zur Frage des Verstehens — in der geistesgeschichtlichen Sondersituation des Verstehens zwischen Aufklärung und Geniezeit — handelt, so mag dieser Aphorismus der Selbstbesinnung und Selbstermahnung hier ganz stehen: „Der Mann geht zu weit, aber tue ich das nicht auch ? Er hört sich gern in seinem Enthusiasmus. Höre ich mich nicht gerne mit meinem Witz? oder in meiner kaltblütigen Verachtung alles dessen, was aus Empfindung getan wird ?" Der Aufklärer Lichtenberg erlebt hier nicht sein Nach Damaskus; ebensowenig, wie er dort sein Nach Damaskus erlebt, wo er einmal einsieht, daß man auch aus lauter Vernunft ein Narr werden könne. Er wird nicht wirklich bekehrt. Aber er besinnt sich auf die Gerechtigkeit als Voraussetzung des Verstehens und — wie schon angesichts der Sprache Jakob Böhmes — auf die Notwendigkeit, das jeweilige Darstellungswollen zu berücksichtigen, wenn anders man die Darstellungsart recht und gerecht beurteilen will. Im Hintergrunde steht die Einsicht in die Wechselbeziehung von Kunstwollen und Kunstschaffen. Aber auch dort, wo man bei weiter und tiefer blickenden Aufklärern solcher Einsicht begegnet, erweist sich zugleich, wie theoretisch-kritisch solche kunsterkenntnismäßige Einsicht bleibt und wie selten sie auf die praktische Bewertung der künstlerischen Leistungen des Sturmes und Dranges fruchtbar übertragen wird. Anders ausgedrückt: auch dort, wo man die Bedeutung des Wechselbezugs von Kunstwollen und Kunstschaffen erkennt, wird es sehr schwer, den Wandlungen im Kunstwollen selbst willig zu folgen. Man verneint ja im Grunde nicht so sehr die Einzelheit des neuen Kunstschaffens, sondern die dahinter wirksame neue Kunstgesinnung, das neue Kunstwollen und das neue Lebensgefühl, das dieses Kunstwollen durch-

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regt. Wenn Lichtenberg wieder einmal in einem Aphorismus „unsere empfindsamen Enthusiasten" davon überzeugen möchte, „daß man stark empfinden könne, ohne davon zu schwatzen", so wird er sich dabei gar nicht klar darüber, daß er damit die Voraussetzung der Erlebnisdichtung mit ihrem Angewiesensein auf den Gefühlsausdruck durch das Wort verneint. Zwar glaubt er, „nicht das Sprechen aus Empfindung", sondern nur „das Schwätzen von Empfindung" zu verlachen und zu verachten. Aber wo der Goethe des „Werther" aus Empfindung sprach, da schien er eben Lichtenberg über Empfindung zu „schwätzen". Die Echtheit des Gefühlsausdrucks mußte verkannt werden, wo das neue Lebensgefühl nicht erkannt und anerkannt wurde. Hier lagen Grenzen des Verstehens und Schranken des Mißverstehens zwischen Aufklärung und Sturm und Drang.

III. Das Kunstwollen des Rokoko (Von Hagedorn zu Wieland) Der Versuch, das Kunstwollen des Rokoko im dichterischen Bereich (Anakreontik, Graziendichtung, Schäferdichtung, komisches Epos u. a.) wenigstens andeutend zu umschreiben, erzwingt ein Rückverweisen auf den ersten Band dieser Darstellung. Denn fraglos birgt im Rahmen der Frühaufklärung die „galant-curiöse, politisch-polite" Epoche einen nicht unwesentlichen Bestand an Teilkräften in sich, die auf die zeitlich beträchtlich später liegende Ausprägungsform der anakreontischen wie überhaupt der rokokohaften Dichtung vorausweisen. Es kann das an dieser Stelle nicht im Einzelnen wiederholt, sondern muß vorausgesetzt werden. Von der Geschichte der Poetik her würde dergestalt in gewissem Grade wenn nicht bestätigt, so doch verständlich werden, wie die Barockforschung (so etwa Cysarz) dazu kommen konnte, so starke Rückbeziehungen vom Rokoko zum Barock herzustellen, auch wenn man von der Parallele in der bildkünstlerischen Entwicklung absieht. Die nachwirkenden Zuflüsse des Barock haben jedoch schon den Filter der Frühaufklärung durchlaufen, bevor sie in das rokokohafte Kunstwollen des achtzehnten Jahrhunderts einfließen. Vollends im Räume der Aufklärung vermögen barocke Reste weltanschaulich und kunstanschaulich keinen rechten Wuchsgrund zu finden. Und im Zeitraum der Aufklärung steht eben doch das deutsche dichterische Rokoko.

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Das Wesen des Rokoko ist in seiner allgemeinen Richtung auf das Unbeschwerte und Leichtbeschwingte, das Lebensfrohe und Heiter-Gelöste, das Gesellschaftlich-Unterhaltsame, Zierlich-Verspielte und Anmutig-Tändelnde, aber auch auf das Lässig-Leichtfertige, ja Frivole mehrfach von der Forschung gewürdigt worden (Köster, Cysarz, Ermatinger, Heckel u. a.). Aber vielleicht vermag die Würdigung des r o k o k o h a f t e n K u n s t w o l l e n s zugleich für die allgemeine Wesensdeutung des deutschen dichterischen Rokoko einiges Ergänzende zu bieten und einige Grundzüge klärend herauszuarbeiten, die den Eindruck eines gewissen rokokohaften Gesamtgepräges — trotz aller Stufungen und Verlagerungen — verstärken helfen möchten. Denn allerdings scheinen bei allen Verbesonderungen und Abwandlungen dennoch einige vereinheitlichende Grundkräfte wirksam zu sein, die über alle stimmungsmäßigen Willkürlichkeiten und Zufälligkeiten hinweg der rokokohaften Haltung und Gestaltung vom Kunstwollen aus eine innere Notwendigkeit und damit ein verhältnismäßig bestimmtes Profil geben. Es sind dies nicht so stimmungsgesättigte Umschreibungen, wie sie vom Kunstschaffen des Rokoko mühelos dem Betrachtenden sich aufdrängen, aber sie greifen weitreichender durch die Vereinzelungen hindurch. Eine dieser Grundkräfte ist bereits von der kunsttheoretischen Sonderforschung erfaßt worden: der A n m u t su n d G r a z i e - B e g r i f f . Aber d a n e b e n b e d ü r f e n die G r u n d b e g r i f f e des „ S c h e r z h a f t e n " u n d des „ G e f ä l l i g e n " f ü r d a s K u n s t w o l l e n des R o k o k o e i n e r v e r s t ä r k t e n Bea c h t u n g , um eingangs nur einige wesentliche Richtpunkte anzudeuten, die jedoch auch die gesamte Richtung des rokokohaften Kunstschaffens beherrschend vorzeichnen. Diese beherrschenden Grundbegriffe bildete — ähnlich wie die Merkwörter „galantcuriös, politisch-polit" für eine frühere Epoche — d i e Z e i t s e l b s t heraus. Sie sind nicht aus dem Abstand der Rückschau, sondern aus dem Leben und Streben des Rokoko selbst gewonnen worden. Das mag ihre formale Sprödigkeit ein wenig ausgleichen. Vorerst gilt es zugleich, Fragen der Bewertung kurz zu berühren. Die von der Forschung und Literaturgeschichte durchweg hervorgehobene geringere Entfaltungsmöglichkeit der RokokoGeistigkeit im deutschen Bürgertum, gemessen am französischen Adel, hat diesem rokokohaften Kunstwollen von vornherein engere Schranken gesetzt, soweit es um seine stilgerechte Verwirklichung und den Widerhall bei der Leserschaft ging. Aber als

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gar so bedauerlich wird dieses Abgedrängtwerden des deutschen dichterischen Rokoko in eine bloße Nebengeltung demjenigen Betrachter nicht mehr erscheinen, der erkennt, daß bei dem „echten" französierenden Rokoko mit einer an sich erwünschten Lösung und A u f l o c k e r u n g der Aufklärungsstarrheit zugleich und nicht selten überwiegend eine unerwünschte A u f l ö s u n g und Zersetzung sittlicher Werte (nicht nur „moralischer" Teilwerte) einherging. Das empfand man aus größerer Zeitnähe heraus im Göttinger Hain. Das empfand man auch in der jungen Generation des Sturmes und Dranges. Deshalb verwarf man durchweg — von Chr. Fr. Dan. Schubarts lokalpatriotisch und landsmännisch gedachter Verteidigung abgesehen — Wieland, der das dichterische Rokoko wohl am künstlerisch reinsten ausgebildet hatte. Deshalb ließ der junge Goethe das Leipziger Getändel vorerst hinter sich, als er auf Herder und das Volkslied gestoßen war. Deshalb verwarf auch Schubart, wo es nicht um „unseren vortrefflichen Landsmann Wieland" ging, die allzu sehr „einreißende Kleinheitssucht der Neueren". G. A. Bürgers Seitenhieb gegen die „sanfte", wellenförmige „Schwungbewegung der Grazien" stößt in einen Kernbezirk der rokokohaften Kunstlehre. Fr. M. Klinger läßt seinen schäferlichen Phantasten La Feu sogleich in der Eingangsszene des Dramas „Sturm und Drang" von den „Wellenlinien der Schönheit" schwärmen, natürlich in ironischer Belichtung. Noch der Goethe der Klassik lehnt bildkunsttheoretisch in „Der Sammler und die Seinigen" die Gruppe der „Schlängler" (Hogarths Schlangenlinie) ab. Doch erweisen sich die B e z i e h u n g e n des R o k o k o z u r K l a s s i k nicht nur durch Wieland als weit positiver als zum Sturm und Drang, sondern auch entwicklungsgeschichtlich als weit wesentlicher und wichtiger als etwa die z. T. überschätzten Rückbeziehungen zum Barock. Als ein Beispiel für viele mag neben dem bekannten Bezug in S c h i l l e r s Abhandlung „ Ü b e r A n m u t und W ü r d e " G o e t h e s wenige Jahre später liegender Aufsatz „ Ü b e r L a o k o o n " (1797) herausgegriffen werden, weil dort neben der Schönheit die „Anmut" und „gefällige Zusammensetzung" nachdrücklich herausgestellt wird, vielleicht unter Nachwirkung von Lessings Reiz-Begriff. Anders gesehen und gesagt: das eigene Wesen wehrte sich streckenweise gegen das modisch übernommene Fremde oder gab ihm doch, wie etwa bei Uz, S. Gessner oder Geliert, eine dem

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eigenen Wesen und Wollen angepaßte Wendung. Ein Teil solcher Gegenwehr wurde schon wirksam in der ersten Zeit des Überpflanzungsvorganges, gleichsam mitten in der Hauptwelle der zeitbeherrschenden Einflußströmung selbst. Es ist dies letzten Endes eine ganz ähnliche Erscheinung, wie sie bei der Übernahme und Verarbeitung des „bei esprit"-Ideals, das innerhalb der Frühaufklärung nur recht bedingt als „Ideal" aufgenommen worden war (Bd. I d. Darstellung), beobachtet werden konnte. Und für eine nur etwas anders gesehene und gedeutete Problematik des ästhetischen Menschen ließe sich in Frühaufklärung, Aufklärung und Rokoko mancherlei, teils recht fruchtbarer Stoff nachweisen. So reizvoll für ein wechselseitiges Erkennen und Verstehen der verschiedenartigen Nationalcharaktere im Sinne der vergleichenden Literaturgeschichte ein Hinüberblicken auf das französische Vorbild immer sein mag und fraglos bis in Einzelheiten auch der Kunstübung und des Kunstschaffens hinein ist: den entscheidenden kritischen Wertungsmaßstab wird man doch nicht so ohne weiteres vom französischen Formerlebnis her übernehmen dürfen, wenn anders man die Sonderausprägung des deutschen Rokoko gerecht und vorurteilsfrei beurteilen will. Sie will am dichterischen Kunstwollen des deutschen Rokoko gemessen werden, das von vornherein nicht unwesentlich abgestuft erscheint. Und zwar erfolgt diese Abstufung nicht zum wenigsten durch ein verstärktes Hineinnehmen gemütsmäßiger Stimmungen und durch ein bedenkenreicheres, bürgerlich besinnliches, wohl auch etwas ängstliches Abtasten der Grenzen der im französischen Rokoko weiter gehenden sittlichen Auflockerung. Obgleich auch in Frankreich der aufklärerische Geist die Spielformen des Rokoko durchregt und bewegt, bleibt im Gesamt der Erscheinungen dennoch das deutsche Rokoko und sein Kunstwollen enger und williger gebunden an die Aufklärung, deren Grundgesetze es anerkennt. Nur eben, daß es gewisse Gebiete und Kräfte, wie etwa den Aufklärungsoptimismus, einseitiger und nach seiner Art abgewandelt in Pflege nimmt, wobei der m o r a lische E r z i e h u n g s o p t i m i s m u s aufklärerischer Art in einen a l l g e m e i n e n L e b e n s o p t i m i s m u s s i c h abwandelt und streckenweise gewiß auch veroberflächlicht. Auch aus diesen Gründen ist es nicht eine überflüssige Bemühung, einmal dem rokokohaften Kunstwollen in Deutschland etwas näher nachzugehen. Denn erst wenn man neben den Vergleich des rokokohaften Kunst-

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schaffens in Frankreich einerseits und Deutschland andererseits den entsprechenden Vergleich des rokokohaften Kunstwollens in beiden Nationalliteraturen stellt, ist die tragfähige Vergleichsgrundlage für beide Spielformen gegeben. Dabei will berücksichtigt werden, daß schon die beherrschende Grundströmung der Aufklärung in beiden Fällen nicht gleichförmig verläuft. Beschränkt man den Vergleich zu sehr auf die Anakreontik, wie es vielfach geschehen ist, so wird man der Gesamtbemühung des deutschen Rokoko schwerlich gerecht. Aber ebensowenig geschieht dies, wenn man im Wettbewerb der Nationalliteraturen einen billigen Scheintriumph dadurch erschleicht, daß man nun etwa die von Shaftesbury überkommenen Sonderausprägungen der „sittlichen", der „moralischen Gracie" als vermeintlichen Zuwachs aus deutschem Boden in Anspruch nimmt. Daß der Rezeption des französischen Rokokostils vielmehr vom anders gearteten Nationalcharakter und der andersartig gefügten soziologischen Struktur her von vornherein gewisse Grenzen gesetzt waren, steht außer Zweifel. Und schon der junge Goethe erkennt kritisch mit Bezug auf Anverwandlungsversuche etwa für das leichte gefällige Lustspiel, für „jeux d'esprit.. . haben wir keinen Sinn; unsre Sozietät und Charakter bieten auch keine Modelle dazu" (Brief an Salzmann, 6. März 1773). Eine Synthese aus den von Frankreich und England kommenden Anregungen kündigt sich am ehesten noch bei Wieland an. Aber daß er Winckelmanns Konzeption sich nicht wirklich und wirksam anzuverwandeln versteht, könnte doch wohl als ein Beweis dafür gelten, daß in Winckelmanns Beitrag zur Kunsttheorie rokokohafter Kunstformen mancher eigne Zug einer eigenwegigen Kunstgesinnung und Kunstbesinnung sich zu bewahren und durchzusetzen versteht trotz aller ideenmäßigen „Einflüsse". Auch bedarf Justus Riedel, der auf der Linie Burke, Mendelssohn, Kant die Formel vom interesselosen Wohlgefallen überraschend klar ausgesprochen hat, einer stärkeren Berücksichtigung hinsichtlich des Einbaues eines rokokohaften Kunstwollens in die allgemeine Ästhetik. Die Leistung Salomon Gessners dagegen wird durchweg gebührend gewürdigt; sie erstreckt sich jedoch auch mit einigen wesentlichen Vorstößen auf das programmatische und kunsttheoretische Gebiet. Eine in sich geschlossene Kunsttheorie besitzt das deutsche Rokoko nicht; schon deshalb nicht, weil in allen entscheidenden

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Fragen auch die Kunsttheorie der Aufklärung, nur unter Zurückdrängung einiger Tendenzen, vor allem des Belehrend-Zweckmäßigen und des Zweckmäßig-Belehrenden, als verbindlich gilt. Auch das Belehrend-Zweckmäßige oder zum mindesten das Zweckmäßig-Belehrende wurde nur zurückgedrängt, nicht aber völlig ausgeschieden. Dazu war der pädagogische Impuls der ganzen Zeitspanne, in der sich das rokokohafte Kunstwollen entfaltete, viel zu kraftvoll. Nur eben, daß man — wie Wieland — den „spielenden Unterricht" der Grazien für wirkungsvoller und also im Sinne der aufklärerischen Wirkungsästhetik für zweckmäßiger hielt oder doch zu halten vorgab. Denn ob man derartige moralpädagogische Einschläge der programmatischen Äußerungen zum Wollen und Wesen des Rokokohaften im Raum der Anakreontik oder der Graziendichtung nun überall gar zu wörtlich nehmen darf, muß dahingestellt bleiben. Nicht selten handelt es sich dabei ganz einfach um ein taktisches Nachgeben gegenüber der übermächtigen pädagogischen Zeittendenz, um eine vorbeugende Rechtfertigung, z.T. auch um eine vermeintlich geschickte Methode der Werbung. Es ist das zudem eine Erscheinung, die sich in fast jeder Epoche der Poetik, Programmatik und Literaturphilosophie nachweisen läßt. Das Vertrauen des Publikums gegenüber dem als neuartig oder anfangs wohl auch als eigenartig und abseitig Empfundenen sucht gern Stützung bei dem ihm bislang Vertrauten. Und bei diesem Stützungsuchen der U m g e w ö h n u n g des G e s c h m a c k s leistet die literarische Programmatik gerne Hilfestellung. Obgleich eine in sich geschlossene Kunsttheorie fehlt, wird es dennoch möglich sein, einige spezifisch rokokohafte Züge und Merkmale auch innerhalb der Kunstbesinnung und Kunstgesinnung zu beobachten. Da wird dann vor allem d a s F o r m p r i n z i p des „Witzes" i n n e r h a l b der A u f k l ä r u n g zu einem F o r m p r i n z i p u n d W i r k u n g s g r u n d s a t z des „ S c h e r z e s " i n n e r h a l b des R o k o k o : Das aber bedeutet wiederum, daß, wie weltanschaulich eine Seite der Philosophie als Lebensstimmung des Optimismus einseitig überbetont wird, nun auch vom umfassenderen Begriff des „Witzes" (Esprits) eine Sonderfunktion in bevorzugte Pflegschaft genommen wird, eben die des „Scherzes". Der „Scherz", in Buchtiteln usw. schon in der „galant-curiöscn" .Zeit (von früheren Epochen einmal ganz abgesehen) mehrfach begegnend, erhält jetzt seine besondere Deutung und Bedeutung. 16 M a r k w a r d t , Poetik II

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Er ist jetzt eine Äußerungsform des „Witzes" neben vielen anderen. Aber für die Anakreontik und weite Strecken des dichterischen Rokoko wird er zur vorzüglich beliebten und teilweise geradezu beherrschenden Äußerungsform, aber auch zur kunsttheoretischen Forderung. Die Versuche in betont „scherzhaften" Liedern wollen von Gleim bis zu dem Nachzügler Chr. Felix Weisse kein Ende nehmen. Z a c h a r i ä nennt seine Sammlung „Scherzhafte epische Poesien . . ." (1754), also etwa ein Jahrzehnt nach Gleims ersten „Versuchen". Und noch 1784 erinnert sich A. M. von T h ü m m e l („An Elise") noch gern der früherer Zeit: „Da wand ich Kränze für die andern Götter / Die mir Anakreon besung / Den S c h e r z e n streut' ich frischgebrochne Blätter / Und dürre der Erinnerung". Als Nachfahr Wielands in der Verserzählung versieht Thümmel die berühmt-berüchtigte „Inoculation der Liebe" mit einem Widmungsschreiben an Chr. F e l i x W e i s s e als an den „Freund, den die S c h e r z e gern zu ihrem Dichter wählen". Und Salomon Gessner, Meister im schäferlichen Bezirk des Rokoko und über diesen schon hinausragend, verschmäht bei aller „witz"-erlösten Einfalt nicht das Hineinnehmen des „Scherz"-Begriffes in das Vorwort zu seinen „Idyllen". Wie denn auch den WidmungsEingang an Daphne „ m u n t r e r S c h e r z und frohes Lächeln" auf den Lippen der Geliebten stimmungsmäßig und doch auch ein wenig programmatisch einleitet; denn von „ f r o h e m S c h e r z " soll gesungen werden. Selbst der ernsthafte, würdige S u l z e r , der später in manchem Artikel seiner „Allgemeinen Theorie," vom Kunstwollen des Rokoko merklich abrückt, denkt vorübergehend daran, in den vierziger Jahren „ v o n d e m N u t z e n der s c h e r z h a f t e n G e d i c h t e " offenbar positiv, und also das aufklärerische Nutzprinzip einbeziehend, zu handeln. Nur mit einigen Zügen sollte angedeutet werden, daß der „ S c h e r z " a l s L e i t b e g r i f f u n d W e r t w o r t die verschiedenartigen Gestaltungs- und Wirkungsräume rokokohaften Kunstwollens durchregt und bewegt: das anakreontisch tändelnde Lied, die komische Verserzählung oder auch die neubelebte schäferlichidyllische Dichtung. Mit dieser kurz umrissenen Spannweite der ,, Scherz"-Vorstellung bekundet sich gleichzeitig eine entsprechendeAnpassungsfähigkeit im Stufungswert. Denn naturgemäß hebt sich der leicht und lässig tändelnde „Scherz" der Anakreontik nicht unwesentlich ab vom teils derbkomisch-frivolen, teils ver-

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hüllt prickelnden „Scherz" der rokokohaften Verserzählung und beide wiederum vom frisch-freudig, heiter-anmutsvollen „Scherz" schäferlicher Idyllen Gessnerscher Zartheit. Bei Thümmels Widmungsversen haben die „Scherze" Weisse zu ihrem Lieblingsdichter „gewählt", weil er „ein Mann von Welt" ist. Bei Gessner kommt der gemütvolle Scherz dem schlichten, wenngleich poetisch gesehenen Landmann zu, dem Schäfer jenseits der großen Welt. Bei den Anakreontikern steht der Scherz dem Witzbegriff wesentlich und wesenhaft näher als bei Gessner und z. T auch bei Geliert. B o d m e r hat aus späterer kritischer Rückschau, die doch zugleich ein Einschauhalten in die Welt des Rokoko erleichtert, in dem Aufsatz „Von den Grazien des Kleinen" (1769) Gleims Hang bedauert, „ein L i e d v o l l g r i e c h i s c h e r E i n f a l t m i t e i n e m F r a n z ö s i s c h - w i t z i g e n E i n f a l l " pointiert zu schließen; derartige stimmungstörende Einfälle seien modische „Opfer für unseren w i z z i g e n G e s c h m a c k " . Bodmer erkennt damit nicht an, daß es Gleim wirklich gelungen sei, den rokokohaften „Scherz" von dem Rückfall in den rein aufklärerischen „ W i t z " freizuhalten. G e s s n e r aber kennzeichnet seine Schäfer bewußt in Abkehr von dem rationalistischen Formungswert des Witzes: „Sie sind weit von dem Epigrammatischen Witz entfernt". Er will sie also bewußt vom rationalistischen „ W i t z " freimachen, aber „scherzen" dürfen sie. Die Ablösung von der Aufklärung im engeren Sinne wird an solchen Wendungen, Zügen und Gegenzügen deutlich spürbar. Aber man macht sich auch im engeren Rahmen der Aufklärungsästhetik bereits grundsätzlich und höchst popularphilosophisch „Gedanken vonScherzen", wie etwa der Baumgartenschüler G. Fr. M e i e r , der beruhigend erklären zu müssen glaubt: „daß ein vollkommener Schertz, der ohne allen Fehler ist, einen sehr großen Witz und Scharfsinnigkeit, zwei große Vollkommenheiten der Seele, zum Grunde habe und also unmöglich Sünde sein könne". Der „Scherz" ist eine der Kern- und Keimzellen rokokohafter Kunstgesinnung und Kunstgestaltung. Er ist ein Versuch, das Frostige des Witzig-Geistreichen erwärmend und belebend zu zerschmelzen. Daher fordert man „feurige Scherze". Man will auf eine Weise geistreich und „scharfsinnig" sein, die gesellig belebt, die eine behagliche und heiter gelöste Stimmung schafft, die eine gesellschaftlich-gesellige Atmosphäre erzeugen und sichern hilft. Die Kunsttheorie und Kunstkritik der Aufklärung selbst hatte 18

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immer wieder Ausschau gehalten nach Möglichkeiten, die Zwanglosigkeit und Gewandtheit eines Einfalls gleichsam zu verbürgen, damit der gefürchtete Vorwurf des „frostig" Erklügelten nicht erhoben werden konnte, der alle kunstvoll aufgerichteten Gebäude der Als-Ob-Natürlichkeit umzuwerfen drohte. Im „Scherz" des Rokoko schien eine solche Bürgschaft gegeben zu sein, jedenfalls im Formungsmäßigen und Wirkungsmäßigen. Der „Scherz" sollte natürlich wirken und ohne Absichtsbetontheit gefallen. Damit wird ein zweiter Wesenszug rokokohaften Kunstwollens berührt: die F o r d e r u n g u n d F ö r d e r u n g des „ G e f ä l l i g e n " . Der Wirkungswert des „Gefälligen" im Rokoko zweigt sich in ähnlicher Weise ab vom „Artigen" der Aufklärung wie der „Scherz" vom „Witz". Im „Artigen" der Aufklärung liegt bei allen Lockerungsbestrebungen immer noch vieles von der steifen Würde des „Wohlanständigen" einbeschlossen, von dem also, was seinem Träger wohl ansteht. Von dieser frostigen Seite kehrt sich das Rokoko nun um einige Grade ab, um sich unbehelligter ganz dem „Gefälligen" widmen zu können. Ein grundstürzender Umbruch gegenüber dem Aufklärerischen liegt auch darin nicht vor. Es ist kennzeichnend, daß das Wunschwort und der Zielsatz des „Gefälligen" durchaus die grundsätzliche Richtung der Wirkungsästhetik innehält. Fr. J. R i e d e l , der Wieland nahestand, erklärt geradezu: „Was allen gefallen muß, ist schön", verlegt die Entscheidung also über das, was schön sei, unbedenklich auf die Seite der Wirkung. Das „Gefällige" aber schien von vornherein zu versprechen, allen zu gefallen. Vom Lieblingswort des Dichters H a g e d o r n , vom „Gefälligen", bis zu dieser Riedeischen Glcichsetzung des Schönen schlechtweg mit dem Gefallenden zieht sich, wenngleich gebrochen und streckenweise unterbrochen, doch letztlich eine einzige Linie rokokohafter Kunstauffassung. Und zwar unmittelbar heran an die Schöpfungsästhctik der Geniezeit, wie Herders Gegenstoß gegen Riedel in den „Kritischen Wäldern" ablesen läßt. Das „Gefällige" umgreift bald eine Fülle reichgcstufter sinnhafter Merkmale und stimmungsmäßiger Bestände. Es umschreibt das Liebenswürdig-Entgegenkommende, das Gelockert-Gelöste, das anmutig Bewegte und reizvoll Durchregte, das Freundliche schlechthin, das „Einnehmende", das Höfliche; aber auch das Biegsame und Schmiegsame. Der junge Goethe des Sturmes und Dranges noch setzt im „Götz" dieses „gefällig" für biegsam, wenn

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er sich den Erfinder des Schachspiels so vorstellt: „er war so gefällig wie ein Weidenschößling". Derartige Anwendungsmöglichkeiten von „gefällig" für nachgiebig-biegsam lassen den Blick hinübergleiten zum rokokohaften Stilwollen und zur Leistung des Rokoko in der Biegsammachung, in der Schmeidigung des Sprachstils. Aber der Terminus „gefällig" selbst wird Sinnbild solcher Schmicgsamkeit. Und es wird ein weitverbreitetes Stichwort, fast ein Schlagwort in den kunsttheoretischen Äußerungen des Rokoko, besonders auch in der Bildkunsttheorie. Das „Gefällige" vermag zurückzugreifen auf die Anakreontik, wenn es das leicht zu Erobernde, Entgegenkommende im Motivraum des Liebeserlebens oder richtiger des Liebesspiels und eine entsprechende Gestaltungsweise meint. Es vermag auch hinüberzugreifen zur Schäferidyllik, wenn es das Sanft-Anschmiegsame meint. Und es greift mit dem Anteil Anmut bis in die Klassik hinüber. Es gewinnt in den Händen Fr. v. H a g e d o r n s , der es s e h r f r ü h als k u n s t t h e o r e t i s c h e s F a c h w o r t e i n b ü r g e r t , ein anderes Ansehen als in den Händen Winckelmanns; Sulzer versteht es anders als Geßner. Aber es kreist dennoch um einen Kernbestand der Wortstimmung und Wortbedeutung, der allen gemeinsam und gerade dem Rokoko eigentümlich ist. Das „Gefällige" ist zuletzt doch wieder eine Eindeutschung des „Graziösen" mit allen seinen Spielformen. Aber weil es eine Eindeutschung ist und keine bloße Übertragung, deckt es sich nicht so ohne weiteres mit dem „Graziösen" französischer Färbung. Es nimmt stärkere Gemütswerte in sich auf. Wie im Scherzhaften steckt im Gefälligen schon ein wenig von dem ästhetischen Spieltrieb, den das Kunstwollen des Rokoko befreit aus dem Schulzwang der Aufklärung, ohne ihn jedoch der Reife und Kühnheit des Begriffs Schillers zuführen zu können. Dennoch: vorbereitende Ansätze zum „Spieltrieb" der klassischen Kunstanschauung sind im Rokoko — noch verzerrt zwar und mit groben Umrissen — gegeben. Trotzdem darf der aufklärerische Einschlag nicht unterschätzt werden, der nicht nur fühlbar wird, wenn selbst ein W i n c k e l m a n n behutsam die Eigenmächtigkeit des „Gefälligen" dämpft mit der Umschreibung: „Die Grazie ist das v e r n ü n f t i g Gefällige", wobei allerdings zu berücksichtigen bleibt, daß Winckelmann seiner Zeit den neuen Begriff mundgerecht zu machen versuchte. Und die Zeit, in der es dies schrieb, war noch die Aufklärung. Aber er drängt schon damals vor zum

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seelischen Reiz des „ v e r b o r g e n e n G e f ä l l i g e n " , das vom Geheimnis der Einfalt umwoben ist. Das Stichwort „Anmutigkeit" in S u l z e r s kunsttheoretischem Lexikon läßt noch in der vermehrten Ausgabe von 1792 das Wertungsattribut des „Gefälligen" mitschwingen in der Wesensbestimmung: „Die Anmutigkeit erreicht kein Künstler als der, dem die Natur eine sanfte, gefällige Seele gegeben hat". An sich rückt Sulzers ernster Erziehungswille merklich ab vom rokokohaften Ideal, wie etwa sein recht kritisch gehaltener Artikel „Ergötzend", aber auch der Artikel „Anakreon" erkennen läßt, während andere Artikel merkliche Zugeständnisse machen, besonders dann, wenn ethische Teilwerte innerhalb des Grazie- und Anmutsbegriffes erkannt und bedingt anerkannt werden können. Für das Kunstwollen und Kunstwirken des Rokoko aber war gerade das Gefallende und Ergötzende, nicht das Unterrichtende entscheidend. Dabei ist W i e l a n d s bekanntes Wort aus seiner „ I d r i s " über das dichterische Wirkungsziel: „Ergötzen ist der Musen erste Pflicht / Doch spielend geben sie den besten Unterricht" in diesem Sinne nicht einmal so rein rokokohaft, sondern macht nach Art des Rokoko vor der Aufklärungspoetik wenigstens noch das Teilzugeständnis, einen, wenngleich rokokohaft „spielenden" Unterricht erteilen zu wollen, ein Teilzugeständnis, das in der theoretischen Bekundung des Rokoko leichter gemacht zu werden pflegt als in seiner dichterischen Ausprägung. Kennzeichnender vielleicht noch wirkt auch im Überspieltwerden der kunsttheoretischen Besinnung durch das „Scherzhafte" die Prägung, die in Wielands „ N e u e m A m a d i s " (1771) auch über Aristoteles sich leicht hinwegsetzt: „Ergötzt dein Lied, so wird kein Kluger fragen / Ob Aristoteles ihm sich so zu ergötzen erlaubt / Die Grazie tanzt nach unstudiertem Gesetze". Es bietet diese spöttische Wendung im Rokoko eine kleine Parallele zu dem leidenschaftlichen Ansturm, den Aristoteles im Sturm und Drang (mit dem die Äußerung bereits zeitparallel liegt) auszuhalten hatte. Lässig und elegant erfolgt der Vorstoß, beiläufig und ohne den ernsthaft geballten Kraftaufwand der Geniezeit. Das in diesem Zusammenhange Wesentliche bleibt die weit überwiegende Verlagerung des Wirkungsziels — und zwar auch kunsttheoretisch — zum Ergötzenden und Gefallenden hin, w o b e i d a s G e f ä l l i g e der E r s c h e i n u n g s w e i s e des a n m u t i g S c h ö n e n s i c h in die W i r k u n g s w e i s e des G e f a l l e n d e n u m s e t z t (Fr. J. Riedel).

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J. G. J a c o b i s Dichtung „ C h a r m i n e s u n d T h e o n e " (1773), die das Grazienhaft-Gefällige bewußt an sittliche Bindungen knüpft, wie der Untertitel „oder die S i t t l i c h e G r a z i e " (Shaftesbury „moral grace" )betont herausstellt und das Werk selbst im Fordern des Unschuldigen und Keuschen überall unschwer erkennen läßt, macht das Gefallende des Schönen vom Grazienhaften ausdrücklich abhängig: „ S c h ö n h e i t k ö m m t v o n dem h o h e n Z e u s ; a b e r d a ß die S c h ö n h e i t g e f a l l e , das ist ein W e r k der G r a z i e n " . Ebenso ist in Shaftesbury-Wielandschem Sinne die Seelenschönheit Voraussetzung für ein Gefallen der Körperschönheit; denn „keine Schönheit des Körpers gefällt, wenn die Seele nicht schön ist". Nur daß die s c h ö n e S e e l e rokokohaft in eine „freundliche, lächelnde, reizende Seele" abgewandelt erscheint. Als ideale Stimmungslage gilt eine „gemäßigte Freude", die sicher in ihrer Unschuld ruht und mit Geßners Ideal verwandt, jedoch weit mehr ins weichlich Empfindsame gekehrt ist. „Gefällig und schön" beziehungsweise „nicht gefällig und nicht schön" werden für J. G. J a c o b i geradezu Deckbegriffe, wie einst für B r e i t i n g e r „artig" und „schön" als Synonyme gestanden hatten. Damit bestätigt sich auch von dieser Seite her, daß jenes Leit- und Zielwort des „Gefälligen" die rokokohafte Spielform des „Artigen" in der Aufklärung darstellt. Es nimmt nicht zum wenigsten den Anteil einer bestimmten gesellschaftlichen Haltung in sich auf, wobei es streckenweise über die Aufklärung in die Frühaufklärung bzw. die „galant-curiöse" Epoche (Ablösungswort für das „Polite") und selbst das Barock in seinen letzten Verwurzelungen zurückreicht. Gemeinschaftliche Ansatzkräfte wären wohl auch im „Zierlichen" zu suchen, obgleich das „Zierliche" jener früheren Epochen nicht unwesentlich abgestuft erscheint. Die Neigung des rokokohaften Kunstwollens, zu verzierlichen und zu verniedlichen, verstärkt durch modische Herübernahme chinesischer Zivilisationswerte, wird in den lässig liebenswürdigen Randschnörkeln, die besonders die Vorreden gleichsam selbst wieder als ein Stückchen gefälligen, anmutig tändelnden Zierats einflechten, deutlich erkennbar an dem W e r t a t t r i b u t „ n i e d l i c h " . So etwa, wenn in der Vorrede zum zweiten Teile der „Scherzhaften Lieder" G l e i m s von Briefen der F r a u v o n S e v i g n e berichtet wird, die „so niedlich sind als die Lieder des Anakreon", womit das Kennwort „niedlich" von einem führenden Dichter der Anakreontik gleichsam in aller Form als Programmwort in die

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geweihte Nähe Anakreons gerückt und damit offiziell anerkannt wird. Selbst an die Musiktheorie wird es herangetragen, wenn z. B. im polemischen Reflex und im Sonderbereich der Singspieltheorie J. M a t t h e s o n im Anhang zu seiner mit Muratoris und Gottscheds Operngegnerschaft abrechnenden „ N e u e s t e n U n t e r s u c h u n g der S i n g s p i e l e " (1744) eine „Musikalische Geschmacksprobe" gibt und „Wege zur Niedlichkeit des Gesanges und Klanges" merklich ironisch zwar, aber doch das modische Zielwort aufgreifend, „nachdrücklichst anpreiset". Zugleich wird in der Titelgebung der teilweise rückwärtige Anschluß an die „galant-curiöse" Epoche angedeutet, wenn noch von den „heutigen allergalantesten Mitteln", eine derartige „Niedlichkeit" zu erlangen, gesprochen wird. Und auf der anderen Seite läßt sich von jener Freude Gleims an „niedlichen" Briefen unschwer ein Zugang öffnen zu dem Stilwollen der Gellertschen Musterbriefe, die gewiß nicht einseitig „niedlich" sind, aber doch die Belebung zur gelockert-gelösten Plauderei fördern und damit streckenweise eine rokokohafte Haltung und Gestaltung wenigstens im Grenzwert berühren: eben den Willen, unterhaltsam zu plaudern und das Plaudern der geselligen Unterhaltung als Kunstwert in Pflege zu nehmen. Eine der wesentlichen und positiven Leistungen des Rokoko, die Auflockerung, Belebung und Schmeidigung des deutschen Sprachstils wird sichtbar, eine Leistung, die sich verdichtet in Wielands Rokokostil. Doch bleibt das, zudem in der Kunsttheorie nicht entfernt so häufige Wertattribut „niedlich", das hier nur beiläufig gestreift werden sollte, einbeschlossen in den weit umspannender erscheinenden Begriff des „Gefälligen", untergeordnet dem Wirkungswollen des „Gefallenden" und des — besonders bei Wieland beibehaltenen —„Ergötzenden". Der Beziehung des „Artigen" zu dem „Kleinen", wie sie in der Autklärung gelegentlich spürbar wird (Adelung, aber auch Breitinger), entspräche im Rokoko eine ähnliche Beziehung des „Gefälligen" zu dem „Kleinen". In der polemischen Spiegelung der Abhandlung B o d m e r s „ V o n den G r a z i e n des K l e i n e n " (1769) tritt bei aller kritischen und weltanschaulichen, z.T. religiös bestimmten Ablehnung eines dichterischen Rokoko dennoch grundsätzlich dieser Bezug auf das Kleine unverkennbar zutage. Bodmer vennißt bei den Erörterungen über die Grazie und Anmut geradezu dieses entscheidende Hingerichtetsein auf das Kleine: „Über das Kleine in der körperlichen und sittlichen Welt sind geheime Reize ausgestreut, welche auf das menschliche Gemüt die angenehmsten

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Eindrücke tun". Er glaubt, den Hang zum Kleinen, das an sich «ästhetische Teilwerte in sich berge, als ein beherrschendes Gestaltungsmerkmal rokokohafter Dichtung herausstellen, aber auch feststellen zu können, daß die Verniedlichung sittlicher Werte notwendig zu Entartungserscheinungen führen müsse und in der Tat geführt habe. Der aktive Widerstand Bodmers würde sich darin etwa mit dem mehr passiven Widerstand Sulzers im A r t i k e l „Ergötzend" berühren. Doch nicht allein der Verfasser der „Kleinigkeiten", L e s s i n g , hebt im Sinnbild einer Fabel („Der Sperling und der Strauß") den Wert „eines kleinen verliebten Gesanges" hervor, dessen Dichter „mehr ein Genie" sein könne als der unbegabte Verfasser eines epischen Großwerkes (Schönaich). Selbst der junge, damals schon nicht mehr im Rokoko befangene G o e t h e der Geßner-Rezension in den „Frankfurter Gelehrten Anzeigen" erkennt an, daß anders als die verhältnismäßig größeren Idyllen „die kleinen Gedichte jedes ein n i e d l i c h e s G a n z e " ausmachen. Gewiß handelt es sich dabei nur um ein Bemühen um Herdersche Einfühlungskritik; denn an und für sich wehrte die stürmerisch-drängerische Größensehnsucht jede Verniedlichung naturgemäß ab, wie denn G . A . B ü r g e r in seiner literatursatirischen Versfabel vom „Vogel Urselbst" den Rokoko-Papagei nicht nur durch das Attribut „graciös", sondern auch durch das Attribut „niedlich" kennzeichnet. In der Gesamtentwicklung des Rokoko scheint das GefälligGefallende mehr und mehr das Scherzhaft-Tändelnde abzulösen, dem es teilweise von vornherein beigemischt war (Fr. v. Hagedorn). Es entspricht dieser Vorgang einer Ablösung der vorherrschenden Leitbegriffe etwa der zeitlichen Abfolge von Anakreontik und Graziendichtung im weiteren Sinne, ohne daß eine scharfe Abgrenzung möglich wäre. Es geht bei solchem Austauschen und Abwandeln letzten Endes vor allem darum, d a s R e i z v o l l e d e s „Scherzes" aufzuhöhen zum Seelenvollen der Anmut. Doch durchläuft auch der Anmutsbegriff von frühen Ansätzen her seine eigene Geschichte. Der Terminus „gefällig" war aber von der Aufklärung weniger abgebraucht als der Terminus „anmutig", der z.T. in Verbindungen wie „anmutige Gelehrsamkeit" eine bedenkliche Vorbelastung erfahren hatte. Es ist für den allmählichen Umdeutungs- und Aufwertungsvorgang von „anmutig" bzw. „Anmut" symptomatisch, daß erst Schiller voll die Wiedereinsetzung in der Titelgebung seiner Abhandlung „Uber Anmut und Würde" vor-

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nimmt, obgleich Wieland und Jacobi bereits wesentliche Vorarbeit geleistet hatten. Denn vor allem durch Wieland und Jacobi erfolgte eine nachhaltige Umgewöhnung bzw. Neubelebung der „Anmut" und des „Anmutigen" vom Aufklärerischen zum Rokokohaften und teilweise (bes. Jacobi) schon Empfindsamen hin, wobei Wielands Anwendungsweise der Bezeichnung entsprechend seiner Gesamtentwicklung mehrfache Verlagerungen der tragenden Stimmungsschicht ablesen läßt. Bevor jedoch der Anmutsbegriff (bzw. der „Reitz"-Begriff und Grazie-Begriff) in seinen Entwicklungsstadien näher gewürdigt werden kann, wobei der überprüfende Blick weitgehend auf die Bildkunsttheorie hinübergewandt werden und auch der Entwicklungsansatz im Auslande ins Blickfeld gerückt werden muß, scheint es ratsam, die Aufmerksamkeit vorerst der Sondersituation der deutschen Anakreontik zuzuwenden, die zeitlich voransteht. Dabei wird überwiegend das „Scherzhafte", teils aber doch auch schon das „Gefällige" begegnen. Weiter zurückschauend wird eine gewisse Verwandtschaft des „Scherzhaften" mit dem „Curiösen" und des „Artig-Gefälligen" mit dem „Politen" der „galant-curiösen, politisch-politen" Epoche im frühaufklärerischen Entwicklungsraum ohne weiteres erkennbar werden, obgleich die inzwischen eingebrachten Erträge der Aufklärung naturgemäß mancherlei Abstufungen hervorrufen halfen. D a s i m G r u n d b e s t a n d der B e g r i f f e W e s e n s v e r w a n d t e k e h r t auf a n d e r e r Z e i t s c h i c h t w i e d e r in z e i t b e d i n g t a b g e w a n d e l t e r F a s s u n g . Wenn z. B. Fr. v. H a g e d o r n in einem „Vorbericht" (1738) noch von der „ p o l i t e n Welt" spricht, in der „Witz, Kenntnis und Geschmack" herrschen, so werden Zusammenhang und Abstand zugleich spürbar. Denn der „Geschmack" hätte in der früheren Epoche trotz Leibniz, Thomasius, Prasch u. a. noch nicht so selbstverständlich dagestanden. Wohl aber kann noch beim Leser ohne weiteres ein Verständnis für den Begriff „polite Welt" vorausgesetzt werden. Und ein halbes Jahrzehnt später klingt schon die Lebens- und Kunstlehre S h a f t e s b u r y s durch Hagedorns Lied „An die Freude". Daß dieser Zustrom willig aufgenommen wurde, war ein wenig auch der Bereitschaftshaltung aus der „politen Welt" früherer Prägung zu danken. Daß dieser von der Enthusiasmuslehre ausgehende, erwärmende und beseelende Strom (der vielleicht schon in der Breslauer „Anleitung" von 1725 eingewirkt haben könnte) vorerst

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gebrochen wurde, erklärt sich nicht zum wenigsten aus eben jener „politen Welt", die inzwischen durch die Aufklärung nur eine Abwandlung erfahren hatte, war sie doch im Räume der Frühaufklärung gewachsen. Das zukunfthaltige L e i t w o r t „ F r e u d e " vermag sich, im Kunstschaffen mehrfach aufklingend, in der kunsttheoretischen Zielsetzung vorerst nicht so stark durchzusetzen wie der „Scherz", der selbst in jenem bedeutsamen Gedicht Hagedorns sich Raum schafft („Gib . . . neuen Scherz; sinnreich scherzt"). Und es scheint in diesem Zusammenhange, von der Kunsttheorie aus gesehen, recht bemerkenswert, daß Franz Schultz die Erwähnung Shaftesburys durch Fr. v. Hagedorn in einem Briefe (Hagedorn an Gottsched, Nov. 1730) nachweist, in dem zugleich vom Begriff bzw. der Bezeichnung „Humour" die Rede ist, ein Begriff, der, wie Hagedorn meint, schwer ins Deutsche sinntreffend und stimmungtreffend zu übertragen sei. Zu einem gewissen Teil ging es im „Scherz"-Begriff des Rokoko auch (aber nicht nur) um einen Grenzwert zum Humor, wie z. B. späterhin bei Riedel deutlich wird. G. Fr. Meier setzt in seiner „Scherz"-Abhandlung zum Teil „Spaß" neben,,Scherz". Man versuchte es dann neben den „scherzhaften Liedern" mit „komischen Erzählungen". R o m a n i s c h e und g e r m a n i s c h e E r l e b n i s w e i s e n des L a u n i g - G e l ö s t e n , Heiter-Überlegenen rangen miteinander und überk r e u z t e n s i c h v i e l f a c h . Man versuchte es auch mit „Laune". Noch 1774 bemerkt der Kunsttheoretiker Fr. J. Riedel im Abschnitt über die Laune: „Die Worte Humour und Laune sind neu; aber die Sache ist alt." Wo der „Scherz" im Rokoko seine edelste Kraft entfaltet, da steht als Auftriebskraft eudämonistischen Lebensgefühls jene „Göttin Freude" hinter ihm. Der „Scherz" des Rokoko kann aber auch die Abwehrkraft gegen das Schicksal in sich bergen, Abstand und Überlegenheit und innere Haltung. Und als man des Freiherrn Joh. Friedrich von C r o n e g k s Schriften (1760) herausgab, jenes jungen Cronegks des „Codrus", der gewiß nicht vorwiegend getändelt hatte, da wußte man kein würdigeres Wort in die nachrufartige Vorrede zu setzen als ein von Cronegk „etliche Tage vor seinem Tode" niedergeschriebenes Gedicht mit der Prägung: „So sei dein Amt, sein Herz zu rächen! Hier liegt ein Jüngling, kannst du sprechen / Der seines Lebens kurze Zeit / Unschuld'ger Musen Scherz geweiht".

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Wie zwanglos innerhalb des N e u e i n s a t z e s der A n a k r e o n t i k die Bewertungsmerkmale „artig" und „scherzhaft" ineinander hinüberspielen, läßt G l e i m s Widmungsvorrede zu dem „ V e r s u c h in S c h e r z h a f t e n L i e d e r n " (1744/45) mühelos ablesen. Und ganz ähnlich bringt die Vorrede „Mein Leser" zum zweiten Teile des „Versuchs", ob sie nun Gleim selbst oder N a u m a n n geschrieben haben mag, neben und nach der Wendung „artig" das Attribut „scherzhaft" verstärkt zur Geltung. Sogar „Scherzrichterin" in Analogiebildung zu „Kunstrichter" wird gewagt, wie denn M e i e r s „ G e d a n k e n v o n S c h e r z e n " (1744) geradezu eine „Critik der Scherze" bieten möchten, so daß diese „kritische" Scherzkunst auch von der Kunsttheorie her die „kritische Dichtkunst" wenn nicht ersetzt, so doch in unmittelbarer Fortführung ergänzt. Darüber hinaus will der Baumgarten-Schüler G. F. Meier diese kritische Scherz-Kunst in aller Form „in das Feld der Ästhetik" einbauen, und zwar in steifer Paragraphengliederung. Und wenn in der Vorrede recht rokokohaft der (offenbar kühn sein sollende) Bogen vom Heldengedicht bis zum Schönheitspflästerchen der Damen und zur „Haarlocke der Stutzer" geschlagen wird, so bewegt sich doch die umfängliche, vielfach tüftelnde Schrift selbst nicht eigentlich in der Richtung einer Programmschrift des Rokoko. Vielmehr soll offenbar der „Scherz" in Rede und gesellschaftlicher Unterhaltung in kritische Zucht genommen und vor den stolzen und steifen Richterstuhl eines vernünftigen Geschmacks geführt werden. Keine Gnade finden die „Scherze", die im „Umgange mit Frauenzimmern" angebracht zu werden pflegen. Verworfen wird die Verquickung des Scherzhaften mit dem Religiösen etwa bei H a n s S a c h s oder A b r a h a m a S a n t a C l a r a , verurteilt auch die Verquickung des Scherzhaften mit dem Philosophischen oder dem Heldischen (Abwehr des komischen Heldengedichts wie überhaupt des Scherzhaften im Heldengedicht). Kurz, Meier dachte sich offensichtlich die praktische Auswirkung wesentlich anders, als sie sich dann in der Anakreontik und im dichterischen Rokoko vollzog. Es ging ihm, der nicht zufällig mehrfach Cicero und Quintilian befragt, Horaz dagegen mehr nach Art älterer Poetiken zur Auffrischung des trocken gehaltenen Stoffes und als Beispiellieferanten heranzieht, nicht sowohl um den „Scherz" in der Poesie als vielmehr (und weit überwiegend) um den „Scherz" in der Rede. Zeitgenössische Dichter — etwa v. C a n i t z und Lis-

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c o w — werden nur gelegentlich gestreift. Aber die S c h e r z d e f i n i t i o n w i r d m i t H i l f e der G e d i c h t d e f i n i t i o n B a u m g a r t e n s trotz allem in eine achtenswerte Rangstellung erhoben. Und das Ansehen des „Scherzes", der so v o n der B a u m g a r t e n s c h e n Ä s t h e t i k seine W e i h e e m p f ä n g t und voll in seine junge Herrschaftswürde eingesetzt wird, war nun auch von der Aufklärung her gleichsam offiziell gedeckt. Schon zwei Jahre später hat Meiers anpassungsfähige, ein wenig konjunkturtüchtig wirkende Betriebsamkeit als Mitstreiter der Gruppe Pyra-Lange in der Abhandlung vom „Werte der Reime" die Bahn freimachen helfen für die verstechnischen Bestrebungen der Anakreontik. Für die A n a k r e o n t i k nämlich ergab sich neben den Grundforderungen des Scherzhaften und Gefälligen noch eine mehr kunsttechnische Aufgabe, die H e r a u s b i l d u n g r e i m f r e i e r F o r m e n und g e l o c k e r t e r m e t r i s c h e r V e r s g e f ü g e u n d R h y t h m e n , die man teils schon im westlichen Rokoko vorgeformt fand, teils aber auch neu erobern zu müssen glaubte, kunsttheoretisch oder doch programmatisch und propagandistisch zu rechtfertigen. Aus späterer Rückschau (1776), die allerdings G o t t s c h e d s „Versuch einer Übersetzung Anakreons in reimlose Verse" (in der von J. J. S c h w a b e veranstalteten Sammlung von 1736) übersah, erschien es G l e i m fast so, als ob die ganze Anakreontik vorzüglich dieser Aufgabe habe zur Lösung verhelfen wollen. Diese Rückschau stellt zugleich einen Zusammenhang her zwischen der Gruppe der Reimgegner um Pyra und der Anakreontikergruppe Gleim, Uz, Götz, Rudnik. Die R e i m f e i n d s c h a f t P y r a s war bald über Gottscheds Ansätze zugunsten der Reimlosigkcit (1. u. 2. Auflage der „Kritischen Dichtkunst") vorgestoßen. Sein „ T e m p e l der w a h r e n D i c h t k u n s t " (1737) hebt die Absage an den Reim sogleich im ersten Gesänge betont heraus im Bewußtsein, eine „neue Bahn" zu beschreiten mit „fesselfreiem Fuß" unter stolzem Verzicht auf den „vermeinten Schmuck der leeren Reime". Und wenn Pyra von dem oberflächlichen „Vergnügen" abfällig spricht, mit dem der Reim ein „verwöhntes Ohr", ein verbildetes, falsch gewöhntes Ohr „kützelt", so ist das derselbe Verzicht, den B o d m e r s V o r r e d e zu der ersten Ausgabe von „ T h i r s i s und D ä m o n s f r e u n d s c h a f t l i c h e n L i e d e r n " (1745) als den Verzicht auf eine bloße „Speise für die Ohren", auf die „obotritische Musik der Reime" ausspricht, während G. Fr. Meier vom „gotischen Zierat" der Reime sprechen zu müssen glaubte.

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Wieder bemüht sich G. Fr. Meier in seiner „ V o r r e d e v o m W e r t e der R e i m e " , die er S. G. L a n g e s „ H o r a z i s c h e n O d e n " (1747) mit auf den Weg gibt und die recht eigentlich den U n w e r t der R e i m e nachweisen will, dem Reimstreit ein philosophisch-ästhetisches Ansehen zu geben. Während Pyras jugendlicher Kampfeseifer auf eine radikale Verwerfung des Reimes drängte, bevorzugt Meier ein Abbröckelungsverfahren logisierender Art. Er sucht den Reim als wertarm, als minderwertig oder doch ganz geringwertig zu enthüllen. Sein Hauptstützpunkt liegt in der Bestimmung des Reimes als einer „bloßen Ähnlichkeit des Schalls einiger Silben", wobei der „Schall" noch ein wenig abgedrängt, die „Ähnlichkeit" jedoch in den Vordergrund gerückt wird. Denn nun konnte er mit dem aufklärerischen Grundgesetz arbeiten, daß die wahre Schönheit stets eine „Proportion der Teile erfordere", diese Forderung indessen vom Reime als einer bloßen „Ähnlichkeit" nicht erfüllt werde. Dabei enthüllt sich, daß Meier von der „musikalischen Harmonie" metrischer Werte und Wirkungen noch recht mechanistisch und mathematisch denkt. Die „Seele", die ein Gedicht aufnimmt, hat deshalb Freude am Metrum, weil sie in ein „süßes Erstaunen über ihre Geschicklichkeit" gerate, wenn sie „gleich einem Rechenmeister die Größen mit einander nach Zahlen vergleichen" könne. Der Reim dagegen fordert und fördert ein „solches mathematisches Nachdenken" nicht, denn er wirke „ohne Überlegung". Man spürt an solchen ungewollten Enthüllungsstellen, wie in der Auflockerungspoetik vielfach noch der nackte und nüchterne Cartesianismus unter dem gefälligen und gleichsam erst probeweise umgelegten Gewände des Sentimentalismus hindurchschimmert, wie verwirrend ein wenig von der Emotionslehre einmündet, aber sogleich rationalistisch verwässert wird. So macht die Enge des Reimstreites doch für Augenblicke die (relative) Weite kunstphilosophischer Richtungen und Strebungen sichtbar. Und das bleibt wesentlicher als alle die Einzelheiten, die Meier zugunsten der Reimfreiheit und zuungunsten des Reimes zusammenträgt. Beachtenswert erscheint der Umstand, daß Meier dort, wo er aus dem „Wesen eines Gedichts" heraus über den Wert bzw. Unwert des Reimes urteilen will, sich nicht auf Baumgartens grundlegende und von ihm überdies in einer Sonderschrift verteidigte Definition stützt. Vielleicht deshalb nicht, weil Baumgartens „Meditationes" gerade in Fragen des Wohlklanges selbst

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mit gewissen Schwierigkeiten zu kämpfen hatten. Überhaupt boten die „Meditationes" Baumgartens von 1735, die an sich durch Vermittlung Rudniks an Gleim und weiterhin auch an Uz gelangten, für die Theorie der Anakreontik kaum besonders günstige Anknüpfungsmöglichkeiten. Man müßte dann denken etwa an das Zurückgreifen auf Horaz und vielleicht noch an die nicht gerade achtungsvolle Beiläufigkeit, mit der Baumgarten den Endreim im Zusammenhang mit Bilderreimen und anderen Spielereien abgetan hatte (Medit. § 106). Dagegen erinnern die Bemühungen um Horaz und Horazische Odenformen daran, daß trotz entscheidender Abhebung in der weltanschaulich-religiösen Haltung sich dennoch zwischen der Halleschen Freundesgruppe Pyra-Lange und der Halleschen Anakreontikergruppe Gleim, Uz, Götz und Rudnik zum mindesten eine lockere Beziehung herstellen läßt, ganz abgesehen von der entsprechenden Einstellung im Reimstreit. Mit dem umständlichen Verfahren der Meierschen ReimAbhandlung teilt G l e i m s Vorgehen in den V o r r e d e n zu dem „Versuch in scherzhaften Liedern", das an sich dem Geist des Rokoko weit näher bleibt, dennoch das schrittweise, letztlich aufklärerisch geschulte Vorgehen. In aller Liebenswürdigkeit werden dabei die „Schwestern" der „Doris", die Leserinnen, vom Reim entwöhnt und nicht ohne Schmeichelei umgewöhnt. Und fraglos erreichte Gleims Taktik mehr als die Meiers, wie denn überhaupt Meier vorerst weit stärker rationalistisch gebunden bleibt als Gleim, und zwar auch jenseits der Angriffsbewegung auf den Reim. Wenn z. B. Meier in seiner breitschichtigen, einen vollen Band füllenden „ B e u r t e i l u n g der G o t t s c h e d i s c h e n D i c h t k u n s t " (1747, wobei Dichtkunst für Poetik steht) Gottsched an rationalistischer Strenge noch übertrumpfte und eine Berücksichtigung der „poetischen" Begriffe, Urteile, Schlüsse und Beweise vermißte, so ist Gleim überzeugt, daß die „mathematischen Beweise der Wolffianer" kein einziges Gedicht zu „verschönern" vermöchten. Auch die „beste der möglichen Welten" wird ein wenig neckisch umtändelt und wenigstens „scherzend" in Frage gestellt beim Abschiednehmen des Geliebten. Gleichzeitig lockert man zunächst noch zaghaft die Moralbindung. An Beteuerungen, daß auch ein scherzender Mensch tugendhaft sein könne, fehlt es nicht. Und wo die Scherze zu locker werden, da sucht man den von Alters her beliebten Schutz der Fiktionsdeckschicht auf, etwa in dieser Art: „Schließet

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niemals aus den Schriften der Dichter auf die Sitten derselben" (Gleim bzw. Naumann), oder in späteren Jahren der rokokohaften Entfaltung C h r . F e l i x W e i s s e mit dem Geständnis: „ D a s wenigste hab ich gefühlet / Das meiste sang ich bloß aus Scherz". Das berühmt-berüchtigte Glas Wasser, das seit Weisses freimütigem Geständnis oft genug aufgetischt und großzügig von einer älteren Literaturgeschichte zur anderen weitergereicht worden ist, um den Zwiespalt zwischen einem nüchternen Leben und einer weinseligen Dichtung zu veranschaulichen, mag hier entbehrlich erscheinen, um so eher, als ein bündiger Vorschlag Lichtenbergs, Wort und Sache eng zu binden, für Prediger Seelsorger, für Stutzer Dummkopf, für Anakreontiker „Wassertrinker" anrät. Teilweise erleichtert Ovid die Trennung von Lebenssittlichkeit und Haltung (oder Mangel an Haltung) in der Dichtung. Jedenfalls weist Fr. v. Hagedorns Forderung: „Man soll dies, was man setzt, vorher selbst empfinden . . . Was deine Mus' entdeckt . . . , muß nicht durch Kunst verstellt, es muß gefühlet sein" über die Anakreontik schon hinaus, entspricht also nicht deren Grundeinstellung. Wie denn überhaupt Hagedorn sich auf eigene Weise seinen Weg zum Rokoko bahnt. Und es ist ratsam, diesen Weg und seine theoretisch gesetzten Wegweisungen einige Schritte zu verfolgen, um einen weiteren Zugang zum Kunstwollcn des Rokoko zu gewinnen. Der verhältnismäßig umfassende und mit Anmerkungen unterbaute „ V o r b e r i c h t " , mit dem F r i e d r i c h v o n H a g e d o r n seine Sammlung „ O d e n u n d L i e d e r " (II. Teil 1744 bzw. 1754) einleitet, stellt von vornherein die Darstellungsabsicht klar heraus, nach der „die folgenden Gedichte nicht so sehr den erhabenen als den g e f ä l l i g e n C h a r a k t e r der Ode zu besitzen wünschen, durch welchen dieselbe ihre Vorzüge r e i z e n d e r u n d g e s e l l s c h a f t l i c h m a c h e t " . Damit sind neben dem Kernattribut dos „Gefälligen", das Hagedorns Beiträge zur Kunsttheorie durchweg beherrscht, bereits die kennzeichnenden Begleitattribute des „Reizenden" und „Gesellschaftlichen" ( = Geselligen) gebührend und gleichsam programmatisch hervorgehoben worden. Hagedorn erhofft außerdem von einem Überpflanzen westindischer und südländischer Auslandslyrik in Verbindung mit dem Anlehnen an die Lyrik der Alten einen fiir die deutsche Lyrik erwünschten Fortschritt auf den „anmutigen Spuren des lyrischen Schönen". Eine Rechtfertigung und „ R e t t u n g " der anakreontischen Dicht-

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weise nach Form und Inhalt vor allem will dieser Vorbericht sein. Während jedoch die „Rettungen des Horaz" vom jungen Lessing in jenem frühen Prachtstück seiner werdenden Kampfprosa selbst durchgefochten werden mußten, kann Hagedorn, der es teils ebenfalls mit der Abwehr moralischer Vorwürfe gegen die Anakreontik zu tun hat, sich begnügen, die Verteidigung von dritter Seite im Einleitungsschreiben zu Chalieus Gedichten zu empfehlen, um den „schätzbaren Charakter des Anakreons" und des „Horaz, Chapelle und anderer Lieblinge der Natur, Dichtkunst und Freude" gebührend würdigen zu lernen, wobei die „Freude" als weltanschaulicher Wert bedeutsam auftritt. Eigenartig wirken in diesem Rahmen anfangs leichte A n s ä t z e z u r W ü r d i g u n g e i n e r v o l k s t ü m l i c h e n L i e d f o r m . Sie beanspruchen für Hagedorn zwar k e i n e n E i g e n w e r t , sondern sollen dazu verhelfen, der regelfreieren Haltung und Gestaltung der anakreontischen Liedform einen entsprechend freieren Spielraum zu verschaffen. E b e r t s Ubersetzung der Untersuchungen des „gelehrten de la Nauze", die Hagedorn seiner Ausgabe von 1754 anhängt als „ A b h a n d l u n g e n v o n den L i e d e r n der a l t e n G r i e c h e n " , dürften, da sie außer von Tisch- und Trinkliedern auch von Berufsliedern (Begleitliedern zu Beruf und Brauch) handelten, manche ermunternde Anregung gegeben haben. Ohne daß der Blick von hier aus sogleich auf Herders Aufsätze zur Griechischen Anthologie im Räume der Frühklassik hingelenkt zu werden braucht, erleichtern doch derartige auf die Antike zurückgreifende Sicherungen der Anakreontik die Einsicht in g e w i s s e Ä h n l i c h k e i t e n v o n R o k o k o u n d K l a s s i k . Soweit volksliedhafte Ansätze fühlbar werden, liegt der Blick auf den Sturm und Drang naturgemäß näher. So stützt sich z. B. Hagedorn weiterhin auf den Bericht des „Spectators" darüber, daß hochansehnliche Männer wie Lord Dorset oder auch Dryden Gefallen gefunden hätten an Sammlungen „alter englischer Gassen-Gesänge". Jedenfalls räumt Hagedorn dem Liederdichter, besonders hinsichtlich der Formgebung, größere — auch mundartliche — Freiheiten ein, als sie in der „höheren poetischen Schreib-Art" sonst gestattet seien. Ein wenig wird Gottsched abgeschüttelt, was die „Regeln der Sprachkunst" betrifft, ein wenig auf das Volkslied hinübergeschaut. Es ist nichts weniger als Zufall, wenn die Teilmotivierung der formalen Auflockerung durch den Hinweis auf das Volkslied sich 17 M a r k w a r d t , Poetik II

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unmittelbar verbindet mit der Teilmotivierung des lockeren moralinfreien Inhalts anakreontischer Lieder. Fr. von Hagedorns ahnungsvolle Begegnung mit dem Volkslied bleibt bemerkenswert, so wenig er auch die letztlich doch immer kunstreiche und irgendwie künstliche Zwanglosigkeit des anakreontischen Liedes zu unterscheiden weiß von der naturnahen Frische und der Ursprünglichkeit des Volksliedes, so sehr ihm auch das Volkslied ein bloßes Mittel zum Zweck bleibt, um formstrenge und sittenstrenge Kunstrichter abwehren zu können. Es gäbe eben eine Liedart, die o h n e hohe K u n s t d i c h t u n g z u s e i n , sich dennoch in ihrer Art „beliebt und unvergeßlich machen" könne. Von der WirkungsÄsthetik aus tritt das Kriterium des Gefallenden in Benachbarung des „Gefälligen" greifbar zutage. Die aufklärerische Grundschicht bleibt bestehen und etwa auch dort sichtbar, wo gegenüber dem „Guardian" (16. Stck.) die rationalistisch bevorzugte Sonderform der „satirischen Lieder" und des „Hechel-Scherzes" (hier berühren sich der ältere und neuere Scherz-Begriff) verteidigt wird. Hagedorns Ode „ A n die h e u t i g e n E n k r a t i t e n " hält es für angemessen, einen klaren Trennungsstrich zu ziehen zwischen Lebenswirklichkeit und jener „poetischen" Schein-Wirklichkeit, „wovon der Dichter doch nur singt". Und in dem späteren „ S c h r e i b e n an e i n e n F r e u n d " (1752), das allerdings im Entwicklungsbereich der „ M o r a l i s c h e n G e d i c h t e " sich entsprechend anpaßt, läßt er nur noch den oberflächlichen Leserinnentypus an jenen früheren anakreontischen Kleinigkeiten, „die ich selbst nicht mehr lese", Gefallen finden. Doch auch jetzt noch weiß sein duldsamer Geschmack neben der „schwarzen Brühe der Spartaner" die leichtere Kost, die „niedlichsten Gerichte der Perser" zu würdigen, wobei zugleich das rokokohafte Wertwort „niedlich", obgleich etwas anders belichtet, erneut begegnet. Und bei aller schalkhaften Ironisierung des „vornehmern, galantem Geschmacks" wird dennoch das Wertungs- und Wirkungskriterium des „ G e f ä l l i g e n " auch in ernsterem Zusammenhange aufrechterhalten. Wenn Hagedorn in den bekannten Versen „ A n d i e D i c h t k u n s t " die Dichtung als „Gespielin meiner Nebenstunden" bezeichnet, so ruht der Akzent nicht einseitig auf den „Nebenstunden", sondern im rokokohaften Stimmungswert auch wesentlich auf dem Kennwort „Gespielin", das sowohl das Auflockernde wie das Tändelnde, den Anteil Belebung wie den Anteil Fiktion

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einschließt, ohne daß man sogleich an Schillers „Spieltrieb" zu denken braucht. Die Dichtkunst als Sorgenbannerin und Freudenmehrerin wird ähnlich auch jenseits Hagedorns gefeiert. Aber überall auch bricht sich die Leichtigkeit und Leichtlebigkeit des französischen Rokoko am deutschen bürgerlichen Lebensernst, der sich trotz des modischen Entlehnungseifers nicht von den wiederholten Wellen der „poésie enjouée, poésie fugitive, poésie légère" restlos und widerstandslos überspülen ließ. Selbst Fr. von Hagedorn erkennt die „Wissenschaft, in sich beglückt zu sein", dort, wo er „ D i e G l ü c k s e l i g k e i t " (1743) umschreiben möchte, nur unter der Bürgschaft an, die „Zufriedenheit und ein gesetzter Geist" zu bieten vermögen. Ein benachbartes, aber noch mehr in den Pflichtraum des Lebensernstes und der Lebensverantwortlichkeit emporgehobenes Motiv begegnet bei J o h a n n P e t e r U z in dem Gedicht „ D i e G l ü c k s e l i g k e i t " , das zugleich die Verpflichtung gegenüber dem Gemeinwohl, dem „allgemeinen Wohl", und der „ganzen Schöpfung Wohl" als unerläßliche Voraussetzung für die Glückseligkeit des Einzelnen fordert in enger Verbindung mit dem Glücklichsein durch Tugend; „denn reine Freude quillt allein aus reinem Herzen", während „falscher Lust" abgeschworen wird. Selbst in Liedern, die „An die Freude" gerichtet sind, warnt Uz vor der „Tochter wilder Trunkenheit", vor einer „ungestalten Fröhlichkeit", bevorzugt er „sanfte Grazien", während Hagedorn, entsprechend einer stärkeren Erlebnisnähe, kühner den „finstern Splitterrichtern'* absagt, aber doch auch die Freude in enger Beziehung zur Vernunft sieht: „Du erheiterst, holde Freude / Die Vernunft" und den Scherz in enger (über den Witzbegriff kunsttheoretisch gegebener) Beziehung zum Sinnreichen („sinnreich scherzt"). Das in vier „Briefen" sich ausbreitende Lehrgedicht, das J . P . U z als einen „ V e r s u c h ü b e r die K u n s t , s t e t s f r ö h l i c h z u s e i n " (1760) besonders im dritten Briefe an die „Ars Semper gaudendi" des Spaniers S a r a r a angelehnt zu haben eingesteht, das er aber doch mit eigener Gesinnung und Lebensstimmung erfüllt hat, verkennt keineswegs die Gefahr, daß eine charakterfeste Tugend „leicht verzärtelt wird im Schöße sanfter Freuden". Wie nur der Weise wahrhaft beglückt, groß und frei zu sein vermag, so vermag auch „wahre Lust" nur „bei der Tugend" zu wohnen. Religiöse Zuströme suchen im an sich philosophisch gedachten Lehrgedicht merklich eine gefühlsmäßige Verinnerlichung durchzusetzen, wenn17'

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gleich sie sich an manchen rationalistischen und popularphilosophischen Flachheiten brechen und nicht — wie etwa bei Klopstock — ihre Kraft voll ausströmen können. Trotzdem bleibt eine Verinnerlichung bestehen, die in mancher Hinsicht bereits über das Rokoko hinausweist. Sittlicher Ernst fordert Tapferkeit vor dem Schicksal: „Nur wer zu sterben weiß, kann stets zufrieden leben". Wieder klingt jene latente Forderung nach innerer Haltung und Gefaßtheit durch die scheinbar zur Oberflächlichkeit verurteilte Lehre, stets fröhlich zu sein. Nicht zum wenigsten bei Uz macht sich jene Hemmung aus dem Selbsterhaltungstrieb des deutschen Bürgertums gegenüber einem französierenden Rokoko geltend, die eingangs berührt worden ist. Wird in dem Aufruf „An die Deutschen" schon ein Abrücken von der Rokokowelt oder doch der anakreontischen Dichtung deutlich, so versuchte auch jenes weitschichtige Lehrgedicht über die rechte Lebensfreude, die Gefahrenzonen einer verzärtelten Lebensauffassung zu zeigen, so rokokogerecht darin immer der Weise „von Grazien umgeben" sein mochte. Bei Uz meldet sich unverkennbar die innere Krise und die innere Problematik eines deutschen Rokoko an. Aber Hilfskräfte der aufklärerischen Sittenlehre schienen manchem anfangs noch auszureichen, um diese Krise zu überstehen, die doch in Wirklichkeit als schleichende Krise nur notdürftig überdeckt werden konnte. Immerhin mußten die „höhern Ergetzungen der Seele" den nur „sinnlichen Ergetzungen" zur Hilfe kommen, um sie vor dem aufklärerischmoralpädagogischen Kunstwollen einigermaßen zu rechtfertigen. Teils glaubte man, einfach mit Tugend und Vernunft jenen Gefahrenzonen zu entgehen. Das „irdische Vergnügen in Gott" Heinrich Brockes' erfährt allgemein eine gewisse Auflockerung. Aber die Flankendeckung durch Moral und Vernunft bleibt aufrechterhalten, wie denn etwa Götz „Das V e r g n ü g e n " einmal auf Mäßigung und die „sanften Triebe der Natur" zurückführt, das Vergnügen vorzüglich in der „Musen Tal und Wald", also im Bereiche dichterischer Scheinwirklichkeit antrifft, um als Endertrag des Gedichts, als Fundort des Vergnügens bündig anzugeben: „Zwischen Tugend und Verstand". Es soll bei alledem nicht verkannt werden, daß die theoretische Äußerung streckenweise aus der Abwehrhaltung der „Rettung" heraus strenger ausfallen mag, während die Verwirklichung im Kunstschaffen zwischen den Polen T u g e n d u n d V e r s t a n d ,

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richtiger wohl zwischen Moral und Ratio einem freieren Ausschwingen auch entsprechend weiteren Spielraum vergönnt. Und zwar pflegten diese Schwingungen vom Pol Tugend weiter fortzuführen als vom Pol Verstand, Vernunft, Vernünftigkeit, den man im Raum der Aufklärung ungern preisgab. Einige Schritte zum Erlebnisähnlichen hin erleichtern später den Zugang zum Erlebnisechten, das in seiner vollen Ausprägung erst der Sturm und Drang erreicht. Vorerst „spielt" man noch ein wenig „Erlebnis". Man hat es noch nicht, und es hat einen noch nicht, jedenfalls nicht als Dichter. Man glaubt es auch noch nicht recht haben zu dürfen als Dichter der Aufklärung, als Mann der Vernunft und einer bürgerlich tugendfesten Gesinnung. Etwa gleichzeitig mit der breiten Welle der anakreontischen Lyrik gewinnt als S o n d e r g a t t u n g der V e r s e p i k das k o m i s c h e E p o s an Geltungszuwachs. Und die kunsttheoretischen Großwerke der Aufklärung, wie Gottscheds „Kritische Dichtkunst" oder Sulzers Lexikon sehen sich in ihren späteren Auflagen gezwungen, dem rokokohaften Kunstwollen etwas nachzugeben und die Sondergattung des komischen Heldenepos bzw. das Stichwort „Comisch" entsprechend zu ergänzen. Fr. W i l h e l m Z a c h a r i ä s „Renommist" (1744), der Einzelzüge früherer Vorformen zusammenwirken läßt, erscheint in demselben Jahre wie Gleims „Scherzhafte Lieder". Und wie von „scherzhaften Liedern" spricht die Zeit von „scherzhaften Heldengedichten". Der Anakreontiker Uz versucht sich zugleich in der modischen epischen Form des scherzhaften Heldengedichtes, dessen Entwicklung in den dreißiger und vierziger Jahren vor allem auf Boileau und Pope zurückging. Selbst Pyra näherte sich mit seinem „Bibliotartarus"Fragment dieser Richtung vorübergehend. Bemerkenswerte Versuche einer theoretischen Bestimmung erfolgen erst nachträglich, und zwar nach der wenig beachteten Definition M o s e r s in seiner „ H a r l e k i n " - S c h r i f t (1761), wo er die „Größe ohne Stärke" als Merkmal komischer Heldenepen bezeichnet, vor allem in Joh. J a k o b D u s c h s „ B r i e f e n z u r B i l d u n g des G e s c h m a c k s " (1764—73). Die Auseinandersetzung zwischen Dusch und Uz über die als „neu" empfundene Sonderform, die etwa auch Geliert gegen eine Überschätzung der Antike ausspielte, klärt einige Wesensmerkmale. Und zwar erkennt man die Grundauffassung des komischen Epos als Satire. Nur daß Uz über Popes „bloße Galanterie" angriffslustiger vorstößt, während Dusch von einem Ab-

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gleiten in die „Pasquille" (Vorrede zum „Schoßhund") warnt. Die Komik entfaltet sich Widerstreiten von Schein und Sein, von Armseligkeit in der Haltung und aufgemachter Großartigkeit in der Gestaltung. Das „Kleine" als Motivbereich des Rokoko soll durch einen „Schein von Wichtigkeit" letztlich doch gerade in seiner Nichtigkeit satirisch enthüllt werden. Eine g e w i s s e S p i e l f o r m und gleichsam Vorspiel-Form r o m a n t i s c h e r I r o n i e führt bereits zur inneren Zerbrochenheit des rokokohaften Kunstwollens. Aber man findet dieses Spielen mit dem Scheingroßen „schön". Die Maschinen (allegorische Personen usw.) werden geduldet, weil sie die künstliche Aufmachung fördern. In der Idealform des „scherzhaften Heldengedichts" sollen die Entsprechungen zwischen allegorischen Gestalten und Erscheinungen einerseits und konkreten „Helden" andererseits einheitlich durchgehalten werden. Die „ungereimten Fabeln" der antiken Mythologie werden von Dusch verworfen, während das Wunderbare, das als Aberglaube noch volksläufig sei, sich — wiederum im aufklärerischen Sinne — als Gegenstand für ein Lächerlichmachen ausgezeichnet eigne (Abhebung von den Schweizern und vollends von G. A. Bürger). Das Wahrscheinlichkeitskriterium sucht Dusch für das komische Epos in ähnlicher Weise zu retten wie Gottsched für die Tierfabel. Ebenso leitet er den hohen R a n g d e s k o m i s c h e n E p o s (höchste Ausprägungsform der satirischen Gattungen) ähnlich — und zwar m. E. letzlich von Chr. Wolff — ab, wie man den hohen Rang der Fabel abzuleiten pflegte. Der Ausweg, die komische Sonderform vom eigentlichen Heldenepos fortzurücken, indem man es den satirischen Dichtungsarten als deren Krönungsstück zuwies, kann doch nicht darüber hinwegtäuschen, daß hier die rokokohafte Auflockerung in Auflösung umschlägt. Die k o m i s c h e R o m a n z e zwar konnte man nicht gut als Hauptstück der Satire erklären. Und bei ihrer Rechtfertigung als Sonderform durch Eschenburg schwingt immer noch ein Unterton der Entschuldigung mit wie (ein Jahrzehnt später) etwa bei dem aufklärerischen Märchendichter der vermeintlichen „Volksmärchen" Joh. Karl Musäus, dem das Volksmärchen doch bedenklich viel von der „unteren" Seelenkraft der Phantasie zu enthalten scheint. Diesem Bedenken gegenüber dem Märchen entsprach das Bedenken gegenüber dem „Abenteuerlichen" in der Romanze, die noch ganz als Volksromanze gesehen wurde. Aber

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als allgemeines Wirkungsziel der „komischen R o m a n z e " galt ähnlich wie beim „scherzhaften Heldengedicht" das Satirische, und zwar das Satirische im Grenzbereich zum Parodistischen. Denn wie das komische Heldenepos das echte Epos weitgehend parodierte oder karikierte, so die komische Romanze den volksballadesken Bänkelgesang. Außerdem sind die Übergänge zur komischen Verserzählung fließend, schon durch Ausweitung des Umfangs (Gleims „Marianne" umfaßt vierzig achtzeilige Strophen.) Endlich wechselte die komische Romanze wohl auch als Bestandteil in das Singspiel hinüber. Das Attribut scherzhaft oder komisch hielt Gleim für entbehrlich, als er die ersten drei Proben unter dem schlichten Titel „Romanzen" (1756) herausbrachte, also ein gutes Jahrzehnt nach seinen „Scherzhaften Liedern". Vielmehr scheint ihm sein französischer Gewährsmann Fr. Aug. Par. de Moncrif (1687—1770) von vornherein die Sonderform der Romanze in Deckung zu bringen mit dem Stiltypus und Auffassungstypus des S a t i r i s c h e n , Witzigen, und Komischen im weiteren Sinne. Wäre er über den Franzosen Moncrif, dessen Romanzen fast um ein Menschenalter früher lagen, noch weiter auf dessen (von Moncrif offenbar bereits bewußt espritvoll spielerisch abgewandeltes) Vorbild, nämlich den Spanier Luis de Gongora (1561—1627) zurückgegangen, der dem echten Volkston immerhin beträchtlich näher geblieben war, so würde er möglicherweise die ernsten Ansätze, die auch jetzt noch (z. B. in den Liebesklagen Mariannes oder Leanders) fühlbar bleiben, unbefangener ausgebaut haben. Denn an sich hat Gleim im soldatenliedhaften Typus einen für aufklärerische Verhältnisse beachtlichen Grad an „Volkstümlichkeit" wenn nicht erreicht, so doch zum mindesten dem Kunstwollen nach erstrebt, ähnlich wie späterhin Musäus im Bereiche eines gewiß immer noch aufklärerisch eingestimmten „Volksmärchens". So jedoch stellte Moncrif die Vorbild-Poetik für Gleims Auffassung von der mustergültigen Romanze und damit auch für die seiner Nachahmer. Das bedeutete zunächst einmal, daß der überlegen „witzige" (und nach modernem Geschmacksurteil witzelnde) Zustand und Abstand des „Scherzhaften" geradezu als eine Voraussetzung für das Zustandekommen einer regelrechten und stimmungsechten Romanze galt und gelten mußte. Bei Joh. Fr. Löwen (1727—1771), dem engeren Generationsgenossen Lessings, mit dem er sich begegnete im Bemühen um

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das Hamburgische Nationaltheater (u. a. durch seine Nachricht vom Plan einer „Veränderung des Hamburgischen Theaters", 1766), in der Theatergeschichte weiterhin bekannt durch seinen frühen Versuch einer kleinen, aber inhaltsreichen „Geschichte des deutschen Theaters" (bes. über Schauspielertruppen, aber auch Dramen und Lustspiele) aus demselben Jahre, wird das komische Moment bereits deutlicher in die Titelgebung mit einbezogen, wenn er „Romanzen nebst anderen komischen Gedichten" (1762) aus seinen poetischen Nebenstunden erscheinen läßt. Hier ist noch greifbarer, wie das Attribut komisch ohne weiteres vorausgesetzt wird und also gleichgesetzt wird mit romanzenhaft. Den Anteil Bänkel-Gesang endlich läßt Daniel Schiebeier (1741—1771) zur Geltung kommen in seinen „Romanzen mit Melodien" (1767), während noch in seinem Todesjahr eine „Neue Sammlung von Romanzen" (1771) folgen konnte. Eschenburg hielt den Jungverstorbenen immerhin für würdig, dessen „Auserlesene Gedichte" (1773) herauszugeben. Das war bereits das Durchbruchsjahr der Kunstballade im Schaffen G. A. Bürgers. Joh. J o a c h i m E s c h e n b u r g war es auch, der ähnlich wie Dusch für das komische Epos eine Art von T h e o r i e der R o m a n z e entwarf, und zwar in der kunsttheoretischen E i n l e i t u n g zu seiner Sammlung „Romanzen der Deutschen" (1774, fortges. 1778). Trotz einer Titelvignette nach Bänkelsängerart geht Eschenburg auf diese volkstümlichen Vorformen und deren forciertes Umbrechen ins Espritvolle und „Scherzhafte" nicht näher ein. Vielmehr kommt es ihm, entsprechend der GongoraMoncrif-Tradition, auf die ausländische (romanische) VorbildPoetik an. Aber noch für ihn gelten, etwa zwei Jahrzehnte nach dem Einsetzen und Einführen der neuen Gattung, „Laune und Drolligkeit" (wobei zeitgemäß „Laune" für Humor bzw. Komik steht) und eine eben doch nur „affektierte Ernsthaftigkeit" als kennzeichnende Wesensattribute und Wertmerkmale. Herders Bedauern über die einseitige Bevorzugung des „Niedrigkomischen" bei der zeitgenössischen Bestimmung der Romanze lag im OssianAufsatz von 1764 bereits vor, noch nicht jedoch sein nachdrücklicheres Eintreten für die ernste Form innerhalb des Deutschen Museums (1777). Für Eschenburg spielt dagegen, obwohl er ein wenig das Einfältige gelten läßt, wiederum wie beim komischen Epos das „Wunderbare" die abgesunkene Rolle eines Gelegenheitsmachers zur Hcrausarbeitung des „Abenteuerlichen" (dessen

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Herauskehren Herders Ossian-Abhandlung ebenso wie das des „Niedrigkomischen" als Mißbrauch der Romanze beanstandet hatte), und auch des Launig-Drolligen, gerät also in die Nähe und den Dienst des Wunderlichen. Es handelt sich, wie Eschenburg ausdrücklich klarstellt, um eine „Art des falschen Wunderbaren". Und die Forderung „leicht fließend und forteilend" für die Formgebung erinnert nicht von ungefähr an die „poésie fugitive". Gewiß, Eschenburg, der ernste und eifrige Kunsttheoretiker, war kein Fr. J. Riedel. Und der fast feierliche Ton seiner Titelgebung erinnert daran, daß damals die „Blätter von deutscher Art und Kunst" schon vorlagen. Aber es ist doch bei allem kulturpatriotischen Wetteifer mit dem (romanischen) Auslande ganz unverkennbar, daß für seinen Entwurf einer Theorie der Romanze vor allem die komische Romanze das Muster und Modell stellte und nicht die Romanze im Herderschen Sinne. Und ebenso unverkennbar sind die rokokohaften Einschläge in dieser an sich sachlich-aufklärerischen Theorie. Diese rokokohaften Einschläge berechtigen nun auch von der werkimmanenten Poetik her (wenn anders man die schwerwiegende Bezeichnung auf diese künstlerisch belanglosen Erscheinungen überhaupt anwenden will) zu der Einordnung in diesen Zusammenhang. Denn wenn auch die Kunstleistung in den letztlich unförmlichen Mischgebilden aus durchweg parodierter, nur gelegentlich etwas ernster genommener Volkstümlichkeit einerseits und „Scherz" und „Witz" andererseits keineswegs so ohne weiteres als rokokogerecht gelten kann (dazu fiel das Scherzhafte zu spitz, das Volkstümliche zu plump und das „Gefällige" demgemäß häufig gänzlich aus) : dem Kunstwollen nach, um das es hier geht, überwog doch eben wieder jene vom komischen Epos her vertraute r o k o k o h a f t e I r o n i e , die als Spiel- und VorspielForm der romantischen Ironie vereinfachend umschrieben werden konnte. In dem Augenblick, in dem Gleim z. B. seine Marianne mit „Fräulein Marianne" tituliert und hofiert, ist die angedeutete Schwenkung bereits vollzogen. Und während der langatmig anpreisende Titel „Traurige und betrübte Folgen . . . usw." den Volkston aufzugreifen scheint, wenngleich natürlich parodierend ihn angreifend, bewegt sich das Eingangsgespräch zwischen Mutter und Tochter durchaus in den Bahnen rokokohafter Pikanterie. Überhaupt scheinen mit Vorliebe die Eingangspartien bzw. Schlußteile (soweit in diesen nicht die Parodie der Moralität

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innerhalb der Moritat sich breitmacht) den Rokokostil zur Geltung zu bringen. Jedoch daß man den Rahmen so wählte und anlegte, deutet hinreichend an, unter welchem Blickwinkel man das ganze ergötzlich-erbauliche Zerrbild betrachtet wissen wollte. Im übrigen pflegt es auch in den mittleren motivausführenden Teilen nicht an rokokohaft getönten Farbtupfen zu fehlen, die auf eine Art von Stileinheit (im Sinne des absichtlich gebrochenen Mischstils) merklich hinarbeiten. Diese Tönung, dieser „Ton, der das Ganze beherrscht" (Eschenburg), beruht nicht auf der echten Vielfalt (des Sturmes und Dranges), aber naturgemäß auch nicht auf einer echten Einfalt, sondern auf „einer verstellten Einfalt" (Eschenburg). Ähnlich wie im Bereiche des „scherzhaften Heldengedichts" etwa K. A. Kor tum mit seiner Jobsiade die derbere Form vertrat, wie im Bereiche des an sich rokokohaften Schäferspiels Gellerts ländliches Spiel „Das Band" unversehens ins kraftvoll Frische des „theatralischen Landgedichts" hinüberwechselte oder vielleicht richtiger wie Thümmel ins Drastische geriet im weiten Bezirk der komischen Verserzählung, so kamen auch bei der komischen Romanze wohl gelegentlich Spielformen zustande, in denen sich das derb Realistische mit dem rokokohaft Frivolen zu vermeintlich wirksamer Mischung verband (etwa Löwens „Zweite Romanze" vom Überfall auf ein Nonnenkloster). Oder das Motiv wird ins Spezialgebiet „vergeistigend" hinübergespielt (etwa Löwens Motiv vom zerstörten Marionettentheater). Kaum irgendwo aber fehlt der rokokohaft „scherzende" oder aufklärerisch „witzige" Anteil (so etwa die Rahmenteile in Schiebelers an sich ernster gehaltener Romanze von „Leander und Hero"), selbst nicht in Lenz' später Nachbildung „Die Liebe auf dem Lande". In diesem Falle ist auch die Brücke zum komischen Versepos bzw. zur komischen Verserzählung (Wielands „Sixt und Klärchen") gleichsam sichtbar geschlagen und stehen geblieben (wobei die Fälschungsfrage nicht erheblich ist). Gerade angesichts dieser Romanze liegt die Frage nahe, ob oder wieweit das Komische sich vereinzelt vertiefte zum Tragikomischen, ob und inwieweit dies Darstellungsabsicht oder auch gelegentlich ein bloßes Ausgleiten war. Auf diese Frage, ob Formungsmangel oder Formungswille vorlag oder überwog, sei bei dieser Gelegenheit immerhin einmal die Aufmerksamkeit hingelenkt. Die Nähe von Romanze und Bänkelsängerlied ist (bei Überwiegen der Balladen-Würdigung im Sinne

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Herders) noch deutlich bewußt gehalten innerhalb des Kunstgespräch-Anteils in Goethes Singspiel „Claudine von Villa Bella" (1776). Die Frage des Sich-Lustigmachens oder Ernst-Nehmens wird dort (i. Gespräch: Crugantino-Gonzalo) unzweideutig aufgeworfen. Daß auch Annäherungen der komischen Romanze an das rokokohaft Schäferliche stattfinden, tritt etwa in Gleims „Alexis und Elise" klar zutage. Die s c h ä f e r l i c h e A u s p r ä g u n g s f o r m des R o k o k o hätte — was die Berechtigung einer Schäferdichtung an sich im aufklärerischen Raum betraf — sogar das Kapitel „Von Idyllen, Eklogen oder Schäfergedichten" in Gottscheds „Kritischer Dichtkunst" für sich in Anspruch nehmen können. Gottsched, der dieses schäferliche Kapitel mit merklicher Liebe niederschrieb, hatte eine kleine Schwäche für die Schäferdichtung ähnlich wie für die Tierfabel, wenn auch nicht in demselben Grade. Und der Jugendfreund Lessings, der nicht gerade schäferlich gestimmte „Freigeist" Christlob Mylius, der in den verworrenen Thesen „An die deutschen Dichter" auf Anakreon als Vorbild-Poetik hinwies, ließ es denn auch zur Zeit seiner Gottschednachfolge unter seinen zahlreichen, durchweg oberflächlichen Bekundungen (die neben dem Naturf o r s c h e r " den Pastorensohn nicht verleugneten) nicht an einem Aufsatz über das Schäferspiel fehlen, wie er sich selber in Schäferspielen (mit z.T. realistisch-parodistischen Einschlägen) versucht hat. Für Gottscheds Eintreten förderlich war weiterhin das Haltfinden bei einer verhältnismäßig weit durchgebildeten Theorie der Schäfer- und Hirtendichtung. Und die kunsttheoretischen Einzelforderungen und Wesensbestimmungen Gottscheds reichen in ihrem sachlich inhaltlichen Bestand überraschend weit an Salomon Geßner heran. Theokrit stand zudem als Muster fest; Virgil erschien zwar schon als zu geistreich und anspruchsvoll, lief aber doch als Muster zweiten Grades mit. Die Anteile Muster- und Vorbild-Poetik waren also von vornherein gemeinsam und damit viele der von ihr abgeleiteten Folgerungen und Forderungen. Die rechten „poetischen" Schäfer sollten ebenso weit abstehen von der plumpen Derbheit eines „Realismus" (gewisse realistische Teileinschläge noch bei Ad. Gottfr. Uhlich, Joh. Chr. Rost, Chr. Nik. Naumann u. a.) wie von der maskenhaften Künstlichkeit des Barock. Gottsched kannte die weiter zur Realistik hinüberweisenden Anregungen R. S t e e l e s , etwa die ländliche Rede bäuerlichmundartlich zu verstärken, lehnte sie jedoch schon aus sprach-

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reformatorischen Gründen, aber auch aus dem Geiste einer poetischen Schäferwelt ab. Ebenso verfällt Fontenelle (obgleich Gottsched mit einer Übersetzung sich versucht hatte) wegen einer Bestimmung des Schäferlichen, als des nur schäferlich gekleideten, verkleideten Geistreichen der Ablehnung. Bis in Einzelzüge lassen sich Entsprechungen zwischen Gottscheds Schäferkapitel und Geßners Idyllen-Vorrede auffinden. Indessen: während nun Gottsched einfach einen zwar nicht nur kostümierten (Fontenelle), aber doch konstruierten Idealschäfer in den Raum einer Idealzeit als bloßes Gebilde poetischer Fiktion hineinstellte (wenigstens in seiner Theorie; denn seine „Atalanta" war wegen plumper Realismen schwersten kritischen Angriffen ausgesetzt), wird Geßners Malerauge der Abschied vom Schweizer Wirklichkeitsmodell schwerer. Der Schäferdichter darf, wie G e ß n e r s V o r r e d e „An d e n L e s e r " zugesteht, in gewissem Grade „die Denkungsart und die Sitten des Landmanns" behutsam mit hineinformen. Das Taktgefühl des schaffenden Künstlers und der gute Geschmack haben bei alledem die Grenzen zu sichern sowohl nach der Seite der Naturkopie („ihr Rauhes zu benehmen wissen") als auch der Naturstilisierung („ohne den ihnen eigenen Schnitt zu verderben"). Und weiter: Gottsched milderte zwar für die Schäferdichtung die Herrschaft des „Witzes"; Geßner stößt schon weit deutlicher gegen die Umklammerung durch das Formprinzip des Witzes vor. Gottsched, der die „Atalanta" (an sich ein Fünfakter und ähnlich umfangreich wie A. G. Uhlichs „Elisie") in die Regelmäßigkeit der Einheiten zwang, war wenig geneigt, den Leitbegriff der Ordnung aufzugeben. Geßner läßt seine Schäfer „weit entfernt sein" wie vom Witz, so auch von einer „schulgerechten Ordnung". Ihm gilt eine rokokohafte, „angenehme Nachlässigkeit" als weit fruchtbarer und stilgerechter. Und während Gottscheds Verstandesstolz den rechten Schäfer „zwar einfältig, aber nicht d u m m " dargestellt wissen will, veredelt Geßner den Einfaltsbegriff, den er in mehrfachen Prägungen liebevoll aufgreift, durch die Einbettung in die „schönste Einfalt der Natur" mit einer gefühlswarmen Gewalt, die stark und eigen genug sein mochte, selbst in die Welten Rousseaus und Winckelmanns hinüberzuwirken. Soweit Gottscheds Erkennen auf Grund zusammenfassender Theorie reichen mochte, Geßner brachte auch innerhalb der theoretischen Besinnung eine wesentlich und wesenhaft andere Gesinnung mit, die ihn erleben ließ, was Gottsched und dessen

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Vorgängerschaft bestenfalls erkannten. Und dieses Erlebnis trägt und treibt ihn über die aufklärerische Grundlage, auf der er an sich fußt, hinaus und in ein echtes deutsches Rokoko hinüber. Denn wenn der junge Wieland aus dem „anakreontischen Herrn Geßner" den Dichter der Daphnisidylle werden sah und in ihm noch einen „Esprit im besten Sinne", aber auch einen „Liebling der Natur und der feinsten Grazie" erkannte und anerkannte, so wurde für das Theoretisieren und Produzieren, für das Schaffen und Fordern Geßners noch weit entscheidender und bestimmender das H i n e i n l e b e n u n d H i n e i n w e b e n des G e m ü t v o l l e n u n d des G r a z i ö s - A n m u t s v o l l e n . Im Sinne der vergleichenden Literaturgeschichte schafft sich so das Kunstwollen des deutschen dichterischen Rokoko wesenseigene Umprägungen durch den erwärmenden Kraftzustrom deutschen Gemüts. Das Glitzernde und Blendende der Grazie vertieft sich zum Holdseligen und Anmutigen; nicht überall zwar, aber gerade in den wertvolleren Verwirklichungsformen, wie nicht zum wenigsten in Geßners Idyllen. Auch dieses Holdselig-Anmutsvolle wahrt noch immer Fühlung mit den rokokohaften „Scherzen" und mit dem spielend „Gefälligen". Aber es sind „sanfte" Scherze; und man will nicht jedermann, sondern nur Menschen „von edler Denkart gefallen". Die Natur ist es, die das Gemüt freimacht von „widrigen" Stadteindrücken. Sie läßt den Dichter „ganz entzückt, ganz Empfindung über ihre Schönheit" sein und ein reines und reiches Glücksgefühl finden und schöpferisch fruchtbar in ihm werden. Das Ausgehen Geßners von Amyot ändert nichts an der Art solcher Umprägung. Wohl aber könnte auf Hallers „Alpen" mit bedingtem Recht zurückverwiesen werden. Hinsichtlich der Erfassung bestimmter Landschaften hat die Sonderforschung selbst einen Rückschlag bei Geßner gegenüber Haller angenommen. Neben dem deutschen Gemüt war es in G e l i e r t ein gewisses Hinneigen zur ländlichen Echtheit, das sich besonders in seinem „Band" (1744) durchsetzen zu wollen schien. Aber unter Zurückgreifen auf R e m o n d de St. M a r d („Réflexions sur la Poésie", 1734) und J o h . A d o l f S c h l e g e l s Abhandlung „Von dem eigentlichen Gegenstande der Schäferpoesie" (Anhang zur Batteux-Übersetzung) glaubte er in seiner späteren V o r r e d e z u m „ B a n d " (1769) diese belebende Lockerung der Spiel- und Stilregeln des Schäferspiels selbstkritisch verwerfen zu müssen. Zwar entwirft er bei dieser Gelegenheit einige Linien zur Sondergattung eines

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„theatralischen Landgedichts", die im Hinblick auf Maler Müller u. a. nicht uninteressant sind. Aber sein keckes „Band" gilt ihm als verfehltes Schäferspiel und warnendes Beispiel in grundsätzlicher Hinsicht, da es nicht ein „erdichtets Schönes", sondern zu sehr eine „Nachahmung des Landlebens" und der „Natur des Dorfes" biete. So erkämpft die zaghafte Theorie Gellerts einen unfruchtbaren Sieg über die eigene Praxis. Man wird kaum fehlgehen in der Annahme, daß Bodmers Streitschrift gegen Gottsched (besonders dessen „Atalanta") und die Gottschedianer in der Schweizer Streitschrift „ V o m N a t ü r l i c h e n in S c h ä f e r g e d i c h t e n " (1746) Geliert eingeschüchtert hatte. Griff man doch dort im Teilgefecht gegen G. B. S t r a u b e sogleich in der ersten Anmerkung die „Belustigungen" an. Und in den „Belustigungen des Verstandes und Witzes" (1744) war Gellerts „Band" erschienen. Der dort mit Bezug auf Gottsched angeprangerten Realismensünde war sich auch Geliert bewußt. Trotz ihrer satirischen Grundhaltung bietet Bodmers Streitschrift doch einiges mehr als die „Gedanken über die Verbesserung der Schäferpoesie" in den Hallischen „ B e m ü h u n g e n " (1743) und C h r i s t i a n F r i e d r i c h Z e m i t z mit den „Gedanken von der Natur und Kunst in dieser Art der Poesie", die dessen „Versuch in moralischen und Schäfergedichten" (1748) beigefügt waren. Selbst Sulzers Lexikon vermerkt Zemitz nur als Beispieldichter, nicht aber als Theoretiker. Wohl aber nimmt Sulzer zu Gellerts „Band" Stellung, und zwar in einer Weise, die geeignet gewesen wäre, Gellerts Widerruf überflüssig zu machen und ihn vielleicht ermutigt haben würde, seine Theorie vom „theatralischen Landgedicht" auszubauen. Sulzer stellt nämjich das „Band" höher als Gellerts modegerechter angelegtes Schäferspiel „Sylvia". Die betreffenden Bemerkungen finden sich in den spalten- und seitenlangen Anmerkungen zu dem Stichwortartikel „ H i r t e n g e d i c h t e " in S u l z e r s „Allgemeiner Theorie". Fast die Hälfte des darstellenden Textteils nimmt der Abdruck der „Gedanken über die Idylle" und der Wesensbestimmung des Hirtengedichts ein, Beiträge, die als Äußerungen eines „unserer berühmtesten und größten Dichter" angekündigt werden und wahrscheinlich von W i e l a n d beigesteuert sein dürften. Kunsttheoretisch bringt auch dieser Kernteil des Artikels kaum wesentlich Neues. Farbenfroh aber wird die Schäferwelt heraufgezaubert. An die liebevoll entworfene Skizze einer genetischen Wesensbestimmung schließt sich

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das Ablesen der Wertmerkmale mit Hilfe der Muster-Poetik an. Mögen Theokrits Hirten nicht überall den idealen Typus an Unschuld und Einfalt vertreten, so entschädigt für diese Unzulänglichkeit „eine Menge kleiner lebhafter Züge", die dem reinen Phantasiedichter zu entgehen pflegen. Eine Fülle von charakteristischen Merkwörtern und Stimmungswörtem bestätigt die rokokohafte Auffassung und Ausdeutung der Schäferpoesie: „liebenswürdig, sanft, lieblich, reizend, angenehm, fein, naiv, klein, anmutig" usw. Die „Einfalt", die „Unschuld", die „Heiterkeit" tauchen als Leitwörter und Stimmungsträger ebenso beständig auf. Ein schmaler Nebenpfad zum Volkstümlichen (z. B. durch die Duldung eines „unschuldigen Aberglaubens") wird zwar sichtbar, aber nicht irgendwie ausgebaut. Er hob sich bei Fr. v. Hagedorn recht eigentlich schon deutlicher ab. Und eher noch öffnen sich gewisse Z u g ä n g e z u r K l a s s i k , besonders über den „Einfalts"- und Anmutsbegriff. Das erklärt sich allerdings zum Teil auch daraus, daß diese Seite des deutschen Rokoko bereits aus der Welt Winckelmanns wesentliche Anregungen erfahren hatte. Der A n m u t s b e g r i f f , G r a z i e - oder „ R e i z " - B e g r i f f , für den sich mehr und mehr das Darstellungsmerkmal und das Ausdrucksmerkmal einer in Bewegung, Gebärde und Miene sich äußernden Schönheit durchsetzt, ist gerade auch von der tragenden Bildkunsttheorie her eingehend von der Sonderforschung gewürdigt worden. Allerdings ist dabei ein bemerkenswerter Ansatz zur Deutung der Anmut als Schönheit in Bewegung übergangen worden, der bei A n d r é F é l i b i e n „Entretiens sur les vies et sur les ouvrages des plus excellentes peintres anciens et modernes" (1666—1688) nachzuweisen ist. Félibien bestimmt die „Grâce" ausdrücklich als körperliche Begleiterscheinung einer Seelenbewegung („mouvement de 1' âme") und führt näher aus, daß man z. B. von der Schönheit (beauté) einer jungen Frau nach dem rechten Einklang der Körperteile und Glieder urteile; über ihre Anmut (grâce) jedoch erst dann zu urteilen vermöge, wenn diese Schöne spreche, lache oder irgendeine Bewegung ausführe. Anmut wird dabei zugleich als Ausdruck einer Seelenhaltung, einer seelisch-gemütsmäßigen Bewegtheit gefaßt: „ L a grâce s'engendre de l'uniformité des mouvements intérieures, causez par les affections et les sentiments de l'âme". Dieser Ansatz bei Félibien (de Piles wird in der Sonderforschung berücksichtigt) ist umso beachtenswerter, als er zu Winckelmanns Quellenschriften gehörte. Außer-

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dem wäre neben dem Ansatz in S h a f t e s b u r y s „ A d v i c e t o an a u t h e r " (übers. 1738) H e n r y B e a u m o n t „Crito or a dialogue on Beauty" (2. Aufl. 1742) stärker zu berücksichtigen gewesen. Dort wird die Anmut, die als eines der vier Wesensmerkmale der Schönheit sich abhebt, in ihren Äußerungsformen abgestuft als die „majestätische Grazie" und die „gefällige", zugängliche und vertrauliche („familar") Grazie. Das Unabwägbare mancher Attribute der Anmut, die kleinen Zufälligkeiten (incidents) empfindet Beaumont. Die vornehme Bewegung (genteel motion) fördert die Anmut, ohne sich jedoch mit ihr zu decken. H u t c h e s o n s „Inquiri" (1720) dürfte trotz Einwirkung Shaftesburys weit weniger für die Anmutsvorstellung in Betracht kommen als Beaumont oder F&ibien. Dagegen ist in diesem Zusammenhange H o g a r t h s „ A n a l y s i s of b e a u t y " (1753) mit der Lehre von der welligen Linie der Schönheit zu berücksichtigen. Denn Hogarth unterscheidet die wellenförmige Linie der Schönheit von der gleichsam spiralenartig gebogenen und gewundenen Linie des Reizes. Der R e i z b e g r i f f aber spielt bald allgemein in den Anmutsbegriff hinüber. In der Übersetzung (durch Mylius) „Zergliederung der Schönheit" (bereits 1753) fällt der Terminus „Reitz", den dann M e n d e l s s o h n (Briefe über die Empfindungen, 11. Brief) und mit klarerer Bestimmtheit L e s s i n g (Laokoon) aufnehmen. Lessing erklärt: „Reiz ist Schönheit in Bewegung und eben darum dem Maler weniger bequem als dem Dichter". Er überträgt die ReizVorstellung nicht ohne Kühnheit von der Bildkunsttheorie (Hogarth-Mylius) auf die Wortkunsttheorie und hebt darüber hinaus die günstigeren Bedingungen für die Wuchsformen und Wirkungsweisen des Reizes innerhalb der Darstellungswelt der Poesie ausdrücklich hervor. Diese Zuweisung wirkt unverkennbar in der K u n s t t h e o r i e R i e d e l s nach und war geeignet, das dichterische Kunstwollen des Rokoko, dem Lessings Kunstschaffen ebenfalls noch in der Reifezeit mehrfach sich annähert, wesentlich zu stützen, eine Begleiterscheinung, aber gewiß nicht das eigentliche Ziel des „Laokoon". R i e d e l und S u l z e r sprechen sowohl von Reiz als auch von Grazie wie von Synonymen. Die Bezeichnung „ G r a z i e " nimmt gegenüber dem Reiz von vornherein ein von den Grazien der Antike her bestimmtes Attribut in sich auf, das eine spezifisch kunst g e s c h i e h t Ii che Beziehung herantrug an den kunst t h e o r e t i s c h e n Begriff. Auf die Dauer überwog der stimmungsmäßig gesättigtere, aber kunsttheoretisch

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unklare Begriff Grazie den an sich kunsthistorisch unbelasteten und daher kunsttheoretisch verhältnismäßig klarer gefaßten {Mendelssohn-Lessing) Reizbegriff. Und vor allem war es W i n c k e l m a n n s gewichtige Stimme, die zugunsten der Bezeichnung Grazie entschied in der Abhandlung „ V o n der G r a z i e in den W e r k e n der K u n s t " . Entwicklungsgeschichtlich bemerkenswert ist das innerlich spürbare und teils doch auch äußerlich ablesbare Hindrängen zum Kunstwollen der Klassik, das als noch verhaltene Kraft doch ein Eigenes hineinträgt und keimkräftig hineintreibt in den äußerlich noch ganz rokokohaften Bezirk. Die Abhebung von V o l t a i r e s Encyklopädie-Artikel „Grâce" (1757), der das Ernsthafte im Raum des Graziösen schlechtweg verwarf (Le sérieux n'est jamais gracieux), verdeutlicht weiterhin den Eindeutschungsvorgang bei Winckelmann, der das „vernünftig Gefällige" noch recht aufklärungsnah herausarbeitet und damit zugleich die Bedeutung des Wertwortes „gefällig" bestätigt. Neben Shaftesbury dürfte Winckelmann beigetragen haben zur verstärkten Beseelung und Vertiefung des Grazie-Begriffs, wie sie z. B. bei W a t e l e t in den veränderten Fassungen und Auffassungen („Gräce"-Artikel i. d. Encyclopädie 1757 und Lehrgedicht „L'art de peindre", 1760) abzulesen sind, wurde doch die Grazie-Abhandlung Winckelmanns sogleich ins Französische übersetzt. Gegenüber Winckelmann wird bei C h r i s t i a n L u d w i g v o n H a g e d o r n , dem Bruder des Dichters, „ V o n dem R e i z e o d e r •der G r a z i e i n s b e s o n d e r e " im Rahmen seiner einflußreichen „ B e t r a c h t u n g e n ü b e r die M a l e r e i " (1762) in einer merklich abflachenden Weise gehandelt, und zwar tritt zugleich eine Erweichung durch Wendung zum „Rührenden" hin ein. Man fühlt sich bereits ein wenig auf J. G. Jacobis „sittliche Grazie" im voraus hingelenkt. In der Ausbildung der Termini rückt Chr. L. v. Hagedorn die „Anmut" näher an die „Grazie" und den „Reiz" heran, wobei Reiz bestimmt wird als eine „der Schönheit zustimmende Bewegung", jedoch so, daß vor allem der Ausdruck des Rührenden, das bei L. v. Hagedorn geradezu als die „Seele der Kunst" erscheint, in jener Bewegung zur Wirkung komme. Nur recht bedingt und nur, weil Gemütswerte stärker zur Geltung kommen, wird man dabei notfalls von einer deutschen Umprägung .sprechen können. Doch werden hier auch die Gefahrenzonen des Gefühlsseligen spürbar. In demselben Jahre wie die „Betrachtungen" L. v. Hagedorns kam eine deutsche Übersetzung von 18 M a r k w a r d t , Poetik II

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A n t o n R a p h a e l M e n g s „ G e d a n k e n ü b e r die S c h ö n h e i t u n d den G e s c h m a c k in der M a l e r e i " (1762) heraus, der ebenfalls der „Grazie" seine Aufmerksamkeit zuwendet und ihr einen Sonderabschnitt in seinem Werke eingeräumt hatte. Selbst eine derartige knappe Musterung läßt ohne weiteres eine A n n ä h e r u n g des d i c h t e r i s c h e n K u n s t w o l l e n s an d i e B i l d k u n s t t h e o r i e zutagetreten. Diese streckenweise recht merkliche A n l e h n u n g der R o k o k o - P o e t i k an die T h e o r i e d e r b i l d e n d e n K ü n s t e gewinnt noch an Bedeutung, wenn man vorwärts blickt auf eine ähnliche, wenn auch weit kraftvoller ausgeprägte Erscheinung innerhalb der deutschen Klassik, besonders der Goetheschen Klassik. Darin hebt sich jedoch zugleich das Kunstwollen des dichterischen Rokoko von der Aufklärungspoetik und auch der frühen Ästhetik ab, die trotz der Schweizer (Einschläge des Malenden) und selbst noch bei den Schweizern die Verbindung Dichtkunst-Redekunst aufrecht erhielten, also Anlehnung an die Rhetorik bevorzugten. Im Grunde aber nahm die Poetik des Rokoko mit dem Anmutsbegriff (Reiz und Grazie) doch nur ein Element w i e d e r z u r ü c k , das als Ausdruck geistig-seelischer Bewegung recht eigentlich dem Heimat- und Wirkungsbereich des Wortkünstlerischen (neben der Tanzkunst) am eigentümlichsten zugeordnet und von den bildenden Künsten gleichsam nur als Lehen verwaltet worden war. Das fühlte L e s s i n g s kritisch klarer Sinn, als er entgegen dem zeitüblichen Anspruch der bildenden Kunst den Reizbegriff für die Dichtung, und zwar als gerade für die Dichtung besonders auswertbar reklamierte. Und R i e d e l verstärkte die Gewöhnung an das Übertragen des bildkünstlerischen Begriffes auf den wortkünstlerischen Begriff. Bei alledem darf der „Scherz"-Begriff neben dem Anmuts-Begriff nicht übersehen werden als spezifisch geistig-dichterische Wirkungsform jenseits des Bildkünstlerischen. Bei Fr. J u s t u s R i e d e l verbindet sich das Anlehnungsbedürfnis an die Bildkunsttheorie mit dem Bedürfnis nach einer eigenen Bestimmung der rokokohaften Graziendichtung, also nach einer W o r t k u n s t t h e o r i e d e s R o k o k o . Dabei wird Lessings Zurückfordern des Bewegungsbegriffs für die Poesie merklich ausgewertet; daneben jedoch das Moment der Gesinnung erst zur vollen Geltung gebracht. Sieht man in J. Riedels „ T h e o r i e der s c h ö n e n K ü n s t e und W i s s e n s c h a f t e n " (1767, 1774) ab von den im weiteren Umkreis angrenzenden Erörterungen „Über die-

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Laune" beziehungsweise „Vom Lächerlichen und Belachenswerten" (Ringen um ein Ersetzen des Scherzbegriffes durch den nur langsam eingebürgerten und erfaßten Begriff des „Humors"), so bleiben für die Rokoko-Poetik vor allem die Ausführungen über „ N a t u r , S i m p l i z i t ä t u n d N a i v e t e " sowie das Kernkapitel „ U b e r die Grazie". Bereits im ersten Abschnitt ordnet Riedel die Anakreontik kunsttheoretisch dem Leitbegriff der Naivität zu: „Kleine zärtliche Empfindungen von Wein und Liebe werden oft vorzüglicher Weise naiv genannt, und diese können wohl eine besondere Klasse des Naiven ausmachen". Es schwebt ihm hierbei über die Anakreontik im engeren Sinne hinaus schon so etwas vor wie ein Gesamtbezirk rokokohafter Dichtung. Denn neben Anakreon, Gleim und Gerstenberg (mit den auch von Lessing gewürdigten „Tändeleien") werden Rost und Wieland als Träger der Schäferdichtung wie auch die Sonderform der „komischen Erzählungen" einbezogen. Über die rokokohaft aufgelockerte Definition der Naivität ist es nicht weit zum Klärungsversuch des Grazie-Begriffes im Grazie-Kapitel, obgleich die Anlageart der Riedeischen „Theorie" eine Fülle von andersartigen Kapiteln dazwischen eingelagert hat. Gehören doch auch im Grazie-Kapitel nicht zum wenigsten „Naivete und Schalkhaftigkeit" zu jenenMerkmalen, die der Grazie einen „neuen Reiz" zu geben vermögen. Die Grazie verliert dabei nicht ihre Höhenstellung, wie schon die Beimischung einer „inneren Heiterkeit des Geistes" andeutet. Die Göttin Freude nähert sich im Raum des Rokoko nicht selten der GrazieVorstellung, nimmt ihr teils das nur anakreontisch Tändelnde und spielerisch Kühle und läßt ihr Wärme und Würde zuströmen. Nach einigen Ableitungen gelangt Riedel zu dem allgemeinen Ertrag: „Sanfte Schönheit, nach dem durch besondere Züge mehr bestimmten und abgeänderten Ideal der höchsten Schönheit, womöglich mit Reiz verbunden, ist Grazie". Auf die kunstphilosophische Unzulänglichkeit dieser Definition kann ebensowenig eingegangen werden wie auf mancherlei Widersprüche, die Riedels kompilatorische Art notwendig mit sich führt. Offenbar wird hier „Reiz" nicht sowohl im strengen Sinne der damaligen Kunsttheorie als vielmehr stimmungsmäßig gebraucht. Und sogleich benutzt Riedel denn auch die Gelegenheit, um durch ein „reizend, mit Anstand reizend" die ganze Stilstimmung vom modisch rokokohaften Stimmungswort aus entsprechend zu untermalen. Überwiegend zeige sich die Grazie „an Körpern" und also als Gegen18*

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stand der bildenden Kunst. Aber dennoch bestehen Sonderausprägungen für die Dichtkunst: „ F ü r den D i c h t e r gibt es eine andere, deren jener (der bildende Künstler) beinahe gänzlich entsagen muß: die Grazie in G e s i n n u n g u n d H a n d l u n g e n " . Die Einzelmerkmale dieser poetischen Spielart der Grazie sind: Bewegungen ohne Heftigkeit, daneben Simplizität, Naivität und Anstand. Unschwer ist zu erkennen, wie Lessings Handlungsbegriff nachwirkt. Neben Lessing und L. v. Hagedorn steht Winckelmann hinter diesem Grazie-Kapitel Riedels, der selbst am Kapitelschluß auf Winckelmann und Chr. L. v. Hagedorn für die weitere Beschäftigung mit diesen Fragen verweist. In dem Abschnitt „Uber den Ausdruck und das Mechanische", der noch einmal den Grazie-Begriff von der Seite der Stilgebung her berührt, fällt die weitgehende Gleichsetzung der Grazie mit der Schönheit auf. Außerdem wird dort die „Simplizität", die sonst der Grazie zugeordnet aufzutreten pflegte, dem „erhabenen Stil" vorbehalten. Obgleich erst der (dann nicht mehr erschienene) zweite Teil der „Theorie" diese Dinge eingehender erörtern sollte, unternimmt doch schon dieser Abschnitt einen kurzen Anlauf, den durch J o h . Adolf Schlegel eingeführten Ausdrucks-Begriff für die Stilistik und die Zeichenlehre auszuwerten. Der allgemeine „Ausdruck" wird von der „Beschaffenheit des Ausdrucks" im Besonderen (dem „Stil") unterschieden, während „Manier" die Eigenart der Gestaltungsweise in Abhebung von anderen Gestaltungsweisen bezeichnet: Bemerkungen, die im Hinblicken auf Goethes Stil-Aufsatz beiläufig mitgenommen werden mögen, ohne irgendwelche Beziehungen erzwingen zu wollen. Auch das Rhythmische wird gestreift. Doch verdient neben den „Ausdrucks"-Kriterien: Manier, Stil, Kongruenz (Entsprechung von Inhalt und Formung) besonders die „Rotundität", wohl auch als „Rundung" übersetzt, am ehesten noch Beachtung. Denn es steckt etwas vom Gefühl für das Organische in diesem Kunstwort, das auch jenseits Riedels besonders im kunsttheoretischen und im kritisch wertenden Schrifttum der Zeit mehrfach begegnet. Durch „ R o t u n d i t ä t , R u n d u n g , R ü n d u n g " wird umgriffen, was organisch zusammengehört und vom Aufnehmenden auch so empfunden wird. Neben „Simplizität", „Einfalt" u. a. bezeichnet die Rotundität darüber hinaus eines der E l e m e n t e , die zum K u n s t w o l l e n u n d zur G e s t a l t u n g s w e l t der K l a s s i k h i n ü b e r w e i s e n . Ein gemeinsamer Trag-

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grund mag im letztlich Bildkünstlerischen gesehen und gesucht werden, wobei Rundung etwa auf das Plastische verweisen würde. Zugleich spielt die Vollkommenheitsvorstellung mit hinein. Vielleicht darf man überhaupt sagen, daß Riedel dank der Einwirkung Winckelmanns in manchem Betracht etwa dort steht (bes. im Grazie-Kapitel), wo im Kunstwollen des Rokoko v o r b e r e i t e n d e K r ä f t e der K l a s s i k am Werke sind und fühlbar werden. Die Gegenstöße aus dem Räume des Sturmes und Dranges stoßen an dieser Teilposition Riedels notwendig vorbei, so berechtigt sie auch den bloßen ,,Geschmäckler'* treffen möchten. W i n c k e l m a n n gibt bei alledem jenem Vorspiel rokokohafter Art Teilwerte jener Anregungen gleichsam nur zurück, die er selbst in einer Durchgangsstrecke seiner Entwicklung vom Rokoko empfangen hatte. Aber er hatte das Seine hinzugetan, nicht nur zum Werden einer deutschen Rokokohaltung überhaupt, z. B. in der Abhandlung „Von der Grazie in den Werken der Kunst" (1759), sondern er hatte seine Beseelung und Vertiefung hineingetragen und so die Entwicklung auch nach dieser Seite vorwärtsgetrieben. Wenn man von Riedel hört, daß bei der Grazie durch den „Duft der Schönheit" dennoch „Züge der Erhabenheit und der Majestät" hindurchschimmern, dann hat W i n c k e l m a n n das Wort auch an Stellen, wo er nicht ausdrücklich zitiert wird. Bezug nimmt Riedel natürlich besonders auf das v i e r t e K a p i t e l des ersten Teils der „ G e s c h i c h t e der K u n s t des A l t e r t u m s " (1764), wo Winckelmann in einem Abschnitt „ s o n d e r l i c h die G r a t i e " behandelt. Und was frühzeitig als höchstes Vermögen des „Scherzes", dann der „Freude" begegnete als Merkzeichen der seelischen Spannweite der Rokokogeistigkeit: die edle und schöne Haltung selbst angesichts des Todes, es wird von Riedel, gestützt auf Winckelmann, in Anspruch genommen, um den Höhenwert der Grazie festzulegen und zu sichern. Offenbar trifft man auch darin auf gewisse A n s a t z s t e l l e n f ü r die K l a s s i k . Selbst das Ideal der „Stille" begegnet als Gelassenheit, wie bereits das prachtvolle und machtvolle Bild Winckelmanns von der in sich ruhenden Tiefe des Meeres trotz bewegter Oberfläche herangezogen wird, um (etwas überraschend) die — Grazie zu erklären. Von hier aus liegt der Weg zu Schillers „Uber Anmut und Würde" schon in fernen Umrissen vorgezeichnet. Aber die Rokokogeistigkeit vermochte letztlich schon diese Werte Winckelmannscher Prägung und Begnadung nicht mehr

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wirklich organisch zu verarbeiten; Riedel ebensowenig wie Wieland. Was dem Rokoko entgegenkam in Winckelmanns Darlegungen über die „Gratie", war die Hervorhebung, daß die Grazie in den Gebärden wohne und sich in Handlung und Bewegung offenbare, daß sie gegenüber dem strengen „hohen Stil" eine belebtere Mannigfaltigkeit zu fördern im Stande sei im Rahmen des „schönen Stils" (der noch nicht „hoher Stil" ist), daß sie vom abstrakten Ideal um ein paar Schritte (nicht ganz unähnlich der Stufung von „galanter" und „hoher" Poesie, s. Bd. I), die Gesetzesstrenge lockernd, näher zur Natur hinführe, daß sie „gefälliger und liebenswürdiger" erscheine, daß die hohe Schönheit sich mit einem sinnlicheren Reiz schmücke (daher wohl die Begriffsverquickung bei Riedel), daß in Gestalt der Grazie „die G r o ß h e i t d u r c h eine zuvorkommende Gefälligkeit gleichsam geselliger" (vgl. schon Friedr. von Hagedorn) abgewandelt werde, daß die Seele „niemals mit Ungestüm" hervortrete, daß die Grazie mit einer „zärtlichen Empfindung begäbet" wäre: alles das waren Züge der Winckelmannschen Deutung, die sich recht gut in das Kunstwollen des dichterischen Rokoko herübernehmen ließen. Das heißt in jene Wendungen, die Winckelmann teils selbst seiner zeitweisen Annäherung an das Rokoko verdankte und die er letzten Endes dessen kunsttheoretischem Wortschatz entliehen hatte. Aber der Reichtum, den er zurückgab, den konnte nur die Klassik, nicht das Rokoko würdig und fruchtbar verwalten. Auch dann nicht, wenn die dem Rokoko nahestehende Kunsttheorie bei Riedel, Wieland und anderen gewisse Ansätze und Anläufe zu einer Einverleibung dieser Kraftströme unternehmen mochte. So unverkennbar W i e l a n d s Dichtung „Die Grazien" (1769), wie späterhin seine Abhandlung „Über die Ideale griechischer Künstler" (1777) die inzwischen gewonnenen Erträge der Kunstanschauung Winckelmanns voraussetzten, so wenig wesensgemäß vermochten sie diese Gewinne auszuwerten, weil der Scharfgeistigkeit und Schöngeistigkeit Wielands die gläubige Begeisterung und die andächtige Versunkenheit Winckelmanns fehlten. Jene gläubige Begeisterungsfähigkeit Winckelmanns, der manches mitgeschleppte kunsttheoretische Fachwort der Aufklärung, das unverkennbar bei dem Theoretiker Winckelmann anzutreffen ist, keinen ernstlichen Abbruch zu tun vermochte, und sein geniales Einfühlungsvermögen in die erhabene Größe griechischer Kunstwelt und griechischer Kunstwerte lassen ihn bald mühelos den die klare

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Sicht brechenden und behindernden Schleier des französischen Rokoko durchdringen, von dem Wielands Freude am graziösen Spiel sich allzu gern blenden läßt. Um Winckelmann folgen zu können, genügte nicht jene rokokohafte Schöngeistigkeit, die etwa bei Riedel, aber in gewissem Grade doch selbst bei Wieland mehr oder minder wirksam war und gelegentlich nur recht mühsam die aufklärerische Grundschicht verdeckte. Die weltanschauliche Verklammerung des Rokoko mit der Aufklärung wirft die einzelnen Träger der Rokokogeistigkeit immer wieder zurück auf den inneren Zwiespalt von Verstand und Gefühl. Und diese innere Gebrochenheit wurde von den Stürmern und Drängern ganz richtig empfunden, obgleich in ihren Ursachen nicht überall richtig und ausreichend erfaßt. Dieses vielfach recht unorganische Hineinverarbeiten eines schöngeistigen Enthusiasmus in eine im letzten Grunde rationalistische Grundhaltung begegnet unter den Schaffenden vor allem bei C h r i s t o p h M a r t i n W i e l a n d , und zwar nicht nur in Wielands Formel vom „Gleichgewicht zwischen Enthusiasmus und Kaltsinnigkeit", die der Dichter der „ M u s a r i o n " seiner Widmung (an Weiße) der zweiten Auflage mitgab als Zielprägung einer schöngeistigen und — wie er gern glauben oder doch glaubhaft machen möchte — schönseelischen Bildung und Erziehung. Die starke Spannung von Witz und Empfindung, die nach entspannendem Ausgleich in Wielands eigenem Wesen und Werk — letztlich vergeblich — rang, findet in jenem Ertrag theoretischer Besinnung nur ihr zugeordnetes Widerspiel. Und mehr: Wieland durchlebt jenen Z w i e s p a l t von „ W i t z " u n d „ E m p f i n d u n g " gleichsam als Erbe der Geschmacksepoche, in der er zuletzt doch befangen blieb, trotz zäher Befreiungsversuche, zu denen ihn vor allem Shaftesbury, aber zeitweise auch Winckelmann ermutigten. Er geriet zwischen Kaltsinnigkeit der Aufklärung und Enthusiasmus der Geniezeit, zwischen die „Alten" und die „Jungen", ohne sich klar entscheiden zu können. Und so nahm er streckenweise Fühlung auf mit den Halb-Jungen des Klotzisch-Riedelschen Kreises, vor allem mit Riedel, dem altklugen, frühreifen Jungen. Wieland als Gesamtpersönlichkeit steht dem Riedeischen ästhetischen Relativismus gar nicht einmal so fern oder doch jener Gefahr des ästhetischen Relativismus, die in Riedels „Schön ist, was gefällt" lag oder doch liegen konnte. Und der Relativismus, wie er z. B. in Riedels „Briefen über das Publikum" anklang,

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wirft als Erinnerung zugleich an die Gemeinschaft mit Riedel in der Erfurter Zeit nicht so ganz zufällig einen Reflex in Wielands „Goldenen Spiegel". Weil aber Wieland bei aller Leichtigkeit nicht die Leichtfertigkeit Riedels aufbrachte, weil er sich selbst und seinem oft allzu unbekümmert sinnlichen Ausschwingen und Ausschweifen im Phantasiereich, teils unwillkürlich, teils bewußt Schranken und Widerstände vom Moralästhetischen her zu setzen immer wieder sich bemühte, eben deshalb gelingt ihm gerade als Theoretiker nicht ein Freikommen von der Vollkommenheitsästhetik Wolff-Baumgartenscher Prägung, wie es Riedel mehr im Übermut als im Mut zum Irren wenigstens in einigen kecken Vorstößen gelang. Wieland brauchte das Gegengewicht, unter dessen Druck er weiter, als es seiner Begabung entsprochen hätte, zurückgedrängt wurde auf die Position eines Auflockerers, der nicht zum Bahnbrecher die Kraft fand. Die Auflockerungskräfte aber brachte er im Grunde aus seinem eigenen Wesen mit. Denn so stark auch die Ermutigung gewesen sein mag, die fraglos von Shaftesburys Richtungsweisung ausging, sie half doch nur das ihm Wesenseigene, in ihm Vorgeformte oder Bereitliegende beschleunigter entfalten. Sie wirkte ein auf Wielands Ästhetik, bewirkte sie aber nicht. Und das eben umschrieb Goethes Gedenkrede, wenn sie Shaftesbury im Verhältnis zu Wieland als „einen wahrhaften älteren Zwillingsbruder im Geiste" kennzeichnete. Die am weitesten vorgeschobene Stellung, die der Auflockerer Wieland erreichte, war seine s t i l t h e o r e t i s c h e und teils noch seine m u s i k ä s t h e t i s c h e Position. Und diese beste Position hatte er nicht mit Shaftesburys Hilfe zu erobern brauchen. In sie trieb ihn eigenes Können, aber auch eigenes künstlerisch verantwortungsbewußtes Formwollen vorwärts. Darin liegt auch im Theoretisieren und Produzieren sein wertvollster Beitrag zur deutschen Kulturleistung. Ein Beitrag, den er erst in langer Reifung — und nicht ohne in jüngeren Jahren von Lessings kritischer Mahnung (Abwehr der französierenden Sprachhaltung) wachgcrüttelt zu werden — gewinnen konnte, um ihn, soweit er programmatisch-wortkunsttheoretische Fassung annahm, vor allem darbieten zu können in seinen „ B r i e f e n an e i n e n j u n g e n D i c h t e r " (Merkur III, 1782), die unvermutet zu Briefen an den jungen Schiller, ja noch an Heinrich von Kleist geworden sind. In diesen „Briefen", besonders im ersten Briefe, prägte sich das

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eigene Erfahren an eigener Wortpflege um in ein wertvolles Erkennen und ermunterndes Erweisen der würdig-hochwertigen Verssprache, die gerade dem klanglich spröderen deutschen Wort abzugewinnen, für einen jungen Dichter besonders reizvoll und doch zugleich besonders verantwortungsreich sein müsse. Für die saubere und doch nicht pedantische, sondern von der Liebe zum Dichterwort belebte D u r c h a r b e i t u n g der G e s t a l t u n g bis in unscheinbarste Feinheiten und Zartheiten der Abstufungen hinein hat Wieland nicht nur in diesen offenen „Briefen", sondern auch in seinen Privatbriefen manchen klugen und fruchtbaren Hinweis, manche anspornende Ermahnung gegeben. Was er in Sachen der würdig verwalteten deutschen Dichtersprache sagt, wiegt um so schwerer, als dahinter eine ehrliche Uberzeugung und — in diesem Falle — auch ein ungebrochenes, klares Meinen und Wollen steht. Und dieses gestaltungsmäßige Erarbeiten befähigt ihn zugleich zu einem weitgehenden Verstehen andersgearteter Darstellungsformen, wie die Klopstocks oder selbst der Stürmer und Dränger (so etwa Maler Müllers), denen er am ehesten noch von dieser Seite her verstehend folgen und nachfühlen konnte. Ja, sein letztlich von Rokokogeist bestimmtes Stilideal der „feinsten Politur" und „Grazie" brachte in der Skizze über „Einige L e b e n s u m s t ä n d e Hans Sachsens" dennoch einen gewissen Grad an Verständnis auf für die Kraft und Wärme, die in dieser unpolierten Rohform wirksam war und deren Wert und Eigenart Wieland mit der oft nachgesprochenen Prägung von Hans Sachs' „holzschnittmäßiger Dürerischer Manier" zu treffen versuchte, wobei das Wort „Manier", das Wieland auch sonst für Stil einsetzt, keinen abfälligen Nebenton trägt, sondern etwa im Sinne Riedels gebraucht wurde. Bei alledem muß man sich bewußt bleiben, daß auch die Zentralstellung des Stilideals Wielands in der rokokohaften anmutigen Leichtigkeit der Wirkungsform zu suchen ist. Und damit wird recht eigentlich zugleich die Kernstellung seiner gesamten Kunstanschauung freigelegt, in ihrem formbewahrenden und formmehrenden Wert, aber auch in ihrer formalen Einseitigkeit und ihrer Anlehnung an romanische Vorbilder. Jene „Grazie der höchsten Leichtigkeit" des Rokoko war ein Wirkungsziel für den ästhetischen Eindruck des Kunstwerks, kein Schaffensgesetz. Für das Werden des Werkes wird „feinste Politur", saubere kunstgewerbliche Mühewaltung gefordert, auch

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für das größte „Talent". Der Zugang zu einem klaren Erkennen und Anerkennen des Spontan-Schöpferischen bleibt dem Kunsttheoretiker Wieland letztlich unzugänglich, weil er der Genievorstellung und dem Genieerleben nicht willig sich öffnet, sondern in einem überwiegend rokokohaft bestimmten Geschmacksideal sein Genüge findet. Was Lessing d u r c h die K r i t i k zu e r r e i c h e n h o f f t e , will W i e l a n d d u r c h den G e s c h m a c k gewinnen. Aber wie Lessings Primat der Kritik ihn nur dem schöpferischen Genie sich nähern läßt, so erreicht auch Wielands Geschmackspflege nicht völlig die schöpferische Reinheit eines tiefergreifenden Dichtertums. Der S c h a r f g e i s t L e s s i n g u n d der S c h ö n g e i s t W i e l a n d e r g ä n z e n sich i n d e s s e n g l ü c k l i c h bei der vorbereitenden Gesamtleistung im Räume der Vorklassik. Lessing leistet das Letzte, was die Aufklärung hergeben konnte; Wieland das Letzte, was dem Rokoko abzugewinnen war. Aber wo er über die rokokohafte Eigenwelt empordrängen möchte, verliert er merklich an Kraft und Sicherheit, teils auch an Echtheit und Eigenheit. Seine moralästhetische Forderung aber, auf die sein Theoretisieren endlich immer wieder hinausläuft, verliert an Kraft, weil ihm eine Verwirklichung dieses Kunstwollens im Werk nicht gelingen will, wie Lessings Erkennen der Mustergültigkeit Shakespeares (und der Antike) im eigenen Werkschaffen (Fragmente!) nicht gelingen will. Hinzu tritt die Überschneidung von Theoretisieren und Produzieren hinsichtlich der Anregungswellen. Denn während Wielands Graziendichtung in ihren wirksamsten Bewährungen merklich der französischen Richtung folgt, möchte seine Kunsttheorie (bei manchem französischen Teileinschlag) doch mehr der stärker moralästhetisch eingestellten englischen Richtung in Deutschland die Bahn brechen. Auch darin stellt er ein Gegenstück zu Lessing (als Dramentheoretiker und als Dramatiker). Wieland, dessen Dichtung frühzeitig die Anmutsvorstellung einbezieht, will nicht die Grazie definieren wie Riedel; aber indem er sie dichterisch umschreibt, gelangt er doch zu ähnlichen Wesensmerkmalen. Die von der Antike her, also kunsthistorisch, nicht kunsttheoretisch gekennzeichneten Graziengestalten vereinen „alles, was naive Unschuld, gefällige Güte und frohe Heiterkeit Göttliches hat". Das Naive, Gefällige, Heitere waren kunsttheoretisch entscheidende Kriterien rokokohafter Anmut. Es darf nicht übersehen werden, daß der junge Wieland der Schweizer

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moralisierenden Epoche bereits um 1752 die Poesie als „reizende Lehrerin" in der „gefälligsten Tracht", wenn auch noch als betonte Weisheitsvermittlerin erläutert hatte, so kämpferisch er damals noch von der Anakreontik abrücken mochte. Während jedoch die schulmäßige „ T h e o r i e der R e d - u n d D i c h t k u n s t " des Züricher Privatlehrers von 1757, obgleich die Lehre von der Wirkung auf die „unteren Seelenkräfte" als ein „Ergötzen" schon bekannt ist, die Bildung tugendhafter Gesinnung und Förderung von „nützlichen und praktischen Wahrheiten" als den „vornehmsten Endzweck der Poesie" jenem Ergötzen werthaft überordnet, bringt schon ein Jahrzehnt später in der Biberacher Epoche die Dichtung „ I d r i s u n d Z e n i d e " (1766—67) eine völlige Umstellung im Rangverhältnis von „Bessern" und „Ergötzen". Denn jetzt steht durchaus schon im Geiste des Rokoko das „Ergötzen" als die „erste Pflicht" der Musen voran, die „spielend" den „besten Unterricht" zu erteilen vermögen. Und dem „Mus a r i o n " (1768) kann Wieland mit bedeutsamer Hervorhebung den zweiten Titel mitgeben „ o d e r die P h i l o s o p h i e der G r a z i e n " , um dann auch in grundsätzlichen Erörterungen diese Kunstphilosophie der Grazien, die zugleich in Shaftesburys Sinne lebenskundig übertragen wurde (Ideal der Lebenshaltung) in den „Grazien" (1769) weiter auszubauen in der Richtung seines rokokogerechten „ L e i c h t i g k e i t s " - I d e a l s . Und während der Wieland der Schweizer Epoche zwar ahnungsvoll „ V o n der W ü r d e u n d B e s t i m m u n g eines s c h ö n e n G e i s t e s " (1752) gehandelt, aber so gehandelt hatte, daß alles auf „Triebe zur himmlischen Tugend" und „weise Gedanken" hinauslief, — obgleich er schon damals Shaftesbury kannte — hat jetzt der Schöngeist des Rokoko seine wirkliche Bestimmung gefunden. Und die Leitbegriffe des „Reizes", der gelöst spielenden „Anmut", der zwangfreien Beschwingtheit sind es nicht allein, die das Kunstwollen des dichterischen Rokoko hier volle Gewalt und gleichsam klassische Gestalt finden lassen. Die gesamte Graziendichtung wird lebendig, für die hier Wieland als Berufener ein gut Stück Programm schreibt. Virtuose Schöngeistigkeit stürzt die bloße Kunstfertigkeit mancher der Anakreontiker: „denn die Grazien hassen ein mühsames, nach der Lampe riechendes Werk". Der wesentliche Ertrag des „Gedichts in sechs Büchern", wie Wieland die „ G r a z i e n " nennt, jener dialogisch gelockerten Plauderei über Dichtkunst und Mythologie, ergibt sich aus der

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Wendung, die Winckelmann angegeben hat, die aber letzten Endes auf die Zeitphilosophie und Ästhetik zurückgeht. Das fünfte Buch, vom Pygmalion-Symbol ausgehend, an Petrarca (diesem „Piaton der Dichter") Stützung suchend (Lauralieder), bemüht sich, die seelische Schönheit als „eigentümlichen" und „hohen Reiz" zu umschreiben, der mehr durch ein unmittelbares, i n n e r e s A n s c h a u e n als durch Sinneswahrnehmung erfaßt werden kann. Auf den Einwand der Dialogpartnerin Danae, die ein „solches Anschauungsvermögen" anzweifelt, um so mehr, als im Aufnahmevorgang des Kunstgenießenden diese innere, geistige Schau (die indessen analogon rationis bleibt) nicht überprüfbar sei in ihrem Geltungswert, auf diesen Einwand hin, wird doch die Möglichkeit von Augenblicken gesteigerter Stimmung festgehalten, wo „ich diese hohe unkörperliche Grazie wirklich zu empfinden glaube". Zwar diese Empfindung ist unendlich „fein" und „geistig"; dennoch bleibt die „Gewißheit meiner Empfindung" bestehen. Die Grazien sind das rokokohaft abgewandelte Symbol und die Mittlerinnen dieser geistigen Schönheit für „sterbliche Augen". Von ganz anderer Seite her erinnert doch dieses „fein" und „geistig" irgendwie an den „feinen" und geistig „flüchtigen" Gedanken, den Lessings Philotas einfangen möchte; das Rationalistische bleibt spürbar herrschend. Schnell huscht Wieland über derartige tiefer greifende Gedanken hinweg. Jedoch: eine leichte, im elegant spielenden „Scherz" halb verdeckte und erstickte Sehnsucht nach dem kontemplativen und verinnerlichten Anschauen der von Begehrenskräften erlösten Schönheit, der „schönen Seele" der klassischen Kunst der Alten meldet sich an. Und wenn man bei dem Wieland des „Teutschen Merkur" dem sehnsüchtigen Blick nach der großangelegten Seele begegnet im Ausschauhalten von der Position „ W a s i s t e i n e s c h ö n e S e e l e ? " (1774), wenn dort (im Anschluß an eine der dem Xenophanes nacherzählten Episoden) der Hinweis begegnet: „Dieser Mann, meine Freunde, hatte, was ich eine s c h ö n e und zugleich eine g r o ß e Seele nenne", so ist damit wohl der steilste Auftrieb der „schönen Seele" innerhalb der Kunstanschauung Wielands angedeutet. Doch jene Beispiele für den sittlichen Adel des Heldisch-Schönen, das dem rationalistisch erdachten Heroismus von Lessings „Philotas" nahesteht, werden nur mit wenigen, kargen Bemerkungen umrahmt, so daß Wieland bei jener Andeutung einer Synthese aus dem Dynamisch-Aktiven und dem

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Statisch-Kontemplativen, als Schön-Sein schlechtweg stehen bleibt. Dort wäre sonst vielleicht die Gipfelstelle jenes Weges anzusetzen, der über die lange schon unter Shaftesburys Einwirkung stehende Wandlung vom moralpädagogischen (Frühzeit) zum moralästhetischen Prinzip und auch über den „Agathon" und die „Grazien" weiter vorwärts weist. An jener Stelle aber versagte sich wohl die begrenzte Individualität seiner Eigenart der ausweitenden Erkenntnis. Und die im „Teutschen Merkur" spürbare Anpassung an das Größenideal des Sturmes und Dranges konnte für Wieland nicht zum Erlebnis werden. Jene letzte Folgerung zur Erhabenheit war Wieland nicht gemäß und wurde letztlich aus dem Persönlichkeitswert im Willensidealismus Schillers gezogen. Wieland aber — ganz abgesehen von der „großen Seele" — blieb sogar mehr Schöngeist als „schöne Seele", blieb gebunden an eine Spielform der Schöngeistigkeit, die mit beträchtlichen Anteilen rationalistischer Scharfgeistigkeit untermischt erscheint im Sinne des „Scherzhaften" (neben dem „Gefälligen") des Rokoko. Das findet im Kunstanschauen sein entsprechendes Widerspiel. Diese Schöngeistigkeit sucht gern Deckung hinter der Moral, wenigstens beim Theoretiker und Kritiker Wieland, so etwa auch Goethes „Faust" I gegenüber oder in den „ U n t e r r e d u n g e n z w i s c h e n W i e l a n d u n d d e m P f a r r e r z u X X X " (1775), wo zugleich eine (hier deshalb recht) streng gefaßte Naturnachahmungsforderung Schutz bieten soll (Einbeziehungsrecht des Sinnlichen). Die Schöngeistigkeit möchte seit dem frühen „ G e s p r ä c h des S o k r a t e s " (1754) gern „moralische Grazie" im Sinne Shaftesburys sein und die „inwendige Schönheit" zu haben scheinen; später in immer bewußterer Weise und teils auch im ernsteren Bemühen. Diese S c h ö n g e i s t i g k e i t m i t i h r e r s t ä n d i g e n B e r e i t s c h a f t , die W e n d u n g z u m S c h a r f g e i s t i g e n z u v o l l z i e h e n , berührt gern tändelnd einmal kunsttheoretische Begriffe. So etwa flechten die „ K o m i s c h e n E r z ä h l u n g e n " (1765) eine neckische Seitenbemerkung über „lauter Schlangen- und Wellenlinien" ein mit merklicher Anspielung an die Kunstlehre Hogarths. Oder es erfolgt auch einmal ein etwas keckerer Vorstoß. So im „ N e u e n A m a d i s " (1771), wo er die „Grazie" nach „unstudiertem Gesetze" über Aristoteles Gesetzgebung hinwegtragen läßt, in der ganzen lässig-leichten Art eine ausgeprägt rokokohafte Spielform der Aristoteles-Kritik neben

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den massiveren Angriffen der Stürmer und Dränger. Immerhin beachtete man schon damals derartige Seitenhiebe, wie eine Wieland-Rezension von 1772 erkennen läßt. Wielands Kunstanschauung erfährt in der „ G e s c h i c h t e des A g a t h o n " (1766/67) eine dem Bildungsroman angemessene Ausweitung und Vertiefung und zugleich eine Abwandlung in den späteren Fassungen (1773 und 1794). Die themagemäße Ausweitung und die Situation des Bildungs- und Entwicklungsromans kommt vor allem einer Herausarbeitung des Virtuoso-Ideals (Shaftebury) entgegen, aber auch einer weitgehenden B e r ü c k s i c h t i g u n g m i l i e u t h e o r e t i s c h e r B i l d u n g s k r ä f t e . Die Einwirkung und Rückwirkung der Umwelt, des Lebenskreises auf die Gesamtbildung und gerade auch auf die Geschmacksbildung wird in der Frühfassung wahrscheinlich unter dem Eindruck französischer Aufklärer (Charles Bonnet, Helvetius, Montesquieu und schwächer der frühere Malebranche) kräftig herausgearbeitet. Der mechanistische Sensualismus hinterläßt deutliche Spuren, wobei Helvetius die Haupteinwirkung ins Politische, in die politische Umwelt (Montesquieu mehr Klima usw.) verlagern hilft. Zwar verharren die späteren Fassungen des Romans bei dieser milieutheoretischen Grundlegung, kräftigen jedoch erneut den Shaftesburyschen Zustrom, während die Spätfassung einen Ausweg in der Richtung Kants und Reinholds anzustreben scheint. Die aus den „Grazien" (und früheren Ansätzen) bereits vertraute Bewertung der letztlich immer noch rokokohaft gestimmten und bestimmten „geistigen" Schönheit des „Idealisch"-Schönen, der schöne Schein als Widerspiel und Abglanz der schönen Seele wird beibehalten. Die Abwehr des ungehemmten, kraftvollen und machtvollen Phantasieeinbruchs in die „feine Linie" eines geschmackvollen Virtuosentums setzt sich weiterhin durch. Und es bleibt das Ziel des rokokohaften Kunstwollens, vor allem zu „gefallen". Die geniale Schöpfungsfunktion ist überwiegend als kombinierende Funktion gesehen, als eine „andere Art der Verknüpfung von Ursache und Wirkung" (ähnlich Lessing). Der Geschmack bleibt in hohem Ansehen. Wieland ringt um den Ü b e r g a n g v o m R o k o k o z u r H o c h k l a s s i k , ohne ihn wirklich vollziehen zu können. Er ahnt in Heinrich von Kleist späterhin das geniale Zusammenzwingen des deutschen (modernen) und griechischen Kunstwollens, das selber zu verwirklichen er nicht berufen war. Das anspornende Ermutigen

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des „Guiskard"-Dichters durch den alten Wieland, wie vorher seine formpädagogischen Anregungen, die für Schillers „Don Carlos" fruchtbar wurden, sind letzten Endes das beste Stück an lebendig wirksamer D r a m a t u r g i e , das Wieland überhaupt geboten hat. Zwar von dem „ V o r b e r i c h t zu J o h a n n a G r a y " (1758), der den Dramatiker als „Moralisten" eng an die Tugendlehre bindet, wie er ihn — wohl doch mehr aus persönlicher Gelegenheit oder Verlegenheit in eigener Sache — eng an die Geschichte bindet, wird man kaum mehr erwarten können, als er bietet: einen Sinn für das „Große" nur insoweit, als es sich um das „Heroische der Tugend" handelt, eine rein theoretische Lebensnähe auch nur der Tugend zuliebe (Tugend, „nach dem Leben" gestaltet), die zudem im Stück selbst praktisch nicht bewährt wurde (Lessings Kritik der „Johanna Gray"). Volkspädagogisch beachtenswerter würden Ansätze einer Verschmelzung der späteren moralästhetischen mit der volkspädagogischen Forderung im „Teutschen Merkur" von 1773 erscheinen. Erwartet doch Wieland ähnlich wie Sulzer — und in gewissem Sinne auch Bodmer — von Bühne und Bühnenwerk ein volkserzieherisches Wirken in die Weite und Breite der Öffentlichkeit und damit verbunden „heilsame Würkungen" auf Charakter, Gesinnung („Sinnesart") und „Sitten eines Volkes". Wieland bezeichnet in diesem Zusammenhange die Bühne als ein „moralisches Institut". Aber diese Äußerungen fallen im Jahre der „Blätter von deutscher Art und Kunst" (etwa ein Jahrzehnt vor Schillers bekannter Rede in Mannheim). Und die neuen Impulse der Geniezeit, vor allem aber doch wohl Sulzers Wegbereiten helfen an solchen Stellen Wieland zu einer merklichen Loslösung vom Geist (und Ungeist) des Rokoko, was die kulturpolitische Haltung betrifft. Rein dramentheoretisch gesehen schleppten noch die betreffenden Erörterungen innerhalb der „ G e s c h i c h t e der A b d e r i t e n " (1774, bes. I. Buch, 8. Kap.) mit der Forderung veredelter, aber nicht einseitig übersteigerter Gestalten, mit der Abwehr von Episodenwucherungen oder breiten Einzelreden merklich ältere Bestände der Dramentheorie mit, die teils allerdings schon wie bewußte Gegengewichte gegenüber dem Drama des Sturmes und Dranges wirken und wirken sollen. Was fühlbar wird, hebt sich im Verteidigen Aristotelischer Grundsätze und dem Eingestelltsein auf Diderots „Art dramatique" gegenüber einer

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shakespeariesierenden Geniedramatik trotz eigener Erfahrungen des Shakespeare-Übersetzers, so etwa in Wielands Rezension „ Ü b e r d a s S c h a u s p i e l G ö t z v o n B e r l i c h i n g e n " (Merkur II, 1774) deutlich und unzweideutig ab von Lenzens „Götz"-Kritik und vollends von Lenz' gleichzeitigen „Anmerkungen übers Theater". Wieland fühlt sich, auf kulturpolitischem Gebiet nachgebend, auf künstlerischem Gebiete bewußt oder unbewußt als Träger klassizistischer „Simplizität", wie er noch 1782 oder — im Hinblicken auf das Einströmen frühklassischer Vorbereitungskräfte in die Hochklassik — , der vollends 1782 in Racine „alle Eigenschaften eines vortrefflichen Trauerspiels (Sprache, Versifikation und Reim mit einbedungen) . . ." mustersetzend verwirklicht zu sehen glaubt. Er verweist doch bei allem Bemühen um ein Teilverständnis den Goethe des „Götz" eben nicht nur auf die Notwendigkeiten der Bühne, sondern selbst auf die Einheiten. Wieder bestätigt sich nun auch von dramentheoretischer Seite her der Gesamteindruck, d a ß W i e l a n d ü b e r F r ü h k l a s s i z i s m u s und R o k o k o e i n e n u n m i t t e l b a r e n Z u g a n g z u r K l a s s i k a n s t r e b t , ohne im Werteerobern oder Umwertenwollen die revolutionäre Läuterungsstufe des Sturmes und Dranges überhaupt zu durchlaufen oder vollends zu durchleben.

TEIL II

Die Schöpfungs-Programmatik und Organismus-Ästhetik des Sturmes und Dranges Grund- und Grenzformen geniezeitgemäßen Kunstwollens In Friedrich Maximilian Klingers Schauspiel „ S t u r m u n d D r a n g " , das der Geniezeit ihr Stichwort, aber gewiß nicht ihr Programm gegeben hat, werden dennoch zwei Sätze ausgesprochen, die wesentliche Richtungspunkte auch für das dichterische Kunstwollen, das besonders als l a t e n t e P o e t i k im K u n s t w e r k sich manifestiert als ein Streben nach e c h t e r V i e l f a l t u n d l a u t e r G r ö ß e , andeuten können: e i n m a l im V e r w e r f e n und z u m a n d e r e n im E r s t r e b e n . Die Flucht rokokohafter Schöngeistigkeit vor den kämpferisch-schöpferischen, aber auch vielfältigreichen Gewalten des Lebens umschreibt La Feu, der Freund der Feenmärchen und schäferlichen Rokokoidyllik, mit der Forderung: „ U n d so w o l l e n w i r d a s L e b e n w e g p h a n t a s i e r e n " . Die Zuflucht und das Hindrängen zur kampferfüllten Lebensdichte (laute Größe) als letzte menschliche Erfüllung, zum Erfassen des Lebens (echte Vielfalt) und seiner schöpferischen Möglichkeiten spricht aus dem Ausbruch des Kraftkerls Wild: „ H a t d o c h d i e s H e r z a l l e s g e f ü h l t , w a s S c h ö p f u n g s c h u f , was der Mensch fühlen kann". Rokokohafte Lebensflucht und geniezeitgemäße Lebenssucht heben sich grell belichtet ab, vereinfacht gewiß und vergröbert, teils auch verzerrt, wie es dieser grobschlächtigen Nachzeichnung des Romeo und Julia-Motivs entspricht, aber doch unverkennbar. Von rokokohafter Lebensflucht kann dabei freilich nur im Sinne des Sturmes und Dranges als einer Flucht vor dem tätig-tüchtigen Leben in all seiner e c h t e n L e b e n s v i e l f a l t gesprochen werden. Bleibt man vorerst im Bereiche der Klingerschen Dramengestalten, so begegnet als Träger kunsttheoretischer Anschauungen Franz im Trauerspiel „Das leidende Weib" (1775), das in seiner Art gleichsam die andere Seite des Werther-Motivs, die andere Möglichkeit der Lösung und ihre Tragik (Tragik der Ehebrecherin) auszuschöpfen trachtet, nicht ohne in Nebenhandlungen program19 M a r k w a r d t , Poetik II

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matischen Fragestellungen reichlich Raum zu gönnen. Franz schwärmt für Homer, Shakespeare und Klopstock, wettert gegen die Kritiker und Theoretiker, die „Regeln schreiben, definieren und schwatzen, und all' das ohne Gefühl"; und er ist überzeugt, daß der „nächste Weg, zum Narren zu werden" darin zu sehen sei, „sich ein System bauen zu wollen". Zur Abwehr des Rokoko, die auch in diesem Drama Klingers voll zur Geltung kommt in der Wieland-Kritik (entsittlichender Einfluß, Auftritt: GesandtinLouise) und anderen Zügen, tritt die Abwehr des Rationalismus und seiner Theorie- und Systemfreudigkeit. Für die Sturm und Drang-Programmatik lag die Stärke der „Theorie" recht eigentlich darin, daß man keine Schwäche für Theorien und Systeme mehr haben wollte und sollte. Wenn die Aufklärer und Auflockerer mit pfleglicher Hand und merklichem Wohlgefallen ihre Konstruktionen errichtet hatten, so hätte diese jugendlich wagemutige Generation am liebsten alle jene Bauten nach Wölfischem Stil zertrümmert, wie sie denn auch auf die Geschmacksstreitereien mit einem Gefühl des Überdrusses antwortete. Die S y s t e m f e i n d s c h a f t u n d T h e o r i e f e i n d s c h a f t ist gewiß einer der ausgeprägten Charakterzüge im Antlitz der neu aufbrechenden Zeit, ein spezifisch jugendlicher Zug zugleich wie die meisten Merkmale geniezeitgemäßer Haltung und Gestaltung überhaupt. Doch kann es hier n i c h t darum gehen, den generationsmäßigen biologischen Grundlagen des Sturmes und Dranges nachzuspüren, sondern darum, das dichterische Kunstwollen aus der ganzen Grundhaltung heraus zu entfalten, wie immer diese Grundhaltung im einzelnen bedingt gewesen sein mag. Man fand das Kunstschaffen derart eingebaut und überbaut von den Treibhäusern der Kunsttheorie, der Dichtungsdeutung, ja z. T. noch der kaum verhüllten Dichtlehre, daß resoluter Abbau sich als erste Gegenmaßnahme geradezu aufdrängte. Man fand die in künstlicher Wärme herangezüchtete Als-Ob-Natürlichkeit der Gottsched-Gellert-Gruppen oder die durchweg blassen Blüten des Rokoko, fand überall doch irgendwie an Regelspalieren und Gesetzesstützen gezogene Gewächse vor, sah also die Erträge jener rationalen und vermeintlich rationellen Gesetzes- und Systemwirtschaft und konnte nichts weniger sagen, als daß sie gut seien. In diesen Treibhäusern hatte man die Natur nachgeahmt. Sie wollten frischen, unbekümmerten und unverkümmerten Freilichtwuchs des lebendigen Organismus, wollten der Natur nacheifern

GRUND- U. GRENZFORMEN GENIEZEITGEMÄSS. KUNSTWOLLENS

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im eigenen Schöpfungsbereich. Poetik-Treibhäuser, auch modernisierter Art, System-Spaliere galten ihnen als Schädlinge für jede freischöpferische Geniekraft. Das kam diesen jugendlich Selbstbewußten oft genug wie unnützer Ballast, wie muffiger Plunder oder wie baufällige Gerüste vor, die man am besten auf Abbruch losschlug. Die leidenschaftlichen, vom religiösen Impuls getragenen und getriebenen Anklagen Hamanns gegen die aufklärerische „mordlügnerische Philosophie", Herders Ausbrüche in den „Kritischen Wäldern' und seine Seufzer im „Reisejournal", der Faustmonolog Goethes im „Urfaust" mit seinem „Statt all der l e b e n d e n Natur. . . " oder Schillers späteres Wettern gegen das tintenklecksende Säkulum in den „Räubern", die Abrechnungen und Abreibungen in Lenz' „Pandämonium Germanicum": sie alle weisen in dieselbe Richtung. Was die Sonderausprägung jener allgemeinen Gesetzes- und Systemfeindschaft als Feindschaft gegen kritische und kunsttheoretische Bevormundung, und zwar vor allem die Reflexe dieses Kampfes innerhalb eigener Programmatik der Geniezeit betrifft, so ist etwa Herders Stoßseufzer, „leider! in einem kritischen Jahrhunderte" leben zu müssen, ebenso kennzeichnend wie sein Bedauern, daß die Deutschen nur zu willig einem verfrühten Systembilden und dumpfen Systemglauben zuneigen. Belege aus Herders Jugendschriften ließen sich häufen, sind indessen hinreichend bekannt. Teils wird die aufklärerische Autorität Batteux zum Stichblatt des Spottes. Matthias Claudius, gewiß keiner von den Radikalen, der unbekümmert die Autorität Aristoteles als „Großvater der bekannten Einheiten" gleichsam an den Ofen familiärer Vertraulichkeit setzt, rät schalkhaft, den rationalistischen Batteux zu lesen oder aber „Meerrettich" zu „reiben"; es laufe auf dasselbe hinaus. Fr. Maximilian Klinger läßt in der Eingangsszene (Debatte der Schöngeister) seines „Leidenden Weibes" (1775) den Ausspruch des zweiten Schöngeistes: „Nehmen Sie nur die Begriffe vom Dichter aus dem Batteux!" ironisch gebrochen erscheinen, obgleich von Klopstock die Rede ist und von den theoretischen Forderungen: „Begeisterung, Feuer und Imagination, Erfindung". Im Munde des aufklärerischen Theoretikers klangen den Jungen selbst derartige Forderungen unwahr und unecht. Maßgebend für diesen zweiten Schöngeist ist noch d a s D r e i g e s t i r n „ T h e o r i e , K r i t i k , G e s c h m a c k " und damit die Gewalten, gegen die nicht zum wenigsten die Stürmer und Dränger sich anstemmen, während 19*

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der erste Schöngeist offensichtlich in die Angriffslinie gegen das als verfehlt empfundene Rokoko-Ideal gerückt werden soll. Chr. Fr. Dan. Schubarts „Deutsche Chronik" nennt den Geschmack ein „Camäleon, welches noch kein Home, Gerard, Garve, Mendelssohn, Sulzer, Riedel und Flögel richtig definiert hat" (Vorbericht 1774). Man mißtraut den Definitionen, kennt offenbar auch nicht alle wesentlichen. Besonders überzeugend aber wirkt ein solches Hindurchstoßen zur Systemfeindschaft jenseits der zahlreichen Proteste innerhalb der Dichtungen (der im Kunstwerk formulierten Poetik) gerade in den Abhandlungen der Gerstenberg, Hamann, Herder, Lenz, Lavater, Heinse u. a., in Schriften also, die doch selbst mehr oder minder stark kunsttheoretisch-kritisch eingestellt sein mußten. Wenn Lenz losbricht: „Ha, wenn Maß, Ziel und Verhältnis nicht in der Seele des Dichters ist, die drei Einheiten werden es nicht hineinbringen", wenn Herder einen derartigen Kunstgesetz-Pedanten eifrig am Werke sieht, wie er „sein Lineal und Senkblei in der Hand, seine feuchte Wasserwage im Kopfe" kunstrichterlich anmaßend „Disproportionen mißt", so schwingt persönliche Erbitterung in gesteigerte Kampfprosa aus, die verrät, daß es um Herzenssachen ging, nicht um Verstandeserkenntnisse, die an dieser Stelle aber zugleich verrät, daß man das Proportionale als Idol aufklärerischen Kunstwollens sehr wohl erkannt hat. Man fühlt bei den Jungen ganz richtig, daß man durchweg gar nicht das rechte Zeug habe zu einem „kritischen Prosaisten", dem Lessing immerhin ein gewisses Ansehen gesichert hatte, daß die erforderliche „Portion Geduld", daß die innere Ausgeglichenheit, das „große Maß Phlegma", wie es z. B. Lenz nennt, ihnen fehlt. Selbst der junge Herder, an sich am ehesten zum theoretischen Anregen berufen, beklagt, daß er so viele reiche Gedankenkeime abtöten und opfern müsse, falls er nur einen einzigen planvoll zur Reifung bringen wolle. Er ruft sich im Shakespeare-Aufsatz mehrfach zur Ruhe und Besonnenheit, um sich dann doch erneut der Rhapsodie hinzugeben. Mag eine solche Ungeduld hin und wieder ein wenig modisch anmuten, ein wenig auch — etwa bei Lenz oder Heinse — Glanzlicht der eigenen Genialitätssucht sein: im Gesamt mangelt den neuen theoretischen Wegsuchern und Wegbereitern tatsächlich der Sinn und die Geduld einer geraden, zielstrebig ausharrenden Marschrichtung. Nicht nur das begeisterungsfähige und begeisterungswillige Schützenwollen des letzten

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Schöpfungsgeheimnisses vor der Zudringlichkeit kunstverstandesmäßiger Erkenntnis scheut die systematische Erkundung. Auch das jugendliche Temperament scheut sie. Man b l e i b t n i c h t s e l t e n beim b l o ß e n P r o t e s t i e r e n s t e h e n , o h n e zum R e f o r m i e r e n die g e d a n k l i c h - k o n s t r u k t i v e Klarheit und Ruhe mitzubringen. So schreibt man damals immer wieder revolutionäre Manifeste und kühne Proteste, wenn man theoretisieren will. Man eifert, man predigt, man wirbt, man schwärmt, wo man das als neu Empfundene in Einfällen und Andeutungen aufblitzen läßt. Man wettert, ja man schimpft wohl auch recht von ganzem Herzen, wo man das Alte oder vermeintlich Überholte niederdonnern will. Man wirbelt auch manchen Staub auf, ohne wirkliche Erträge einzubringen. Immer aber überreden sie aus der Wärme eigenen Überzeugtseins heraus, mit leicht anschwellendem Pathos: Hamann so gut wie Herder, Gerstenberg so gut wie Lenz, Lavater so gut wie Bürger, der junge Goethe ebenso wie späterhin der junge Schiller oder Schubart, so reich gestuft die Tongebung im einzelnen auch sein mag. Nicht die zwingende Beweisführung eines Lessing wird erreicht, nicht seine hohe Kunst des Überzeugens angewandt, wenn auch manchmal mit unzulänglichen Mitteln nachgeahmt. Wo der Kunstverstand versagt oder man sich ihm versagt, da springt man unbedenklich, aber mit entsprechendem Schwung in das Kunstgefühl ab. Maler Müllers Faustgestalt („Fausts Leben, dramatisiert") prägt die Zusammensetzung „ I d e e n - G e f ü h l e " gewiß nicht zufällig. Gefühlsmäßige Gläubigkeit überflügelt im Höhentrieb und Hochgefühl jugendlichen Neueroberns das verstandesmäßige Erkennen. Große Aussichten müssen für mangelnde Einsichten entschädigen. Und „Ideen-Gefühle" die Ideen-Gänge in Schwung halten. Man fühlte ja doch so lebhaft und inbrünstig, was man wollte an Umwertung des Kunstwollens, daß man nicht erst durch weitschichtiges Schließen und Folgern zu erkennen und Erkenntnisse zu übermitteln brauchte. Und man verstand sich auch mit halben Worten und abgebrochenen Gefügen und Ausrufen. Anregungen schössen schnell auf, schlössen sich schnell aneinander, in quellender Fülle ausgestreut. Funken sprangen schnell über und zündeten, weil die neue Generation als Zeitgemeinschaft in engem gefühlsmäßigen, teils auch in engem persönlichen Kontakt stand. Es bedurfte nicht mehr der rationalistischen Umständlichkeit einer

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behutsam-bedächtigen, teils auch redselig-behaglichen Vermittlung. Allerdings, wie das Protestieren nicht überall zum Reformieren vorstieß, so auch blieb das Inspirieren oft genug beim bloßen Improvisieren stecken. Nicht nur, daß man keine PoetikWälzer mehr schrieb und keine „Kritische Dichtkunst": man konnte auch keine scharfgeistig durchgegliederten Fabelabhandlungen wie Lessing zustande bringen. Zwar, auch die Auflockerer kannten bereits den lebhaften Eindruck einer „künstlichen Unordnung", durch die man das starre System auflockerte und es gefälliger und gleichsam gesellschaftsfähiger aufmachte. Und Herder kann, wo er z. B. die zwanglosen Gedanken-,,Spaziergänge" seiner „Kritischen Wälder" rechtfertigen will, sich anlehnen an Äußerungen Lessings über den lockeren Anlageplan seines „Laokoon". A b e r j e n e „ k ü n s t l i c h e " U n o r d n u n g der A u f l o c k e r e r war bewußt, war gekonnte Fiktion, war ein Teilstreben im Gesamtstreben nach Als-ObNatürlichkeit gewesen und e n t h ü l l t s i c h b e i n ä h e r e r U b e r p r ü f u n g o f t g e n u g a l s ein b l o ß e s , w e n n a u c h r e c h t k u n s t v o l l e s U m - O r d n e n . Man folgte dabei wiederum nur einem Gesetz, einer Erkenntnis und Lehre des Kunstverstandes. Die Abhandlungen der Geniezeit hatten eine künstliche Dynamik nicht nötig; sie waren von innen her bewegt und erregt, teils sogar aufgeregt. Und wo sie „unordentlich" waren — und sie waren es gleichsam aus Prinzip, unbewußt auch und uneingestanden aus einem Kunstgesetz oder Kunstwollen heraus, nur eben einem neuen — , da waren sie von ganzem Herzen unordentlich. Sie werteten nicht klug und kennerhaft eine Darstellungsmöglichkeit aus, sondern folgten spontan einer Ausdrucksnotwendigkeit. Die vielfach aphoristische Art weist in mancher Hinsicht auf die Romantik voraus, die auch — wie späterhin das Junge Deutschland — mit Systemfeindschaft einsetzte. Wenn der junge Goethe die „Theorie" Sulzers abwehrt; „denn ein schädlicheres Nichts als sie ist nicht erfunden worden" (etwas gelinder fällt die Seitenbemerkung im „Werther" aus), wenn G. A. Bürger hinsichtlich der dramatischen Wirkungsformen derartige Rubrizierungen ablehnt, wie sie „die Theoriemacher uns herrechnen", die so gerne „tabellieren", was die „liebe Mutter Natur" doch als Einheit und Ganzheit biete: so steht hinter allen Einzelangriffen dasselbe Erlebnis des Organischen, Lebendigen, das sich zur Wehr setzt gegen ein Mechanisches, ein nur „Veran-

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staltetes", ein nicht organisch Gewachsenes und Gewordenes. Hamann verwirft in seiner Frühzeit Lessings Fabelabhandlungen, deren kunsttheoretische Begriffe „im Grunde falsch und nichts als Einfälle" seien. Er sieht den großen Theoretiker irregehen, wie überhaupt die Theoretiker des Rationalismus fehlgehen, weil ihnen das Irrlicht einer falschen Philosophie den Weg vorangeleuchtet habe. Er sieht die Natur aus dem Wege geräumt und geschunden „durch eure Abstraktionen". Der Kampf gegen bloße Abstraktionen, den Herder laufend weiterführt, hebt sich noch in Bürgers Verteidigung gegen Schiller klar ab. Der junge Herder ringt zäh und erfolgreich mit der starren Gesetzesstrenge des „Laokoon" oder der — von ihm zum mindesten vermuteten — Systemfreudigkeit Riedels. Für Hamann ist ein einziges Gefühl „überzeugender als ein ganzes System". Diese Abkehr von Theorie und System richtete ihre polemische Spitze gewiß vor allem gegen die Aufklärung. Aber — wie gerade im größeren Zusammenhange klarer wird — entwicklungsgeschichtlich gesehen im g e n e t i s c h e n A b l a u f der W a n d l u n g e n d e u t s c h e n d i c h t e r i s c h e n K u n s t w o l l e n s und d i c h t e r i s c h e r K u n s t a n s c h a u u n g b e d e u t e t der D u r c h b r u c h ins Freie einer g r u n d s ä t z l i c h e n Neuorientierung weit m e h r als ein b l o ß e s Z e r r e i ß e n j e n e r r a t i o n a l i s t i s c h e n B i n d u n g e n der v o r h e r g e h e n d e n G e n e r a t i o n . Es ging in der Wortkunsttheorie und Literaturphilosophie um die weitgehende Umwertung eines Erbes aus etwa zwei (und mehr!) Jahrhunderten, eines Erbes, das oft genug als eine schwere Last auf jeden Keim einer wirklichen Neuschöpfung drückte. Es handelt sich n i c h t nur um ein A b s c h w e n k e n i n n e r h a l b der K u n s t t h e o r i e des a c h t z e h n t e n J a h r h u n d e r t s , s o n d e r n u m ein N e u e r l e b e n des D i c h t e r t u m s ü b e r h a u p t , und a l s o in d i e s e m S i n n e um e i n e n A u f b r u c h v o n g r o ß e r G e w a l t und T r a g w e i t e , der im G r u n d e w e i t mehr zu ü b e r w i n d e n h a t t e , a l s er an G e g e n k r ä f t e n u n m i t t e l b a r vor sich sah. Gewiß stieß die junge Generation vor allem und zunächst auf die Nachhut jener Lehr- und Anweisungspoetik oder doch Begriffspoetik. Aber diese Nachhut selbst hatte ihre Formationen und ihre Kampfesweise nicht unwesentlich aufgelockert (Gruppe deAuflockerer). Um sie zu werfen, wäre jener übermächtige Kraftr aufwand, den die Geniezeit trieb, kaum erforderlich gewesen.

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Instinktiv mehr als bewußt spürte man, daß es um m e h r ging, daß m e h r gefordert wurde als die übliche Anstrengung einer kämpferischen Generationsablösung mit bloßer Verschiebung und Verlagerung der Ziele. Wenn diese größere Sendung trotz ihrer großartigen Reichweite in einem an sich bedenklichen Grade den Charakter destruktiver Kritik, der Polemik, des Niederreißens hatte — darin waren Berührungsmöglichkeiten mit Lessing gegeben, die auch empfunden wurden —, so lag die innere Rechtfertigung eben darin begründet, daß sich jene massige, in immer neuen Ringen aufgetürmte Zwingburg der Lehr- und Anweisungspoetik, aber auch der GesetzesPoetik und der soll-ästhetischen Forderungen, an der Jahrhunderte gebaut, wenn auch teils umgebaut hatten, nicht so behutsam abtragen ließ, wie es schon zum Teil die Auflockerer versucht hatten, sondern nur im revolutionären Drang erstürmt und zerstört werden konnte. Das Umbauen der Soll-Poetik erschien den Jungen oft noch gefährlicher als die schlichte, armselige Anweisungspoetik, deren Harmlosigkeit und geistige Anspruchslosigkeit mehr Mitleid als Schrecken zu erregen vermochte. Aber jenes vielfach wirkungsvolle Umbauen und Umordnen und Reformieren, wie es die Auflockerer-Poetik unternommen hatte und — zeitlich gesehen — noch bis weit in die Geniezeit hinein unternahm, drohte die Stoßstärke eines frischen Neueinsatzes von vornherein zu brechen. Man wollte von Grund auf neu bauen, nicht nur umbauen. Auch Lessing hatte künstlerische Fragen aus ihren letzten Gründen heraus erklären wollen. Aber man fühlte mehr, als man es beweisen konnte, daß man über die Gründe und Untergründe, daß man vor allem über das Abgründige, Hintergründige des Werkschöpferischen anderer Meinung war. Das wird an Hamanns Kritik der Fabelabhandlungen so gut ablesbar, wie an Herders „Laokoon"-Kritik. Klinger bewundert Lessings „Minna von Barnhelm" so ehrlich, daß sich die jugendlich Liebenden (Franz und Julie) in der kunsttheoretisch auch sonst beziehungsreichen Nebenhandlung des „Leidenden Weibes" Minna und Teilheim nennen; aber darüber, daß „große Leute" Erörterungen anstellen hinsichtlich der Zweifelsfrage, „warum du (Laokoon) den Mund auftust", ärgert sich Klinger mit seinem Franz ebenso ehrlich. Und was er an solcher Behandlungsweise vermißt im Rahmen der bloßen Gesetzeskritik, ist letztlich die Einfühlungskritik Herderscher Art: „Hätten sie so vor dir gestanden mit dem

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innigsten Gefühl!" Derselbe Franz, der offenbar Klingers eigene Anschauungen weitgehend zu vertreten hat, aber steht nicht an — zum Unbehagen der Schöngeister — Klopstocks Gelehrtenrepublik für die „größte Poetik" zu erklären, „die je geschrieben worden". Damit teilt er die Auffassung des jungen Goethe, der ebenfalls Klopstocks Poetik als die allein geniezeitgemäße empfand. Während die Lessing- bzw. Klopstock-Forschung dazu neigen würde, in Lessings kunsttheoretischer Gesamtleistung mehr Zukunfthaltiges zu sehen, spürte man damals in Klopstock zugleich den reiner gefühlsmäßig schaffenden Dichtertypus, dem man auch auf kunsttheoretischem Gebiete mehr zutrauen möchte, weil man ihm sich inniger vertraut fühlt trotz aller Teilpolemik im einzelnen. Im Gesamtbestand stecken in Klopstocks Poetik fraglos ebenso breite Restbestände veralteter Auffassungen wie in Lessings Poetik; aber man war eher geneigt, darüber hinwegzugehen, weil man sich vom empfindungsvollen Schwung des Dichters Klopstock schadlos gehalten fühlte. Herders erstes ,,Kritisches Wäldchen" ist vielfach so ausgelegt worden (als „Anti-Laokoon" nämlich), daß sich Herders Geltungsstreben um jeden Preis von Lessing absetzen möchte, obgleich er doch im Wesentlichen mit Lessings „Laokoon" übereinstimme. Für Herder war aber nicht das Wesentliche die Richtung der Handlungsforderung, sondern die Hinrichtung vieler echter Dichter und Lyriker durch diese Forderung der Gesetzeskritik, wo Herder die E i n f ü h l u n g s k r i t i k zum Grunde zu legen wünscht. Er fordert dabei nicht mehr, aber auch nicht weniger als jener Franz in Klingers Drama: mit dem innigsten Gefühl auch dann vor dem Kunstwerk zu stehen, wenn man Kunstgesetze ableiten will, mit anschmiegsamem Gefühl auch das Kunstwollen der Ausnahmen zu würdigen, mit tiefdringendem Gefühl die organisch-vitale, die Lebens-Energie (Energiebegriff) herauszuspüren und nicht nur die mechanisch-dynamische Bewegung einer „Handlung" durch „Kunstgriffe". U n d g e r a d e weil die F e i n m e c h a n i k eines w u n d e r b a r e n U h r w e r k s , d a s bei Lessing ein Z a h n r a d in d a s a n d e r e g r e i f e n l ä ß t , in seiner h o c h k u l t i v i e r t e n V o l l e n d u n g s f o r m so n a h e an den Schein des O r g a n i s c h e n h e r a n r e i c h t : eben d e s h a l b f ü h l t H e r d e r d a s e c h t e Sein des O r g a n i s c h e n um so g e f ä h r l i c h e r b e d r o h t d u r c h diese h o c h e n t w i c k e l t e , b e s t e c h e n d e Kunsttechnik, die d a s L e b e n ersetzen möchte.

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s t a t t das L e b e n s p o n t a n zu e r g r e i f e n . Nicht die plumpe Mechanik und grobschlächtige Technik Gottscheds birgt die wirkliche Gefahr, sondern eben die aufs äußerste gesteigerte Verfeinerungsform, der die größere Verführungskraft innewohnt, weil sie einen Schein anbietet, der dem Sein sehr nahekommt. Und weil ein Gesetz sich darbietet, das das Lebensgesetz des Organischen entbehrlich zu machen sich zumutet. Die kunsttechnischen Einzelhinweise mögen ihre Berechtigung, selbst ihre Fruchtbarkeit haben, das Gesetz als Gesetz kann schwere Verheerungen im Felde freischöpferischen Künstlertums anrichten. Aus diesem Blickwinkel gesehen, wird aber auch allgemein verständlicher, was an der geniezeitgemäßen Haltung zu Gesetz einerseits und Regel andererseits anfangs nicht recht folgerichtig erscheinen mag. Wenn die Aufklärung die Regelreihung der früheren Poetik abgelöst hatte durch das Aufspüren beherrschender und umfassender Kunstgesetze, so war der Sturm und Drang wenig geneigt, darin nun etwa einen großen Fortschritt zu sehen oder gar diesen stolz verkündeten philosophischen Zuwachs freudig und achtungsvoll zu begrüßen. Ihm war die Freiheit wesentlich, nicht das Gesetz. Und er hatte das verständliche Gefühl, daß ein mit einem kunstphilosophischen Anspruch und entsprechender Aufmachung auftretendes Gesetz ihn am Ende noch mehr beengte und bedrängte als eine schlichte Regel. Die Fesseln der durchweg nur lockeren Regelreihen waren leichter zu sprengen als die massive Gesetzesschranke. Überdies empfand man den Ästhetiker und Poetiker als anmaßender, der dem Genie Gesetze auferlegen zu können glaubte, als den redlichen harmlosen Regelschmied. Das Gesetz war nicht nur lästiger; es erwies sich auch in seiner vom Einzelfall weit entfernten Allgemeinheit und abstrakten Verdünnung für den eigentlichen Schaffensvorgang als unfruchtbarer. Den anregenden Einzelhinweis auf eine kunsttechnische Möglichkeit, aus der lebendigen Erfahrung oder einem großen Beispiel wie Homer, Shakespeare u. a. gewonnen, durfte man unbeschadet der schöpferischen Freiheit eher annehmen oder doch in wohlwollende Erwägung ziehen. Der b r a u c h b a r e E i n z e l h i n w e i s war einer E p o c h e , in der im V e r h ä l t n i s v o n K o n z e p tion u n d G e s t a l t u n g die K o n z e p t i o n e n t s p r e c h e n d dem P r i m a t des S c h ö p f e r i s c h e n ü b e r w o g , in gewissem G r a d e s o g a r e r w ü n s c h t . Der junge Goethe, Bürger u. a. ge-

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standen offen zu — was die Kritiker der Aufklärung z. T. selbst schon eingesehen hatten —, mit den allgemein und weiträumig gehaltenen ästhetischen Ideen wenig anfangen zu können, während eine gediegene kunsthandwerkliche Schulung mit ihren dem Kunstleben abgewonnenen Einzelbeobachtungen und Erfahrungen wenigstens gelegentlich zu fördern vermöge. Eine bescheiden beschreibende Poetik erschien zum mindesten als das kleinere von zwei Übeln, verglichen mit einer vorschreibenden Poetik, die mit philosophischer Gesetzesmacht ausgestattet auftrat. Nur dort, wo die Theorie nahe an die Praxis herangerückt war, wie etwa bei Lessing, wurde auch das Gesetz mehr oder minder willig geduldet im Ubergang der „kritischen" zur angewandten Poetik. Der wenig beachtete und anfangs gewiß überraschende Umstand, daß die revolutionäre Generation für den aufgelockerten Regeltypus in Form von anregenden Einzelhinweisen immer noch mehr Sympathie aufbrachte als für das Kunstgesetz, könnte auf den ersten Blick fast wie eine rückläufige Bewegung erscheinen. Und es fehlt gelegentlich nicht an dem Gefühl für diese etwas paradox anmutenden Notbehelfe. So etwa schwingt Selbstironie mit, wenn G. A. Bürger einer durchaus ernst gemeinten metrischen Abhandlung mit Rückbezug auf den Poetiker Hübner den Titel mitgibt „Hübnerus redivivus". Mag das immerhin ein krasser Fall sein, ein „Rückfall" auch schon in die Formbesinnung, so läßt sich doch Ähnliches auch sonst beobachten. Der junge Herder mahnt z. B., daß in Fragen der stilistischen Darstellung alles Räsonnieren „im Ganzen" d. h. Allgemeinen wenig nütze und man fruchtbarere Erträge erziele, wenn man „über einzelne Fälle" urteilen lerne. Der junge Goethe, der gelegentlich des „Clavigo"-Dramas beweisen möchte, „dass' nur an mir liegt, Regeln zu beobachten", steht bei aller Regelfeindschaft dennoch den Beispielen, also den Einzelfällen, milder gestimmt gegenüber als den Gesetzen und Grundsätzen: „ S c h ä d l i c h e r als Beispiele sind dem G e n i u s P r i n z i p i e n " . Und selbst wenn dabei mehr an die großen Vorbilder im Sinne der Musterpoetik zu denken wäre, so hat doch Goethe an anderer Stelle gerade eine „ l e b e n d i g e Theorie", die „vielleicht dem Genie etwas nützen" könne, so dargestellt, daß sie trotz des Hineinverarbeitens des Dämonisch-Schicksalhaften und der genialen Erleuchtung doch als empirisch-induktive Sammlung von Einzelbeobachtungen und Einzelerfahrungen deutlich erkennbar ist. Die Selbstzeugnisse und Erläuterungen des Schaf-

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fenden bieten eine Reihe von Hinweisen, die nicht Anweisung, wohl aber Anregung werden dürfen. Es kann nicht darum gehen, die häufig genug belegte und hinlänglich bekannte Regelfeindschaft des Sturmes und Dranges in Frage zu stellen. Wohl aber war auf eine weniger b e k a n n t e S t u f u n g i n n e r h a l b des V e r h ä l t n i s s e s v o n Gesetz u n d Regel h i n z u w e i s e n , wobei immer noch zu beachten bleibt, daß jene Unterscheidung von Gesetz und Regel dem rückschauenden Blick leichter sichtbar wird, während eine solche Unterscheidung von der jeder scharfen und klaren Begriffsscheidung von vornherein abholden Geniezeit nicht entfernt in dem Maße und auch nicht irgendwie einheitlich vorgenommen worden ist. Vielfach gebrauchte man „Regel" und „Gesetz" als synonyme Bezeichnungen für alles, was irgendeinen unliebsamen Zwang auferlegen oder unerbetenen Rat aufdrängen wollte. Aber man e m p f a n d sehr wohl einen Unterschied zwischen dem abstrakten Gesetz und der konkreten Regel. Und man neigte — besonders jenseits des offiziellen Programms — der Regel zu als derjenigen kunsttheoretischen Äußerung, die den schaffenden Künstler am unmittelbarsten betraf, die ihn auch erlebnismäßig etwas anging. Der junge Goethe der Sulzer-Rezension hatte nicht zufällig die Bedingung gestellt: „Wenn irgend eine spekulative Bemühung den Künsten nützen soll, so muß sie den Künstler gerade angehen". Der starke Ruf nach der genialen Originalität und der Regelfreiheit, so laut er immer erhoben wurde, konnte doch das teils uneingestandene, teils aber auch eingestandene Bedürfnis der unerfahrenen jungen Generation nach kunsttechnischer Erfahrung nicht völlig übertönen. Und ein derartiges Bedürfnis wurde für den einzelnen Dichter verhältnismäßig bald nach dem ersten Befreiungsrausch von „allen" Regelfesseln spürbar. Die von der Regel erfaßten, konkreten Einzelfälle standen letztlich den Stürmern und Drängern im Rahmen der empiristisch-induktiven Tendenzen ganz einfach erlebnismäßig näher als die konstruktiv-deduktiven Gesetze. Der junge Herder wird nicht müde, die deduktive Methode gesetzmäßiger „Machtsprüche" zu bekämpfen und damit die Ästhetik „von oben", die sich von jeder tragfähigen, erfahrungsmäßigen Beobachtungsgrundlage entfernte. Den kunsttechnischen Einzelhinweis anregender Natur, etwa noch mit einem würdigen Vorbild und einem glücklich gewählten Beispiel verbunden, hält er durchaus nicht für abwegig

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und verderblich. Er pflegt ihn selber in den kritischen und programmatischen Schriften seiner Frühzeit, und zwar mit Erfolg, wie die anregende Rückwirkung auf den jungen Goethe — und nicht auf ihn allein, sondern etwa auch auf Bürger — überzeugend beweist. Das „Gesetz" galt zudem durch die Verflochtenheit mit der „mordlügnerischen Philosophie" (Hamann) als schwer belastet. Denn wenn die Nähe der Gesetzespoetik zur Philosophie für die Aufklärung eine Empfehlung darstellte, so galt dieselbe Nähe für den Sturm und Drang als Zeichen einer Ansteckungsgefahr durch die künstlerische Unfruchtbarkeit des Rationalismus. Nach alledem galt die „angewandte Poetik" relativ mehr als die „philosophische" Poetik. Dennoch fesselte im letzten Grunde auch ein „Gesetz" die ganze Aufmerksamkeit und das gesamte Kunstwollen des Sturmes und Dranges. Nur eben daß es ein Gesetz zeugenden Lebens war oder doch sein wollte und also der Lebensstimmung und Weltauffassung des Sturmes und Dranges ebenso nahestand, wie die Gesetze der Aufklärung ihrer Weltanschauung gestanden hatten. E s war d a s S c h ö p f u n g s g e s e t z . Es waren die immanenten Kräfte des schöpferischen Vorganges. U n d dieses S c h ö p f u n g s gesetz d u l d e t e wohl u n t e r g e o r d n e t e R e g e l n , a b e r k e i n e a n d e r e n Gesetze n e b e n sich. Denn dieses Gesetz betraf das Genie und seine Kulturleistung. Es forderte wie das Genie selbst Ausschließlichkeit. Daß dieses Gesetz gar nicht kunsttheoretisch eindeutig und volldeutig zu erfassen war, erhöhte für die Stürmer und Dränger nur noch seinen Reiz und seine geheimnisvolle, fast kultisch verehrte Größe. Es war das innere Gesetz dieser Generation. Ein mit viel lautem Lärm umtöntes (Kaufmann, Lavater u. a.), aber auch mit viel echter Liebe umworbenes Lebensgesetz (Hamann, Herder, Goethe, Lenz, Schiller, Schubart u. a.). E i n b a l d ü b e r w i e g e n d religiös, b a l d ü b e r w i e g e n d ä s t h e t i s c h , b a l d ein wenig schon biologisch g e d e u t e t e s u n d i m m e r n u r im e h r f ü r c h t i g e n A b s t a n d u m s c h r i e b e n e s Gesetz. Man wollte und konnte dieses Gesetz des Schöpferischen nicht eigentlich kunsttheoretisch begreifen; aber man wollte und konnte sich erlebnismäßig davon ergreifen lassen. Hamann, Gerstenberg, Herder, Goethe, Lenz, Lavater, Schubart, Schiller, Heinse u. a.: sie alle wurden nicht müde, das U n a u s s p r e c h l i c h e dieses k ü n s t l e r i s c h e n L e b e n s g e s e t z e s zu betonen und zu beteuern.

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Sie alle kannten und wählten, vor die klare Definition gestellt, den Ausweg, das Genie-Sein zu fordern (genannt und gekannt hatte das schon Resewitz), bevor man das Genie-Haben oder GenieWerden erläutern könne. Und man wollte, daß auch andere von der Größe und der Göttlichkeit dieses Schöpfungsgesetzes ergriffen würden. Es fehlte zum Teil — so etwa bei Gerstenberg — nicht die kritische Besinnung und die sich bescheidende Bekundung, daß die zeitgenössische Seelenkunde noch nicht hinreichend durchgebildet sei, um das Schöpfungsgesetz und die in ihm wirksamen seelisch-geistigen Kräfte und Gewalten irgendwie erfassen und vermitteln zu können. Der junge Herder unternimmt Deutungsversuche nach der psycho-physiologischen Seite hin, besonders in den „Kritischen Wäldern". Aber auch er — wohl am ehesten berufen, die Schöpfungsästhetik in inniger Verbindung mit der Organismusästhetik weiter durchzubilden — springt immer wieder ab in ahnungsvolle Andeutungen des Unaussprechlichen, nur gefühlsmäßig Nacherlebbaren. Der Primat des Schöpferischen hatte sich nicht nur zu behaupten gegenüber der kunsttheoretischen Zielsetzung, sondern auch gegenüber der moralischen Zwecksetzung der Aufklärung. N i c h t n u r die Z w i n g b u r g der Gesetze, auch die Z w i n g b u r g der Zwecke g a l t es zu s t ü r m e n . Und wieder ist der Aufwand an revolutionärer Kraft größer als der Widerstand dessen, was der Sturm und Drang unmittelbar vor sich hatte, eben der Aufklärung, an sich erfordert haben würde. Hatte doch schon innerhalb der Auflockerer-Poetik — ähnlich wie hinsichtlich der poetischen „Gesetze" und „Regeln" — eine schrittweise Fortbewegung vom Primat der Moral sich vorbereitend vollzogen, hatte doch die zünftige Ästhetik besonders durch Justus Riedel, Mendelssohn u. a. weitgehend die Idee (und die Formulierung) des „interesselosen Wohlgefallens" vorbereitet. Und es hatte sich neben der offiziellen längst eine mehr persönliche Meinung gebildet, die das MoralDogma und damit die Moral-Dienstbarkeit der Kunst als bereits von innen her erschüttert erscheinen läßt. Erinnert sei nur an J. Mosers unbekümmerte Enthüllung gelegentlich der HarlekinsVerteidigung, daß man zwar in den öffentlichen Vorreden vieles über moralische Endzwecke mit entsprechend feierlicher Miene vorzubringen pflege, während man in Wirklichkeit etwas wesentlich anderes als Tugendlehre vom Theater erwarte, oder an Lessings bedrängten Seufzer, daß jene Leute, die das Theater

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durchaus zu einer Tugendschule machen wollen, der Bühne mehr schaden als zehn Goeze, also als zehn Hamburger Hauptpastoren vom Schlage des Lessing-Gegners Goeze. Aber im allgemeinen blieben derartige Ketzereien mehr privater Natur (Briefwechsel) oder halb verdeckt im Zwielicht des Satirischen (Moser spricht unter der Maske des Harlekins). Die Manifestierung einer „theatralischen Sittlichkeit" durch Moses Mendelssohn in Abhebung von der bürgerlichen Sittlichkeit oder die durchgängige Ablehnung des schlechtweg „vollkommenen" Charakters als Gestalt im Drama können als weitere Merkmale der Auflockerung der Moralbindung schon innerhalb der Aufklärung gelten. Mendelssohn und Riedel erreichten dabei wohl die am weitesten vorgeschobenen Positionen. Wenn trotzdem die leidenschaftlichen Vorstöße gegen eine Verquickung der Kunst mit moralischen Zwecken innerhalb der jungen Generation so unverhältnismäßig heftig einsetzen, so stand — den Einzelnen kaum bewußt — wiederum wie bei der System- und Gesetzesfeindschaft das instinktiv richtige Gefühl dahinter, mehr forträumen zu müssen, als die Aufklärungspoetik nach den teilweisen Aufräumungsarbeiten der Auflockerer-Poetik übrig gelassen hatte an Widerständen und Widerstrebungen. Die Taktik der Auflockerer schien ihnen zu kompromißwillig, um jener Zwingburg der Zwecke beizukommen, an der Jahrhunderte gebaut hatten. Auch hier genügte ihnen ein bloßer Umbau nicht. Die Stürmer und Dränger gingen in aller Offenheit auch dieser Zwingburg der Zwecke zuleibe. Besonders unzweideutig sind derartige Bekundungen beim jungen Herder, der hier vom älteren Herder abgehoben werden muß, beim jungen Heinse, bei Goethe und Merck ausgeprägt. Und wieder schienen ihnen die Scheinfortschritte des Rokoko gefährlicher als die ehrliche Moralbindung früherer Epochen. Zum Spielen nahmen sie im jugendlichen Idealismus die sittlichen Werte viel zu ernst. Eine derbe Offenheit und gesunde Volkstümlichkeit empfanden sie als gesunder und auch deutscher Offenheit gemäßer als die halbe Verhüllung. Es ging ihnen vorerst um eine Übertragung des allgemeinen Freiheitsstrebens auf die Freiheit der Kunst von moralischen Geboten, Verboten und Zwecken. Der j u n g e H e r d e r , im Bejahen der Sinne und Leidenschaften ermutigt durch Hamann, scheint schon am zielstrebigsten den Weg zu einer Autonomie der Kunst zu beschreiten, vor der er

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später zurückschreckt, als die Klassik die Kunst voll in ihr Eigenrecht und ihre Eigengeltung eingesetzt hatte. Weit ins Grundsätzliche der Fragestellung dringen bereits seine „ F r a g m e n t e " vor mit der Forderung, „daß das Gute, dies Glück der Schilderung, n i c h t m i t dem M a ß s t a b e der M o r a l , s o n d e r n der D i c h t k u n s t g e m e s s e n und nicht gefragt werde: schildern sie gute Sitten? sondern: schildern sie die Sitten g u t ? " Das Große, Ungemeine, Ungewöhnliche und daher die Seele Erregende und Erschütternde: „das bildet die Sitten des Dichters", so daß ihm „Größe und Stärke" statt Sittenreinheit und Sittenstrenge als poetische Ideale voranleuchten im Sinne des Größen- und Kraftkultus des Sturmes und Dranges. Die Bühne als „Schule der Sitten" wird abgelehnt und vollends die dramatisierte Form der Lehrdichtung verworfen. In den „ K r i t i s c h e n W ä l d e r n " prägt Herder — immer noch kurz vor 1770, also vor dem vollen Einsetzen des Sturmes und Dranges im Kunstschaffen — wohl zum ersten Male mit solcher Bündigkeit und Klarheit in der gesamten bisherigen Entwicklung des deutschen dichterischen Kunstwollens den denkwürdigen Satz: „ E i n K u n s t w e r k ist der K u n s t w e g e n d a " , der in dieser Fassung schon als Grund-Satz für die Ästhetik der Klassik hätte übernommen werden können und etwa zwanzig Jahre später in der Tat ganz ähnlich wiederkehrt bei K. Ph. Moritz und dem klassischen Goethe. Der junge Herder, der hier den A u t o n o m i e g e d a n k e n der K u n s t eindeutig herausbildet, unterscheidet dabei ausdrücklich das echte, reine Kunstwerk, das um seiner selbst willen da ist, von zweckverhafteten, gewissen religiösen, politischen oder geschichtlich-beschreibenden Wirkungszwecken „dienenden" kunsthandwerklichen Gebilden, wie sie etwa die Münzenkunst darbiete. In der Münzenkunst kann sich kein reines Vollkunstwerk und Kernkunstwerk entfalten und behaupten, weil dort die „Kunst dienend, eine Helferin zu einem andern Zwecke" sei. Im Virgil-Abschnitt der „Kritischen Wälder" wirft Herder mit spezifischem Bezug auf die Dichtkunst erneut die Frage auf, ob der „poetische Kunstrichter" zu einem moralischen „Zuchtrichter" werden dürfe. Und wieder verneint er diese Frage „vermöge p o e t i s c h e r Zwecke und des poetischen Gefühls halben". Auch aus dem frühen Briefwechsel, etwa mit Hamann oder Heyne, hat die Sonderforschung die entsprechende Abwehr moralischer Tendenzen ablesen können.

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Der Zweck der Kunst wird weitgehend auf sich selbst gestellt, der „poetische Zweck" freigesetzt vom moralischen Zweck und zum allein maßgebenden, weil allein maßgerechten Wertungskriterium erhoben. Trotz der Polemik gegen Riedel ist es nicht ganz ausgeschlossen, daß der junge Herder, soweit er über die zeitübliche Kritik am Moralisieren hinausgeht und zur grundsätzlichen ästhetischen Fragestellung vordringt, doch auch Positives von Riedel gelernt haben könnte. Denn Riedels „Theorie der schönen Künste" hatte (über Burke) bereits 1767 klar das interesselose Wohlgefallen aufgestellt. Die Schwenkung Herders zum betont Moralischen hin, die mehr persönlich und teils auch beruflich bedingt ist, erfolgt erst etwa zwei Jahrzehnte später (nach einem Zwischen- und Übergangsstadium in den achtziger Jahren). Selbst wenn man eine Teilanregung durch Riedel voraussetzt, bleibt Herder der Blick für das Fruchtbare und Zukunfthaltige auch in diesem Falle, überdies die geniezeitgemäße Wendung von der Wirkungsseite (Riedel) zur Seite des schöpferischen Werdens (Herder) eines Kunstwerks. Der junge Herder als der ideenreichste Träger des geniezeitgemäßen Kunstwollens und als Verfasser der eigentlichen „Ästhetik" des Sturmes und Dranges (Viertes krit. Wäldchen) — denn Klopstock blieb wesentlich bei der Poetik stehen, folgte auch erst einige Jahre später — , hilft jedenfalls entscheidend mit, nach einer langen Epoche vorherrschender Zweckbindung der Dichtkunst (16. Jh., 17. Jh. und die erste Hälfte des 18. Jahrhunderts) der Epoche einer vorherrschenden Zweckfreiheit (Sturm und Drang, Klassik und Romantik) den Weg zu erleichtern. Daß Wilhelm Heinse aus seinem „ästhetischen Immoralismus" heraus die Loslösung von der moralischen Zweckbindung weit leichter fallen mußte als dem jungen Herder, leuchtet ohne weiteres ein. Um so höher jedoch will die kunsttheoretische Einsicht und vor allem der kunstgläubige Einsatz des jungen Herder bewertet werden. Bei Merck ist es mehr die Freude an der kritischen Eigenwegigkeit (teils auch Eigensinnigkeit), die ihn gegen die vorherrschende moralische Zweckbindung der Aufklärung verschiedentlich Front machen läßt. Bei dem Goethe der Geniezeit ist es mehr die Entfaltungsfreude in einem freien Spiel- und Lebensraum für alle schöpferischen Lebensmächte, die unter anderen Zweckbindungen auch die zweckstrebig-moralische abzustreifen geneigt ist. Wie es ganz allgemein die Vorstellung der göttlichen Selbstherrlichkeit des Genies ist, die der Geniezeit die Zweckverbindlichkeit auflösen hilft. 20 M a r k w a r d t , Poetik II

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T r o t z d e m e r w e i s t s i c h die Z w e c k f r e i h e i t im K u n s t wollen des S t u r m e s und D r a n g e s nicht e n t f e r n t so k l a r und e i n d e u t i g a u s g e b i l d e t w i e im K u n s t w o l l e n d e r K l a s s i k . E s handelt sich bestenfalls um eine mehr im allgemeinen Lebensgefühl und Kunstgefühl vorherrschende, jedoch um keine alleinherrschende Freisetzung der Kunst. Nicht nur J . J . Rousseaus kritische Gedanken über die sittliche und allgemein-menschliche Gefährdung (der Genfer Bürger) durch die Bühnenkunst im Sendschreiben an d'Alembert (1758), nicht nur die eigene Abwehr der rokokohaften, „ästhetisierenden" Kunst waren es, die z. B. in den Dramen des Sturmes und Dranges immer wieder die Problematik ästhetischer Werte und Wirkungen am Schöngeist als Menschentypus, an schöngeistiger Lektüre oder am Komödienbesuch erläutern ließen: in Lenz' „Hofmeister" so gut wie in seinen „Soldaten", in Klingers „Sturm und Drang" so gut wie in seinem „Leidenden Weib", in Goethes „ G ö t z " so gut wie in Schillers „Kabale und Liebe". Ganz abgesehen davon, daß vieles dabei n i c h t die K u n s t an s i c h , sondern eben n u r s a t i r i s c h die f e i n d l i c h e K u n s t treffen und z.T. auch die T r ä g e r e i n e r d e r a r t i g e n K o m ö d i e n - u n d R o m a n f e i n d s c h a f t als mehr oder minder aufklärerisch eingefärbte Philister c h a r a k t e r i s i e r e n h e l f e n sollte: es war vor allem die aktivistische, sozialkritische Tendenz des Sturmes und Dranges, die im mehr protestierenden als reformierenden Anklagedrama schon eine g e w i s s e B e r e i t s c h a f t zeigte, v o n d e r m o r a l i s c h e n Z w e c k b i n d u n g in eine g e w i s s e r m a ß e n p o l i t i s c h e Z w e c k b i n d u n g ü b e r z u s c h w e n k e n und also gleichsam den Bezirk der rein künstlerischen Zweckfreiheit zu umgehen oder richtiger im jugendlichen Schwung einfach zu überrennen. Im ganzen tritt diese Tendenz in der latenten Poetik der Dichtwerke (und der dazugehörigen Vorreden-Theorie, die mehr Rechtfertigung als Wegweisung bringt) stärker zutage als in der Kunsttheorie. Jedenfalls fand hier die Kunsttheorie der Klassik noch manches zu tun. Der Sturm und Drang war zuletzt eher geneigt, die Kunst um der Kunst willen einer K u n s t um d e s V o l k e s w i l l e n aufzuopfern. Oder vielmehr: er hoffte angesichts der blutarmen Kunst des Rokoko durch Blutauffrischung vom Volkstümlichen her zugleich den künstlerischen Wert steigern oder ihn überhaupt erst einmal manifestieren zu können. Der Sturm und Drang hat in weitausholender Bewegung den D u r c h b r u c h zur V o l k s d i c h t u n g , besonders zum Volkslied

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und zur Volksballade vollzogen, wobei eine V e r s c h m e l z u n g des U r s p r ü n g l i c h e n m i t dem V o l k s t ü m l i c h e n vor allem durch den jungen Herder angestrebt wurde. Der Stürmer und Dränger lernte dort, wo man bislang immer nur belehren zu können geglaubt hatte, beim Volk. Er lernte, wie die Jugend am liebsten lernt, durch Anschauen, Erleben und Erfahren. Und er glaubte, woran die Jugend willig glaubt, an das durchaus Neuartige, Einzigartige und Großartige seiner Sendung. Er wußte, daß sein Protestieren gegen die Kultur der Aufklärung eine laute Stimme forderte; denn die Lehren der Aufklärung saßen vielen noch im Ohr. Aber er wußte auch, daß dem Protestieren das Produzieren unmittelbar folgen mußte; denn er lehrte den P r i m a t des S c h ö p f e r i s c h e n . Und das Schöpferische, das Zeugungskräftige überzeugt am wirksamsten durch Leistung. Man kann letztlich nicht durch Programme die Ehrfurcht vor dem Schöpferischen erzwingen, sondern nur durch das Werk. Das kunsttheoretische Philosophieren nun schien vom künstlerischen Produzieren am weitesten entfernt zu sein. Es war von vornherein verdächtig, weil es — wie die Kritik, jedenfalls die normative, die Gesetzeskritik (Kritik auf Grund von Gesetzen) — als Merkmal einer aufklärerischen Haltung empfunden wurde. Verdächtig war die Als-Ob-Natürlichkeit der Aufklärung als „gemachte" Natur und die gespielte Natürlichkeit des Rokoko. Die Geniezeit wollte erlebte Natur. Nicht das Nützliche der Natur (Aufklärung), nicht das Niedliche der Natur (Rokoko), sondern das Große in der kraftvollen Natur, aber auch die Innigkeit des Naturschlichten. Mochte immerhin der Aufklärer Voltaire die Wendung „zurück zur Natur" zuerst formuliert haben, zur erlebnishaltigen Prägung wurde sie den Stürmern und Drängern durch Rousseau. Die N a t u r w u r d e V o r b i l d u n d S i n n b i l d des S c h ö p f e r i s c h e n schlechtweg. Das Kunstwollen verzichtete weitgehend auf die abgebrauchte Forderung der Naturnachahmung. Batteux und Gottsched hatten das Prinzip der Naturnachahmung in Mißkredit gebracht. Es ging um einen ehrfurchtsvollen, aber auch ehrgeizigen Wettstreit mit der Natur, also um Naturnacheiferung. Die Natur war nicht Vorwurf (Motiv), sondern Vorbild. Sie war zugleich der Inbegriff des geheimnisvoll Keimkräftigen, Lebenden und Webenden, des ewig Werdenden und Wachsenden. Und sie bot dem geniezeitgemäßen Kunstwollen sowohl die V o r s t e l l u n g des D y n a m i s c h e n als auch die V o r s t e l l u n g des O r g a n i s c h e n . Die Position der Naturnachahmung, die schon schichtweise von 20 *

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J. E. Schlegel, J. A. Schlegel, Sulzer u. a. abgetragen worden war, wurde trotz realistischer Teiltendenzen aufgegeben zugunsten des P r i m a t s des n a t u r h a f t S c h ö p f e r i s c h e n u n d G e n i a l O r g a n i s c h e n . Selbst Vorstellungen biologischer Art werden, soweit damals von Biologie überhaupt schon gesprochen werden kann, keimhaft spürbar, nicht erst beim jungen Goethe, auch schon beim jungen Herder, und zwar nicht nur im Bezirk der Genievorstellung, sondern ebenso in den Vorstellungen vom W a c h s t u m s v o r g a n g und vom W a c h s t u m s w u n d e r des D i c h t w e r k s . Ähnlich naturhaft dachte man sich den Wachstumsvorgang und das Wachstumswunder des Volksgeistes. Aus dem E r l e b e n e i n e r b e g e i s t e r t e n N a t u r n ä h e u n d V o l k s n ä h e hat so der Sturm und Drang die entscheidende W e n d u n g z u r E r l e b n i s d i c h t u n g und V o l k s d i c h t u n g zu gewinnen gewußt. Es kommt nicht so sehr darauf an, wie schmal oder breit diese Durchbruchsstelle beim Volkslied war, sondern auf die Wärme und Wucht des Durchbruchs selbst, auf das Grundsätzliche dieser Wegbahnung und auf die erobernde Tiefe des Vorstoßes. Diese Tiefe des Durchbruchs beim Volkslied wird erst voll überschaubar und in ihrem Wirkungswert auch für das Kunstwollen ermeßbar, wenn man bedenkt, daß der Zugang zur Gefühlsästhetik und zur Wesenserfassung des Dichterischen weit überwiegend über die W e s e n s e r f a s s u n g des L y r i s c h e n angebahnt worden ist. Herder führt bei diesem Durchbruch, Goethe bringt den Ertrag ein, Bürger sucht ihn auch kunsttheoretisch auszubauen zu der Forderung, daß alle wertvolle Dichtung „volksmäßig sein" müsse, eine Forderung, die Schubart mit betontem Bezug auf Bürger nachdrücklich aufgreift. Der nur scheinbar schmale Zugang über das Volkslied und die Ballade erweist gerade bei Bürger seine volle Ausweitungsmöglichkeit. Aber man lernt nicht nur vom Volke, dem man auf dichterischem Gebiet vor allem in Lied und Ballade begegnet, man wendet sich auch wieder zum Volk und an das Volk. Man will zur Nation sprechen, nicht nur zu kritisch geschulten Kunstrichtern. Das Herz des Volkes soll antworten, nicht nur ein paar Kenner. Der junge Goethe bekennt mit Stolz und mit der ganzen Echtheit des vertraulichen Privatbriefes: „ I c h h a b e s o g l e i c h an dem H e r z e n des V o l k s a n g e f r a g t , ohne erst am Stapel der Kritik anzufahren" (an E. Th. Langer, 27. Okt. 1773). Und er fühlt die leistungsteigernde Kraft, die ihm aus dem Widerhall seines

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Werkes zugewachsen ist. Auch die zünftige und die weniger zünftige „Götz"-Kritik war sich einig im Herausfühlen und Herausstellen des Vaterländischen. Er spricht vom „Götz" und deutet damit die Wandlung an, die auch im dramatischen Bereich zur Volksnähe hindrängt. Hier hilft Shakespeare, so wie ihn die Jungen sahen und erlebten, den Zugang erleichtern. Nach der kühnen Vorarbeit bei Lessing war auf dramentheoretischem Gebiet besonders auch seit Gerstenberg das Vorwärtsdrängen zum Charakterdrama an sich weniger neuwertig. Es erfolgt vor allem über Goethes Shakespeare-Rede, Herders Shakespeare-Aufsatz und entfaltet sich in voller Breite bei Lenz. Die Theorie des Epos und des Romans fand verhältnismäßig weniger Förderung. Blankenburgs weitläufige Romantheorie von 1774 blieb auf halbem Wege zwischen Aufklärung und Sturm und Drang stehen, ohne eine resolute Entscheidung zu finden. Aber schon ein Jahr später ist Chr. Fr. Daniel Schubart überzeugt, daß es für die Bestimmung des „Nationalcharakters unserer Nation" von beträchtlichem Wert sein müsse, wenn wir einmal wirklich „teutsche Originalromane" aufzuweisen haben würden. (Schwäbisches Magazin, 1775). Zwar noch 1778 bringt der „Merkur" einen Roman-Aufsatz aus Mercks etwas spitziger Feder, allerdings zurückschauend auf die Situation vor „ohngefähr 10 Jahren". Aber das ist Merck aus den Forderungen der Zeit im Ohr geblieben: „teutsch müssen Eure Produkte sein". Nur hätte jene Übergangsepoche der Auflockerer nichts Rechtes mit einer derartig verpflichtenden Forderung anzufangen gewußt, da sie es nicht verstanden habe, von der zwanglosen mündlichen Erzählweise des einfachen Mannes aus dem Volke zu lernen. Wieder also mündet die kunsttheoretische Betrachtung ein in den Rat, vom Volk zu lernen, auch für die epische Wirkungsform und Schaffensweise. Und die Hoffnung Schubarts, die Romangestaltung für die Würdigung des Nationalcharakters auswerten zu können, erhält festeren Rückhalt über den bloßen Wunsch hinaus, wenn man Mercks Forderung, für die Romangestaltung von der volkstümlichen Erzählweise zu lernen, einmal unmittelbar daneben stellt. In jenem bereits im Lichtenberg-Abschnitt kurz erwähnten Aufsatz „ U b e r den M a n g e l d e s e p i s c h e n G e i s t e s in u n s e r m l i e b e n V a t e r l a n d " (Deutscher Merkur 1778) geht J o h a n n H e i n r i c h M e r c k , der hinsichtlich seiner Beiträge zur Dramaturgie des Sturmes und Dranges bereits von der Sonderforschung

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hinreichend einbezogen worden ist, aus von dem auch Lichtenberg vertrauten Gedanken, daß eine bloße Nachahmung des englischen Romans, etwa eine realistische Fielding-Nachahmung, nicht genüge und die Ausflucht auf ausländischen, antiken oder utopischen Boden, über die auch Schubart geklagt hatte selbst angesichts seines verehrten „Landsmannes" Wieland, keine wirkliche Lösung darstelle. Zwar die Einsicht, daß nationale Sitten und Charaktere im deutschen Roman zu verwerten seien, habe eine neue „Fundgrube" verheißen. Aber die kulturpatriotische Forderung („teutsch müssen Eure Produkte sein") allein bleibe unfruchtbar, solange man nicht die Erzählweise selbst von innen her erneuere. Hinund hergeworfen durch Gebote und Verbote (weder wundersame Begebenheiten, noch feste Charaktere, die durch alle Situationen hindurchzuführen seien, weder Details, noch tragende Stimmungseinheit habe man gelten lassen, aber diese Forderungen gegeneinander ausgespielt), hätte mancher Romanschriftsteller nicht einmal den Wertstand von Gellerts „Schwedischer Gräfin" (die also immer noch ein wenig als Muster in Betracht gezogen wird) erreicht oder auch nur Ziglers „Asiatische Banise" (die seit Gottscheds Erwähnung ebenfalls noch als Beispiel mitläuft). Unter merklicher Anlehnung an Lessings Handlungsbegriff wird Homers fortschreitende Schilderung gerühmt, oder es wird der Mangel an „Keuschheit des Ausdrucks" nach Art der Alten (leise Vorklänge zum Gestaltungsideal der Klassik) vermißt. Ebenso klingt die Forderung einer Zurückhaltung des Epikers bereits vor (daß „nichts von seinem eignen Medio zum Vorschein kommt"). Man sollte eine gewisse naive Naturfrömmigkeit von Matthias Claudius lernen. Und sollte sich klar darüber werden, daß „zum e p i s c h e n W e s e n " vorzüglich „ w a c k r e S i n n e " , eine kraftvoll sinnliche Aufnahmebereitschaft gehöre. Man sollte endlich und vor allem von der „ N a i v i t ä t des g e m e i n e n M a n n e s , des w i r k l i c h s i n n l i c h e n M e n s c h e n " lernen: denn „seine G a b e zu s e h e n , m a c h t ihn zum b e r e d t s t e n E r z ä h l e r " , und selbst seine liebevoll gegenständliche „Umständlichkeit", sein geduldiges Ausmalen vermag den Sinn für epische Kunst anzuregen. Die Forderung einer volksnahen Erzählweise wird bereits von Merck unverkennbar als Leitwort in das widerstreitende Stimmengewirr der theoretischen Forderungen hineingeworfen: „Man h ö r e n u r auf die K o n v e r s a t i o n e i n e s W e i b e s , e i n e s J ä g e r s , e i n e s S o l d a t e n , und man wird eine G a b e zu e r z ä h l e n f i n d e n " ,

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die mancher Kunstdichter nicht zu erreichen vermag. Demgegenüber erscheinen alle „Sentiments" als wesenlos und wertlos. Nicht „Reflexionen und Empfindnisse" dürfen vorherrschen. Vielmehr muß alles im guten Roman so dastehen, „als wenn's so sein müßte". Es bedürfte nicht des ausdrücklichen positiven Hinweises auf die „seltsamen Sprünge", um zu erkennen, daß Merck, obgleich er in seiner eigenwegig-kritischen Art vorsorglich von der „Sekte der Empfindsamkeit und des Geniewesens" abrückt, dennoch das g e n i e z e i t g e m ä ß e L e r n e n der L y r i k v o n V o l k s l i e d und B a l l a d e ü b e r t r ä g t auf ein L e r n e n s o l l e n auch der E p i k e r v o n d e r m ü n d l i c h e n V o l k s e r z ä h l u n g , von der v o l k s l ä u figen Erzählweise. Selbst S o n d e r f o r m e n , die scheinbar dem Rokoko kaum zu entreißen waren, w i e d i e I d y l l e , überwinden unter dem allgemeinen Impuls die bloßen Vorstufen teils volksnäherer Art bei Geßner und Geliert, um mit entschiedener Schwenkung dem Volkstümlichen zuzustreben, wie es in M a l e r M ü l l e r s pfälzischen Idyllen „ D i e S c h a f s c h u r " und „ D a s N u ß k e r n e n " unverkennbar und ganz bewußt als neues Ideal der Idylle herausgestellt wird. Ganz bewußt und geradezu programmatisch; denn Maler Müllers DialogIdylle mit Liedeinlagen „Die Schafschur" (1775), die den ländlichen Lebenskreis von schäferlich-rokokohaften Requisiten freizuhalten sucht, will ausdrücklich ein Muster setzen im Sinne der Muster-Poetik, will e i n B e i s p i e l g e b e n f ü r e i n v e r ä n d e r t e s K u n s t w o l l e n a u c h in d i e s e m s t a r k t r a d i t i o n s g e b u n d e n e n B e r e i c h d e r I d y l l e . Der alte, derb-biedere Schäfer Walter, der nach einer kleinen, verhaltenen Spannung (Abschiedsschmerz der heimlich Liebenden) Tochter und Gesellen glücklich verbinden kann, berichtet im Eingangsteil, wie ihm der Schulmeister einen Band sogenannter Schäfer-Idyllen vorgelegt und angepriesen habe. E r jedoch, der — bis auf sein verdächtig weitgehendes künstlerisches, ja kunsttheoretisches Interesse (vgl. auch im „ N u ß kernen") — echt bäuerliche Schäfer habe aus dem Empfinden heraus, daß doch gerade in derartigen Schilderungen „alles natürlich" sein und wirken müsse, jenes schulmeisterliche Lobpreisen entwaffnet mit der einfachen Gegenfrage: „wo gibt's dann Schäfer wie diese?" A m Schluß aber des kleinen Geschehens erteilt er dem Schulmeister den Rat, vielleicht doch einmal dieses anspruchslose Erlebnis in eine Idylle zu fassen; denn „das müßt* eine rechte, wahre gute Idylle geben".

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Also unmittelbar vom Schäfer, von dessen Beruf und seinen Freuden, könne der rechte Idyllendichter lernen. Nichts mehr von den Entschuldigungen Gellerts gelegentlich seines kecken Schäferspiels „Das Band", weil es sich zu sehr auf das „theatralische Landgedicht" zubewegt habe, nichts auch von den Entschuldigungen, die noch Maler Müllers eigner, allerdings thematisch schon entsprechend gebundener Idylle „Bacchidon und Milon" vom Herausgeber mitgegeben worden waren, weil darin den echt „griechischen" Schäfern die „Mützen rheinländischer Bauern" aufgesetzt worden seien: vielmehr ein klares Verteidigen des Neuen, eben des N a t u r n a h e n , V o l k s n a h e n , L e b e n s e c h t e n . Dieser Schäfer Walter ist aber nicht nur der Freund einer volkswürdigen Idylle, sondern auch der Freund von — z.T. historischen — Volksliedern und Balladen, von Märchen und Sagen, wie denn Maler Müller in seiner Sammlung „Balladen" (1776) einige jener Motive ausführte, die in der „Schafschur" vom Schäfer Walter kurz erwähnt werden. Und wenn in dieser Idylle im Rahmen der Erinnerungen des Schäfers sowohl die Situation der Spinnstube, wo „einander so Märchen erzählt und gesungen" wurde, als auch die Situation im Freien, die ebenfalls „alte Lieder" erklingen ließ, begegnet, so hat Maler Müller selbst je eine der Situationen in seinen beiden pfälzischen Idyllen wiederum gleichsam als Musterfall ausgewertet und zugrunde gelegt. Denn wie die „Schafschur" die Situation im Freien wählt, wo beim Schafescheren schöne alte Lieder, teils balladesker Art erklingen, so wählt die andere Idylle „Das Nußkernen" die Situation im Innenraum bei der zugleich durch Unterhaltung belebten Gemeinschaftsarbeit des Nüsse-Entkernens, wobei jetzt das R ä t s e l s p r u c h - R a t e n u n d G e s c h i c h t e n e r z ä h l e n zu seinem Rechte kommt. Genau gesehen, ist auch das vorschriftsmäßige Spinnen vertreten, denn das alte Mütterlein, die Hämmerlin, singt ihre Rätselreime beim Spinnen, während die düster gefärbten, durchaus volkstümlich gehaltenen „wunderlichen" Geschichten vom Schulmeister beim Nüsse-Entkernen erzählt werden. Diese zweite etwas geschehensreichere Idylle, die gelegentlich auf das in eine „Komödie" umgesetzte Volksbuch vom Herzog Ernst anspielt, wie denn Maler Müller selbst das Volksbuch von der Genoveva in seinem Drama „Golo und Genoveva" auszuwerten wußte, weist zwar noch mancherlei Stilüberkreuzungen und einen nicht recht stilentsprechenden Anhang auf. Doch bleibt das Wesent-

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liehe: in beiden Idyllen zeigt sich die neue v o l k s t ü m l i c h e I d y l l e n f o r m i n n i g v e r s c h m o l z e n m i t den a n d e r e n v o l k s tümlichen Grundformen: Volkslied, Ballade, Rätsel, m ü n d l i c h e r z ä h l t e r G e s c h i c h t e , V o l k s b u c h . Der Kunstdichter sucht das Volk im Spiegel des gewählten Motivs auf, um mitzuerleben und mitzuerlernen, wie es singt und erzählt. Es sollen nicht mehr Idyllen f ü r s V o l k sein, sondern a u s dem V o l k s l e b e n h e r v o r g e h e n d e , ihm abgelauschte; darum eben mußte auf jene grundsätzlichen Bemerkungen in den Rahmenteilen der „Schafschur" Wert gelegt werden. Und auch die Volkslieder sollen aus der volkstümlichen Situation wachsen, nicht betont „Lieder fürs Volk" sein, wie Gleim noch seine Sammlung betitelte. Was auf den gattungstheoretischen Gebieten unternommen und was hier vorerst nur andeutend umschrieben wurde, macht am Sonderfall sichtbar, was die ganze Bewegung bei allen Abstufungen doch einheitlich ausrichtet auf ein b e w u ß t v o l k s n a h e s d e u t s c h e s K u n s t w o l l e n . Gerstenberg, in dem die nordischen Überlieferungswerte lebendig werden, weniger schwungvoll, aber tiefer durch Studien untergründet als bei Klopstock, erkennt bei aller Nachsicht gegenüber der Griechenverehrung Winckelmanns dennoch die Gefahr der Ablenkung von den eigenen deutschen Kraftquellen. Bewunderungswürdiger und volkswürdiger als der antikisierende Könner erscheint ihm der „erhabne Geist, der kühn genug ist, selbst original zu werden, der das Zujauchzen seiner Nation seinem eignen innern Werte und keiner Vergleichung mit andern verdanken will" (Schleswigische Literaturbriefe, 5. Brief, 1766). Dieses Zujauchzen der Nation erstrebte und erlebte dann jener junge Dichter des „Götz", der beim Herzen des Volkes anfragte. Die glückliche Prägung „ V o n d e u t s c h e r A r t und K u n s t " umgreift die tragende Stimmung und treibende Gesinnung der ganzen Generation und hätte auch über manchen anderen Beiträgen jenseits der „fliegenden Blätter", jenseits der Beiträge von Herder und Goethe und Moser stehen können, und zwar nicht nur über Bürgers „ H e r z e n s a u s g u ß ü b e r V o l k s p o e s i e " , sondern auch über manchem Abschnitt von Schubarts „ D e u t s c h e r C h r o n i k " oder Lenz' „Anmerkungen über's Theater". Dichtungschaffen und Dichtungdeuten, Kunstleistung und Kunstanschauung begegnen sich in dieser Gesinnung. Und nicht selten eilt dabei die jugendlich hoffnungsfrohe Programmatik der Leistung voraus. Die denkwürdige Begegnung des jungen Goethe

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mit dem jungen Herder in Straßburg im Herbst 1770 bleibt ein eindracksstarkes Sinnbild für das f r u c h t b a r e W e c h s e l s p i e l anregender Kunstdeutung und bewährender Kunstl e i s t u n g . Sie war fruchtbar nicht kraft der Theorie an sich, sondern kraft des naturhaften und volksmäßigen Lebens, das in dieser „Theorie" und durch diese „Theorie" hindurch wirkte und kraft der religiösen Untergründe, die sie beseelte. Aber sie war fruchtbar auch deshalb, weil hier ein genialer Anreger auf einen genialen Dichter stieß. Nicht nur mit großer Liebe, auch mit großer Wucht ist jener Vorstoß unternommen worden, so daß in ihm jene charakteristische Haltung des Wuchtigen sich auswirkt, die zugleich ein Ideal für das Kunstwollen darstellt und aufstellt. Wucht — Würde — Weite: Geniezeit — Klassik — Romantik. Nur gewisse Kernbezirke des Kunstwollens und Kunstschaffens können derartige Richtungs- und Stimmungswörter treffen wollen. Auch dann nur, wenn man im Sturm und Drang neben der Wucht seiner Größensehnsucht den Willen zu ihrer Verwirklichung, neben der kühleren Würde die verinnerlichte Weihe der Klassik und neben der Weite den Weg zum Wunder in der Romantik nicht übersieht. Das Wuchtige, das etwa im Terminus „kolossalisch" oder „riesenhaft" gefaßt wird, zieht den bewundernden Blick auf gotische Dome, auf Shakespeare, auf alte Balladen, auf Gestalten wie Götz, wie Faust. Selbst der Blick auf die Antike bewundert vor allem die „Riesengestalten aus der markigen Fabelwelt" (Goethe). Das Wuchtige kann dichterisch nur in „Zentnerworten" künstlerisch wirksam gehoben werden. Das Wuchtige prägt sich den Helden, der selbst Schlüssel ist zu seinen Schicksalen. Es soll selbst noch dem großen Verbrecher abgetrotzt werden wie Franz Moor. Das Wuchtige ist Lust, wenn es den Starken seine Kraft lieben lehrt, die selbst den Göttern trotzt wie im „Prometheus". Aber es ist auch Last, unter der der Schwächere und Zartere zusammenbricht, wie Werther unter der Wucht seiner Leidenschaft. Das deutet schon an, daß das Wuchtige seinen Gegenwert im Weichen sucht, wie denn im Drama vielfach neben dem Kraftkerl der Weichling steht. Das Rauhe sucht und setzt seinen Gegenwert im Linden, nicht nur innerhalb der Lyrik. Erst so ergibt sich jene Spannung, die zur letzten Anspannung führt, ergeben sich jene „Würfe und Sprünge", die weit über ihre eigentliche Fundstelle in Ballade und Volkslied hinaus das Kunstwollen und das Formwollen bestimmen. Und es ergibt sich endlich die U n -

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a u s g e g l i c h e n h e i t nicht als bloße Unzulänglichkeit, sondern als jugendliche Erlebnisweise mit ihren bewußten Spannungen, die durch eine immer erneute Anspannung produktiv sich umsetzen möchte. So könnte auch der Rhythmus von Ausgeglichenheit (Aufklärung) — Unausgeglichenheit (Geniezeit), Ausgleichung (Klassik) — Unausgeglichenheit (Romantik) verfolgt werden. Man fühlt mehr als man erkennt, daß die Aufklärung mit ihrem verfrühten — erst der Klassik geglückten — Ausgleichsstreben die Gegensätze notdürftig überdeckt, anstatt sie kämpferisch zu überwinden oder doch wenigstens ehrlich durchzufechten. Wo man solche Kämpfe gewagt sieht wie bei Lessing, ist man zur Anerkennung bereiter. Aber bei weitem überwiegt der Eindruck, daß die Aufklärung es sich zu leicht gemacht habe. Man spürt, daß der vielberufene „Geschmack" nicht viel mehr ist als eine „Tugend" auf ästhetischem Gebiet, daß die Schwierigkeiten der Regelbindung oft nur Ablenkungen sind von der größeren Schwierigkeit, durchzustoßen zum Schöpferischen, daß der Aufklärer jene vielen kleinen Pflichten der Kunstgesetze auf sich nimmt, um der schwereren Verpflichtung einer eigenen Wegbahnung und eigener künstlerischer Verantwortung zu entgehen. Man fühlt, daß die Als-Ob-Natürlichkeit auf eine Umgehung der Natur hinausläuft, wie die Wahrscheinlichkeit eine Umgehung des Wunderbaren oft auf Schleichwegen versucht. Man erkennt den Umweg einer „Lenkung" des Gemüts (Geliert, Sulzer), wo es um Entfaltung des Gemüts gehen sollte. Man erkennt das Volksfremde des „Witzes", das Kleine und Kleinliche des „Scherzes". Kurz, man sieht auch dort, wo man rein kunsttheoretisch an der Aufklärung eine gewisse Stütze findet, die innere Nötigung, von Grund auf umzuwerten, neu zu überprüfen und Scheingewinne zu wirklichem Besitz zu machen. Rein kunsttheoretisch weiß man zugleich den Entwicklungsgewinn des Auslandes zu nutzen, jedoch wiederum in der Weise, daß man die als fruchtbar empfundenen Anregungen dem jugendlich kraftvollen eigenen Kunstwollen angleicht und anverwandelt, nicht ohne sie in entsprechendem Maße abzuwandeln und umzudeuten. Neben der allgemeinen Kulturkritik und dem Naturkultus J. J . R o u s s e a u s , dessen Kulturpessimismus jedoch nicht nur durch Herder seine weitgehende Abwandlung und erneute Umbiegung in einen entwicklungstheoretischen Kulturoptimismus erfährt, wobei der Wert des Ursprünglich-Urtümlichen (das an die

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Stelle des Primitiven tritt und dem Volkstümlichen nahesteht) nicht zur Anzweiflung kultureller Werte dient, sondern zur verjüngenden Blutauffrischung und gesundenden Kräftigung der Kulturwerte im aufbauenden Sinne, so daß nicht das „Zurück" zur Natur den Akzent trägt, sondern das Durch-die-Natur-Hindurch und Durch-die-Natur-Empor zu einer neuen Umwertung mißbrauchter Kulturwerte — : neben derartigen allgemeinen Anregungen hinsichtlich des allgemeinen Lebensgefühls bringt den spezifisch für die Dichtkunst entscheidenden Einbruch des Originalitätsgedankens unter teilweiser Einbeziehung des Organismusgedankens E d w a r d Y o u n g mit seinen „Conjectures on Original Composition" (London 1759), die unmittelbar darauf ins Deutsche übertragen werden als „Gedanken über die Originalwerke" (Leipzig 1760). E. Youngs Sendschreiben bedeutet keinen scharf abgehobenen Neueinsatz innerhalb der englischen Kunsttheorie. In den „Conjectures on original composition" erreichte vielmehr die schon über eine längere Zeitspanne hinweg fortgeführte Auseinandersetzung über den Musterwert der Alten und Modernen (Beschränkung auf die Nachahmung der Alten oder Erwerben einer Eigengeltung und eines eigenständigen Vermögens durch die Neueren, entsprechend dem „Querelle") letztlich nur einen besonders deutlich sichtbaren Höhepunkt. Auch innerhalb der eigenen Entwicklung Youngs sind gewisse Vorstufen zu verzeichnen; so etwa kann Youngs wesentlich früher liegender „Discourse on Ode" (1728), wenn auch im beschränkten Grade als vorbereitender Ansatz gelten. Die Genievorstellung Youngs sieht Genialität in einem klaren Gegensatz zum regelkundigen Kunstverstand. Aber so sah schon der noch ganz junge Lessing etwa ein Jahrzehnt vorher das Genie, das „durch sich" selbst und „ohne Regel groß" werde; und damals (etwa 1749) stand nicht Young, höchstens Pope hinter derartigen Äußerungen. So radikal, wie gelegentlich Youngs Meinungen dargestellt werden, sind sie in Wirklichkeit kaum. Und wer die frühere Poetik überschaut, wird sie auch nicht in allen Stücken als neuartig empfinden. Aufklärerische Restbestände sind ganz unverkennbar, so etwa hinsichtlich der moralpädagogischen Einstellung und der moralischen Zweckbindung des Dramas, die bei Young durchgängig aufrechterhalten wird und ihn insofern nahe an den Dramaturgen Lessing heranrückt. In Einzelvorstößen, z. B. in vertraulichen Privatbriefen, wo er an dem Sinn des Theaters als

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„Tugendschule" grundsätzlich zweifelt, stößt schon Lessings Dramentheorie über Young hinaus vor. Dies nur als Einzelbeispiel, neben dem manche andere (z. B. Mendelssohn) stehen. Denn das Neuartige in Young wird durchweg zu sehr vom Standort des Sturmes und Dranges her gesehen unter zu starker Vernachlässigung der Leistungen, die schon die Poetik und Kunsttheorie der Aufklärer und der Auflockerer aufzuweisen hat. Der schlagwortartige Titel des Sendschreibens Youngs förderte naturgemäß den Eindruck einer schlechthin revolutionären Programmatik. Aber hinsichtlich der entwicklungsgeschichtlich bedeutsamen Loslösung der Dichtkunst von der moralischen Zweckbindung wird man — ganz abgesehen von Mendelssohns „theatralischer Sittlichkeit" — beim jungen Herder, beim jungen Goethe und bei Wilhelm Heinse weit mehr Revolutionäres antreffen als bei Young und auch Vorwärtsweisenderes als z. T. bei Mercier, dessen späterer Einsatz dennoch nicht den vorherrschenden moralpädagogischen Grundsatz überwunden hat. Für Young — und auch das war nicht neu — kann Gelehrsamkeit und entsprechender Kenntnisreichtum zwar als geistig ausweitend förderlich mitwirken beim Zustandekommen eines Kunstwerkes, ist jedoch keineswegs eine unentbehrliche Vorbedingung. Shakespeare war nicht gelehrt; aber „das Buch der Natur und das Buch des Menschen" waren ihm innig vertraut. Und eben dieses Erkennen und Erleben der Natur und der menschlichen Wesensart sollte zu den rechten und reinen Quellen hinführen, aus denen die „Ströme der Original-Kompositionen" sich ergießen und erschließen. Das Außerordentliche und Neue — auch diese Forderung hat ihre Vorgänger — ist zugleich das Vortreffliche, wenn es auch häufig verkannt wird, weil es zu hoch über das begrenzte Gesichtsfeld der „schwachen Augen", die nur das Alltägliche erfassen, hinausragt und zu weit seitab liegt vom vielbegangenen Wege des Üblichen. Durch bloße Nachahmung dagegen würde sich das Genie erniedrigen. Am tiefsten wohl hat sich den Stürmern und Drängern die erlösende Wendung eingeprägt: „Regeln sind wie Krücken, eine notwendige Hilfe für den Lahmen, aber ein Hindernis für den Gesunden. Ein Homer wirft sie von sich . . . " . Und doch griffen tiefer als die Bekundungen der Regelfeindschaft gewisse Hinweise auf den Organismusgedanken, Vorstellungen wie etwa die, daß ein wirkliches „Original" in seiner ganzen Anlage und seinem geistig-seelischen Verhalten „etwas von der Natur der

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Pflanzen an sich hat", indem dieses Eigenständige und Eigenwüchsige, ohne durch die „Kunst getrieben" zu werden, „selbst aus der belebenden Wurzel des Genies" aufsprieße und „selbst wachse". Zwar auch Samuel Johnson (Shakespeare-Ausgabe mit ausführlicher Vorrede, 1765) brachte ein Vergleichsbild aus der organischen Natur, wenn er Shakespeares Werke mit einem Mischwald aus Eichen und Kiefern, in dem auch das Dornengestrüpp nicht fehle, verglich. Aber der Organismusgedanke setzte sich dabei nicht durch; denn Johnson dachte mehr an die Wirkung des fertigen Werkes und weniger an das schöpferische Werden und das pflanzenähnliche Wunder des künstlerischen Schöpfungsvorganges. Shakespeare wird als „Originaldichter" natürlich auch von Young den „größten Genies" zugeordnet. Aber was Young von der scharfen Natursicht und Menschenbeobachtung Shakespeares aussagte, das hatte schon vor ihm Pope in der V o r r e d e zu seiner S h a k e s p e a r e - A u s g a b e (1725), die zudem durch Wielands Übersetzung in Deutschland leicht zugänglich war, ebenso eindringlich ausgesprochen. Doch sind die rückwärtigen Verbindungen mit der englischen Shakespeare-Deutung über Pope, W a r b u r t o n , J o s e p h W a r t o n („Essay on the genius and writing of Pope", I. Teil 1756) S. J o h n s o n , Y o u n g , Home, Hurd und die L a d y Montague (als „Versuch über Shakespeares Genie und Schriften in Vergleichung mit den dramatischen Dichtern der Griechen und Franzosen" 1771 von J . J . Eschenburg übersetzt) von der Sonderforschung über Herders Verhältnis zum Drama (mit Bezug auf den Shakespeareaufsatz Herders) hinreichend berücksichtigt worden. Grundlegend bleibt Youngs Abhebung Shakespeares als eines hervorragenden Trägers originaler Kunstgesinnung der Neueren von der Dramaturgie des Sturmes und Dranges. Die Ebenbürtigkeit versinnbildlicht Young gern durch die Bruder-Metapher. So, wenn er mit Bezug auf die Griechen die Stellung des großen Briten klarstellt: „Shakespeare ist nicht ihr Abkömmling, sondern ihr Bruder". Schon Lessing lehnte an Young die Formel von Shakespeare als „Bruder des Sophokles" an. Diese Vorstellung klingt noch mit, wenn Herder im Shakespeare-Aufsatz Aristoteles damit einverstanden sein läßt, daß Shakespeare die Wände des Kunsttempels mit Freskogemälden schmückt, während Sophokles die Altarbilder malt. Als Nachwirkung von Young kann weiterhin die Abwehr des vermeintlichen Wertes von „Zierraten" im Kunst-

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wollen des deutschen Sturmes und Dranges angenommen werden, die durchweg begegnet (Herder, Lenz, Moser u. a.). Nach alledem kommt dem Sendschreiben Youngs an Richardson von 1759 eine hervorragende, gerade auch aus anderen englischen Anregungen hervorragende Bedeutung im entwicklungsgeschichtlichen Umwertungsvorgang zu. Dennoch darf nicht übersehen werden, daß bereits in Deutschland innerhalb der P o e t i k des B a r o c k u n d der F r ü h a u f k l ä r u n g m a n c h e r l e i A n s ä t z e und V o r f o r m e n des O r i g i n a l i t ä t s g e d a n k e n s zu beobachten waren (vgl. Bd. I), daß — um nur ein Beispiel in Erinnerung zu rufen — bereits die B r e s l a u e r A n l e i t u n g von 1725 die Überzeugung ausgesprochen hatte: „Unverhoffte Gedanken aber erfindet die Seele selbst", daß zudem die Entwicklung des Geniegedankens schon in den vierziger und fünfziger Jahren in verheißungsvollem Fluß war. Weniger an die Sonderabhandlungen T r e s c h o s , R e s e w i t z e n s und F l ö g e i s wäre dabei zu denken als an die frühe Genieabhandlung Sulzers und an Vorstöße, wie sie bei dem frühen Lessing, aber auch Nicolai und später bei Mendelssohn u. a. anzutreffen sind. Hamanns „Sokratische Denkwürdigkeiten" (1759), die den Ablösungskampf gegen die Vorherrschaft des Rationalistischen aufnehmen, liegen in demselben Jahre und nur sehr wenig später als Youngs „Conjectures" und übertragen die Genievorstellung bereits auf wissenschaftliches und darüber hinaus auf ästhetisches Gebiet. Denn sie betonen, daß das Genie bei Homer oder Shakespeare die „Unwissenheit der Kunstregeln" und sonstiger „kritischer Gesetze" wettmache und als Ausgleichswert sie „ersetze". Für die Lyrik und ihre Annäherung an den teils bardischen, vor allem aber den ursprünglichen und volkstümlichen Typus gingen starke Anregungen aus von J . M a c p h e r s o n s f i n g i e r t e r „ O s s i a n " — S a m m l u n g (i76of.), H. B l a i r s „Critical Dissertation on the Poems of Ossian" (1762) und Th. P e r c y s „Reliques of ancient English Poetry" (1765), Anregungen, die besonders bei Herder und Bürger fruchtbar werden. Wie für die Neudeutung der Lyrik mancher Zugang erleichtert wurde durch die Ossian-Sammlung, die Begleitaufsätze Macphersons und vor allem die Ossian-Abhandlung Hugh Blairs, so erfährt die spätere Ausprägung der geniezeitgemäßen N e u d e u t u n g d e s D r a m a s manche Förderung durch S é b a s t i e n M e r c i e r , der sich selbst im Drama versuchte und später durch seine Sittenschilde-

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rangen, sein Pariser Sittenbild („Tableau de Paris") besonders bekanntgeworden ist. Mercier kommt mit seiner mehr dramenkritischen als dramentheoretischen Sonderschrift „Du théâtre ou nouvel essai sur l'art dramatique" (1773, übersetzt von H. L.Wagner 1776), die scharf gegen den französischen Klassizismus vorstößt, im deutschen Sturm und Drang fraglos zur Einwirkung. Aber wie Herder gegenüber Blair in Ossian den Naturdichter, nicht den Kunstdichter sieht, also eine entscheidende Umdeutung vornimmt, so auch weicht Lenz bei seiner mehr programmatischen als theoretischen Dramaturgie überall dort von Mercier ab, wo Mercier in der moralpädagogischen Bahn der Aufklärung verharrt. Einzelzüge wie die Gegenüberstellung des gekünstelten französischen Gartens mit dem als zwanglos-naturhaft empfundenen englischen Garten in Parallelsetzung zu den entsprechenden Dramentypen mögen durch Mercier vorgezeichnet oder doch verstärkt worden sein. Für die Einwirkung auf das Kunstschaffen kam Mercier zu spät ; 1773 lag schon der „Götz" Goethes in zweiter Fassung vor. Vollends sein „Nouvel examen de la tragédie française", das er im größeren Rahmen „De la littérature et des littérateurs" (1778) anstellt, konnte kaum noch aktiv in die deutsche Entwicklung eingreifen, ebensowenig wie seine späteren „Satyres contre Racine et Boileau" (1808). Sie sind jedoch symptomatisch für seine Grundeinstellung, die sein „Essai sur l'art dramatique" klar vorzeichnet. Unter den vorromantischen Angriffen auf die klassische Tragödie in Frankreich selbst kommt fraglos Mercier eine hervorragende Geltung zu. Bereits im Essay von 1773 erhebt er gegen Corneille und Racine den Vorwurf, daß ihnen „une verve originale" fehle, daß sie es unterlassen hätten, statt das antike Drama nachzuahmen eine neue auf ihr Volk bezogene Dramenform („relatif à la nation devant laquelle on parle") zu schaffen. Die rigorose Forderung der Einheiten verwirft er und fordert zum mindesten Auflockerung: die Zeiteinheit ist auf etwa drei Tage auszudehnen. Von einem rücksichtslosen Sprengen der Einheiten im Sinne des deutschen Sturmes und Dranges, etwa in Goethes Rede zum ShakespeareTag von 1771 oder auch bei Lenz (1774) kann bei Mercier, der in diesen Punkten kaum weiter geht als andere französische Gegner und Kritiker des klassischen Dramas vor und neben ihm, nicht ernstlich gesprochen werden. Seine Haltung gleicht im ganzen etwa der unserer Auflockerer, mit denen er die moralische Zweckbindung teilt, nur eben daß seine Regelfeindschaft unverhüllter zu-

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tage tritt und seine Loslösung von Aristoteles als Befreiung vom Autoritätsdruck begrüßt wird. Daß das Prometheus-Symbol von S h a f t e s b u r y hergeleitet werden kann, ist hinreichend bekannt, auch daß die „schöne Seele" in der empfindsamen Strömung des Sturmes und Dranges weitreichend Vorbildkraft erlangt. Was aber die kraftgenialische Richtung der Geniezeit von der „schönen Seele" meint und mit dem Terminus „schöne Seele" meint, hat einmal die Nebengröße des Sturmes und Dranges A. M. S p r i c k m a n n so umschrieben: „Dichtkunst soll schöne Seelen schildern, und die Stimmung, die eine Seele schön macht, ist Kraft, L e i d e n s c h a f t . . . " (Dt. Museum 1776). Kraft, Leidenschaft hätten bei Shaftesbury schwerlich als Bildungsmächte der „schönen Seele" voranstehen können. Wesentlicher wirkte nicht nur im Rahmen der Zeichenlehre (letztlich der Lehre vom Materialstil und Darstellungsstil der verschiedenen Künste) die Anregung, die von dem Neffen Shaftesburys J a m e s H a r r i s ausging. Harris' „Three treatises, the first conceming art, the second conceming music, painting and poetry, the third conceming happiness" (London 1744, übersetzt 1756) gelangten erst beim Herder der „Kritischen Wälder" zur vollen Auswirkung. Der „Discourse of music, painting and poetry" kommt nicht zum wenigsten durch den Energie-Begriff in Betracht, den Herder gegen den Handlungsbegriff Lessings (und zwar den Handlungsbegriff des „Laokoon", nicht der Fabelabhandlungen) ausspielt. Der junge Herder kennt auch D a n i e l W e b b , dessen „Observations on the correspondence between poetry and music" (1762) neben Harris seine Position gegenüber Lessing verstärken konnte. Herder hat sich eingehender mit D. Webb beschäftigt (als R. Haym anzunehmen scheint), was angesichts des Herderschen Gedankens und Wunsches, auch einen „Laokoon" zur Abstufung von Poesie und Musik geschrieben zu sehen, und angesichts der gefühlsmäßigen Bewertung der Musik als Ausdruckskunst nahelag. Aus Beziehungen zu Raphael Mengs erwuchs Webbs „Versuch über das Schöne in der Malerei", der indessen bereits in gewissem Grade auf die Klassik vorausweist. Webb fördert die Entwicklung zum Subjektiven und wehrt die Annäherung an die Malerei (Beschreibung) ab zugunsten einer Annäherung der Dichtkunst an die Musik. Seine Bedeutung als „Überwinder" der Mimesislehre in der Reihe der Harris, Young, Lowth ist dagegen von der Sonderforschung überschätzt worden. Überhaupt war die Naturnachahmungslehre in 21 M a r k w a r d t , Poetik II

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den sechziger Jahren bereits weitgehend aufgelockert. Seit 1772 nennt Herder Franz Hemsterhuis, seit 1772 beschäftigt ihn (z. T. gemeinsam mit Boie) das Bemühen um eine Hemsterhuis-Übersetzung. Von anderer Seite ist der verläßliche Nachweis einer Linie Vico — Blackwell—Hamann —Herder in Aussicht gestellt worden, wobei als Zwischenglied zwischen Giambatista Vico einerseits und Hamann-Herder andererseits Jean Le Clerc in Betracht gezogen wird. Bei der reichen Verflechtung kunsttheoretischer Gedanken wird wohl kaum allzu viel gewonnen, wenn man irgendeine Kette als besonders erheblich herauslöst. Die Vico-Renaissance in der Forschung scheint nachgerade im Abblühen begriffen zu sein. Sie hat weniger Früchte getragen als die fraglos berechtigte und ertragreiche Shaftesbury-Renaissance. Es ist das gute Recht der Forschungsfreude und Finderfreude, neue Funde ein wenig überzubewerten; daraus erklärt sich das Anschwellen und Abebben derartiger „Renaissancen" innerhalb der Forschung. Für den jungen Goethe wird Cudworth als Einfluß-,, Quelle" neuerdings groß herausgestellt. Ob nun daraus eine Cudworth-Renaissance entstehen wird oder ob in Richtung Hamann-Herder gar eine Ducerceau-Renaissance („Réflexion sur la poésie française 1742) im Anlaufen begriffen ist, kann zur Zeit noch nicht entschieden werden. Bei näherem Zusehen ergibt sich nicht selten, daß derartige „Einflüsse" bestenfalls das Finden einer brauchbaren Terminologie erleichtern, nicht aber das Finden der entscheidenden Ideen bewirken. Was zur Klärung von Ideen beiträgt, indem es sie formulieren hilft, bietet noch keine Erklärung für das Herkommen der Ideen und den Wuchsgrund für derartige „übernommene" Ideen und für das ganze Lebensgefühl, das sie wurzeln und wachsen läßt. Wesentliche Anregungen und Abwandlungen mögen an entsprechender Stelle bei der Würdigung der einzelnen Programmatiker des Sturmes und Dranges noch kurz berücksichtigt werden. Nur eine spätere englische Einwirkungsquelle mag hier noch kurz angedeutet sein durch Hinweis auf R. W o o d s „Essay on the original genius and writings of Homer" (1769, übersetzt 1773) und G e r a r d s erst recht spät herausgebrachten „Essay on Genius" (1774), der jedoch etwa gleichzeitig mit Youngs „Conjectures on Original Composition" entstanden sein dürfte. Beim Bewerten all dieser Einflüsse ist stets gegenwärtig zu halten, daß sie z. B. einem Gottsched (der Shaftesbury auch zitiert) kaum irgendwie etwas

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Wesentliches geboten haben würden, d. h. um „einfließen" zu können, mußte eine entsprechende Bereitschaft im deutschen Kunstwollen selbst gegeben sein. So daß man am Ende doch wieder darauf angewiesen bleibt, dieses Kunstwollen des deutschen Sturmes und Dranges aus sich selbst zu verstehen und zu deuten. Die gewiß fruchtbaren Zuströme ermöglichen nicht erst dieses Kunstwollen; aber sie erleichtern seine Ausprägung. Etwas vom Manifestartigen und Programmatischen der Geniezeit verbindet sich mit dem Bündischen einer weltanschaulich bestimmten Jugendgruppe im G ö t t i n g e r D i c h t e r b u n d des „ H a i n s " . Schon in der Wahl dieses Kennwortes liegt ein Stück Programm und Leitidee. Denn der deutsche Dichter-Hain sollte sich vom „Parnaß" der Alten abheben. Die negativen Begrenzungen und die kämpferischen Absetzungen werden herausgestellt in H ö l t y s Gedicht „Der Bund", das alles abwehrt, was die Ideale des Vaterlandsgefühls, des Liebes- und Freundschaftsgefühls irgendwie zersetzen oder auch nur verletzen könnte. M e n s c h e n w ü r d i g u n d v o l k s w ü r d i g z u g l e i c h soll die D i c h t u n g sein. Leidenschaftlich verworfen werden Lieder und Dichtungen, „welche Deutschland schänden". Und Joh. Martin Miller wendet in seinem „Bundeslied" denselben Gedanken ins Positive eines Aufrufens zu einer volkswürdigen dichterischen Leistung: „Durch deutsche Lieder mache / Sich jeder seines Landes wert!" Die Grundeinstellung ist dabei jedoch nicht rationalistisch, sondern kulturpatriotisch. Die k u l t u r p a t r i o t i s c h e B e d e u t u n g des K u n s t w o l l e n s im Göttinger „Hain" verstärkt sich weiterhin dadurch, daß eine Ausprägung des deutschen Nationalcharakters im Dichtwerk gefordert wird und daß instinktiv mehr — und Klopstocks Leitung sich anvertrauend — die Untergründe dieses Nationalcharakters gesucht werden in einer germanischen Frühzeit, so unklar verschwommen die Umrisse jener Vorwelt der Ahnen sich auch vor den schwärmerischen Augen der Hain-Bündler abheben mochten. Den Überschwang dieser jugendlichen Begeisterung hat man vielfach bespöttelt. Und sie war fraglos dem Mißbrauch ausgesetzt, war auch im Ansatzpunkte recht ungesichert und unglücklich, weil man die jahrhundertalte Verwechslung von Barden und Skalden (vgl. Bd. I), beibehielt und neu auffrischte. Selbst diese Übersteigerung fügt sich durchaus organisch in die geniezeitgemäße Haltung ein. Zugleich wird im Göttinger „Hain" das V e r a n t -

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w o r t u n g s g e f ü h l persönlicher W ü r d e und Weihe des D i c h t e r t u m s geweckt. Ehrfurcht, dem „witzigen" Aufklärer und „scherzhaften" Rokokodichter vielfach entfremdet, wird willig gehegt und von jedem verlangt, dem „anvertraut ward heiliger Genius". Das Ehrenattribut „heilig" wächst seit Pyra an Anwendungsweite, ist jedoch auch streckenweise bereits damals dem Mißbrauch ausgesetzt. Das Verpflichtende der Gabe wird lebhaft und tief empfunden. Joh. H e i n r i c h V o s s hat z. B. in den Versen „Die Bundeseiche" den „heiligen Genius" noch vertiefter zu erfassen und zu umschreiben versucht, indem er nicht allein den religiösen Wirkungswert („Lehrer der Frömmigkeit"), sondern auch die Wechselwirkung von „Gesang und Hochtat", von Gestalten und Verhalten, einem echten und wertwilligen Dichtertume zuweist. Die Haltung nimmt neben kaum verdeckten aufklärerischen Restbeständen wie etwa: das Ordnungsideal („Lehrer d e r . . . Ordnung") oder das strenge Moralprinzip („schamhaft") unverkennbare Kriterien der Geniezeit mit hinein wie Freiheitsbegeisterung („der Freiheit Schwung") und Abwehr der ständischen Mächte („unbiegsam dem Ansehen"). Kämpferischer verdichten sich die geniezeitgemäßen Einsprengungen in Vossens „Bundesgesang" mit dem stolzen Verschmähen der Fürstengunst. Ganz abgesehen von der bereits von Lessing u. a. vorbereiteten Abwehr der Franzosennachahmer. Der moralpädagogische Zug bleibt stark, wenn als Ideal neben allen jenen Wesensmerkmalen des erstrebten Dichtertypus dennoch der ,,Tugendgesang" erscheint. Doch ist zu berücksichtigen, daß „Tugend" auch Verhaltungsweisen der politischen Gesinnung umspannte und auf das Männliche ausgerichtet war. Die Verweichlichung, wie sie streckenweise im Kunstschaffen empfindlich spürbar wird, entsprach nicht — zum mindesten in dem Grade nicht — dem zielsetzenden Kunstwollen, war indessen innerhalb des Rahmens der Musternachahmung (Klopstock) weitgehend vorgebildet. Der Tugendbegriff des „Hains" weist bei alledem mehr zum Politischen und Religiösen hinüber als der Tugendbegriff der Aufklärung, der zwar auch Ansätze in jene Richtung erkennen, aber weniger im Kunstwollen sich ausprägen läßt. Die Tugend Vorstellung wird mehr gefühlsmäßig erlebt, während sie in der Aufklärung mehr verstandesmäßig erkannt wurde. Entsprechendes gilt vom „Tugendgesang", der zugleich ein gut Teil Kampfgesang gegen die Rokokogeistigkeit in sich barg.

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Verhältnismäßig weit ragt eine Gruppe von Abhandlungen F r i e d r i c h L e o p o l d v o n S t o l b e r g s in die Poetik und Schöpfungsästhetik der Geniezeit hinein, und zwar schon von ihrer Gestaltungs- und Vermittlungsweise her. Denn der manifestartige, in sich bereits dichterisch gesteigerte Stil wird von den Stürmern und Drängern gleichzeitig mit manchem ideellen Zuge in der Haltung und manchem idealen Zuge im Fordern herü.bergenommen. Die schwärmerische Betrachtung und begeisterte Ereiferung „ U b e r die F ü l l e des H e r z e n s " (1777) führt den aufklärerischen Tugendbegriff hinüber in den Bereich des Gefühlsstarken, des „Herzens" und der Herzhaftigkeit. Alles Gute, alles Tugendhafte, das ein Mensch aufzuweisen vermag, verbindet sich in dem Urteil: „Er hat viel Herz". Gefordert werden Freiheit und Einfalt der Sitte, edle und würdige Antriebe und Auftriebe. Bemerkenswert erscheint es, daß Stolberg in einem zugleich volkskundlich interessanten Aufsatze edle Einfalt und Herzlichkeit zu den Merkmalen des deutschen Nationalcharakters rechnet. Überall klingen geniezeitgemäße Leitworte und Leitwerte auf, ob nun vom „marklosen Jahrhundert", vom Zermalmen des „Drängers" (im Sinne von Tyrannen) durch den freiheitstrunkenen Jüngling, vom „Starkempfindenden" geschwärmt und geeifert wird, ob der nicht nur von J. J. R o u s s e a u her vertraute Ruf „ 0 Natur! Natur!" hinführt zu dem Ertrag: „Das Herz kränkelt in der Stadt", ob das Prometheussymbol Shaftesburys das Sichentzünden an der Naturschönheit umschreiben hilft oder das Schwelgen im „göttlichen Plutarch" die Größensehnsucht angesichts der „Edeltaten der Vorzeit" erwecken soll. Entscheidend ist stets das E r l e b e n a u s der F ü l l e des H e r z e n s heraus. Es vermag selbst die Wissenschaften fruchtbar zu durchregen („seelenerhebende Regungen"), die also nicht so weitreichend wie von Rousseau und manchem Stürmer und Dränger verurteilt werden, sondern nur so weit, wie der Protest gegen eine lebensferne, sterile Wissenschaft reicht. Gegenüber dem aufklärerischen Willen zur Analyse und zur Klassifikation setzt sich ein gewisses Gefühl für das Organische und Ganzheitliche aller Lebensäußerungen im Sinne der Organismusästhetik durch. Das W e s e n der D i c h t k u n s t berührt dieses allgemein eingestellte Manifest nur beiläufig, doch so, daß in der Eingangsfrage etwas mitschwingt von der Scheu des Sturmes und Dranges, überhaupt kunsttheoretische Aussagen zu machen, und andererseits wohl vom Göttinger „Hain" her in der Betonung der

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„Einfalt" schon Teilkräfte fühlbar werden, die in gewisser Weise und in keimhaften Ansätzen auf die Klassik hinausweisen: „Was soll ich von Dir sagen, göttliche Dichtkunst ? Du entströmst der Fülle des Herzens und bietest die süßen Trunkenheiten deines Nektars reinen Herzen an. Du erhebst das Herz auf Flügeln des Adlers und bildest es zu allem, was groß ist und edel. Groß und weit ausgebreitet ist deine Macht; du bist die Tochter der Natur, hehr und sanft und groß und wahr wie sie in angeborner Einfalt! Du fleugst gen Himmel, nimmst Flammen vom Altare, wärmest und erleuchtest das Menschengeschlecht!" Während dergestalt zugleich aus der Welt Klopstocks und des „Hains" religiöse Vorstellungen und Empfindungen sich mit dem Prometheussymbol verbinden, mischt sich noch das alte Rechtfertigungsbedürfnis der Dichtkunst ein mit dem Hinweis auf die „Inbrunst", mit der schon die „Weisen des Altertums" die Dichtkunst verehrt hätten. Auch die Humanitätsidee klingt an in der Wendung vom Erleuchten des Menschengeschlechts. Die ehrfürchtige Scheu vor der Aussage über das Geheimnis der Dichtkunst erhält sich nicht mit aller Strenge, sondern gibt dem Bedürfnis, eine Deutung bieten zu können, auch bei Fr. L. v. Stolberg nach in den Aufsätzen „ V o m D i c h t e n u n d D a r s t e l l e n " (1780) und „Über die Ruhe nach dem Genuß und ü b e r den Z u s t a n d des D i c h t e r s in d i e s e r R u h e " (1780). Dem Bedürfnis nach Deutung und Andeutung; denn von einem kraftvollen Willen zur Klärung, Erhellung und Durchleuchtung kann nicht gut gesprochen werden angesichts der halb hymnisch ausschwingenden Darstellungsform dieser kurzen Manifeste. Das Wesentliche läßt sich jedoch selbst aus der Pathetik und einer entsprechend dunstigduftigen Hülle klar erkennbar herausheben. Daß nämlich die Deutungsversuche hingerichtet sind auf den Schöpfungsvorgang im R a h m e n e i n e r g e n i e z e i t g e m ä ß e n S c h ö p f u n g s ä s t h e tik. Die Wirkung auf den Aufnehmenden dagegen, die in der Aufklärung und in der Wirkungsästhetik der Auflockerungsepoche das vorwiegende Interesse auf sich gesammelt hatte, tritt durchaus zurück. Einmal ist es die Erhobenheit des Konzeptionsvorganges („dichten") und die Umsetzung in das Gestalten („darstellen"). Zum anderen geht es, im zweiten Essay, um die geeignete, schöpferisch triebkräftige Konzeptionsstimmung aus unmittelbarer Erlebnisnähe heraus, die dennoch einen gewissen Erlebnisabstand fordert, eben das, was Stolberg als den „Zustand des Dichters" in

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der „Ruhe nach dem Genuß" bezeichnet und was etwa dem abklingenden Erlebnis gleichkommt. Löst man die Reihenfolge der beiden Aufsätze auf, so ergibt sich also ein schrittweises Verfolgen des dichterischen Schöpfungserlebnisses: der, .Zustand" der rechten Konzeptionsstimmung, der Konzeptionsvorgang selbst und das gestaltende Formfinden, alles Teilkräfte des Schöpfungsvorganges. Und die etwas weichliche und süßliche Einkleidung läßt doch jene Kernwerte bestehen, die fraglos ihre wesentliche Substanz von der empfindsamen Seite des Sturmes und Dranges entlehnt haben. Ebenso bestätigt sich der Zustrom von Klopstock her, der sich vertiefend mit biblischen Zuflüssen mischt. Die Dichtung wird nicht als „Nebenwerk" gerechtfertigt, sondern Stolberg versucht ihre „arbeitslose" Leistung aus der Begnadung des gleichsam „fruchtbarsten Augenblicks" (für den Dichter, nicht für den Maler) abzuleiten: „Solche Augenblicke sind für die Seele des Dichters fruchtbare Augenblicke der Empfängnis. In solchen Augenblicken werden die meisten Ideen hervorgebracht, welche zuweilen gleich Gestalt annehmen, zuweilen lang nachher in Worte sich hüllen". Ein wenig selbstgenießerisch wirkt dieses Herausstellen der schöpferischen Ruhe nach dem „Genuß", der eigentlich mehr Seelenerregung im Sinne der E m o t i o n s ä s t h e t i k meint. Einiges davon wirkt in dem anderen Aufsatz nach, wenn etwa gesagt wird: „Empfangen ist süßer als Gebären; Dichten süßer als Darstellen". Aber die Eignung der deutschen Dichtersprache, von Stolberg nach altem Brauch der Poetik kulturpatriotisch hervorgehoben, erleichtert und ermöglicht das Darstellen. Und dieses Darstellen bringt erst dem Dichter die letzte Selbstgewißheit seines Dichtertums. Erst die Formsetzung zwingt das überirdisch Schöne auf die Erde herab und läßt aus dämmerndem Traum ein Stück Wirklichkeit werden. Die Eingebung aus Himmelshöhen wird dabei bevorzugt gegenüber dem dämonischen Beschwören aus geheimen Tiefen. Die strahlenden Erscheinungen locken mehr als die abenteuerlichen „Und wer wäre nicht lieber Endymion als Faust?". Klopstock und Goethe werden herangezogen. Auch die Namen Ossian und Rousseau fallen bedeutsam. „ Ü b e r die B e g e i s t e r u n g " , und zwar vorwiegend über die dichterische Begeisterung, schwärmt ein weiterer Aufsatz (1782), der den „furor divinus" der Alten merklich in den christlichen Vorstellungsbereich überträgt. Eine Zusatzbemerkung nimmt „nur flüchtige Gedanken" für diesen wiederum hymnisch auf-

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gesteilten Aufsatz in Anspruch. Aber es sind Gedanken, die um die schöpferische Antriebskraft kreisen, die den D i c h t e r als S e h e r in eine gewisse ehrfurchtsvoll und behutsam begrenzte Gottnähe rückt. Es sind geniezeitgemäße Gedanken, die das „himmlische Antlitz der Natur" versperrt sehen durch die „Mauern der Stadt" und verfälscht sehen durch das „Blendwerk des Hofes", die eine von dem Franzosen Dorat für die deutsche beschreibende Dichtung anerkannte Naturnähe mit Stolz aufnehmen, die jedoch von einem rokokohaft französierenden Stutzertum und vom französischen „Académicien" energisch abrücken. Der Weg der Musterpoetik (Vorbild-Poetik) ist vorgezeichnet durch Namen wie Shakespeare, Ossian, Homer, Milton, Dante und vor allem wieder durch Klopstock, der begeistert gefeiert wird. Geniezeitgemäß wirkt, wenngleich in der Auflockerungsgruppe von Baumgarten, Lessing, Sulzer u. a. vorbereitet, das Abgrenzen von Dichtertum und Denkertum: „Diese Kraft (Begeisterung) ist es, welche den Dichter zum Seher macht. Der Philosoph ist Forscher". Geniezeitgemäß wirkt der Vorstoß gegen die „Mauern des Vorurteils", und vor allem gegen abstrakten, ertüftelten, „törichten Ideentand". Vorurteil und „Ideentand" hemmen und lähmen die Begeisterung. Der Dichter hat nicht ängstlich die Begeisterung zu dämpfen und nicht ihre machtvollen Schritte, die zugleich den Dichter treiben und tragen, etwa pedantisch zu gängeln wie z. T. in der Aufklärung. Denn nur ,,zu seinem Schaden" würde sie sich vom Schaffenden „lenken" lassen. Mit dem „Ideentand" sind indessen nicht die großen ewigkeitshaltigen, sind nicht die „feuerfangenden Ideen" gemeint, die in den edlen Herzen zünden und sie zu edlen Taten entzünden. Merkmal der echten schöpferischen Begeisterung ist — hier könnte Lenz anklingen — der „schnelle Blick, welcher dem Begeisterten richtige Verhältnisse zeigt, ehe er sie berechnen kann", ist weiterhin — und hier klingt vielleicht Herder an — „schöpferische Kraft". Das für den Geniebegriff — allerdings nicht erst der Geniezeit — wesentliche Kriterium der Schnelligkeit wird wohl auch in einem von Herder her vertrauten Vergleich mit der Elektrizität umschrieben. Bemerkenswert bleibt, daß Stolberg die deutsche „Begeisterung" nicht gleichgesetzt wissen will mit dem „Enthousiasme", aber auch nicht mit der „Inspiration". Offenbar will er mit „Begeisterung" zugleich das Begeistertsein und das Begeisternde zusammenreißen. Und so gelangt er an dieser Stelle zu einer gewissen S y n t h e s e v o n

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S c h ö p f u n g s ä s t h e t i k u n d W i r k u n g s ä s t h e t i k . Die Auftriebskraft des Schöpferischen wird verläßlich gerade daran erkannt, daß sie ihrerseits auf den Kunstwert-Aufnehmenden als Antriebskraft begeisternd, mitreißend und anspornend einwirkt: „Der Begeisterte wirket auf andre; von seiner Flamme schimmert das Antlitz vieler; einige entzünden sich an ihr. Indem die Begeisterung auf ihren Flügeln Einen (den Dichter) erhebt, wehet sie in ihrem Fluge tausend an". Begeisterungsfähigkeit ist nicht anerziehbar und poetische Begeisterung nicht von Dichterlingen krampfhaft erzwingbar. Sie will als Geschenk dem Begnadeten zufallen. Sie vermag in der Wirkung aber selbst „kalte Seelen" zu ergreifen und zu packen mit ihrer bannkräftigen Allgewalt. Sie trägt und treibt von der F o r m f i n d u n g im W o r t w e i t e r zur T a t s e t z u n g im g r o ß e n Geschehen. Und in diesem Verstände ist sie aktivierender als der Enthusiasmus: „Der Begeisterte elektrisiert, der vom Enthusiasmus Erfüllte wird elektrisiert. Tyrtäus war begeistert und erfüllte die Spartaner mit edlem Enthusiasmus". Stolberg möchte merklich das großartig Wuchtige und männlich Heroische mit einbeziehen. Schon der Aufsatz „Über die Fülle des Herzens" verwahrt sich gegen die nur „leidende Reitzbarkeit" und „weiche Empfindsamkeit". Indessen drängt ihn eigene Lebensstimmung und wohl vor allem die von Klopstock erhaltene Anregung unverkennbar mehr zur empfindsamen Seite des Sturmes und Dranges, während die kraftgenialischen Äußerungen etwas angenommen und anerlebt wirken. Das betont Starke erfährt immer wieder eine lyrisierende Erweichung durch das „Schmelzende". Die Grundhaltung kann trotz gewisser T e i l a n s ä t z e zur K l a s s i k (besonders in der Wertung der „Darstellung") bei alledem als geniezeitgemäß gelten, und zwar auch im Organismusgedanken oder doch im Bevorzugen der organisch verbundenen Einheit und Ganzheit, wobei die aufklärerische Analyse wieder Abwehr erfährt: „ 0 ihr kurzsichtigen Vernünftler, die ihr alle Begriffe wieder trennen wollt I" Obgleich die Voraussetzungen in darstellungstheoretischem Betracht nicht ungünstig lagen, war Stolberg wie Klopstock der tiefere Zugang zum Kunstwollen der Klassik verschlossen durch die Hemmkräfte, die ihre religiöse Grundeinstellung gegenüber der Weltanschauung der Klassik notwendig einschalten mußte. In gewissem Grade gilt das auch von Gotthard Ludwig (Theobul) K o s e g a r t e n , der, räumlich weit von den Göttingern getrennt, ihnen und ihrem Kunstwollen doch wesen-

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Jiaft und stimmungsmäßig nahestand. Sein Aufsatz „Über die wesentliche Schönheit" (1784) jedenfalls bekundet, wie er auch zeitlich den erwähnten Beiträgen L. v. Stolbergs sich verhältnismäßig eng anschließen würde, jene weihevolle Darstellung und Auffassung der Kunst, die aus dem Klopstockkreise und dem „Hain" vertraut ist. Es mochte mit seinem langjährigen Aufenthalt auf Rügen zusammenhängen, wenn im Einflußbezirk zwischen Joh. H. Voß und Klopstock, zwischen Antike und christlicher Welt dem Zustrom aus mythischen Bereichen willig Raum gegönnt wurde. Die werkimmanente Poetik seines dichterischen Bemühens reicht bei dem Dichter der idyllischen Epen („Jucunde", „Die Inselfahrt"), der Romane und der „Legenden" recht eigentlich von der Aufklärung bis zur Romantik. Die Leitkraft ging doch wohl aus von einem romantisierten Christentum. Eben jene religiösen und spezifisch christlichen Kräfte, die gegenüber dem autonomen Kunstwollen der Klassik gewisse Widerstände und Hemmungen einbauen mußten, bewirkten in der Frühzeit der Organismus- und Schöpfungsästhetik manchen recht bedeutsamen Fortschritt in Kunstgesinnung und Kunstbesinnung. In weit stärkerem Grade als für Stolberg gilt das für Klopstock. Denn während Fr. L. v. Stolbergs Beiträge zeitlich zu spät erfolgten, als daß sie noch wirksam in das Kunstwollen des Sturmes und Dranges hätten eingreifen können, leistete F r i e d r i c h G o t t l i e b K l o p s t o c k eine Vorarbeit, die nachhaltig in die Entwicklung eingriff. Neben der christlich-religiösen (und ihr ebenbürtig an werbender Kraft) war es die nationale Begeisterung, die sein Kunstwollen wie sein Kunstschaffen vorantrug und emportrieb. Und es darf bei der vorbereitenden Ubergangsstellung Klopstocks nicht vergessen werden, daß die Spannweite im Andeuten immanenter Kunstgesetze ihn streckenweise über den Sturm und Drang bereits hinwegschreiten läßt. R e i c h t er d o c h m i t dem „ D a r s t e l lungs"-Begriff und der „Darstellungs"-Forderung g l e i c h s a m s c h o n in die F r ü h k l a s s i k h i n e i n , um d a n n a u s den e r w ä h n t e n G r ü n d e n v o r der H o c h k l a s s i k z u r ü c k z u s c h r e c k e n . Und wenn man bedenkt, daß Klopstocks Poetik auf der anderen Seite so stark mit den Erträgen und auch den kunsttheoretischen Fachwörtern der Wirkungspoetik der Aufklärer und Auflockerer zu arbeiten gewöhnt ist, daß ihn frühere Forschung notgedrungen als Poetiker dem Rationalismus zuordnen zu müssen glaubte, wenn man sich erinnert, daß für den jungen

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Goethe die Poetik innerhalb der „Gelehrtenrepublik" als die „einzige Poetik aller Zeiten und Völker" erscheinen und also als geniezeitgemäß empfunden werden konnte, so wird deutlich, d a ß in K l o p s t o c k s B e i t r ä g e n z u r P o e t i k w e i t e E n t w i c k l u n g s s t r e c k e n d u r c h m e s s e n w e r d e n , die l e t z t l i c h v o n der A u f k l ä r u n g ü b e r den S t u r m und D r a n g h i n w e g bis zur K l a s s i k h e r a n r e i c h e n . Allerdings ist auch der zeitliche Rahmen der kunsttheoretischen Äußerungen recht weit gespannt, etwa von 1745 bis 1780. Dabei ist der Schritt des Theoretikers Klopstock kein Stürmen und Drängen im eigentlichen Sinne des Wortes. Dort, wo ihn die Besinnung leitet, wo er selbst andere zur Besinnung und überdenkenden Betrachtung leiten möchte, kämpft seine Selbstzucht den Hang des Dichters zum Uberschwang merklich nieder. Und vielleicht hat auch diese Selbstzucht seiner Prosaabhandlung Anteil an dem gelegentlich allzu behutsamen Stützungsuchen bei der Auflockerer-Poetik. Dieser Eindruck verstärkt sich weiterhin durch die Beobachtung, daß die kühneren Vorstöße der Kunstgesinnung überwiegend die rhythmisch verdichtete Form bald der Ode, bald des Sinnspruchs bevorzugen, also die dichterische Antriebs- und Schwungkraft brauchen. Fraglos hat Klopstock mit seinem schöpferisch wirkenden Beispiel religiös und national durchregter Gefühlskräfte, mit der schöpferischen Kühnheit seiner Wortgewalt und mit der Schwungkraft des Rhythmischen machtvoller auf die Neubelebung des Kunstwollens eingewirkt als mit seinen kunsttheoretischen Äußerungen an sich. Umgekehrt wie bei Lessing überflügelt bei Klopstock das Dichtschaffen die Wirkung des Theoretisierens, zum mindesten, wenn man als Zielpunkt die geniezeitgemäße Programmatik ansetzt. Und wo die Kunsttheorie der Aufklärer, besonders innerhalb der Auflockerungsepoche Proben aus Klopstocks Dichtung einflicht, da strömt von ihnen stets eine Gewalt gefühlswarmen Erlebens aus, die selbst auf rationalistische Theoretiker ermutigend wirkt. Gewiß gibt es einige, die selbst Klopstocks Anstürmen nicht aus der Ruhe selbstzufriedener Tüftelei wenigstens für Augenblicke hinausdrängt. Aber mehrfach wird doch durch Beispiele in Klopstocks Dichtung aus dem bloßen Nachsprechen der Lehre vom herzbewegenden Wesen der Dichtkunst ein ahnungsvolles Nacherleben. Diese Wirkung, so mittelbar sie immer bleiben mochte, bewährte sehr bald eben das, was dem jungen Klopstock in seiner grund-

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legenden A b s c h i e d s r e d e von S c h u l - P f o r t a (1745) vorgeschwebt hatte, als er die ein großes Beispiel setzende künstlerische Leistung forderte: „O so werde geboren großer Tag, der diesen Sänger hervorbringe!" Wie einst P y r a unter dem Schutze des Pietismus den „Tempel der wahren Dichtkunst" (1738) zu errichten gewagt hatte aus verwandter, auch im Jungsein verwandter weihevoller Lebensstimmung, so und dringlicher in der Stoßstärke seines Impulses will Klopstock den Dichter als Seher, als Künder, als Geweihten. Er will eine zugleich volkswürdige und kunstwertige Dichtung. Er sieht den erhofften Dichter der Zukunft immer als Sendboten eines göttlichen, aber auch eines nationalen Wirkens und Bewirkens, mag er zur rein kunsttheoretischen Stützung dieser ihn tragenden und treibenden Grundüberzeugung gelegentlich auch, wie angemerkt, das Bildungserleben früherer Poetik auszuwerten trachten. Diese kraftvoll ausgeprägte Gesamtgesinnung bleibt für Klopstocks Kunstwollen dauerwertiger und werthaltiger als jede theoretische Einzel-Besinnung. Wenn sich Klopstock damals am Beginne seines Strebens umschaute, so mußte er noch J. A. Schlegel mit seinen geistlichen Liedern als vorläufiges Ideal gelten lassen. Auf ihn überträgt er in der ersten Fassung der Wingolf-Ode „ A n d e s D i c h t e r s F r e u n d e " (1747) sein Wunschbild vom schöpferischen Dichter, von Gott geweiht „Und unerschöpflich, vertieft und ernsthaft / Um sich erschaffen. Werdet! — Da wurden ihm / Lieder! — Die sah ich menschliche Bildung annehmen! Ihnen / Haucht' er schaffend / Leben und Geist ein und ging betrachtend . . . " Dort aber, wo die kunsttheoretische Besinnung in den Odenschwung einbricht, taucht gleichzeitig — ähnlich wie bei Pyra — das Ideal eines „deutschen Boileau" auf, dessen Verwirklichung er vorerst von Joh. Elias Schlegel erhofft. Das darf nicht so ganz übersehen werden. Dennoch ist der Sonderforschung darin zuzustimmen, wenn sie in jener bedeutsamen Durchbruchsstelle des Schöpf erbegriffes die entsprechenden Fortschritte der Schweizer Poetik überflügelt zu sehen glaubt. Denn dieser Vorstoß Klopstocks ist erlebnismäßig kraftvoller als der an sich etwa gleichzeitige Vorstoß des jungen Lessing von 1748/49 in dem mehr kecken als kühnen Gedicht „An den Herrn Marpurg", das zwar das Übermenschliche und Regelfreie, aber noch nicht das Gottähnlich-Schöpferische herausarbeitet. Zwar bleibt Klopstocks Vision des dichterischen Schöpfers, der doch merklich anders empfunden wird als der

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„schöpferische Geist" beim jungen Lessing, durchaus eine Nachbildung des Weltenschöpfers; aber auch Hamann fand letzten Endes nur von hier aus den Zugang zum Genie. Dem entspricht es, wenn Klopstock in dem Aufsatz „Von der heiligen Poesie" frühzeitig am weitesten vordringt in den Bezirk geniezeitgemäßer Anschauungen. Über die Oden „Stunden der Weihe" (1748) und „Dem Erlöser" (1751) lassen sich verwandte Stimmungen — denn es sind mehr künstlerisch-religiöse Stimmungen als kunstverstandesmäßige Bestimmungen — mühelos verfolgen. Vom religiös Begeisternden und Beseelten wird in der Ode „Friedrich der Fünfte" ein gewisses aktivierendes Element spürbar, das vom glaubenden zum handelnden Dichterideal hinüberweist. Doch bleibt das „Handeln" als Seelenveredelung seinerseits religiös-sittlich bezogen. Der kämpferische Protest gegen die Aufklärung tritt bei Klopstock — etwa verglichen mit Hamann und anderen — doch immerhin zurück. Klopstock überwindet die aufklärerische Welt mehr von innen her und ohne laute geniezeitgemäße Polemik. Der Unsterblichkeitswert echter Dichtung wird von der christlichen Vorstellung der Unsterblichkeit aus bestimmt. Da sinkt notwendig die Allmacht des Geschmacks, wenngleich ihr in der Sprachtheorie Zugeständnisse gemacht werden müssen, als wesenlos und belanglos zurück, ohne daß sie kämpferisch zurückgestoßen zu werden braucht. Für das späterhin ausgeprägte Ideal der „Darstellung" kann Klopstock den Stützungswert des Geschmacks nicht entbehren. Manches in den Frühkonzeptionen Klopstocks erinnert an Ansätze zur Schöpfervorstellung in der Barock-Poetik. Nur unendlich zuversichtlicher, unbekümmerter und lebensbejahender löst sich bei Klopstock und für Klopstock das Abbild des Schöpferischen aus dem dunklen, geheimnisvollen Gottesgrund, als es etwa bei Masen oder Birken geschehen konnte. Die Vermessenheit wird wohl empfunden, aber gewagt. Das ängstliche Zurückschrecken vor der Parallele göttlicher Schöpfung und irdischen Schaffens im künstlerischen Bereich fehlt oder greift doch nicht mehr als entscheidende Hemmung ein. Zwar im „Messias" läuft er einmal Sturm gegen die „Tempel eurer Erfindung", aber es sind aufklärerische Tempel des Eudämonismus und nicht Tempel der wahren Dichtkunst im Sinne Pyras. Ihre Weihe läßt sich mit der religiösen Weihe noch verbinden. Das ändert sich grundlegend erst in der religiösen Abwehrhaltung gegenüber der Klassik.

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Schon das Gefühl der Nähe seiner Dichtung genügt, um Klopstock zu einer kühneren Gangart auch im Theoretisieren zu ermutigen und zu ermächtigen. In der Erlebnisnähe seines „Messias" wachsen ihm einzelne Erfahrungen und Erkenntnisse zu, die über die Auflockerungsepoche hinweg auf die Geniezeit vorausweisen. Seine der Messiasausgabe von 1755 mit auf den Weg gegebene Abhandlung „ V o n der h e i l i g e n P o e s i e " (1755 bzw. 1760) wehrt, zugleich vom religiösen Hochgefühl getragen und gesteigert, eine störende Vordringlichkeit des Rationalistischen und Geistreicheinden ab in den Werken der „höheren Poesie". Denn „die höhere Poesie ist ein Werk des Genie; und sie soll nur selten einige Züge des Witzes zum Ausmalen anwenden". Zwar kann auch ein Klopstock in der Epoche des „Witzes" nicht übersehen, daß es geistreiche, daß es „witzige" Werke gibt, die in ihrer Art Meisterwerke sein mögen: „Allein d a s G e n i e ohne H e r z w ä r e nur h a l b e s G e n i e " . Und es würde sich diese Halbheit auch in der Eindruckswirkung bemerkbar machen durch mangelnde seelische Eindringlichkeit. Das Wirkungsgesetz nämlich bindet im Gesamt seiner Kunstanschauung wohl noch stärker als das Schöpfungsgesetz Klopstocks kunsttheoretisches Interesse, das insofern in der ästhetischen Schicht der Auflockerer verwurzelt bleibt trotz aller Neueinsätze, die vor allem in dichterischen Formen sich bekunden und hervorwagen. Besonders warm klingt es aus Klopstocks Munde, wenn er der Überzeugung Ausdruck gibt: „Die letzten und höchsten Wirkungen der Werke des Genie sind, daß sie die ganze Seele bewegen". Und zwar sollen sie nicht nur rühren, sondern im Sinne des Erhabenen die Seele „ganz in allen ihren mächtigen Kräften bewegen". Aber die Lockerung der Moraldienstbarkeit darf nicht der Preis sein, um den solche erhabenen Wirkungen eingetauscht werden. Vielmehr stellt sich Klopstock etwa auf die Wegrichtung, die von Shaftesbury zu Schiller hinführt und auf deren Seitenpfad etwa auch Fr. L. v. Stolberg begegnete, wenn er die dichterische Zweckbestimmung so faßt: „Der letzte Endzweck der höheren Poesie und zugleich das wahre Kennzeichen ihres Werts ist die m o r a l i s c h e S c h ö n h e i t " . Nicht jedoch eine billige Alltagsmoral im Sinne aufklärerisch-eudämonistischer Zufriedenheit in „weiser" Beschränkung und Genügsamkeit, sondern eine sittlich machtvolle und dynamische Kraft des Schönen, willens und fähig, „uns dem Strome" zu „entreißen, mit dem wir fortgezogen werden". Und so erhält, wenn auch vorherrschend

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vom religiösen Impuls der heiligen, höheren Poesie her das „glückseliger sein"-Wollen sein eigenes Gepräge und eine wesentlich und wesenhaft abgewandelte Klangfärbung. Während im Bereich des „Messias" formungstechnisch der Hexameter verteidigt wird in der mehr versgeschichtlich beachtenswerten Abhandlung „Von der Nachahmung des griechischen Silbenmaßes im Deutschen" (1756), würdigen die Aufsätze „ V o n d e r S p r a c h e der P o e s i e " (1758) und die „ G e d a n k e n ü b e r die N a t u r der P o e s i e " (1759), die Klopstock in Joh. Andreas Cramers „Nordischem Aufseher" erscheinen ließ, neben den Wirkungsmitteln (Abhebung von dichterischer und außerdichterischer Sprachgestaltung) auch die Wirkungsweise und den Wirkungswert der Dichtkunst. Sie stehen nicht in unmittelbarer Nähe des eigenen Schaffens. Sie stehen in einer Zeitschrift, die weder im Titel noch im Wesen und Wollen die Nachfolgeschaft der Moralischen Wochenschriften verleugnet und deren Herausgeber Cramer nicht nur vor Shakespeare zurückschreckte, sondern auch Batteux noch für einen Bahnbrecher hielt. Inwieweit unter solchen Umständen etwa Klopstocks Betrachtungen „Von dem Range der schönen Künste und der schönen Wissenschaften", die es sogar zu einer Übersetzung in das Französische brachten, bewußt oder unbewußt der moralisierenden Tendenz des „Nordischen Aufsehers" sich anpaßten, inwieweit Klopstocks eigene christlichsittliche Leitidee sich darin durchsetzte, mag dahingestellt bleiben. Jedenfalls kann angesichts der Rangsenkung der Dichtkunst nicht gut von einem geniezeitgemäßen Freikämpfen des SchöpferischDichterischen die Rede sein. Starke Hemmkräfte sind ganz unverkennbar wirksam, die jene Abhandlung — kunsttheoretisch gesehen — in die moralpädagogische Schicht der Aufklärung oder doch Auflockerung zurückverweisen, mag immer ein Klopstock sie geschrieben haben. Wesentlich vorwärtsweisender sind offenbar die beiden anderen Aufsätze im „Nordischen Aufseher". Aber auch sie bergen beträchtliche Restbestände der aufklärerischen Kunsttheorie in sich, erreichen in ihrer Gesamthaltung etwa die Entwicklungsschicht der Auflockerer und stoßen nur vereinzelt darüber hinaus. Gewiß, Batteux ist für Klopstock nicht mehr berufen, über die „Natur der Poesie" maßgebend zu urteilen. Der Trennungsstrich gegen Cramer ist schon damals klar gezogen. Klopstock fordert das gefühlsmäßige Erleben, das nicht zur bloßen Naturnachahmung

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führen kann. Die W a c h h e i t des L y r i k e r s K l o p s t o c k erkennt eine der Hauptschwächen in der Position Batteux', wie nicht zufällig J. A. Schlegel von der Erlebnislyrik her den Teilangriff gegen Batteux vorwärts trug. Das Verhältnis von „Gedanke" und „Gegenstand" wird inniger gesehen und duldet nicht den Erlebnisabstand der bloßen Betrachtung dort, wo eine gefühlswarme Verlebendigung unerläßlich sich aufdrängte, wo also der Gedanke „Leidenschaft hätte werden sollen". Aber bei näherer Überprüfung erweist sich, daß manche Betonung der seelischen Einwirkung und des beseelten Hineinwirkens nicht so einfach aus dem Persönlichen der eigenen Gefühlsmäßigkeit Klopstocks abzuleiten und zu erklären ist, sondern zurückgeht auf die Emotionstheorie (Dubos), wie sie dann Sulzer vor allem ausbaute. Zwei charakteristische Wesensbestimmungen mögen das klarstellen: „Das Wesen der Poesie besteht darin, daß sie durch die Hülfe der Sprache eine gewisse Anzahl von Gegenständen, die wir kennen oder deren Dasein wir vermuten, von einer Seite zeigt, welche die vornehmsten Kräfte unsrer Seele in einem so hohen Grade beschäftigt, daß eine auf die andre wirkt und dadurch die ganze Seele in Bewegung setzt". Und wohl noch deutlicher auf die Emotionslehre hinzielend: „Die tiefsten Geheimnisse der Poesie liegen in der Aktion, in welche sie unsere Seele setzt. Überhaupt ist uns Aktion zu unserem Vergnügen wesentlich". Die Erhöhung der Lustgefühle galt innerhalb der psychologischen Ästhetik als Kernbegriff der Emotionstheorie, auf die noch Schiller zurückgreifen konnte. Für Klopstock darf von diesem Aufsatz im „Nordischen Aufseher" zugleich zurückgeschlossen werden auf jene Ausführungen in dem Aufsatze „Von der heiligen Poesie", so daß sich also eine gewisse Stetigkeit in der Grundauffassung ergibt. Soweit die Emotionstheorie in Betracht kommt, kann man Klopstocks kunsttheoretische Äußerungen nur mit bedingtem Recht dem Geniebegriff der Stürmer und Dränger zuordnen, wozu die Sonderforschung teils etwas voreilig neigt. Wohl aber kann man in jenen Bestimmungen auch Klopstockische Elemente nachweisen und hat sie auch nachgewiesen: so das Überschreiten des Natürlichkeitsprinzips; da auch Gegenstände in Frage kommen, deren Dasein nur „vermutet" wird, weiterhin das Herausheben der „vornehmsten" Seelenkräfte u. a.

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Bei alledem wäre die Entstehungszeit jener Aufsätze zu berücksichtigen, die vor dem Einsatz der eigentlichen Geniezeit liegt und selbst noch vor dem „Laokoon" und manchen Bekundungen der Auflockerer-Poetik. Der Theoretiker Klopstock, der hinter dem Dichter unverkennbar zurücksteht, braucht merklich Anregungen und Ermutigungen, teils von den Schweizern, späterhin von Lessing. Die W e l l e des E m p i r i s m u s trägt ihn im Rahmen der „ D e u t s c h e n G e l e h r t e n r e p u b l i k " (1774) zu dem epigrammatischen „Vorschlag zur Güte", der Erfahrung den ihr gebührenden Rang einzuräumen wie in der Philosophie, so auch in der Dichtungstheorie. Der Erfahrung gebührt der Vorrang auch „in der Theorie des Dichters". Das konnte dem jungen Goethe schon gefallen, wie denn der „Vorschlag zu einer Poetik, deren R e g e l n s i c h auf die E r f a h r u n g g r ü n d e n " , das immanente Wirkungsgesetz von der Bewährung der beispielhaften Kunstleistung ablesen möchte. Die einige Jahre vorher vom jungen Herder stolz verkündete Überzeugung, daß das Genie entscheide mit der starken Stimme des Beispiels, klingt indessen bei Klopstock wesentlich gedämpfter, weil nicht der Durchbruch zur Schöpfungsästhetik auf breiter Front gewagt, obgleich in einzelnen Vorstößen versucht wird, sondern immer noch das Ansehen der Wirkungsästhetik gewahrt bleibt. Um 1774 ist das immerhin bemerkenswert, wenn man nicht bei Klopstock eine ähnliche Rückbiegung wie bei manchem der Auflockerer annehmen will. Klopstock braucht den Aufschwung einer Ode, wenn auch nur einer „Ode" mit meditierendem und epigrammatischen Einschlag: „ Ä s t h e t i k e r " , um die Setzungen und Satzungen der sollästhetischen Gesetzgebung nicht nur abzuschütteln — das war z. B. im Homer-Epigramm der „Gelehrtenrepublik" unzweideutig geschehen — , sondern darüber hinaus das innere Schöpfungsgesetz im Dichter als allein verbindlich herauszustellen: „ D i e N a t u r s c h r i e b in das H e r z sein G e s e t z i h m ! " Damit sprengt Klopstock nach den erwähnten verheißungsvollen Frühansätzen zur Organismus-Ästhetik doch erst recht spät die Umschränkung der angelernten Wirkungspoetik. Die Wertung der „Erfindung" dagegen ist Schwankungen unterworfen und zudem weitgehend von den Schweizern her vorbereitet im Zusammenhange mit der Theorie des Wunderbaren, der Klopstocks Satz aus der „Gelehrtenrepublik" mit der Fassung „Wer erfindet, setzt Vorhandenes auf neue Art und Weise zusammen" keineswegs so unversöhnlich 22 M a r k w a r d t , Poetik II

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widerspricht, wie die Sonderforschung angenommen hat. Am weitesten führt wiederum nicht die Abhandlung, sondern ein Epigramm die Erfindungsvorstellung ins Geniezeitgemäße hinüber. Nur „wer, um Mitternacht vom Genius erweckt, Urkraft, Verhalt und Schönheit tief ergründet, der nur erfindet". Wenn nun Klopstock am Erfinden nicht den letzten Wert des Dichters abliest, sondern d a s „ D a r s t e l l e n " als h o h e s W e r t u n g s k r i t e r i u m ansieht, so ist damit gewiß ein A n s a t z f ü r die K l a s s i k gegeben. Und sicherlich ist es nicht unwesentlich, daß Klopstock zunächst überhaupt einmal durch die Bevorzugung des Terminus „Darstellung" die Aufmerksamkeit in die Richtung bildnerischer Formenpflege und auf das rechte Verhältnis, den rechten Ausgleich von Erfindung und Formung hinlenkte. Doch begegnet zeitlich parallel bei Herder eine ganz entsprechende Schwenkung, die außerdem das Ziel klarer hinstellt als Klopstock, der noch in der Abhandlung „ V o n der D a r s t e l l u n g " (1779) mit Einschlägen der Schweizer Poetik und der Illusionslehre sich abmüht, um das erahnte Neue mit älteren Formeln begrifflich zu bewältigen. Wohl aber läßt Klopstocks eigenes Spracherleben ihn manche Erkenntnis vom Wesen echter Dichtersprache heben. So etwa empfindet er die Teilwiderstände der Sprache gegenüber dem unmittelbaren dichterischen Ausdruckswillen dort, wo er „ V o m e d l e n A u s d r u c k " (1779) handelt: „In seiner Seele war vielleicht Gemälde; und es wird Kupferstich; Satz zum Singen: und er wird nur gespielt". Aber im Grundzug reicht dieser Aufsatz wiederum über die Geniezeit hinaus in die Frühklassik hinüber, der er sich ja auch zeitlich nähert. Klopstocks klare theoretische Abhebung der Dichtersprache von der „völlig kalten Prosa" der Durchschnittssprache verstärkt den Eindruck, daß hier aus dem vollen Besitzgefühl eines echten Dichtertums heraus gesprochen wird. Ob er etwa durch Joh. Adolf Schlegel einen erleichterten Zugang zur Ausdrucks-Lehre gefunden haben könnte, das bleibe dahingestellt. Das B e d ü r f n i s n a c h e i n e r w ü r d i g e n E r s a t z f o r m f ü r die a n t i k e M y t h o l o g i e war bei Klopstock ursprünglich vom Religiösen ausgegangen. Im Produzieren („Messias") wie im rechtfertigenden Theoretisieren („Von der heiligen Poesie") wird ein zwar noch recht unsicheres Tasten nach der Möglichkeit und der Rechtfertigungsmöglichkeit einer p o e t i s i e r t e n c h r i s t l i c h e n M y t h o l o g i e unter Anlehnung an Milton spürbar. Aber die Unzu-

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länglichkeit der künstlerischen Lösung dieses Versuches und vor allem die Notwendigkeit (,,Messias"-Kritiken) der Rechtfertigung solcher Kühnheit ließen von beiden Seiten her die Fragwürdigkeit derartiger Bemühungen erkennbar werden, ganz abgesehen davon, daß Versuche einer Rückführung der antiken Mythologie auf die biblischen Geschichten nach Art der Barockpoetiken damals nicht mehr ernstlich in Betracht kommen konnten. Klopstocks Drängen nach mythenbildender Poesie brach sich zuletzt am stärksten an der inneren Gegenwehr des Christen in ihm selbst. Wenn jedoch eine christliche Mythologie einer derartigen Anzweifelung ihrer Würdigkeit und ihres Wertes ausgesetzt war, wenn sie sich selbst überall die dichterische Entfaltungsfreiheit einengte, so waren für eine nordische Mythologie derartige innere und äußere Widerstände und Bedenken nicht oder für Klopstock doch nicht entfernt in dem Maße vorhanden. Der heimliche Zweifel, ob man mit einer poetisierten christlichen Mythologie dem Christentum mehr nütze oder schade, dürfte auch Klopstock selbst nie ganz freigegeben haben. Nicht zum wenigsten dieser Zweifel führte zu jenem unsicheren Umhertasten. Fester und gerader, weniger mit Zweifeln versperrt mußte für den Dichter dagegen der Weg zur nordischen Mythologie erscheinen. Konnte schon die christliche Gläubigkeit in Klopstock kein rechtes Genüge finden an einer christlichen wie auch immer dem Christentum angeglichenen Mythologie, so konnte wenigstens seine nationale Gläubigkeit einen würdigen Wert setzen und — suchen in einer nordischen Mythologie. Es ist nicht schwer, Klopstocks H i n w e n d u n g zur n o r d i s c h e n M y t h o l o g i e aus dem Beispiel Gerstenbergs und aus den Einwirkungen zeitgenössischer Forschungen wie auch des nordischen L e b e n s k r e i s e s rein einflußmäßig zu erklären. Aber die Aufnahmebereitschaft des betont christlichen Dichters für diese Einflußwellen ist damit doch eben nicht erklärt. Deshalb wurde andeutend versucht, die Voraussetzungen für eine derartig freudige Aufnahmebereitschaft sichtbar und verständlich zu machen. Sieht man von Gewährsmännern wie Olaf Dalin oder Anton Banier (übersetzt von J.A. Schlegel) und Simon Pelloutier mit seiner Geschichte der Kelten (1740) ab, so kommt im K o p e n h a g e n e r K r e i s e vor allem P a u l H e n r i M a l l e t mit seiner „Introduction à l'histoire de Dannemarc" (1755) und deren Anhang „ M o n u m e n t s de l a m y t h o l o g i e et de l a p o é s i e 22

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d e s C e l t e s et p a r t i c u l i è r e m e n t des a n c i e n s S c a n d i n a v e s " (1756) im engeren Sinne als stoffliche Einflußquelle in Betracht, die Klopstock besonders seit ihrer Ü b e r s e t z u n g in das Deutsche durch G. S c h ü t z e (1765) erleichtert zugänglich geworden war. Der für nordische Studien interessierte Hamburger Pfarrer G o t t f r i e d S c h ü t z e , der dieser Übersetzung eine Vorrede mitgab, hatte bereits vorher den wacker gemeinten „Beweis, daß die alten Deutschen keine Kannibalen gewesen sind" (1746) angetreten, allerdings mit noch recht unzulänglichen Beweisstücken und mit teils moralpädagogischen Einschlägen. Gesinnungsmäßig und stimmungsmäßig jedoch half auch die Bemühung Schützes jene Eindrücke verstärken, die neu belebt aus der von Peter Joh.Resenius veranstalteten Edda-Ausgabe ( 1 6 6 5 ; jüngere Edda und Fragmentarisches aus der älteren Edda) in Klopstocks Vorstellungswelt wirksam wurden. Das wird vollends deutlich, wenn in demselben Jahre ein ungenannter Verfasser ( Joh. Daniel Müller ?) mit Gründen der Religion, der Vernunft und des guten Geschmacks die — seit Opitz verfolgte (vgl. Bd. I) — F e h d e um die a n t i k e M y t h o l o g i e wieder aufleben läßt in „ V e r n ü n f t i g e n G e d a n k e n ü b e r die A n r u f u n g der M u s e n und anderer heidnischen Götter in der heutigen Dichtkunst" (1746). Ein Gedicht Buschkas, auf den sich der Anonymus gern beruft, verrät mit dem Eifern gegen der „frechen Heiden geile Fabelpossen" die eigentliche Stoßrichtung. Das ist das Gegenstück zu Schütze. — Im weiteren Umkreise vervollständigte T h o m a s P e r c y mit den „ F i v e p i e c e s of r u n i c p o e t r y " (1761 bzw. 1763) das zwar immer noch recht unklare Gesamtbild von der nordischen Götterwelt. In demselben Jahre, in dem G e r s t e n b e r g s „ G e d i c h t e i n e s S k a l d e n " (1766) als erstes eindringliches Beispiel dichterischer Verwertung der nordischen — oder als nordisch gedachten! — Mythologie herauskam, ersetzte K l o p s t o c k die antike Mythologie seiner früher entstandenen F r e u n d s c h a f t s - O d e , die er jetzt „Wingolf" nannte, durch eine germanische bzw. vermeintlich germanische und nordische Mythologie. Vollends die Ode „ D e r H ü g e l u n d der H a i n " entscheidet auch programmatisch zugunsten von „Teutoniens Hain", weil dem Dichter die Göttergestalten der nordischen Mythologie „edlere Züge" zu tragen scheinen. Der dort in der Wingolf-Ode etwas hastig vollzogene Austausch sucht und findet hier eine tiefere Begründung und

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innere Rechtfertigung. Das Ideal des „feurigen Naturgesanges" bietet die allgemeine Richtlinie, die auf den jungen Herder hinüberweist. Der Bardengesang übertönt jedoch noch das Skaldenlied. Gemäß den Quellenschriften (abgesehen etwa von Banier) wirkt die Verwechselung und V e r m i s c h u n g v o n G e r m a n e n u n d K e l t e n in Klopstocks dichterischen Versuchen entsprechend weiter, eine Vermischung, an der bereits das siebzehnte Jahrhundert und seine Poetik gekrankt hatte, besonders im Rahmen der historischen Literaturüberblicke. Das K u n s t w o l l e n jedoch war von dem Glauben an die Möglichkeit und Berechtigung einer nordischen Mythologie getragen. Der Wille war wach geworden, die „ M y t h o l o g i e u n s r e r V o r f a h r e n " neu zu beleben als ein Überlieferungsgut, das Klopstocks inbrünstige Vaterlandsliebe dem deutschen Herzen näher zu bringen hoffte als die antike Mythologie. Jene leidige V e r m i s c h u n g erscheint f ü r d a s K u n s t w o l l e n w e n i g e r e r h e b l i c h als für das Kunstschaffen, weil das Wollen doch ganz unzweideutig dem germanischen Wesen zustrebte. Wie stark Klopstock selbst noch in den Formen der antiken Mythologie zu denken und zu dichten gewöhnt war, lassen mannigfache Anlehnungen und Entsprechungen beim Ü b e r t r a g u n g s v e r s u c h der b e i d e n M y t h o l o g i e n im Dichtschaffen erkennen, so sehr auch Klopstock durch Gegenüberstellung und Auseinandersetzung der beiden Götterwelten — etwa auch im Rahmen und in der Sonderform des ,,Hermann"-Bardiets — die Richtungen zu klären und von einander abzuheben bemüht sein mochte. Aber im Kunstwollen bleibt nach Gerstenbergs ermutigendem Vorstoß Klopstocks Bewährungs- und Verwirklichungsversuch von entscheidender Bedeutung. Nicht nur mit dem „Gedicht eines Skalden" hatte Heinrich W i l h e l m v o n G e r s t e n b e r g im Kunstschaffen gleichsam symbolisch den Durchbruch vollzogen: in demselben Jahre hatten die b e i d e n e r s t e n S a m m l u n g e n seiner „ B r i e f e ü b e r M e r k w ü r d i g k e i t e n der L i t e r a t u r " (1766) bereits auf breiterer Grundlage eine Vorstellungswelt nordischer Dichtung lebendig werden lassen, nicht ohne reiche Proben seinen Lesern zugänglich zu machen. So war die V o r a u s s e t z u n g im K u n s t w o l l e n gegeben. Seine eigenen nordischen Studien dürften sein Gefühl für echtes Altertum im Bereiche nordischen Denkens und Dichtens so weit geschärft und gekräftigt haben, daß er — wohl als erster

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in Deutschland — die Echtheit der Ossian-Sammlung des Schotten M a c p h e r s o n nachdrücklich in Frage stellte. Im achten der „Briefe" kann er eine Bestätigung seines Zweifels vorlegen, der sich auf „mancherlei Spuren des Modernen", Anklänge auch an Homer u. a. gestützt hatte. Mehr hält Gerstenberg offenbar von Percys Sammlung. Wesentlich ist sogleich das Ausspielen im Wettbewerb mit den „schönsten Überbleibseln des griechischen Altertums" und die anspornende Überzeugung: „Keine Nation der Welt müßte, meines Erachtens, einen reichern Schatz an Überbleibseln dieser Art aufzuweisen haben als unsre nordische, v o r n e h m l i c h die d ä n i s c h e , wenn wir erst einmal anfingen, so aufmerksam auf unsre eignen Vorteile zu werden, als es die meisten andern auf die ihrigen sind". Und indem Gerstenberg dankbar der Vorarbeiten W o r m s u n d B a r t h o l i n s (und Biörmers) gedenkt, sucht er in Lyrik wie Sage sowohl das „Heroische" als das „Sentiment"-Volle einprägsam nachzuweisen. Er wagt sich im elften „Brief" an eine Schilderung und Deutung der „alten runischen Poesie" heran, wehrt das hochmütige Vorurteil entrüstet ab, das allzu leichtfertig „dem nordischen Himmelsstriche die Fähigkeit, dichterische Köpfe zu bilden", absprechen zu können glaube, bemüht sich um Kriterien, das echte Alte vom unrein Uberlieferten zu sondern, spricht vom hohen Ansehen der Skalden und sucht immer wieder, „das Genie unserer ältesten Vorfahren zur l y r i s c h e n D i c h t k u n s t " aller Anzweifelung zu entrücken und aller Verneinung zu entreißen. Zwar kommt er noch nicht aus ohne Zuhilfenahme der als Träger des Geheimnisvollen so beliebten „Hieroglyphen", damit aber zugleich abrückend von den bloßen „Zeichen" (Zeichenlehre) der Aufklärung. Immerhin: Allegorie, Hieroglyphe und Symbol — von Goethes Unterscheidung von Allegorie und Symbol ist Gerstenberg noch weit entfernt — verschwimmen recht ungeklärt ineinander; und auch die Poetik der Auflockerer kannte bereits die „Hieroglyphe". Aber daß Gerstenberg sie für seine Runendeutung heranzieht, beweist, daß sie eine wesentliche Aufwertung erfahren hatte, wie sie von Hamann her nahegelegt wurde. Von hier aus erklärt sich auch der damals zeitübliche Blick auf die „orientalischen Völker". Am Schlüsse des „Briefes" erfolgt der Hinweis auf die Edda und eine „nähere Bekanntschaft mit der nordischen Fabel-Lehre". Es wird ausdrücklich als der Zweck des „Briefes" hervorgehoben, anzuregen zum Sich-Vertrautmachen mit der nordischen Mytho-

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logie. Und der neunzehnte „Brief" setzt das Zugangschaffen zu dieser Welt planvoll fort, wobei über Tullin wiederum der Blick auf die Edda gelenkt wird. Auf skandinavischem Grunde und vom skandinavischen Hintergrunde erwächst doch auch für die damalige deutsche Gegenwartsdichtung jene zuversichtliche Forderung und jene stolze Erwartung Gerstenbergs, daß bei aller Griechenverehrung Winckelmanns, die in voller Breite und Tiefe zwei Jahre vor diesen Schleswigischen Literaturbriefen sich manifestiert hatte, dennoch der deutsche Originaldichter ihm höher stünde, der „das Zujauchzen seiner Nation seinem eignen innern Werte" verdanken möchte, ohne auf eine — wenn auch nachschöpferische — Nachahmung der Griechen angewiesen zu sein. In der „Dritten Sammlung" der Schleswigschen Literaturbriefe (1767), deren einundzwanzigster Brief von einer ernsthafteren Vertiefung der nordischen Studien unter Zurückgreifen auf 0. W o r m u. a. zeugt, wird am Schlüsse noch einmal die Absicht bekundet, des Lesers „Aufmerksamkeit auf das zu sehr vernachlässigte Studium einer alten Fabel-Lehre, die in ihrer Art ganz einzig und, wo ich nicht sehr irre, der griechischen weit vorzuziehen ist, einigermaßen rege zu machen". Hervorhebung verdient die in der Bardenpoesie dann bald vernachlässigte und eigentlich von vornherein wenig beachtete W a r n u n g d a v o r , „ d a s S y s t e m der N o r d i s c h e n M y t h o l o g i e m i t dem G r i e c h i s c h e n z u v e r m i s c h e n " . Allerdings bezieht Gerstenberg diese Warnung nur auf die „Ausleger", auf die wissenschaftliche und halbwissenschaftliche Literatur über die nordischen Göttermythen. Aber sie hätte als grundsätzliche Mahnung auch für die Bardenpoesie Geltung gewinnen können und sollen. Die Schwierigkeiten einer inneren Lösung von der Vorstellungswelt der antiken Mythologie sind keineswegs auf Klopstock beschränkt. Streckenweise bleibt man bei einem bloßen Nebeneinander stehen. Mehrfach aber auch gerät man in ein groteskes Durcheinander. Hinzu trat die kunsttechnische Schwierigkeit, ohne Anlehnung an die Verwendungsweise der antiken Mythologie eigene Wege zu suchen und wirklich gangbar zu machen. Gerstenbergs Schleswigsche Literaturbriefe werden sogleich nach dem Erscheinen ihrer ersten beiden Sammlungen vom j u n g e n H e r d e r so aufgefaßt, daß sie „einen S k a l d r i s c h e n G e s c h m a c k aufbringen zu wollen" scheinen,, „der zur Bildung Deutschlands viel beitragen kann" (Brief an Scheffner, Sept. 1766). Herder hatte

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bereits in seiner bekannten M a l l e t - R e z e n s i o n in den Königsberger „Gelehrten und Politischen Zeitungen" (1765) die Wertbestände einer nordischen Mythologie bejaht und die Möglichkeit ins Auge gefaßt, aus der Edda und anderen Überlieferungen eine dem deutschen Empfinden nahestehende Mythologie heranzubilden. Weiterhin belebt in seinem „Briefwechsel über Ossian und die Lieder alter Völker" die Vorstellung nordischer Mythenbildung sein Gesamtbild einer ursprünglichen und volkstümlichen Dichtung. Aber einer stetigen Weiterbildung dieser frühen Gedankenkeime ist Herder späterhin ausgewichen, abgelenkt vom Schönheitswert der griechischen Mythologie, vom erzieherischen Wert biblischer und morgenländischer Poesie, und bestimmt vom Humanitätsgedanken. Doch läßt sich ein Ringen um ein Zugänglichmachen der nordischen Mythologie trotz aller Gegenkräfte auch bei dem Herder der „Humanitätsbriefe" verfolgen bis hin zur „ H o r e n " - A b h a n d l u n g „ I d u n a oder der Apfel der Verjüngung" (1796) mit ihrem zuversichtlicheren Glauben, daß es bei entsprechenden Abwandlungen möglich sein müsse, aus den teils u n f ö r m l i c h e n B e s t a n d e n der nordischen Mythologie dennoch gewisse Werte befreiend herauszuheben und für die Dichtung fruchtbar zu machen. Noch kurz vor seinem Tode beschäftigt Herder — wie ein Nachlaßaufsatz beweist — lebhaft die Frage, ob nicht eine volkswürdigere und kunstwertigere Verwendung dieser Mythen, als sie die Bardendichtung gebracht habe, möglich und erwünscht sein sollte. Trotz der inneren Gebrochenheit der H a l t u n g H e r d e r s bleibt sie im Gesamt w e r t v o l l e r a l s d a s h a s t i g e m o d i s c h e M i t l ä u f e r t u m der B a r d e n p o e t e n u n d B a r d e n p o e t i k e r , so etwa bei Michael Denis und Karl Friedrich Kretschmann, deren Anschauungen noch kurz berührt werden sollen. Vorerst jedoch mag ein Blick auf die zeitgenössische zünftige Kunsttheorie klarstellen helfen, daß man sich nicht überall ablehnend verhalten hat. Unmittelbar nach dem Erscheinen von Gerstenbergs Skaldenlied bejaht F r i e d r i c h J u s t u s R i e d e l in seiner „ T h e o r i e der s c h ö n e n K ü n s t e " (1767 bzw. 1774) das Anrecht deutscher Dichtung auf eine deutsche oder doch damals am ehesten noch als deutsch empfundene Mythologie mit der Begründung: „Waren die heidnischen Gottheiten der Griechen zu gewissen Zeiten wahrscheinlich, so waren es diejenigen nicht minder, welchen unsere Väter dienten. Das Religions-System

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der alten Deutschen, der Barden, Druiden (I) und Skalden ist voll von Schätzen, von denen ein glücklicher Dichter Gebrauch machen kann, wenn er nur seine Szene in die Zeiten setzt, wo dieses System geglaubt wurde". Und zugleich weist eine Anmerkung Riedels „mit Vergnügen" hin auf das „Lied eines Skalden", als dessen Verfasser richtig Gerstenberg vermutet wird. Zwar nicht ein A u f g e b e n der griechischen Mythologie zugunsten der nordischen Mythologie wird dabei angestrebt; aber doch eine G l e i c h b e r e c h t i g u n g als ganz selbstverständlich hingestellt. Das wäre vor Gerstenbergs und Klopstocks nachschaffenden Bemühungen nicht gut in einer „Theorie der schönen Künste" möglich gewesen. Aber es spricht zugleich für Riedels Aufgeschlossenheit, daß er die kunsttheoretischen Folgerungen so unbekümmert um das „Bardengeschrei" mit wenigen, aber festen und klaren Strichen hineinzeichnet in das Buch der wissenschaftlich unterbauten Ästhetik oder doch jedenfalls einer gern benutzten Poetik, die bereits bald in zweiter Auflage herauskommen konnte. Freilich auch darüber muß man sich klar sein, daß Riedel sehr schnell und weitgehend geneigt ist, dem jeweils Modegerechten nachzugeben. Zwar der Idyllendichter S. Geßner vermochte kein Verständnis aufzubringen für den „eigentümlich nationalen Bardenton" und fühlte sich zurückgeschreckt, ja abgestoßen von der „abenteuerlichen hieroglyphischen Heldensprache" (Brief an Ramler, Febr. 1775). Aber die Rezension über Denis „ B a r d e n f e i e r " (1770) in der „Neuen Bibliothek der schönen Wissenschaften und der freien Künste" (1772, Bd. XIII, 1) nimmt im Grundsätzlichen den Wunsch auf, das „Andenken unserer Vorältern" zu „ehren" und „ihr Bild recht von einem lebendigen Pinsel vor die Augen gemalet" zu sehen. Nur eben stellt sie entsprechend Riedel die Bedingung für den Bardendichter, daß auch der „Inhalt aus diesem Zeitalter genommen werden" müsse. Dieselbe Bedingung pflegte man jedoch auch für die Verwendung der antiken Mythologie zu machen, so daß sich im Rahmen der damaligen Kunsttheorie zum mindesten streckenweise eine G l e i c h b e r e c h t i g u n g der nordischen Mythologie durchzusetzen beginnt. Jedenfalls verdient die eindeutige Stellungnahme Riedels Hervorhebung, umso mehr, als sie etwa gleichzeitig mit den ersten beachtenswerten Versuchen innerhalb des Kunstschaffens erfolgte, und zwar in demselben Jahre, in dem Klopstocks (Riedel offenbar noch nicht bekannte)

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entscheidende Ode „Der Hügel und der Hain" (1767) anzusetzen ist. Allerdings muß — wie gesagt — b e i R i e d e l i m m e r d a s M o d e r n s e i n w o l l e n kritisch mit in Rechnung gestellt werden. Dieses Modernseinwollen sticht auf bardischem Gebiet, das auch der junge Wilhelm Heinse vorübergehend aufsucht, eigenartig ab vom religiösen Hintergrunde bei M i c h a e l Denis. Nicht nur gelegentlich seiner O s s i a n ü b e r s e t z u n g in H e x a m e t e r n (1784), auch im Vorbericht zu seinen eigenen Bardengesängen rechtfertigt der österreichische Jesuit Denis die Bardendichtung und Bardenmythologie unter Stützungsuchen bei Klopstock und unter Verwertung der Anregungen Herders. Im Grunde dürften die Dinge für Denis etwa so liegen: eine nordische Mythologie ist dem Christentume letzten Endes weniger abträglich als die ebenfalls heidnische, aber weit eher entsittlichende antike Mythologie. Sie ist für ihn kein Götterglaube, sondern eine bunte Vorratskammer für Kostüme, sie ist, verglichen mit der antiken Mythologie,einfach das kleinere von zwei Übeln. Hinzu trat ein Zustrom von Patriotismus, der jedoch nicht ganz frei gewesen sein dürfte von modischen Trübungen. Das ernste, tiefgreifende Ringen um ein innerliches Erleben und Neubeleben der nordischen Mythologie, wie es sich bei Herder findet, aber auch das kraftvoll frische Begeistertsein Schubarts fehlt bei Denis, der oberflächlicher über die Schwierigkeiten hinweggleitet. Es fehlt aber auch die Inbrunst, die Klopstocks Versuche adelt. Die nationalen Glanzlichter sind allzu grell aufgesetzt, um wirklich echt zu wirken, mochten sie selbst echt gemeint sein. Es überwiegt jedoch der Eindruck, daß es Denis vorerst darauf ankam, die antike Mythologie zu verdrängen und daß ihm zu diesem Zweck die nordische Mythologie als bloßes Mittel willkommen war. Es fehlte der erlebnismäßige Stimmungsuntergrund, über den Klopstock und Gerstenberg aus ihrem Lebenskreise heraus verfügten. Rein theoretisch verteidigt Denis den Wert der nordischen, richtiger einer bardischen Mythologie, wobei ihm die Mythen nicht als ein in sich beseeltes Organisches, sondern etwa im Sinne der älteren Epos-Theorien als bloße „Maschinen" (übersinnliche Erscheinungen usw.) galten. Kennzeichnend für Denis' vorsichtige Bedenklichkeit gegenüber dem Kraftvollen, Ungebrochenen etwa auch bei Ossian ist es, daß er anmerkungsweise von einem Vorziehen der „Barbarei" doch lieber abrückt, weil die Ungebundenheit am Ende auch den „unedleren" Neigungen habe

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zugute kommen können. So liegt denn auch ein Zwielicht auf seiner Position, und sein Eintreten für die nordische Mythologie wirkt nicht bedingungslos und vorbehaltlos. Außerdem rettete er manche Vorstellung („Allvater") vom Christentum in den mythologischen Apparat — denn um viel mehr handelte es sich kaum — hinüber. Gegen Herders Einschränkung des Geltungsrechtes der bardischen Mythologie (Rezension i. d. Allg. Dt. Bibliothek) und seine Warnung vor einem Mißbrauch als Selbstzweck richtet sich nicht zum wenigsten K. Fr. K r e t s c h m a n n s rechtfertigende Abhandlung Über das Bardiet (1784). Kretschmann bemüht sich dabei, den allgemeinen Vorwurf einer zu einförmigen Rauheit abzuwehren und erinnert daran, daß auch die griechische Mythologie erst durch das Medium der Dichtung geformt und verfeinert worden sei, eine Möglichkeit, die man billigerweise auch der nordischen Mythologie einräumen müsse. Unbedenklich und ein wenig auch wohl als Ausgleichsmittel glaubt er das Empfindsame in die Welt dieser Mythologie einbeziehen zu können, ebenso moralpädagogische Elemente. Es handelt sich also bereits um den Anspruch, n a c h e i g e n e m B e d a r f u m s t i l i s i e r e n z u d ü r f e n ohne ängstliche Bindung an das Uberlieferte. Vorrat und Filter zugleich würde etwa eine national-mythologische Erzählungsreihung nach Art von Ovids Metamorphosen werden können, ein Gedanke, der vielfach die Hoffnungen auf eine Verwirklichung nährte. Man hielt A u s s c h a u n a c h e i n e r Z w i s c h e n f o r m , die den Übergang erleichtern und die Mängel abschleifen helfen sollte. Während bei Kretschmann und Denis die Rechtfertigung teils krampfhaft übertrieben, teils unsicher und entsprechend kompromißfreudig wirkt, fügt sich bei Fr. Chr. D a n i e l S c h u b a r t das Eintreten für die Bardenpoesie organisch und würdig der Gesamthaltung des Herausgebers der „ D e u t s c h e n C h r o n i k " ein. Weniger als Gerstenberg interessiert ihn der nordische Hintergrund. Ihm wird das Bardische Symbol und Wertträger des Ursprünglich-Urtümlichen und Volkstümlichen. Und wenn ihn der kritische Blick trügt, wenn er von Denis, den aber auch Herder überschätzte, noch Wertvolles erwartet, so erinnert doch die Benennung als „Barde Ossian-Denis" an den Rückbezug auf das Urtümliche und Volkstümliche, das man mit dem Ossian-Ideal zu verbinden pflegte (Artikel: Deutschland, Dt. Chronik 1774). Das Ossianische und das Bardische verschmelzen sich, wo es den „Franzosenwitz" und das rokokohafte Getue und Getändel von

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dem Kernbestand deutschen Wesens fernzuhalten gilt. Deutsche Redlichkeit, Gradheit und „Biedersinn" (das schon aus den Barocksatiren vertraute Wertwort lebt über Gottscheds „Biedermann" neu gekräftigt und jugendlich gewandelt fort) werden z u g l e i c h in der B a r d e n v o r s t e l l u n g versinnbildlicht. Auch in der Abwehr französischen Brauchtums gelangt die Mahnung an bardisches Wesen zu ihrem Recht (Dt. Chronik, 1774, 18. Stck). Bei alledem übersieht Schubart schon damals nicht die Gefahr der Entartung in modische Spielerei: „Wehe dem, der's zur Mode macht, was Pflicht sein sollte! Wer sein Vaterland nicht liebt, das er sieht, wie kann er's himmlische Jerusalem lieben, das er nicht sieht?" Er möchte die Gefahr bannen, indem er in einer Vision der Germania den ganzen Ernst, die ganze Wucht und die ganze „altdeutsche Pracht" wiederherzustellen sucht, weil ihn sein Herz dazu treibt, nicht aber „weil Klopstock, Kretschmann, Denis und einige andere Patrioten den Ton angegeben hätten" (Dt. Chronik, 1774, 53. Stck). Nicht eigentlich etwas Neues sagt Schubarts Bardendeutung aus; aber etwas Echtes steht hinter ihr. Die Klänge sind nicht so gepreßt wie bei manchem anderen, obgleich sein programmatisches und ideeliches Eintreten vorteilhafter wirkt als sein eigenes dichterisches Abbiegen in die Bardenform. „Wider die Bardenpoesie nicht eingenommen" zu sein, erklärt ausdrücklich der Rezensent (als der wohl kaum Goethe angenommen werden kann) der F r a n k f u r t e r Gelehrten A n z e i g e n (1773) gelegentlich einer W ü r d i g u n g der „ L i e d e r Sineds des Barden". Diese Denis-Rezension ist noch wohlwollender gehalten als die in der, .Neuen Bibliothek"; denn selbst die Bardenlieder auf Maria Theresia (I), die wenigstens von der „Neuen Bibliothek" wegen der gewagten Gegenwartsübertragung des Bardentons beanstandet worden waren, finden Anerkennung. Derartige Fehlurteile sind zu verstehen aus dem gesinnungsmäßigen Kunstwollen heraus, das hier Möglichkeiten begrüßte, gegenüber den „tändelnden Zeiten" des Rokoko die gesundende Kraft des Bewußtseins einer großen Vergangenheit mit ihrer „Sittenunschuld" wirksam zur Geltung zu bringen. Allerdings werde es einem „deutschen Ossian" der Gegenwart schwerfallen, in französierenden Schöngeistern den Sinn und das Verständnis für große und „schöne Taten" zu erwecken. Doch würden einen unverbildeten Patrioten die Bardenklänge nicht befremdend anmuten. Selbst wenn man die Unzulänglichkeit einer Übertragung des Bardentons in „unsre

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Zeiten" zugestehen wollte, so wäre doch immer noch eine Verbrämung der griechischen Mythologie „mit deutschen Sitten" weit stilloser. Als strebensverwandt begrüßt das junge Kunstwollen in der Bardenpoesie „Rechtschaffenheit" gegenüber rokokohafter Verbildung, „menschliches Gefühl, Patriotismus, Haß des Lasters und der Weichlichkeit und Liebe der Heldeneinfalt". Das geringe Verständnis des Publikums verrate dessen Unwürdigkeit. Doch steht der Rezensent dem sonst vielfach geäußerten Glauben (Gerstenberg, Herder), daß Deutschland wertvolle Bestände an urtümlicher Frühdichtung aufzuweisen habe, recht skeptisch gegenüber: „Wir haben eben leider nichts Eigenes mehr aus jenen Zeiten". Wenn dennoch die Möglichkeit versteckter und unentdeckter Schätze einzuräumen sei, so würde wahrscheinlich der Anreiz zum Suchen und Sammeln wegen der Verständnislosigkeit des Publikums nur allzu gering sein. Der kritische Scharfblick f ü r die Unzulänglichkeit der Bardengedichte fehlt oder wird doch getrübt von einem gefühlsmäßigen Sichbegeistern für Stoff und Gesinnung. Dieses gefühlsmäßige Angesprochensein und dieses merklich echte Begeistertsein gibt nicht mehr dem bloßen Wirkungskriterium recht wie zur Zeit der Wirkungsästhetik, sondern folgt durchaus jugendlich — jugendlich auch im Enttäuschtsein von der Haltung des Publikums — der Stimme des Herzens. Das Wesentliche und Eigene H. W. von Gerstenbergs konnte schon erkannt und genannt werden. Es liegt im Ausschauhalten nach einer deutschen Originaldichtung vom „nordischen" Blickwinkel aus. Ohne daß Gerstenberg als Kritiker und Theoretiker die organische Verbindung von nordischem Mythus und alter nordischer Dichtung zu einer neuen deutschen Dichtung bewußt und .zielsetzend herausgearbeitet hätte, schwebt ihm doch mehr gefühlsmäßig ein derartiger innerer Zusammenhang vor. Die tragende Stimmung und Gesinnung, aus der heraus er schreibt, weist in diese Richtung. Von hier aus ist auch seine achtungsvolle, aber im Grundsätzlichen abwehrende Einstellung Winckelmann gegenüber bestimmt. Und dieser Haltung entspricht es, wenn er im „Gotischen" (als Baustil und übertragen als Strukturart von Dichtungen) nicht mehr etwas der Kunst Abträgliches zu sehen, wenn er Shakespeares germanische Art zu würdigen vermag, wenn er die Übertragung des einen Nationalgeschmacks auf den anderen

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ablehnt, wenn er etwa den Engländern anrät, ihrem „genuinen Nationalgeist" treu zu bleiben und die Wertungsmaßstäbe der französischen Theoretiker Le Bossu, Rapin, H6d£lin, Voltaire u. a., die für ein französisches Kunstwollen Geltung haben könnten, nicht etwa unbesehen und allzu ritterlich „auf die Originalschriftsteller ihres Vaterlandes" zu übertragen. Gerade auf dänischem Boden erinnert diese B e r ü c k s i c h t i g u n g von N a t i o n a l c h a r a k t e r e n in Fragen des Geschmacks und der Kunstbewertung zugleich an die V o r a r b e i t J o h . E l i a s Schlegels. Es fehlt jedoch Gerstenberg im Abwehren die wirkungssichere Stoßstärke Lessings. Und es fehlt ihm im Anregen die mitreißende Kraft des jungen Herder. Er verfügte auch nicht über die kunstphilosophische Fähigkeit, jene Sicht des Nordischen und jene Aussicht auf eine aus diesen Quellkräften zu erneuernde deutsche Dichtung zu einem Gesamtaspekt zusammenzuzwingen. So läuft manches nebeneinander her, ohne sich kraftsteigernd wirklich zu verbinden. Die straffe Folgerung wird nicht gezogen; haftkräftige Prägungen werden nicht recht gefunden. Streckenweise überwiegt ein gelehrtes Interesse an den nordischen Überlieferungsbeständen, ohne daß die Erträge nun im Sinne des Sturmes und Dranges wirksam gemacht worden wären. Wenn eine umfangreiche Gerstenberg-Monographie Herder zitieren muß, um erläuternd anzuschließen „und Gerstenberg hätte es mit denselben Worten ebenso ausrufen können", so mag das in gewissem Grade zutreffen, deutet aber zugleich ungewollt an, daß vielfach das entschlossene Erfassen, Ausbilden und Ausprägen des neuen Kunstwollens bei Gerstenberg nicht recht glücken wollte, daß man vieles erst mittelbar erschließen muß, um zum eigentlichen Meinen und Wollen vorzudringen. Trotz einer glücklichen Ausgangsstellung in den Schleswigischen Literaturbriefen vermag er aus diesen und anderen Gründen die Führung, die ihm zeitlich zuzufallen schien, nicht auszuwerten und durchzuhalten, so daß er sie bald an Herder abgeben muß. Die konstruktive Auswertung und die ideeliche Reichweite stehen ihm nur begrenzt zu Gebote. Sobald Gerstenberg zur festen Bestimmung eines kunsttheoretischen Gedankens oder zur Definition einer ästhetischen Erfahrung gezwungen ist, arbeitet er gern mit den ererbten Begriffen der Auflockerer. Häufig begegnet noch der Terminus „Sentiment" aus dem Raum des französischen Sentimentalismus. An die Auflockerer würde etwa auch die rückläufige Wendung (nach an sich

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recht energischem Vorstoß) im Genieproblem erinnern, und zwar doch wohl mehr als an jene Hinwendung Herders (etwa 1774) zur Vorbereitung der Klassik und zur kritischen Besinnung. Eine ausgeprägte Moralbewertung führt zu ähnlichen ernsthaften Bedenken und Hemmungen wie bei Lessing. Selbst in Shakespeare sieht und sucht er die „sittliche Natur" der Lebensgemälde. Zu einem so befreienden Abschütteln der Aristoteles-Autorität wie dann bei Lenz oder Heinse kommt es noch keineswegs. Zwar fehlt es in dieser Richtung nicht an Ansätzen. Aber auch der junge Nicolai war schon gelegentlich auf diesem Wege zur AristotelesFeindschaft anzutreffen. Ebenso hatte bereits der junge Nicolai das „unregelmäßige Theater" verteidigt, ganz abgesehen von der Shakespearevermittlung durch Joh. Elias Schlegel. Gerstenbergs schwankende Haltung in der Illusionstheorie sucht streckenweise Anlehnung an die Auflockerer-Poetik. Immerhin, man wird auch bei Lenz diesen und jenen ererbten Zug finden; denn die rein kunsttheoretische Leistung der Auflockerer konnte nicht so leicht entbehrt oder überholt werden wie ihr Kunstschaffen. Auch muß es überraschen, entspricht aber nur jenen angedeuteten retardierenden Elementen, wenn Gerstenberg mehr für Lessings „Laokoon" als für Herders Erstes Kritisches Wäldchen eintritt, wenn er dem Drama, in dem er selbst ansetzte („Ugolino") und das für das dichterische Kunstschaffen der Geniezeit so beherrschend werden sollte, keine bedeutende Geltung im Gesamtbereiche der Poesie zuerkennt. Mit Recht hat die Sonderforschung manche widerspruchsvollen Äußerungen Gerstenbergs damit zu erklären versucht, daß seine Kritik von Fall zu Fall seine Auffassung zu den jeweiligen polemischen Zielen abbiege, also seine Theoriefragmente von einem kritischen Zielwillen schon rein äußerlich abgelenkt erscheinen. Teilweise war Gerstenberg durch die äußere Bindung an die aufklärerische Gruppe noch beengt, so etwa bei seinen an sich fortschrittlichen Anläufen in der „Bibliothek . . ." Chr. F. W e i ß e s . Ebenso wird man von dem Widmungsschreiben an Weiße, das er seiner „Braut"-Übersetzung voranstellt, nicht gerade geniezeitgemäße Klänge erwarten dürfen. So bleiben schließlich doch trotz beachtlicher Anbahnungen des Neuen in einzelnen Kritiken wie etwa der Bodmer-Kritik, der „Philotas"- oder der Dubos-Rezension, und der wenig bekannten Klopstock-Rezension (Hamburger Neue Zeitung, 1768), die das Eigenrecht des „Messias" als Epos gegen-

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über Homer und Milton betont, die Schleswigischen Literaturbriefe, die „ B r i e f e ü b e r M e r k w ü r d i g k e i t e n der L i t e r a t u r " (1766—1770) das zum Teil programmatisch gedachte Manifest, das Gerstenberg nicht zum wenigsten durch die lebendig bewegte und stellenweise leidenschaftlich mitreißende Darstellungsform über die Position der Auflockerer emporhebt. Shakespeare, „dieses Lieblingsgenie der mütterlichen Natur", wurde trotz früherer Hinweise der Aufklärer und Auflockerer und besonders Lessings doch hier erst so recht gefühlsmäßig und mit warmem Nachdruck dem Nacherleben der jungen Generation nahegebracht. Aber wiederum sucht Gerstenberg doch fast ein wenig nach Lessings Art, Shakespeare dadurch der Zeit zugänglicher zu machen, daß er hinter der „bis zum Ekel verschrieenen Wildheit" eine künstlerische Besonnenheit, eine „Einheit der Absicht und Komposition beobachten" zu können glaubt. Und die Gegenfrage: „Was ist hier gigantisch, was wild, was unförmlich?" erinnert unverkennbar an die bloße Verteidigungsstellung der Shakespearevermittlung durch Lessing. Denn der Geniezeit sollte doch gerade dieses abgeleugnete Gigantische und Wilde und selbst Unförmliche willkommen und angesichts der Überkraft des Schöpferischen berechtigt und lieb erscheinen. So weicht Gerstenberg immer wieder zurück, wo er auf dem Wege zum Neuen sich fühlt. Es spielt die Angst oder doch Bedenklichkeit vor den „rohen Genien" merklich mit, die erst „zur Reife kommen" müßten. Verbesserung der Sprache und des Geschmacks gilt noch ebenso als Teilziel wie die Erziehung der „Bürger". Das Positive verdichtet sich in der G e n i e a u f f a s s u n g . Neben Shakespeare wird Klopstock, zu dem er sich erst langsam durchgerungen hatte, als Genie-Vorbild, als der bedeutendste „Dichter unseres Vaterlandes" gefeiert. Die „gothische" Struktur gilt jetzt als weit überlegen. Während ihm vorher noch „Geschmack und Kenntnis" (als das Kunstverständige) der rationalistischen Symmetrie empfehlenswert erschienen waren und das Recht der Kritik auch gegenüber dem Genie verteidigt wurde, freut er sich jetzt an den Geniefunken, die in „wilder Unordnung herumschwärmen", dringt er nicht ohne Anleihen bei Hamann zwar zu der klaren Erkenntnis durch: „Das Genie geht nach der Ordnung der Natur vor dem Geschmack her . . ." und gewinnt so bereits die Stufe der U n t e r s c h e i d u n g v o n G e n i a l i t ä t u n d V i r t u o s i t ä t , wie denn auch die zwar nicht ganz eigenwüchsige Gegenüberstellung

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von Genie und Geschmack, obgleich schon von anderer Seite her vertraut, aufhorchen läßt: „ D a s Genie e r s c h a f f t ; das T a l e n t s e t z t nur ins W e r k " . Selbst ein bloßes Aufnehmen solcher Prägungen bedeutet doch zugleich ein Sichzueigenmachen der vorwärtsweisenden Anschauungen. Die Wirkung des Genies wird gesehen in der „Hitze, der Stärke, der anhaltenden K r a f t " und im „überwältigenden Strom der Begeisterung". Es taucht das Wort „ K r a f t " — wie auch bei Herder und Lavater — auf, um das Unaussprechliche zu benennen. Allerdings steht wiederum diese geniale Kraft nicht zum wenigsten im Dienste der Illusionserregung. Als die „bildliche Empfängnis der Objekte in der Seele" wird sie auch wohl umschrieben. „Wie gegenwärtig" soll die Natur hineingebildet werden in die Seele des Aufnehmenden. Bemerkenswert ist der Hinweis darauf, daß die Psychologie noch nicht hinreichend ausgebildet sei, um den Geniebegriff klar als Definition fassen zu können. Und so gibt Gerstenberg selbst freimütig zu: „Dies ist keine Definition, aber es ist Erfahrung, es ist Gefühl". Damit wird denn doch ein beträchtlicher Fortschritt über die Durchschnittsposition der meisten Aufklärer und Auflockerer erkennbar, der wesentlich darin besteht, daß die Geniezeit erfühlte und erlebte, was jene nur erkannt und erdacht und begriffen hatten. Aber die Theorie als solche litt naturgemäß darunter. Im allgemeinen ist sonst Gerstenbergs Genieauffassung stärker bestimmt durch die Verneinung des Rational-Ungenialen als durch positive Zielsetzung und Wesensdeutung, die gern zur Illusion ihre Zuflucht nimmt: „Ich setze das Kennzeichen des poetischen Genies in die Illusion einer höheren Eingebung . . .", immerhin einer „höheren Eingebung" also. Doch selbst in den Schleswigischen Literaturbriefen spricht überwiegend der Kritiker, der, an den empirischen Stoff des Dichtschaffens und der Einzelfälle gebunden, wenig Gelegenheit findet zu prinzipiellen Erörterungen, der aber auch diese Gelegenheit kaum wirklich gesucht hat, wie Lessing und Herder es teils auch aus der Bindung an Einzelbewertungen dennoch vermochten. Dort jedoch, wo Gerstenberg wie im B r i e f über den Genieb e g r i f f und die w e s e n h a f t p o e t i s c h e n Gattungen (20. Brief) mit kunsttheoretischen Klärungen Ernst zu machen scheint, enthüllt sich unzweideutig der Mangel an ideelicher Abfolge (nach Art Lessings), wie der Mangel an gefühlsmäßigem Spürsinn (nach Art Herders). Die Genie-Deutungen Sulzers und 2 3 M a r k w a r d t , Poetik II

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Flögeis lehnt er ab, nicht ohne jedoch von Sulzers Besonnenheit die „Klugheit" als ein wenig organisches Element in seinen Geniebegriff hinüberzuretten. Geniezeitgemäß wirkt die Art, wie Gerstenberg Winckelmanns Betonung der Unmöglichkeit, das eigentliche Geheimnis der Schönheit begrifflich zu enthüllen, für sich in Anspruch nimmt und auf das Geheimnis des Genialen überträgt. Aber er versucht es dann eben doch, teils mit Gegenüberstellungen, teils mit Erklärungen und Ansätzen zu Erklärungen. Entwicklungsgeschichtlich bemerkenswert ist das Zurückgreifen auf den Gegensatztypus des „bei esprit". Gerstenberg wittert im „bei esprit"-Ideal richtig ein vom Genie fortführendes Trugziel. An der Schwelle des Sturmes und Dranges greift er in einem fast symbolischen Kampfgange zurück auf jenes Trugziel, das sowohl den Primat des Witzes, des Scharfgeistes (Aufklärung), wie den Primat des Schöngeistes (Rokoko) hatte hervorrufen helfen. Aber Gerstenberg stellt jenem Irrlicht des „bei esprit" nun nicht etwa jene aufhellenden glücklichen Prägungen entgegen, die teils schon von dritter Seite vorlagen und die er kennt und zitiert („das Genie erschafft; das Talent setzt nur ins Werk"), sondern er verschanzt sich hinter seinem vermeintlichen Fund, Genie als I l l u s i o n a u s I n s p i r a t i o n , als „ I l l u s i o n e i n e r h ö h e r n E i n g e b u n g " zu umschreiben. Das Sichverbeißen in den Illusionsbegriff und damit das Haften an der Wirkungsästhetik läßt aber den Inspirationsbegriff und damit die geniezeitgemäße Schöpfungsästhetik nicht recht zur Entfaltung kommen. Und vor allem, indem der Gedankengang vom Geniebegriff mehr und mehr zum Gattungsbegriff hinüberwechselt, gelangt Gerstenberg zu derartig abseitigen Folgerungen wie etwa der Behauptung, „ein Trauerspiel sei kein Gedicht", weil eine bloße „theatralische Illusion" vorliege. Als im strengen Sinne poetisch will er nur Epos und Ode gelten lassen entsprechend seinen beiden „Stoff-Bezirken der Poesie: „Handlungen und Empfindungen". Schon aus diesen Andeutungen ergibt sich, daß Gerstenberg auf der Suche nach einer Bestimmung des „poetischen Genies" gleichzeitig auf der Suche ist nach dem wah ren W e s e n d e r D i c h t k u n s t. Und wer der Unterscheidung von Poesie und Nicht-Poesie nachgeht, wird Gerstenberg nicht übersehen können. Gerstenberg kennt offenbar eine ganze Reihe von Definitionen der Dichtkunst, darunter nicht nur die Batteux' und Baumgartens, die er ablehnt, sondern auch — ob nun unmittelbar oder mittelbar — die Joh.

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Adolf Schlegels. Denn er spricht mehrfach vom Grundsatz des „höchsten sinnlichen Ausdrucks". Alle diese Grundsätze scheinen ihm indessen nicht den Kernbezirk des Dichterischen zu treffen, ebenso wie die Merkmale: Erfindung, Neuheit, Original nicht die Kernsubstanz des poetischen Genies treffen („wo Genie ist, da ist Erfindung, da ist Neuheit, da ist das Original, a b e r n i c h t u m g e k e h r t " ) . Er versucht nun aber doch — was leicht übersehen zu werden pflegt — aus allen den ihn merklich verwirrenden Anregungen wieder einen Zugang zu erzwingen zu seinem Primat der Illusion. Dazu verhilft ihm der Begriff „ N a c h b i l d u n g " , den er mit dem entlehnten Begriff vom vollkommensten oder (wie er unter Teilabwehr der Vollkommenheitsästhetik lieber sagt) „ h ö c h s t e n s i n n l i c h e n A u s d r u c k " verbindet. Eine an sich recht verheißungsvolle Verbindung, die nun aber wieder ins Schiefe gerät, weil sie sich auf „Illusion" einrichten und ausrichten muß. So kommt es zu der Bestimmung: „Das N a c h b i l d e n ist also d e r j e n i g e h ö c h s t e s i n n l i c h e A u s d r u c k , der die I l l u s i o n err e i c h t " . Dabei wäre zu berücksichtigen, daß der Anteil Inspiration bereits im Genie selbst, das nachbildet, gesichert ist. Fügt man als ein weiteres der bei Gerstenberg zerstreut auftretenden Merkmale an diese Rekonstruktion seiner Grundgedanken das Moment der „Kraft" und des Lebendigen, Organisch-Dynamischen (durch die Kraft „bewegt sich Alles, lebt Alles, handelt Alles"), so gewinnt Gerstenbergs z w a n z i g s t e r Brief doch schon ein weit ausgeprägteres Profil. Gewiß mag vieles vom rein künstphilosophischen Standort aus eklektisch wirken. Aber wesentlich mehr Sinn, als man vielfach angenommen hat, dürfte, wenn auch teils verworren ausgesprochen und unsicher abgeleitet, in diesem Hauptbeitrag Gerstenbergs zur Kunsttheorie und Programmatik denn doch stecken. Der Begriff des „Nachbildens", jenes „bildlich denken" mit der Wirkung einer „bildlichen Empfängnis der Objekte in der Seele", das den Gegenstand gleichsam „zur Individualität des Dichters übertreten" läßt, dieses „Nachbilden" hebt sich nicht nur bemerkenswert ab von dem landläufigen Naturnachahmungsbegriff, vom bloßen Nachahmen. Dieses „Nachbilden" Gerstenbergs fordert jenseits des Sturmes und Dranges auch Beachtung in der Reihe: „Darstellen" (Klopstock, Stolberg), „Nachbilden" (Gerstenberg) und „Bilden" (K. Ph. Moritz, Goethe), d. h. es will 23

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beachtet sein auf dem Wege zum Kunstwollen der Klassik. Wesentlich bleibt weiter, daß Gerstenberg es unternimmt, die L e h r e v o n dem „ N a c h b i l d e n " m i t der A u s d r u c k s l e h r e z u v e r e i n i g e n . Eine gewisse Rückwendung zum Naturnachahmungs-Begriff ist jedoch im Illusions-Begriff unverkennbar spürbar, ebenso eine Reihe von anderen Merkmalen älterer Prägung. Gerstenberg wird den Nachbildungsbegriff als solchen kaum selbst und schwerlich zuerst geprägt haben. Aber daß er ihn in diese Verbindung bringt, ist das Bemerkenswerte. Ungewollt wird dieser in doppeltem Sinne „merkwürdige" Brief der „Briefe über Merkwürdigkeiten" (das Merkwürdige steht für das Bemerkenswerte, nicht für das Sonderbare, entspricht also in entsprechender Abwandlung dem „Curiösen" der frühaufklärerischen Epoche) ein Musterfall oder doch ein früher Probefall dafür, d a ß G e n i a l i t ä t u n d d a s H e i m a t b e r e i c h des s p e z i f i s c h D i c h t e r i s c h e n a l s ein e i n i g e s G a n z e s g e s e h e n w e r d e n . Wo das „poetische Genie" ist, da muß auch die echte, eigentliche, alleinige Poesie sein. Insofern trifft die Bezeichnung „Geniezeit" für „Sturm und Drang" doch nicht nur die eine Seite. Geniezeit war für die Jungen zugleich Poesiezeit, war ihre Zeit, wo Genie und Poesie endlich als Einheit erlebt und erstrebt wurden. Aber gerade hier sticht eine der Fehlfolgerungen Gerstenbergs hinsichtlich der G a t t u n g s t h e o r i e hart hervor. Denn obgleich er immer wieder betont, daß das Genie fähig sei, auch aus Gattungen, die eigentlich mehr Schönsinn (bei esprit) als Schöpfersinn erforderten und also ihrem Wesen nach unpoetisch seien, dennoch Poesie zu machen, beharrt er nichtsdestoweniger auf dem „Eigentlich", beharrt er — vielleicht unter dem Eindruck Klopstocks — auf Epos und Ode als den reinen, allein echt poetischen Ausprägungsformen, wobei Ode auch die ältere Bedeutung lyrische Dichtkunst haben kann (wie etwa in Herders Odenabhandlung). Aber hatte er um 1767 so ganz unrecht angesichts der besten deutschen Dramen J. E. Schlegels und der wenigen damals vorliegenden Lessings, das Drama dem Bezirk des „Witzes" zuzuordnen ? Es sei nur daran erinnert, daß J. Moser in seiner Verteidigungsschrift „Harlekin" (1761) in rührender Bescheidenheit J. E. Schlegel angesichts des „Canut" mit kulturpatriotischem Eifer, aber eben doch auch in Ermangelung eines besseren Dramas als „deutschen Racine" bezeichnen zu können glaubte. Selbst H. P. Sturz mit der damals ganz neuen „Julie"

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(kunsttheor. Begleitbrief 1767) eroberte noch nicht die große Bühne. Ganz abgesehen davon, daß die mannigfachen Gattungen und Dichtarten aufklärerischer Art wie Fabel, Gespräch usw. verständlicherweise als abseits vom Kernbezirk des Dichterischen stehend empfunden werden mußten. Daß jedoch auch das Zugangsuchen zu Shakespeare jene Einstellung zum Drama nicht ändert, macht notwendig stutzig und erinnert daran, daß auch Gerstenberg zwar das Genie in Shakespeare sah, aber das Shakespearesche Drama in seiner ganzen Tiefe keineswegs ausschöpfte. Angemerkt sei im größeren Zusammenhange, daß die Kunsttheorie noch des neunzehnten Jahrhunderts dazu neigte, die Dramatik als eine Art von Synthese aus dem Epischen und Lyrischen anzusehen, wobei dann — mochte der Rang des Dramas noch so hoch angesetzt werden — doch die stille Voraussetzung mitspielte, daß die eigentlich und ursprünglich dichterischen Gattungen Epik und Lyrik seien. So mag Gerstenbergs offenbar unentfalteter und unsicherer Gedankengang etwas verständlicher werden.

Kernbestände geniezeitgemäßen Kunstwollens Manches von dem, was den Grund- und Grenzformen zugeordnet wurde, ließ Kernbestände geniezeitgemäßen Kunstwollens vorübergehend sichtbar werden, rührte auch wohl schon unmittelbar an das Wesentlich und wesenhaft Stürmerische und Drängerische, nicht zum wenigsten bei Gerstenberg. Die zeitliche Überschneidung bringt es ohne weiteres mit sich, daß dort manches begegnete, was doch erst seine tiefere Untergründung finden kann in den Konzeptionen Hamanns. Und so reizvoll es wäre, die Linie von Gerstenberg unmittelbar zu Herder (etwa zu Herders Shakespeare-Aufsatz von 1773) weiterlaufen zu lassen: J o h a n n G e o r g H a m a n n (1730—1788) war eine zu kraftvolle Voraussetzung für Herder, als daß man ihn bei einer Würdigung des Kernbestandes geniezeitgemäßen Kunstwollens — auch nur vorübergehend — entbehren könnte. Hamann brachte kein klares Programm. Aber er brachte eine Atmosphäre, in der die Jungen atmen konnten. Er brachte keine auch nur annähernd scharf umrissenen Begriffe, nicht einmal leicht deutbare Ideen. Aber er bot den Jungen das, was M a l e r M ü l l e r s Faust „ I d e e n - G e f ü h l e " nannte. Und gerade weil es dumpfe, aber triebkräftige Ideen-Gefühle waren, ganz ähnlich, nur noch um einige Tönungen dunkler gefärbt als dann

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bei dem jungen Herder, trafen diese gefühlsmäßig erfaßten und vermittelten Ideen und diese doch auch oft wieder von einer wirksamen ideellen Helle beleuchteten Gefühle auf eine willige Aufnahmebereitschaft. Hamann eroberte das Urtümliche. Herder verband das Urtümliche mit dem Volkstümlichen. Hamann reicht den Organismusgedanken, der vorerst noch keimhaft umhüllt erscheint vom Ganzheitsgedanken, an Herder, und Herder gibt ihn dann an Goethe weiter, beide stets die Ideen-Gefühle vom Urtümlichen und Volkstümlichen damit verschmelzend. Lenz kann das als ein Gegebenes hinnehmen. Aber wie Herder der Gefühlslyrik freie Bahn bricht, so öffnet vor allem Lenz den Zugang zum Charakterund Thesendrama, zugleich das prometheische Menschen-Formen, das sie alle bewegte, als besonders dringlich, weil sehnsüchtig umworbenes Ideal herausstellend. Zwar unmittelbar vorher hatte Herders Shakespeare-Aufsatz bereits die „Natur des nordischen Dramas" gegenüber dem griechischen Dramentypus und dem romanischen Theaterstück an Werken Shakespeares nachdrücklich herausgestellt. Aber Gattungstheorie im engeren Sinne und Dramentheorie im strengeren Sinne hatte er dort nicht eigentlich geboten und wohl auch gar nicht beabsichtigt. Eine nähere Überprüfung vermag sich nicht dem Eindrucke zu verschließen, daß (gattungstheoretisch gewertet) Ideale der Epik und wiederum auch der Lyrik an das Drama Shakespeares herangetragen werden. So bleibt Lenz der eigentliche Dramaturg des Sturmes und Dranges. Für den Geniebegriff ist der Beitrag Hamanns zwar auch wegerleichternd, aber kaum so unbedingt entscheidend. Wesentlicher erscheint jedenfalls seine Vorstellung von der sinnlichen und zugleich übersinnlichen F r u c h t b a r k e i t des S c h ö p f e r i s c h e n , eine alles andere bewegende und durchregende Vorstellung, für die er immer neue — und oft recht drastische — Gleichnissprüche findet und einprägsam formt. Das erweist sich für die Ausbildung und die ganze Stimmung der Schöpfungsästhetik ertragreicher, als die teils ja schon vor Hamann auftretenden Genie-Umschreibungen fortschrittlicher Art. So etwa, wenn er gegenüber Diderot das „Burleske und Wunderbare" verteidigt als poetisch unentbehrliche, weil fruchtbare Erscheinungsformen des Menschlichen und Göttlichen mit der Begründung, daß eine Beseitigung solcher Triebkräfte „Brüste und Lenden der Dichtkunst verdorren" lassen würde. Wenn er die Regeln unfruchtbare vestalische Jungfrauen

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nennt, wenn er gesteht, sich selbst Gott nur mit Zeichen der Zeugungskraft vorstellen zu können. H e i d n i s c h e s u n d F r o m m e s ü b e r k r e u z t sich n i c h t selten in den Ausf o r m u n g e n der F r u c h t b a r k e i t s d e u t u n g e n H a m a n n s . „Alle ästhetische Thaumaturgie reicht nicht zu, ein u n m i t t e l b a r e s G e f ü h l zu ersetzen". Dieser Satz Hamanns umreißt in Kürze die ganze Gefühlsrevolution des Sturmes und Dranges. „Wer Willkür und Phantasie den schönen Künsten entziehen will, stellt ihrer Ehre und ihrem Leben als ein Meuchelmörder nach". Dieser andere Satz Hamanns umreißt die ganze Kunstrevolution des Sturmes und Dranges. Zum mindesten, was die „Willkür" betrifft. Denn hinter dem Willkürlichen steht für Hamann nicht nur das regelbrechend Befreiende, sondern als positiver Wert das Unwillkürliche im Sinne des Erlebnisunmittelbaren, also in dem Sinne, in dem späterhin H. v. Kleist „alles Unwillkürliche ist schön" sagen konnte, als er seinen eigenen Sturm und Drang durchlief. „Das unsichtbare Wesen unserer Seele offenbart sich durch Worte". Dieser dritte Satz Hamanns wie auch seine Vorstellung, daß aus dem „äußern und innern Instinkt das erste wort" geworden sei, belichtet blitzartig das R i n g e n um eine g e n i e z e i t g e m ä ß e s p r a c h p h i l o s o p h i s c h e G r u n d l e g u n g . Blitzartig und nur vorübergehend, denn die Spannungen und Verwerfungen in Hamanns sprachphilosophischen Ansätzen, Aufschwüngen und Umbrüchen zwischen dem göttlichen Offenbarungswort und menschlichem instinkthaften Wort, zwischen Wort als seelischer Offenbarung und Seelenausdruck und Wort als bloßem Gefäß, ja teils selbst noch als allegorischem Zeichen wollen und werden sich schwerlich einer einheitlichen Leitidee fügen. Aber für die Stürmer und Dränger genügte schon ein gelegentliches — und hinreichend grelles — Aufblitzen, um das neuartig Gefühlte und Geahnte zu wittern. Ein verheißungsvoller Wink, wie man der Zwangsjacke der „konventionellen Zeichen" entgehen konnte, war ihnen lieber als eine folgerichtig oder auch nur einigermaßen klar ausgebaute Sprachtheorie, die gewiß nicht Sache des Systemfeindes Hamann war. Wendungen und Sprüche wie die Hamanns, daß die Poesie die Muttersprache des menschlichen Geschlechts sei, daß es gewisse sinnennahe Empfindungen gebe, deren alleiniges „Feld" die Poesie und deren allein angemessene Ausdrucks-Form also auch die „Göttersprache" der Dichtkunst sein könne, derartige hintergründige Aussagen

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über die Sprache als ein Ursprüngliches, Urtümliches und in ihrer Ursprünglichkeit und Urtümlichkeit zugleich Poetisches, das etwa auch im Reichtum der deutschen Sprache an Inversion greifbar und auswertbar wäre: alles das sagte den Stürmern und Drängern und ihrem eigenen Spracherleben mehr, sagte vor allem auch ihrem Anreger Herder mehr zu als die sprachtheoretischen Erörterungen im engeren Sinne. Für das Kunstwollen des Sturmes und Dranges jedenfalls erwies sich diese Seite der Hamannischen Sprachdeutung als die eigentlich fruchtbare und als neuartig empfundene Wendung. Ob man nun Hamanns Sprachdeutung „mystisch" oder auch „mythisch" nennen und von hier aus erklären möchte: wesentlich bleibt, daß die Symbolhaltigkeit der Sprache von Hamann zum mindesten geahnt und angedeutet wurde, daß ihm die ganze Natur gleichsam eine göttliche Rede an die Kreatur war, daß die „Zeichen" der Sprache nicht mehr „willkürliche Zeichen" im Sinne der Aufklärung, sondern in Hamanns Sinn, d. h. „ w i l l k ü r l i c h e " unmittelbare und „hieroglyphische" Zeichen und also letztlich eben doch Symbole waren, daß, wenn einmal die älteren Termini hineinspielen (und notwendig verwirrend hineinspielen in Hamanns Aussagen über die Sprache) und von Mechanik sprachlichrhythmischer Erscheinungen die Rede ist, doch eben von einer „rätselhaften Mechanik" gesprochen wird und nicht von einer „konventionell" eingespielten und „willkürlich" vom Verstand gelenkten und regulierten Sprachmechanik wie in der Aufklärung. Gewiß gab es in der Aufklärung auch schon andere Ansätze, sogar gelegentlich den Hinweis auf das „Hieroglyphische". Aber das war nicht die tragende Grundschicht rationalistischer Sprachdeutung, ganz abgesehen davon, daß immer die Zeit berücksichtigt sein will, in der innerhalb der langlebigen (und mit dem Sturm und Drang sich überkreuzenden) Aufklärung derartige Wendungen begegnen, die dann ihrerseits z.T. schon einflußmäßig vom Sturm und Drang her erklärbar sein dürften. Kurz kann vielleicht soviel gesagt werden: das „Willkürliche" des „Zeichens" meinte in der Aufklärung das Rationalistische, ein vernunftmäßiges „Setzen" aus freier intellektueller Vollkommenheit. Das „Willkürliche" meinte bei Hamann das Unwillkürliche, also Irrationale. Neben derartigen sprachphilosophischen Umwertungen war es Hamanns breiter und tiefgestaffelter Vorstoß gegen die Zwingburg der Zeitphilosophie, der den Jungen zum ermutigenden Vorbild

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wurde; denn in diesem Vorstoß ballte sich Hamanns ganze vitale Kraft und ideelle Leidenschaft. So konnte von Hamann für Deutschland der erste große Impuls einer gefühlsmäßigen Dichtungsdeutung ausgehen, einer Rückbesinnung auf die göttlichen Ur- und Quellkräfte im Dichterischen, von denen frühere Jahrhunderte wohl auch gesprochen hatten, ohne vielfach den tieferen Sinn der göttlichen Begeisterung („furor divinus") zu verstehen oder gar zu erleben. Es könnte darauf hingewiesen werden, daß für Birken in der Barockzeit Ansatzmöglichkeiten gegeben waren, vom religiösen Bewußtsein her zu einer Vertiefung der Wesensbestimmung der Poesie zu gelangen. Die damalige Ausgangsposition war in mancher Hinsicht der späteren Hamannischen rein äußerlich gar nicht einmal so unähnlich. Auch für Birken stellte die Bibel die älteste, ehrwürdige, heilige Poesie dar. Auch für ihn war die biblische Bilderwelt tiefer, ehrfurchtgebietender als die Mythologie der Griechen; auch für ihn stellte der Dichter einen himmlischen „Springbrunnen" dar. Aber der Übergang zum Religiös-Intuitiven, zur Inspiration wurde nicht wirklich gefunden und vor allem nicht ausgewertet für die Poetik. Bei Birken blieb der Dichter der Diener Gottes, Mittler zum Zweck. Bei Hamann wurde er der Begnadete Gottes als Mittler des göttlichen Genius. Wenn es auch „ B i b l i s c h e B e t r a c h t u n g e n " sind, die noch auf der Vorstufe zur ausgeprägten Genielehre das bekannte Hamannwort bringen „Die wahre Poesie ist eine n a t ü r l i c h e A r t der P r o p h e z e i u n g " , so stoßen die darin enthaltenen keimhaften Ansätze doch bereits weiter vom Bereiche des Religiösen vor in das der Ästhetik, als es in Birkens gesamter Poetik geschehen war. Die starre, zeitbedingte, aber auch vom individuellen Eifern gesetzte Schranke, die Birken den Übergang vom moralischtheologischen ins künstlerisch-schöpferische Reich von vornherein versperrte, war die fromme Feindschaft gegen jede Sinnenfreudigkeit, so daß ihn letzten Endes der religiöse Antrieb seiner Poetik nicht einmal über seine Zeitgenossen hinausdrängte, sondern eher zurücktrieb hinter eine sich im Barock schon unverkennbar anbahnende Fortschrittsbewegung vom eng Moralischen zum Ästhetischen hin. Hamanns Religiosität dagegen ruhte tief eingebettet in einer kraftvoll-elementaren Sinnenfreudigkeit. Für ihn war durchaus Synthese, nicht nur weltanschauliche, sondern auch gefühlsmäßige Synthese, was einst für Birken noch Antithese gewesen war.

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Letzten Endes wird gerade Hamanns — mit Herder allerdings z. T. benachbarte — Sonderstellung bestimmt von dieser innigen Durchdringung des Supematuralistisch-Religiösen und Naturalistisch-Sinnlichen. R. Unger hat so klare Prägungen gegeben, daß es müßig wäre, sie durch vermeintlich bessere ersetzen zu wollen, so, wenn er die Formulierung vom Idealrealismus heranzieht, in dem sich realistische Greifbarkeit und unfaßliche, gestaltlose Ahnung verbinden, „eine Gehalts- oder Bedeutsamkeitsästhetik, aber mit kräftiger Betonung der konkreten Anschaulichkeit". Der Begriff Idealrealismus vermag überhaupt weitreichend Kunstwollen und Kunstleistung der Geniezeit zu umspannen. Wem er aber Verwirrungsmöglichkeiten mit dem poetischen Realismus des 19. Jahrhunderts zu bieten scheint — obgleich Otto Ludwigs Wort von Shakespeare, der immer den Kopf im Himmel, den Fuß aber stramm auf der Erde habe, recht gut auf Hamann zu übertragen wäre — , der sei auf Ungers wohl noch tiefer das Wesentliche und Eigenartige heraushebende Deutung verwiesen: „Ähnlich wie in der mythischen Weltanschauung der Vorzeit bleibt auch in der symbolischen unsers Autors das Ästhetische gleichsam im Schöße des religiösen Mutterbodens befangen". Es ist kennzeichnend, daß der jüngere Hamann vor seinem von Grund auf umwälzenden religiösen Erleben in London nur recht kärgliche Beiträge zu ästhetischen Fragen aufzuweisen hat und sich durchweg nur wenig abhebt von den Aufklärern und Auflockerern. Obgleich die Vertrautheit oder doch Bekanntschaft mit einer Reihe von kunsttheoretischen Schriften erkennbar wird, weiß er doch vorerst nur wenig damit anzufangen, schwankt daher in seiner Stellungnahme, tastet sich von Fall zu Fall mit einem an sich nicht besonders scharfen kritischen Urteil durch, was etwa in einer zwiespältig unentschiedenen Stellungnahme Lessing, aber auch Klopstock gegenüber zum Ausdruck kommt. In der geistigen Umwelt der „philosophischen Abgötterei" vermochte er sich eben nicht zu entfalten. Was an positiven Werten der Gestaltung und Formung bereits gegeben war: Streben nach schöner Proportion und durchgearbeiteter Regelmäßigkeit widersprach — auch wo ein Winckelmann das Wort hatte — seinem individuellen Wesen und ästhetischen Wollen, aber auch seinem Vermögen. Denn er drängte über die Gestaltung zurück zum Schöpfertum, über die regelmäßige Schönheit zurück zum eigen-

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willig und eigenwüchsig Charakteristischen, über das absichtsvolle Wollen zum dranghaften Müssen, über das kühle Erkennen eines geschulten Kunstverstandes zum warmen Fühlen und Einfühlen des Herzens und der Sinne. Die beiläufigen Äußerungen jener Vorstufen reichen kaum über das hinaus, was durch die Auflockerer bereits für die Kunsttheorie gewonnen worden war. Den großen Impuls für die Geniezeit vermochte er erst, zu geben, als ihn selbst der große religiöse Impuls mit verstärkter, zwingender Kraft gepackt hatte. Damit war dem bislang im Ungewissen oder doch Wesensfremden Tastenden die feste Richtung seiner wegbahnenden Vorstöße gegeben. Aus der Gläubigkeit wuchs ihm die gefühlsmäßige Zuversicht und Kühnheit der Umwertung und Umdeutung zu. Die religiöse Einfühlung trug ihn hinüber in die ästhetische Einfühlung. Und was er an Anregungen und Forderungen mehr hinwarf als bewußt gewann, ruhte auf eben diesem Grunde. Wie die Affektenlehre der pietistischen Schriftauslegung schon in den „ B i b l i s c h e n B e t r a c h t u n g e n " j e n e vorwärts weisenden Ansätze gefördert hatte, wie dort die Lehre der Auflockerer von der künstlich-natürlichen Unordnung schon unter dem Eindruck der Bibel eine gewisse, wenn auch noch nicht zu überschätzende Annäherung an den Organismusgedanken Herders erfährt, so wird auch für sein grundlegendes ästhetisches Manifest die religiöse Offenbarung zur ästhetischen Offenbarung, die religiöse Schöpfervorstellung zur künstlerischen Schöpfungswertung, die christlichtheologische Inspirationslehre zur ästhetischen. Die „ A e s t h e t i c a in nuce. E i n e R h a p s o d i e in K a b b a l i s t i s c h e r P r o s e " , das erste große* Anzeichen und Wegzeichen geniehafter Dichtungsdeutung in Deutschland, von Hamann selbst als Kernstück der „ K r e u z z ü g e des P h i l o l o g e n " (1762) empfunden und als deren zusammenfassenden „Bergkristall" bezeichnet, ist dennoch in unserem Sinne nichts weniger als eine kristallisierte oder gar systematische Kunsttheorie. Das aber hat •diese fragmentarisch-aphoristische Ästhetik allerdings mit der Kristallbildung gemein, daß die bizarren Einfälle und exzentrischphantastischen Stilblüten einer krausen, „kabbalistischen" Prosa wie Eisblumen aneinanderschießen aus Einzelkristallen und •dennoch ein Ganzes bilden, zum mindesten im Sinne der inneren Struktur. Das Einheitbildende liegt nicht in der Funktion des kombinierenden Verstandes, sondern in der ganzen Lebens-

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Stimmung und der Gesinnung des Rhapsodisten. Den Ansatzpunkt gibt — symptomatisch für die ganze Geniezeit als solche — die leidenschaftliche Abwehr rationalistischer Verwässerung und Ernüchterung, und — symptomatisch für Hamann — die spezifische Opposition gegen eine vernünftig-kühle Schriftauslegung nach der Art von Michaelis. Dieser Vergeistigung des Bibelglaubens setzt Hamann die Begeisterung entgegen, eine Begeisterung, deren Feuer dann auch vom Ethischen auf das Ästhetische übergreift. Fast barock wirkt die ganze Darstellung, und etwas vom Mythologischen prägt sich in Hamanns eigener Art aus. Denn den religiösen Untergrund befruchtet er zugleich mit Keimen des Sensualismus und Empirismus, so daß neben den Auftrieb ins Supernaturale die kräftige, saftige Lebensfülle einer erdhaften Sinnlichkeit tritt. Wenn man etwa hinsichtlich der Hamannischen Konzeption vom Ursprung der Poesie auf Anregungen Bacons hingewiesen hat, den die „Aesthetica" gewiß nicht zufällig des öfteren heranzieht, so liegt andererseits im größeren Entwicklungszusammenhang der schon angedeutete Rückblick auf die BarockPoetik nahe. Rein stofflich hatte hinsichtlich der Mythologie bereits manche Barock-Poetik die Anschauungen vertreten, die Hamann klar ausspricht: „Wenn unsere Theologie . . . nicht so viel wert ist als die Mythologie, so ist es uns schlechterdings unmöglich, die Poesie der Heiden zu erreichen — geschweige zu übertreffen". Aber was gegenüber solch' älterer Tradition und gegenüber Anläufen bei Montaigne, Bacon, Blackwell und selbst Voltaire, gegenüber der ganzen Vorgeschichte der Meinungen vom Ursprung der Poesie, wie sie das Thema vom Rangstreit der Künste und Wissenschaften aufgeworfen hatte, Hamann doch seine originale Stellung sichert, das ist die impulsive Spontaneität, mit der er die Ursprünglichkeit des Dichterischen erfühlt und nicht nur historisch erschließt und erweist. Es ist ein resoluter Sprung an Stelle des früheren stufenweisen Aufsteigens und hat dementsprechend ganz anderen Klang, wenn Hamann die berühmten Worte hinwirft: „Poesie ist die Muttersprache des menschlichen Geschlechts; wie der Gartenbau älter als der'Acker: Malerei — als Schrift: Gesang — als Deklamation. — Gleichnisse als Schlüsse. . . . " Und so steht es mit allen den zukunftsträchtigen Keimen, die unentfaltet, aber voll fortwirkender Lebenskraft ausgestreut werden. Wie dieser Gedanke von

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Herder aufgenommen und ausgebaut wurde, so klingt in einem anderen bereits jene neue Fassung des Naturnachahmungsbegriffes an, die den Dichter schöpferisch sein läßt nach dem Vorbild des Weltenschöpfers. Nur daß bei Hamann die rein religiöse Bindung strenger erhalten bleibt. Gott der große „Poet am Anfang der Tage" gestaltet seine Schöpfung, die doch zugleich „eine Rede an die Kreatur ist; denn ein Tag sagts dem andern, und eine Nacht tuts kund der andern". Ja, daß Hamann die symbolische Beziehung bis in A n s ä t z e der G a t t u n g s g l i e d e r u n g hinein festhält, beweist der Umstand, daß er die göttliche Schöpfung des Schauplatzes mit dem Typus der Epik, die Schöpfung des Menschen mit der dramatischen Dichtkunst parallel setzt; denn „jene geschah durchs Wort; die letzte durch Handlung". Soweit es aus Hamanns vielfach ironisch verhüllten Andeutungen erkennbar ist, lehnt er — wie ja schon mancher der Auflockerer — die Batteuxsche N a t u r n a c h a h m u n g s t h e o r i e spöttisch ab. „Eure mordlügnerische Philosophie hat die Natur aus dem Wege geräumt, und warum fordert ihr, daß wir selbige nachahmen sollen ? — Damit ihr das Vergnügen erneuern könnt, an den Schülern der Natur auch Mörder zu werden". Da er aber dabei an Mendelssohns Einschränkung Rousseau gegenüber denkt, also einen Auflockerer aufs Korn nimmt, der selbst doch Batteux abgelehnt und einen eigenen Illusionsbegriff ausgebildet hatte, so läßt sich wohl noch richtiger seine Stellung so deuten, daß ihm die Naturnachahmung im Sinne der Auslese einer „schönen Natur" und der „ästhetischen Wahrscheinlichkeit" nicht genügte, daß er vielmehr als Verteidiger des Charakteristischen gegenüber dem Schönen eine resolute Naturnähe forderte. An die Stelle der Als-Ob-Natürlichkeit rückt er das U r s p r ü n g l i c h - N a t u r h a f t e , das „ U r k u n d l i c h e der N a t u r " , etwa das, was wir (den Mißbrauch des Wortes immer ausgeschaltet) das Urtümliche nennen. Das Recht der Sinne wird so durchgesetzt gegenüber dem aufklärerischen Schein-Recht des Sinnen-Scheins (Illusion). Aber es handelt sich nicht um bloße Naturbeobachtung, sondern um leidenschaftliches Naturerleben. Daher treten „Sinne und Leidenschaften" fast überall als Zweieinheit auf, wobei die Bejahung der Leidenschaft gegenüber Lessings Abwehr oder Wielands „komischer" Entwaffnung der Leidenschaft klar sich abhebt. Von dieser Zentralstellung aus laufen die Verbindungslinien, wenn auch vielfach gebrochen, zur Naturforderung, zur

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Forderung der Bildhaftigkeit, zur Bestimmung des Schöpferischen. Die Natur selbst wirkt „durch Sinne und Leidenschaften", und diese wiederum „reden und verstehen nichts als Bilder". Das Original-Schöpferische aber, „die Empfängnis und Geburt neuer Ideen und Ausdrücke . . . liegen im fruchtbaren Schöße der Leidenschaften vor unsern Sinnen vergraben". Bewußt wird diese Gefühlskraft ausgewertet als Gegengewicht gegenüber einer rational-denkerischen Geisteshaltung, als überlegene Fähigkeit der Intuition, der „Anschauung" gegenüber logischer Ableitung: „Leidenschaft allein gibt Abstraktionen sowohl als Hypothesen Hände, Füße, Flügel; — Bildern und Zeichen Geist, Leben und Zunge — Wo sind schnellere (!) Schlüsse! — Wo wird der rollende Donner der Beredsamkeit erzeugt und sein Geselle — der einsilbige Blitz?" Auf das Attribut „schnell" sei besonders hingewiesen, weil jene reflexionsbefreite, l e i d e n s c h a f t l i c h e S c h n e l l i g k e i t , jenes „schnelle Zufahren" (Herder), das v o r allen Verstandesbemühungen und Verstandesbedenken spontan das Wesentliche packt und sicher ergreift, ohne es erst voll zu begreifen, ein charakteristisches Merkmal in der Kunstauffassung der Geniezeit ausmacht. Der Ängstlichkeit der Aufklärer vor der Leidenschaft als Erkenntnis-Verdunkelung und Tugendgefährdung wird das stolze Bekenntnis entgegengesetzt: „Wenn die Leidenschaften Glieder der Unehre sind, hören sie deswegen auf, "Waffen der Mannheit zu sein?" Zur Entfaltung aber bedürfen diese Kräfte einer durch keine Regelschranken gehemmten Freiheit im Phantasiebereich; und die Auswirkungsnotwendigkeit des „erstgeborenen Affekts der menschlichen Seele" rechtfertigt auch Willkür. Ein „Quacksalber" ist daher der, der Willkür und Phantasie ausschalten möchte; er kennt nur eine heuchlerische Sprache der Leidenschaften (i. d. Abschnitt: „Leser u. Kunstrichter", 1762). Zwar billigt Hamann nicht die absolute und grundsätzliche Verletzung jeder Regel und jeden Gesetzes durch jedermann. Der wirkliche Meister aber wird fruchtbares Neuland gerade jenseits der Gesetzesgehege suchen und finden: „Wer keine Ausnahmen macht, kann kein Meisterstück liefern, weil Regeln vestalische Jungfrauen sind, durch die Rom vermittelst Ausnahmen bevölkert werden mußte". Gelegentlich seiner Auseinandersetzung mit Mendelssohns Sprachstil-Kritik, die in der genialen Willkür und Eigenwilligkeit originaler Sprachgestaltung durch Hamann die Gefahr eines Ver-

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stoßens gegen den „ g u t e n " Geschmack erkennen und bekämpfen zu müssen glaubte, liefert Hamann einige fragmentarische Beiträge zum Problem G e n i e u n d G e s c h m a c k , das in immer neuen Abwandlungen durch die Epochen verfolgbar ist, und zwar in seiner „Hamburgischen Nachricht . . . " (1763). Danach führt das Ringen des Genialen — „das Gebet des Genies" — zur Erfüllung auch dort, wo der bloße Geschmack sich vergeblich bemüht. Ironisch wird die Problematik des damals so vielberufenen Geschmacks bloßgelegt mit der Frage nach dessen vermeintlich angestammten Rechten: „ W e r ist der Geschmack, des Stimme man gehorchen soll?" Und spöttisch fällt der Seitenblick auf dessen völlige Abhängigkeit vom jeweiligen Wohlgefallen des Publikums, auf das „sein parteiisches Auge allezeit gerichtet" sei, wie denn die „ F ü n f Hirtenbriefe" (1763) verächtlich von einer „Chimäre" des guten Geschmacks sprechen, der nur ästhetisch minderwertigen oder bestenfalls mittelwertigen Durchschnitt heranzuzüchten wisse. Der Ablösungskampf von der Vorherrschaft rationalistischen Wissensdünkels vollzieht sich schon zur Zeit der „ S o k r a t i s c h e n Denkwürdigkeiten" (1759), wenn mystisch tiefgründiges Erahnen und religiöse Überlegenheit sich angesichts der verstandesmäßig nicht greifbaren letzten Werte bewußt werden: „so weit reicht die Nase eines Sophisten nicht". Und wie bereits damals Spitzen vorgetrieben zu sein scheinen gegen den vorkritischen Kant, so wird späterhin der Anreger Herder nach Verlagerung des Angriffes von Hume auf K a n t notwendig in jene Oppositionsstellung gegen den Kantischen Kritizismus hineingetrieben, die wiederum die Benachbarung mit der Herderschen Stoßrichtung bei mancher Abweichung doch deutlich erkennen läßt. E s darf bei alledem nicht Hamanns eigenes Bekenntnis überhört werden, daß er H u m e bereits „studiert" habe, „ehe ich noch die Sokratischen Denkwürdigkeiten schrieb". Aber es darf ebenso wenig (im Bemühen, Hamann möglichst bruchlos und möglichst restlos in eine ausschließlich theologisch bestimmte Überlieferung einzufügen, wozu einige Sonderforschungen neigen) übersehen werden, daß er S h a f t e s b u r y schon vor den Sokratischen Denkwürdigkeiten nennt und kennt. Und es darf endlich nicht vergessen werden, daß, wenn auf der einen Seite Hamanns dem Ästhetischen zugewandte Sehweise und Blickrichtung fraglos vom

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Religiösen her gelenkt wurde, doch auch umgekehrt seine persönliche Erlebnisweise des Religiösen unverkennbare Züge des Künstlerischen und Sinnenhaft-Diesseitigen trägt. Zum mindesten gilt das für jene Epoche Hamanns, die für das geniezeitgemäße Kunstwollen noch als anregend in Betracht kommt. Und gerade diese Züge eines — z. T. unbewußt — umgedeuteten und umerlebten, s e i n e r e i g n e n A r t a n v e r w a n d e l t e n C h r i s t e n t u m s , eines christlich „Urkundlichen", das sich weitgehend dem sinnenhaft Urtümlichen nähert, waren es, die Hamanns Botschaft im Sturm und Drang lebendige Gewalt gewinnen ließen. Seine Gegenwehr gegen die Mystik (mag man auch mystische Teilelemente in seinem eigenen Wesen aufzuspüren trachten) dürfte ebenfalls ihren letzten Grund im liebevollen Bewahren, aber auch im betont kühnen H e r v o r k e h r e n des S i n n e n h a f t W i r k l i c h e n und Naturhaft-Erdgebundenen finden. Die Kraft der „ E r f a h r u n g " , die immer wieder zur Mutter Natur und Mutter Erde — für Schönaich waren das noch Spottnamen gewesen — treibt und dort auch andere die wahren Schätze zu suchen anweist, ist nicht geringer als die Kraft der „Offenbarung". Die rein religiösen Kräfte hätte man auch im Pietismus, von dem schon Hegel Hamanns Art des religiösen Erlebens scharf gesondert wissen wollte, finden können. Dazu hätte die junge Generation, die gewiß diese Quelle vertieften Empfindens selbst kannte und nutzte, nicht eines Hamann bedurft. Es war die Gefühlsunmittelbarkeit und Gefühlskraft, die Lebensunmittelbarkeit und L e b e n s k r a f t , die s i c h am C h r i s t e n t u m nicht brach, sondern — trotz der Spannungen — s t e i g e r t e durch ein Angleichen und Anverwandeln der göttlichen Schöpfungsfruchtbarkeit, es war das leidenschaftliche Ja-Sagen zur Lebenskraft, was der Lebenssehnsucht des Sturmes und Dranges entgegenkam und auf ästhetischem Gebiet dem Kunstwollen den Zugang öffnen half zur programmatischen Forderung der Erlebnisdichtung. Erst J o h a n n G o t t f r i e d H e r d e r (1744—1803), am vorzüglichsten berufen und geeignet, Hamanns Andeutungen zu Deutungen zu verdichten und Hamanns Entwürfe zu weitwirkenden Würfen in der Literaturphilosophie und Sprachphilosophie abzuwandeln, brachte aus Eigenem die Fähigkeiten mit, um jenen Zugang zur Wert- und Wesenserkenntnis der Erlebnisdichtung nicht nur für Augenblicke, sondern für die ganze weitere Zukunft deutscher Dichtung und Dichtungsdeutung offenzuhalten. Es geht

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dabei vorerst um den jüngeren Herder der Odenabhandlung, des Ossian-Aufsatzes und des Shakespeare-Aufsatzes, der „Fragmente", des „Torsos", der „Kritischen Wälder", die sich an eine g e n i e z e i t g e m ä ß e Ä s t h e t i k (nicht nur Poetik) heranwagen (und zwar zeitlich vor der vielfach als geniezeitgemäß begrüßten Poetik Klopstocks in der „Gelehrtenrepublik"), des Reisejournals, kurz um den Herder, der über Hamann und Gerstenberg hinweg zum wirksamsten Anreger des Sturmes und Dranges und seines Kunstwollens wurde. Als Träger und Förderer des Organismusgedankens, des Volksliedgedankens, der Genievorstellung, einer beseelten Dichtersprache als Gefühlsausdruck (vorwiegend in Einzelbeiträgen j e n s e i t s der mehr Thomas Abbt u. a. verpflichteten Preisschrift über den Ursprung der Sprache), einer gefühlsmäßigen Shakespeare-Vermittlung, einer sinnhaften Homer-Auslegung, einer voll ausgeprägten Wesensdeutung des Lyrischen, einer feinnervigen historischen, nationalen und künstlerischen Einfühlung (Einfühlungskritik an Stelle der normativen Gesetzeskritik), hebt er die untrennbare Zweieinigkeit des Urtümlichen und Volkstümlichen, des Organischen und Künstlerischen, des Naturhaften und Volksmäßigen aus dem brodelnden Wirrwarr junger Bestrebungen kraftvoll befreiend heraus. Indem seine genetische Deutungsweise zugleich aus dem jugendlichen Mangel des unvollendet Werdenden den konstruktiven Vorteil des lebendig werdenden Lebensstroms, der etwa auch den Handlungsbegriff der Dichtung vertiefend umdeutet, den Vorteil des melodienhaft strömenden Dichterwortes zu machen versteht, lehrt er die Jungen dieses Werdende als unentbehrliche und dichterisch triebmächtige Lebenskraft und „Energie" umzudeuten und schöpferisch entsprechend umzusetzen. Wohl das edelste Zeugnis für diese Fähigkeiten, die vom Theoretisieren zum Produzieren hinzulenken verstanden, bleibt G o e t h e s dankbares Gedenken an die Straßburger Begegnung mit dem jungen Herder: „Ich ward mit der Poesie von einer ganz andern Seite, in einem andern Sinne bekannt als bisher, und zwar in einem solchen, der mir sehr zusagte" (in „Dichtung und Wahrheit", BuchX). Aber auch G. A. B ü r g e r empfand dankbar Herders Anregungen gelegentlich der Konzeption seiner „Lenore"Ballade. Bei dem jüngeren H e r d e r wird besonders deutlich ablesbar, wie die Erfassung der Lyrik als einer Ausdruckskunst persönlichen Sti M a r k w a r d t , Poetik II

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Erlebens und reflexionsbefreiten Erfühlens vor allem es war, die jene für Jahrhunderte entscheidende Schwenkung von der rationalistischen zur irrationalistischen Kunstanschauung und Literaturphilosophie vollziehen half. Was in Fr. J. W. S c h r ö d e r s „Lyrischen, elegischen und epischen Poesieen n e b s t e i n e r k r i t i s c h e n A b h a n d l u n g " (1759) bloße Vorarbeit geblieben, was vollends im ersten Kapitel der Gottschedischen „Critischen Dichtkunst" (1730) noch gebrochen aufgeklungen war, als verirrter Ton, der bei Gottsched notwendig erstickt wurde, was vordem Joh. A. Schlegel leicht und noch zaghaft berührt hatte, das wird jetzt zur unendlich beseelten Leitmelodie. H e r d e r s g e n e t i s c h e T h e o r i e der L y r i k . Herders „Erstes kritisches Wäldchen" trägt nicht zufällig von der Lyrik her den Angriff einer gefühlsbejahenden, sieht- und klangfreudigen Dichtungsdeutung vor gegen die kunstverstandesscharfe Dichtwerkanalyse des „Laokoon". Dem letzten großen Poetiker kritisch logisierender Theorie, die immerhin wesentlich und wesenhaft vorgeschritten war über die Beharrungsstufe reiner Anweisungsund Lehrpoetik, steht in diesem „Anti-Laokoon" der erste große moderne Literaturphilosoph gegenüber. Aber während dort im Ringen der Kunstauffassungen eine neu erstarkte Kunstgesinnung bereits in polemische Taktik umgesetzt werden konnte, war schon vorher diese Kunstgesinnung als solche und als Rückbesinnung auf die dichterischen Urwerte des Lyrischen grundsätzlich vertreten worden in der „ O d e n - A b h a n d l u n g " (1764, damals jedoch nicht veröffentlicht). Ganz bewußt sucht die Odenabhandlung durch die klaffende Lücke einer Wesensdeutung der Lyrik einzudringen in die Zentralstellung des Dichterischen schlechtweg, ausgehend von der Frage, warum denn bislang diese „wahren Arten der Dichtkunst so wenig . . . erklärt" worden seien, da sich doch gerade von der lyrischen Werdeform und Wirkungsform aus der „ganze große Originalzug der Gedichtarten . . . entwickeln: das reichste und unerklärteste Problem" aussichtsreich anpacken lassen würde. Die Unmöglichkeit einer Wesenserfassung der Lyrik mit rationalen Mitteln erkennt Herder durchaus; denn in dem Maße, wie sich die Gedichtgattungen „der Empfindung nähern", verwickelt sich entsprechend ihre Deutung und theoretische Erklärung. Das, was der Anreger Goethescher Erlebnislyrik und Herausgeber der „Volkslieder" dann in die Kunstleistung, ins Dichtschaffen

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wenigstens mittelbar umsetzen konnte: eben das Neue, Zukunftträchtige erspürt sein feiner Instinkt bereits hinter jenen Widerständen, welche die Lyrik einer theoretischen Erläuterung entgegensetzt. Zum mindesten für Kenner der „Bewegungshebel" unseres Herzens ruhen dort „unentfaltete Geheimnisse und fruchtbare Entwicklungen" verborgen und ungenutzt. Die Ode — und sie steht noch für die Lyrik schlechthin — gilt als das erstgeborene Kind der Empfindung, als Ursprung der Dichtkunst und „Keim ihres Lebens", als das unverdorbene Naturkind, das der Gefühlsechtheit am treuesten geblieben ist. Und eben weil diese Dichtart der Mutter Natur am nächsten steht, bleibt sie die originalste und der „Grund der übrigen". Die E i g n u n g z u m G e f ü h l s a u s d r u c k verleiht der Lyrik das Recht auf die höchste Rangstufe; denn dieser neugewonnene Wertmesser des Gefühls fordert eine Umwertung der hergebrachten Rangordnung. Die Bevorrechtung des Epos, die zu verwerfen ist, war nur solange relativ vertretbar, als man die Bewunderungs-Erregung zum Zweckziel der Dichtkunst gesetzt hatte. Am Gefühl gemessen, das jetzt maßgebend werden muß, steht bereits das Drama über dem Epos; am weitaus höchsten jedoch die Lyrik. Wie es nun Herders schon damals stark ausgeprägtem historischen Sinn naheliegt, wird die lyrische Wesensform vorwiegend aus der Werdeform, aus dem genetischen Vorgang abgeleitet. Und zwar ist die Vorstellung von den Lebensaltern der Poesie und die Verbindung dieser Vorstellung mit der Wesensdeutung der Poesie bereits in der Odenabhandlung vorbereitend gegeben. D i e l y r i s c h e W e s e n s - u n d W i r k u n g s f o r m zeichnet sich klar ab neben der genetischen Bestimmung der Werdeform, wenn erklärt wird, daß der Geist der Ode (=Lied) gefühlsmäßig und deshalb den Zergliederern so schwer erfaßbar ist, wenn die geistlichen Lieder gerühmt werden, weil sich in ihnen unser ganzes Herz gleichsam wiederfindet, wenn dem Herder der „ F r a g m e n t e " (1766/7) Klopstocks lyrische Dichtungen vorzüglich deshalb gefallen, weil sie „mehr auf das Herz" wirken: „und danach beurteile ich den Wert eines Liedes". Und wie schon die Odenabhandlung dem „Faden der Leidenschaft", der sich in jeder lyrischen Wirkungsform „zeige", nachgespürt hatte, so wird immer wieder diese reine Kernkraft des Gefühls freigehalten oder freigekämpft (so gegen Lessing) von reflektierenden, intellektuellen Einschlägen und Verflechtungen. Nachdrücklich betonen die „ K r i t i s c h e n

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W ä l d e r " (1769) mit charakteristischer Inversion: „Gefühl ist der Ton der Lieder und nicht eine Charakteristik allegorischer Wesen". Ja, bereits über die Lyrik hinaus gilt die Gefühls-Resonanz wertmäßig als das beste und zuverlässigste Kriterium einer wahrhaften Dichtung; denn „die sicherste Kritik eines Gedichts ist die Reihe meiner Empfindungen". Und in dem Auszuge aus einem „ B r i e f w e c h s e l ü b e r O s s i a n u n d die L i e d e r a l t e r V ö l k e r " in den fliegenden Blättern „Von deutscher Art und Kunst" (1773), in dem eine Auffrischung der genetischen Wesensbestimmung erfolgt, läßt Herder die Lieder der naturnahen „wilden" Völker auch dem spezifisch Lyrischen deshalb näherstehen, weil dort der Urquell des Gefühls noch nicht verschüttet sein kann von Reflexion und kultureller Mittelbarkeit. Jene Lieder, die den unverkümmerten und unbekümmerten Affektausdruck festhalten, entstammen zu ihrem Vorteile jenen Zeiten, „da man noch wenig dachte, aber desto mehr fühlte". S u b j e k t i v i t ä t und S i n n l i c h k e i t im Sinne von Naturnähe helfen weiterhin den Stamm des Lyrischen befreien von der Überwucherung durch das Normhaft-Allgemeingültige und das abstrahierend Gedankliche. Die „Aufsuchung dieses subjektiven Fadens" erscheint ihm wesentlich und besonders in lyrischen Frühformen auch durchaus möglich, weil der Lyriker dort „meistens sein Gefühl" besang — oder treffender mit Klopstock zu reden — sein Gefühl sang. Auch theoretisch fruchtbar muß daher die reizvolle Aufgabe sein, derartige „älteste, wahrhaftig lyrischen Stücke in diesem subjektiven Gesichtspunkt zu zergliedern". Unzweideutig und voll entfaltet tritt die Wesenserkenntnis zutage, daß Lyrik Ausdruck eines „subjektiven poetischen Talents" ist und sein muß. Und schließlich stellt schon die Odenabhandlung neben den Gefühlsausdruckscharakter und die Subjektivität als dritten, zugleich für das gesamte Kunstwollen der Geniezeit kennzeichnenden Faktor die Lebens- und Wirklichkeitsnähe, die Sinnlichkeit der Gestaltungsform, wie sie ohne weiteres durch den Affektgehalt gegeben ist; denn „immer ist der Gegenstand der Empfindung sinnlich". Eben deshalb waren die früheren im Vorteil, während jene „Fähigkeiten der sinnlichen Tierseele" späterhin nur allzusehr erstarben. Wie klar bereits die ausgeprägt lyrische Liedform ins Auge gefaßt wird, beweist die Anschauung, daß auch unsere „guten lyrischen Stücke" den vornehmsten, wesenhaftesten Zügen nach „Lied" seien, wobei der einfältig und einschmeichelnd monotone

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Rhythmus „unserer Kinder- und Bauernlieder" als national bedingt gilt. Gewiß verwertete der Herder des O s s i a n - B r i e f w e c h s e l s manchen anregenden Gedanken, manche Einzelheit auch der „ C r i t i c a l D i s s e r t a t i o n " (1763) von H u g h B l a i r , die ihm zuerst durch den Auszug in Chr. F . W e i ß e s Ossian-Rezension bekannt geworden war. Aber in dem letztlich entscheidenden Zuge wich er doch eben von Blairs Auffassung unzweideutig ab. Während Blair, so sehr er schon die „barbarischen" Zeiten als dem poetischen Erleben höchst günstig hingestellt hatte, dennoch Ossian durch die Autorität des Aristoteles auch und vorwiegend als Kunstdichter zu sichern trachtete, rückte Herder sein Ossianerlebnis schon rein stimmungsmäßig in die geweihte Sphäre der ungekünstelten Naturdichtung, die erst der neueren Kunstdichtung den ersehnten Kraftstrom zuführen sollte. Für ihn mußte ein Inbeziehungsetzen von Ossian mit der Poetik des Aristoteles notwendig als abwegig erscheinen. Und so gern er Ossian ausspielte als Beleg für eine ebenbürtige Frühdichtung neben Homer (z. B. gegenüber Lessing), so wenig sah er wie sonst vielfach die zeitgenössische Kritik in Ossian einen „zweiten" Homer, sondern durchweg den „anderen", national abgehobenen Homer von voller Eigengeltung. Mit anderen Worten: Herder nahm aus Blairs Abhandlung wie auch aus Macphersons Begleitaufsätzen nur das an, was ihm wesensgemäß und dem konstruktiven Aufbau seiner L e i t g e danken von einer ursprünglichen nationalen Frühd i c h t u n g (die J. Grimms Lehren weit vorauseilten) fördernd einzufügen war, jener Leitgedanken, die nicht erst durch die Begegnung mit Ossian wachgerufen, wohl aber d u r c h d a s Ossia n - u n d P e r c y - E r l e b n i s g e k r ä f t i g t und bestärkt wurden. Und schwerer als jene Einzelheiten wog der Umstand, daß der Einfühlungskritiker Herder in Blair einen irgendwie wesensverwandten Mitstreiter begrüßen zu können glaubte, während wir vielleicht doch eher geneigt wären, Blairs kritisches Verfahren gegenüber Ossian mit dem kritischen Verfahren Lessings oder Gerstenbergs gegenüber Shakespeare zu vergleichen. Jedenfalls stand der kritische Typus Blairs noch zwischen dem Lessings und Herders, so daß er in Deutschland eher einem Chr. Garve oder bestenfalls einem Gerstenberg zu vergleichen wäre als einem Herder, und zwar auch rangmäßig. Wesentlich bleibt bei alledem

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die V e r s c h m e l z u n g des U r s p r ü n g l i c h - U r t ü m l i c h e n u n d V o l k s t ü m l i c h e n m i t dem L y r i s c h e n auch innerhalb des Ossian-Erlebnisses. Nicht die einzelnen Begegnungen mit den beispielhaften Trägern des Ursprünglichen und Urtümlichen sind das Entscheidende: es geht Herder zuletzt um dieses Ursprüngliche und Urtümliche an und für sich. Und es geht ihm um das Z u s a m m e n s e h e n u n d I n e i n s w i r k e n des U r s p r ü n g l i c h - U r t ü m l i c h e n m i t dem V o l k s t ü m l i c h e n oder dem „Volksmäßigen", wie Herder und vor allem G. A. Bürger es zu benennen gewöhnt sind oder dem „Volkssinnigen", wie Schubart es umschreibt. Deshalb erscheint etwa ein Lied um so „volksmäßiger", je „älter" es ihm zu sein dünkt. Es wäre müßig, Erörterungen darüber anzustellen, ob das Ursprünglich-Urtümliche oder das Volkstümliche den Ausgangspunkt Herders bestimmt oder wertmäßig das Übergewicht gewinnt. Beide Vorstellungen waren für den jungen Herder schlechthin untrennbar. Sein Entwicklungsgedanke, seine genetische Betrachtungsweise brauchte die kulturgeschichtliche Szene des Ursprünglichen, Urtümlichen, des zeitlich und entwicklungsgeschichtlich sehr Frühen, um auf dieser stimmungsvollen mehr als bestimmten Szene das „Volksmäßige" und Volkstümliche stilgerecht auftreten zu lassen. Und ein sicheres Gefühl für die unverbrauchten Bewahrungskräfte und für die ursprünglichen Lebenskräfte im Volkstümlichen bzw. „Volksmäßigen" brachte es ohne weiteres mit sich, daß er vom Volkstümlichen her sogleich und zugleich die historischen und vorhistorischen Rückverweise auf jene Urdichtung wirksam werden spürte. Daß er dabei nicht kritiklos dem Kultus des Sinnlich-Naturhaften (Rousseau) verfallen ist, beweist seine Deutung und W e s e n s e r k l ä r u n g der P o e s i e als e i n e r g e i s t i g e n K u n s t im v i e r t e n der „ K r i t i s c h e n W ä l d e r " . Aber es wird so auch die starke Spannung und Anspannung in der Dichtungsdeutung des jungen Herder sichtbar (Poesie als „Urmutter" einerseits und als „späte Enkelin" andererseits), eine Spannung, die nicht einfach durch den Zauberspruch existenzialphilosophischer Konstruktionen aufgehoben und behoben werden kann. Vorherrschend bleibt für den jungen Herder jedoch der doppelte Kraftpol des Ursprünglichen bzw. Urtümlichen und Volkstümlichen bzw. Volksmäßigen, ob er nun die alten keltischen Lieder in Sprache und Ton „des Landherzens wild singen hören" möchte, die ihm in Denis' Hexameterübertragung als bloße „be-

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balsamierte Papierblumen" erstarrt erscheinen, ob er von „Ossian, den Liedern der Wilden, der Skalden, Romanzen, Provinzialgedichten" mit ihrem stämmischen Verwurzeltsein den „bessern Weg" auch für eine neubelebte Dichtung seiner Gegenwart erhofft, ob er in den Gedanken „Von Ähnlichkeit der mittleren englischen und deutschen Dichtkunst" wie schon vorher zu entsprechenden Sammlungen anregt, wobei auch die „Mythologien", die Volksmärchen und Sagen nicht vergessen werden und innerhalb der Nationalmythologie die stämmisch verbesonderte Mythologie gleichfalls ins Blickfeld gerückt wird. Zu dem Ursprünglich-Urtümlichen und Volkstümlichen tritt die V o r s t e l l u n g des M y t h o l o g i s c h e n als einer Ur- und Grundform menschlicher Welt- und Naturanschauung und Welt- und Naturdeutung. Das Ringen Herders um eine nordische Mythologie — denn auch in diesem Bezirke bestehen starke Spannungen und Anspannungen — wurde bereits an anderer Stelle (Gerstenberg-Abschnitt) kurz berücksichtigt. Das Mythologische ist für den jungen Herder zunächst einmal nur eine der Formen und Erlebnisweisen, in denen sich das Ursprüngliche, das Urtümliche, das Bildfreudige und Deutungsfreudige äußert. Und zwar frei beweglich äußert in poetischen Anschauungsweisen, noch bevor die Philosophie eine denkerische Verdichtung, aber auch eine formungsmäßige Verdünnung zum nur Begrifflichen bringt. Der Bedeutung des Mythologischen für das Dichterische ist sich Herder frühzeitig bewußt. Auch die nationale Bezogenheit des Mythischen empfindet und erkennt er, warnt aber streckenweise vor zu weitgehenden Folgerungen, auch deshalb, weil ihm „innerer Geist und innere Bearbeitung" innerhalb der modischen Bardenpoesie (Kretschmann) zu fehlen schienen. Andere kritische Hemmkräfte, wie sie bereits gelegentlich der Darstellung der Barden-Theorie sichtbar gemacht wurden, spielten mit. Deshalb gelingt Herder k e i n e r e s t l o s e V e r s c h m e l z u n g s e i n e r K o n z e p t i o n e n des U r s p r ü n g l i c h - U r t ü m l i c h e n u n d V o l k s t ü m l i c h e n e i n e r s e i t s mit dem M y t h o l o g i schen a n d e r e r s e i t s trotz einer Reihe von recht frühen und beachtenswerten Ansätzen (Mallet-Rezension, Ossian-Briefwechsel u.a.). Ur-Mythologie undUr-Sprache rücken für den jungen Herder eng und innig aneinander. Schon dadurch ist für ihn zugleich die Nähe des Mythus zur Poesie gegeben; denn — in Nachfolge Hamanns — gilt ihm Poesie als die Muttersprache und Ursprache des

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Menschengeschlechts. Die organische Ganzheit: Nationalsprache, Nationaldichtung, Nationalmythologie wird mehrfach von Herders Ideengängen erstrebt, wie sie notwendig als ideales Ziel aus allen — teils recht beträchtlichen — zeitgenössischen Trübungen vor ihm aufleuchten mußte. Für die Frühformen wird es ihm verhältnismäßig leichter, diese Dreieinheit zu erleben und als Ideal zu setzen. Für seine Gegenwart erschwerte der Mißbrauch der Bardendichtung dieses Ineinsbilden. Hier meldet er nachdrücklich seine ernstlichen Bedenken an. Auch forderte die nüchterne und anmaßende Abwehr der antiken Mythologie durch K l o t z (Homerische Briefe) Herder zur Verteidigung im Fragment „Vom neuern Gebrauch der Mythologie" und in den „Kritischen Wäldern" heraus, wobei u. a. Christ. Ad. K l o t z ' Vorschlag, n a t u r w i s s e n s c h a f t liche Entdeckungen für den Ausbau einer modernen Mythologie zu nutzen, als unzulänglich abgewehrt wird. Immerhin ist der Ansatz bei Klotz, nicht nur im weiten Vorausblick auf Wilhelm Bölsche, bemerkenswert. D i c h t u n g u n d Volk, Poesie und Nation erlebt Herder — und nicht zum wenigsten der jüngere Herder — schon deshalb als organische Einheit, weil die Dichtkunst als Kunst des beseelten Wortes an die Nationalsprache gebunden ist und der „Genius" der Sprache zugleich den „Genius von der Literatur einer Nation" ausmacht und diesen Genius auch gefühlsmäßig und gesinnungsmäßig kundmacht. Wie die Dichtung der gefühlsstarken Frühzeit mit ihrer Bildfreudigkeit, ihrer Dichte, ihrer markigen Bündigkeit, ihrem Reichtum an affekthaltigen Inversionen, ihrer kühnen Ruckhaftigkeit in der Stilbewegung der Nationalsprache ihr ursprüngliches, volkstümliches und eigentümliches Gepräge ausbilden hilft, so erhält wiederum die Nationaldichtung späterer Entwicklungsräume ihr Gepräge aufgedrückt vom Sprachgeist einer Nation. Eine ständige Neubelebung des jeweiligen und gerade des späteren Sprachbestandes durch lebenshaltige, seinshaltige, sinnenhafte, kraftvolle, „nervichte" ältere Sprachformen muß die erwünschte Wechselwirkung von Sprachgeist und Volksgeist in ständigem Werden und Wachsen, in lebendig strömendem Austausch erhalten. Ein bloßes Übernehmen aus fremdem Sprach- und Nationalbestand verstößt demnach notwendig „wider alle Gesetze der Nation". Ein bloßes Übertragen der kritischen und geschmacksmäßigen Wertungen einer Nation auf eine fremde Nationaldichtung widerstreitet allen Grundgesetzen der Einfühlungskritik. Das

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eine betrifft die Musternachahmung über Sprachgrenzen hinweg und führt zu entsprechenden Forderungen an den Übersetzer. Das andere betrifft die ästhetische und wertende Beurteilung und führt zu entsprechenden Forderungen an den K r i t i k e r und Ä s t h e t i k e r , aber auch an den Poetiker. „Nationalgeist" ist im Kern seiner unverlierbaren, obwohl wandlungsfähigen Substanz „Volksgeist" oder „Gefühl des Volkes" (Kritische Wälder). Auch Nationalsprache und Nationaldichtung finden ihre Nahrung und Halt gebenden Wurzelkräfte im Volksgeist, in jenem „Gefühl des Volkes". Die Urtümlichkeit und Eigentümlichkeit des Volksgeistes und Volksgefühls birgt zugleich ein Naturhaftes in sich. So kommt es, daß für Herder die Vorstellungen von Naturpoesie und Volkspoesie innig ineinander greifen, ja recht eigentlich dasselbe sehen und sagen, nur eben von verschiedenen Blickwinkeln her anschauen und mit verschiedenen Benennungen aussagen. Eine vom Volkstum gelöste Naturpoesie im strengen Sinne dürfte es für Herder im Grunde nicht geben. Nur einige Schritte drängt ihn der Zustrom von J. J. Rousseau her und die Widerstandskraft gegen die betonte Kulturdichtung der Aufklärung in diese Richtung. Der Ausweg einer Art von v o r - n a t i o n a l e r N a t u r d i c h t u n g widerstrebt aber sehr bald Herders in geschichtlichen und frühgeschichtlichen Formen sich erst voll entfaltender Vorstellungsweise. Aus Familien und Sippen schon schlägt ihm die Vorwelle des großen Lebensstroms des Nationalgeistes entgegen. Homer so gut wie Ossian denkt und d e u t e t sich Herder als n a t u r h a f t e Volksdichter. Deshalb widerspricht er Lessings Homerdeutung, die „Kunstgriffe" abzulesen trachtete, wo Herder die unmittelbare Sinnenhaftigkeit erlebte und liebte. Deshalb widerstreitet seinem Gefühl die Ossianübertragung Denis', weil sie ihm den vermeintlichen Naturdichter zu sehr zum Kunstdichter umzubiegen und umzufälschen schien. Auch die „wilden Völker" und die „alten Völker" werden immer schon irgendwie — ganz klar wird das nämlich nicht I — als Völker gesehen und auch ausdrücklich als „Völker" durchgängig bezeichnet. Das Idealbild eines „rohen, einfältigen, aber tiefer fühlenden Volkes" (Krit. Wälder, mit Bezug auf die alten Schotten) hat seine Farben ursprünglich mehr von der Bibel (Hamann) und Homer, dann aus der Edda und aus Ossian bezogen, wobei die Vielfarbigkeit, die dennoch immer wieder auf eine gewisse Grundtönung gebracht wird, durch Percys

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Sammlung (vermittelt durch Raspe) eine weitere Bereicherung erfuhr. Wenn Herder die Edda anfangs für keltisch hält (aber auch in den „Kritischen Wäldern" unterscheidet er Kelten und Skandinavier), wenn er Ossian nicht als spätere Improvisation erkennt (wie Gerstenberg es tat), so spricht das nicht für eine ideeliche Schwäche, sondern allenfalls für eine wissenschaftlich-kritische Schwäche seiner Position. Ideelich erweist sich gerade an solchen Irrtümern die Stärke und Kraft seines Glaubens an eine Urdichtung, die ihm zugleich Sinnbild und Vorbild bedeutet, um der ungebrochenen Kraft, der Erlebnisunmittelbarkeit, der Gefühlsfülle und der spannkräftigen Dynamik („Sprünge und Würfe"), der Sachenfülle und Seinsfülle ihres Ausdrucks willen. In dem Grade jedoch, in dem in allen derartigen Ausdrucksformen das Unmittelbare, Ursprüngliche und Gefühlsmäßige gesucht wird, mußte, gattungstypologisch gesehen, die Lyrik es sein, die zur Ausgangsstellung für eine Neubelebung der Dichtweise auch für die damalige Gegenwartsdichtung vorzüglich geeignet erschien. Wie stark das Neu-Sehen und Neu-Deuten des Dichtertums und des Dichtertypus gerade vom neugewonnenen lyrischen Blickpunkt her in seiner ganzen Richtung bestimmt wurde, läßt die Odenabhandlung — bei aller Würdigung Hamannischer Einwirkungen — zweifellos erkennen. Die Konzeption — fast möchte man sagen: Vision — eines spontan aus der lebendigen Gefühlssteigerung heraus schaffenden Künstlers setzt die latente Bereitschaft des Schöpfers zum Beeindrucktwerden und Ausdruckswollen bewußt und betont ab gegenüber einem nur nachahmenden Anempfinden: „Das muß schon in uns schlafen, was der Gegenstand aufwecken soll". Ein höchst bedeutsamer Gedanke, der späterhin den jungen Schiller aufs neue bewegt. Der Antrieb und Auftrieb zur dichterischen Produktion hat aus dem Erleben heraus zu erfolgen „Bei lebendigen Vorfällen in poetische Wut zu geraten, die in Ode u.s.w. ausfließt: ist das Originalgenie eines Idealpoeten". Unentbehrlich ist auch hier jene längere Kernstelle, die einmal die Stufenleiter der Lebensfunktionen andeutet, weiter aber bewußt nach Wesen und Zweck des Dichterischen Ausschau hält, schließlich den Typus des echten Dichtertums klar und kräftig heraushebt, um in immerhin spürbarer, aber doch geringer Zeitbefangenheit (1764!) den älteren Zweckvorstellungen noch eine, wenn auch sehr untergeordnete Geltung einzuräumen:

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„Lebe zuerst, dann empfinde, dann handle, endlich denke und stirb. Dies ist die Leiter der Menschheit und seines subjektiven poetischen Talents; vielleicht wird man hieraus auch die Zwecke der Dichtkunst aufsteigern, ohne zwischen Nutzen und Vergnügen schwanken zu dürfen. Des eigentlichen Dichters Trieb ist Wut; seine Worte Pfeile; sein Ziel das ganze Herz; dies ist das Göttliche, Unaussprechliche der Dichtkunst. Gemildert ist sein Zweck Rührung: und sein Trieb Aufweckung. — Noch mehr geschwächt heißt sein Stachel Vergnügen und seine Absicht, die Neigung zu gefallen. Die entfernteste, uneigentlichste Triebfeder ist Grundsatz und sein Endzweck Nutzen, der selbst im Lehren, Trösten noch bloß ein entferntes Mittel bleibt". Gern läßt man beim Zitieren dieser Stelle den Schlußteil fort, ganz mit Unrecht. Gerade so erst ergibt sich die volle Umkehr früherer Wertung: was früher als nächstliegendes Ziel galt, wird weit abgerückt und „entfernt"; was dagegen früher vielfach nur traditionell mitlief, die göttliche Ausdruckskraft (der furor divinus) unter affektvollem Impuls, nimmt jetzt die Zentralstellung ein. Diese sogleich sicher aufgenommene Gefühlsrichtung wird dann in den „Fragmenten" beibehalten, nach denen das, „was ein Genie bildet", also Bildungsfaktor des Genialen zu sein vermag, in „Leidenschaft und Empfindung" gefunden wird. Die M ö g l i c h k e i t e n e i n e r „ Ä s t h e t i s c h e n P o e t i k " überprüft die Odenabhandlung noch recht skeptisch, während hinsichtlich der Dichtgattung die Hoffnung sich durchsetzt, daß wahrscheinlich von der Odenbetrachtung her neues Licht auch auf die anderen Dichtungsarten fallen werde. Das klingt noch bei Jean Paul nach, für den „die Lyra, da Empfindung überhaupt die Mutter und der Zunderfunke aller Dichtung ist, eigentlich allen Dichtformen" vorausgeht. Die Zuversichtlichkeit der alten Lehrpoetik im Anweisen, aber auch die Selbstsicherheit der Auflockerer im Gesetzfinden (Wirkungsgesetze) wird aufgegeben. An ihre Stelle tritt das Bewußtsein der Zwiespältigkeit einer solchen KunstWissenschaft überhaupt. Denn während Mendelssohn etwa in den Künsten, und zwar besonders in der Dichtkunst Aufschlüsse suchte über die Empfindungen als Bauglieder einer Psychologie, möchte Herder — nachdem ihm die Gefühlsgrundlage der Poesie aufgegangen ist — von den Empfindungen her, zuerst psychologisch, dann physiologisch den Künsten und darunter auch der Dichtkunst beikommen (4. krit. Wäldchen). Und es war nur folgerichtig, wenn in dem Augenblick, wo die Poetik als Kunstwissenschaft gleichsam

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neu entdeckt wurde, sich zugleich die ganze, nicht gerade ermutigende Erkenntnis der Problematik ihrer methodischen Mittel und Möglichkeiten aufdrängte. Angesichts der Zartheit und Beweglichkeit der dichterischen Bildungskräfte erhoben sich halb zaghafte Zweifel, ja, ergaben sich ernste Schwierigkeiten, das Irrationale, Ungreifbare doch irgendwie greifbar und begreifbar zu machen, weil „Ästhetik überhaupt sehr nahe mit unserm Busen verwandt ist, da sie sich statt allgemeiner Vernunftgrundsätze mit den feinsten Erfahrungen (Erlebnissen, Sensationen) der Empfindung beschäftigt". Wieder wird Baumgarten geniezeitgemäß übertragen, nicht jedoch G. Vico aufgegriffen, dessen Vorarbeit nicht zum Einfluß umgedeutet werden darf. Hinzu kam vom individuellen und historischen Sinn her die Erkenntnis, daß das Wesen der Dichtung nicht als ein gleichbleibend ruhendes Sein, sondern nur als ein wandlungsreiches Werden erfaßt werden könne in seinen individuellen, zeitlichen und nationalen Wandlungsformen. Schließlich bedrückt den Anreger der Geniezeit das Wissen darum, daß „die Ausbildung der Poetik die Poesie" selbst verengert, einschränkt und hemmt; denn „endlich haben wir Regeln statt poetischer Empfindungen; wir borgen Reste aus den Alten, und die Dichtkunst ist tot!". Ja, eben das, was in den Sturm und Drang-Dramen mit ihrem gesteigerten gefühlsmäßigen Ausdruckswollen oft genug begegnet an Klagen über die Ausdrucksgrenzen der Sprache schlechtweg, beschäftigt bereits den jungen Herder, daß nämlich eine „deutlich durch Worte bewiesene Empfindung" an sich schon ein „Unding" sei. Im Ausgang- oder neuen Zugangsuchen knüpft Herder teils dort an, wo die rationale Psychologie Ansatzmöglichkeiten für ein Irrationales immerhin schon bot: bei den dunklen Seelenkräften, die durch die Ablagerungen wachsender Verstandeskultur mehr und mehr verschüttet worden sind. Sie haben sich bei primitiven Völkern weit unverkümmerter, auch in der Poesie, auswirken können. Sprachphilosophische Grundlagen: Dieser doch nur andeutend von Blair nahegelegte Gedankengang, auf den Herder durch eigenen historischen Instinkt fast zwangsläufig sich verwiesen fühlen mußte, führte nicht zum wenigsten zu der charakteristischen Problemverknüpfung von zeitbedingtem Sprach- und Dichtungstypus, die Herders Literaturphilosophie sprachphilosophisch unterbaut und ihn die Dichtkunst als Wortkunst ins

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Auge fassen läßt. Auch er erkannte wie Lessing die enge Bindung der Poesie an die Sprache als das ihr naturgegebene Gestaltungsmittel. Aber ihm war die Sprache nicht ein letztlich starrer, wenngleich vielgliedriger Mechanismus zweckmäßiger, konventioneller, willkürlicher Zeichen, sondern ein lebendiger Organismus. Gerade auf den V o r s t u f e n zu seiner Preisschrift „Über den Ursprung der Sprache" (1772), die dann — ein wenig rationalistisch wieder — Erinnerungsmerkmale des benennenden Verstandes in der Wortsetzung sah, also schon mit leichter Schwenkung von dem geniehaften Ideal einer Gefühls-Ausdruckssprache sich abkehrte, gerade in der Odenabhandlung, den „Fragmenten", den „Kritischen Wäldern" faßt er die Ur-Sprache durchaus als ungebrochenen, ersten Gefühls- und Gedankenausdruck, als die Ur-Poesie des menschlichen Geschlechts überhaupt. Die „Fragmente" nehmen den keimhaft in der Odenabhandlung vorbereiteten „ R o m a n " von den Lebensaltern einer Sprache ausgestaltend auf, um daran die Stiltypen-Stufen der Dichtung folgerichtig anzulehnen; denn der „Genius der Sprache" gilt zugleich als der „Genius von der Literatur einer Nation". Die Leidenschaftssprache primitiver Völker mit ihren rauhen, aber starken Akzenten (Kindheitsstufe der Sprache) wich nach und nach einem weicheren, melodiösen Sprachtypus früher „sprachsingender Zeiten". Dieses sich weiterhin entfaltende Jünglingsalter der Sprache, „bildervoll und reich an Metaphern", aber auch reich an Klangwirkung; stellt die eigentliche Zeitheimat und den noch ungetrübten Urquell echter Poesie dar. Ansätze zu begrifflichen Formen bleiben noch organisch eingelagert in sinnliche, sieht- und klangfrohe Namengebung. Diese Stufe entspricht etwa den „dunklen Seelenkräften". Das männliche Sprachzeitalter mit seiner Zufuhr an abstrakten Wendungen und seinem Verlust an gefühlsstarken Inversionen setzt recht eigentlich die schöne Prosa an die Stelle der Poesie; formal vollkommener, entzieht es doch der Dichtung ihre frischen Wurzelsäfte und Wurzelkräfte. Das philosophische Greisenalter vollends setzt nüchterne Richtigkeit auf Grund uniformierender Gesetze (Normensprache, formelhaft erstarrt) an die Stelle freiwüchsiger, naturnaher und lebenswarmer (Jünglingszeit) oder doch wohlgepflegt-prosaischer (Mannesalter) Sprachschönheit. Herders Folgerungen und ideale Zielprägungen für die „ w a h r e " Dichtersprache werden am bündigsten ablesbar an der Verneinung des frühklassizistischen Ideals der Vernunft-

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spräche: „Für das poetische Genie ist die Sprache der Vernunft ein Fluch". Das mochte rein erkenntnismäßig Baumgarten sein, aber erlebnismäßig in Sturm und Drang umgesetzt. Die harte und entmutigende Konsequenz, daß der damals erreichte Sprachstand von vornherein dichterische Möglichkeiten schlechtweg ausschließe oder sie weitgehend verringere, wird indessen vermieden durch die tröstliche Auslegung, daß eine Blutauffrischung der vorwiegend denkerischen Schriftsprache durch die gefühlsmäßige volkstümliche Sprechsprache, „die sich der Sprache des Lebens nähert und am weitesten vom Bücherton abstehet", durchaus möglich und natürlich auch erwünscht sei: „Das kühne Genie durchstößt das so beschwerliche Zeremoniell der Sprache: findet und sucht sich Idiotismen (mundartliche Kraftwörter), gräbt in die Eingeweide der Sprache wie in die Bergklüfte, um Gold zu finden". Es ist klar, daß diese Entwicklungsverknüpfung von Sprachwuchs und Dichtwerk, von Wort und Wortkunst besonders deshalb aufschlußreich und fördernd für die Literaturphilosophie und Wortkunsttheorie wird und werden muß, weil die Sprache auf ihrer poetischen Entfaltungsstufe nicht in ihrem Mitteilungscharakter, sondern in ihrem Ausdruckscharakter gewertet wird. Der nächste Weg zur Seele geht über das Wort. D i c h t u n g als „ e n e r g i s c h e " K u n s t , W o r t b e s e e l u n g u n d W o r t b e w e g u n g : Herder, für den sich Gehalt und Gestalt, Geist und Sprache nicht wie Körper und Kleid (G. Fr. Meier), auch nicht nur wie — an sich schon organischer — „Haut und Körper" (Thomas Abbt), sondern weit inniger verhalten sollten wie „Piatons Seele zum Körper" und für den gerade beim „sinnlich lebhaften Ausdruck" der Dichtersprache alles Inhaltliche „sehr am Worte klebt", konnte kein Genüge finden an der Vorstellung einer bloßen Sukzession artikulierter Töne in der Zeitfolge („Laokoon"). Er erfaßt und erlebt das Wort als Sinn- und Seelenträger, nicht als bloßes verstandesgesetztes Zweckzeichen; denn „die Seele, die den artikulierten Tönen einwohnet, ist alles". Wesenhaft, nicht nur wesentlich, abweichend von Lessing, deutet er von hier aus die Wortkunst als eine seelisch durchregte Bewegungs-Kunst, die sinnliche Bilder des Räumlichen (das Malerische) in der tönenden Wortfolge (das Musikalische) vorwärtstreibt mit dynamischer „Energie". Die G r u n d l e g u n g einer b e s e e l t e n W o r t w e r t u n g u n d S p r a c h d e u t u n g verbindet sich mit der Herderschen

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Grundvorstellung vom organisch „Werdenden" und seiner Lessing gegenüber betonten Verteidigung sichtfreudiger Sinnlichkeit, wenn er zu der Wesensbestimmung gelangt: „Das Wesen der Poesie ist Kraft, die aus dem Raum (Gegenstände, die sie sinnlich macht) in der Zeit (durch eine Folge vieler Teile zu Einem poetischen Ganzen) wirkt". Unter Kraft ist etwa Lebenskraft gemeint. Aber man hat den vorkantischen bzw. vorkritischen Kraftbegriff und den ihn dann mehr und mehr verdrängenden „Energiebegriff" (Harris) in der Deutung der Herderschen „Laokoon"-Kritik durchweg zu wenig verbunden gesehen mit jener beseelten Sprachdeutung. Umschreibt doch Herder selbst diese Kraft und „Energie" dergestalt klar als Auswirkung der Wortseele, daß er sie nur in diesem vertieften Sinne als Kernattribut des Dichterischen gelten läßt, als das nämlich, was „dem Innern der Worte anklebt, die Zauberkraft (!), die auf meine Seele durch die Phantasie und Erinnerung wirkt: sie ist das Wesen der Poesie". Es ist die Zauberkraft des beseelten Dichterwortes, die Herders ShakespeareAufsatz bei Racine vermißt, da dessen vermeintliche „Sprache der Empfindung" bestenfalls mittelbare „Gemälde der Empfindung von dritter fremder Hand" biete. Entscheidend sei jedoch die unmittelbare Ausdrucksfunktion, das Erfassen der „unmittelbaren, ersten, ungeschminkten Regungen, wie sie Worte suchen und endlich finden". Selten hat der junge Herder den erlebnismäßigen Ausdruckscharakter und die gefühlsmäßige Ausdrucksunmittelbarkeit der dichterischen Sprache so klar herausgearbeitet wie an dieser wenig beachteten Stelle seines Shakespeare-Aufsatzes. Die negative Einkleidung im Rahmen der Polemik gegen das klassische (als klassizistisch mißverstandene) französische Trauerspiel kann den positiven Wert für Herders Sprachauffassung (wiederum jenseits der „Preisschrift") nicht beeinträchtigen. Mit der zudem gefühlsbetonten Bezeichnung „Kraft" umreißt er zugleich die beiden dichterischen Wirkungsfaktoren des Malerischen und des Musikalischen. Späterhin verdrängt der Begriff „Energie" immer stärker den der „Kraft" unter Teileinwirkung von James Harris* Unterscheidung derjenigen Künste, die erst im fertig-abgeschlossenen, bleibend-zuständlichen Dauer-Werk zur vollen Wirkung gelangen können (Bildkunst), von denjenigen Künsten, die durch ein lebendig fließendes Werden schon im Entstehen wirken (Tonkunst, Wortkunst, Tanz). Damit aber kann Herder die Wesensauswirkung des Dichterischen in die

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Dynamik des wachsenden Werdens, also in seine genetische Leitidee hinein verlegen: „Im Werden . . . liegt . . . alle Kraft der Energie, während ihrer Arbeit muß die Seele schon alles empfinden". Nicht zum wenigsten durch diese bewegt dahinströmende „Melodie der Vorstellungen" wird die Dichtkunst zu einer „Musik der Seele". — Die für die kunstphilosophische Schwenkung von den Auflockerern zu den Stürmern und Drängern grundlegende Antithese zwischen Lessings Handlungsbegriff und Herders Energievorstellung, die zugleich die große Wertwendung in der Wortkunsttheorie überhaupt bringt und bis in die Gegenwart hinein nachwirkt, ist von mir bereits an anderer Stelle gewürdigt worden unter Abwehr der Haymschen Verkennung gerade dieser entscheidenden Zentralstellung des jungen Herder. Dichtung als P h a n t a s i e - K u n s t , r a t i o n a l i s t i s c h e R e s t b e s t ä n d e : Denn diese Konzeption der Dichtung als einer sinnbeseelten, klangbewegten und bilddurchregten Wortkunst („Erstes kritisches Wäldchen") bleibt entwicklungsgeschichtlich weit bedeutsamer als die äußerlich mehr hervortretende, teils noch mit rationalistischen Restbeständen belastete Gelegenheits- und Verlegenheitsdeutung im Kernstück des „Vierten kritischen Wäldchens". Verlegenheitsdeutung und Notlösung (trotz Küntzel) insofern, als dort Herder für die anderen Künste bereits die einzelnen Sinne vergeben hatte, so daß für die Poesie nur der Umweg über jene anderen Künste übrigblieb: „Aus allen Sinnen strömen die Empfindungen des Schönen in die Einbildungskraft und aus allen schönen Künsten also in die Poesie hinüber", die dergestalt als „zusammengeflossener Ozean von Gestalten und Bildern und Tönen und Bewegungen ein Sammelplatz aller Zaubereien aller Künste wird". Wieweit derartige Deutungen zuletzt wieder einmünden in die besonders von Marsilius Ficinus ausgehende Barocktradition, bleibe unentschieden. Von ihren Sinnesgrundlagen aus hatte hier Herder die Künste psycho-physiologisch bestimmen und unterscheiden wollen. Zu einer ausgebildeten „Ästhetik f ü r die Poesie" indessen gelangt er in der merklich zum Abschluß drängenden Hast jener nur improvisierten aphoristischen Schlußanrede an den „fühlbaren Jüngling" nicht. So ergeben sich Härten und Widersprüche, so erscheint die Urmutter Poesie einigermaßen überraschend als „späte Enkelin" und nähert sich bedenklich den „schönen Wissenschaften", obgleich sie doch andererseits als die „einzig schöne Kunst unmittelbar für die Seele" anerkannt wird.

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Indessen klar bleibt selbst in der Bedrängnis des Systemzwanges für den Systemfremden, daß die Dichtkunst mehr sein soll als „Nachschwätzerin" der anderen Künste, daß sie „Schöpferin", daß sie eine „Musik der Seele" ist und in ihren letzten Gründen ein geheimnisvoll Unaussprechliches: „inniges Wesen, das ist die Energische Kraft, das Pathos, wie soll ichs nennen? Das Tiefeindringende auf die Seele". Immerhin erweist sich an solchen Unklarheiten der Nachteil der geniezeitgemäßen Sprunghaftigkeit gegenüber den folgerungsfreudigen Ableitungen und Definitionen etwa von Lessingschem Gepräge. M u s t e r n a c h a h m u n g u n d O r i g i n a l i t ä t : Die Ablehnung Homers als verbindlicher Vorbild-Autorität und damit als VorbildPoetik für alle Zeiten, alle Dichter und alle Dichtungsgattungen beweist an einem einprägsamen Sonderfalle die resolute Abkehr vom zählebigen Musternachahmungs-Prinzip. Denn an sich schätzte Herder seinen „lieben Homer", weil er sich in seine sinnlich-primitive Art besser einzufühlen vermochte, wohl noch höher als Lessing, und einen „Günstling der Zeit" sah er in ihm jedenfalls damals noch nicht. Da das Originalgenie eines Idealpoeten (s. Odenabhandlung) aus dem affektbetonten Eigenleben erwächst und nur aus ihm erwachsen kann, ist es sinnlos, so meint der junge Herder, fremdes Erleben aus fremder Zeit und fremdem Kulturkreis nachzuahmen und dergestalt etwa „poetische Farben aus einem fremden Himmelsstrich zu holen". Selbst die traditionell geweihten Griechen dürfen den freischöpferischen Dichter nicht zu einem sklavischen Nachahmer herabdrücken. Herder ist sich sehr wohl bewußt, daß hier eine Gefahrenzone für eine selbstsicher aufstrebende deutsche Dichtkunst liegt. Verschiedentlich zeigt er sich bemüht, nicht allein vor dieser Gefahrenzone zu warnen, sondern darüber hinaus von einer billigen Nachahmung abzuschrecken, indem er nicht nur den Nachweis des entwicklungsgeschichtlich Unsinnigen oder doch Sinnlosen, sondern den Nachweis der Lächerlichkeit eines solchen Gebarens zu führen versucht. Eine ermutigende Anregung darf sehr wohl von den großen Kunstwerken der Alten ausgehen, aber eine Anregung zur Nacheiferung im Sinne eines Ebenbürtigwerden-Wollens aus eigenem, individuellem, national und zeitlich bedingtem (und bestehendem) Vermögen heraus. „Nacheiferer wecke man, nicht Nachahmer!". Zum mindesten müssen Versuche in Nachbildungen dem gegen26 M a r k w a r d t . Poetik II

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wärtigen Kunstwollen angepaßt, „gemäß gemacht" werden, „sonst wird alles Karikatur!". Die Gesamttendenz der „ F r a g m e n t e " lag nicht zuletzt im zuversichtlichen Ermuntern und Ermutigen zum Originalen. Und ebenso gilt der Denkmal-„Torso" für Thomas Abbt vor allem dem „Originalschriftsteller". Die „ K r i t i s c h e n W ä l d e r " feiern Klopstock und Winckelmann als zwei „Extreme deutscher Originale", während das „ R e i s e j o u r n a l " die eigenen Originalgedanken (auch auf dem Gebiete der Ästhetik) halb selbstkritisch, halb doch auch selbstbewußt überprüft und von Original-Plänen (z. B. auf dem Gebiete der Pädagogik) begeistert schwärmt. Noch in der Abhandlung „ Ü b e r B i l d , D i c h t u n g und F a b e l " (1787), die ursprünglich für eine Erweiterung der „Fragmente" vorgesehen war, wird die Möglichkeit und Notwendigkeit eines neuartigen und originalen Bildeindrucks vertreten, und zwar unter lebhafter Abwehr aller Nachbilderei aus sogenannten „poetischen Blumenlesen und Vorratsschränken", wie sie einst im Barock selbst ein Gryphius nicht verschmäht hatte. N a t u r n a c h a h m u n g u n d N a t u r n a c h e i f e r u n g : Das Naturnachahmungsprinzip Batteuxs wird bereits von der Odenabhandlung als ein „seichter Grundsatz unser Poetik" abgetan. Das ursprüngliche Wesen der Poesie kann nicht in einer Nachahmung der Natur gelegen haben; wohl aber war solche primitive Urpoesie sehr naturnah. Die Realistik, das Naturnahe, die Naturnacheiferung scheint auch Herder abzuheben von der Naturnachahmung. Immerhin gibt die Forderung kraftvoller Sinnlichkeit dem Realen besonderen Wert; auch das Häßliche wird als untergeordnete Teilkraft des Charakteristischen geduldet. Die verblaßte Phantasie eines nur kombinierenden Kunstverstandes bedarf der Auffrischung durch eine „Einbildungskraft, deren Gemälde noch mit dem Affekt der Natur grenzen". Trotz nachdrücklicher Herausarbeitung des sinnlichen Bildungsfaktors der Poesie, die auch die Homerische Realistik vor der allzu allegorisch-bedeutsamen Auslegung Lessings rettet, bleibt das idealistische Gegengewicht des Phantasiemäßigen bestehen. Allerdings ist hier die Haltung kaum wirklich eindeutig; denn das Verblasen IdealSchöne hat doch wieder für Herder zu wenig Lebenskraft gegenüber dem wirklichkeitsfreudig Charakteristischen. Im Ganzen ergibt sich etwa der Standpunkt der Geniezeit, daß der Dichter, wie hinsichtlich der Musternachahmung, so auch hinsichtlich der Naturnachahmung ein Nacheiferer, nicht aber Nachahmer sein

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solle. Daß die „sinnliche Poesie" zugleich Phantasiekunst sein kann, erklärt sich aus der Forderung einer sinnenfreudigen Phantasie, wie sie etwa das Kind aufweist; denn bei ihm ist die „Seele gleichsam noch ganz Phantasie, die nahe an der Sensation klebt". Der G e n i e b e g r i f f ruht auf Hamannisch-Youngscher Basis, wird aber auch wiederum nicht in gesonderter Abhandlung oder an einer Stelle, sondern immer nur im Strom anderer Leitideen von Herder berücksichtigt. Stellt man die Herderschen Belege zahlenmäßig mit denen Lessings in Vergleich, so wird man erkennen (was phantasiereiche Allgemeindarstellungen oft verkennen lassen), daß auch der junge Herder rein sachlich wenig wirklich Neues über den Geniebegriff bringt. Aber eben was er bringt, ist keine bloße Definition des Kunstverstandes, sondern gefühlsbetontes Miterleben schöpferischer Genialität. Dazu kommt, daß die GenieAusdeutung nicht sowohl vom Kunsttheoretiker Herder im Bezirk der reinen Wesensbestimmung prinzipiell in Angriff genommen, als vielmehr vom Anreger und Kritiker Herder in Pflegschaft genommen worden ist. Sein Genie-Fordern gehört zur Programmpoetik der Geniezeit, nicht zur absichtbefreiten Kunsttheorie. Unzweideutig tönt uns da immer wieder das zuversichtliche „Genies will ich wecken" entgegen. Und die durch solche Aufrufe erweckten Genies sollen „den Staub der Systeme" bei ihrem Höhenflug zur Sonne von den Schwingen abschütteln. Das Zergliedern aber würde „zur Erweckung des Genies" nicht beitragen. Als Geniemuster wirken auf Herder und seine Vorstellung vom Genialen vor allem Klopstock und Shakespeare. Am ehesten noch nach der positiven und wesenhaften Seite weisen die frühen Äußerungen der Odenabhandlung (s. o.), wonach das Originalgenie aus dem Drang unmittelbaren Erlebens und Fühlens, aus mitgerissener und mitreißender Begeisterung schöpferisch wird. Nicht zum wenigsten geht es sonst darum, dem Genie gegenüber der zeitgenössischen Vormachtstellung des Kunstrichters zunächst einmal Achtung zu verschaffen. Herder fühlt, daß in seinem „kritischen Jahrhundert" die Machtposition der Kritik abgetragen werden muß, um ein würdiges Postament für die Genies aufbauen zu können. Die Minderwertigkeit der Kunstleistung hat die erstarkte Kritik dazu geführt und verführt, den Dichter „commandiren" zu wollen. Das relativ Gerechtfertigte dieses Verhaltens wird zur Anmaßung gegenüber wirklichen Könnern, deren Leistung allein 25*

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gesetzgebende Kraft hat. Eine gewisse (von der Sonderforschung vermerkte) schwankende Haltung im Herderschen Geniebegriff ergibt sich wohl mehr aus der Zufälligkeit der Zusammenhänge. Bis hin zu der Schwenkung in der Abhandlung über die „Ursachen des gesunkenen Geschmacks" scheint doch im Ganzen eine stetige Verstärkung der Genialitäts-Geltung ablesbar zu sein, wenn Herder von den „Fragmenten" über den „Torso" zu den „Kritischen Wäldern" immer steiler jenes Postament aufstuft: „Der Kunstrichter schreibt vor: Genies, ihr müßt die Regeln durch euer Exempel gültig machen": Genie als gesetz-bestätigende Instanz. „Das Genie lacht (den Kunstrichter aus), und das dichterische Gefühl entscheidet": Genie als unabhängige Instanz (ähnlich allerdings schon der junge Lessing und Nicolai). Und schließlich: „Der Kunstrichter soll hier ein furchtsames Vielleicht sagen: das Genie entscheidet mit der starken Stimme des Beispiels": Das Genie ist gesetzgebende Instanz; der Kunstverstand hat nur bescheiden zu vermuten, also klare Geltungs-Verschiebung. Ganz spät nimmt die auch in anderer Hinsicht auf Anschauungen des jüngeren Herder zurückgreifende „Kalligone" dieses Verhältnis auf: „Dem Genie bücke sich die Kritik". Es ist klar, was gerade diese Umstellung des Machtverhältnisses entwicklungsgeschichtlich bedeutet: Herder verliert sich nicht — wie etwa Lavater, aber nicht nur Lavater — in Hyperbeln und berauschten Umschreibungen des Unaussprechlichen, sondern setzt da ein, wo die alte Front der Lehr- und Anweisungs-Poetik, aber auch der Gesetzes-Poetik aufzurollen war. Denn sobald den theoretischen Vorschriften die gesetzgebende Geltung entzogen wurde, verlor die Anweisungspoetik und Normästhetik ihr Daseinsrecht. Und sobald der genialen Begabung die wegweisende Funktion erobert worden war, lag die Bahn zum Ziel einer deutschen Originalpoesie offen da. Zugestanden aber muß werden, daß die Odenabhandlung recht eigentlich das Beste vorwegnahm, daß ihre Programmatik die fortschrittlichste Ausprägung des Herderschen Geniebegriffs brachte und der Kernforderung der Geniezeit am unmittelbarsten entsprach. Dieser Einsatz-Höhepunkt des jungen Herder war nicht mehr gut zu überbieten. In demselben Jahr, in dem Lenz mit seinen „Anmerkungen" erst voll einbrach in die Genie-Theorie, entzieht sich Herder bereits ihrer einseitigen Übertreibung, abgeschreckt durch die „Eilfertigkeit und Schmiererei unserer jungen Dichter-

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linge". Schon in seiner Unterscheidung des denkenden und fühlenden Dichters in den „Blättern von deutscher Art und Kunst", in seiner Bereitwilligkeit, beide Dichtertypen gelten zu lassen, die letzten Endes doch näher verwandt seien als durchweg angenommen werde, bereitet sich eine Revision seines Geniebegriffs merklich vor, die dann in der Abhandlung von den „ U r s a c h e n d e s g e s u n k e n e n G e s c h m a c k s " und zum Teil auch in der Abhandlung „ V o m E r k e n n e n u n d E m p f i n d e n d e r m e n s c h l i c h e n S e e l e " ganz deutlich hervortritt und teils der geniezeitgemäßen Programmatik der Stürmer und Dränger auch geradeswegs entgegentritt. Denn jetzt gilt V e r n u n f t a l s u n e n t b e h r l i c h e r B i l d u n g s f a k t o r des G e n i a l e n : „Je edler ein Genie ist, . . . destomehr muß es treffende, umfassende Vernunft zeigen im schnellsten Flammenstrom der Tätigkeit und Empfindung", hat doch auch das große Vorbild Gott-Schöpfer, „der alles übersah und gut fand . . . , geistig zu reden, den Augenblick der höchsten Vernunft"' empfunden und „genossen". Auch wird Genialität nicht mehr dem „Geschmack" entgegengestellt und entgegengesetzt. Vielmehr ist Genie wie ohne Vernunft so auch ohne Geschmack undenkbar. Umgekehrt ist allerdings auch Geschmack ohne Genie-Voraussetzung ein Unding. Der Geschmack hat das klärende, ordnende, ausgleichende Prinzip beim genialen Schaffen zu vertreten. Geschmack ist nur Ordnung im Gebrauch der Geniekräfte und ist also ohne Genie ein „Undirg". Aber eben auch Genie ist ohne Geschmack nicht produktiv wertvoll. Zu fordern ist „Genie mit Vernunft, Überlegung mit fühlenden Kräften, (mit) Geschmack". Freilich gibt Herder nicht völlig die alte Position auf, wenn er auch gelegentlich (im „ E r kennen und Empfinden der menschlichen Seele") ärgerlich als bloßes „Knabengeschrei" kritisiert, „was von angeborenem Enthusiasmus . . . der h e i t e r n . . . Quelle des Genies daher theoretisiert wird". Was Herder anstrebt, ist unverkennbar eine Synthese aus Gefühlsgemäßheit und Vernunftgemäßheit, aus Schöpfungsdrang und besonnener Gestaltungskraft. Nicht mehr das bloße Wesen des Genialen, sondern auch vor allem seine Anwendungsart, sein Fruchtbarwerden-Können für eine Dichtung von Dauerwert beschäftigt ihn jetzt. Selbst die erst 1787 erschienene, aber bis etwa in die siebziger Jahre, in die Nähe der Preisschrift über den Ursprung der Sprache (mit ihrem Besonnenheitsbegriff) zurückreichende, ja selbst bis zu den „Fragmenten" in ihrer Entstehung zurück-

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gehende Abhandlung „ Ü b e r B i l d , D i c h t u n g u n d F a b e l " stellt den besonnenen, „bemerkenden inneren Sinn" über die bloße Intuition und fordert „Prägekunst". Herder bewegt sich sehr frühzeitig auf das K u n s t w o l l e n der K l a s s i k zu, deren Forderungen er zum Teil vorwegnimmt, deren Förderung er in den achtziger Jahren (Weimarer Zeit) neben Goethe und an Goethe weiterführt, ohne ihnen dann nach erfolgter Erfüllung durch Goethe und Schiller noch vorbehaltlos zustimmen zu können. Weil er die Dichtung aus deutscher Art und Kunst nicht überdeckt und überwältigt sehen wollte von einem ihm mehr klassizistisch als klassisch erscheinenden Bildungserleben, das — so sehr es menschlich vertieft und national anverwandelt sein mochte — doch immer vom Mittelbaren mehr als vom Unmittelbaren in sich barg. Aber noch kurz vor jener frühen Teilschwenkung (etwa 1774) hatte neben dem Ossian-Aufsatz der Shakespeare-Aufsatz mit dem lakonischen und den Stürmern und Drängern doch so beredten Titel „ S h a k e s p e a r e " (1773) in den fliegenden Blättern „Von deutscher Art und Kunst" gestanden. Fast als ob Herder hier noch einmal eine Brücke von Gerstenberg zu Goethe habe schlagen wollen, wirkt dieser denkwürdige Aufsatz (dessen mehrfache Entwürfe bis in das Jahr 1771 zurückführen). Denn im Eingangsteil scheint Gerstenbergs nachdrücklicher Hinweis auf die nordische Dichtung Herder zu ermutigen, eine Sonderart des „nordischen Dramas" dem griechischen Drama gegenüberzustellen. Und im Schlußteil erfolgt eine verheißungsvolle Andeutung und Hindeutung auf Goethe und seine Arbeit am „Götz". Was dazwischen liegt, möchte sich zur Abhandlung beruhigen und erregt sich doch zum Manifest und zur Rhapsodie. Was inhaltlich dazwischen liegt, ist einerseits die geniezeitgemäße Polemik gegen die klassizistische Hochstiltragödie Frankreichs, die im „Stelzengang der Sentenzen und Außenwerke der Empfindung" verharre, ohne zu den „unmittelbaren, ersten, ungeschminkten Regungen, wie sie Worte suchen und endlich finden "(Sprache als unmittelbarer Gefühlsausdruck), vorzudringen, ist auf der anderen Seite eine Rhapsodie auf das Originalgenie Shakespeare, der zu packen, zu rühren und zu bilden verstünde. Das U r t ü m l i c h e klingt etwas bardenhaft auf, wenn Shakespeare als „nordischer Barde" selbst vom Geiste eines wiedererstandenen Aristoteles aufgefordert werden würde, mit seinen

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gewaltigen Freskogemälden die Wände des Tempels der Kunst zu schmücken. Das V o l k s t ü m l i c h e klingt an, wenn kein Mangel, sondern ein Zeichen nationaler Eigenart und organischer Entfaltung nationaler Dramatik darin gesehen wird, daß Shakespeare unbekümmert Haupt- und Staatsaktionen und „Marionettenspiele" (Puppenspiele) emporentwickelt habe. Denn wie für die Griechen der Chor ein Nationaleigenes gewesen sei, aus dem sich selbst bei ihnen schon, von der Einfalt zur Vielfalt drängend (der Weg von Aeschylos zu Sophokles wird so gedeutet), das eigentliche Drama entwunden und entwickelt habe aus ersten Keimformen: so auch darf „aus Fastnachts- und Marionettenspiel" die reichere Vielfalt einer neueren Dramatik sich als „Erfindung", die keine Nachbildung sein kann, entfalten. Der O r g a n i s m u s g e d a n k e begleitet den ganzen Aufsatz und läßt es nur als natürlich erscheinen, „daß aus dem Boden der Zeit eben die andre Pflanze erwuchs". Der Geniegedanke, eng verbunden mit dem Originalitätsgedanken, kann sich am Denkmal Shakespeares voll ausleben, da sich in Shakespeare die „Urkraft seines Berufs" manifestiert als „ Schöpfergeist", der Welten wägt, „in seiner Seele wälzt" und ganze wunderweite Welten der Historie aus der Vielfalt ihres Seins zur Einfalt eines „Wunderganzen" bewältigend und überwältigend zusammenzwingt. Die A n g l e i c h u n g der d i c h t e r i s c h e n S c h ö p f e r v o r s t e l l u n g an die g ö t t l i c h e S c h ö p f e r v o r s t e l l u n g geht bis zu den äußersten Grenzen der Gleichsetzung, wenn (nach Herder) der bewunderte Dramatiker ganze Weltbegebenheiten „mit dem Arm umfaßt, mit dem Blick ordnet, mit der einen durchhauchenden, alles belebenden Seele erfüllet". Hamannisches wird vernehmbar, wenn vom, .Dolmetscher der Natur in all' ihren Zungen" gesprochen wird. Rousseau wird mehr im Hintergrunde sichtbar, wenn Shakespeare „nur und immer Diener der Natur ist". Die S t e l l u n g zu A r i s t o t e l e s ist anders als bei Lessing und Gerstenberg; aber auch anders als bei Lenz. Sie steht etwa in der Mitte zwischen diesen Polen. Herders Grundauffassung verbietet es ihm von vornherein, Shakespeare kunstgesetzlich auf Aristoteles zurückzuführen. Aber er verwirft auch nicht einfach Aristoteles, wozu dann Lenz neigt. Er führt gleichsam Aristoteles zu Shakespeare vorwärts und nicht Shakespeare zu Aristoteles zurück. Denn er beschwört mehrfach den Geist des Aristoteles und ist überzeugt, daß ein neu erstandener Aristoteles Shakespeare gut-

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heißen würde: ,, 0 Aristoteles, wenn du erschienest, wie würdest du den neuen Sophokles homerisieren". Es ist wohl doch mehr als eine bloße Rücksichtnahme auf Lessing, wenn Herder jene Schärfen, die der erste Entwurf seines Shakespeare-Aufsatzes gegenüber Aristoteles noch enthalten hatte, in der Endfassung weitgehend mildert. Gefühlsmäßig sucht Herder die Fühlung mit Aristoteles zu wahren, während Lessing eine solche Fühlung rein kunstverstandesmäßig und strenger kunsttheoretisch aufrechterhalten hatte. Alles das ist echter Herder und echter Sturm und Drang. Aber es ist k e i n e D r a m a t u r g i e des S t u r m e s u n d D r a n g e s . Herder ist sich dessen bewußt. Gegen Schluß des Aufsatzes spürt er selbst, daß das „Herz meiner Untersuchung", das Herzstück und Kernstück nun recht eigentlich erst „anfangen" müßte. Aber wenn er es aus geniezeitgemäßer Gesetzes- und TheorieFeindschaft ablehnt, „Gesetze der dramatischen Kunst" von Shakespeares Muster- und Meisterwerk abzuleiten, so hat doch der ganze Gang der Abhandlung, die bald in Manifestcharakter übergeht, hinreichend erkennen lassen, daß er dazu auch kaum in der Lage gewesen wäre. Letzten Endes deshalb, weil ihm die dramatische Wirkungsform und auch die Eigenwelt des Dramatischen und Tragischen persönlich ferner lagen. Seine hohe allgemeine Einfühlungsfähigkeit erschließt ihm zwar weitgehend auch den Dramatiker Shakespeare. A b e r die i m m a n e n t e G e s e t z l i c h k e i t und W e s e n s a r t seiner D r a m a t i k s i e h t u n d s u c h t er m e h r beim E p i s c h e n e i n e r s e i t s u n d beim L y r i s c h e n a n d e r e r s e i t s . Der Zugang über das Epische — noch der junge Schiller spricht vom „dramatischen Roman" mit Bezug auf eine berechtigte dramatische Sonderform neben dem „theatralischen Drama" — wurde erleichtert und nahegelegt durch das Streben nach ungebundener Entfaltung des Weltweiten und der bunten Vielfalt des Lebens, aber auch durch das Streben nach Größe. Und so faßt Herder die mehr inhaltliche Bestimmung — in wiederholten Wendungen — als „ein völliges, Größe h a b e n d e s E r e i g n i s " . Auch von „Begebenheit" wird in solchen Zusammenhängen und in ausdrücklicher Abhebung vom Handlungsbegriff gern gesprochen. Der offenbar tiefer führende Zugang über das Lyrische läßt ihn Shakespeares Dramen stark als S t i m m u n g s d r a m e n aufnehmen und auslegen, etwa in der Art, wie man Georg Büchners Dramentypus auszudeuten pflegt. Schon deshalb

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lehnt Herder (unter leicht kritischer Wendung gegen Gerstenberg, dessen gefühlsmäßiges Verständnis für Shakespeare indessen unangetastet bleibt) dramentheoretische Klassifikationen ab; denn „die Farben schweben da so ins Unendliche". Dieses Fließen der Farben und Formen wird nun jedoch wiederum nach Art der Gefühlseinheit eines lyrischen Gedichts zusammengehalten. Denn eine „ H a u p t e m p f i n d u n g " , die jedes dramatische Werk Shakespeares „wie eine Weltseele durchströmt", verbürgt und trägt die innere Einheit, bestimmt aber auch die ganze Gestaltungsweise. So mündet Herders Anlauf zu einer geniezeitgemäßen Theorie des Dramas zuletzt doch wieder ein in seinen Heimatbereich einer Wesensbestimmung des Lyrischen, nur nach der stofflichen Seite hin erweitert durch Anleihen beim Epischen, die angesichts der ersten Fassung des „Götz" ohne weiteres sich aufdrängen mußten. Gerade durch den lyrischen Grundzug, aber auch durch das starke Ausweitungsstreben vom Begriff der Lebenstotalität her und durch den Übergang zur Vorstellung des Unendlichen sind gewisse Ansatzstellen für die Romantik ohne weiteres spürbar; aber auch Ansatzstellen für die Grenzform zwischen Klassik und Romantik, etwa in Hölderlins Dichtungsdeutung und Dramaturgie, worauf die Forschung (0. Walzel) z.T. bereits hinweisen konnte. Näher jedoch steht im Sturm und Drang vorerst nicht nur Lenz trotz seiner Abstufung des Dramas der „Größe habenden Begebenheit" (Herder) zum Drama der Größe habenden Persönlichkeit (Lenz), sondern auch eine später liegende Abhandlung J u s t u s Mosers. Denn man tut gut und ist trotz des noch in den Beispielen stark auf die Aufklärer zurückgreifenden Inhalts sehr wohl berechtigt, Mosers Abhandlung „ U b e r die d e u t s c h e S p r a c h e u n d L i t e r a t u r " (1781), die schon im MöserAbschnitt kurz gewürdigt werden konnte, hier im Rahmen des Sturmes und Dranges, in den sie zeitlich hineingehört, noch einmal ins Blickfeld zu rücken. Und zwar gerade im Anschluß an Herders Shakespeare-Aufsatz. Denn sowohl Herders Herausstellen der reichen, aber o r g a n i s c h e n V i e l f ä l t i g k e i t der neueren Dichtweise wird von Mosers Abhandlung wieder aufgegriffen als auch der mehrfach von Herder berührte Gedanke, daß nationale Kunst selbst aus primitiven volkstümlichen Formen (Marionettenspiel, Fastnachtspiel; auch die Haupt- und Staatsaktion deutet Herder ähnlich) immer noch weit besser und volkswürdiger entwickelt werden könne als durch rein bildungsmäßige

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und formschulende Angleichung an fremde Vorbilder. Moser kann nun schon zu klarer herausgearbeiteten Leitgedanken seiner Abhandlung machen, was in Herders Shakespeare-Aufsatz, teilweise vom schwärmerischen Shakespeare-Kultus überdeckt, dennoch vernehmlich mitsprach. Aber Moser kann es, weil Herder inzwischen das Bewußtsein nationaler Bezogenheit allen Dichtens und Bildens planvoll und unermüdlich gestärkt hatte. In der frühen Verteidigungsschrift für die Harlekinade (1761) hatte Moser ohne Herders Stützung sich noch nicht so weit vorgewagt. Das L e i t m o t i v v o n der l e b e n d i g e n V i e l f a l t (echte Vielfalt des Lebens) wird jetzt deutlich angeschlagen: „Der Deutsche hingegen hat wie der Engländer die Mannigfaltigkeit der höchsten Schönheit vorgezogen", wobei nicht zufällig das farbenreiche, charaktervolle Bild, das Shakespeare im Cäsardrama biete, abgehoben wird vom nur „glatten, schönen, glänzenden Bild" bei Voltaire. Die Gegenüberstellung des englischen Gartens und der gestutzten französischen Gartenform vervollständigt (wie mehrfach in der Kunsttheorie der Geniezeit; aber auch im polemischen Reflex der Aufklärung: durch eine symbolische Parallele will Lichtenberg die Unordnung der Geniezeit ironisieren) den durchgängig versuchten Nachweis, daß der deutsche Geschmack auf eine naturhafte Mannigfaltigkeit und lebensvolle Formenvielfalt eingestellt und ausgerichtet sei und daß also der „ W e g z u r M a n n i g f a l t i g k e i t " der Weg des deutschen Kunstschaffens sein müsse, wie er der Weg des deutschen Kunstwollens sei. Nur an diesem — gegenüber den Franzosen — andersartigen Kunstwollen sei der Wert des (von Friedrich II. nach anderen Maßstäben kritisierten) Kunstschaffens zu messen und wirklich gerecht zu ermessen. Mosers Abhandlung ist grundsätzlich auch deswegen bemerkenswert, weil sie bestätigt und geradezu darauf hinzielt, d a ß ein r e c h t e s W ü r d i g e n der K u n s t l e i s t u n g auf d a s jeweils zugrundeliegende Kunstwollen zurückgreifen muß. Dieses Kunstwollen ist nun für Moser zugleich volkstümlich bestimmt: „wahre einheimische Volksstücke" gelte es weiter der Vollendung zureifen zu lassen. Derartige Keime — und den kräftigsten erkennt Moser wie so viele andere Kritiker im „ G ö t z " — sind in Pflege zu nehmen, nicht jedoch durch ein künstliches Aufpfropfen fremder, (vermeintlicher) Verzierungen, sondern durch ein Klären und Stärken der ihnen bereits innewohnenden künstlerisch auswertbaren Lebenskraft. Die „ V e r e d l u n g e i n h e i -

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m i s c h e r P r o d u k t e " muß von innen erworben, darf nicht von außen angesetzt werden. Indem jedoch Lebensvielfalt und Lebensfülle (Goethe hätte mühelos aus dem stofflichen Bestände seines „Götz" drei sogenannte regelmäßige Dramen ausstatten können) als Hauptmerkmale des deutschen dichterischen Kunstwollens gelten, gerät — gattungstheoretisch und kritisch gesehen — wiederum das Dramatische in den Bereich des Epischen. Das Epische scheint das Historische besser einfangen zu können. Jedenfalls ist es ohne weiteres spürbar, wenn Moser von Goethes Absicht spricht, im „Götz von Berlichingen" vor allem eine ganze „Sammlung von Gemälden aus dem NationalLeben unsrer Vorfahren" zur Anschauung bringen zu wollen. Für Moser stehen jedoch auch nicht dramentheoretische Fragen so im Mittelpunkt, wie sie in einem Shakespeare-Aufsatz hätten stehen können. Wenn aber der Herder des Shakespeare-Aufsatzes von 1773 erst auf Goethes Umarbeitung des „Götz" hoffnungsvoll und doch bescheiden wie auf einen Versuch hinüberschauen konnte, so kann der Moser von 1781, weit zuversichtlicher, nicht zum wenigsten auf dem „Volksstück" des „Götz" seine beherrschende Leitidee gründen lassen. Das Hineindrängen zum kühnen Erfassen oder zum ehrfurchtswilligen Erahnen des Schöpferischen im Sinne der geniezeitgemäßen Schöpfungsästhetik, das Hinstreben zum Lebensvollen und Lebensnahen und Lebenseinen im Sinne der geniezeitgemäßen Organismusästhetik auf der einen Seite und das Zurückdrängen einer bloßen Wirkungsästhetik vereinigen sich noch einmal im Grenzraum zur Frühklassik, wenn der j u n g e G o e t h e in seinem Aufsatze „ N a c h F a l c o n e t und ü b e r F a l c o n e t " von den instinktstarken Schauern unmittelbaren Gefühlserlebens spricht, um fortzufahren: „Davon fühlt nun der Künstler n i c h t a l l e i n die W i r k u n g e n , er dringt bis in die U r s a c h e n hinein, die sie h e r v o r b r i n g e n . Die Welt liegt vor ihm, möcht ich sagen, wie vor ihrem S c h ö p f e r , der in dem Augenblick, da er sich des G e s c h a f f e n e n freut, auch alle die Harmonien genießt, durch die er sie h e r v o r b r a c h t e und in denen sie besteht". Noch überwiegen die dynamisch-organischen Kräfte auch in der Vorstellung des Harmonischen und des Schönen. Noch verbürgt nicht eine beherrscht-beherrschende Gestaltung das Harmonische; vielmehr wird die Prägung aufgegriffen: „Das Gefühl ist die Harmonie". Noch fällt das abschreckende Warnungswort von der „kalten Ver-

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edlung". Und noch „wohnt alle Dichtungskraft" in der innigen Naturnähe und Volksnähe, in der „Hütte" und im „teilnehmenden Herzen". Trotzdem schwingt in diesem merkwürdigen Aufsatze bereits mancher Klang mit, der in einem Vorspiel der Klassik aufgehen würde. Das mag zugleich die Bindekräfte andeuten, die bei aller Abstufung, ja scheinbar schroffen Absetzung vom Goethe der Geniezeit zu dem Goethe der Klassik hinüberwirken. Rein äußerlich ist eine Beziehung schon dadurch hergestellt, daß auch die Bekundungen des Jung-Goetheschen Kunstwollens und seiner Kunstgesinnung w e i t r e i c h e n d an E r l e b n i s s e der b i l d e n d e n K u n s t s i c h a n s c h l i e ß e n . Aber der Blickpunkt, unter dem die bildende Kunst gesehen wird, ist wesentlich anders gewählt worden als in der Klassik. Der Primat des schöpfungskräftigen Gefühls und unmittelbaren Erlebens bestimmt noch in ähnlicher Weise die Vorstellung echter künstlerischer Souveränität, wie es einige Jahre vorher ein Brief an Herder (Juli 1772), der sogenannte P i n d a r - B r i e f („ich wohne jetzt im Pindar") nur um einige Grade herber ausgedrückt hatte im Bemühen, das aktive Gerichtetsein eines herrisch erobernden Kunstwillens knapp zu umschreiben: „Drein greifen, packen ist das Wesen jeder Meisterschaft". Damals liest Goethe Herders „Fragmente". Herders Lehre, daß Gedanke und Empfindung den Ausdruck bilden (Ausdruckslehre), begeistert ihn. Er war jedoch bereits im unmittelbaren geistigen Austausch durch Herders Anregergenie entflammt worden für lebensechte, volkstümliche, gefühlsstarke Dichtung. Wie er im Herbst 1771 an Herder, beglückt über die innere Begeisterung und um Herders Glauben an diese Begeisterungsfähigkeit werbend, von den „Streifereien" im Elsaß berichten kann, die ihm den kostbaren Ertrag einiger Volkslieder eingebracht hatten, so lernt er mit deutschen Augen deutsche Kunst sehen und lieben. Immer wieder ist es das Erleben, das ihn zu Einsichten und Aussichten kunsttheoretischer Art vorwärtsträgt, wie es das Erleben ist, das sein Schaffen befreit: die Begegnung mit Shakespeare, Ossian, Erwin, Pindar u. a. Und dieses e r l e b t e K u n s t w o l l e n muß notwendig mit dem rein theoretischen Kunst-Erläutern aufklärerischer Art kämpferisch zusammenprallen. Zeitweise gilt ihm darüber hinaus wie den anderen Stürmern und Drängern jede Theorie von vornherein als verdächtig und müßig. Und so hat er gelegentlich seiner auch sonst für die Haltung der

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Geniezeit aufschlußreichen R e z e n s i o n der Sulzerschen „ T h e o r i e " („Frankf. Gelehrte" Anzeigen, 1772) die Kunsttheorie als solche ärgerlich abgewehrt; „denn ein schädlicheres Nichts als sie ist nicht erfunden worden". Was er selbst beisteuert, ist denn auch mehr warmes Programm-Manifest als kühle, besonnene Theorie oder gar „theoretische Gaukelei". Der Goethe der Sulzerkritik zweifelt — anders als Lenz — an den erzieherischen Wirkungsmöglichkeiten einer Zweckkunst und verteidigt das kraftvoll Großartige und Charakteristische in der Natur gegenüber dem Nur-Schönen. Ähnlich polemisiert die begeisterte Rede „ V o n d e u t s c h e r B a u k u n s t " (1773) gegen die „weiche Lehre neuerer Schönheitelei", wie sie dem „schwachen Geschmäckler" eigen sei, der wuchtige Größe und „gothische" Wildheit und Urwüchsigkeit nicht ertragen könne. So stößt der junge Goethe zu dem Kernsatz vor: „Diese charakteristische Kunst ist nun die einzige, wahre". Daß die Nachahmung bekämpft wird, die wohl den „Wälschen" an den Genius der Alten zu „fesseln" vermag, aber für eine deutsche Nationalkunst und Originalkunst nicht verbindlich sein darf, versteht sich von selbst. In den Aufzeichnungen, die als „ E p h e m e r i d e s " aus dem Jahre 1770 stammen und sich u. a. mit Lessings „Laokoon", und zwar mit dem dort vertretenen Schönheitsbegriff der Griechen auseinandersetzen, bezweifelt der junge Goethe, daß man die an sich betonte „Fürtrefflichkeit der Alten" vorwiegend in der „Bildung der Schönheit zu suchen" und zu erkennen habe. Und der Zusammenhang läßt keinen Zweifel darüber, daß wiederum die Ausdruckskraft des Charakteristischen hervorgehoben und für die Alten gerettet werden soll. Halb unbewußt empfindet der junge Goethe das Bedürfnis, das Gotische mit dem Griechischen in Einklang zu bringen. Und zwar dadurch, daß er seine Vorstellung vom Griechischen dem Gotischen anzunähern trachtet, während Lessing weit bewußter Shakespeare zwar auch mit Aristoteles in Einklang zu bringen bestrebt ist, aber so, daß Shakespeare zugunsten des griechischen Kunsttheoretikers umgedeutet wird. Sähe sich der junge Goethe vor die Entscheidung des Entweder-Oder gestellt, so würde er damals noch bereit sein, das Griechische dem Gotischen aufzuopfern. Die im Geiste Herders gehaltene und mit dem ersten Entwurf zu Herders Shakespeare-Aufsatz zeitlich parallel liegende Rede „ Z u m S c h ä k e s p e a r s T a g " (1771) stellt denn auch nachdrück-

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lieh heraus, daß das griechische Theater kulturell und zeitlich bedingt gewesen sei, so daß französische Nachahmungsversuche notwendig versagen müssen, und das „Französ'chen" sich nur lächerlich mache, wenn es in „griechischer Rüstung" auftrete. Den „Herrn der Regeln" wird in aller Form Fehde angesagt. Besonders erbittern den Shakespeareverehrer die Einheiten mit ihrer „kerkermäßigen" Enge und entsprechenden Ängstlichkeit. Sie bedrücken nur und binden als „lästige Fesseln" die schöpfungswillige Einbildungskraft. Der junge Goethe sagt sich ebenso los vom „regelmäßigen Theater" wie in dem fliegenden Blatt „Von deutscher Baukunst" von einer nur regelmäßig-schönen Architektur und wendet sich hier ebenso entschlossen zum Shakespeareschen wie dort zum „Gothischen". Nicht wie z. T. noch Gerstenberg sieht er in Shakespeare das versteckt Planvolle, sondern — die geniezeitgemäße Idealforderung einer echten Lebensv i e l f a l t aufgreifend — gern und freudig den „schönen Raritäten Kasten" mit all seiner Mannigfaltigkeit und seinem lebendigen Farbenspiel. Den geheimen, von Kunstphilosophen übersehenen Drehpunkt der Bewegung aber findet er dort, wo „das Eigentümliche unsres Ichs, die prätendierte Freiheit unsres Willens mit dem notwendigen Gang des Ganzen zusammenstößt". Der jugendliche Subjektivismus und Individualismus überrennt also nicht die Schranke, die dem Ganzen seinen notwendigen Gang sichert. Vielleicht greift diese Deutung des jungen Goethe tiefer hinab in ein Verstehen des Schicksalhaft-Tragischen als manche dramentheoretische Bemerkung des späteren Goethe. Das Schicksalhafte steht innig im Verbände des Naturhaften. Und der Kritik an Shakespeares Charaktergestaltung setzt er den schwärmerischen Ruf entgegen: „Und ich rufe Natur! Natur! nichts so Natur als Shakespeares Menschen." Das manchem unzulänglichen Betrachter und Beurteiler fremd Erscheinende liege eben nur in einer „colossalischen Größe". Gerade diese F o r d e r u n g des G r o ß e n , Ü b e r l e b e n s g r o ß e n u n d „Colossalischen", die zwar auch bei Herder u. a. begegnet, scheint für den jungen Goethe des „Prometheus" und des „Urfaust" besonders charakteristisch zu sein; denn sie kehrt mehrfach wieder, in der Baukunst-Rede sowohl als auch in der Sulzer-Kritik. Manches von den Lenzischen „Anmerkungen über's Theater" nimmt also die Rede zum Shakespeare-Tag vorweg, wie sie sich in manchem mit Herders Shakespeare-Aufsatz berührt. Wenn man

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von der vor-Straßburgischen Frühzeit absieht, halten sich die Äußerungen des jungen Goethe besonders stark frei von aufklärerischen Einschlägen, die sonst doch selbst bei Herder oder Lenz merklich, wenn auch entsprechend abgewandelt, nachzuwirken pflegen. Selbst noch von der Ästhetik der Auflockerer rückt er deutlicher ab als mancher andere Stürmer und Dränger. Eine Haltung, die Goethe allerdings dadurch erleichtert worden sein dürfte, daß er weniger zielstrebig als etwa Herder, weniger konstruktiv als vielmehr demonstrativ das Wort zu programmatischen Fragen, seltener jedoch zu prinzipiellen Fragen ergriff. Trotzdem kommt auch er nicht so ganz ohne die kunsttheoretische Terminologie der Aufklärung aus, nur daß er manchem lebensmatten Terminus einen lebensvollen Genius einzuhauchen versteht. Es ist nicht ganz unwahrscheinlich, daß der junge Goethe sich auch in dem aufrufartigen Aufsatze „Von deutscher Baukunst" bewußt von Sulzers lexikalischer „Allgemeinen Theorie der schönen Künste" und ihren einschlägigen Stichwortartikeln (etwa „Gotisch" oder „Baukunst") losgesagt und von Herzen freigeschrieben hat von dem Autoritätsdruck des herrschenden Theoretikers der Auflockerergruppe. Eine entsprechende Anspielung würde etwa spürbar werden in Goethes selbstkritischer Bemerkung: „Unter der Rubrik gotisch, gleich dem Artikel eines Wörterbuchs, häufte ich alle synonymischen Mißverständnisse, die mir von Unbestimmtem, Ungeordnetem, Unnatürlichem, Zusammengestoppeltem, Aufgeflicktem, Überladenem jemals durch den Kopf gezogen waren . . . " Um so gewaltiger sei dann der seelefüllende Eindruck gotischer Baukunst beim Anblick des Münsters gewesen. Selbst Herder hatte mit der zähen Entwertung des „Gotischen" durch die Aufklärung noch zu ringen gehabt. Der junge Goethe wird d u r c h ein ü b e r w ä l t i g e n d e s K u n s t e r l e b n i s r u c k h a f t b e f r e i t von a n g e l e r n t e n V o r u r t e i l e n , die sich angesichts der Kunstleistung als Fehlurteile erweisen müssen. Der „barbarische Geschmack der Goten" (Sulzer) wurde im Gefühl volkstümlicher Bezüge für den jungen Goethe das „bedeutende Rauhe", das der Größensehnsucht mehr zu entsprechen vermag als die „unbedeutende Glätte". Die „bildende" Kunst ist ursprünglicher, echter als die verschönernde Kunst. Doch gebraucht der junge Goethe damals das „bildend" noch nicht eigentlich im Sinne der Klassik, noch nicht im Sinne K. Ph. Moritz', sondern weit mehr in dem Verstände des charakteristisch Gestaltungsstarken, des aus

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lebendiger K r a f t Formzeugenden ohne näher bestimmte Rücksicht auf die Schönheit der Form. S u l z er hatte dem jungen Goethe weniger zu bieten als dem jungen Schiller, der an Sulzers dramaturgisch-nationalpädagogische Leitideen anknüpfen konnte. Und auf Sulzers Theorie der Empfindungen, die ihm an sich gewisse Ansatzmöglichkeiten geboten haben würden, war Goethe seit der Einwirkung Herders nicht mehr angewiesen. Ebensowenig wie er angewiesen war auf den Phantasiebegriff der Schweizer Bodmer und Breitinger. Das Hinstürmen des geniezeitgemäßen Kunstwollens zum Leben als Wirklichkeit, zur echten Vielfalt des Lebens, drängte die Bedeutung der „Einbildungs-Kraft" als bloße Erfindungsgabe notwendig zurück. Die „Schöpfungskraft" wurde tiefer hineinverlegt in die lebendig wirkende Gefühlssphäre einer „bildenden Empfindung". Erst verhältnismäßig spät ist der T e r m i n u s „ S c h ö p f u n g s k r a f t " (s. den Schönaich-Abschnitt), den Goethe z. B. in einem Briefe an Merck (Dez. 1774) zur Hilfe ruft, um das Unaussprechliche in Worte der notdürftigen Verständigung zu bannen, zur kunsttheoretischen Geltung gebracht worden. Einmal aufgenommen und von JungGoetheschem Geist durchglüht, begegnet er dann mehrfach, so in der „Dritten Wallfahrt nach Erwins Grabe" (1775) und in den Goetheschen Beiträgen zu Lavaters „Physiognomischen Fragmenten". E t w a ein Jahrzehnt später greift ihn der junge Schiller {„tätigste Schöpfungskraft") auf im Brief an Heribert v . Dalberg (Aug. 1789). Eher schon als zu Sulzer ließen sich Linien zu K l o p s t o c k ziehen, und zwar vorerst zu dem jungen Dichter Klopstock, der sein Kunstideal im Dichterwort seiner Oden ausspricht. Bald aber auch zu dem Klopstock, der als Ermahner zu würdigem Kunstschaffen in der „Gelehrtenrepublik" das auch theoretisch besinnliche Wort ergriff. Manche von den Prägungen Klopstocks, die Schönaichs „Neologisches Wörterbuch" verständnislos und schulmeisterlich anmaßend angekreidet hatte, konnte dem jungen Goethe schon rein stimmungsmäßig weit mehr sein und weit mehr sagen als die Ausbildung der an sich ja recht bestechend wirkenden Bezeichnung „Schöpfungskraft", die rein kunsttheoretisch bereits aufgenommen worden war in Sulzers „Allgemeine Theorie". Die Kunstwörter und Fachwörter der Poetik als solche verlieren im Sturm und Drang überhaupt merklich an Gewicht, weil sie durchweg aus dem geltungsteigernden Systemverband herausgebrochen und je nach Bedarf zwanglos in irgendein Manifest einge-

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streut werden. Man erfüllt vor allem aber auch ältere Bezeichnungen mit einem neuen Erlebnisinhalt. Und selbst verhältnismäßig neue Bezeichnungen wie „Schöpfungskraft" gewinnen im Erlebnisbereich des jungen Goethe eine wesentlich andere Färbung, als sie etwa bei Sulzer gehabt hatten. Das Zwingende und Drängende im schöpferischen Vorgang wird in voller beunruhigender und doch beseligender Gewalt erlebt, ohne irgendwie ertüftelt zu werden. Es wird ein wenig schon ins Bewußtsein der Kunstbesinnung gehoben, wenn der junge Goethe an sich selbst beobachtet: „Mein Genius vorwärts ist so stark, daß ich selten mich zwingen kann, Atem zu holen und rückwärts zu sehen". Die Unruhe, das Unrastvolle, das Erwartungsvolle, das von Ahnung und Sehnsucht Durchregte und Bewegte ist ein Merkzeichen schöpferischer Empfängniswilligkeit schlechthin. Das Dynamische, vom reiferen Goethe im Willen zur formenden Zucht in seiner Bedeutung zurückgedrängt und einer gewissen Statik des Bildnerischen und Plastisch-Ruhevollen aufgeopfert oder doch unterworfen, bewahrt für den jungen Goethe des Sturmes und Dranges seine volle Bannkraft. A u s w e i t u n g s d r a n g u n d V e r d i c h t u n g s d r a n g sind zu gleichen Teilen an der Schöpfungsbestimmung beteiligt. Ruhe bedeutet nicht Ausgeglichenheit, sondern tritt für den schöpferischen, Kunstwerte schaffenden und schenkenden Menschen recht eigentlich nur in Erscheinung als eine Versunkenheit der Hingabe an das Werk. Die heilige Schöpfermacht rast im Künstler und läßt ihn nur ruhen im Werk, daß er „keine Seligkeit des Lebens fühlt als in seiner Kunst, daß in sein Instrument versunken, er mit allen seinen Empfindungen und Kräften da lebt". So hatte die SulzerRezension, zwar noch nicht ganz gelöst von der Vorstellung des „Instruments" (des Werkzeugmäßigen) es ausgesprochen. Der Hingabedrang und Ausweitungsdrang, streckenweise religiös gestimmt, entspräche etwa dem, was man den ganymedischen Titanismus mit seiner Unendlichkeitssehnsucht der Selbstaufgabe genannt hat, der Verdichtungsdrang der eroberungsstolzen Selbstgewißheit dem prometheischen Titanismus. Die Vorstellung des Plastischen dagegen, obgleich durch Oeser vielleicht schon im Hinüberblicken auf die Bildkunst vorbereitet, nähert sich beim jungen Goethe ihrerseits in gewisser Weise selbst noch dem Dynamischen, rastlos Wirkenden. Im Hintergründe stehen neuplatonische Anschauungen, wie sie nicht ohne N a c h w i r k u n g P l o t i n s vor allem R a l p h C u d w o r t h ausgebildet 2tl M a r k w a r d t , Poetik II

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hatte in seiner T h e o r i e der „ P l a s t i c N a t u r e " , der „plastischen, bildenden, wirkenden Natur", die unmittelbar lebendig „bildend" hindurchgreift und hindurchwirkt durch den Menschen. Eindeutiger noch als Shaftesbury und vor Shaftesbury hatte Cudworth die Wirkung der Natur im Menschen und durch den Menschen herausgestellt als „energetical and effectual principle". Mag nun Goethe — wie die Sonderforschung teils annehmen möchte — unmittelbar mit Cudworths Lehre vom vitalistischen Dynamismus vertraut gewesen sein: jedenfalls bewegt sich Goethes Naturvorstellung im Zusammenhange mit seiner Genievorstellung unverkennbar in einer Richtung, die jenseits von Leibniz und z. T. auch jenseits Shaftesburys mit Cudworth sich begegnet. Die Erlebnisweisen des Schicksalhaften, Magischen und Sympathetischen brauchen jedoch kaum so unbedingt auf Cudworth zurückbezogen zu werden, da Goethe hierfür auch andere Quellen zur Verfügung standen. Vor allem aber ist mit einem bloßen Einflußnachweis, so dankenswert er an sich immer sein mag, gerade für Goethe nicht allzuviel gewonnen. Denn schon der junge Goethe zwingt kraft seines Genieseins fremde Ideengänge durchweg in eigene Erlebnisströmungen hinein, besonders seit Straßburg. Das gilt selbst von der starken Herderschen Einwirkungswelle und wird erst recht von etwaigen Nachwirkungen Cudworths anzunehmen sein. Zudem war der junge Goethe schwerlich geneigt, sich auf irgendwelche vorgeformten philosophischen Systeme festlegen zu lassen. Nur die erlebnismäßig packenden Teilkräfte solcher Lehren konnten für ihn fruchtbar werden, selbst dann, wenn er äußerlich diese oder jene Formulierung annahm. Die L a v a t e r - R e z e n s i o n („Predigten über das Buch Jonas") war sich im Sinne der geniezeitgemäßen Originalitätsauffassung bereits klar darüber: „Jedes große Genie hat seinen eigenen Gang, seinen eigenen Ausdruck, seinen eigenen Ton, sein eigenes System". An solchen Stellen ergreift der junge Goethe erlebnismäßig eine an sich vorgeformte Idee, ob sie ihm nun von Herder oder anderen Anregern zugewachsen sein mag. Dort aber, wo er in seiner Leipziger Frühzeit ein wenig noch mit angelernter rokokohafter Scheinüberlegenheit etwas mokant den neuen Leitworten, die ihm noch als bloße Schlagwörter erscheinen, gegenübersteht und aus polemischem Blickwinkel etwa Clodius „mit schöpfrischem Genie originelle Kuchen" verfertigen sieht, war vorerst eine bereits zeitgegebene kunsttheoretische oder pro-

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grammatische Formel nur ganz äußerlich aufgegriffen und entsprechend veräußerlichend angewandt worden. Seit dem Herdererlebnis hat der junge Goethe an sich erfahren, daß Leitideen nicht das blasse Kleid abstrakter Geistigkeit zu tragen brauchen, sondern von Begeisterung nahe an das Leben selbst herangerückt worden sein können, besonders dann, wenn diese Leitideen vom gefühlsstarken Leben selbst künden und von der jugendlichen Kraft eines dichterisch gesteigerten Wortes getragen sind. Die Begegnung mit der Ideenwelt Herders bedeutet für den Goethe des Sturmes und Dranges ein Ähnliches und vielleicht ein Mehr als die Begegnung mit der Ideenwelt Schillers für den Goethe der Klassik bedeutete. Daß Ideen nicht gelehrt, sondern geglaubt wurden, war in beiden Fällen das für Goethe Anziehende. Ihm erschloß sich das Spröde der Theorie leichter, wenn er den Persönlichkeitswert hinter der Theorie spürte. I n s e i n e r F r ü h z e i t verharrt der junge Goethe vor der entscheidenden Straßburger Epoche bei seinen verstreuten theoretischen Äußerungen etwa auf der Erkenntnisschicht der Auflockerer. Er gefällt sich damals gelegentlich auch wohl im rokokohaften, leicht ironischen Spiel mit kunsttheoretischen Begriffen, ob er nun in der aufklärerischen Art vom „großen Geist" spricht im Brief an Friederike Oeser (1769), ob er erst in der Verbindung von Begabung und Geschmack das Geniale sieht, ob er in eigener Sache „Genie" gleich Talent setzt in einem Briefe an seine Schwester (Mai 1767) oder in den „Mitschuldigen" die landläufige Formel vom Geborenseinmüssen des Dichters ins „Scherzhafte" verschiebt durch die tändelnde Wendung: „Man wird zum Dieb geboren wie zum Dichter". Selbst wo die wirkungsmächtigen Attribute der Geniezeit „schöpferisch" und „originell" zu jener Zeit fallen, geraten sie in das gebrochene Zwielicht des „Scherzhaften". Noch überwiegt die F r e u d e an der h e l l e n G e i s t i g k e i t , auch im eigenen Selbstgefühl, ohne dem Tiefendrange des Schöpferischen Raum zu gönnen, ohne vollends die Inbrunst eines rauschhaften Werdedranges zu ersehnen. Auch die Formel vom „feurigen Kopf" braucht durchaus nicht als Ansatz zum Irrationalen gedeutet zu werden, da sie der Auflockerer-Poetik innerhalb der Aufklärung durchaus geläufig und damals bereits formelhaft verbreitet war. Nach alledem kann es nicht überraschen, wenn noch 1769 der „Witz"-Begriff in der üblichen Fassung begegnet. Keimhafte Ansätze sollen für diese Zeit nicht geleugnet, dürfen jedoch auch 26

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nicht überschätzt werden. Die Neigung zum Überschätzen besteht gerade in Sonderuntersuchungen, die den zeitüblichen Bestand an kunsttheoretischen Erträgen und Fachwörtern nur unzulänglich zu überblicken und zu wenig zu berücksichtigen pflegen. E r s t s e i t e t w a 1770 g e w i n n t d a s K u n s t w o l l e n des j u n g e n G o e t h e w i r k l i c h i n n e r e n A n s c h l u ß an d a s K u n s t w o l l e n seiner Z e i t g e m e i n s c h a f t und seiner Volksg e m e i n s c h a f t . Vorbereitende Kräfte, teils religiöser Art, gelangen erst jetzt unter dem Zustrom volksmäßiger Bewußtwerdung zur fruchtbaren Wirkung. Natur und Volk werden als Grundwerte auch für jedes tiefergreifende Kunstwollen erkannt und erlebt. Darum bleiben Anregungen Herders oder Rousseaus u. a. nicht Programmpunkte einer Kunstrichtung für Goethe. Sondern Goethe begegnet, im Tiefsten doch unerfüllt und unbefriedigt von der anfänglichen modischen Anpassung, in solchen Anregungen gleichsam dem eigenen Kunstsehnen, der immanenten (latenten) Poetik seines jugendlichen Wesens, das an der Verlegenheitslösung des Rokoko kein Genügen hätte finden können. Es verbinden sich Anregung und Anschauung, Leitideen und Erfahrungen, um ihm die Kunstbesinnung zugleich als Ausdruck einer Kunstgesinnung erscheinen zu lassen. Und wiederum war es seiner genialen Gewalt des Schaffens selbstverständlich, diese Kunstgesinnung zu manifestieren im Werk. Aber die Freudigkeit der Begegnung mit einem ihm gemäßen Kunstwollen, eine Freudigkeit, die noch nachzittert, als er einige Jahre später Klopstocks Poetik als die allein der Geniezeit gemäße und würdige begrüßt, setzt sich doch auch jenseits der immanenten Poetik der Werke um in das Bedürfnis, sich auszusprechen über dieses ihn nun ganz erfüllende Kunstwollen. So liegen jene kunsttheoretischen Bekundungen in nur wenigen Jahren verhältnismäßig eng beieinander, wie sie in sich selbst durchweg bündig und knapp gehalten sind und doch mit ihrem sparsamen Reichtum zu wuchern wissen: Die Rede zum Shakespearetag, die Sulzer-Rezension, die Rede von deutscher Baukunst, in den Jahren 1771—1773. In gewissem Grade kommt der Aufsatz „Nach Falkonet" als Ergänzung in Betracht. Eine starke Verdichtung bringt das Werther-Jahr. Im „Werther" selbst findet der Kampf gegen die Regel und die regelwilligen und gesetzesfreudigen Ordnungskräfte, die alles überdurchschnittliche Wachstum erstickend umklammern, seine

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leidenschaftlich geführte Fortsetzung, wenn dort der „Strom des Genies", der „in hohen Fluten hereinbraust und eure staunende Seele erschüttert", als prachtvolle, und machtvolle Gegenkraft revolutionärer Art gegen den behaglichen Bestand des aufklärerischen Zweckmenschen beschworen wird. Es bringt dieses Jahr 1774 auch das Ringen um ein positives Erfassen des schöpferischen Vorganges, wenngleich mit der — aus dem Ehrfurchtsanteil des Geniekultus ableitbaren — Einschränkung, daß ein Letztes, Tiefstes doch „ewig Geheimnis" bleiben müsse. Aber so weit glaubt doch der junge Goethe in der vertraulichen Stimmung eines Privatbriefes an Fritz Jacobi (Aug. 1774) den Schleier lüften zu dürfen, daß alles entscheidend hinstrebe zu einer „ R e p r o d u k t i o n der W e l t um m i c h d u r c h die i n n e r e W e l t , die alles packt, verbindet, neu schafft, knetet und in eigener Form, Manier wieder herstellt". Das Wechselspiel von Mikrokosmos und Makrokosmos bedeutet natürlich nichts weniger als ein Kopieren der Natur, etwa nach Art der „jeweiligen Reproduktionsmittel" von Arno Holz. Der Dichter des „Götz" hat es seinen Franz aussprechen lassen, „was den Dichter macht: ein volles, ganz von einer Empfindung volles Herz". Und das Wort „Herz" sagt beim jungen Goethe gewiß mehr als bei Geliert, der es an sich im kunsttheoretischen Räume häufig genug anwendet. Es greift zugleich beim Terminus „innere Welt" etwas hindurch von der Vorstellung der inneren Formkraft der „bildenden Natur". Und so steht das andere Wort des jungen Goethe — immer vorausgesetzt, daß es wirklich eine eigene Prägung Goethescher Kunstgesinnung darstellt — , das wohl am verhältnismäßig klarsten die Genievorstellung beschreibt oder doch am weitreichendsten sie umschreibt, jener brieflichen Äußerung gar nicht einmal so fern. Es erklärt Genie als die „Fähigkeit, neue große Ideen aus der Tiefe zu heben". Und es sollte nicht so ganz übersehen werden, daß Goethe hier ohne Scheu das Wort „Idee" setzt. Er kann es setzen, ohne in die aufklärerische Vorstellung des „großen Kopfes" zurückzufallen, weil für ihn die „Idee" etwas Lebendiges bedeutet, wie er dieses Lebendige der Ideen an Herder erfahren hatte, weil er eine neue große Idee, die also sowohl den Originalitätswillen wie den Größenwillen des Sturmes und Dranges befriedigte, gar nicht ohne Begeisterung, also ohne gefühlsmäßiggläubige Beseelung sich vorstellen konnte. Etwas von jenem „Ideen-Gefühl", wie es Maler Müller seinem Faust zuschrieb, ist

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in dieser Ideen-Vorstellung lebendig. Inwieweit der Geniebegriff des jungen Goethe bereits biologisch bestimmt und damit von anderen Geniedeutungen seiner Zeit bedeutsam abgehoben sein mag, kann hier nicht entschieden und erläutert werden. Fraglos aber liegt in dieser Andeutung der Sonderforschung ein fruchtbarer Hinweis, der geeignet sein dürfte, innere Bindungen zu finden zwischen dem Kunstwollen des jungen Goethe und der Kunstanschauung des reifen Goethe. Während Goethes Rede zum Shakespearetag das Problem Held und Schicksal bereits angepackt und es nicht einfach im Sinne einer absoluten Willensfreiheit zugunsten des Helden gelöst, sondern das Tragische gerade im Zusammenprallen des Individuell,,Eigentümlichen" mit dem „notwendigen Gang des Ganzen" gesehen hatte, während Herders Shakespeare -Aufsatz neben dem vorwiegend historische „Größe habenden Ereignis einer Weltbegebenheit" (epischer Einschlag, der erste Entwurf hatte das Historische noch stärker herausgestellt) erst in zweiter Linie auch das Motiv „eines menschlichen Schicksals" ins dramatische Kraftbereich gerückt hatte und dabei noch weniger als Goethe, der ja wiederum von Herder gelernt hatte, das Individuelle und Persönlichkeitshaltige dem Göttlich-Schicksalhaltigenj entzogen wissen wollte: stellt R e i n h o l d M i c h a e l L e n z (1751—1792) in seinen „ A n m e r k u n g e n ü b e r s T h e a t e r " (1774) ganz bewußt den Menschen (den Blankenburgs Romantheorie in demselben Jahre für den Roman in Anspruch genommen hatte) nicht sowohl als Menschen, sondern als Helden in die Zentralstellung des Dramas, den bedeutenden, großen Menschen, den „Helden", der selber und vor allem „allein der Schlüssel zu seinen Schicksalen" ist, den „Kerl", den titanenhaften Charakter, der sich selber seine „Begebenheiten erschaffen" kann und soll. Um den notwendigen Gang des Ganzen, den der junge Goethe nicht übersah und der dem jungen Herder stets gegenwärtig war, bekümmerte sich Lenz weniger. Galt es doch vom antiken Schicksalsdrama mit einem energischen Ruck freizukommen. Und eine allzu starke Berücksichtigung der christlichen Vorsehung, wie sie für Herder nahelag, drohte doch irgendwie wieder zum Schicksalhaften hinzudrängen. Aber vielleicht gerade dadurch, daß Lenz mehr an der Oberfläche des Greifbaren und Anschaubaren blieb, gewann er den gesunden Blick für das zunächst Erforderliche und vom Persönlichkeitskultus der Stürmer und Dränger zudem Nahe-

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gelegte: die Konzeption des Charakterdramas. Mit aller Einfalt und aller Energie, die oft der von tiefer greifender Problematik entlasteten oder bewußt sich entlastenden Einfalt eigen ist, stellt er zunächst einmal den R o h b a u d e s C h a r a k t e r d r a m a s ohne alle verfeinernden Ausbauten und vertiefenden Durchbauten vor die Zeitgenossen als die ideale dramatische Bauform hin. Und dieser noch unförmliche Rohbau sagte den Jungen zu. Im Grunde deshalb, weil Lenz ihr eigenes dramatisches Kunstwollen eben nur deutlicher umrissen hatte. Ein wenig aber auch deshalb, weil Heinrich Leopold W a g n e r s M e r c i e r - Ü b e r t r a g u n g als „Neuer Versuch über die Schauspielkunst" (1776) in eng benachbarter Richtung mitwirkte, das Ideal des Charakterdramas einzubürgern. Denn über die aufklärerische Grundschicht, auf der Mercier mit seinem Essay von 1773 bei allen fortschrittlichen Einschlägen weltanschaulich fußt, sah man teils unkritisch, teils wohlwollend hinweg. Trotz mancher Anregungen, wie sie besonders hinsichtlich der negativen Merkmalsbestimmungen in polemischer Abhebung vom früheren Dramenideal von Mercier ausgingen, bleibt es das Verdienst Lenz', Herders „Größe habendes Ereignis", das mehr dem Epos gemäß gewesen wäre (und später von Hölderlin in der Fassung „große Bestrebungen" für das Epos angesetzt wird), aber auch Herders Ideal des lyrischen Stimmungsdramas ersetzt zu haben durch die Zentralstellung der Größe habenden Persönlichkeit, und damit durch das Charakterdrama. Was Joh. Elias Schlegel gelegentlich seiner Vergleichung Shakespeares mit Andreas Gryphius bereits kurz aufgeleuchtet war, was Lessing wenigstens mit Bezug auf den historischen Charakter im historischen Drama (aber keimhaft eigentlich schon in der Thomson-Vorrede) aufgegangen war, das ist von Lenz erstmalig in der deutschen Dramaturgie mit voller Klarheit gewonnen und kunsttheoretisch ausführlich vermittelt worden: die Einsicht in die Überlegenheit des Charakters im Verhältnis zum Geschehen, zum „Ereignis" und zur ,,Begebenheiten"-Abfolge. Der Neudeutung der lyrischen Wesens- und Wirkungsform (Klopstock, Gerstenberg und vor allem Herder) folgt dieser endgültige Umbruch und die Umbiegung der dramaturgischen Zielrichtung durch R. M. Lenz im Vorstoß seiner „Anmerkungen übers Theater" (1774). Also erst wesentlich später; ein Jahrzehnt nach der Revolution der Lyrik in Herders Odenabhandlung findet die geniezeitgemäße Dramaturgie ihre entscheidende Ausprägung.

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Man spürt, daß jetzt schon aus dem Vollen geschöpft werden kann, daß der Geniezeit bereits selbstgeschmiedete Waffen zur Verfügung stehen. Zudem hatte L. S. M e r c i e r s Sonderabhandlung „Du théâtre ou nouvel essai sur l'art dramatique" (1773) anregende Vorarbeit geleistet. Bewußt systemfremd, betont sprunghaftgenialisch als aphoristische „Anmerkungen" den logisierend erschöpfenden Abhandlungstypus der rationalistischen Kunsttheorie schon in der Titelgebung weit von sich weisend, verschmäht es die gelockerte Darstellung keineswegs, das „trockene Räsonnement" recht oft mit einem „Nägelchen" zu „spicken". Leitstern für die Entdeckungsreise — in modifizierter Form wirkt die Fiktion des „Spazierganges" über Lessings „Laokoon" und Herders „Kritische Wälder" nach — soll allein das spontane Kunstgefühl sein; zielstrebige Planung wird von vornherein verworfen. S t u r z der A r i s t o t e l e s - A u t o r i t ä t : Lenz erweitert und verstärkt vor allem die früheren Teilvorstöße zu einem breiten Frontalangriff gegen Aristoteles selbst und die „poetische Reitkunst" der „Herrn Aristoteliker". Das Fundament, auf dem Jahrhunderte gebaut hatten, soll in seiner Grundfeste erschüttert werden, „weil wir doch die Ursache anzeigen müssen, warum wir so halsstarrig sind, auf demselben nicht fortzubauen". Die Herder sche Erkenntnis von der kulturellen, nationalen und zeitlichen Gebundenheit und Verbundenheit des Kunstwollens und Kunstwirkens sichert Lenzens Angriff seine entscheidende Stoßstärke. Der antike Schicksalsbegriff mit seinem kultischen Ursprung, der den Aristotelischen Forderungen zugrunde liegt, kann keine normsetzende Verbindlichkeit für das geltende Empfinden der Gegenwart beanspruchen. Der ästhetisch an sich nicht unerwünschte „Bitterreiz", den die Tragödie aus dem Erdrücktwerden unter göttlicher Übermacht zu gewinnen vermöchte, der gefühlsmäßige Wert des religiösen Untergrundes, den Lenz' eigene Religiosität nicht verkennt, vermögen für die brutale Brechung individueller Freiheit um so weniger zu entschädigen, als jene sklavische Schicksalhaftigkeit aus einem volks-, wesens- und wertfremden Kultus, aus einer „ s c h i e f e n R e l i g i o n " erwuchs. Gerade weil eine neue Kunstgläubigkeit in der Geniezeit die rationalistische Kunsterkenntnis überwunden hatte, eiferte sie gegen jene Irrlehren antiken Aberglaubens und Irrglaubens. Ihr war der Persönlichkeitskultus zum ästhetischen Glaubensbekenntnis geworden; er forderte Freiheit der individuellen Tat, der „gött-

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liehen" Schöpfung, der selbst schicksalschaffenden Leistung, auch im Künstlerischen. Eine solche schicksalschaffende Höhenleistung naturnahen Schöpfertums verehrte auch Lenz in Shakespeare. Und während Lessing Shakespeares Mustergeltung noch mit Aristoteles Gesetzesgeltung in Einklang zu bringen getrachtet hatte, konnte Lenz den neuartig und als wesensverwandt erlebten und erfühlten Shakespeare bereits als Sturmbock gegen das „kunstrichterliche Gebäude", gegen die Aristotelische Festung und Zwingburg vortragen. Ganz prägnant läßt Lenz den Übergang vom Aristotelischen Theoretisieren zum Shakespeareschen Produzieren hervortreten; „Gehen (wir also) über zum Fundament des Shakespeareschen, unsers Landmanns... Und zum Henker, hat denn die Natur den Aristoteles um Rat gefragt, wenn sie ein Genie ?" (zu ergänzen „ist" bzw. „hervorbringen wollte"). Das Genie also entscheidet wie bei Herder mit der starken Stimme des Beispiels, die jene immer wiederholten Forderungen und Ratschläge des Theoretikers übertönt. Aber während Herders Einschränkung der HomerAutorität — unter anderem wiederum durch einen Briten (Milton) gerechtfertigt — die Verehrung aufrechterhielt, läuft bei Lenz letztlich alles auf ein lässiges Beiseiteschieben des Aristoteles hinaus, dem die Geniezeit nicht mehr recht geben kann, „so sehr er zu seiner Zeit recht gehabt haben mag". Das war so ziemlich der ganze Rest an pietätvoller Achtung, den man noch für die entthronte Autorität aufzubringen vermochte, und auch dieser kärgliche Rest fand sich noch nicht im ursprünglichen E n t w u r f zu den „Anmerkungen", wurde also erst nachträglich „gerettet". Vielleicht unter Herders Einfluß oder Vorbild; denn Herders Shakespeare-Aufsatz von 1773 hatte, ebenfalls die Zeitgebundenheit klarstellend, noch weit achtungsvoller über Aristoteles ausgesagt, „daß der große Mann auch im großen Sinn seiner Zeit philosophierte". Jedenfalls mildert Lenz (hinsichtlich des Verhältnisses von Entwurf und Endfassung) weit weniger als Herder die ursprünglichen Schärfen. H e l d und H a n d l u n g : Wie sich das Freiheitsgefühl der Geniezeit gegen den lastenden Schicksalsbegriff aufbäumte, — „Denn der Held allein ist der Schlüssel zu seinen Schicksalen" — , so verwarf ganz entsprechend der Persönlichkeitskultus die Uberbewertung äußeren Geschehens im „Handlungs"-Begriff. Die Zentralgestalt im Drama, der Held, hat die Norm-Typen der französischen Aristoteliker zu verdrängen, zum mindesten in der

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Tragödie. Und die Sonderforschung darf mit einem gewissen Recht sagen, daß Lenz die Tragödie als Schaustellung eines Helden definiere. Lenz fühlt sich durchaus als Wegbereiter eines deutschen Charakterdramas, wie er denn mit Bezug auf Shakespeares Dramen geradezu von „Charakterstücken" spricht (Joh. El. Schlegel, Lessing). Die gestaltende Charakterfassung hat sich auf eine wirklich „individuelle Menschen- und Seelenkenntnis" zu stützen. Scharf ausgeprägte Persönlichkeiten soll der Dichter auf die Bretter stellen, die nicht wie Marionetten und Schablonen vom äußeren Geschehen gelenkt werden, sondern ihren willensbewußten und willensfreien Weg sich zu bahnen wissen, „ohne die Gottheiten in den Wolken . . . nötig zu haben". Die französischen „Intrigen-Kramläden" mit ihrer mechanisierten, normierten und uniformierten Fabrikware sind auf Abbruch loszuschlagen. In der Tragödie hat die Handlung um der Person willen da zu sein, während allerdings in der Komödie, deren Hauptdrehkraft durchweg eine „ S a c h e " sei, die Personen mehr der Handlungsentfaltung zu dienen hätten, ein Zugeständnis, das nach Lessings „Minna" kaum noch erforderlich war. Aber Lenz meinte mit Komödie nicht allein das Lustspiel, sondern wesentlich auch das Gegenwartsstück schlechtweg. Z e r b r e c h e n d e r d r e i E i n h e i t e n : Eine der Hauptursachen für jene Veräußerlichung und Schabionisierung der Handlungsführung wird in der „so erschröcklichen, jämmerlich-berühmten Bulle von den drei Einheiten" aufgedeckt und bloßgestellt. Wenn noch der Aufsatz „ Ü b e r d i e V e r ä n d e r u n g d e s T h e a t e r s i m S h a k e s p e a r e " vor einer übertriebenen Einheits-Brechung aus „bloßem K ü t z e l " heraus gewarnt hatte, so geben die „ A n m e r k u n g e n . . ." dieses vermeintliche „Fundamentalgesetz" nicht nur völlig auf, sondern auch systematisch der Lächerlichkeit preis: „Und was heißen denn nun drei Einheiten, meine L i e b e n ? " fragt Lenz mit ähnlichem Spott, mit dem einst Hamann nach dem Götzen „Geschmack" gefragt hatte. Wertvoll ist allein die immanente und latente Einheit des organischen Kunstwerks schlechtweg. Für diese Einheit im höheren Sinne aber bürgt — wie die R e z e n s i o n über den „Tugendhaften Verbrecher" (1772) es ausspricht — doch allein die Schöpferpersönlichkeit: „ H a , wenn Maß, Ziel und Verhältnis nicht in der Seele des Dichters ist, die drei Einheiten werden es nicht hineinbringen". Getroffen wird in dieser Polemik ein Wesentliches: die Kunstfertigkeit, der

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rationalistische Glaube an allein selig machende „Kunstgriffe" der Technik. Gerade auch jene formelhafte Erstarrung in Monotonie wird dergestalt enthüllt als eine notwendige Folgeerscheinung und als ein „offenbarer Beweis des Handwerks. Denn die Natur ist in allen ihren Wirkungen mannigfaltig". N a t u r n a c h a h m u n g und N a t u r n a c h e i f e r u n g — das S c h ö n e u n d C h a r a k t e r i s t i s c h e . Eben diese Natur schafft Ersatz für Aristoteles. Sie wird im Sinne der Naturnacheiferung Lehrerin und Gesetzgeberin, wie sie denn auch den Reichtum im Charakteristischen bereits vorbildet. Denn „die Mannigfaltigkeit der Charaktere und Psychologien ist die Fundgrube der Natur; hier allein schlägt die Wünschelrute des Genies an". Dem Dramatiker muß die sichere Schöpferhand gegeben sein, „in der Puls der Natur schlägt, vom göttlichen Genius geführt". Der Dichter soll, dem großen Schöpfergott nacheifernd, „seine Schöpfung ins Kleine" nachzuformen trachten. Von der Nachahmung der sogenannten „schönen Natur" wollen die „Anmerkungen . . ." nichts mehr wissen, da das Gebilde einer solchen bewußten Kombination (durch Auslese) stets doch nur eine „verfehlte Natur" darstelle. Wenn der Dichter als kleiner Gottschöpfer „mit dem Funken des großen Gottschöpfers in der Brust" in seinem Gestaltungsvorgang so naturnahe bleiben soll, daß man „sein Gemälde mit der Sache verwechseln" könne, so wirkt neben der Illusionstheorie, der z.B. die „Verbrecher"-Rezension noch williger gefolgt war, doch vor allem auch der Drang nach einem vollen Erfassen der Naturganzheit unter Auswertung des Charakteristischen ein. Das Schönheitsgefühl, das von vornherein dem Schaffenden innewohnen und sein „ganzes Wesen durchdrungen haben" muß, darf doch keineswegs den kräftig die Realität anpackenden Gestalter zu einem armseligen „Pillenversilberer" (einst positiv gefordert von dem Barockpoetiker Buchner und vielen Nachfolgern) und „Brustzuckerbäcker" abgleiten lassen. Für ihn, der stets im edelsten Sinne „Darsteller, Dichter, Schöpfer" bleiben sollte, ist es weit wesentlicher, aus vollem Schöpfergefühl heraus einen kantigen Charakter wuchtig hinzuhauen, „als zehn Jahre an einem Ideal der Schönheit zu zirkeln". Unvergessen sei, was schon Lessing in seiner Vorrede zu Thomsons Trauerspielen hierin an Vorarbeit geleistet hatte. Am greifbarsten tritt die für die Geniezeit so bedeutsame Grundforderung des Charakteristischen zutage in der zudem

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persönlich gefaßten Prägung Lenzens: „Nach meiner Empfindung schätz' ich den Charakteristischen zehnmal höher als den Idealischen", wenn er hierbei auch mehr das Künstlertum des Malers im Auge hat. Die Sonderforschu'ng faßt die Einstellung Lenzens teils so, daß für Lenz nur das „subjektivistische Wahrheitsbild" des Ich Geltung hat; sowohl das „objektivierte des Naturalismus als auch das idealisierte, vergoldete, allzu vereinfachte der rationalistisch-anakreontischen Richtung ebenso wie das des französischen Pseudoklassizismus werden abgelehnt". Andererseits stellt sie (so J. Ernst) Lenz angesichts seiner schwankenden Haltung (teilweise zurückstrebend zur Illusionstheorie) auf eine Stufe mit Gerstenberg; das dürfte das Fortschrittliche in Lenzens Auffassung doch zu sehr zurückstellen heißen. Klarer sieht S. Melchinger, deutet jedoch etwas zuviel „innere Form" und „wesenhafte" Natur und damit unbewußt schon Ideale der Klassik in die Sturm- und Drang-Dramaturgie hinein. Der Geniebegriff umspannt alle übrigen Sonderforderungen und wahrt mit dem Schöpferbegriff und der Naturvorstellung innige Fühlung. Er bietet letzte Erklärung für alles Unerklärliche — auch in der Literaturphilosophie. Lenz erwägt einmal die Möglichkeit, von der anschauenden Erkenntnis her das Dichterische zu erfassen, um sie sogleich fallen zu lassen: „Doch dies ist nicht der rechte Zipfel, an dem ich anfassen muß, um (Abbruch, Absatz). Wir nennen die Köpfe Genies, die alles, was ihnen vorkommt, gleich so durchdringen, daß ihre Erkenntnis denselben Wert, Umfang, Klarheit hat, als ob sie durch Anschaun oder alle sieben Sinne wäre erworben worden". Doch damit ist erst der universale Charakter des Genies umschrieben, der auch dem Weltweisen, dem Kritiker usw. eigen ist. Im spezifisch dichterischen Bereich kommt es darauf an, „was Horaz vivida vis ingenii, und wir Begeisterung, Schöpfungskraft, Dichtungsvermögen oder lieber gar nicht (!) nennen". Die Fähigkeit, den Gegenstand, der anschauend erkannt ist, wiederum rückwärts „anschaulich und gegenwärtig" zu machen, ihn „zurückzuspiegeln", das ist die „nota diacritica des poetischen Genies". — Damit gewinnt Lenzens Genieauffassung eine eigene, leicht r e a l i s t i s c h e A b t ö n u n g , die sich indessen, genauer betrachtet, als ideal-realistische Sehart erweist; denn selbst „machen", nicht nur „nachmachen" soll der Dichter. Für dieses schöpferische Neubeleben, das dem bloßen Schöngeist versagt ist (Antithese: Genialität-Geschmack), muß

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jede rationale Absichtlichkeit ausgeschaltet bleiben. Der geniale Dichter kombiniert nicht willkürlich auf Grund eines konstruktiven Kunstverstandes, sondern folgt der spontanen Ausdrucksnotwendigkeit: „ E r nimmt Standpunkt — und dann m u ß er so verbinden". Das Genie ist souverän. M o r a l i s i e r e n d e R e s t b e s t ä n d e : E s bleibt jedoch zu berücksichtigen, daß sich bei Lenz die Zweckbefreitheit des Dichtwerks, die noch keineswegs restlos klar in der Geniezeit herausgebildet wird, gegenüber seiner teilweise theologisch-moralisierenden Einstellung nicht wirksam durchzusetzen vermag. Abweichend von der kühleren Zwecksetzung des Lessingschen Kunstverstandes, erscheint sie bei Lenz immerhin geniehaft und temperamentvoll umgebogen. So soll etwa nach Lenzens Bemerkungen „ Ü b e r G ö t z v. B e r l i c h i n g e n " die Eindruckswirkung beim Zuschauer auf „Gesinnungen, Taten und Handlungen" ethisch anregend übergreifen, nicht gestützt auf einzelne Tugendlehren und Sentenzen, nicht nüchtern belehrend, sondern „mit erhitzter Seele". Moralpädagogisch gebundener wirkt die Folgerung, daß diese Eindruckswirkung „unsere Gerichtswage" sei, „nach der wir den wahren Wert eines Stücks bestimmen". Indem die Vorstellung des Edel-Großen den strengen Tugendbegriff abzulösen beginnt, wird die Gesinnungsschulung, das keineswegs aufgegebene Erbe der Aufklärung, geniemäßig abgewandelt, und langsam bereitet sich die Linie S c h i l l e r — K . Ph. Moritz andeutend vor. Die sozialkritische Anklage-Dramatik der Geniezeit stellt das entsprechende Gegenstück im Dichtschaffen. Doch bleibt Lenz den Aufklärern in diesem Betracht etwas stärker angenähert, so etwa auch in der Abhandlung „ V o m Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen" (1773/74). Hamanns Synthese aus Sinnlichkeit und Religiosität wollte Lenz nicht recht gelingen. Beachtung verdient in diesem Zusammenhange der Hinweis der Sonderforschung auf die enge Wertbeziehung zwischen Kunst und Volkskultur (volkserzieherischer Einschlag) in Lenzens Kunstauffassung. Die Lenzische F o r d e r u n g d e s „ I n t e r e s s e s " steht im Zusammenhang mit der charakterisierenden Teiltendenz: „ D a s Interesse ist der große Hauptzweck des Dichters, dem alle übrigen untergeordnet sein müssen", (in: „ Ü b e r die Veränderung des Theaters im Shakespeare" (1772). Wie sonst etwa das Wohlgefallen am Schönen als Wirkungsziel aufgestellt wird, so darf man das „Interessante" im Lenzischen Sinne wohl am besten und bün-

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digsten als ein W o h l g e f a l l e n am C h a r a k t e r i s t i s c h e n auffassen und ausdeuten. Jedenfalls ist es nicht einfach gleichzusetzen mit der dramatischen Spannung, also von G a r v e s Begriff des „Interessierenden" nicht unwesentlich abgestuft, wenn auch Teilberührungen in den Wurzelschichten dieses Begriffes bei Garve und Lenz spürbar bleiben. An sich schloß sich rein zeitlich dieser Shakespeare-Aufsatz Lenz' eng an Garves „Gedanken über das Interessierende", deren erster Teil 1771 herausgekommen war („Neue Bibliothek"). Und eine gewisse Umsetzung des nur Emotionalen zum Dynamischen hätte Lenz schon zusagen können, ebenso wie Garves Loslösung von der Mustergeltung der Alten. Nicht zusagen aber konnte ihm Garves Hängenbleiben an der aufklärerischen Vorstellungs- und Empfindungstheorie und sein Glaube an die Möglichkeit eines sittlich vollkommenen Charakters. Zudem war Garves „Anhang", der über das „Interessierende" durch Leidenschaften handelte, damals noch nicht veröffentlicht worden. Wenn aber für Lenz das „Interesse" im Wohlgefallen am Charakteristischen lag, so mußten es nicht „merkwürdige Begebenheiten" wie im Drama der Alten, sondern „merkwürdige Personen" wie in Shakespeares Charakterstücken sein, die dieses Interesse zu erwecken und wachzuhalten vermochten. Diese eines Bemerkens der Nachwelt oder Mitwelt würdigen großen Persönlichkeiten (es überwogen in Lenz' Vorstellung ein wenig die historischen Gestalten wohl unter Nachwirkung der bekannten Einstufung Lessings in der Hamburgischen Dramaturgie), diese überlebensgroßen Gestalten hatten dem Zuschauer das begeisterte Geständnis abzuzwingen: „das ist ein Kerl! Das sind Kerls!" Um eines so ersehnten Erfolges willen bogen also die „Anmerkungen übers Theater" unbekümmert von der Schöpfungsästhetik zur Wirkungsästhetik ab. Unbekümmert: denn dahinter stand ja die Gewißheit, daß nur ein rechtes Genie „große Kerls" zu schaffen und darzustellen vermöchte. Die schöpferische Sehnsucht der Jungen ist leicht geneigt, sich für echte Schöpferkraft und ihre Gestaltenträchtigkeit schon für Gestaltungsmächtigkeit zu halten. M a l e r M ü l l e r bekennt im Widmungsschreiben an Otto von Gemmingen zu seinem „Faust' Leben, dramatisiert", daß es ihn gelockt habe, gerade den Faust zu wählen, „weil ich ihn gleich vor einen großen Kerl nahm". Ein Kerl, dessen Tragik gerade in der Uberfülle seiner Kraft liegen sollte, wie oft bei den

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Helden der Sturm- und Drangdramen und nicht zum wenigsten beim jungen Schiller. Und wie Lenz' den Helden zum „Schlüssel" seiner Schicksale gemacht sehen will, wie die „großen Kerls" selbst „Schöpfer ihrer Begebenheiten" sein sollen, so auch soll Maler Müllers Faust aus seinem Kraftgefühl heraus den „Zügel" nicht dulden, „den Glück und Schicksal ihm anhielt". Wieweit diese Darstellungsabsicht erfüllt oder nicht erfüllt wurde, braucht hier nicht entschieden zu werden. Es ist jedoch nicht so, daß der Darstellungsbegriff ganz übergangen worden wäre. Die bei Lenz begegnende Dreieinigkeit „Darsteller, Dichter, Schöpfer" erinnert vielmehr in ihrem ersten Teilglied „Darsteller" daran, daß durchaus nicht so ohne weiteres — wie die KlopstockForschung z. T. behauptet — der D a r s t e l l u n g s - B e g r i f f erstmalig und ausschließlich für Klopstocks Kunsttheorie in Anspruch genommen werden kann; denn „Darsteller" bezieht sich bei Lenz keineswegs etwa auf Schauspieler. Der Darstellungsbegriff ist nachweisbar gleichzeitig in dieser wertbetonten Zusammenstellung bei Lenz, wie er bei Wilhelm Heinse u. a. Beachtung findet. Lenz hat inbrünstiger als mancher andere Dichter des Sturmes und Dranges um die Krone des „Darstellers" gerungen. Er war sich bewußter als mancher andere, daß erst der „Darsteller" den Anspruch des „Schöpfers" im dauerkräftigen Werk beweisen und — darin dem reiferen G. A. Bürger verwandt— bewähren müsse. In seinem Hymnus „ Ü b e r die d e u t s c h e D i c h t k u n s t " , in dem kulturpatriotischer Eifer und kritische Selbstbescheidung den ganzen Stolz und Schmerz zugleich seines Dichtertums offenbaren, bittet er die Geister Shakespeares, Ossians und Homers, nachsichtig auf ihn niederzuschauen, „daß auch ich einst wagte zu dichten". Vielleicht war es der Anteil Selbstkritik, der ihn hinderte, in seinen dramatischen Hauptwerken, dem „Hofmeister" (1774) und den „Soldaten" (1776) einen der theoretisch und programmatisch geforderten „großen Kerls" in den beherrschenden Mittelgrund des Geschehens zu stellen. Wesentlich beteiligt aber war die sein Schaffen beherrschende Leitkraft der echten Lebensvielfalt (werkimmanente Poetik). Doch darf nicht vergessen werden, daß Lenz beide Bühnenwerke ursprünglich Komödien nannte, während seine „Anmerkungen übers Theater" für „Trauerspiel oder Staatsaktion" (historisches Trauerspiel) den „Kerl" gefordert hatten. Unter Komödie jedoch wollte Lenz als „Gemälde der menschlichen Gesellschaft" bürgerliche Dramen

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mit Gegenwartsstoffen verstanden wissen. Eher hätte sein CatoDrama zu einer Verwirklichung jener Forderung führen können. Auf gesellschaftskritische und standeskritische dramatische Satiren angelegt, wobei einmal im Gegensatz zu Rousseaus „Emile" die Nachteile der Privaterziehung, zum anderen die Gefahren der Ehelosigkeit der Offiziere grell belichtet werden sollten, enthüllen die beiden Dramen — die aber in Lenz* Sinne „Komödien", bürgerliche Gegenwartsstücke waren — weit eher die Fähigkeit Lenz' zur Zeichnung feingestufter problematischer Charaktere, besonders in der Charakteristik des Stolzius, der irgendwie schon auf Georg Büchners Woyzeck vorausdeutet, wie denn Büchners Novelle „Lenz" die Wahlverwandtschaft zu bekunden scheint. Einmal aber hat Lenz dennoch einen großen „Kerl" in ein Bühnenstück hineingestellt, und zwar Goethe (mehr als Lenz selbst) in seiner literaturkritischen Satire. Zuversichtlicher als in jenem Gedicht von der deutschen Dichtkunst bestimmte Lenz die eigene Reichweite seines Könnens in dieser Komödien-Skizze, dem „Pandaemonium Germanicum" (entstanden: 1775), wo Klopstock, Herder und Lessing zuletzt das Urteil über Lenz fällen: „Der brave Junge! Leistet er nichts, so hat er doch groß geahndet". Aber wiederum wird — und das ist für das Kunstwollen entscheidend — die hochgespannte Forderung an das ideale Dichtertum deutlich erkennbar. Wieder auch geht es um das schöpferische „Darstellen". Als Herder ihn im phantastischen Raum und Rahmen dieser Literatursatire auffordert, nun doch einmal sein eigenes Darstellungsideal zu verwirklichen und vorzustellen, da schleppt Lenz „einen Menschen nach dem andern keuchend" herbei und „stellt sie vor Herdern hin". Und wenn Herder (nicht ohne Bewunderung natürlich, denn darum wirbt Lenz in teils rührender, teils erschütternder Art) einwendet, daß diese Menschenbildnisse „zu groß" seien „für unsre Zeit", so verweist Lenz' Antwort auf die „kommende" Zeit. Das Uberlebensgroße, das Kolossalische des jungen Goethe wird dabei erneut aufgerichtet, entsprechend dem geniezeitgemäßen Streben nach Größe um jeden Preis. Auch das durchgängig verfolgbare Gefühl, einem Zukünftigen die Bresche zu schlagen mit derartiger letzter Anspannung und Überspannung, kommt dabei klar zum Ausdruck. Jedenfalls würde die Formel: e c h t e V i e l f a l t und l a u t e G r ö ß e auch wesentliche Bestände der Programmatik und Kunsttheorie Lenz' umschreiben helfen. —

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Das Hineingreifen ins gegenwärtige Leben und das Herausgreifen lebendiger Menschen mit der schöpferisch bildenden Hand ist im Gleichnis dieser Schlußszene festgehalten. Und dieses Recht und diese Pflicht der modernen Dichter darf nicht durch das an sich vorbildliche Verfahren der Griechen eingeengt werden. Vielmehr: „was den Alten galt mit ihren Leuten, soll uns doch auch wohl gelten mit unsern". Dem Ruf nach dem Leben in der Dichtung schlechtweg entsprach in der Dramatik, die als Charakterdramatik gesehen wurde, der Ruf nach dem „echten" Menschen. Er wird auch von Dichtern zweiten und dritten Grades erhoben, so etwa von L u d w i g P h i l i p p H a h n , der das Geschehen der Vorfabel aus Gerstenbergs „Ugolino"-Drama zum Zentralmotiv seines „Aufruhrs zu Pisa" (1776) ausbaute und in der programmatisch gehaltenen Einleitung zu seinem merklich shakespearenahen Bühnenstück die Forderung erhob: „Ich will Menschen sehen — handeln sehen, wahre Menschen". Blümelnde Poesie rokokohafter Art will er nicht „ a u f m Theater" dulden, ebensowenig die Einförmigkeit französischer Trauerspiele oder die „Weinerlichkeit" des Rührstücks. Aber hier wirkt als Abklatsch, was bei Lenz sehnlich umworbenes Urbild war. Der stolz-bescheidene Wettbewerb Lenz' mit Goethe, der die ganze Komödie durchzieht, ob nun im Sinnbild des Erklimmens eines steilen Berges (I. Akt) oder im Tempel des Ruhmes bzw. in der Kirche (II. Akt), gibt zugleich Gelegenheit, alles abzuwehren, was dem jungen Kunstwollen als überholt oder unwürdig erscheint und hemmend und hindernd im Wege steht, ob es nun um die philisterhaften Kunstrichter geht, die noch nicht einmal ihren Scaliger kennen, ob es um die Dichterlinge der „Delikatesse" geht und um die „Grazie" der Rokoko-Gruppe, in der Jacobi und Wieland hervorstechen. Hier kann nur noch Goethe helfen; denn Wielands Position ist mächtig. Goethe stürzt denn auch in den Tempel mit dem bedeutsamen Ruf „Ihr Teutsche?", um die französierend Tändelnden mit einer „Reliquie eurer Vorfahren" (wobei an „Götz" gedacht sein dürfte) zur Ehrfurcht vor dem ursprünglich und volkstümlich Deutschen zu zwingen, so daß also auch dieser volktumsbewußte Grundzug geniezeitgemäßen Kunstwollens zu seinem Rechte kommt. Die philiströsen und kirchlichen Einwände und Bedenken gegen den „Werther" erhalten in den Pfarrer-Küster-Szenen spöttisch glitzernde Streiflichter. Ebenso die Klassizisten, die „nach griechischen Originalen" als 27 M a r k w a r d t , Poetik II

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bloße Nachahmer „Zug für Zug nachkritzeln". Wesentlich jedoch bleibt für die beherrschende positive Zielsetzung das MenschenDarsteilen-Wollen aus dem Leben heraus, das Lenz schon einmal am Schlüsse des ersten Aktes Goethe gegenüber als sein Ideal bekennt, „ein Maler der menschlichen Gesellschaft zu werden". Und diese einerseits erweiterte, andererseits begrenztere Forderung an sich selbst, die nicht das Überlebensgroße des „Kerls" einbezieht, hat Lenz am ehesten noch erfüllt in seinen eigenen Dramen, die also in Lenz' Sinne in der Tat „Komödien" waren (trotz des Umbenennungsvorschlages). Ob er allerdings in diesen satirischen Gemälden der „menschlichen Gesellschaft", so wie es Goethe von Lenz zugestanden wird, keinen „Strich wider die Natur gemacht" hat, darf billigerweise bezweifelt werden und wurde gewiß von Lenz' wacher Selbstkritik nicht ernstlich behauptet. Jedenfalls scheint in seinem eigenen Kunstschaffen und also im Kunstwollen (im Sinne einer werkimmanenten Poetik) das Streben nach echter Vielfalt stärker ausgeprägt gewesen zu sein als der geniezeitgemäße Hang zur lauten Größe, dergestalt daß, von hier aus betrachtet, die These (der Sonderforschung) von der Schaustellung eines Helden denn doch wieder einer kritischen Einschränkung bedarf.

Fortwirkender Bestand und letzte Verdichtung geniezeitgemäßen Kunstwollens Der religiöse Impuls, wie er bei Hamann, z. T. auch bei Herder und Lenz das Neue hervortreiben half, stimmt Joh. C a s p a r L a v a t e r (1741—1801) aufnahmefreudig für die jungen, aber bei seinem verspäteten Eingreifen fast schon modisch verbreiteten Ideen. Denn wirklich nachhaltig beteiligen sich doch erst seine 'Physiognomischen Fragmente' (1775 f.) an der allgemein um sich greifenden neuen Bewegung. Abgesehen vom Einfluß HamannHerders, von der auch sonst im Übergang vom Geschmacksbegriff zur Genieauffassung bedeutsamen Leibnizschen Lehre von den „petites perceptions" und den dunklen, unteren Seelenkräften, boten das persönliche Gott-Mensch-Verhältnis pietistischer Religiosität einerseits und der teils durch das Thema bedingte empiristisch-sensualistische Einschlag andererseits jene beiden Schichten, die — bei Hamann weit sicherer aufeinandergelagert — bei Lavater doch vielfache Verwerfungen und Verschiebungen auf-

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weisen. Das religiöse Erhabenheitserlebnis Klopstocks, das Lavater in seiner Art nacherlebt und neu erlebt, ist nicht immer stark genug, um den Sensualismus wirklich einheitlich zu durchdringen. Beide Welten erscheinen manchmal etwas gewaltsam aneinandergerückt, weil die umspannende Persönlichkeitskraft fehlt, die bei Hamann die Auseinanderstrebungen überwölbt. Immerhin bestehen auch bei Lavater verbindende Brücken. Die Vorstellung von der Anschaubarkeit Gottes im Menschen, davon, daß in jedem Geschöpfe der Schöpfer sich widerspiegle, daß jenes Innere aber nur am Äußeren ablesbar und aufspürbar sei, die Forderung „Wahrheit! Wahrheit! Natur! Natur!", die hohe Bewertung der „in die Sinne fallenden Anschaulichkeiten" und die stetige R ü c k b e z i e h u n g des E m p i r i s c h e n auf d a s R e l i giöse sind gewiß geeignet, das Streben nach organischer Verschmelzung zu fördern. Im Ganzen erinnert die religiös-christliche Komponente mehr an Hamann, die Art, physiologisch auszubauen, mehr an Herder, wenn auch dieser zugleich das Supernaturelle weitgehend mit heranzog. Hamannisch mutet vor allem auch die Wesensbestimmung des Dichtertums als einer prophetischen Mittlerschaft an, wonach „der Dichter Prophet der Schöpfung und Vorsehung Gottes" ist, wie denn alle Propheten Gottes zugleich Poeten gewesen seien, und die Sprache der Offenbarung nicht zufällig Dichtersprache war und als solche der Philosophie voranging. Durch den Dichter allein wird erst dem Menschen die göttliche Schöpfung voll erschlossen in ihrem ganzen Reichtum und ihrer ganzen Tiefe. Er ist in diesem Sinne als Gottes-Prophet zugleich ein „Offenbarer der Natur, ohne den die Natur niemand kennt, so wie sie von Anfange der Welt her nie ohne Poesie und Prophezie (so) erkannt ward". Dieses Erkennen aber entspricht dem des Urgenies, dessen Denken ein Anschauen, dessen Empfindung zugleich Tat war. Der ewige Schöpfer „durchregt und durchhaucht" auch die künstlerischen Großwerke der Menschen, die „aus ganzer bewegter Seele in ganze bewegte Seele" hineinwirken müssen. Als eines der geheimnisvollen Elemente, das bereits Gerstenberg und Herder herangezogen hatten, gilt für Lavater jene Trägerin des Gefühls und Lebens schlechtweg, die er als „Kraft" faßt und deren — etwas verschwommenes — Wesen man etwa als L e b e n s k r a f t umschreiben könnte, durch die jedoch für Lavater stets die göttliche Kraft als Gotteskraft hindurchwirkt. Denn das Wesen 27*

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jedes organischen Körpers ist an sich selbst unsichtbare Kraft. „Ohne dies Unerforschliche, Belebende ist alles tot und ohne Bedeutung". Gefühl und Kraft bilden die große Zweieinigkeit; denn „wo Gefühl ist, da ist Kraft. Soviel Gefühl, soviel Kraft". Dann wieder — denn die Umschreibungen jenes Unaussprechlichen wechseln — sieht er in der Liebe die „Seele des Genies". Was diesen Geniebegriff oder richtiger dieses Geniegefühl betrifft, so wird Lavater nicht müde, immer neue enthusiastische Erläuterungen zu geben, wobei dann die überquellende Fülle solcher Umschreibungen den spürbaren Mangel an einer festen Bestimmung ausgleichen muß. Wird doch „Genie" nicht nur im ästhetischen Bereich gesucht, sondern etwa auch in der Religion empfunden (s. Romantik), die als Genie fürs Unsichtbare, Ahnung des Unsichtbaren im Sichtbaren, Genie fürs Höhere, Übermenschliche, Überirdische mannigfach gedeutet wird. Relativ am klarsten wird die Genieauffassung noch dort, wo sie das spontane Schauen vom gewollt-absichtsvollen Beobachten abhebt: „Das Genie ahndet, daß heißt, sein Gefühl läuft der Beobachtung vor. Das Genie beobachtet nicht. Es sieht (erschaut). Es fühlt" (erlebt). Neben ganzen Begeisterungsströmen rhapsodisch-aphoristischer Art von Superlativen Ausrufen wie: Lichter der Welt, Salz der Erde, Substantive in der Grammatik der Menschheit (Prädikate hätte dann schon besser gepaßt angesichts der Dynamik), Menschengötter, Schöpfer, Zerstörer, Offenbarer der Geheimnisse Gottes und der Menschen, Dolmetscher der Natur, Aussprecher unaussprechlicher Dinge und wiederum Propheten, Priester usw.— neben solchen allzu reichen Wort- und Wendungssymbolen für das Großartig-Souveräne (Übernatur, Übertalent, Überkunst) und Bedeutungsvolle der Genies erscheint besonders hervorzuheben die Betonung jener uns schon bekannten „Schnelligkeit", die verschiedentlich in der Dichtungsdeutung der Geniezeit das Unmittelbar-Dranghafte, intuitiv Zupackende, genial Zugreifende, spontan Erfassende, das blitzhafte Einfallen und Zufallen bezeichnen soll. Denn auch Lavater kennt diese „ungewöhnliche Schnelligkeit", diesen „eilenden Vorbeiflug", der doch gerade das Wesentliche errafft. Dabei klingt teilweise Herdersches wörtlich an, so dort, wo vom schnellsten Flammenstrom der Empfindung und Tätigkeit gesprochen wird. Diese Dynamik verbindet sich mit der schöpferischen Funktion „Genie blitzt, Genie schafft, veranstaltet nicht" (Gegensatz zum aufklärerischen Organisieren

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und Kombinieren, zugleich aber wörtlich anklingend an Gerstenbergs Antithese von Genie u. Talent). Genialität ist so als Urund Schöpfungskraft und damit als individuelle Ausdrucksnotwendigkeit und zugleich gottgegebene Ausdrucksfähigkeit gefühlsmäßig ergriffen mehr als begriffen; denn „alles, was schafft, quillt von innen heraus und wird von oben herab gegeben". Die damals schon durchgebildete Sonderausprägung des Originalgenies wird u. a. durch die „Unnachahmlichkeit" im Charakter des Genies angedeutet. Das weitere Element der „Elastizität", das in bedeutsamer Weise mit einem „Zusatz lebendiger I n d i v i d u a l i t ä t " arbeitet, ist offenbar von Herder bezogen worden. Intuition und Inspiration treten weiterhin zutage, da derjenige genial schafft, der sich so auswirkt, als ob es „ihm ein unsichtbares Wesen höherer Art diktiert oder angegeben hätte". Dabei wird halb wortspielhaft noch das Genie als Wesenseigenschaft (funktionelles Attribut) unterschieden von dem „Genie" als dem Träger solcher Eigenschaft. Der so Inspirierte „hat Genie" (Genialität); wer im Schaffen selbst einem Wesen höherer Art gleicht, der „ist Genie". Im Grunde wird natürlich dasselbe getroffen, nur einmal die Funktion, das andere Mal die Personifikation dieser Funktion (Genie als Attribut und Subjekt). Aber das gleichsam als verirrter Klang schon bei M. Resewitz aufklingende Genie-Sein trägt nun den vollen Wertakzent. Vielfach ist Lavater recht freigebig in der Zuteilung des Genie-Titels. Und so hat sein nicht selten etwas wortreiches Schwärmertum selbst nicht zum wenigsten dazu beigetragen, daß sein abwehrender Seufzer des Überdrusses nötig wurde: „Genie! tausendmal und wann mehr als in unserer Aftergeniezeit weggeworfenes Wort." Gerade ein an sich schon gesteigerter Höhenwert, eine an sich schon in der Genieauffassung liegende Hochspannung und teilweise Überspannung ließ sich auf die Dauer nicht unter dem Hochdruck der ersten Jahre des Sturmes und Dranges halten. Die religiös-theologische Teilkraft half Lavater auch — auf Umwegen zwar — den Zugang finden zur Schätzung des Charakt e r i s t i s c h e n und I n d i v i d u a l i s t i s c h e n . Denn da alle Kreatur aus Gottes Hand hervorgegangen ist, so kann keine von vornherein verwerflich sein. Es bleibt z. B. auch dem häßlichen Menschenantlitz noch ein Abglanz des göttlichen Ursprungs, „es ist kein Menschengesicht so häßlich, in dem nicht noch Züge des göttlichen Ebenbildes übrig sind". Doch setzt dieser religiös-

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pietistische Einschlag dem Freischöpferischen des Originalgenies andererseits gewisse Schranken. Der Begriff einer bedingungslosen Freiheit wurde eingeengt durch die Beschränkung der Willensfreiheit auf Grund einer göttlichen Vorherbestimmung, wenn sich diese auch z.T. der prästabilierten Harmonie Leibniz', jedenfalls einem optimistischen Determinismus merklich annähert. Der Trieb und das Recht zur Individualisierung wird anerkannt. Aber auch in diesem Betracht handelt es sich nicht um eine absolute Selbstherrlichkeit des Individuellen, dem vielmehr nur ein „gewisser Spielraum" zu seiner Entfaltung zugebilligt werden kann. Das Wesentliche liegt bei alledem im innigen Teilhaben der Vorstellung einer „lebendigen Individualität" am Zustandekommen des Geniebegriffs. Diese „lebendige Individualität", die bei Lavater von einer religiös gespeisten „Lebenskraft" aus bestimmt wurde, steigert sich bei W. Heinse zu einem herrisch-„heidnischen" Eigenwert, wird zum Eigenmaß und zum ästhetischen Selbstgenuß, der sein Recht aus einer rein vitalen „Lebenskraft" ableitet und aus der renaissancehaft mehr als antik gesehenen Fähigkeit, ein „Kernleben" in Kunst und Wirklichkeit, in Kunstgenuß und Lebensgenuß durchzusetzen und auch spannungsmäßig durchzuhalten. J. J. W i l h e l m H e i n s e (1746—1803) pflegt innerhalb der Kunsttheorie des Sturmes und Dranges wenig Beachtung zu finden. Sein Anschluß an die Riedelgruppe scheint ihn in der entscheidenden Zeit unter die Einwirkung der Riedeischen „Theorie" (1767) zu stellen und also unter die Nachwirkung durchweg inzwischen überholter Auffassungen des Rokoko. Sein Kunstschaffen schult sich in jener Zeit an Wieland, greift also auch nicht unmittelbar und eindeutig in die Geniebewegung ein. So ist es verständlich, wenn man seine Jugendschriften als arm an geniezeitgemäßen Forderungen zu bezeichnen pflegt. Nähere Prüfung indessen muß die Anschauung fallen lassen, als ob bis 1774 (Düsseldorfer Periode) charakteristische kunsttheoretische Äußerungen nicht vorlägen. Daß vielmehr bereits der junge Heinse über Riedel hinaus der Geniebewegung sich zuwendet, wird ablesbar an S c h r i f t e n der F r ü h z e i t , wie etwa den B e i t r ä g e n zum „Thüringischen Zuschauer" (bes. an dem Aufsatz „Vom Jagdgedichte", 1770) oder auch an den „ M u s i k a l i s c h e n D i a l o g e n " (1770), besonders der G e s a m t v o r r e d e „Leserinnen und Leser". Bekannter schon pflegt die V o r r e d e

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zur P e t r o n - Ü b e r t r a g u n g (1772) zu sein und der Beitrag zum „Teutschen Merkur" von 1775. Gerade aber den ersten Spuren zu folgen, kann nicht ohne Reiz sein und führt — um es vorwegzunehmen — zu dem Ergebnis, daß Heinse verhältnismäßig bald und recht energisch das künstlerische Neuwollen'aufgriff. Im Prosaaufsatz „ V o m J a g d g e d i c h t e " (1770) rückt Heinse bereits ab vom „Schäfergedichte", bei dem sich der Dichter nur künstlich in die Szenerie des „güldenen Alters" hineinträumen müsse, während er im volkstümlichen und naturnahen Jagdgedicht und „Jagdsinggedicht", wie es landschaftlich in Thüringen ausgeprägt sei, von der „Natur selbst begeistert" werde. Das I d e a l der N a t u r n ä h e u n d V o l k s n ä h e legt Heinse hinein in die „Wildheit" des Jägers, dessen Handlungen „schnell, kühn und voll Feuer" sind gegenüber der spielerischen Als-Ob-Natürlichkeit der anakreontischen Dichtung. Es entspricht diese Haltung durchaus dem Jung-Herderschen Hinweis auf die Gefühlsüberlegenheit der sogenannten „wilden Völker", auf das intellektuell noch nicht gebrochene Volksempfinden (vgl. im epischen Bezirk auch Merck). Die Welt der Barden, die Welt Ossians wird heraufbeschworen in jenem für die Geniezeit und ihre Programmatik kennzeichnenden manifestartigen Stil, wobei Originalitätswertung mit Geniekultus und Naturverehrung zusammenströmen in den Schlußaufruf: „ 0 ! hätten wir die alten Jagdgedichte unsrer Ossiane! welch ein Verlust für uns! dies waren OriginaleI Gedichte! nicht nach andern vortrefflichen Gedichten gesungen und kopieret! die Natur diktierte sie. Junge Genies! macht es, wie sie! macht es, wie die griechischen Dichter, die Meisterstücke hervorbrachten, ohne Meisterstücke zu lesen oder Formen zu haben! Sie bildeten ihr Ideal vom Schönen, vom Vortrefflichen aus der Natur; macht es wie sie! studieret sie Tag und Nacht! dann werdet ihr den Wunsch der Patrioten erfüllen, und Thüringen wird Genieen vom ersten Range haben. Ihr Edeln! die ihr in eurem Hirn etwas von diesem himmlischen Feuer brennen fühlet, das den O s z i a n , S h a k e s p e a r , P e t r a r c h . . . über andere Menschen empor hob und sie zu Lieblingen und Stolze ihrer Nation machte, empor mit den Seelenflügeln! Zerreißet die Sclavenfesseln gewöhnlicher Menschenkinder! und fürchtet euch nicht mit Sonnenlichte die dunklen Augen eurer Nation zu blenden!" (I, 157). Im Ganzen macht Heinse vorerst Halt auf der Z w i s c h e n s t u f e der B a r d e n d i c h t u n g „ . . . jede erhabne Eiche erinnert uns

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an . . . die alten Barden!" Aber der Zustrom geniezeitgemäßer Quellkräfte drängt doch machtvoll sich durch. Etwa die Übergangsposition Gerstenbergs hält er inne; aber kraftvoller, überschwänglicher, leidenschaftlicher im persönlichen Sich-Einsetzen. Noch stehen „schöne Geister" verdächtig nahe neben den „Genien" (auch dieser Plural ist typisches Attribut der Übergangszeit). Indessen: schon wird recht drastisch „eine P o r t i o n G ö t t l i c h k e i t " mit Beschlag belegt für das Genie, das die „hierinnen sparsame Natur so selten zubereitet". Und nur die Natur als schöpferische Urmutter vermag diese „Portion Göttlichkeit" (eine mehrfach wiederholte Prägung) zu verleihen. Der ebenfalls im „Thüringischen Zuschauer" von 1770 veröffentlichte „ D a m e n - B r i e f w e c h s e l " greift in A n p a s s u n g an die f r a u l i c h e W e s e n s a r t den G e n i e g e d a n k e n wieder auf, und zwar in dem schon leicht romantisch anmutenden Sinne, daß man den Frauen zu Unrecht das „sublime poetische Genie abgesprochen" habe. Teils wechselt — der Einkleidung und Themastellung entsprechend — die Genievorstellung hier stärker in den Geschmacksbereich hinüber und erfährt so eine gewisse Trübung oder richtiger eine gewisse Abstufung, wie es denn „gar vielerley Art von Genie" geben soll. Soviel bleibt jedoch an klarer Sichtigkeit bestehen, daß mit dem Argument der Begabung eine Bresche für die Frauen gebrochen wird; denn „Genie ist Naturgabe und wird angeboren, kann also a u c h den F r a u e n nicht gut vorenthalten werden". Und aus jener abdämpfenden Trübung und abstufenden Milderung erlöst sich doch mit spontanem Krafteinsatz die heiße (und etwas überhitzte) Gläubigkeit, daß Genialität aus der Dunkelheit des Unbewußten mit Gewalt sich freimacht und auflichtend emporlodert „wie das wütende Feuer". Gerade das Attribut „wütend" untermalt die Sturmund Drangstimmung in wirksamer Weise. Und es stellt — wenn man etwa an Herders Inbeziehungsetzen der Künste zu den Sinnen denkt — keinen Widerspruch dar, sondern will aus der Sinnenfreudigkeit, dem psychologischen Interessiertsein und der e m p i r i s t i s c h e n E i n s t e l l u n g verstanden werden, wenn Heinse im Teilanschluß an H e l v e t i u s ' Lehren dem „subtileren Gehirne und besseren Sinnen" einen wesentlichen Anteil an der Ausprägung der Genialität zuerkennt. Wie schon damals Heinses kräftige sinnliche Gebundenheit nach ausgleichenden ideellen Auftriebskräften ringt, so bleibt die Höhenstellung des Genialen trotz eines

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psycho-physischen bzw. physiologischen Unterbaus dennoch ungefährdet bestehen, und zwar auch in der Situation des Kunstgenusses und Kunstverstehens: „Daher kann ein großes Genie nur von einem großen vollkommen empfunden und geschätzt werden", wobei der Lessingsatz, daß nur ein Genie sich am anderen Genie entzünden könne, doch eine merkliche Abstufung in der Richtung des ästhetischen Verstehens und Genießens erfahren hat. Die U n m i t t e l b a r k e i t d e s N a t u r e r l e b e n s , die im Essay „Vom Jagdgedichte" spürbar war, verstärkt sich weiterhin in der G e s a m t v o r r e d e zu den „ M u s i k a l i s c h e n D i a l o g e n " (1770), wo Heinse mit persönlichem Hervortreten von sich bekennt: „Fleisch und Blut ruft bei mir wie Shakespeares Bastard: Natur, du bist meine Göttin, dir will ich dienen!" Die U n m i t t e l b a r k e i t des K u n s t e r l e b e n s , besonders auch des schöpferischen Geheimnisses verwahrt sich energisch gegen Übergriffe seitens der Kunstrichter und eitle Ansprüche der Kunstlehrer; denn „im Taumel" will eine rechte Dichtung geschaffen sein. Was man von außen heranträgt an Kritik und Belehrung, vermag echte Genialität schwerlich zu fördern oder gar zu bewirken: „ D a s G e n i e m u ß s i c h s e l b s t n ä h r e n ; unter tausend Lehren ist kaum eine, die ihm behaglich ist." Anlehnung pflegt überdies nur aus eigenem Unzulänglichkeitsgefühl gesucht zu werden, häufig genug einfach deshalb, weil an „Originalen" ein empfindlicher Mangel herrscht und man es vielfach vorzieht, „fremde Köpfe abzuschreiben", wenn der eigene Kopf nichts Eigenes, Originales hergeben will. Die Bezeichnung „ K o p f " für Genie wirkt noch von der Aufklärung her nach, deren kunsttheoretisch auswertbarem Erbe sich auch Heinse nicht völlig zu entziehen vermochte. Die alte Lehre der ausländischen Renaissance- und deutschen Barockpoetik, daß der Dichter sein Werk aus zeitlichem Abstand heraus bessernd umformen könne und solle (vgl. Bd. I, Register), begegnet einer schroffen Ablehnung unter dem Eindruck genialer Spontaneität. Skeptisch meint Heinse, darin weit abweichend von Lessings Glauben an Kritik und Selbstkritik: „Eine Schrift, die im Anfange nichts taugt, wird niemals gut." Und eigenartig verwandt mit einem in seiner Zeit (17. Jh.) kaum gehörten Seufzer Kaspar Stielers klingt die stolze Klage, daß Heinse selbst „den Genius, der mir im Kopfe steckt, nicht . . . zwingen" könne und wolle auf die Gefahr hin, von den Kunstrichtern, die bereits im

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Aufsatz „Vom Jagdgedichte" als „anatomierende Kritiker" ihren Hieb erhalten hatten, wegen seiner Unfolgsamkeit „gezüchtigt" zu werden. Die „anatomierenden" Kritiker versündigen sich eben an dem, was lebendiger Organismus im echten Kunstwerk ist, was Heinse selbst noch dem steinernen Bauwerk des Münsters (so gut wie Goethe) an pflanzenhafter Wuchsfreiheit eines Naturgebildes zuerkennt, das aus eigner geheimnisvoller Keimkraft wächst. Innerhalb der „Dialoge" selbst geht diese vorerst individuelle Entlastungsoffensive zum allgemeinen Angriff gegen die Bindungen des Genialischen über mit der Stoßfrage: „Was ist das für ein Genius, der sich selbst in solche sklavische Fesseln zwingen kann ?" Und, indem er die eine Gesprächspartnerin der „Musikalischen Dialoge", die Prinzessin, frauliche Kritik an der naturverschandelnden Schnürmode (auch der Schiller der „Räuber" faßt ja den „Schnürleib" als Symbol) verbinden läßt mit einer Kritik an entsprechender künstlicher Korrektur des organisch gewachsenen Dichtwerks, gelangt er zu der drastischen Anklage und dringlichen Forderung: „So machen es die mehrsten Dichter auch mit ihren Werken! B e s s e r t die F o r m der N a t u r n i c h t m i t F i s c h b e i n , u n d die G e s t a l t der K i n d e r des G e n i e s n i c h t m i t V e r s t ä n d e ! " Wie späterhin Heinrich von Kleist das Verstandeskriterium als störenden Fremdkörper und erschwerenden, statt vermeintlich fördernden Faktor beim Kunstschaffen ausgeschaltet wissen will, so nimmt bereits Heinse diese Mahnung vorweg, die allerdings innerhalb der Geniezeit nichts weniger als neuartig war und etwa schon bei einem Auflockerer wie Mendelssohn gelegentlich anklang. Charakteristisch aber bleibt es, mit welchem Überzeugungsnachdruck sich jene lindere Mahnung Mendelssohns hier zu einer fast diktatorischen These verdichtet. Und diese weniger bekannte Prägung Heinses verdient es wohl, neben ähnlichen Hamanns, Herders und anderer Stürmer und Dränger eingereiht zu werden als einer der einprägsamen Leitsätze der Epoche. Daß sich „Witz und Verstand" nicht in die „Sprache der Empfindung und des Herzens drängen" dürfen, ist Heinse selbstverständlich, und zwar nicht nur für die aus seinem musikalischen Anteilnehmen heraus im Ganzen ein wenig überschätzte O p e r n g a t t u n g , der er im d r a m a t i s c h e n B e z i r k doch nicht zum wenigsten deshalb den V o r z u g gibt, weil ihre musikalische Ausprägung reine „Leidenschaft, Handlung und Empfindung" verlangt

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und voraussetzt und ihre Gefühlsglut sich nicht verträgt „mit dem kalten Wasser der Sentenzen". Zugleich scheint die Oper als stolz verzeichnete „Erfindung" der „Neueren" geeignet, das E i g e n r e c h t der M o d e r n e n gegenüber den Alten — etwa in Youngs Sinne — zu kräftigen. Jedenfalls erfahren die beliebten Vergleiche der Kunstleistungen der Modernen mit denen der Alten als „allemal lächerlich" schroffe Ablehnung. Unverkennbar wird die e m o t i o n e l l e L u s t e r r e g u n g , die H e r v o r b r i n g u n g „ g e i s t i g e r W o l l ü s t e " , wie Heinse gern formuliert, in die Zentralstellung künstlerischer Zweckbestimmung gerückt. Die Schönheitstrunkenheit Heinses, die auch im Reich der Musik wie der bildenden Künste sich auslebt, ist gewiß sinnlich berauscht; aber nicht eigentlich und einseitig auf Realismus eingestellt. Zwar die Gestalten „müssen Blut und Nerven" verraten, und es gibt Fälle, in denen der Künstler am besten das Naturgegebene ohne weiteres aufgreift, wie er es vorfindet. Im Wesentlichen aber fordert sein genießerischer Ästhetizismus vorerst noch die v e r e d e l n d e A u s l e s e . Denn es bleibt der „Hauptendzweck eines schönen Künstlers, die Natur zu verschönern und vollkommener zu machen, um dadurch die geistigen Wollüste bei denen, für welche er arbeitet, hervorzubringen". In derselben Linie liegen aphoristische Bemerkungen „ A u s D ü s s e l d o r f 1 7 7 4 — 8 0 " , die z. T. kritisch abrücken vom Naturkultus: „Schwatzt lange von Natur: der Mensch kann nichts als Ideal machen. Und wenn er kein Ideal macht, so taugts nichts. Wenigstens ists kein Werk der Kunst". In jenen Jahren war eine derartige Besinnung, die jedoch bei Heinse nicht tief greift, bereits durch Herder vorbereitet. Der Aufschwung über den Alltag und seinen Realismus gilt als Voraussetzung für hochwertiges Kunstschaffen. Dieses Wirklichkeitsüberlegene, „dieses Luftige für den Geist" wirksam hervorzubringen, „wurden als Zaubermittel der Vers und der Reim erfunden" als auftriebfördernde Kräfte. Die Dichtersprache ist die eines „Begeisterten", eines, der „trunken ist an allen Sinnen"; sie hat sich zu erheben über die Sprache des Umgangs. „Die Poesie erweitert unser Leben über die Spanne Wirklichkeit." In den „ B r i e f e n ü b e r d a s i t a l i e n i s c h e G e d i c h t R i c a r d e t t o an H e r r n H. J. (Hofrat Jacobi)", dem Beitrag zum 'Teutschen Merkur' (1775) verschiebt sich die Einstellung zugunsten einer ehrlichen N a t u r h a f t i g k e i t u n d W i r k l i c h -

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keitsnähe. Denn „die Natur, wie sie wirklich ist, hat immer mehr Gefühl im Menschen gemacht als (die), wie sie sein könnte; und er empfindet sie folglich auch immer stärker wieder als (eine), vollkommen gemachte oder idealische Natur". Heinse verfehlt nicht, die Überlegenheit ungebrochener und unverfälschter Natürlichkeit an einer Gegenüberstellung von Beispielen naturnaher Kunst einerseits und idealisierter Kunst und Künstlichkeit andererseits empirisch zu erweisen, um dieses kritische Erweisen schließlich in persönliches Erleben ausschwingen zu lassen, das eindrucksmäßig die „Fülle der Wonne" im frischen Walde weit höher stellt als das bestenfalls schwächliche „Vergnügen" an künstlichen Gartenanlagen und kunstreich beschnittenen Baumgruppen. Gerade in der „schönen Unordnung der Natur" bewährt sich die ewig a u f frischende Quellkraft des Organischen, das eine letzten Endes weit „belebendere Ordnung" in sich schließt und von der „scholastischen Regelmäßigkeit" und uniformierend-stilisierenden Anordnung sich unendlich vorteilhaft abhebt. In dieser ordnungsüberlegenen Naturhaftigkeit, die er einige Jahre später am Wuchs des Münsters im Vergleichsbild vom „heiligen Hain" bewundernd umschreibt, in der Natur schlechtweg „und den Meisterstücken der Genieen" (also nicht mehr einseitig der Alten) findet er „allein die echten Regeln der Kunst, die das Herz ergreifen und die Phantasie bezaubern lehrt". Wohl gesteht Heinse zu, daß Aristoteles, Horaz und Boileau zu den von ihm bevorzugten kritisch-theoretischen Schriftstellern gehört haben. Aber Gesetzesgeltung vermag er ihnen nicht einzuräumen. Denn „jedes Genie ist frei geboren und wird diesen Gesetzbüchern, so oft sie seinem Gefühl widersprechen, eben so wenig Gehorsam leisten als . . ." (es folgen Beispiele). Als Anmaßung wird es empfunden und zurückgewiesen, etwa einen „Codex der N a t u r gesetze für Genieen" aufstellen und jene geheimnisvoll zeugenden Kräfte in Systeme einfangen zu wollen. Die Achtung selbst vor den großen Theoretikern findet ihre Begrenzung durch die schlichte Fragestellung: „Und hat ihnen die Natur selbst unmittelbar den Inhalt dieser Gesetze gesagt?" Als ein in den Ergebnissen kärglicher und armseliger Kunstfertigkeits- und Kunsthandwerksbetrieb wird die technisch bewußt bestimmte Schaffensart „nach Sentenzen" ironisch abgetan. Zu den Wesensattributen des schöpferischen Genies, das sich an Homer und Shakespeare begeisternd anzuregen hat, gehören

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„Feuerkraft des Gefühls, die Dinge mit ihren Eigenschaften in ihrer Wahrheit zu fassen, wie Seele zu durchdringen, und D a r s t e l l u n g s v e r m ö g e n o d e r S c h ö p f u n g s g e i s t " . Nicht nur Freiheit gegenüber den Regeln, auch Freiheit und Beweglichkeit gegenüber den gattungsmäßig festgelegten Wirkungsgesetzen — leicht schon von Geliert ins Auge gefaßt — ist dem Genie einzuräumen, dem freier Spielraum zu bieten ist in der Wahl der ihm von Fall zu Fall angebracht dünkenden Formgebung. Dabei ist Entfaltungsmöglichkeit berechtigt und erwünscht für den Original-Gestaltenden, damit er über die gegebenen Gattungen und Dichtarten hinaus unbekümmert „ganz neue dazu erfinden" kann. (Diese Form des Fortschritts begegnete innerhalb der Gattungs-Poetik schon weit früher, vgl. Bd. I.) Anders etwa als Herder, der den jugendlich rückhaltlosen Geniekultus bald einsichtsvoll und maßvoll zu mildern trachtet, wahrt Heinses Ästhetizismus auch späterhin, so z. B. in den Aufzeichnungen „ A u s M a i n z 1786—92" die Grundvorstellung vom gottähnlichen Schöpferdrang im Künstlerischen: „ D i e n e u e n I d e e n des G e n i e s e r z e u g e n s i c h v o n s e l b s t in der S e e l e d u r c h ein u n b e g r e i f l i c h e s O h n g e f ä h r , w i e die W e l t m i t a l l e n i h r e n s c h ö n e n F o r m e n in G o t t e n t s t a n d e n sein m u ß . " Ein Beispiel — und nicht das einzige — dafür, wie in Heinse fast unmittelbar der Ü b e r g a n g v o n der G e n i e z e i t z u r R o m a n t i k vorgebildet zu sein scheint. Aber auch zeitlich ragt er daifiit recht nahe an die Frühromantik heran. Der gleichfalls zur Romantik hinüberweisende ä s t h e t i s c h e I m m o r a l i s m u s , von W. Brecht besonders in der Entfaltungsspanne seit der Italienreise, die den kunstfrohen, aber weit mehr noch genußfrohen Roman „Ardinghello" reifen läßt, nachgewiesen und gedeutet, von Obenauer strenger als „hedonistischer Individualismus" abgehoben und dem Triebhaften zugewiesen, bereitet sich schon in der Genieepoche vor, ja reicht zuletzt doch wieder in den ästhetischen Relativismus des Riedel-Wieland-Kreises seiner Frühzeit zurück. Der junge Heinse proklamiert nicht nur das übergeordnete Individualitätsrecht, das die „sklavischen" Bindungen „gewöhnlicher Menschenkinder" zerreißen darf, sondern kritisiert auch die Leidenschaftsbrechung und Kraftschwächung durch die Moralhemmung. Den Deutschen ist die „Sprache der Leidenschaften" durch die Gegenwehr der Moralisten verleidet, ja „unverständlich" geworden, „weil ihnen ihre Moralisten auf

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das feierlichste verbieten, sie zu fühlen". So klagen bereits die „Musikalischen Dialoge", die überdies Mendelssohns noch recht schwer dem moralpädagogischen Aufklärungsprimat abgerungenes Zugeständnis einer „theatralischen Sittlichkeit" (im Unterschied zur bürgerlichen Moral) wesentlich williger und entschlossener ausbauen und fast schon zur Selbstverständlichkeit erheben, was dort als Ausnahme gewagt wurde. Weit mehr zum „ g e i s t i g e n V e r g n ü g e n " als zum Belehren ist für Heinse die Bühne bestimmt. Denn „die moralische P h i l o s o p h i e soll zeigen, welche Folge Laster und Tugenden haben"; und das Wissen darum muß Voraussetzung für den Theaterbesucher sein. Erweiterung der Menschenkenntnis, der Weltkundigkeit und das Studium menschlicher Affekte mögen Nebenwirkungen des Dramas sein; „allein deswegen gehen wir nicht ins Schauspiel, um durch eine Handlung von drei Stunden lang uns die Folge des Lasters und der Tugend zeigen zu lassen" (s. Lessings Einwand gegenüber Gottsched). Vielmehr wird die Richtung einer vermeintlichen ästhetischen Moralerlöstheit vorgezeichnet im Wirkungsziel einer Erregung „ g e i s t i g e r W o l l l ü s t e " . Bei Goethe begegnen ganz ähnliche Aussprüche über die dramatisch-theatralische Wirkung, allerdings nicht sowohl aus jugendlicher Unbekümmertheit heraus als aus reiferer Skepsis gegenüber dem moralpädagogischen Optimismus und dem aufklärerischen Erziehungsoptimismus. Für Heinses V o r r e d e zur Petronübertragung, den „ B e g e b e n h e i t e n des E n k l o p " (1773) ergibt sich aus der Verteidigung der gewagten Übersetzung ohne weiteres die indessen auch grundsätzlich formulierte Einstellung: „Die Dichter, Maler und Romanschreiber haben ihre eigne Moral". Ausdrücklich wird die „Moral der schönen Künste" losgelöst von der Bindung an die bürgerliche Moral. Ja, Heinse versucht, den Tugendbegriff dahin umzufärben, daß der Drang, „Freude zu verschaffen" und selbst Freude zu genießen, als vorurteilsbefreite Tugend hingestellt wird. Das ästhetische Beglücken steht höher als das moralische Bewahren. Und dieses Beglücken ist durchaus subjektiv und individuell; denn „jeder Mensch hat den Maßstab seines Vergnügens in seiner eignen Brust". Neben der individuell gestuften wird die zeitlich und kulturell wandelbare Sitte und Sittlichkeit berührt gelegentlich der Erklärung griechischer Knabenliebe: „Ein Dichter richtet sich nach der Moral des Volkes, dessen Landesleute er reden und

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handeln läßt, — das ist: nach deren Sitten und Gebräuchen." Die seit Herder gewonnene historisch-kulturelle Einfühlungsforderung erfährt so bei Heinse eine entsprechende Wendung und Anwendung, um nicht zu sagen: entsprechenden Mißbrauch zu einem verantwortungsarmen Ästhetizismus. Zwar in späteren Aufzeichnungen „Aus Mainz und Aschaffenburg 1793—1803" scheint sich eine Annäherung etwa an Schillers frühen Standort anzubahnen, so z. B. in der Umschreibung des Theaters bzw. Dramas als „lebendige Moral". Dennoch bemüht sich Heinse auch dort, die Überlegenheit des „Vergnügens" aufrechtzuerhalten, indem er nicht zufällig Sorge trägt für die Einschränkung: „Aber moralischer Zweck muß immer der poetischen Wahrscheinlichkeit nachstehn" (i. d. Kritik von Molüres „Tartuffe"). Heinses Stellung is: gekennzeichnet durch das H i n ü b e r l e i t e n v o n T e n d e n z e n der G e n i e b e w e g u n g in B i l d u n g s f a k t o r e n der R o m a n t i k und durch die V i e l s e i t i g k e i t des künstlerischen und dementsprechend auch des kunsttheoretischen Interesses (Wortkunst, Tonkunst, Bildkunst). Die z.T. aphoristisch aufgelockerte Art seiner nicht immer selbständigen Äußerungen läßt m a n n i g f a c h e W i d e r s p r ü c h e nicht mit voller Härte hervortreten, die an sich — etwa auch in der Bewertung des Volkstümlichen bzw. V o l k s t ü m l i c h - W u n d e r b a r e n (Aberglaube, Wunder, Gespensterproblem, Naturnachahmung oder Naturerhöhung) — zweifellos vorhanden sind. Während z. B. unter den Aufzeichnungen der „Italienischen Reise 1780—83" die Klage begegnet, daß ständische Gliederung und Trennung der Dichtkunst nachteilig sein müsse, und zwar nicht zum wenigsten deshalb, weil nur wenige Dichter sich „das G e f ü h l des W u n d e r b a r e n aus der niederen Klasse von Menschen" bewahrt hätten, wehren etwa ein Jahrzehnt später die Notizen „Aus Mainz und Aschaffenburg 1793—1803" besonders für das Drama eine Überlastung mit dem „Wunderbaren" unzweideutig ab. Das aufgeführte Drama, das sich nicht nur an die Phantasie, den Heimatbereich des Wunderbaren, wendet, sondern „zugleich für Aug und Ohr" bestimmt ist, vermag das Übernatürliche nicht organisch einzubeziehen, „und folglich macht das Wunderbare immer auf der Bühne wenig Wirkung". Nicht nur gattungsmäßig ist indessen die Abwandlung der früheren Anschauung zu erklären; denn es wird in diesem Zusammenhange bedauert, daß bereits die Epik und Lyrik allzu sehr mit „Wunderbarem" überschwemmt seien.

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Dennoch verschließt sich Heinses Ästhetizismus nicht verständnislos gegen volksnahe Wundergläubigkeit, sondern läßt das W u n d e r b a r e für die Bühne zu, soweit es im Volksglauben wurzelt. Damit eröffnet sich von Heinses dem Realismus keineswegs grundsätzlich abgewandtem Ästhetizismus her der Ausblick auf Bürgers Sonderstellung. Es wirkt bei allen Abstufungen ihres Kunstschaffens und Kunstwollens in Heinse wie Bürger die durch alle Verbesonderungen hindurchgreifende Lebenssehnsucht des Sturmes und Dranges sich vorherrschend aus als K u l t u s des Sinnlichen, nicht nur des Sinnenhaften und Naturhaften. Was W. Heinse an der Antike suchte und sah, das ungebrochene Kraft- und Kern-Menschentum, das die Statuen der Griechen „in höchster Vollkommenheit menschlicher Kraft im freudigen Genuß ihrer Existenz dastehn" läßt, eben das suchte und sah G. A. Bürger im unverfälschten, sinnennahen Kern- und Kraftmenschentum des gesunden Volkes in seinen breiten tragenden Schichten. Das Derbe und Drastische scheut Heinse trotz allem Ästhetizismus ebenso wenig, wie es Bürger scheute. So erfährt beider Idealbild eine gewisse Trübung Vom Persönlichen her. Goethe spürte das an Heinse, als er dessen „Ardinghello"-Roman etwas hart das bloße Verkleiden der Sinnlichkeit „durch bildende Kunst" vorwarf; Schiller spürte das an Bürger, als er dessen Gedichten ebenfalls etwas hart die Neigung, derbe Sinnlichkeit mit Volkstümlichkeit gleichzusetzen, vorhielt. Dennoch bildeten W. Heinse und G. A. Bürger eben nur unbekümmert ehrlich und unbekümmert einseitig Züge der allgemeinen L e b e n s s e h n s u c h t des Sturmes und Dranges heraus. Und wie Heinse ein Zurück zur Antike in Winckelmanns Sinne und Richtung ablehnte, und wie seine persönliche Schwäche insofern zur Stärke im Deuten und Erleben der Antike wurde, als er die dionysische Gewalt des Lebensvoll-Bewegten und LebensvollErregten frühzeitig sehen lernte, so auch war Bürgers Zurück zum Volke nicht ein bloßes Zurück zur Natur in Rousseaus Sinne, sondern es war ein folgerichtiges Weiterentwickeln der vielen Hinweise, die das Kunstwollen des Sturmes und Dranges immer wieder gegeben hatte. Auch bei Heinse und Bürger wird erkennbar, daß der Sturm und Drang eine echte Vielfalt und laute Größe bevorzugte gegenüber einer edlen Einfalt und stillen Größe im Kunstwollen der Klassik. (Die Formulierung an sich lag zeitlich längst vor, wurde aber durchweg verdrängt.) In diesen Fällen aber ent-

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spricht dem Lauten mehr das Derbe, das auch innerhalb der Kraftgruppe: „echte Vielfalt" demonstrativ hervorgekehrt wurde. Für G. A. B ü r g e r (1747—1794) und seine Dichtungsdeutung wurden, wie er selbst warm und dankbar anerkannte, Herders Bemühungen um die dichterischen Werte im Volkslied zu entscheidenden Anregungen, die verwandte eigene Stimmungen in ihm verstärkten und ihn ermutigten, über die Lyrik hinaus die Volkstümlichkeit, die „Popularität" zum Kriterium und Idealziel echter Dichtung zu erheben. Jubelnd hatte er, zugleich erlöst vom Druck eigener Ungewißheit über die Berechtigung seines Strebens, es begrüßt, daß „ein Mann wie Herder eben das von der L y r i k des V o l k s und m i t h i n der N a t u r deutlicher und bestimmter lehrte, was ich dunkel davon schon längst gedacht und empfunden hatte" (an Boie, 18. Juni 1773). Zugleich ein Beispiel dafür, wie Gruppenwollen aus parallelen Strömungen individueller Ahnungen und Sehnsüchte sich damals schnell und freudig entgegenkommend zusammenschließt. Und darüber hinaus ein Beispiel dafür, wie kunsttheoretische Anregungen bei entsprechenden individuellen Voraussetzungen das Kunstschaffen unmittelbar zu fördern vermögen; denn Bürger setzte seinen Stolz darein, daß seine im Werden ihm zuwachsende Ballade „Lenore" doch „Herders Lehren einigermaßen entsprechen" werde. Und zugleich eine Mahnung und „Erinnerung" an die Sonderforschung, die angesichts der Kunsttheorie der Romantik so eifrig erörtert, ob denn nun A. W. Schlegel {u. a. in seinem Bürger-Aufsatz) schon v o r Jacob Grimm die Konzeption des Volkspoesie-Gedankens zuzuerkennen sei: „Lyrik des Volks und mithin der Natur" schreibt G. A. Bürger schon 1773 kurz und bündig. Innige Volksverbundenheit und zugleich künstlerischer Ausdruckswille stand dahinter, kein mangelndes Vermögen, wenn er so „simpel komponiert" hatte, damit diese Lyrik „wieder in den Spinnstuben gesungen werden" könnte und möchte. Was er vermißte an den Balladen seiner Vorgänger, war vor allem die dramatische Bewegtheit: Leben, Odem, „glücklicher Wurf" und kühner „Sprung", Bildkraft und Gefühlskraft, „Aufrührendes" für Kopf und Herz. Der Romanzentypus mit nachwirkendem Bänkelsängerton versprach volkstümliche Auffrischung zu bringen an Geschehensfreudigkeit, auch an primitiv ungebrochenen Urkräften, im Mut zum Grausigen, Schaudererregenden. Zwar, während Bürger im Dichtschaffen den rechten Weg zur unbekümmerten Volkstümlichkeit verhältnismäßig leicht fand, bleibt er im 28 M a r k w a r d t , Poetik II

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theoretischen Erwägen seiner Kunstforderung noch einige Zeit unschlüssig darüber, ob die „höhere lyrische Poesie" oder die volkstümliche den Vorrang verdiene. Aber etwa gleichzeitig mit jenen Äußerungen über die Lyrik tauchen im Briefwechsel (1783) ganz ähnliche Forderungen für eine D r a m e n f o r m shakespearesierender Art auf, die nicht nur an Hoftheatern, sondern gleichstark in jeder „hölzernen Bude bei der Dorfschenke" ihre urwüchsige Wirkung bewähren müsse. Ihm selbst schwebt eine bürgerliche Tragödie vor von Wortkargheit und Handlungsfülle, ja von teils pantomimischer Wirkungsform. Denn „in ganzen Szenen soll nicht ein Wort gesprochen werden, und doch sollt ihr Erdensöhne vor der Bühne sprachlos niedertaumeln". Man braucht dabei nicht sogleich auf Johannes Schlaf vorauszublicken ! Auf die Möglichkeit, daß ein derartiges Planen unter der Nachwirkung von Diderots Ausführungen über die Pantomime (Diderots „Theater", I) gestanden haben mag, ist bereits von Janentzky hingewiesen worden. Das Ideal blieb indessen Shakespeare; und die tragende Grundkraft blieb Bürgers williges Verstehen „volksmäßiger" Art und Frische. Die Freude an der e c h t e n V i e l f a l t überwiegt (gegenüber der lauten Größe). In „ D a n i e l W u n d e r l i c h s B u c h " polemisiert ein knapper erster Abschnitt, der von der „Einteilung des Schauspiels" handelt (in Boies Deutschem Museum 1776), gegen die klassifizierenden „Theoriemacher" mit ihrer Zerlegung der Gesamtdramatik in Trauer- und Freudenspiele, rührende und weinerliche Lustspiele, Possen, heroisches, bürgerliches „bäuerisches, schäferliches" Spiel und sonstige Rubrizierungen. Bürger übt energisch destruktive Kritik, ohne zu wirklich klar umrissenen positiven Zielsetzungen zu gelangen, die am ehesten noch in der Einheit, die alle Mannigfaltigkeit umspannt, in einem dramatischen Grundtypus gesucht werden könnten. Aber es bleibt doch für die Schwenkung der Geniezeit charakteristisch, wenn er jenen wenig geliebten Theorienmachern wünscht: „Daß sie doch alle der Batteux hole! Schauspiel ist — Schauspiel und damit gut!" Die naturgegebene Einheit und unverlierbare Ganzheit duldet auch kein säuberliches Aufteilen, Sondern und Sichten nach dem gewiß unterschiedlichen Stimmungsgehalt. Wie und weil im wirklichen Leben Tragik und Komik unbedenklich sich überkreuzen und verschmelzen, so wäre es auch pedantisch, etwa eine komische Begleitströmung zum tragischen Haupt-

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ström, ein Mitschwingen des Tragischen mit dem Hauptmotiv des Komischen oder überhaupt naturgegebene Mischformen kurzerhand „verbieten" zu wollen. Das Wertkriterium verschiebt sich bei Bürger überhaupt stark von der Seite des im Interesse der Geniezeit sonst durchweg vorherrschenden Schöpfungsgesetzes zum Wirkungsgesetz hin, wobei E r f o l g s s e h n s u c h t d e s s c h a f f e n d e n K ü n s t l e r s unverkennbar mitbestimmend eingreift. So läßt er denn auch in diesem Sonderfalle das Lustempfinden und Wohlgefallen beim Publikum entscheiden: „Darum kenn' ich nur ein Spiel, und das heißt Schauspiel. Das sei, wie es wolle! Nur gefalle es den Kindern der Natur." Den schaufreudig-sinnlichen Akzent in der bevorzugten Bezeichnung „Schauspiel", die zum Zentralbegriff erhoben worden ist, wird man dabei ebenso herausspüren wie die Wendung zum Naturnah-Volkstümlichen in dieser allein maßgebenden Zuschauerschaft von Naturkindern. Gewiß nicht zufällig nimmt das eine der nachgelassenen Fragmente „Von der P o p u l a r i t ä t der P o e s i e " (entstanden 1778!.), die das Kernstück Bürgerscher Programmtheorie in sich bergen, ein kurzer Aufsatz „Zur Beherzigung an die Philosophunculus", die ältere Debatte über die Berechtigung von Gespenstererscheinungen im Drama und damit das P r o b l e m des W u n d e r b a r e n wieder auf. Und zwar in dem Sinne, daß aufklärerische Skepsis gegenüber dem Gespensterglauben und Aberglauben überheblich und nicht berechtigt sei. Selbst Lessings tolerante Entscheidung zugunsten der Bühnengespenster, soweit sie Gestaltungskraft glaubhaft zu machen versteht, genügt Bürger nicht; denn diese Entscheidung beruhte auf der bedachtsamen Scheidung des philosophischen und ästhetischen Standpunktes. Bürger, dem vom Christlich-Religiösen bzw. Irrationalen her eine gewisse Gläubigkeit gegenüber dem Übernatürlichen zuwächst, läßt nicht nur in der Kunst das Gespenst gelten, sondern mit volkstümlich eingestellter Bejahung und volksnaher Einfühlung ausrufen: „Gottlob, des Menschen Herz ist stärker als seine Vernunft. Trotz allen Philosophemen eures Kopfes bangt es euch in der Herzgrube, durchschauert es euch alle Gebeine, wenn ihr um Mitternacht auf einem Gottesacker wandelt." Andererseits erhält der r e a l i s t i s c h e T e i l f a k t o r im Wirkungswollen der Geniezeit durch Bürger eine wesentliche Verstärkung, und zwar auch in Form der programmatischen, theoretischen Erwägung bzw. Forderung. Das V o r b i l d der N a t ü r l i c h k e i t gilt als recht verbindlich; denn das künstlerische Abbild 28 *

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„vom blanken Spiegel zurück, leibt und lebt", wie es rechte Dichtung soll. Abstrakte Reflexionen liegen schon deshalb jenseits der poetischen Grenzen, weil sie „das sinnliche Vorstellungsvermögen nicht auffassen kann". Überhaupt wird die intellektuelle Haltung streng überprüft; denn „abgehandelt wird für den Verstand; d a r g e s t e l l t für die Sinne" (zugleich ein Anklingen der „Darstellungs"-Lehre in Ergänzung zur Zeichen-Lehre). Von der Reichweite und der zwingenden Eindrucksgewalt dieser Darstellungsfähigkeit „für die Sinne" hängt die E i n b e z i e h u n g s m ö g l i c h k e i t d e s H ä ß l i c h e n in den Bereich der poetischen Stoffe allein ab. An sich erscheint das Häßliche für Bürger durchaus als poesiefähig, und zwar in höherem Grade noch als für den jungen Herder, der es mehr als Ingredienz duldete, in höherem Grade auch als für Lavater, der es gleichsam nur dulden zu sollen glaubte, weil Gott es duldete. Doch bleibt das Reagieren der „Sinne" maßgebend, so daß die Wirkung in solchen Fällen angesichts der Relativität der Geschmackseinstellung nicht gesichert ist. Wenn ein Gegenstand „mit Leidenschaft belebt dargestellt wird", so ist die Reinheit und Echtheit des Dichterischen hinreichend verbürgt. Die Problematik des Geschmacks (Bürgers Abhängigkeit vom Wirkungskriterium) bleibt als theoretisch nicht recht erfaßbare Komponente mit in Rechnung zu stellen: „Du kannst die Greuel einer Schlacht, eines Lazaretts darstellen, daß deine Darstellung immer und ewig für e c h t e P o e s i e gelten muß. Aber gefallen ? Das hängt von den äußern oder innern Sinnesnerven ab, die kein Theorist anders stimmen kann, als die Natur sie gestimmt hat." Bei alledem hält Bürger Phantasie und Empfindung als die Quellen aller Poesie fest, wie er denn auch — darin Herder ähnlich — unter V o l k „ n i c h t P ö b e l " verstanden wissen will, eine Unterscheidung, auf die einst bereits Lessing den billigen Spott Nicolais abwehrend zurückverwiesen hatte. Später, in der V o r r e d e zu seiner zweiten Gedichtausgabe (1789) hat er sein Ideal noch tiefer geschraubt, indem er den Begriff des Volks enger auf die einheitlichen „Merkmale" der „ansehnlichsten Klassen" beschränkte, sich also etwa auf die alte Linie aufklärerischer Popularität — er weist selbst auf Addison hin — zurückzog. Vorerst aber in den siebziger Jahren, der Hochblüte seiner V o l k s t ü m l i c h k e i t s - B e g e i s t e r u n g , dachte er an Homer, an Macpherson, Ossian und Shakespeare, wenn er den Kernsatz seiner Popularitätstheorie

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prägte „Die größten, u n s t e r b l i c h s t e n Dichter aller N a t i onen sind p o p u l ä r e Dichter gewesen" und auf Grund dieser induktiven Ableitung die straffe Programmthese aufstellte: „Alle Poesie soll v o l k s m ä ß i g sein; denn das ist das Siegel ihrer V o l l k o m m e n h e i t . " Die Freude an der Frische derb-gesunder Volksnähe überwiegt, erdrückt aber keineswegs das künstlerische Verantwortungsgefühl gegenüber der Verpflichtung zu einer sauberen Formung. Schon als er R a m l e r die Formglättung seiner Dichtungen anvertraute, hatte dahinter die stille Achtung vor der vollkommenen Form gestanden. Man könnte nach manchem harten und geniezeitgemäßen Wort Bürgers über Theorie oder wie er leise spöttisch sagt, „Theorei" und „Theoreien-Macher" fast erwarten, daß er jede kunsttechnische Schulungsmöglichkeit und Formerziehung des Dichters schlechthin verwerfe. In Wirklichkeit jedoch ringt der Dichter Bürger frühzeitig um die Form. Und bei diesem Ringen sucht er die Stützung seitens einer grundsätzlichen Formpflege von der theoretischen Anregung her. Nur wollte Bürger dieser Form nicht das Leben aufopfern; und der Schönheit nicht die Kraft, der Würde nicht die Wucht. In einer kriegerischen Anmerkung und gelegentlich der Polemik gegen die „Geschmacksgimpelei", die etwa der Polemik des jungen Herder gegen das fade „Geschmäcklertum" entspricht, wird die „Kraft" noch durchaus geniezeitgemäß als „etwas so Vortreffliches" bezeichnet und verteidigt, als ein Wert, der den Schwächlingen nur eben nicht erreichbar und folglich auch nicht verständlich sei. K r a f t g e f ü h l und F o r m sehnsucht greifen unausgeglichen, aber mit ehrlichem und heißem Bemühen um Verschmelzung durch Bürgers gesamtes Kunstwollen hindurch. Die Formsehnsucht findet eine weitere kunsttheoretische Ausprägung in der hohen B e w e r t u n g des D a r s t e l l u n g s v e r m ö gens. Trotz der Teilpolemik gegen den Odendichter Klopstock dürfte der D a r s t e l l u n g s b e g r i f f mittelbar oder unmittelbar auf den Kunsttheoretiker Klopstock zurückverweisen. Nur faßt Bürger das Ideal des Darstellens wesentlich sinnenhafter, dingnäher und gegenstandsfroher. Dennoch übersieht er nicht das Hinstreben alles wahrhaft Poetischen über den sinnlichen Einzelgegenstand hinaus zum Urbild. Und wenn Dichtung eine „Bildnerei" in Worten bedeutet, so ist „alle Bildnerei in der Endwurzel nichts anderes als Darstellung des Urgegenstandes". Darstellung gilt in diesem Sinne

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als die Schaffung eines „Spiegelbildes des Urgegenstandes". Bürger ist sich der Bedeutung des seit Klopstock geläufiger werdenden Darstellungsbegriffes, der weiterhin z. B. bei Fr. L. v. S t o i b e r g begegnet, durchaus bewußt. Will er doch der „ D a r s t e l l u n g " die Position zugewiesen wissen, „ w o s o n s t d a s e r b ä r m l i c h e W o r t N a c h a h m u n g in d e n P o e t i k e n s t a n d " . Das Darstellungsideal darf überzeitlichen Dauerwert beanspruchen, während das die Stoffwahl bedingende Geschmacksideal zeitlichen Wandlungen unterworfen bleibt. Echte Darstellung „leibt und lebt zurück vom blanken Spiegel", wo Nachahmung nur getrübte Reflexe vermitteln würde. So umschreibt Bürger im Vorgang einer V e r d r ä n g u n g des N a c h a h m u n g s b e g r i f f e s d u r c h den D a r s t e l l u n g s b e g r i f f die Dichtung überhaupt als eine „ d a r s t e l l e n d e B i l d n e r e i " . Und indem er nun sein beherrschendes Ideal der Volkstümlichkeit mit dem Ideal der darstellenden, bildnerischen Kunstwertigkeit zu verschmelzen sucht, gelangt er in der Vorrede zur ersten Ausgabe seiner Gedichte (1778) zu der zusammenfassenden Forderung: „ A l l e d a r s t e l l e n d e B i l d n e r e i k a n n u n d s o l l v o l k s m ä ß i g s e i n . Denn das ist das Siegel ihrer Vollkommenheit." In solcher Forderung, deren Reichweite vielfach unterschätzt, deren innere Folgerichtigkeit vielfach übersehen worden ist, glaubt Bürger das Zentralstück seiner Kunsttheorie, die „Achse, woherum meine ganze Poetik sich dreht", gefunden zu haben. Es geht indessen nicht an, nun etwa von der Gegenseite der zwingenden Urkraft des Volkstümlichen oder wie Bürger durchweg sagt des „ V o l k s m ä ß i g e n " (des dem Volke Gemäßen) etwas nachzugeben, indem man es bei scheinbaren Zugeständnissen abdrängt und gleichsam unschädlich macht durch Einräumung einer bloßen Nebenstellung im Gebäude des deutschen Kunstwollens und Kunstforderns. Man erweist der Volkspoesie und den ihr zugewandten Kunstformen, die doch eben Naturformen sein sollten, einen sehr schlechten Dienst, wenn man sie zu einer bloßen „ G a t t u n g " , zu einer notgedrungen geduldeten Sonderart macht, der man wohlwollend auch einen Sonderabschnitt in den Poetiken zuzubilligen sich bereit fände. Vielmehr: die Volkspoesie und „volksmäßige" Dichtung ist die alles durchdrängende und erfrischende Grundmacht jeder national gewachsenen Dichtkunst überhaupt. Der P r i m a t d e r v o l k s m ä ß i g e n P o e s i e ist um jeden Preis zu wahren und eine schlechthin unabdingbare Forderung.

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Nicht also aus den späteren kunsttheoretischen Vorlesungen des Göttinger Dozenten wird man die rechte Vorstellung von Bürgers Kunstgesinnung und Kunstbesinnung gewinnen können. Dort und damals glaubte er nur Verwalter und Vermittler der überkommenen Poetik sein zu sollen. Das ihm Eigene und Eigentümliche, das vom eigenen Schaffenserlebnis durchregte und vom inneren Kunstwollen bewegte Bekenntnis des Dichters Bürger war ausgesprochen worden überall dort, wo es um die Frage und die Forderung eines volkstümlichen und volksnahen Dichtens ging. Diese volksmäßige Dichtung wird der echten „Phantasie und Empfindung" zugeordnet, während dem „Verstand und Witz" eine bloße „Versmacherkunst" gelingen kann. Der geniezeitgemäßen Ablösung des aufklärerischen „Witz"-Ideals durch das Ideal der Empfindung entspricht eine im kulturpatriotischen Sinne bemerkenswert kraftvolle Herausarbeitung des national und heimatlich Charakteristischen. Auf Grund dieser Wertung gelten ihm die „älteren Volkslieder" als „wahre Ausgüsse einheimischer Natur", und zwar gerade unter den beherrschenden Kriterien der Erfindungs- und Gefühlsweise betrachtet. Sie sind Ausdruck des Nationalcharakters und des Stammescharakters „sowohl in Phantasie als Empfindung". Bereits in dem „ H e r z e n s a u s g u ß ü b e r V o l k s p o e s i e " (1776) hat er so die Grundforderung der volksmäßigen Poesie entworfen. Sie steht vor seinem Geiste und vor seiner Sehnsucht als eine Dichtweise, der es gelingen muß, Dichtungen „ d u r c h d a s g a n z e V o l k g a n g u n d g ä b e " , durch jedes unverfälschte Menschenherz und jedes schlicht denkende Menschenhirn erfaßbar zu machen. Denn für das „liebe Menschenvolk" soll man dichten, nicht für Gelehrte oder Genies. Erste Voraussetzung aber bleibt es — ä h n lich wie bei Sulzer — , für das eigene Volk und aus dem eigenen Volke zu dichten, unbeirrt von einem an sich gutgemeinten Wettbewerb mit dem Auslande: „Die deutsche Muse sollte billig nicht auf gelehrte Reisen gehen, sondern ihren Natur-Katechismus zu Hause auswendig lernen." E r will vorerst unter Volk nicht nur die gebildeten Schichten verstanden wissen. E r will eine Dichtung, die sowohl den „verfeinerten Weisen" wie den rauhen Waldbewohner, sowohl die „Dame am Putztische wie die Tochter der Natur hinter dem Spinnrocken und auf der Bleiche" zu entzücken und gefühlsmäßig zu binden vermag. „Man lerne d a s V o l k im g a n z e n k e n n e n " , mahnt Bürger, von vornherein gefaßt auf den Abwehrruf

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„Pöbel"-Dichtung. Und der Balladendichter Bürger hofft in der B a l l a d e u n d R o m a n z e einen K e r n b e z i r k des L y r i s c h - E p i schen gefunden und wirksam gemacht zu haben, von dem eine ständeüberbrückende, weil herzgewinnende Wirkung ausstrahlen könne: „Von der Muse der Romanze und Ballade ganz allein mag unser Volk noch einmal die allgemeine Lieblingsepopöe aller Stände . . . hoffen." So sprunghaft manche Einfälle Bürgers vorgetragen werden, so fragmentarisch improvisiert seine Beiträge zur Poetik (unter Ausschaltung der unselbständigen Ästhetikvorlesungen) wirken: es fehlt ihnen nicht an einer gewissen inneren Folgerichtigkeit und Zwangsläufigkeit. Die entscheidende Grundposition für eine im besten Sinne „volksmäßige" Dichtung verlangte als Ergänzung den Ausbau der Formschulung, die Bürger teils als Metrik, teils als Stilistik in Angriff nimmt. Denn die wesentlichen Einwände gegen die Volkspoesie betrafen Fragen der würdigen und kunstwertigen Formbewältigung. So umwirbt er die „Kunst des vollkommenen poetischen Ausdrucks" (Verschmelzung der Ausdrucks-Lehre mit der Darstellungs-Lehre), die er auch für das erstrebenswerte und erreichbare Ziel der Poetik hält, während ihm das Philosophieren über „ästhetische Ideen", etwa über das Schöne, Erhabene, Lächerliche, Naive, u. s. w. in der Verwertbarkeit für die Kunstübung und das Kunstschaffen als recht fragwürdig, teilweise selbst als völlig müßig erscheint. Das würde etwa bedeuten, daß Bürger die Ästhetik abwehrt, die Poetik aber bejaht, zum mindesten in den Grenzbezirken zur Stilistik und Metrik. Es bestätigt sich darin die Neigung der Stürmer und Dränger, die angewandte Poetik eher noch anzuerkennen als die philosophische Poetik. Völlig der Metrik gehört die „Kurze Theorie der Reimkunst für Dilettanten", die Bürger mit leichter Selbstironie und unter Rückbezug auf den Poetiker Joh. Hübner „ H ü b n e r u s r e d i v i v u s " betitelt. Ausgehend vom Klangbild der reinen „neuhochdeutschen Aussprache" und unter Abwehr mundartlicher Trübungen dieses Klangbildes beschäftigt sich der Aufsatz vorwiegend mit Fragen des richtigen und wohlklingenden Reimes, nicht ohne Teilkritik an Adelung. Hervorhebenswert sind die s p r e c h k u n d l i c h e n E i n s c h l ä g e und Einschübe, welche die Stellung und Funktion der Sprechwcrkzcuge berücksichtigen, sowie die allgemeine Forderung an den verantwortungsbewußten Dichter, dem „auch das Kleinste keine Kleinigkeit" bedeuten dürfe. Auffallen mag dem modernen

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Leser, daß Bürger die Reimwörter aus allen übrigen Wörtern des Verses als besonders volltönend herausgestellt sehen möchte. „Abgebrauchte Reimwörter sind gewiß zu meiden." Indessen: „Die Schönheit des Gedankens muß man darüber nie aufopfern." Die s t i l t h e o r e t i s c h e n B e t r a c h t u n g e n Bürgers lehnen sich ähnlich an Vorarbeiten von dritter Seite her an wie die Göttinger Ästhetik. So bleibt das Kernstück die V o l k s t ü m l i c h k e i t s f o r d e r u n g in V e r b i n d u n g m i t d e m R i n g e n um die kunstwertige Darstellung. Schillers Bürgerkritik, auf die an entsprechender Stelle näher einzugehen sein wird, übersah streckenweise, daß nicht nur eine subjektive, ganz persönliche Gestaltungsart und Empfindungsweise, sondern zugleich ein programmatisches Kunstwollen, das ihm in seiner Sturm- und Drang-Zeit selbst recht vertraut gewesen war, hinter Bürgers teils drastisch gesteigerter Volkstümlichkeit und Sinnenhaftigkeit stand. S c h i l l e r s Rezension in der Allgemeinen Literatur-Zeitung ging also nicht vom eigenen (auch theoretisch untergründeten und ausgesprochenen) Kunstwollen Bürgers aus, sondern von einer idealen Normsetzung, die absoluten Geltungswert in Anspruch nahm. Bürgers vorerst ohne Kenntnis des Verfassers jener ihn tief treffenden Rezension geschriebene „ V o r l ä u f i g e A n t i k r i t i k u n d A n z e i g e " (1791) hatte annehmen zu können geglaubt, es gar nicht mit einem schaffenden Künstler zu tun zu haben: „ E r ist kein Künstler, er ist ein Metaphysikus." Es darf nicht vergessen werden, daß Bürger angesichts der damaligen unschöpferischen Pause des Dichters Schiller und angesichts der in dieser Pause vorherrschenden philosophischen Interessen Schillers nicht einmal so unrecht mit seiner Vermutung hatte. Ihm war sogleich das der dichterischen Schöpfung gefährliche und Bürgerscher Sinnlichkeit vollends feindliche, von bloßen „idealisierten Empfindungen" eine künstlerische Vollkommenheit erhoffende abstrakte und letztlich deduktive Verfahren aufgefallen. Jenen drohenden „Abstraktionen von Empfindungen" setzt Bürger zuversichtlich die „Naturtöne" seiner „Elegie, als Molly sich losreißen wollte", entgegen. Und es ist rührend zu sehen, wie er um sein im Publikum so beliebtes „Blümchen Wunderhold" die schützenden Hände breitet. Immer wieder verweist er auf das „Eigentümliche", das Charakteristische und Individuelle, aber auch das Erlebnisunmittelbare, um seine Position zu behaupten

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vor dem merklich von oben her erfolgenden Zugriff der „Idealisierung". Aber trotz der persönlichen Gereiztheit, die gezeigt zu haben er bald bedauerte, räumte er dem unbekannten Rezensenten doch das Recht „durch sein Beispiel Geschmacksnorm festzustellen" ein für den Fall, daß es sich um einen genialen Dichter handeln sollte. Und als er dann erfahren hatte, daß Schiller dieser Rezensent gewesen war, hielt er in dem Entwurf „ Ü b e r m i c h u n d m e i n e W e r k e " an diesem Versprechen im Wesentlichen fest. Wenn ihm auch schien, daß manches in jener Rezension „von der Linie der ästhetischen sowohl als sittlichen Grazie ein wenig abgewichen" wäre, so beugt er sich doch willig „einem Stärkeren". Seine literatursatirische Versfabel „ D e r V o g e l U r s e l b s t " (1793), für deren Form Bürger selbst auf Burkhard Waldis' „Manier" zurückverweist, bei deren grotesker Personifikation von Abstrakten (der Vogel Urselbst gleich Originalgenie; der Vogel „Der Ideal") man aber fast auf Christian Morgenstern vorausschauen möchte, bezeugt jedoch — von Epigrammen abgesehen — , daß Bürger sehr wohl über das Grundsätzliche der Auseinandersetzung jenseits des Persönlichen sich klar und nicht willens war, sein volksnahes Ideal für ein volksfernes klassizistisches Ideal (der Uhu, der „aus Trojas Schutt und Graus" heraus dem deutschen Original falsche Wege der Vervollkommnung weist) aufzugeben. Das Originalgenie, der Vogel „Urselbst" soll nicht durch fremde Federn seinen Flug „vervollkommnen" wollen. Weder der antike Uhu, noch „der Ideal", jener Wundervogel, der im „dritten Himmelssaal" neben dem „Wunderphönix der Moral" (Einigung des Ästhetischen und Ethischen; Schiller) fliegt und sich bei näherem Zusehen als Popanz „von metaphysischer Natur, der durch das Transcendentalreich streift" (Schillers Annäherung an Kant), erweist, und auch nicht der „graziöse" und „niedliche", im Goldkäfig hockende Rokoko-Papagei, der sich die „deutschen Federn" ausgerupft hat (etwa: Wieland), vermögen dem Originaldichter Urselbst „den Flug, der sonst dein Volksruhm war", zu ersetzen. Der Genius ermahnt den Verleiteten, keine Wege zu suchen, „wo dich dein Volk nicht sieht und hört". Kurz, die Grundposition der Popularität, der Volkstümlichkeit, die durch die Rezensenten erschüttert scheint, wird als die einzige Halt und Wert sichernde Grundlage erneut behauptet und befestigt. Die aus demselben Jahre stammenden epigrammatischen Verse „ Ü b e r eine D i c h t e r r e g e l " aber begrüßen es mit Dank gegenüber Schillers gutem

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Genius, daß Schiller als Dichter nicht das „Regelgebäu", das der „grübelnde" Kunstphilosoph Schiller errichtet habe, wirklich „bewohnt". Daß Schiller zugleich darum bemüht war, das Volkstümliche zum Volkswürdigen zu veredeln, entging Bürger, obgleich dessen eigene Definition des Volkes in der Vorrede zur zweiten Ausgabe der Gedichte (1789) keineswegs klarstellt, was er mit den „ansehnlichsten Klassen" meint, die zur Merkmalsbestimmung des wahrhaft Volksmäßigen beizutragen hätten. Zeitweise verwechselt Bürger auch ein wenig Volk und Publikum, verleitet durch den eigenen Publikumserfolg, den „Volksruhm" seiner Dichtungen, den er auch gegenüber Schiller ausspielt. Hier aber lag eine gewisse Gefahr der Publikumshörigkeit; eine Gefahr auch des Abgleitens in einen bloßen Geschmacksrelativismus. Es verbinden sich bei Bürger die Annäherung im eigenen Empfinden an den Volksgeschmack, Opposition und Protest gegen eine verzärtelte und vergeistigte Kunstdichtung, aber auch künstlerischer Wirkungswille mit dem kunsttheoretisch-kritischen Vorstoß gegen die Relativität des vielumworbenen Geschmacks (s. von anderen Voraussetzungen aus Fr. J. Riedel im Rokoko), wenn der Sinn der Gestaltung so ganz in Abhängigkeit vom Publikum festgelegt wird: „Gäbe es ein ganzes Volk, dessen Nasen so organisiert wären, daß ihnen Teufelsdreck besser röche als die Rose, dem besinge man Teufelsdreck statt der Rose. Den will ich sehen, der diesen Satz umstoßen will aus der Poetik für ein solches Volk." Bürger übersieht, daß er damit denn doch wieder das schöpferische Vorziehen des Schönen prinzipiell vertritt. Es war nicht Montesquieus Vorgängerschaft in seinem „Essai sur le goût" und auch nicht Riedels leicht relativistische Geschmackstheorie (an sich scheinen sich hier Extreme zu berühren) allein, die derartige robuste Äußerungen erklären. Sie bringen eben doch nur in grotesker, genialisch ungebärdiger Einkleidung und Ubersteigerung den stets gleichen Grundgedanken zur Geltung, um den die spezifisch Bürgersche Theorie kreist und mit dem sie recht eigentlich abschließt. Jenseits der Göttinger „Vorlesungen über Ästhetik" (1788 bis 1790) hebt der wieder stärker auf eigenes Schaffenserlebnis zurückgreifende Nachlaßaufsatz „ R e c h e n s c h a f t ü b e r die V e r ä n d e r u n g e n in d e r N a c h t f e i e r der V e n u s " die Skepsis gegenüber der allgemein gehaltenen Theorie scharf ab von einer

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Bejahung der Zweckmäßigkeit technischer Einzelhinweise einer „deutschen poetischen Grammatik", die dem Kunsthandwerklichen, Technischen mit entsprechenden Winken und Kunstgriffen (Beobachtungen an Lesarten, Verbesserungen u. s. w.) förderlich sein sollte. Vielleicht wäre in Erwägung zu ziehen, ob dabei nicht eine gewisse Schwenkung zum Formideal der Klassik spürbar wird, wenn z. B. die „tadellose Richtigkeit und Schönheit der Form" jetzt als Grundbedingung auftritt, die selbst eine verantwortungsbewußte formpflegende „Silbenstecherei" nicht als Mittel zum höheren Zwecke unterschätzen darf; denn „ohne diese Silbenstecherei darf kein ästhetisches Werk auf Leben und Unsterblichkeit rechnen". Einst hatte Lessing den Wert der Verbesserungen Klopstocks für den lernenden Dichter hervorgehoben. Ähnlich erkennt Bürger die anregende Belehrung, die aus derartigen Umschmelzungen erwachsen kann. Wie leicht die anspruchsvolle genialische Gebärde mit echter Genialität verwechselt werden konnte, wenn rationale Kriterien ausgeschaltet blieben und der gläubige Überschwang das Urteil rein gefühlsmäßig lenkte, beweist die Wirkung des Genieapostels C h r i s t o p h K a u f m a n n (1753—1795) auf Persönlichkeiten wie Herder, Hamann, Goethe, Lavater, Klinger, Maler Müller, Miller u. a., obgleich diese Wirkung z. T. in eine abwehrende Gegenwirkung umsprang. Und ebenso gut wie man sagen kann, daß Kaufmann Verwirrung in die Geniezeit getragen habe, kann man sagen, daß-die Ideale der Geniezeit, denen er nicht gewachsen war, Verwirrung in Kaufmanns ganze Lebensführung und Lebenshaltung gebracht haben. Die Tragik, die darin gesehen werden mag, streift doch streckenweise das Tragikomische. Und wenn der Überdruck jener im Alltagsleben nicht zu verwirklichenden Ideale Kaufmanns Geltung und Ansehen in sich zusammenfallen ließ, so war es doch auch nicht zum wenigsten diese Auftriebskraft gewesen, die überhaupt jene Geltung aufgebläht hatte. Von Kaufmann stammt die Prägung „Sturm und Drang", die er gelegentlich der Umbenennung von Klingers Drama „Wirrwarr" — ursprünglich also für einen Sonderfall — improvisierte. Es war ein glücklicher Griff, und sicherlich nicht der einzige Kaufmanns, dessen Einwirkung vielfach mehr im persönlichen Umgang und Gespräch anzusetzen und also nicht verläßlich nach schriftlich erhaltenen Bekundungen abzuschätzen ist. Lavaters Gönnertum und Kaufmanns bestechende Art allein dürften schwerlich hin-

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reichen, um jene unleugbare Eindringlichkeit seines Auftretens, die nur eben oft in Aufdringlichkeit umsprang, zu erklären. Vielmehr wird Kaufmann der erhöhten Bewertung des genialischen „Einfalls", der „Eingebung" manchen Erfolg zu danken haben. Von der Kunstanschauung her gesehen, verkörperte Kaufmann gleichsam die beherrschende Forderung der Intuition: und nicht zum wenigsten darin lag das Bestechende. Daß es sich häufig mehr um Improvisation als um echte Intuition handelte, erkannte man durchweg erst später. Und zugleich schien er das andere Ideal der Geniezeit, die „Kraft" als Lebenskraft zu personifizieren. Daß es letztlich ein Schwächling war, der hinter der Kraftgebärde sich verbarg und sich selbst sowie die anderen täuschte, wurde den Aufklärern und Auflockerern wie etwa Sulzer oder Zimmermann kennzeichnenderweise früher klar als den Genieleuten. In Sulzers brieflichem Urteil wird deutlich, daß Kaufmann auch das geniezeitgemäße Ideal des reinen „Gefühls" zu verkörpern schien: „Der ist nun gerade, wie Herder die Leute haben will, voll Wärme, hingerissen von ungestümen Empfindungen, aber — ohne Vernunft." Gewiß hat dabei Sulzers Einstellung die Herdersche Sicht- und Richtlinie vom letztlich aufklärerischen kritischen Blickwinkel her nur entsprechend verzerrt erkennen können. Und nur solcher Verzerrung, nicht dem eigentlichen Ideal entsprach Kaufmann, der — wie Sulzer im persönlichen Gespräch beobachtet — „bei dem Übermaß seiner Empfindungen" schlechthin nicht willens und auch nicht fähig sei, irgendwelchem „Vernunftschluß" gedanklich zu folgen. Das Stutzigwerden des Gefühlsmenschen vor dem vernünftigen Schließen und Folgern erfährt Verstärkung durch den starken religiösen Einschlag in Kaufmanns Gesamthaltung. Hier setzte Maler Müller mit seinem bald ins Polemische abbiegenden Charakteristikum vom „Gottesspürhund" ein, wie sich Zimmermanns Polemik gegen das Kraftprotzentum wendet, gegen die „Kraftmänner" und den Kraftkultus, dessen Ethik darauf hinauslaufe, „daß Kraft die Grundlage ist von jeder Tugend". Soweit Kraft hierbei als Lebenskraft verstanden wird, spiegelt sich doch selbst noch im Zerrbild des Genieapostels Kaufmann eine Grundmacht der Lebens- und Kunstauffassung des Sturmes und Dranges. Nur eben vermögen auch Rettungsversuche der Sonderforschung nicht darüber hinwegzutäuschen, daß ihm selbst die Lebenskraft fehlte. Und die Charakteristik des „Gottesspürhundes" in Maler Müllers „Faust" durch einen der Freunde

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Fausts: „wenn er schon, kein Originalkerl ist, merkt man's doch, daß er gern einer sein möcht" bleibt zuletzt doch zutreffend, während die „Invektiven" Goethes zu hart vorgehen, wenn sie ihm die „Gottesspur" entziehen, um ihm nur noch den „Hund" zu lassen. Daß bei entsprechenden Grundbeständen im persönlichen Charakterwert sehr wohl aus einem Genieaposteltum mehr werden konnte als ein verworrenes Sein und in sich gebrochenes Wirken, beweist eine Erscheinung wie Chr. F r i e d r i c h D a n i e l S c h u b a r t (1739—1791). Denn bei Schubart greift immer wieder eine männliche Überzeugungskraft als echte Lebenskraft durch alle biographisch ablesbare Verworrenheit hindurch. Hinter der Klopstockschwärmerei, hinter dem eigenen dichterischen Ansatz, der sich mit dem musikalischen Begabungsanteil überkreuzt, stehen doch stärkere Gewalten vaterländischen Ersehnens und politischen Erstrebens, die sowohl dem Kunstschaffen als dem Kunstwollen Schubarts einen stärkeren Auftrieb zu geben vermögen. Der Mann des ein wenig überhitzten, aber doch machtvollen politischen Wortes in Schubart war fraglos bedeutender (zum mindesten seltener in jener Zeit) als der Dichter und Musiker, der Kämpfer der „ D e u t s c h e n C h r o n i k " bedeutender als der gewiß nicht zu unterschätzende Verfasser des Kapliedes. Aber eine derartige Abhebung und Abstufung übersieht bereits den Umstand, daß die vereinheitlichende Kraft der Begeisterungsfähigkeit den Zeitungsmann und den Dichter leitet, und zwar kein Begeisterungsrausch als Selbstzweck, der sich selbst verzehrt (wie bei Kaufmann), sondern ein männlich gestimmtes Begeistertsein, das etwas bewirken will und das nicht nur sich selbst auswirken und ausleben will. Diese Begeisterungskraft Schubarts, ob sie nun Klopstock oder Schiller oder Goethe zuströmt, ob sie G. A. Bürger und dessen Idee der Volksmäßigkeit zustimmt, ob sie die politische und menschliche Not seiner verkauften Landsleute liebevoll und tröstlich überstrahlt und ihn zuversichtlich über alle Zeitschwächen hinweg der inneren Gewißheit deutschen Wertbewußtseins zuträgt: diese Begeisterungsfähigkeit findet ihre festigende Ergänzung in dem Willen und der Fähigkeit zur Kritik. Die Volksnähe in Schubarts „Deutscher Chronik" ist oft von harter Dringlichkeit in der Mahnung und Warnung, ist nicht so behaglich-weich wie etwa in Matthias Claudius' „Wandsbecker Boten", nicht so vertieft künstlerisch auf der anderen Seite wie

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etwa die Blätter „Von deutscher Art und Kunst" der Goethe Herder-Gruppe, von denen Schubart dennoch merklich manches gelernt hat. Und so verleugnet auch die politische Sonderaufgabe der „Deutschen Chronik" nicht den kulturpolitischen Eiferer und künstlerisch lebhaft Anteilnehmenden, der die politische Gesinnung und die künstlerische Gesinnung oder kunsttheoretische Besinnung untrennbar ineinandergreifen läßt. In jener Erzählung „Zur Geschichte des menschlichen Herzens" (I775)> d i e i m Rahmen des „Schwäbischen Magazins" aufklärerische Restbestände moralisierender Art wahrte, aber doch für Schillers „Räuber" den Rohstoff bieten konnte, findet sich in der einleitenden Vorbemerkung folgender Ausblick, der Schubart in seiner Weise auf dem kulturpatriotischen Weg antreffen läßt und der die Überzeugung bekundet, daß Nationalcharakter und Nationalliteratur organisch ineinandergreifen: „Wann wir einmal teutsche Originalromane und eine Sammlung teutscher Anekdoten haben, dann wird es den Philosophen leicht werden, den Nationalcharakter unserer Nation bis auf die feinsten Nuancen zu bestimmen." Möglich an sich, daß V.Blankenburgs „Versuch über den Roman" von 1774 den Blick gerade auf die im Rang noch recht umstrittene Romanform hat lenken helfen. Wesentlich bleibt über die auch bei Blankenburg angetroffene kulturpatriotische Grundeinstellung hinaus der Herder nahestehende Glaube an die nationale Bedingtheit und Bestimmtheit der Kunstform, von der dementsprechend verläßliche Rückschlüsse auf den Volkscharakter erwartet werden. Landsmännisch-stämmisches Gefühl ist es, das — entgegen durchschnittlichem Sturm- und Drang-Brauch — in Wieland diesen Romandichter begrüßen möchte, das sich freut, daß in dem besprochenen Roman vermeintlich Wieland „den Schauplatz auf deutschen Boden versetzt" habe, — irrtümlich freut; denn der betreffende Roman stammte in Wirklichkeit von J. K. Wezel. Vaterländisches Gefühl ist es, das Schubart in seiner „Deutschen Chronik" bedauern läßt, wenn sich die „besten Köpfe" in unfruchtbarem Streit befehden (Rezension von Goethes „Götter, Helden und Wieland") und so die nationalpolitische Gesamtleistung, die an sich auf künstlerischem Gebiet sich verheißungsvoll abzeichnet, schwächen, die Kräfte aufreiben, statt sie an einander zu steigern. Noch 1790 hält sein vaterländisches Mahnertum fest an der „vaterländischen Eigenheit", an der volks-

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mäßigen Eigenart als dem entscheidenden Wertungskriterium auch im Reiche der Kunst und nicht zum wenigsten der Dichtkunst (Dt. Chr. 97. Stück). Volkstümliches Gefühl macht es dem Dichter schwäbischer Bauernlieder selbstverständlich, in seinem Vademecum für Kritiker [1777) dem von G. A. Bürger aufgestellten Ideal des „Volksmäßigen" nachdrücklich, obgleich nicht ausschließlich, seine Geltung einzuräumen: „Popularität oder Volkssinnigkeit halte ich mit Bürgern für eine der vorzüglichsten Eigenschaften des Dichters." Als eines der Vorbilder echter „Popularität" und „Volkssinnigkeit" gilt Luther. Wenn dagegen in einer der Hymnen auf Friedrich den Großen, die formal an die Bardendichtung nicht gerade glücklich Anschluß sucht, auch die K a r s c h i n als naturhafte Begabung gefeiert wird, deren Dichterworte „von den L i p p e n der N a t u r " strömten, so mochte das, abgesehen von der wechselseitigen persönlichen Anteilnahme (die Karschin trat für den Gefangenen Schubart ein), als ein Eintreten für das Volkstümlich-Naturhafte an sich gedacht sein. Doch traf das weder den eigentlichen Dichtungstypus der Karschin, noch war dazu ein geniezeitgemäßer Wertungsmaßstab so unbedingt erforderlich. Denn auch manche Aufklärer hatten mit nachsichtigem Wohlwollen das Sensationelle der Erscheinung einer Naturdichterin ein wenig modisch ausgeschlachtet. Verhielt sich doch selbst schon das Barock Dichterinnen gegenüber in ähnlicher Weise. Immerhin sieht hier Schubart nicht wie jene Aufklärer das Sensationelle, schien ihm doch auch sonst die Belastung mit allzuviel Bildungsgut (selbst bei seinem gern verteidigten „Landsmann" Wieland) bedenklich für eine freie schöpferische Entfaltung der künstlerischen Anlage. Es ist das für Schubart nicht der einzige Fall (auch Milton wird genannt), wo gelehrte Bildung und weitschichtige Belesenheit den „Geniestrom einzwängte". Die G e n i e - V o r s t e l l u n g Schubarts bewegt sich in den zeitüblichen Bahnen. Wie Gott in „ungeheuren" Bereichen der Weltweite, so schafft, ordnet und wirkt das dichterische Genie in „eingeschränkten" Bezirken. Das Unaussprechliche des Genies umschreibt Schubart mit dem vielfach üblichen Rückverweis auf das eigene Genieerlebnis und Geniesein; denn „um zu wissen, was Genie sei, muß man'n Genie sein". Und auch dann noch bleibe jedes Beschreibenwollen auf „unaussprechliche Worte" angewiesen. Genie wird von Witz abgehoben. Genie reicht tiefer in den Urgrund

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der Gefühlskräfte hinab, wie denn „Genie ohne Herz" immer „nur halbes Genie" sein kann. Schubarts Bewertungsskala der bedeutendsten zeitgenössischen deutschen Dichter (etwa 1790) rückt gewiß bewußt „Genie" in die erste Rubrik der Bewertungszahlen. (Es erfolgt gleichsam eine Bewertung nach Punkten.) Bemerkenswert ist an diesem Schema das Einbeziehen des Bürgerschen Kriteriums der „Popularität". Doch sei nicht unterschlagen, daß bei Schubart noch die „Urteilsschärfe" (wohl in Anlehnung an die „Urteilskraft") an zweiter Stelle steht. Die Abhebung des Genies vom Geschmack ergibt sich schon aus der von Hamann, Herder u. a. her vertrauten Polemik gegen den Wertanspruch des Geschmacks: „Der Geschmack duftet aus den . . . Lavendelfläschchen". Die rokokohafte Geschmackskultur französischer Färbung wird satirisch von der deutschen Naturhaftigkeit abgehoben (Dt. Chr. 1775, 20. Stück). Bis hinein in den stilistischen Bezirk der „kleinen, süßen Modewörtchen" setzt sich das laufende Gefecht gegen eine verweichlichende Rokokogeistigkeit fort. Die G r ö ß e n s e h n s u c h t i m K u n s t w o l l e n des Sturmes und Dranges erhebt bei Schubart d a s „ R i e s e n h a f t e " zu einem beliebten. Wort der Bewertung und Forderung, das etwa dem „Kolossalischen" (Goethe, Herder u. a.) sich angleicht. Ob nun im Vergleichsbilde von den „Riesenfäusten" genialer Dichter im Gegensatz zum „Kleingeiste" gesprochen wird, ob mit Bezug auf den „ G ö t z " von dem „Riesenarm des vortrefflichen Goethe" die Rede ist, der aus der Götz-Biographie jenes „einzige Schauspiel" zu heben vermocht habe (Dt. Chr., 1774), ob Schubart auf musikalischem Gebiet Sebastian Bach als ein „Genie im höchsten Grade" feiert, weil der Geist der Bachschen Musik im Gegensatze zu der neueren „Kleinheitssucht" nicht allein „so eigentümlich" (original), sondern auch „so riesenförmig" sich ein imposantes Denkmal gesetzt habe in „solchen Riesenstücken": überall führt die durchgängig beobachtbare Gegenüberstellung des rokokohaft Kleinen und Spielerischen mit dem Geniemäßig-Riesenhaften mitten hinein in den geniezeitgemäßen Größenkultus. Auch die Art, wie Friedrich der „Große" gerühmt wird, die Art, wie Klopstock u. a. verehrt werden, zeigt eine Verschmelzung des Nationalstolzes mit dem Größenkultus. Und so ist es nur folgerichtig, wenn für Schubart der deutsche Nationalgeist, der deutsche Volkscharakter und die deutsche Kultur- und Kunstleistung sich verbinden zur Vorstellung von „Deutschlands Riesengenius". 20 M a r k w a r d t , Poetik II

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Aber obgleich sich eine Übersteigerung besonders im Anlehnungsuchen bei Vorstellungen der Bardendichtung unleugbar fühlbar macht, darf doch eine Mahnung Schubarts nicht so ganz überhört werden, die den Wert der Einfalt als Ausgleichswert heranzieht. Gewiß liebe die Muse ungestüme „wilde Charaktere"; aber sie liebe sie nicht einfach um des Ungeheuerlichen willen; denn „sie liebt E i n f a l t und H e r o i s m u s " (Dt. Chr. 1776). Wieweit Winckelmanns vielberufene Prägung hierbei mitgeholfen hat, bleibe unentschieden. Um 1776 sind ja auch jenseits Schubarts (etwa bei Goethe wie vorher schon bei Herder), beruhigende Besinnungen auf Ausgleichswerte für die einseitigen Sturm- und Drang-Ideale zu verzeichnen. Jedenfalls entsprächen dem Wertungskriterium Einfalt etwa Schubarts volkstümliche Bemühungen, dem Wertkriterium Heroismus etwa seine politische Kampflyrik und Kampfprosa. Schubart trägt auch kein Bedenken, neben der Geniegröße, neben der „Stärke" J. S. Bachs, die von der rokokohaften Grazie ausdrücklich abgehoben erscheint, den Wert der „ K u n s t e i n s i c h t " gebührend einzuschätzen. Einer näheren Überprüfung wird Schubart nicht einfach als schwärmender Genieapostel erscheinen, sondern zugleich als ein verantwortungsbewußter Kritiker, der Herders Einfühlungskritik vieles zu danken hat, ohne Lessings Gesetzeskritik ganz vergessen zu können, und als verantwortungsbewußter Dichter und Programmatiker, der keineswegs so ohne weiteres die Willkürfreiheit des Genies für der Kunstweisheit letzten Schluß hält, sondern den willigen Dienst an höheren Leitideen als durchaus kunstwürdig betrachtet: „Der Zweck der Dichtkunst ist nicht, mit Geniezügen zu prahlen, sondern i h r e h i m m l i s c h e K r a f t z u m B e s t e n der M e n s c h h e i t zu gebrauchen". Und wie seine Kaplieder „Trost und Mut in manches zagende Herz auszugießen" bestimmt waren, so schließt für ihn eine echte Ausdruckskraft aus gefühlsmäßigem Erleben dennoch ein Bekennen- und Bewirkenwollen nicht aus. Die Umschreibung jedoch der Ausdruckskraft im Sinne einer g e n i e z e i t g e m ä ß a b g e w a n d e l t e n A u s d r u c k s l e h r e begegnet häufig genug bei Schubart, bald in der Frage: „Soll der Bewundrung und der Liebe Wogendrang/ Den Busen mir sprengen ?", bald in dem Bekenntnis, einen „heißen Vaterlandsgedanken", der ihm im Herzen glühe, „rausstürmen" zu müssen. Ausdrucksbedürfnis und Ausdruckswille werden als entscheidende Grundkräfte des Kunstwollens Schubarts unverkennbar, ohne überall in

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seinem Kunstschaffen ihre ebenbürtige Erfüllung finden zu können. Seine politische Kampfprosa, sein kulturpolitisches Mahnertum beanspruchen ein gutes und wertvolles Stück seines schriftstellerischen Vermögens unter Auswertung gewisser dichterischer Teilkräfte. Und was Schubart an Herder bewundert: „freies Rausstürmen großer, kühner, heilsamer Wahrheiten", das hat er mit entsprechendem Begabungsabstand selbst zu erreichen versucht, ohne daß ihm in demselben Grade der an Herder zugleich gerühmte „Ideendrang" und die „unerreichbare Sprachgewalt" zur Verfügung standen. Noch zielklarer und zäher als Herder aber hat Schubart den deutschen Nationalgeist im eigentlichen Frontabschnitt politischen Kampfes und kulturpatriotischen Kampfes zu behaupten verstanden. Ein Bemühen, das den charaktervollen Zug seines Kunstwollens wesentlich mitbestimmen und ausprägen hilft, um so mehr als ein soziales Empfinden erwärmend einströmt und das „zum Besten der Menschheit" im Sinne der Humanität nicht vergessen wird. Die G r ö ß e n s e h n s u c h t im Kunstwollen des Sturmes und Dranges, die im „Kolossalischen" Goethes, der „Größe habenden Begebenheit" Herders, im „Heldenhaften" und Überlebensgroßen bei Lenz, im „Riesenhaften" bei Schubart nur stets neue Verbesonderungen derselben Grundkraft annimmt, verdichtet der j u n g e S c h i l l e r noch einmal zur vollen Wucht und Wirkung. „Riesenpläne" sollen es sein, die in Fiesko nach Verwirklichung drängen, eine in Ehrgeiz und Ruhmsucht und Machtstreben verirrte Größe und daher eine im Sinne des jungen Schiller tragische Größe, die doch im Tatwillen immer noch einem bloßen ästhetischen Kunstwollen (Maler-Szene) sich überlegen fühlen darf. So wie er im Karl Moor der „Räuber" das „Gemälde einer verirrten großen Seele", einer in Rechtsfanatismus und Selbstgerechtigkeit und Enttäuschung verirrenden Größe, die daher wiederum als tragische Größe empfunden wird, den Zuschauern zu entwerfen verspricht. Die betreffenden das eigene Werkschaffen begleitenden Zeugnisse liegen 1782 und 1784. Die dann unterdrückte, ursprünglich geplante Vorrede zu den „Räubern" hatte noch weiter ausgeführt, wie selbst das Böse, „um der Größe willen, die ihm anhänget", hingenommen werden müsse. An sich und für sich hätten die Stürmer und Dränger schwerlich so oft den künstlerischen Wirkungswert des „erhabenen Verbrechers" sittlich begründet; aber der Blick auf das „moralische" Publikum zwang 29 •

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sie dazu. Und so glauben sie sich vielfach zu Rechtfertigungen genötigt, wobei teils wie in H e i n r i c h L e o p o l d W a g n e r s (1747—1779) Vorrede zur Umarbeitung seiner „Kindermörderin" die unwürdige Wirklichkeit und die morschen Lebensumstände „in unseren gleißnerischen Tagen", da sich der Mensch vom „Stande der unverderbten Natur" so „weltenweit" entfernt habe, verantwortlich gemacht wird für die vorerst noch bestehende Unmöglichkeit, die Bühne zu einer „Schule der Sitten" zu machen. Auch Karl Moors relatives Recht kann nur abgeleitet werden von einer unwürdigen Wirklichkeit, der nicht mit Güte, sondern nur mit „Größe" beizukommen ist. Es ist zunächst einmal die laute Größe der Geniezeit, die sich von der stillen Größe der Klassik in ähnlicher Weise abhebt wie die echte Vielfalt (etwa der Räubergruppe) von der edlen Einfalt. Recht treffend, obwohl etwas vereinfacht, hat die Sonderforschung über Schillers Theorie der Tragödie von einer „Größe um jeden Preis" und von einer „Schaustellung natürlicher Größe" innerhalb der Tragödientheorie des jungen Schiller sprechen können, besonders mit Bezug auf Karl Moor (auch Franz Moor hätte mit seinem Übertrumpfen der unwürdigen Wirklichkeit durch die „Größe" des „erhabenen Verbrechers" mit einbezogen werden können) und Fiesko (dessen „Größe" Schiller selbst indessen als innerlich gebrochen auffaßt), während Marquis Posa bereits als nicht selbstherrlicher, sondern dienender Träger einer „Idee" auch nicht mehr jene „natürliche", sondern eine „reine" Größe verkörpere, die dennoch ebenfalls in eine gewisse Selbstvergötterung abirre. Von hier aus ist es dann nicht schwer, die entsprechende Abhebung von Lessings „Mitleids"-Theorie zu finden, indem Schillers dramatisches Wirkungsziel ganz auf Bewunderung dieser „natürlichen", naturhaft sich gebenden und auslebenden Größe hinstrebt, während Lessing bestenfalls eine Bewunderung der Fassung im Leide gekannt habe. Schwieriger wäre die Frage zu beantworten gewesen, wie denn nun z. B . Wallenstein, in dem fraglos auch ein gutes Stück jener „natürlichen", triebhaften Größe steckt und wirkt, überzeugend abzuheben wäre von jenem Ideal des dramatischen Kunstwollens beim jungen Schiller. Schwieriger wäre die weitere Frage zu beantworten gewesen, ob denn nun jene Deutung wirklich den jungen Schiller kennzeichnet oder nicht vielmehr das vorherrschende dramatische Kunstwollen des Sturmes und Dranges schlechtweg,

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ein Gesichtspunkt, der wenigstens kurz angedeutet wird, besonders durch Rückverweisen auf Herder (Shakespeare-Aufsatz) und Lenz (Anmerkungen übers Theater). In größerem Zusammenhange gesehen, liegt in alledem nur eine besonders wirksam werdende Verdichtung der allgemeinen geniezeitgemäßen und auch der besonders dramatisch ausgewerteten Größensehnsucht. Und der W i r k u n g s w e r t der B e w u n d e r u n g s c h l i e ß t den ä l t e r e n W i r k u n g s w e r t der R ü h r u n g k e i n e s w e g s aus. Klingers Kraftkerl Wild (Karl Bushy) im Drama „Sturm und Drang" kennt und erlebt rührende Stimmungen so gut wie der wilde Guelfo in den „Zwillingen", so gut wie Karl Moor in den „Räubern", der gewiß nicht zufällig als „verlorener Sohn" dem ganzen Drama ursprünglich Titel und innere Richtung geben sollte. Neben Mut und Übermut der Kraftkerle der Sturmund Drang-Dramatik ist der A n t e i l W e h m u t fast jedem dieser Helden mitgegeben, in gedämpftem Grade selbst Goethes „Götz". Wesentlicher scheint es, den geniezeitgemäßen Größenkultus, den der junge Schiller wieder aufleben läßt, in den Lebenskultus einzubetten, die G r ö ß e n s e h n s u c h t e b e n nur a l s b e s o n d e r s l e i c h t s i c h t b a r e A u s p r ä g u n g s f o r m und V e r d i c h t u n g s f o r m der a l l e s d u r c h d r i n g e n d e n L e b e n s s e h n s u c h t zu begreifen. Diese Lebenssehnsucht kann zur Wucht erstarren, die bewundert werden will. Aber sie kann auch in eine empfindungsvolle Weichheit der Wehmut sich auflösen, die beweint werden will. Nicht nur, weil die Wurzelkräfte des bürgerlichen Trauerspiels im rührenden Lustspiel lagen, dürfen und sollen Held und Zuschauer weinen. Das Weinen konnte auch als einer der überzeugendsten Ausdrücke eines unmittelbaren Gefühls schlechthin nicht entbehrt werden. Es mußte nur echt sein und unmittelbar sich äußern, nicht im nur gedanklich-sprachlichen Reflex des Dichterwortes sich bekunden wie die Gefühlsäußerungen bei Racine (Herder: Shakespeare-Aufsatz) oder bei Voltaire, dessen mittelbares Fühlen im Gegensatz zum unmittelbaren Gefühlsausbruch bei Shakespeare Matthias Claudius im „Wandsbecker Boten" (1771) mit den Versen treffen wollte: „Meister Arouet sagt: ich weine / Und Shakespeare weint". Es sind nicht zum wenigsten auch die sittlich fruchtbaren Tränen einer „sich fühlenden Menschlichkeit" (Lessing), ob in der Donau-Szene oder der Kammerdienerszene. J e n e L e b e n s s e h n s u c h t k a n n e n d l i c h in L e b e n s a n g s t u m s p r i n g e n , die erschüttern will, und zwar in tragische Lebens-

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angst in dem Sinne einer Beängstigung und Beklemmung und Sorge darum, daß die Sehnsucht nach dem großen, bedeutenden Leben nicht erfüllt werden könnte, die Angst, die der Faust Maler Müllers in die Frage bannt: „ u n b e m e r k t in d i e s e r g r o ß e n W o g e des L e b e n s v e r r a u s c h e n ? " , dieselbe Angst, die der Wild Klingers überwindet im Gefühl des hier erfüllten (und im Grunde doch nicht erfüllten) Lebens: „Hat doch dies Herz alles gefühlt, was Schöpfung schuf, was der Mensch fühlen kann." Diese Sehnsucht nach dem großen, aber a u c h n a c h dem i n n e r l i c h r e i c h e n E r l e b e n , die aus Goethes „Faust" und auch schon dem geniezeitgemäßen „Urfaust" am vertrautesten zu sein pflegt, trägt und treibt letzen Endes auch im Kunstwollen und Kunstschaffen die S e h n s u c h t n a c h der E r l e b n i s d i c h t u n g empor, Wobei jugendlicher Traumidealismus, der sich das große Leben erträumt, und halb männlich gereifter Willensidealismus, der sich das große Leben erzwingen möchte, vielfach die Unausgeglichenheit des Sturmes und Dranges erneut auch im Räume des Dramas und seiner Programmatik hervortreten lassen. Gerade beim Drama des jungen Schiller beruht die T r a g i k n i c h t z u l e t z t auf der n o t w e n d i g e n B r e c h u n g d i e s e s T r a u m i d e a l i s m u s an der L e b e n s w i r k l i c h k e i t , während im „Don Carlos" der Ü b e r g a n g v o n j u g e n d l i c h n a t u r h a f t e m T r a u m i d e a l i m u s zu e i n e m v e r g e i s t i g t e n W i l l e n s i d e a l i s m u s sich vollzieht. Daß der Traumidealismus sich im Sturm- und Drang-Drama oft genug als echter Willensidealismus vorkam, daß die Lebenssehnsucht sich oft als Lebenskenntnis aufmachte und aufmachen mußte, wenn man selbst ehrlich und ernstlich an seine „großen Kerle" glauben wollte, das ist u. a. vom kritisch skeptischen Blick Mercks durchschaut worden, der zweifelt, ob der wirkliche „Weltmann" diese erträumte Lebenserfahrung anerkennen könne. Darüber hinausgehend wirft G. Chr. Lichtenberg in einem längeren Aphorismus die Frage auf, ob es nicht überhaupt die Dichtung der Gegenwart (das Aphorismenheft umfaßt die Jahre 1775—1779) im Vergleich mit der weltkundigen Dichtung der Alten kennzeichne, daß sie so selten die kritische Überprüfung des „vernünftigen und erfahrenen Weltkenners aushält". Vieles sei durch bloßes Bücherstudium statt durch Lebensstudium, Weltkenntnis und „Beobachtung" zustande gekommen. Lichtenberg bezweifelt also die Echtheit der Lebensvielfalt. Sucht man vorerst von diesen Voraussetzungen aus eine vergleichende und abstufende Beziehung zu den früheren dramatur-

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gischen Positionen des Sturmes und Dranges, also vor allem zu Herders Shakespeare-Aufsatz (1771—1773) und Lenz' „Anmerkungen übers Theater" (1774) herzustellen, so drängt sich zunächst einmal die Fortführung der Lenz'schen Konzeption des Charakterdramas auf, insofern auch für den jungen Schiller die außerordentliche Persönlichkeit, der eigenständige und eigenmächtige, der eigenwertige und eigenwillige Charakter als Held in die Zentralstellung des Dramas gerückt erscheint. Aber neben der Größe habenden Persönlichkeit ist das „Größe habende Ereignis" aus Herders Shakespeare-Aufsatz, vor allem aber der von Shakespeare abgelesene Reichtum der „Begebenheiten", wie ihn Herder mit immer neuen Worten bewundernd umschrieben hatte, für Schiller nicht verlorengegangen. Dieser letzten Endes aufs Epische hinüberweisende Anteil, den Lessing sogleich herausspürte, als er (im Hinblick auf Goethes „Götz") vor dramatisierten Biographien und Monographien großer Männer warnte, die man noch nicht für ein Drama ausgeben dürfe, dieser epische Teilimpuls (in dem Terminus „Geschichte" das Epische eingestehend), der aber dem dramatisierten Leben Götzens (erste Fassung: „Geschichte Gottfriedens von Berlichingen, dramatisiert") ein „Fausts Leben, dramatisiert" und eine „Situation aus Fausts Leben" (Maler Müller) oder auch im „Neuen Menoza" Lenz' eine „Geschichte des cumbanischen Prinzen Tandi" (Untertitel) folgen ließ, kehrt bei dem jungen Schiller wieder in dem Lieblingsterminus von den „wahren dramatischen Situationen", aber auch mit immer abgewandelten Attributen in den „interessanten, rührenden, erschütternden, außerordentlichen, tragischen, drangvollen, schrecklichen (usw.) Situationen". Diese „Situation" ist eine Abwandlung der Herderschen „Begebenheit", jedoch mit stärker theatralischer und bühnenmäßiger Wendung. Vielleicht noch stärker in die Richtung des epischen Ausmalens und damit der echten Vielfalt des Lebens weist der andere Lieblingsterminus „Gemälde". Das große Weltgemälde oder doch ein Ausschnitt daraus bietet erst den rechten Hintergrund zum Auftreten des großen Menschen. Wenn auch die Umschreibung der eigenen Dramen als „Gemälde" teils einfach eine vorbeugende Sicherung darstellt gegenüber einem merklich befürchteten kritischen Gemessenwerden an den strengen Maßstäben des echten, des eigentlichen „theatralischen Dramas" (dessen Überlegenheit also anerkannt bleibt), so liegt in diesem scheinbaren

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Ausweichen vor der Strenge der dramatischen Gattungsgesetzlichkeit doch zugleich — vom geniezeitgemäßen Kunstwollen her — ein Hinstreben zur Fülle jener Lebensvielfalt, dessen epischer Grundzug teils von den Stürmern und Drängern selbst empfunden, aber um bloßer Gattungsgerechtigkeit willen nicht aufgeopfert wird. Hier also käme aus der Kennwortgruppe „laute Größe und echte Vielfalt" (Geniezeit) in Abhebung von der edlen Einfalt und stillen Größe der Anteil echte Vielfalt zur Geltung. Wie nun bei Lenz der Held sich seine Begebenheiten selbst „erschaffen" soll, ist so auch jene Lebensvielfalt dem Charakter bei Schiller zugeordnet u n d zuletzt doch wieder untergeordnet. Aber ein gutes Stück Welt hat neben einem guten Stück Held da zu sein. Dieses Stück Welt und Leben wiegt beim jungen Schiller (als kritisch-theoretischem Deuter seiner Dramen) schwerer als bei Lenz (als Theoretiker); und insofern neigt er etwas mehr der Position Herders zu. Nun war jedoch der beherrschende Grundzug der Dramendeutung Herders im Shakespeare-Aufsatz trotz jener betont herausgestellten Formulierungen (des Epischen) nicht episch, sondern lyrisch. Und auch diesem lyrischen Zuge gibt der junge Schiller in der Dramatik, gerade weil er ihn in reiner Lyrik nicht voll verwirklichen konnte (vgl. H. v. Kleist) so weitgehend nach, daß er in der Selbstrezension der „Räuber" sich ermahnt, sich in diesem Betracht zu „bessern", da man ihn sonst „zu der Ode verweisen" werde und müsse. Der — noch näher zu würdigende — Frühlingsbrief aus Bauerbach gelegentlich der Frühkonzeption des „Don Carlos" bestätigt erneut diesen subjektiven, zur lyrischen Ausdrucksform drängenden Zug. Der Vergleichsblick auf Herder und Lenz, der nicht nach „Einflüssen" Ausschau hält, sondern Schillers Dramendeutung als Verdichtung geniezeitgemäßer Strebungen sehen und verstehen möchte, verrät Verwandtschaft und Verwandlung zugleich, verrät einen frühzeitigen und in manchem vorzeitigen Willen zur Synthese aller jener Kräfte, die dort gespürt und aufgespürt worden waren. In Wirklichkeit benennt der junge Schiller nur terminologisch als „Situation" und „Gemälde", was teils unbewußt als t h e a t r a l i s c h e Szene u n d S z e n e n g r u p p e vor dem inneren Gesicht des geborenen Dramatikers stand. Nicht zufällig gebraucht er gerade mit Bezug auf die Bühne die Bezeichnung „Situation". Die frühe Bühnennähe wirkte wesentlich mit. „Fertigkeit oder Fühlbarkeit für das, was in Schauspielen wirkt" darf er sich

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im Brief an den großen Schauspieler Fr. Ludwig Schröder (iS. Dez. 1786) sehr wohl zuschreiben. Die Gefahr scheint ihm vielmehr darin zu liegen, daß er den künstlerischen Dauerwert dieser Bühnenwirkung, daß er „Classicität dem Glänze" aufzuopfern geneigt sei. Stärker noch als G. A. Bürger, mit dem er im Gefolge von Herders Shakespeare-Aufsatz die Auffassung des Dramas als Schau-Spiel teilt, richtet der junge Schiller, dessen überwiegend dramaturgische Beiträge für ein richtungsbestimmendes Eingreifen in die Programmatik der Geniezeit zu spät kamen, sein Interesse auf die Wirkungsgesetze, während das sonst spezifisch geniezeitgemäße Pochen auf die Schöpfungsgesetzlichkeit gedämpfter klingt. Dabei liegt in der Gestaltgebung seiner Frühmanifeste mehr „Sturm und Drang" als in ihrem Gehalt. Denn dieser Gehalt und die noch merklich zielsuchende Gesamteinstellung greift noch unverkennbar zurück auf die Idealforderungen der Auflockerergruppe um Lessing-Mendelssohn oder — anders gesehen und dem Zeitvorsprung vielleicht entsprechender — : sie greift tastend voraus nach einer „ästhetischen Erziehung" des Menschen, vorerst noch schwankend zwischen Verneinung und Bejahung solcher Erziehungsmöglichkeit. Der noch jugendlich-skeptisch eingestellte Aufsatz „ Ü b e r d a s g e g e n w ä r t i g e t e u t s c h e T h e a t e r " (1782) steht recht eigentlich unter der Stimmung des lapidar und demonstrativ hingesetzten: „Ich zweifle gewaltig". Der „Räuber"-Dichter nämlich zweifelt mit aller Hartnäckigkeit des enttäuschten Idealisten gleichermaßen an der ethischen und ästhetischen Wirkungskraft der Dramatiker, der Schauspieler und der ethischen Eindrucksempfänglichkeit bei den Zuschauern. Die sittlichen Rückstrahlungen aus dem „offenen Spiegel des menschlichen Lebens", wie ihn das Schauspiel bietet, entsprechen nicht entfernt den vom Dramatiker aufgewandten Belichtungsstärken menschlicher Tugenden und Laster: „Bevor das Publikum für seine Bühne gebildet ist, dörfte wohl schwerlich die Bühne ihr Publikum bilden". Das Sendschreiben des „Bürgers von Genf" J. J. Rousseau an d'Alembert über die Planung eines Komödienhauses in Genf (1758) wirkt noch immer nach. Gegenüber dem geniezeitgemäßen Vorstoß gegen den zaghaften „leidigen Anstand", der — besonders in Frankreich — „den Naturmenschen verschnitten" habe, überwiegt doch die Warnung vor

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einer Überlastung mit möglichst naturgetreuer Realistik. Und das Weltbild Leibniz' steht zweifellos mustergebend im Hintergrunde, wenn für eine wirklich „gute Kopie der Natur" an Stelle des mechanisch echten Bruchstücks ein organisch echtes Modellstück zum Makrokosmos, ein „Miniaturgemälde" als proportionale Verkleinerung, als Mikrokosmos gefordert wird und auch billigerweise gefordert werden darf. Denn „bei der getreuesten Kopie der Natur, so weit unsere Augen sie verfolgen, wird die Vorsehung verlieren, die auf das angefangene Werk in diesem Jahrhundert vielleicht erst im folgenden das Siegel drückt." Da das Herausreißen und nur kopierende Abbilden eines Bruchstückes der Natur der Harmonie des Weltganzen nicht gerecht werden könnte, muß der Bühnendichter in seine Teilwelt, die doch immer nur ein Welt-Teil bleibt, bereits ein Stück Harmonie und Symmetrie mit hineinzuformen verstehen. Damit rückt Schiller bereits ab von der Forderung, daß der Dramatiker „der treue Kopist der wirklichen Welt sein soll", wie sie sowohl die u n t e r d r ü c k t e V o r r e d e wie auch die veröffentlichte z w e i t e V o r r e d e der „ R ä u b e r " (1781) noch mit fast naturalistischer Tendenz vertreten hatten. Was zu dieser B e j a h u n g der R e a l i s t i k trieb, war der Drang zum Charakteristischen und das von Lenz her vertraute Abwehren französischer Schablonen und Typen, das schlechthin „keine idealischen Affektationen, keine Kompendienmenschen" dulden kann und will. Das Bejahen der eruptiven Leidenschaftlichkeit mußte die heroische und stoische Abstandhaltung französischer Dramengestalten verwerfen, die man als „altkluge Professoren ihrer Leidenschaft" hinzustellen, ja als „eiskalte Zuschauer" des eigenen Affekterlebens zu karikieren liebte. Der „ G ö t z " taucht auf, wenn noch dem „ d r a m a t i s c h e n R o m a n " Geltungsrecht neben dem „ t h e a t r a l i s c h e n D r a m a " willig eingeräumt wird. Das geniehafte Freiheitsgefühl des Schöpferischen verschmäht die Einheiten und will sich nicht „in die allzu engen Pallisaden des Aristoteles und Batteux einkeilen" lassen. Der geniezeitgemäße Größenkultus, der über Lessing hinaus die Bewunderung der natürlichen Größe als Wirkungsziel erkennt, erklärt das Anrecht, den „erhabenen Verbrecher" in die tragisch belichtete Zentralstellung zu rücken, wie der s o z i a l k r i t i s c h e R e f o r m w i l l e das andere Anrecht, in aller Grellheit die Laster zu belichten. Aber eben — und sicherlich nicht nur unter Anpassung an die Zensur — : weil das Edle erst auf der

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Folie des Lasters volle Leuchtkraft entfalten kann, ein Bild, das dann die „ S e l b s t r e z e n s i o n " der „Räuber" (1782) weiter ausbaut, um das „kühne Gemälde der sittlichen Häßlichkeit" zu rechtfertigen, eine Rechtfertigung, wie sie in ähnlicher Weise im 19. Jahrhundert Georg Büchner mit Bezug auf sein DantonDrama für erforderlich hält (Brief an seine Eltern). Und die Mission der Dramatiker, „ihren Mitbürgern auf offener Bühne Schule zu halten", erwähnen bereits beide Vorreden. Im Wirkungseindruck gelten „anhaltende moralische Dissonanzen" als unerträglich. Das Verhältnis von Dichtkunst und Geschichte berührt die V o r r e d e z u m „ F i e s c o " , die datenhafte Zufälligkeit (Tod des Fiesco) ausgeschaltet und gefühlsstarke Gegengewichte gegen die politische Verstandeskühle zur Geltung gebracht sehen möchte. Angesichts der kriegerischen Skepsis, mit der Schiller das „gegenwärtige teutsche Theater" betrachtet hatte, könnte die Zuversichtlichkeit der zwei Jahre später als Rede gehaltenen Abhandlung „ D i e S c h a u b ü h n e a l s eine m o r a l i s c h e A n s t a l t b e t r a c h t e t " (1784) fast überraschen. Und es liegt nahe, auf den praktischen Zweck hinzuweisen, den der damalige Mannheimer Theaterdichter und Planer einer Mannheimer Dramaturgie mit der Fragestellung seiner Rede zweifellos verfolgte: „Was kann eine gute stehende Schaubühne eigentlich wirken?" Aber eine grundsätzliche Meinungsänderung hinsichtlich der idealen Zielsetzung liegt gegenüber jenem früheren Aufsatze keineswegs vor. Nicht die Gesinnung, nur die Stimmung hatte sich verändert. Die Gesinnung war schon damals unzweideutig klar geworden in dem tröstlich nachgesetzten Schlußgedanken: „Ein edles, unverfälschtes Gemüt fängt neue belebende Wärme vor dem Schauplatz — beim rohem Haufen summt doch zum mindesten eine verlassene Saite der Menschheit verloren nach." Und ganz von ferne leuchtet schon der Glaube an die Möglichkeit einer ästhetischen Erziehung des Menschen herüber, vorerst noch leichter gewonnen im Raum des aufklärerischen Erziehungsoptimismus. Entsprechend der rednerischen Fragestellung spürt Schiller nicht — wie ein Jahrzehnt vorher Lenz — den Schöpfungsgesetzen, sondern den Wirkungsgesetzen, den bewußt überhöhten Wertwirkungen der Bühne und Bühnendichtung nach. Seine Abhandlung von 1784 sieht in der Bühne wie Sulzer oder Bodmer ein wichtiges Teilglied der m e n s c h l i c h - g e s e l l s c h a f t l i c h e n V e r v o l l k o m m n u n g s m ö g l i c h k e i t e n schlechtweg. Die Reichweite

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dieser „moralischen Anstalt" (Wieland schon 1773: „moralisches Institut") umspannt die ethische, die verstandesmäßige und nationale Erziehung der Zuschauer. Die positiven ethischen Satzungen der Religion, aber auch die mehr negativ abschreckenden Gesetze des Staates finden eine Ergänzung und verfeinerte Weiterbildung durch die Bühne: „Die G e r i c h t s b a r k e i t der B ü h n e fängt an, wo das Gebiet der weltlichen Gesetze sich endigt.'' Gerade dann — und hier mischen sich sozialkritische, geniezeitgemäße Klänge ein — , wenn die öffentliche Gewalt mißbraucht zu werden droht, „übernimmt die Schaubühne Schwert und Wage und reißt die Laster vor einen schrecklichen Richterstuhl". Die Eindruckskraft und Eindringlichkeit durch „sichtbare Darstellung" und Zurschaustellung verbürgt der Bühne jene erhöhte moralpädagogische, aber auch kulturpatriotische und selbst politische Wirksamkeit. Sie erfaßt neben den ausgeprägten und gleichsam ausgewachsenen Lastern auch die eigentlichen Keimformen dieser Laster, die — von Religion und Staatsgesetz kaum der Gegenwehr gewürdigten — menschlichen Torheiten im satirischen Zerr- und Schreckspiegel der Komödie. Sie spornt zum Guten nicht nur durch das erhabene Vorbild, sondern auch durch den „ S t a c h e l der S a t i r e " . Sie dient der „Aufklärung des Verstandes", die ihr als geeignetem Instrument zur Hebung der Allgemeinbildung vorzüglich zukommt. Im weiteren Bezirke sollte man sie auszuwerten verstehen als wirkungsgeladenen Kraftpol nationaler Sammlung und als Korrektiv teils vorbeugender Natur, um die „Meinungen der Nation" von der Regierungsseite her sinnvoll und wirkungsvoll zu lenken. Voraussetzung schaffend für diese staatliche Erziehungsmission taucht der Wunsch auf, daß die „Dichter es der Mühe wert hielten, Patrioten zu sein". Im übrigen sammelt die Abhandlung, die dem Rationalen der Aufklärung weit näher steht als dem Irrationalen der Geniezeit, alle aus der Kunsttheorie der Auflockerungsepoche, teils auch der Frühaufklärung her längst bekannten Argumente, ohne sie aus Eigenem wirklich wesentlich zu ergänzen. Es ist kein Zufall, wenn sogleich der Eingangssatz sich auf den beliebten Gewährsmann Sulzer beruft. Auf weite Strecken hin bewegt sich die Rede auf Lessingschen und Sulzerschen Bahnen. Auch J. Mosers Verteidigung der deutschen Sprache und Literatur von 1781 hatte bei Sulzer Stützung gesucht. Aber die Programmatik kann sich manifestartig im rhetorischen Schwung freier entfalten und bewährt

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stärkere Stoßkraft im Vorwärtstragen groß gesehener Aufgaben, die Schiller nicht neu auffand und aufstellte, aber in seiner Weise neu erlebte und neu belebte. Denn dieser erlebnismäßige Impuls, der die kühlen Argumente Lessingscher Verstandesschärfe warm anglüht, ist es schließlich doch, der die Abhandlung allein wirklich abhebt von manchen inhaltlich ähnlichen Partien etwa der „Hamburgischen Dramaturgie" oder von mancher inhaltlich ähnlichen Anregung in Sulzers „Allgemeiner T h e o r i e . . . " , darunter dem z. T. aus Bodmers Feder stammenden Artikel „Politisches Trauerspiel". Dennoch wird über das Aufklärerische hinaus und durch das Aufklärerische hindurch (das Ästhetische als Ergänzungswert des Religiösen und des Politischen) ein Zugang (noch etwas robust zwar) aufgeschlossen zu den Augustenburger Briefen und damit zu den „Briefen über die ästhetische Erziehung . . .". Als klarer Ersatzwert für das Religiöse steht hier das Ästhetische jedoch nicht. Der stärker geniezeitgemäße, stürmerisch-drängerische Einschlag der Kunstauffassung des jungen Schiller, der nur sporadisch jene Aufsätze durchsetzt, prägt sich jedenfalls in den erwähnten Vorreden, dann aber auch in den P r i v a t b r i e f e n deutlicher aus. Der berühmte Aprilbrief „Bauerbach. Früh in der Gartenhütte" (an Reinwald, den 14. 4.1783) z. B. vertritt, um ein markantes Einzelzeugnis herauszugreifen, noch ganz den Subjektivismus der Frühzeit. Die Forderung erwärmender Subjektivität und persönlich ergriffener Gefühlsbeteiligung für eine wertvolle Charaktergestaltung, setzt als „unstreitig wahr" voraus, daß wir die Freunde unserer Helden sein müssen, wenn wir in ihnen zittern, aufwallen, weinen und verzweifeln sollen", daß der Dichter „weniger der Maler seines Helden" und gleichsam mehr „dessen Mädchen, dessen Busenfreund" werden müßte. Darüber hinaus muß die künstlerische Gestaltung auch insofern ichbezogen bleiben, als im schöpferischen Ich die Gestalten — und hier bringt wohl Schiller verspätet die von Korff im frühen Sturm und Drang vermißte Deutung des Schöpferischen — notwendig keimhaft vorgeformt bereitliegen. Jedenfalls ist Schiller, nachdem schon Herder und Heinse ähnliches betont hatten, auf dieser Entwicklungsstufe „zu glauben geneigt, daß in unsrer Seele alle Charaktere nach ihren Urstoffen schlafen . . . Alle Geburten unsrer Phantasie wären also zuletzt W i r s e l b s t " . Schillers Philosophie der Liebe und der „sympathetischen Empfindung" erfährt dadurch eine beachtliche

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Ergänzung, wobei das Hinübertragen vom weltanschaulichen auf kunstanschauliches Gebiet bemerkenswert erscheint. Und es ist eine innig erlebte Dichtungsdeutung, wie die Einbeziehung der eignen Schaffensfreude am werdenden „Carlos"-Drama bezeugt: „Ich muß Ihnen gestehen, daß ich ihn gewissermaßen statt meines Mädchens habe . . Über das Dramentheoretische hinaus erweitert sich diese mehr stimmungsmäßige als bestimmende Deutung zu einer Wesensbestimmung des Dichterischen schlechtweg; denn „jede Dichtung ist nichts anderes als eine e n t h u s i a s t i s c h e F r e u n d s c h a f t oder platonische Liebe z u e i n e m G e s c h ö p f unseres Kopfes". Die Brücke zwischen diesem schwärmerisch gesteigerten Subjektivismus zur Zeit des Bauerbacher Entwurfes und jener zwecksetzenden moral-politischen Mannheimer Rede wurde vorerst noch aufrechterhalten im T y p u s des s o z i a l k r i t i s c h e n A n k l a g e d r a m a s . Denn es klingt recht nah an die oben verzeichnete Stelle der Rede von 1784 an, wenn dieser Aprilbrief ein Jahr vorher etwa betont, daß der „Carlos" die Nebenaufgabe verfolge, „die prostituierte Menschheit zu rächen und ihre Schandflecken fürchterlich an den Pranger zu stellen". Spätere Entwicklungsstadien des „Don Carlos" indessen vollziehen bereits eine merkliche Schwenkung zur Klassik hin, die nicht nur in der Rhythmisierung (Versform), sondern auch in der erstarkenden Objektivierung zur Geltung kommt. W i e l a n d s „ S e n d s c h r e i b e n an e i n e n j u n g e n D i c h t e r " (Teutscher Merkur, 1782) wirkte ein, wie Schillers V o r r e d e zum Drama selbst freimütig bekundet. Aber auch männliche Reifung fördert die Verlagerung des Interesses von der jugendlich unausgeglichenen Carlos-Gestalt auf die PosaGestalt, wie die „ B r i e f e ü b e r D o n C a r l o s " (1788) klarstellen. Die Entfaltung der Schillerschen Ästhetik in jener Übergangszeit und innerhalb der Klassik wird an entsprechender Stelle eingehender zu würdigen sein. Die Überzeugung jedoch, daß in der Seele des Dramatikers „alle Charaktere nach ihren Urstoffen schlafen" und nur geweckt zu werden brauchen, um so zu einem in das Mannigfaltige der Lebensvielheit auseinandergefalteten und damit zugleich entfalteten Ausdruck und Abdruck der eigenen Persönlichkeit zu werden: diese nicht im Rahmen besinnlicher Erörterung erworbene und dargelegte, sondern aus einem stimmungsgesättigten Miterleben des Werkwerdens heraus Schiller zuwachsende Über-

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zeugung bestätigt sich wie am Werkwerden, so auch an der Werkwandlung gerade beim „Don Carlos". Denn die Heldenablösung, das Abgelöstwerden des Carlos durch Posa vollzog sich durchaus in paralleler Entsprechung mit den Stufen in Schillers eigenem Reifungsvorgange. Die halb menschliche, halb künstlerische Lebenssehnsucht sucht und findet vorerst Befriedigung in der Hingabe an die dichterischen Gestalten (noch Hölderlin hält diesen subjektiven Anteil des Dramatikers für unentbehrlich), die man ganz persönlich liebt mit all' der Inbrunst, mit der etwa der Jupiter Kleists seine Alkmene als sein Geschöpf liebt, oder — für die Geniezeit näher liegend — Prometheus seine Menschengebilde liebt mit der — nach Schillers Urteil — Leisewitz die Gestalten seines „Julius von Tarent" als „ihr Freund" liebt, während Lessing nur der „Aufseher seiner Helden" bleibt, kurz, mit der der Schiller der Bauerbacher Zeit seinen Carlos „liebt". Und so mündet der Schöpfungsgedanke der geniezeitgemäßen Ästhetik und Poetik ein in jene alles beherrschende Lebenssehnsucht, ebenso wie natürlich der Organismusgedanke und der Begriff der „Kraft" als Lebenskraft hier ihre tiefere, z.T. vom kosmischen oder religiösen Empfinden gesättigte Wurzelschicht und den immer erneut beanspruchten Nährboden finden. Auch der „große Kerl", die Größe als Selbstzweck und Eigenwert, ist letztlich nur eine Inkarnation — bei schwächeren Dichtern manchmal auch nur eine Personifikation oder barocke Allegorie — jener Lebenskraft. Jene Lebenssehnsucht findet ihre Befriedigung, wenn sie das Leben schöpferisch aus sich selbst entbindet und entfaltet. Auch das meint Schillers: „Alle Geburten unsrer Phantasie wären also zu letzt: wir selbst". Und seine Vorstellung von den Urstoffen der Charaktere, die im Dichter ruhen und gehoben werden wollen, steht, so gedeutet, doch wieder recht nahe bei der Umschreibung der schöpferischen Genialität durch den jungen Goethe als einer „Fähigkeit, neue große Ideen aus der Tiefe zu heben". Nur daß dort Goethe im Rahmen einer Rezension und in Anpassung an die damit gegebene Situation von Genialität ganz allgemein spricht, während Schiller die spezifisch dichterische Genialität des Dramatikers vorschwebt. Die Abstufung im Kunstwollen des jungen Goethe und des jungen Schiller wird dennoch klarer, wenn man neben Schillers Ausspruch im Brief an Reinwald eine ebenfalls vertrauliche und daher unmittelbar persönliche Äußerung Goethes aus jenem — oben vollständiger zitierten — Brief an Fr. Jacob

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stellt, die von einer „Reproduktion der Welt um mich durch die innere Welt" spricht. Das Streben nach einer „Reproduktion" der äußeren Welt durch das Gewahrwerden der wesenhaften Form und durch das Erfassen des „Wesens" in der Gegenständlichkeit selbst, das Streben nach dem „Stil", der über Naturnachahmung und subjektive „Manier" hinweg dieses „Wesen" symbolisch dem Kunstwerk einzukörpern trachtete, konnte erst im Kunstwollen der deutschen Klassik um Erfüllung ringen. Blickt man von der letzten Verdichtung und Erhöhung geniezeitgemäßen Kunstwollens in der Erscheinung des jungen Schiller auf den durchschrittenen Weg, so läßt sich alles, was zurückliegt im Kunstwerk der Schaffenden und in der Programmatik der manifestartigen, aber auch der etwas strenger abhandelnden und relativ ruhig erörternden Kunsttheorie am bündigsten vielleicht zusammenfassen in die schon mehrfach berührte Formulierung: echte Vielfalt und l a u t e Größe. Am bündigsten, denn am gültigsten pflegen derartige Kurzformeln (mit Bezug auf jeden Einzelfall) nicht zu sein. Sie erheben indessen auch nicht diesen Anspruch. So müßte in diesem Zusammenhang das andere Kennwort von der Unausgeglichenheit im Kunstwollen, aber auch von der Unausgeglichenheit als teilweisem Ziel dieses Kunstwollens danebengestellt werden. Es steht doch aber merklich zurück, so daß es zunächst einmal bei der Kennwortgruppe: echte Vielfalt und laute Größe bleiben mag. Das gilt um so mehr, als diese echte Vielfalt und laute Größe nicht nur als latentes Kunstwollen im Werk sich äußert (also nur im Rahmen der werkimmanenten Poetik), sondern auch in den bewußt ausgesprochenen Forderungen und Anforderungen greifbarer hervortritt, während die Unausgeglichenheit aus verständlichen Gründen (weil leicht als Mangel empfunden) sich dort merklicher zurückhält. Die Programmatik ist hinreichend dargestellt worden, um sie auf diese These hin nachprüfen zu können. Ein kurzer Blick auf die latente Poetik im Werk mag das ergänzen und bestätigen. Als bereits geläufiger mag die „laute Größe" voranstehen. Hier genügen wenige Andeutungen. Ob es nun um die laute Größe der Manifeste des Geniekultus geht oder um die oft erhebliche Lautstärke des „großen Kerls" im Geniedrama mit seinen „Zentnerwörtern" oder der Geniehymne, ob es um ein übersteigertes Machtstreben und Geltungsstreben oder um ein übersteigertes Freiheitsstreben (teils als Willkürfreiheit) sich handelt, ob Lenz sich gern

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von Herder (wenn auch nur im Wunschbild seiner Literatürkomödie) beglaubigen läßt, daß seine Gestalten „zu groß" für jene kleine Zeit seien: die Größe um jeden Preis, selbst um den Preis sittlicher (bzw. unsittlicher) Problematik (der „erhabene Verbrecher") gibt sich durchweg zugleich als „laute Größe". Nicht allein die Kraftgestalten oder Kraftprotzengestalten des „Löwenblutsäufers" Fr. M. Klinger wie etwa sein Simsone Grisaldo im gleichnamigen Drama (noch 1776), sein Wild (KarlBushy) im „Wirrwarr"-Drama (umbenannt in „Sturm und Drang"), sein wilder Guelfo in den „Zwillingen", ins Weibliche oder Mannweibliche übertragen seine Solina in der „Neuen Arria" (dort etwas modifiziert): sie alle verkörpern diese „laute Größe". Selbst den Faust nahm Müller, wie er im Widmungsschreiben an Otto von Gemmingen auch programmatisch sich äußerte, „gleich vor einen großen Kerl, der alle seine Kraft gefühlt, gefühlt den Zügel, den Glück und Schicksal ihm anhielt, den er gern zerbrechen wollt', und Mittel und Wege sucht — Mut genug hat, alles niederzuwerfen, was in' Weg trat und ihn verhindern will — Wärme genug in seinem Busen trägt, sich in Liebe an einen Teufel zu hängen Noch dem veredelten Titanismus des jungen Goethe bleibt ein Teil dieser lauten Größe anhaften; hier aber schimmert schon die echte Größe hindurch, die dem eigentlichen Meinen und Wollen nach hinter der lauten Größe stand, so etwa beim Prometheus. Unbekümmerter bricht die laute Größe, vom Motiv erleichtert, durch im „Götz" wie in Schillers Karl Moor nicht allein, sondern auch als düstere Klangfarbe in Franz oder als Machtrausch im Fiesko (als Einzelgestalt), hinter dem Verrinas Freiheitspathos an Lautstärke nicht zurücksteht. Auch dort noch, wo die Größe des Gefühls, des Herzens, der Leidenschaft motivlich mehr nach innen verlegt erscheint wie in „Werthers Leiden", wird zum mindesten im Vergleich zur stillen Größe der (Winckelmann-) Klassik der Grundton sogleich als „laut" empfunden werden müssen, als ein halb unterdrückter Aufschrei vielleicht, aber eben doch als Aufschrei. Im „Leidenden Weib" Klingers, das auf dramatischem Gebiet eine Art von robustem Gegenstück zum leidenden Mann in Werther darstellt, ist dieser Aufschrei entsprechend greller ausgefallen. Man „schwätzt" nicht von Empfindung, wie Lichtenberg spöttelt, man bekundet sie mit aller Lautstärke, auch mit nach innen verlegter Lautstärke. Ebenso will das Sozialrevolutionäre und gesellschaftskritische Anklagedrama den lauten Widerhall des lauten 30 M a r k v s i d t , Poetik II

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Anprangerns und des Aufschreis gegen empörende Unterdrückung, wenn es auch gelegentlich nur zu einer unterdrückten Empörung kam, die vom Vorbild der „Emilia Galotti" Lessings gelernt hatte. Prometheus' trotziger Ausbruch, Schubarts „Fürstengruft" oder Schillers „Schlimme Monarchen" beben wider von einem hallenden oder auch gepreßten Atem, der ein wahrhaft Großes teils in Abhebung vom Scheingroßen laut werden läßt im doppelten Sinne des Wortes. Die düstere Größe in Schillers „Leichenphantasien" oder die erhabene Größe in seinen kosmischen Visionen wollen die echte Größe, brechen aber im Wirkungsmittel gern um in laute Größe. Auch die Liebe um jeden Preis, die der Größe um jeden Preis entspricht, in der „Stella" (trotz des frühen Ansatzes zum Seelendrama) oder in der „Luise Millerin" ist auf den hohen Ton gestimmt, der sich in „Kabale und Liebe" mit dem hochgespannten Klang der Anklage mischt. Neben der Antriebskraft jugendlichen Überschwanges, gleich stark im Verlangen und Verzichten, im Jubeln und Klagen, im Vergöttern und Verdammen, im ungezügelten Lebenshunger und im unreifen Lebensüberdruß, in der selbstlosen Hingabe und dem ehrgeizigen Geltungsstreben, setzt sich dergestalt ein weltanschaulich-politischer Impuls so machtvoll durch, daß der kaum errungene Eigenwert der Kunst streckenweise beiseitegedrückt wird. Das gilt nicht allein von der werkimmanenten Poetik, sondern auch von der kunsttheoretischen Programmatik, wobei überkommene Anregungen aus dem Ideenbereich der Auflockerergruppe innerhalb der Aufklärung lebhafter nachwirken, als sich die Stürmer und Dränger eingestehen. Denn auch hierin möchte die Lautstärke ihrer Opposition das bewußte oder unbewußte Gefühl einer teilweisen Abhängigkeit übertönen. Die heimlichunheimlich mitschwingenden Begleittöne und Untertöne eines gerade auch weltanschaulich benachbarten Wollens sollten erdrückt werden durch den lauten Anspruch auf ein Anders-Sein und Anders-Wollen, nicht zuletzt im Kunstwollen. Die Stimme der Vemunftfreiheit, die ihnen in sich gebrochen erscheinen mußte, war, wie sie meinten, mühelos zu überbieten durch den schmetternden Fanfarenton ihrer Gefühlsfreiheit und Erlebnisfreiheit. Denn der Triumph des freien Erlebens mußte die Genugtuung des freien Erkennens weit hinter sich lassen und mühelos überflügeln. Aber diesem weltanschaulich-politischen Impuls steht der religiöse Impuls nicht nach, wenn es gilt, den erhabenen Ausdruck

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zu finden, um den Eindruck des Erhabenen zu erzwingen. Die Furcht des „erhabenen Verbrechers", von dem Plutarch berichtet hatte und der sich etwa in Franz Moor manifestierte, bedurfte zu einer wahrhaft grandiosen Wirkung der Folie einer Ehrfurcht vor Kräften, die stärker noch waren als alle irdischen Mächte und Übermächte. Und hatte schon in der gefühlsbetonten Vorwelle des Sturmes und Dranges J. I. Pyra den damaligen Traditionsträger der Erhabenheitsidee Longin (denn E. Burke, den noch in der Romantik Adam Müller erläutern zu müssen meinte, war dabei noch nicht zur Einwirkung auf die Erhabenheitsvorstellung gelangt) als den „kostbarsten Rest aus dem Schiffbruche des Altertums" gefeiert, hatte schon der junge Pyra dem Erhabenheitsgefühl in Kunstwollen (auch theoretisierend) und Kunstschaffen zugestrebt, so war in Klopstocks religiösem Epos und in seinen Oden ihnen die große, lebensvolle Vorbild-Poetik geschenkt, um die laute Größe des Pathetisch-Erhabenen in Abhebung vom SympathetischErhabenen der Oden Petrarcas (und Schillers Nacheiferung) in der werkimmanenten Poetik nachhaltig und haftkräftig zur Geltung zu bringen. Zugleich hatte Klopstock im Raum bewußter Kunstbesinnung und verantwortungsbewußter Kunstgesinnung das Erhabene als letztes Ausdrucksziel der hohen und besonders der „heiligen Poesie" unverrückbar aufgerichtet. Gewiß, indem man z.T. mit unzulänglichem Vermögen Klopstock nacheiferte, ohne sein persönliches Eingestelltsein und Eingestimmtsein auf den hallenden Posaunenschall zu besitzen, blieb von der erhabenen Größe wiederum leicht nur eine, .laute Größe'' im engeren Sinne übrig. Dem Kunstwollen nach (indessen in seiner Isoliertheit und ohne Wertbezug kritischer Art auf das Kunstvermögen) ging es ihnen dabei um die echte laute Größe, wie es ihnen um die echte Vielfalt des Lebens ging, die sie bei Klopstock nicht voll erfüllt finden konnten. Bei alledem wird in diesen Bezirken ein Sich-Berühren der E x t r e m e der kraftgenialen und der empfindsamen Richtung ganz unverkennbar. Denn der Eifer des religiösen Bekennertums und das E r h a b e n h e i t s g e f ü h l mit religiöser A u f t r i e b s k r a f t ließen auch die Stillen im Lande jener lauten Größe zugänglicher werden, als es an sich in ihrer Natur liegen mochte. Selbst ein Matth. Claudius, obwohl in seinem Wesen und in seiner Weise einer edlen Einfalt und stillen Größe zugekehrt (wenngleich schwerlich im Sinne der Klassik), verschließt sich nicht „dem warmen Odem des Affekts", der ihm aus den Rhythmen der Oden so*

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Klopstocks entgegenweht und der ihm als ein wesentliches „Verdienst der heutigen Dichtkunst" gilt. Im Gesamt neigt M. Claudius in seinem Kunstwollen (und seiner Kunstwertung) zur ZweiEinheit von volkstümlicher Schlichtheit und dem, was er „Tautropfenklarheit" nennt. Aber er stellt nicht von ungefähr gerade dort, wo er fragt, worin denn nun „das ganze Verdienst der heutigen Dichtkunst bestehe", eben doch den Atem der Leidenschaft (wenn auch nach seiner Art verinnerlicht zum „warmen Odem") neben jene „Tautropfenklarheit". Das Hymnische und Odenhafte wird von der Zeitpoesie nicht zum wenigsten gepflegt, um auch ein formales Anrecht auf den Ausdruck der lauten Größe bereits von der Dichtgattung bzw. Dichtart her zu gewinnen (ganz abgesehen vom lautstarken Bardengesang). Denn man erlebte und erfüllte diese Formen von vornherein ganz anders als die Aufklärer vom Schlage Ramlers oder gar Willamowe mit ihrer vermeintlichen Pindar-Nacheiferung. Und in der empfindsam-religiösen Richtung wurde nicht allein von Klamer Schmidt Petrarca als Vorbild bevorzugt. Die Anverwandlung des Petrarca-„Tons" machte Fortschritte (auch bei G.A.Bürger), wie die Geltung Petrarcas im Sinne und im Rahmen der Vorbild-Poetik im Wachsen begriffen war. Zwar schon Gottsched (von Dan. Federmann, Weckerlin, Opitz ganz abgesehen) hatte rein datenhaft Petrarca unter den Musterdichtern des Auslandes verzeichnet, Joh. Nik. Meinhard hatte die rein datenhafte Kenntnis (jedoch schwerlich auch das Verständnis) erweitern helfen (in seinem Werke über die ital. Dichter, 1763/65), von Lessing wohlwollend beurteilt; Gleim und J. P. Uz hatten sich in Petrarca-Nachbildungen mit unzulänglicher Fähigkeit versucht, wie denn kurz zuvor Leop. Aug. Unzer programmatische Anregungen in diesem Sinne einer Petrarca-Nacheiferung zur Veredelung „unsrer Begriffe von der Dichtkunst" gegeben hatte. Bodmer, Breitinger, Klopstock bilden weitere Stationen auf diesem Eroberungswege des Petrarkismus, auf dem auch hemmende und warnende Stimmen (so Boie und Merck gegenüber Kl. Schmidt) nicht fehlten, bis Herder auch in diesem Falle sein überlegenes Einfühlungsvermögen bewähren konnte. Aber was neben diesen dankenswerten Erträgen der Sonderforschung (Lidia Pacini, 1936) in diesem Zusammenhange besonders charakteristisch erscheint: bei dem Stürmer und Dränger Lenz, dessen religiöses Anteilnehmen nicht zu unterschätzen ist, wird aus dem elegischen Klagelaut oder auch dem

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gestuften Leidenschaftsausdruck Petrarcas das unvermittelt hervorbrechende Klagegeschrei (der Kunstleistung nach) im Sinne des gesteigerten Aufschreies (dem Kunstwollen nach) und also wiederum eine „laute Größe". Zur Zeit Lenz' brachten die Jahre 1774 u. 1776 mit Veröffentlichungen von Petrarcas Gedichten einen wesentlichen Geltungszuwachs. Um noch einmal auf M. Claudius zurückzugreifen: das Anrecht auf den „Odem des Affekts" erkennt auch M. Claudius und erkennt es einsichtig an, obgleich es ihm rein ästhetisch nicht recht gemäß war. Dagegen war die bunte Lebensvielfalt, wenn anders es eine echte Vielfalt war, durchaus seine Sache und auch seines Amtes (als Wandsbecker Bote). Bei Erscheinungen wie Lavater oder gar Kaufmann war der Zugang und Übergang zur lauten Größe von vornherein leichter gegeben und weiter geöffnet. Im Gesamt soll und darf die mehr oder minder religiös bestimmte und gestimmte Empfindsamkeit nicht auf eine starre Formel gepreßt werden, zumal nicht auf eine, die ihr zunächst einmal ferner stehen muß. Aber wie ihnen die Begegnung mit Gott nicht allein im linden Säuseln und im stillen Hauch zuteil wird, sondern auch in der Erhabenheit des dröhnenden Gewitters und des brausenden Sturmes, in demselben Grade auch mußte ihnen dieses Erleben der lauten Größe als Ballungsform der lauteren Größe zugänglich werden und auch ästhetisch als wertvoll erscheinen, zum mindesten als Träger und Mittler einer gläubigen Erhebung und eines unüberhörbaren Anrufes. Das Empfindsame begegnete sich dabei teils über das Sentimentalische mit dem Lapidaren und Grandiosen. Und so verstanden und gesehen, grenzte die äußerste Entfaltung und Steigerung der Gefühlsweihe religiöser Ausprägung als eine Ineinsbildung von Weihe und Wucht (im Sinne der sich berührenden Extreme) doch wiederum an die kraftbetonte Manifestation des „Colossalischen" und Titanenhaften. Gott wurde den Stürmern und Drängern unversehens zum Titanen, wie ihnen der Titan unversehens zum Gotte (und Götzen) wurde. Beide Verlagerungen trafen sich indessen im lauten Bekunden und Bekennen, im Verkünden und im Verkündigen der Größe, wobei Menschenfurcht und Gottesfurcht (als erhebende Ehrfurcht) teils wundervoll, teils wundersam und gelegentlich selbst ein wenig wunderlich ineinanderflössen. Und auf der anderen Seite will man neben solcher Ballung und Verdichtung der Lebenssteigerung, die der jugendliche Freiheits-

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drang und Geltungshunger oder auch, wie angedeutet, das religiöse Erhabenheitserlebnis in jener lauten Manifestation der Größe sah und suchte, die ganze b u n t e Lebensvielfalt eines Sich-Verschwendens an die ganze Weite und Breite des Lebens gesetzt sehen mit dem ersehnten Ziele: „Hat doch dies Herz alles gefühlt, was Schöpfung schuf, was der Mensch fühlen kann". Es sollte im Sinne des Kunstwollens eine „echte V i e l f a l t " sein, die das Kunstwerk als Kunstwerk erst wesenhaft bezeichnete und werthaft auszeichnete. Vielleicht ist es doch mehr als nur der Unterschied einiger Wörter, wenn im Urfaust des jungen Goethe noch das vorerst rein quantitative „All"' steht, wo Faust sich ermutigt und ermächtigt fühlt, „All Erden Weh und all ihr Glück zu tragen". Es war nicht nur die große Natur, es war auch die „unendliche Natur", die sehnend und liebend umgriffen werden sollte. Auch in der Erscheinung des Erdgeistes lebt und lockt, webt und wallt etwas von dieser stürmisch oder schmerzlich umworbenen Lebensvielfalt. Ob es nun im einzelnen um die Vielfarbigkeit und den Reichtum an Lebensbildern im großen „Raritätenkasten" beim bewunderten Shakespeare geht, um die Lebensvielfalt des „Götz" oder der „Komödien" Lenz', um die „rührenden und erschütternden Situationen" (trotz des „Laokoon") in den Jugenddramen Schillers, ob Justus Moser diese Seite der Vielfältigkeit bereits auch kritisch gegen die französische Simplizität ausspielt: immer richtet sich das Kunstwollen auf eine begehrte Vielfalt der Fülle und Überfülle, deren letztes Vorbild man in der Natur selbst oder — wo man christlich-religiöser gestimmt und bestimmt ist — in Gottes weltweitem Schöpferwerk verehrte. Es sollte aber nicht nur eine „Mannigfaltigkeit" der künstlich aufgelockerten Als-ObNatürlichkeit sein (Aufklärer und Auflockerer), sondern eben eine unmittelbar erlebte und erlebnisechte, d. h. wiederum eine echte Vielfalt sein. Man verschmähte dabei nicht Hilfen aus dem Räume der Aufklärung, wie etwa Diderots und Merciers Hinweise auf den ständischen Lebenskreis, auf das Berufsmilieu. Aber Lenz z. B. hoffte doch zuversichtlich, eine echtere Lebensvielfalt zu bieten, wenn er als „Maler der menschlichen Gesellschaft" etwa den Lebenskreis der Offiziere zugleich im standeskritischen Sinne („Die Soldaten") oder der Hauslehrer (und Dorflehrer) teils satirisch, teils wohlwollend ausmalte in seinem „Hofmeister". Zwar noch ist ihm von der Auflockerer-Poetik und Ästhetik das Stichwort „Mannigfaltigkeit" geläufig: „die Natur ist in allen

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ihren Wirkungen mannigfaltig". Aber die Nähe des Geniebegriffs deutet bereits an, wie er mit dem alten Fachwort das neue Empfinden eben nur notdürftig umschreiben möchte. „Die Mannigfaltigkeit der Charaktere und Psychologien" war ja für ihn — so erinnern wir uns — „die Fundgrube der Natur; hier allein schlägt die Wünschelrute des Genies an". Aus dieser Fundgrube, die nicht zuletzt J. J. Rousseau hatte entdecken helfen, will man die urkräftige, ungebrochene, von Konventionen nicht beengte und bedrängte Lebensfülle als unerschöpflichen Reichtum heben. Aber Lenz überhebt sich z.T. bei solchem Bemühen, besonders wo er vom Maler der menschlichen Gesellschaft zum Historienmaler werden möchte, wie es etwa der Versuch zu einer „Sizilianischen Vesper" andeutet, die an sich wohl farbiger die Zeitstimmung ausgemalt haben würde als Schillers im Motiv verwandte „Verschwörung des Fiesco zu Genua". Die Richtung des Kunstwollens jedoch ist eindeutig auf Fülle und Vielfalt eingestellt. Auch Volkslied und Ballade waren Gefäße für diese Lebensfülle des Vielfältigen und im Lenzschen Sinne „Mannigfaltigen", das G. A. Bürger in seiner eigenen balladesken, z.T. aber auch seiner außerballadesken Lyrik einzufangen hoffte. In entsprechendem Wertabstand bemühte sich Schubarts Lyrik nicht nur im Rahmen der Schwäbischen Bauernlieder, die mehr Nachahmung blieben, ohne aus Eigenem die Vielfalt bewältigen zu können, die immerhin wirksamer im politischen Lied erstrebt wird. Überhaupt schaute man zum Volke hinüber nicht nur aus nationalen Gründen, wenn man diese Gründe auch gern betonte und hervorhob. Vielmehr glaubte man gerade in den breiten Schichten des Volkes ein unerschöpfliches Vorratsbecken zu erkennen für die Vielgestaltigkeit und Vielfarbigkeit echter Lebensvielfalt. Und das Kunstwollen war im Theoretisieren und Produzieren darauf gerichtet, dieses Vorratsbecken nach besten Kräften auszuschöpfen. Auf die lyrischen Möglichkeiten wies vor allem Herder hin, aber später auch Bürger; auf die dramatischen Möglichkeiten Justus Moser, auf die epischen Möglichkeiten Merck; auf Grenzformen der dialogisierten Idylle Maler Müller. Der Realismus prägte sich vor allem dort aus, wo man sich bemühte, dieser echten Vielfalt darstellerisch gerecht zu werden, der Idealismus durchgängig mehr dort, wo es um die echte, kritisch gesehen, die „laute Größe" ging. Übergangsformen sind für das geniezeitgemäße Kunstwollen ohne weiteres gegeben.

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besonders in Bereichen, wo die Überfälle aus der Überfülle (etwa im „Werther" oder „Urfaust" oder den „Räubern") das Kunstwollen zu überwältigen drohten und es schon eines jungen Goethe oder eines jungen Schiller bedurfte, um jenen Realidealismus, auf den z. T. Hamanns Anregungen hinausliefen, als eine Synthese innerhalb der Unausgeglichenheit des Sturmes und Dranges zu erreichen. Denn laute Größe war ausgeprägter bei Klinger. Und echte Vielfalt für sich ausgeprägter bei Lenz (zum mindesten dem Kunstwollen nach). Die Spannung als Anspannung fruchtbar werden zu lassen, das gelang zuletzt doch nur den überlegenen Könnern. Das verwandte Kunstwollen aber besaßen alle, von den Hainbündlern abgesehen, deren bedeutendster Lyriker Hölty doch wenigstens auch gelegentlich nach einer Bereicherung von der Vielfalt des Volkstümlichen her trachtete. Vielleicht war es indessen gerade der echte Lyriker in ihm, der sich instinktiv stärker an den großen Lyriker Klopstock hielt und die Gefahr der epischen Ausbreitung und Zersplitterung fürchtete und vermied. Denn fraglos lag im Gebanntsein von der Lebensfülle und Lebensvielfalt jener zuletzt epische Zug, der für das Drama bereits im Schiller-Abschnitt belegt und etwa an der ersten Fassung des „Götz", an der entsprechenden Titelgebung dort wie auch beim „Faust" Maler Müllers oder dem „Neuen Menoza" Lenz' („Geschichte . ..") abgelesen werden konnte. Hätte sich diese Richtung des geniezeitgemäßen Kunstwollens, die zu Notprägungen wie die vom „theatralischen Roman" führte, etwa in ähnlicher Weise, wie Geliert einst zum „theatralischen Landgedicht" gedrängt worden war, folgerichtig durchgesetzt, so hätten die Stürmer und Dränger recht eigentlich Romane schreiben müssen. Aber das hätte ihrer Unrast und Ungeduld schlecht zu Gesicht gestanden. In den Spannungen des Dramas hofften sie am ehesten die ersehnte Entspannung ihres Ausdruckswillens finden zu können. Hier auch konnte zur Tugend werden, so meinten sie wenigstens, was heimlich doch wohl als Mangel empfunden wurde: die Unausgeglichenheit. Diese Unausgeglichenheit muß zur Ergänzung jener Formel von der echten Vielfalt und der lauten Größe mit herangezogen werden, um das latente Kunstwollen im Werk zu verstehen. Teils kann man sie mit jener bewegenden Kräftegruppe zwanglos in Zusammenhang bringen. Wenn der „große Kerl", wenn der Titan

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zu groß war für seine Zeit und seine Umwelt, so entstand eine U n a u s g e g l i c h e n h e i t d u r c h das Ü b e r g e w i c h t der P e r s ö n l i c h k e i t , durch die Überkraft und Übermacht des Einzelnen. Das „Colossalische" gerät in Konflikt mit dem Konventionellen. Das Ungewöhnliche duldet keinen Ausgleich mit dem Gewöhnlichen. Das Ungemeine stemmt sich in kämpferischer Auseinandersetzung an gegen das „Gemeine". Das weit Uber-Durchschnittliche gerät in eine notwendig unausgeglichene Spannung mit dem Durchschnittlichen. Gerade an dieser Stelle wird die Abwehr der Aufklärung besonders leidenschaftlich. Letzten Endes stand auch die Genievorstellung und das Genieerleben (denn der Geniebegriff war schon von den Auflockerern weitgehend definiert worden) in engem Zusammenhange nicht nur mit der Vorstellung der Schnelligkeit (gegenüber der Langsamkeit des geistigen Durchschnitts; einst im Geschmacksbegriff Joh. Ul. Königs leicht vorgebildet), sondern auch mit der in sich hochgespannten (und häufig genug demonstrativ überspannten) Unausgeglichenheit. Einer derartig verstandenen Unausgeglichenheit durch das Übergewicht des Titanen oder auch nur — im Sinne der „lauten Größe" — des „großen Kerls" im Verhältnis zur Welt und Zeit würde es widerstritten haben, wenn man den Weltzuständen und Zeit- und Lebensverhältnissen, die der Große empfand, an sich und für sich nun etwa auch eine echte Größe zugeschrieben oder auch nur zugestanden hätte. Ganz abgesehen davon, daß man die Unzulänglichkeit, Verschrobenheit, Unwürdigkeit der Welt mit einer echt jugendlich gefärbten Enttäuschung als solche oft genug schmerzlich empfand: man wollte auch und vor allem den „großen" Mann oder auch das „große" Weib (Typus der machthungrigen und lebenshungrigen Intrigantin, das „dämonische Machtweib") wirksam von einer kleinen Welt abheben. Man geriet dabei jedoch wiederum in eine unausgeglichene Spannung. Denn auch die Welt, die Natur, das Leben lockten den Lebenshunger und Geltungshunger der Jugend. Und wenn man der Welt als geistiger oder wirklicher Umwelt eine eigene Größe kaum zugestehen durfte, so durfte man doch jener Lebensvielfalt Größe zusprechen, die nun ein gewisses Gegengewicht bot gegenüber dem Ubergewicht des Titanen oder des „großen Kerls". Insofern steht uneingestanden selbst noch hinter der Unausgeglichenheit des Sturmes und Dranges eine verhaltene Sehnsucht nach Ausgleichswerten. Der Dichte und Ballung im Titanismus entspricht die ..Mannig-

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faltigkeit" und Vielfältigkeit im Vitalismus. Doch gefällt sich der Sturm und Drang im Aufrechterhalten dieser Spannung. Wo er sie aufhebt, geht er bereits in das Ausgleichsstreben der Frühklassik über. Jene Unausgeglichenheit kann aber nun auch in Erscheinung treten als eine Unausgeglichenheit durch das Übergewicht der Lebensmächte. Man wird mit dem Leben nicht fertig; man zersplittert sich, man reibt sich auf, man verliert sich an die Vielfalt. Zunächst erscheint dieses Verhalten zur Welt noch nicht in der romantisierenden Verklärung, sondern als Schwäche. Der starren und — wie man gern glauben machen möchte — starken Selbstbehauptung des Kraftkerls steht das Sichverlieren des Schwächlings gegenüber, der in sich selbst unausgeglichen ist. Nicht selten ist der Schwächling gesehen als gestürzte Größe, als trübe Endphase eines großen Leidenschaftsmenschen, als ein ausgebrannter Krater, kurz als ausgemergelter, oft vom Lebensgenuß ausgehöhlter Kraftkerl, der sich in sich selbst und an der Welt verzehrt hat. Ebenso ist es nichts Ungewöhnliches, wenn die kühnen Würfe und Sprünge nicht auf die balladeske oder volksliedhafte Lyrik beschränkt bleiben, sondern — ins Dramatische übergreifend — aus dem Titanen oder doch dem „großen Kerl" einen Schwächling oder doch einen in sich unausgeglichenen und schwankenden, den „vermischten Empfindungen" sich irgendwie angleichenden Typus machen. Clavigo ist nicht ohne großes Planen und doch in sich unausgeglichen, wobei das Ehrstreben durch Eitelkeit getrübt erscheint. Auf der Historienbühne ist Fiesko das Gegenstück. Anfangs scheint dann wohl die Unausgeglichenheit in bezug auf das Verhältnis große Persönlichkeit und unwürdige Weltzustände vorzuherrschen, um dann mehr und mehr von einer Unausgeglichenheit in sich selbst abgelöst zu werden, während Verrina die Unausgeglichenheit zur Welt ablösend übernimmt. Daneben begegnen die an und für sich schwachen Naturen. Die Gebrochenheit derartiger Gestalten spiegelt darstellerisch häufig mehr den Realismus, ob nun im engeren Lebenskreise der Standessatire wie der Stolzius und letztlich auch die Marie Wesener in Lenz' „Soldaten" oder der Hauslehrer Läuffer im „Hofmeister" oder die Gesandtin, das Malchen in Klingers „Leidendem Weibe", wo zugleich der Typus des Ausgemergelten (Blum) begegnet, während der Liebhaber Malchens (von Brand) streckenweise von der Seite des Kraftgenialischen auf die Seite

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der schwankenden Charaktere hinüberwechselt. Aus Maler Müllers „Golo und Genoveva" gesellt sich Golo zu dieser Gruppe; denn er ist weit schwächer als späterhin etwa Hebbels Golo und wird nicht nur von seiner Leidenschaft, sondern wesentlich auch von seiner Mutter Mathilde (zugleich eine der machthungrigen und lebenshungrigen Intrigantinnengestalten des Sturmes und Dranges) gelenkt und geleitet. Maler Müllers Genovevadrama spiegelt zugleich jene Sehnsucht nach Lebensvielfalt recht überzeugend, wie denn erst die nicht zustande gekommenen weiteren Teile seines Faustdramas hätten erweisen können, ob er nicht neben Lenz dieser Vielfalt besonders zugeneigt ist. In größerem Zusammenhange gesehen stellt diese Unausgeglichenheit in Weltanschauung und Lebensstimmung das Ausgleichsstreben der Aufklärung als verfrüht in Frage. Der z.T. revolutionär gestimmten jungen Generation kam dort manches verdächtig leicht gelöst vor, vieles auch künstlich vorweggenommen oder gar nur erschlichen. Die normierende und nivellierende Art jenes aufklärerischen Ausgleichsstrebens widerstritt von vornherein überdies dem Zuge zum Charakteristischen und Originalen einerseits und dem Größen-Kultus andererseits. Wenn jene Ausgleichsbemühungen der Aufklärung vom Sturm und Drang als übereilt und verfrüht erkannt und verworfen wurden, so lag darin ein gewisser Grad von Berechtigung. Denn schon die Klassik sah sich genötigt und durfte sich berufen fühlen, auf einer neuen Höhenlage der Entwicklung das Ausgleichsstreben einer glücklicheren Lösung entgegenzuführen. Daß sie das vermochte, dazu hatte die Unausgeglichenheit der Geniezeit in ihrer Art beigetragen; denn erst nachdem die für ihren Entwicklungsstand allzu zuversichtliche und fortschrittliche These der Aufklärung ihre kritische Antithese im Sturm und Drang gefunden hatte, konnte die Synthese in der Klassik den rechten Traggrund finden. Wiederum hat sich auch die Unausgeglichenheit des Sturmes und Dranges eine vertiefende Uberprüfung gefallen lassen müssen. Das geschah durch die Romantik, die auf einer höheren Entfaltungsstufe die Unausgeglichenheit fruchtbar zu machen suchte. Aber vielleicht rührt man damit an eines der immanenten Entwicklungsgesetze, denen zufolge ein gewisser Rhythmus in der Ablösung der Richtungen stattzuhaben scheint. Die jeweils folgende Richtung im Kunstwollen und literarischen Geschmack pflegt sich zunächst einmal abzuheben im Ausschauhalten nach einem

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DIE PROGRAMMATIK U. ÄSTHETIK D . STURMES U. DRANGES

eigenen Wege. Die übernächste Richtung jedoch pflegt frühere Erträge neu aufzugreifen, zu prüfen, zu steigern und abzuwandeln, ohne das Verwandte zu verleugnen. Das „Weh dir, daß du ein Enkel bist", kann dergestalt so manches Mal zu einem: Wohl dir, daß du ein Enkel bist, modifiziert werden. Jedenfalls erinnern, auch nach rückwärts gesehen, manche als „barock" bezeichneten Erscheinungen der Geniezeit, und zwar nicht nur im Bereiche Klopstocks, daran, daß einst im Barock eine gespannte Unausgeglichenheit (Diesseits-Jenseitsspannung) vorgeherrscht hatte, dergestalt daß der Unausgeglichenheit im Barock das Ausgleichsbemühen der Aufklärung, diesem wiederum die Unausgeglichenheit des Sturmes und Dranges folgen würde, während die Klassik erneut das Ausgleichsstreben, die Romantik jedoch das Unausgeglichene hervortreten läßt. Aber an dieser Stelle mag der bloße Hinweis auf derartige Deutungsmöglichkeiten genügen.

Anmerkungen Die gegenüber Bd. I hinzugetretenen Exkurse dienen teils einer skizzenhaften Einbeziehung der werkimmanenten Poetik, teils Ergänzungen, wie sie vor allem durch den Fortfall eines umfangreichen Kapitels der Darstellung (Von der philosophischen zur angewandten Poetik, der Baumgarten-Sulzersche Raum u. d. Kunsttheorie der Spätaufklärung) erforderlich wurden. Exkurse zum Grenzgebiet Poetik-Ästhetik: Baumgarten-Meier S.4g8i., G.Sulzer S. 517f., M.Mendelssohn S.526f., Eschenburg-Engel-Eberhard S. 555f., Fr. J.Riedel S. 563t. Exkurse zur werkimmanenten Poetik: Lessing S. 536f., Wieland S. 573t., Klopstock S. 5gof., Gerstenberg S. 593f., Goethe S. 62of., Lenz S. 632t., Schiller S. 652f. Den literarischen Traggrund, der gemäß dem Sonderthema Poetik nur andeutungsweise berührt werden konnte, hat neuerdings voll sichtbar werden lassen F e r d . J o s e f S c h n e i d e r innerhalb der „Epochen der deutschen Literatur" mit der zweiten, weitgehend umgearbeiteten Auflage seiner zeitparallelen Darstellung, Bd. I : Die deutsche Dichtung der Aufklärungszeit, Stuttgart 1948; Bd. I I : Die deutsche Dichtung der Geniezeit, Stuttgart 1952. Dort findet sich i. d. Anmerkungen weitere einschlägige oder nach der Seite des Literaturhistorischen hin ergänzende Literatur. Eine ganze Reihe von Sonderforschungen behandelt (oder berührt) sowohl die Aufklärung als auch den Sturm und Drang und geht (freilich nicht überall erschöpfend) im Verfolgen der Entwicklung irgendeines Sonderthemas rein zeitlich über diesen Ausschnitt hinaus. So etwa F e r d . D e n k : Das Kunstschöne und Charakteristische von Winckelmann bis Fr. Schlegel, Diss. München 1925. — I l s e S c h a a r s c h m i d t : Der Bedeutungswandel der Worte „bilden" u. „Bildung" i. d. Lit. -Epoche von Gottsched bis Herder, Diss. Königsberg 1931. — M a r y B e a r e : Die Theorie der Komödie von Gottsched bis Jean Paul, Diss. Bonn o. J . (1928). — Carl K n ü f e r : Grundzüge einer Geschichte des Begriffes Vorstellung von Wolff bis Kant, Halle 1 9 1 1 . — W a l t e r B r a u e r :

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ANMERKUNGEN

Geschichte des Prosabegriffes von Gottsched bis zum Jungen Deutschland, in: Frankfurt. Quellen u. Forschungen Nr. 18, Frankf. a. M. 1938 (W. Brauer verwendet teilw. auch Poetiken als Material). — Gelegentlich verspricht die Titelgebung freilich weit mehr, als der Inhalt zu erfüllen vermag, so etwa bei A n n e l i e s e K i e m l e : Anschauungen über das Wesen des dichterischen Kunstwerks von 1750—1920, Diss. Tüb. o. J. (1932/33; Verhältnis Kunst —Wirklichkeit; Schwergewicht i. 19. Jh.). — E r w i n Neus t ä d t e r : Versuch einer Entwicklungsgeschichte d. epischen Theorie i. Deutschland v. d. Anfängen bis zum Klassizismus, Diss. Freiburg i. Br., o. J. (1928). — E r i c h K l o t z : Das Problem d. geschichtl. Wahrheit im histor. Drama Deutschlands von 1750 bis 1850, Diss. Greifswald o. J. (1927), das Verhältnis von Dichtung u. Datentreue auch von d. Theorie her, wenngleich nicht erschöpfend, berücksichtigend. Wie überhaupt bei den 1750 einsetzenden Sonderarbeiten bleibt z. B. J. E. Schlegel vernachlässigt. In d. Gesch. d. Poetik liegt 1750 schwerlich ein markanter Entwicklungseinschnitt (entweder 1725/30 oder 1759/60). — T h e r e s e E r b : Die Pointe i. d. Dichtung von Barock u. Aufklärung, Diss. Bonn 1929 (teilw. d. Theorie berücksichtigend) u. a. m. Gegenüber derartigen Spezialuntersuchungen heben sich ab Werke wie K. B o r i n s k i : Die Antike in Poetik u. Kunsttheorie vom Ausgang d. klass. Altertums bis auf Goethe u. Wilh. v. Humboldt, Bd. I/II, Lpz. 1914/24. — J. G. R o b e r t s o n : Studies in the genesis of romantic theory in the eighteenth Century, Cambridge 1923. — K. J. Obenauer u. a. (vgl. Bd. I dieser Darstellung S. 352/53). — O. W a l z e l : Grenzen von Poesie u. Unpoesie, Frankf. a. M. 1937, noch am ehesten das Gesamtgebiet ins Blickfeld rückend; aber von dem im Titel angegebenen Blickwinkel aus und zudem mit dem Schwergewicht auf der späteren Entwicklung. Als Spezialuntersuchung verdient Hervorhebung K a r l V i e t o r : De Sublimitate, in: Harward Studies, Vol. XV, Cambridge 1937 (u. Sonderdruck); vgl. jetzt: Die Idee des Erhabenen i. d. dt. Lit., in: Geist u. Form, Bern 1952. Hinzu treten Werke, die mehr beispielhaft auf die Poetik des hier gewürdigten Zeitraumes zurückgreifen wie etwa R. P e t s c h : Das Wesen u. d. Formen d. Dramas, Allg. Dramaturgie, Halle 1945 (weit weniger i. d. Theorie d. Erzählung); R. Petsch unterschätzt die Werte der histor. Dramaturgie (u. histor. Theorie der Erzählkunst) gegenüber seinen Konstruktionen. — E r n s t Georg W o l f f : Ästhetik der Dichtkunst, Systematik auf erkenntnistheor. Grundlage, Zürich 1944, bespr. v. Verf. i. d. Dt. Literaturzeitg.

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Jg. 69 (1948). — Während der Drucklegung wurde mir zugänglich K a r l A u g u s t S c h l e i d e n : Klopstocks Dichtungstheorie als Beitrag z. Gesch. d. dt. Poetik, Saarbrücken 1954; nur noch für die Anmerkungen auswertbar. Aufklärung und Rokoko Grundlegende Werke wie die H. H e t t n e r s , E . C a s s i r e r s , A. K ö s t e r s , E. E r m a t i n g e r s u . a. müssen vorausgesetzt werden. E m i l E r m a t i n g e r : Barock u. Rokoko i. d. dt. Dichtung (1926) meint mit Rokoko weit überwiegend Aufklärung (Kap. 6: Die neue Kunstlehre). Zeitlich noch nicht erfaßt von F. J. S c h n e i d e r s oben erwähnter Neuauflage (1948) wird H a n s M. W o l f f : Die Weltanschauung d. dt. Aufklärung in geschichtl. Entwicklung, Bern 1949. Wieland u. Lessing kommen bei H. M. Wolff nur recht knapp im Schlußkap. zur Darstellung, während etwa Brockes' ästhetisch-religiöses Bildungsideal ein Sonderkap. (6) eingeräumt erhält; durchweg geringe Auswertung der Sekundärlit. Bemerkenswert die Ausführungen üb. Joh. Adolph Hoffmann u. dessen „Evangelium der Arbeit" (Kap. 2). Während für Bd. I dieser Darstellung (1937), jedenfalls für dessen ersten Teil, K a r l B o r i n s k i s Darstellung von 1886 als immer noch grundlegend anerkannt werden konnte, ist dies für den e r s t e n Teil des 2.Bandes nicht entfernt in demselben Grade der Fall hinsichtlich der mit jenem Borinskischen Werk zeitparallelen Darstellung B r a i t m a i e r s ; F r i e d r i c h B r a i t m a i e r : Geschichte der poetischen Theorie und Kritik von den Diskursen der Maler bis auf Lessing, Teil I u. II, Frauenfeld 1888/89. Bei Braitmaiers Darstellung handelt es sich nämlich durchweg um bloße Inhaltswiedergaben in indirekter Rede mit zudem unklar angesetzten wörtlichen Zitaten, wobei nur recht kärglich das eigene Urteil zu seinem Rechte kommt. Ganz abgesehen davon, daß dieses Urteil oft peinlich schulmeisternd ausgefallen ist, wie etwa gegenüber Lessing, der zudem nur noch grenzweise berührt wird: es ist allenthalben inzwischen von der Sonderforschung überholt worden. Zudem war Fr. Braitmaier auf ein unzulängliches Quellenmaterial angewiesen. So fehlte z. B. für den an sich sehr umfangreichen und für jene Zeit relativ verdienstvollen Mendelssohn-Abschnitt, der sich unversehens zu einer Sonderabhandlung ausgewachsen hat (a. a. 0 . II S. 72—279), notwendigerweise das Material der Jubiläums-Ausgabe der Werke Mendelssohns von 1929 f. Es fehlt hinsichtlich der Schweizer die Darstellung Robertsons über die italienische Kunsttheorie; es fehlt hinsichtlich des Briefwechsels Lessing-Mendelssohn-Nicolai die mit

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wertvollen Erläuterungen versehene Neuausgabe von Robert Petsch, um hier nur einiges hervorzuheben. Das Vorwort des I. Teils (1888) betont freimütig bis unverblümt: „Die Darstellung ist in erster Linie referierend", und sie entschuldigt die reichlich oft begegnende bloße Wiedergabe des Textes der zudem unvollkommen bekannten Quellen, die „bald freier, bald treuer" erfolgt sei, nicht gerade überzeugend damit, daß Braitmaier durch dieses einigermaßen bequeme und problematische Verfahren den „Lokalton" möglichst wahren und eine „Übertragung der originalen Formulierung in die heutige Schulsprache" vermeiden sowie das „Studium des vielfach schwer zugänglichen (?) Quellenmaterials" dem Leser erleichtern wolle. Und wenn der unentwegt schulmeisternde Fr. Braitmaier jene denkwürdige und merkwürdige Vorrede von 1888 zuversichtlich beschließt in der beneidenswerten Gewißheit, daß seine Arbeit „des Neuen . . . sicher jedem manches bringen" werde, so kann das heute billigerweise nicht mehr erwartet werden.

S. 26.

E r z i e h u n g s o p t i m i s m u s . — Gemäß der moralpädagischen, sozialpädagogischen u. teilweise auch schon nationalpädagogischen Tendenz der Gesamtaufklärung gewinnt auf der Tragschicht des Leibnizschen Optimismus die Sonderform des Erziehungsoptimismus eine noch nicht hinreichend bewertete Bedeutung. Es handelt sich dabei vorwiegend (soweit Kunstdeutung u. Kunstschaffen in Betracht kommt) um die Erziehung oder Umerziehung von Erwachsenen, und eben deshalb kann überhaupt von Erziehungsoptimismus die Rede sein, weil die Erziehbarkeit von Kindern von vornherein gegeben ist. In dem Grade jedoch, wie der weltanschauliche Optimismus zugleich als kritischer Optimismus sich äußerte, verbesondert sich der Erziehungsoptimismus in einen krit. Erziehungsoptimismus (in Anpassung an den Primat der Kritik innerhalb der Aufklärung), der teilweise in einen begrenzten Erziehungsskeptizismus und gelegentlich selbst in einen Erziehungspessimismus (zum mindesten als Gefahrenzone oder Kontrastwert) umschlagen kann. Im Gesamt der Entwicklung hilft jedoch erst der GenieAnspruch im Sturm u. Drang (Urfaust, Klingers „Simsone Grisaldo" u. a.) den Erziehungsskeptizismus bis hin zum Pessimismus herausbilden, wobei an die Stelle des Ebenbürtigmachens des Bürgers (gegenüber den höheren Ständen) durch Erziehung, das von vornherein Überlegen-

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sein durch Begabung und (religiös gefärbte) Begnadung tritt. Trotzdem wollen i. d. Aufklärung Fälle wie Voltaires „Candide" oder J . K . Wezeis „Belphegor" u. a. nicht übersehen werden. Vom Kunstwerk her erfolgt die Erziehung teils durch Vorbild: Nathan, teils durch Abschreckbild: Patriarch, teils durch Mischformen: Tempelherr (durch Schwächen eingetrübtes Vorbild) oder Daja (Warnbild mit positiven Zügen). Die satirische VerlachKomödie arbeitet vorwiegend mit Abschreck- u. Warnbildern, das rührende Lustspiel überwiegend mit Vorbildern, die freilich zur Verstärkung wiederum von Warnbildern abgehoben werden. Wird ein Erziehungserfolg nicht im Kunstwerk selber demonstriert, so wird er doch mit Bezug auf das Publikum oder die Leserschaft erhofft u. oft merklich erstrebt. Auch Satire und komische Dichtungsarten (kom. Heldenepos, kom. Romanze u. a.) treten in den Dienst des Erziehungsoptimismus. In der Einzelentwicklung der aufklär. Dichter erfolgt nicht selten ein Aufsteigen vom Abschreckbild zum Vorbild, so etwa bei Lessing vom „Jungen Gelehrten" zum „Nathan" oder bei Wieland vom „Don Sylvio von Rosalva" zum „Goldenen Spiegel". Doch bleibt bei Wieland der Einschlag an Erziehungsskeptizismus merklicher ausgeprägt als bei Lessing, was sich entsprechend spiegelt im „Abderiten"Roman; immerhin schafft der „Oberon" eine Art von Ausgleich im Raum eines kritischen Erziehungsoptimismus. Geliert ist weit zuversichtlicher und weniger kritisch; auch er kennt aber Unbelehrbare (wie etwa Carlsson i. d. Nebenhandlung d. „Schwedischen Gräfin"). Ins Komische verlagert wird der Erziehungsvorgang etwa bei J . J . Engel „Herr Lorenz Stark", ins Satirische bei Wilhelm Rabener, ins Groteske bei Liscow. — Prinzipiell liegt die Perfektibilitätstheorie, die F. J . Schneider hervorhebt, in der Richtung des Erziehungsoptimismus, vgl. Schneider, Aufklärung, S. 87. Bei alledem gilt, etwa auch in Nicolais „Sebaldus Nothanker", der K a m p f gegen die V o r u r t e i l e als der beste der möglichen Wege in die b e s t e der möglichen Welten. Insgesamt wurde dabei die mehr oder minder verhüllte oder künstlerisch aufgelockerte und erhöhte religiöse Erbauungsliteratur des 17. Jh. abgelöst von der mehr oder minder verhüllten u. künstlerisch aufgelockerten u. erhöhten aufklärerischen Erziehungsliteratur, in deren Schoß immerhin schon der Bildungsroman 31 M a r k w a r d t , Poetik II

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„Agathon" ausgetragen wurde, während etwa Sophie Laroche im rein Erziehungsmäßigen weitgehend verharrt, selbst nachdem sie außer von Richardson auch von Rousseau angerührt u. angeregt worden ist; bei ihr ist denn auch folgerichtig die Jugenderziehung einbegriffen worden. — Nähere Aufschlüsse über diese Probleme dürfen erwartet werden von der im Entstehen begriffenen Dissertation der Greifswalder Assistentin M a r l i e s K e g e l Vogel. S. 26.

Übertragung religiös-kirchlicher Funktionen. — Vgl. F. J. S c h n e i d e r (1948) u. H a n s M. W o l f f (1949).

S. 40.

I t a l i e n s E i n f l u ß . — J. G. R o b e r t s o n : Studies in the Genesis of Roman tic Theorie in the Eighteenth Century, Cambridge, 1923, Kap. X I I : „Italian Influence on Aesthetik Theory in Germany", a. a. 0., S. 250—291 (Schlußkapitel). Ein kurzer Rückblick betr. d. Bedeutung des italienischen Einflusses auf den „Schwulst" im 17. Jh. (S. 250) geht von der (i. d. dt. Literaturwiss. nicht so ohne weiteres feststehenden, sondern durchaus in Frage gestellten) Voraussetzung aus, daß Deutschland damals völlig auf Auslandseinflüsse angewiesen gewesen sei. Die Rezeption Miltons sei für die Deutschen in gewisser Weise ein Ersatz für Marino gewesen (dies jedoch zu sehr von Gottscheds Standort aus gesehen). Die Gegenwehr gegen Bouhours Behauptung (Leugnung eines nichtfranzösischen Schöngeistes) wird als ein wesentlicher Ansatzpunkt betrachtet. Unter ständiger Blickrichtung auf die vermutbaren u. nachweisbaren ital. Einflüsse (bes. Muratori, Gravina u. Calepio) beschränkt Robertson seine Darstellung, abgesehen von einem anerkennenden Hinweis auf J. El. Schlegel (aber Einfluß durch Calepios „Paragone della Poesia tragica d'Italia"), auf die Interpretation der ästhetischen Anschauungen J. Ulrich Königs (K. kennt unter anderem Gravina und Muratori), Gottscheds (nennt anfangs mehr die Italiener, als er sie wirklich kennt und auszuwerten verstände; später bes. hinsichtlich der Theaterreform Maffi-Riccoboni) und d. Schweizer Bodmer und Breitinger (in engem Kontakt m. d. Italienern), denen merklich das vorherrschende Interesse zugewendet wird (S. 256—282). Das lag f. Robertson um so näher, als der ursprüngliche Ausgangspunkt seines Gesamtwerkes — wie

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das Vorwort klarstellt — in der Beobachtung lag, daß Bodmer die Form „Sasper" (für Shakespeare) wählte, die dem germ. Sprachgebrauch kaum recht entsprechen konnte, wohl aber dem italienischen. (Vgl. G. Becker: Bodmers Sasper, in: Shakespeare-Jb., Jg. 73, 1937.) Von diesem Keim aus wuchs dann die Fragestellung weiter und führte schließlich zu dem großangelegten Versuch, nun auch quellenmäßig nachzuweisen, daß die Italiener im europ. Räume nicht nur i. 16. Jh., sondern auch wiederum zu Beginn des 18. Jh.s i. d. krit. Theorie Bahnbrecher u. Wegbereiter gewesen seien („played again a pioneer role"), daß der Gedanke der schöpferischen Einbildungskraft in Italien konzipiert u. i. England zur Reife gebracht worden sei. Im Eifer des Einflußfindens geht R. gelegentl. zu weit u. begnügt sich wohl auch mit bloßen Vermutungen. Dabei mischt sich merklich die Überredung i. d. Überzeugung ein. Was Deutschland betrifft, so liegt die Hauptschwäche des Nachweises von vornherein i. d. zeitüchen Begrenzung (R. setzt erst mit J. U. König ein), die nicht berücksichtigt, daß innerhalb d. dt. Kunsttheorie damals bereits eine lange Tradition vorlag. Es wird z. B. gegenüber R. darauf hinzuweisen sein, daß der Anlauf d. dt. Kunsttheorie von Leibniz aus weit fruchtbarer in ihrer Ausgangsstellung war als das für d. Italiener vielfach nachweisbare Ausgehen von Descartes. Es geht von Leibniz nicht nur eine Linie zu Kant, sondern (zum mindesten mittelbar) auch zu Herder. Das ist für d. dt. Entwicklung entscheidender als manche an sich fördernde Einzelanregung vom Auslande her. Gegen Einzelheiten der Robertsonschen Beweisführung wäre eine ganze Reihe von Einwänden zu erheben. So z. B. erscheint J. J. Breitinger, der neben u. nach Muratori u. Dubos (Dubos wird etwas tendenziös hinter Muratori gestellt) als Hauptträger d. romant. (irrational subjektivistischen) Theorie gilt, zu stark hervorgehoben in der Wertgeltung; G. A. Baumgarten soll das Vaterrecht an der Ästhetik abgesprochen werden u.a.m. R. verwahrt sich gegen die Deutung, als ob etwas in der Luft gelegen habe: „ I t is the custom to ascribe such collusions to ideas being in the air; but I am sceptical of such hypotheses in the history of thoughts; and usually, when we grobe deep enough, connecting links are discoverable." Bei dieser Zuversicht, durch exakte vergleichende Literaturgesch. alle Einflüsse greifbar nachweisen si*

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zu können, u. d. Forderung, nur „tief genug zu graben", hätte man aber erwarten dürfen, daß R. innerhalb der d e u t s c h e n Kunsttheorie auch etwas tiefer gegraben hätte. — Betr. R i c c o b o n i darf jetzt verwiesen werden auf die Neuausg. d. Lessingschen Übersetzung seiner „L'Art du théâtre" von 1750: Francesco Riccoboni: Die Schauspielkunst, hrsg. von Gerh. Piens, Berlin 1954, die dankenswerterweise auch Fr. L. Schröders schwer zugängliche Vorlesung vom Nov. 1810 („Auszüge aus Franz Riccobonis Vorschriften . . . " ) abgedruckt (a. a. 0., S. I i i bis 147). Eine allgemeine Orientierung bietet die Einleitung von G. Piens (a. a. O., S. 5—49). S. 49. J. U. Königs G e l t u n g i. d. T h e a t e r g e s c h i c h t e . — Die Neubersche Truppe berief sich 1727 bei ihrem Gesuch um das kurfürstl. Theaterpriviligium nicht zufällig auf Joh. Ulr. Königs Eintreten f. d. Regelmäßigkeit d. Bühnenwerke u. s. gereinigten Geschmack. Nach des „Hofpoeten König Anleitung" versprach die Neubersche Truppe sich zu richten. König gehörte (neben Kormart) vor Gottsched z. d. Wegbereitern d. Ordnungssinnes (Deckbegriff f. d. aufklär. Schönheitssinn) i. d. dramat. Lit. S. 50.

Geschmack. — Erinnert sei an die Bezeichnung „Schmack" bei J. B. Mencke, vgl. Gesch. d. dt. Poetik, I S. 326 u. Anmerk. „bessern Schmack von der Poesie", a. a. O., S. 427; dort auch Rückbezug auf Prasch.

S. 50. D e r s e l b e E n d e r t r a g durch G e s c h m a c k s - u. V e r n u n f t s u r t e i l . — Nachdem schon E. E r m a t i n g e r : Barock u. Rokoko i. d. dt. Dichtung (1926), S. 115 das betreffende Zitat gebracht hatte, bringt H a n s M . W o l f f : Die Weltanschauung d. dt. Aufklär. i. geschichtl. Entwicklung, Bern 1949, im 7. Kap. urter dem Stichwort: „Fortbildung des Wölfischen Intellektualismus" das Problem d. Vergnügens (a. a. 0., S. 156) ebenfalls trotz Raumbeschränkung dasselbe Zitat wörtlich. H. M. Wolff sieht in dieser Definition J. U. Königs eine Vorleistung für Gottscheds Definition d. Schönheitsbegriffs i. dessen „Ersten Gründen der gesamten Weltweisheit". Die Einbeziehung des Schönen i. d. Gesamtsystem wird so von J. U. König u. weiterhin v. Gottsched vorbereitet; darin liegen zugl. Vorstufen f. G. A. Baumgartens Poetik u. Ästhetik. Ältere Darstellung mehr referierender Art bei Fr. Braitmaier „Gesch. d. poet. Theorie" I, S. 57—65-

ANMERKUNGEN

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S. 52.

E. E r m a t i n g e r . — E. hebt i. s. Darstellung üb. „Barock u. Rokoko i. d. dt. Dichtung", Lpz. u. Bln. 1926 S. 15/16 die entwicklungsgeschichtl. Bedeutung J. U. Königs unter Beifügung d. entscheidenden Zitate hervor.

S. 54.

Gottsched: zitiert wird hauptsächlich nach der Ausgabe von 1730; über die späteren Auflagen vgl. A. P e l z : Die vier Auflagen von Gottscheds Critischer Dichtkunst in vergleichender Betrachtung, Diss. Breslau 1929; eine stofflich recht ertragreiche Arbeit, bes. im Abschnitt über „Germanische Studien" Gottscheds, a. a. 0., S. 50—62. — Th. W. D a n z e l : Gottsched und seine Zeit, Auszüge aus seinem Briefwechsel, Leipzig 1848. — M. K o c h : Gottsched u. d. Reform d. dt. Lit. im 18. Jh., Hamburg 1887. — Fr. Servaes: Die Poetik Gottscheds u. d. Schweizer, Straßburg 1887. — G. W a n i e k : Gottsched u. d. dt. Lit. seiner Zeit, Leipzig 1897. — E. W o l f f : Gottscheds Stellung im deutschen Bildungsleben, Kiel u. Leipzig 1897. — Fr. Mansfeld: Das literarische Barock im kunsttheoretischen Urteil Gottscheds u. d. Schweizer, Diss. Halle 1928. — G . W e c h s l e r : J. Chr. Gottscheds Rhetorik, Diss. Heidelberg 1933. — S. B i n g : Die Nachahmungstheorie bei Gottsched u. d. Schweizern u. ihre Beziehungen z. d. Dichtungstheorie der Zeit, Diss. Köln 1934. — W. K u h l m a n n : Die theologischen Voraussetzungen von Gottscheds „Critischer Dichtkunst", Diss. Münster 1935. — Ferd. Jos. S c h n e i d e r : Aufklärung (1948) S. 90—95 eingehend üb. d. „Crit. Dichtkunst", anschließend üb. d. Dramentheorie im Verhältnis z. Theater, bes. S. 100f.; sehr einläßlich u. zugl. entwicklungsgeschichtlich verläßl. unterbaut. — Hans M. W o l f f : Die Weltanschauung d. dt.Aufklärung, Bern 1949, Kap. VII, S. 155f. — H. M. Wolff greift auf die „Ersten Gründe d. gesamten Weltweisheit" zurück u. betont die entwicklungsgeschichtl. Bedeutung des Einbaues des Schönen i. d. Bildungssystem; freilich muß er zugeben, daß darin Joh. Ulrich König vorausgegangen war. Immerhin half G. den Glauben a. d. Bildungs- oder doch Erziehungsfunktion des Schönen u. damit auch der Dichtkunst verstärken. Aber der Fortschritt, daß dies Vermögen der Poesie anerkannt wurde, mußte erkauft werden mit d. Dienstbarkeit der Poesie im Verhältnis zur Moral. Das Erstreiten der beruflichen Berechtigung des Dichtertums hängt damit folgerichtig zusammen. Jene Kehrseiten sind H. M. Wolff nicht entgangen, vgl. a. a. O. (1949) S. 1 5 7 .

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S. 54.

G e s c h m a c k s t h e o r e t i s c h e Z i e l s e t z u n g K ö n i g s : Die zitierte Stelle findet sich in Joh. Ulrich Königs CanitzAusgabe von 1734, Anhang S. 383; als Träger dieser Bestrebungen nennt König in einer Anmerkung v. Besser, v. Canitz u. Wernicke, dessen Streit mit Postel Erwähnung findet; vgl. auch Königs Canitz-Ausgabe von 1727, S. 238.

S. 54.

N a t u r n a c h a h m u n g s f o r m e l : Über die frühere Ausprägung und Berücksichtigung vgl. diese Arbeit Bd. 1, Verzeichnis d. Begriffe.

S. 56.

„ N a t u r " als V e r n u n f t - N a t u r : S. B i n g : Die Naturnachahmungstheorie b. Gottsched u. d. Schweizer..., Diss. Köln 1934, S. 29 f. „Das Natürliche gefällt nur soweit und wird vom Geschmack dann schön gefunden, als es vernünftig ist. Der Bereich der Dichtung ist die Vernunftnatur", a. a. Ó., S. 32.

S. 56.

D e d u k t i o n „ a u s der V e r n u n f t " . — D o c h geht es nicht an, wie E. C a s s i r e r aus Gottscheds vielfältigem Gedankenbestand einfach die bekannte Vorschrift „Zu allererst wähle man sich einen lehrreichen moralischen Satz . . . " herauszugreifen und von dieser schmalen Basis aus unter Bezugnahme auf Descartes' Schrift „Le monde" — aus der wiederum ein Satz „Gebt mir Materie, und ich will euch eine Welt bauen" herausgestellt wird — kurzerhand Gottsched auf Descartes zurückzuführen, um einen schönen „Aspekt" zu bekommen. So E. C a s s i r e r : Die Philosophie der Aufklärung, Tübingen 1932, Grundriß der philos. Wissenschaften, o. Nr. 5 S. 449/50. Allerdings will das betreffende Kapitel (7) nur „Die Grundprobleme der Ästhetik" behandeln. Es mag bei dieser Gelegenheit darauf hingewiesen werden, daß die vielzitierte Vorschrift Gottscheds wörtliche Anklänge aufweist an eine ganz entsprechende Definition L e B o s s u s in dessen „Traité du poème épique"; sie lautet: „ L a première chose par où l'on droit commencer pour faire une fable, est de choisir l'instruction et le point de morale qui lui doit servir de fond, selon le dessein et la fin que l'on se propose. Il faut ensuite réduire cette vérité en action." Sie ist auch insofern gar nicht Gottscheds Kernstück, sondern mitverarbeitetes Teilglied. Das Kernstück bleibt die Naturnachahmungs- u. Wahrscheinlichkeitslehre. Die vielfach übliche Polemik gegen jene

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Stelle müßte eingeschränkt werden auf die Beanstandung, daß Gottsched noch 1730 unbesehen ein Teilglied aus der Literatur zur Poetik von 1675 (Bossu) aufnimmt und für Deutschland auffrischt, was der Anweisungspoetik d. 17. Jh.s gemäß war, aber nicht in einer kritisch-philos. Anspruch erhebenden Poetik d. 18. Jh.s angebracht sein konnte. S. 56.

„ A u s f ü h r l i c h e R e d e k u n s t " : G. W e c h s l e r : J. Chr. Gottscheds Rhetorik (1933), S. 21 spricht von der „Redekunst" als einem „Zwitterwesen aus kontemplativ ästhetischer Doktrin und praktischer technologischer Anweisung".

S. 56.

„ U r t e i l e n d e r V e r s t a n d " : Diesen Terminus weist A. B a e u m l e r bei Gottsched nach a. a. 0., S. 78, 85/6; ebenso den im Hinblicken auf Kant bedeutsamen Terminus „Urteilskraft", u. zwar in Gottscheds „Ersten Gründen der gesamten Weltweisheit" (1734).

S. 57.

O r d n u n g s b e g r i f f : Vorstufen z. B. bei Chr. Weise, vgl. Poetik I, S. 249—58.

S. 57.

N a t u r n a c h a h m u n g s t h e o r i e : Unter starker Berücksichtigung von Gottscheds „Auszug aus des Herrn Batteux' schönen Künsten. . . mit verschiedenen Zusätzen und Anmerkungen erläutert" (1754); vgl. „Die Naturnachahmungstheorie bei Gottsched", S.Bing a.a.O. (1934), S. 1 - 5 4 .

S. 58.

T i e r f a b e l : Über Gottscheds Stellung zur Fabel als Gattung, als deren Meister für die Tierfabel Äsop gilt, während La Motte, aber auch Stoppe als allzu redselig kritisiert werden, vgl. M. S t a e g e : Die Geschichte d. dt. Fabeltheorie, Diss. Basel, gedr. Bern 1929, S. 23/4. Dort findet auch kurze Erwähnung D. W i l h . T r i l l e r mit seinem Anhang „ V o n m o r a l i s c h e n F a b e l n " zu den „ P o e t i s c h e n B e t r a c h t u n g e n " (1737). Triller will auch lebenskundlich „die Regeln der Klugheit und des Wohlstandes und einer manierlichen Lebensart" durch die Fabeldichtung vermitteln neben den Kernlehren der „Sittenlehre". Abhebung Triller-Stoppe bei F. J. Schneider a. a. 0., S. 66.

S. 58.

A l s Q u e l l e J.P.de CrousacsTraité du Beau (1715) glaubt annehmen zu sollen für diese hypothetische Wahrscheinlichkeit A. R i e m a n n : Die Ästhetik A. G. Baumgartens unter besonderer Berücksichtigung der „Meditationes",

488

ANMERKUNGEN

Halle 1928, S. 84. Doch erscheint ein Zurückgreifen auf Leibniz-Wolff ebenso wahrscheinlich, ganz abgesehen von den bald sich ausbildenden Theorien über die Tierseele usw. (Wolff, G. Fr. Meier). S. 58.

Das W u n d e r b a r e : Ablehnung von „Zaubereyen", Cr. Dk. (1730), S. 582/3; ähnlich i. d. „Beyträgen ZU r critischen Historie d. dt. Sprache, Poesie u. Beredsamkeit", 10. Stück (1734); im „Biedermann" (Bl. 62). Angegriffen werden vor allem neben der Oper in diesem Zusammenhange Tasso und später Milton. Mit Bezug auf Milton wird selbst der sonst warm begrüßte Batteux angegriffen: „Der Verfasser (Batteux) ist also auch durch Miltons falsches Wunderbares geblendet." Dabei wird z.T. Pierre Bayle, Gottsched durch seine Übersetzung vertraut, gegen Batteux ins Feld geführt, vgl. „Auszug aus des Herrn Batteux schönen Künsten" (1754) 3. Teil, Gottscheds Anmerkungen. Neben Milton wird auch Ariost verworfen („läppische Hirngespinste"). Die Verwendung der Bezeichnung Hirngespinste im Zusammenhang mit der Abwehr des Wunderbaren und der „Zaubereyen" berechtigt auch zu einem Zurückgreifen auf die „Vernünftigen Tadlerinnen" II, 35. Stück („Chimären, Hirngespenster"). Obgleich sich W. K u h l m a n n beim eifrigen Aufspüren der „Theologischen Voraussetzungen von G.s Cr. Dk." (1935) um Fragen wie das Anrufen u. Auftreten von Gottheiten im Dichtwerk, den göttlichen Ursprung d. Poesie usw. bekümmert zeigt, weil Gottsched den christlichen Gott und die heidnischen Götter auf eine Ebene stelle, übergeht er das grundlegende Problem des Wunderbaren.

S. 58.

G ö t t e r e r s c h e i n u n g e n : Auf eine „merkwürdige Verquickung von Christentum u. außerchristlichen Religionen" bei Gottscheds einschlägigen Äußerungen weist wiederum hin W. K u h l m a n n a . a . O . , S. 8/9; eine gewisse Auflockerung sei in der 4. Aufl. der Cr. Dk. erfolgt, jedoch nur zugunsten der komischen Heldenepen a. a. 0., S. 21 ; Gleichstellung der Religionen auf S. 59.

S. 59.

E i n h e i t e n : Manif. d. Einheiten in Frankreich durch'den akad.Dichter des Jeanne d'Arc-National-Epos C h a p e l a i n in dessen Brief v. 29. Nov. 1630 (an Corneille), abgedr. bei Charles A r n a u l d : Les Théories dramatiques au XVIIième siècle (1888). Chapelain zieht die Folgerung: Moralische Wirksamkeit fordert Glaubwürdigkeit, diese wiederum

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verlangt Wahrscheinlichkeit, woraus sich für das Bühnenwerk Orts- und Zeiteinheit ergibt. Vorbild f. d. regelstrenge Drama boten dabei z.T. die Italiener. Erstes Beispiel in Frankreich das Schäferstück „Silvanire" des frz. Dichters Mairet, der vom Herzog v. Montmorency (verh. mit einer Orsini, Italienerin?) den entspr. Auftrag erhalten hatte. Bald darauf als regelmäß. Tragödie Mairets „Sophonisbe" (1643); dann erst Corneilles „Cid" (1636), vgl. E. Merian-Genast: Das Problem d. Form i. d. frz. u. dt. Klassik, GRM, Jg. 27 (1939), S. 100 ff. Dort Hinweis auf René Bray: La formation de la doctrine classique en France, Paris 1931. Gottscheds Strenge in der Frage der Einheiten tritt z. B. zutage i. d. Cr. Dk. (1730), S. 573—575. Die eine „Haupt-Absicht" (moral. Satz) bedingt „nur eine Haupt-Handlung" (Handlungseinheit); zwei Haupthandlungen sind abzulehnen, nicht aber Nebenhandlungen. Geschehensdauer „höchstens zehn Stunden" ; selbst Corneilles „Cid" ist in diesem Betracht nicht mustergültig; denn er beansprucht „wenigstens volle vier und zwantzig Stunden: welches schon viel zu viel ist" (Zeiteinheit). Dritte Folgerung: „Es ist also einer regelmäßigen Tragödie nicht erlaubt, den Schau-Platz zu ändern" (Ortseinheit). Gerade bei der Bestimmung der Zeit- und Ortseinheit ist eine nüchterne Pedanterie unverkennbar. So dürfen z. B. jene 10 Stunden nicht in der Nacht liegen, „weil diese zum Schlafen bestimmet ist"; Gottscheds eigene „Parisische Bluthochzeit" bestätigt nicht gerade diesen kategorischen Schutzerlaß für den Nachtschlaf. S. 60.

„ B e o b a c h t u n g e n . . . " : Stichwort „Dichten, Dichtkunst, Gedicht" a. a. 0., S. 77. Eine mehr philol. Berücksichtigung freilich unzulänglicher Art finden die „Beobachtungen . . . " (1758) bei H. L a c h m a n n : G.S.Bedeutung f. d. Geschichte d. dt. Philologie, Diss. Greifswald 1931, S. 27 f.

S. 61.

„ j e ne sais q u o i " : Cr. Dk. (1730), S. 66; bei Gottsched „je ne sgai quoi".

S. 61.

S h a f t e s b u r y - Z i t a t : Cr. Dk. (1730) S. 185/6 als Schlußverstärkung des Kapitels „Von der Wahrscheinlichkeit in der Poesie".

S. 62. S c h a r f s i n n i g k e i t u. W i t z : Chr. W o l f f definiert (Metaphysik, Kap. V § 858) den „Witz" als Zusammen-

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wirken von „einer Scharfsinnigkeit und guten Einbildungskraft und Gedächtnis". In den „Anmerkungen über die vernünftigen Gedanken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen überhaupt" (§ 320) wird mit ausdrücklichem Bezug auf die Dichtkunst und Redekunst klargestellt, daß „Witz" als Funktion von Einbildungskraft u. Gedächtnis nicht genüge für die Kunstdichtung, da diese Mischung der Kräfte auch „Pickelheringen" zu Gebote stehe, sondern „Scharfsinn" hinzutreten müsse; vgl. P. B ö c k m a n n : Das Formprinzip des Witzes i. d. Frühzeit der dt. Aufklärung, Jb. d. Fr. Dt. Hochstifts, Halle 1932/33, S. 80/1 H a n s M. W o l f f : Die Weltanschauung d. dt. Aufklärung, Bern 1949, S. 157 beschränkt sich auf Chr. Wolfis Metaphysik bei der Zurückführung der Gottschedischen Definitionen („Witz" u. „Einbildungskraft"). S. 62.

K o n t r o l l k r ä f t e : Cr. Dk. (1730), S. 79, 91.

S. 62.

E i n s c h r ä n k u n g u. U m s c h u l u n g des W i t z e s : Die G o t t s c h e d betreffenden Ausführungen P. B ö c k m a n n s a. a. O., S. 84f. bereichern einerseits die GottschedDeutung nach der Seite des „Witzes" hin, zwängen aber z. T. Gottsched zu stark i. d. „Witz"-Richtung ein und erzwingen das Resultat, daß Gottscheds Theorie „durchaus auf ein eigenes Formprinzip bezogen" sei, „das im Begriff des Witzes zu fassen ist" (S. 90). Dem „Witz"Kriterium übergeordnet bleiben in Wirklichkeit das Naturnachahmungs- u. Wahrscheinlichkeitsgesetz, das Ordnungs- u. Regelmäßigkeitsprinzip, das Vernunft- u. Tugendprinzip, der Primat der Fabel, des guten Geschmacks u. a. . . . Man hat sogar gelegentlich den Eindruck, daß Gottsched als Gesetzgeber auch vom „Witz" her eine Auflösung befürchtet. Daher gibt er dem Witze überlegene Uberwachungskräfte bei, und zwar gerade an einer wesentlichen (von Böckmann für seine Beweisführung in Anspruch genommenen) Stelle, nämlich: Wahrscheinlichkeit, „anmuthige Nutzbarkeit" und Fabelbewertung, denn wer „nur (!) auf die Spitzfündigkeit in Worten und Redensarten: auf künstliche Einfälle und andres Flittergold sieht, der weichet von der Einfalt der Natur ab", Cr. Dk. S. 563. Damit wird zugleich von der beherrschenden Position der Naturnachahmung aus dem „Witze" seine Grenze gezogen. Dagegen kann Böckmanns These, daß bei Gottsched Bemühungen vorhanden seien,

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das vorerst auf die sprachlich-stilistische Formung bezogene „Witz-"Kriterium zu übertragen auf die Strukturdie Kompositionstechnik, im gewissen Grade zugestimmt werden. Indessen handelt es sich nur um Ansätze, die nicht kräftig genug entwickelt sind, um zum entscheidenden Durchbruch zu führen. Fraglos steht Gottsched das „Witzige" höher als das „Wunderbare"; dennoch setzt er auch der Eigenwilligkeit des „Witzes" Schranken. Der letztlich von Wolff her erfolgende Antrieb, ablesbar etwa auch Cr. Dk., S. 217, ermutigt ihn nicht zu einer „Theorie des Witzes", sondern läßt ihn nur einige tastende Schritte über Wolff hinaus wagen, die zudem z. T. zurückgetan werden. Diese Feinheiten berücksichtigt nicht H. M. W o l f f : Die Weltanschauung d. dt. Aufklärung (1949), dem es freilich nur auf das Wesentliche des Zusammenhanges Wolff-G. ankommt. S. 62.

A n m . z. H o r a z - Ü b e r s . Cr. Dk. (1730), S. 13.

S. 62.

A. K ö s t e r : Die deutsche Lit. d. Aufklärungszeit, Heidelberg 1925, S. 8.

S. 63.

B ä n k e l s ä n g e r - P o e s i e : Es ist in diesem Zusammenhange bemerkenswert, daß es wiederum gerade die „Wunder-Geschichten" in diesen Liedern sind, die Gottsched dem Geschmacksbereiche des einfachen Mannes zuweist und vom Geltungsbereich der Kunstdichtung ausschließt, Cr. Dk., S. 75.

S. 64.

A u s f ü h r l i c h e Redekunst: Die Zitate a . a . O . , S. 227 (u. 350).

S. 64.

S c h ö n a i c h s „ H e r m a n n " : Bei der Bewertung des Heldengedichts durch Gottsched ist zu berücksichtigen, daß man seit Opitz' Skepsis hinsichtlich der Schwierigkeit eines Epos in Deutschland, seit Menckes Hinweis auf Besser immer noch Ausschau hielt nach einem nationalen Heldenepos. Es darf auch nicht übersehen werden, daß G. trotz der persönlichen Reiberei selbst für das Fragment Joh. Elias Schlegels „Heinrich der Löwe" (2 Gesänge 1742) noch 1761 eine deutliche Anteilnahme bekundet, vgl. A. P e l z a. a. 0., S. 43. Gottsched ist demnach mehr dem heldischen Epos zugewandt als dem religiösen (Milton, Bodmer, Klopstock) oder dem landschaftlichen(E.v.Kleist), die auch aus Formgründen abgelehnt werden. Doch gilt auch für die Versuche im „Helden-Gedichte" der Maßstab

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der Regel, wie sie Aristoteles und Lebossu „festgesetzet" hätten; daher seien Posteis „Wittekind"-Epos, dessen Fabel anerkannt wird (S. 547), u. Pietschs „Sieg Carls VI. in Ungarn" zu verwerfen (Cr. Dk. I., S. 73). In Gottscheds anpreisender Vorrede z. Schönaichs „Hermann" (1751) wird die Dichtung als erstes Beispiel, „welches nach den Regeln und Mustern der Alten den Namen einer Epopée verdient", hingestellt. S. 76. Die Abweichung d. Schweizer. — Wenn in Anspielung auf Swifts „Battie of the books" gesagt u. dann häufig wiederholt worden ist, daß G.s Poetik u. die der Schweizer sehr wohl hätten in einem Schrank stehen können, ohne daß eine Schlacht zwischen ihnen hätte erfolgen müssen, so verkennt man den latenten, aber entscheidenden Gegensatz, der für die Schweizer vom Christlich-Religiösen aus gegeben war, ohne überall greifbar hervorzutreten. Das Problem des „Wunderbaren" ist kein bloßes Problem der Kunsttheorie. — Richtig hob dagegen schon Fr. Braitmaier: Gesch. d. poet. Theorie u. Kritik, I (1888) hervor, daß der Gegensatz z. Gottsched deutlicher u. schärfer als in der Kunsttheorie in der liter. Kritik u. deren Wertmaßstäben in Erscheinung trete, a. a. 0., S. 231. — Üb. d. Streit mit Gottsched F. J. Schneider: a. a. 0., S. I05f. S. 76.

Gottscheds Ausweichen vor einem Eingehen auf das Wesentliche der Meinungsverschiedenheiten hebt hervor G. Waniek: Gottsched u. d. dt. Liter, seiner Zeit, Lpz. 1897, S. 363.

S. 77.

„Poetischer Enthusiasmus". — Etwas früher bereits i. d. sog. Breslauer Anleitung von 1725 ; vgl. Bd. I d. Gesch. d. dt. Poetik (Barock u. Frühaufklärung). — Uber das Verhältnis des poet. Enthusiasmus zur Einbildungskraft u. die Hauptstelle des Eingehens auf die Theorie, I, S. 173/74.

S. 77. Plan einer fünfteiligen Poetik. — Diese geplante, großzügig gedachte fünfteilige Poetik der Schweizer sollte den Titel tragen: „Vernünftige Gedanken und Urteile von der Beredsamkeit", wodurch auch in d. Titelgebung die Anlehnung an Chr. Wolff sich bekundet haben würde, während auch jetzt schon die Disposition ihre Einteilungskriterien von Wolfis Psychologie überträgt ; vgl. A.

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B a e u m l e r a. a. O., S. 76/7. Im Verhältnis zu G. erscheint für Baeumler im Gesamt der Schweizer Beiträge die Kenntnis Wolfis weniger tief gegründet, als man vielfach annahm. J. J. Bodmer verleugne den Einfluß J. Chr. Wolfis nicht, er sei indessen „bei weitem nicht so geschult wie der Professor der Logik u. Metaphysik in Leipzig" (=G.). Fr. Braitmaier hielt die Schweizer für überlegen „i. d. Formulierung d. Aufgabe wie der Methode": Gesch. d. poet. Theorie I, S. 160. A. Baeumler unterscheidet in seiner Wertung der von Gottsched u. d. Schweizern gestellten Entwicklungsbeiträge die rein denkgeschichtliche („philosophiegeschichtliche") Bedeutung, die bei G. höher zu veranschlagen sei (i. d. Richtung: Baumgarten-Kant), u. d. allgemein kulturgeschichtliche Bedeutung, die überwiegend den Schweizern zuzuerkennen sei. Diese v. A. B. ausdrücklich u. nachdrücklich herausgestellte Richtlinie für seine Bewertungsweise scheint F. Mansfeld: Das liter. Barock im kunsttheor. Urteil Gottscheds u. d. Schweizer, Diss. Halle 1928 bei seiner Teilpolemik gegen Baeumler übersehen zu haben. Freilich handelt es sich bei dieser Polemik F. Mansfelds um den „Witz" u. d. „Phantasie"-Begriff, also um Teilkräfte aus der „philosophiegeschichtlichen" Entwicklung im weiteren Sinne, a. a. 0., S. 47/8. Doch wird merklich die Tendenz erkennbar, die Schweizer zu „retten". Das ist jedoch gar nicht erforderlich, da A. B. von vornherein recht einseitig in der Blickrichtung (auf Kant hin) gebunden erscheint. A. B. bedauert z. B. den Anschluß d. Schweizer an Addison, weil sie dadurch dasjenige „verpaßt" hätten, „was ihrer poet. Theorie Halt u. Mittelpunkt hätte werden können: die Theorie der Ähnlichkeit, der Metapher, des Witzes", a. a. 0., S. 152. In Wirklichkeit war die Theorie der „Ähnlichkeit" d. ganzen krit. u. kunsttheor. Einstellung Joh. El. Schlegels weit gemäßer, als sie den Schweizern hätte sein können, nähert sich doch J. E. Schlegel in gewissem Grade bereits dem Verfremdungseffekt B. Brechts. Und die Theorie des „Witzes" war womöglich noch weniger ihrer Anlage gemäß. Was endlich die Metapher betrifft, so meint A. B., die „Ironie der Geschichte" (!) habe es gefügt, daß es Gottsched gewesen sei, der, obwohl Feind des „Bilderwesens", dennoch „mit glücklichem philosoph. Instinkt" (?) den zu einer Theorie der Metapher führenden Begriff

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aufgenommen habe (a. a. 0., S. 152/3), während mit dem Phantasiebegriff der Schweizer kein denkgeschichtlicher, wenngleich ein kulturhistorischer (literaturhistor. ist A. B. merklich nicht geistig vornehm genug!) Fortschritt „verbunden gewesen sei". Man erkennt, wie alles auf Kant hin gepreßt wird, wobei der absolute oder auch nur entwicklungsgeschichtliche Wert dieses Zielpunktes (Kants „Kritik der Urteilskraft") nicht einmal kunsttheoretisch verbürgt erscheint, ganz abgesehen von der auffallenden u. unverkennbaren Vorwegnahme zentraler Konstruktionsglieder durch andere, frühere Kunsttheoretiker (z.B. F. Justus Riedel, 1768/74). Seinerzeit weit verbreitete „Deutungen" (und Pressungen) wie die Baeumlers verlieren so sehr bald das Bestechende der „neuen Sicht", wenn man das im jungherderschen Sinne „Schielende" dieser Sicht erkennt. S. 78.

W i r k u n g s g e s e t z l i c h k e i t , W i r k u n g s p o e t i k . — Im Rahmen d. Wirkungspoetik verlagern sich zwar b. d. Schweizern die Wirkungsmittel u. teilw. auch die Wirkungsziele. Grundsätzlich aber wird auch von ihnen die Werthaltigkeit in recht engen Bezug gebracht mit der Wirkungsweise und dem Wirkungswert. So etwa heißt es „Worinnen das poetische Schöne bestehet, nämlich es ist ein helleuchtender Strahl des Wahren, welcher mit solcher Kraft auf die Sinnen u. das Gemüte eindringet, daß wir uns nicht erwehren können, so schwer die Achtlosigkeit auf uns lieget, denselbigen zu fühlen" (Breitinger). Für das Verhältnis Urbild z. Nachahmung kommt es nicht so sehr darauf an, daß die nachahmende Schilderung denVorstellungsbildern der Wirklichkeit gleicht, als darauf, daß sie „eine gleiche W i r k u n g wie das Urbild auf das Gemüte macht" (Bodmer) u. darauf, „die Phantasie des Lesers angenehm einzunehmen und sich seines Gemütes zu bemächtigen" (Breitinger). Selbst die Teilgeltung, die dem H ä ß l i c h e n von den Schweizern im Bezirk d. Nachahmung eingeräumt u. von dem Vergnügen an der Ähnlichkeits-Wirkung abgeleitet wird, geht von der Beobachtung aus, daß eine im Urbild häßliche Erscheinung „uns mit einer gewissen Lust einnimmt . . ., uns in einer wohl getroffenen Beschreibung süß und lieblich" vorkommt (Bodmer). Sie wird also wiederum von der Wirkung abgelesen und als Wirkungswert anerkannt. Und vom Thersites-Beispiel, das noch bei

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Herder einwirkt, gelangt die „Crit. Dichtkunst" ebenfalls zu dem Ergebnis, daß eine „Belustigung" dadurch hervorgerufen werde (Breitinger). An der Wirkung der „Herzgewinnung" ermißt man dann auch den Wert des bevorzugten Musters Milton (Bodmer). Wie denn endlich nicht zuletzt (um zum Zentralpunkt des Wunderbaren zurückzukehren) der ästhetische Wert des Wunderbaren unbeschadet des vielfach verhüllten religiösen Wertes vorzüglich gesehen wird als „Quelle des Ergetzens" (Breitinger), wobei die Forderung des „Neuen" verstärkend sich einmischt. Aber dieses „Neue" ist eben das neuartig, unvermutet Wirkende. Und es ist Aufgabe des Poeten, es als neuartig erscheinen und also wirken zu lassen. Die Beispiele ließen sich vermehren; vgl. hierzu bes. I. S c h ö n f e l d : Die malende Poesie im 18. Jh. u. ihre Überwindung durch den Sturm u. Drang, Diss. München 1920. — S. B i n g : Die Naturnachahmungstheorie bei Gottsched u. d. Schweizern, Diss. Köln 1934. S. 79. B o s c h . — R. B o s c h : Die Problemstellung der Poetik, eine histor.-krit. Untersuchung üb. d. Methoden u. Grenzen wiss. Wertbestimmung, in: Beiträge zur Ästhetik 18, Lpz. 1928, S. 56. — Uber „Die poesieästhetische Wertsetzung durch die psychologische Theorie Bodmer-Breitinger" handelt Bosch a. a. O., S. 50—59. Auch dieser Abschnitt ist merklich eingestellt auf B.s fachpsychologisches Interesse u. damit einer gewissen Einseitigkeit unterworfen. Die historischen Teile dienen letztlich nur der Erläuterung u. können daher nur geringen Eigenwert beanspruchen (wie übrigens häufig bei d. Philosophen). S. 79.

„ P i n s e l des V e r s t a n d e s " . — J . Winckelmann dort, wo er für die Allegorie eintritt i. d. „Gedanken üb. d. Nachahmung . . . " (1755), D L D 20, S. 43: „Der Pinsel, den der Künstler führet, soll in Verstand getunkt seyn". Dieses, teilw. leicht abgewandelte Vergleichsbild bleibt über Lessings Grenzziehung im „Laokoon" hinweg bestehen, ist nachweisbar z. B. beim jungen Schiller (gelegentlich der Planung f. „Don Carlos"); aber auch leicht platonisierend abgewandelt bei Fr. L. Stolberg im Aufsatz „Über die Begeisterung" (1782), dort entsprechend ins Geniezeitgemäße übertragen: „Selbst das göttlichste Gedicht ist nur ein Nachbild von den Zügen des Urbildes, welches die Begeisterung mit glühendem Pinsel in die Seele des Dichtenden hineinwarf", Gesammelte Werke, Bd. X

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(1827), S. 405 u. a. Die Zähigkeit des Vergleichsbildes deutet an, daß die wechselseitige Erhellung der Künste beliebter war als die strenge Scheidung des „Laokoon", den nicht alle so befolgten wie etwa Th. Storm im 19. Jh. S. 82.

V e r t e i d i g u n g a l l e g o r i s c h e r G e s t a l t e n . — Addison hatte in seiner „Kritischen Abhandlung von den poet. Schönheiten i. J. Miltons Verlorenem Paradiese" das Wunderbare Miltons (u. d. Phantastische Shakespeares) anerkannt als berechtigte Phantasiegestaltung; er war aber kritisch abgerückt von einem bloßen Personifizieren allegorischer Art bei Milton. Bodmer wendet demgegenüber in s. „Crit. Abhandlung von dem Wunderbaren" (1740) ein, daß es doch nicht angehe, jene allegorischen Gestalten, „die Addison for leere Schatten erkläret", isoliert zu betrachten u. zu bewerten. Man müsse sich vielmehr gegenwärtig halten, daß man in ihren ideellen Bestandteilen u. Merkmalen „lauter Begriffe" antreffe, „die in anderen Dingen, so uns bekannt sind, gegründet sind". Entscheidend sei vielmehr, daß sie „weder Widerspruch noch Ungereimtheit in sich enthalten". (Vgl. S. Bing: Die Naturnachahmung . . . S. 102/03.) Es ist beachtenswert, daß aus Bodmers Bemühung, auch in diesem angezweifelten Punkte Milton bewährt zu sehen, daß aus dieser Anspannung s. Miltonverteidigung (über Addison hinaus) das kühne Wort vom Amte des Poeten als „einer Art Erschaffung" ihm zuwächst (freilich religiös einschränkend als bloße „Art", als Analogie zur göttlichen Schöpfung). — Ob allerdings mit dem Eintreten für allegorische Gestalten wirklich ein Fortschritt erzielt wurde, muß fraglich bleiben; und auch das andere, ob nämlich eine Steigerung des Phantasiegestaltens nach der Richtung des „Irrationalen" dabei vorlag oder nicht vielmehr eine Rückbiegung in ein verstandesmäßiges Kombinieren trotz des verheißungsvollen Wortes „Erschaffen". Es steht dieses gewichtige Wort in diesem Zusammenhange jedenfalls nicht gerade in einer besonders glücklichen Belichtung. Addisons Gesamthaltung kann nicht als irgendwie revolutionär angesehen werden. Und J. G. R o b e r t s o n (Genesis of Romantic Theory, 1923), kann S. 241 darauf hinweisen, daß Addison versucht hat, das Ansehen Miltons in ähnlicher Weise zu heben durch den Nachweis einer Ubereinstimmung mit der frühklassizistischen Satzung wie etwa Lessing das Ansehen Shake-

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speares durch den merklich erzwungenen Nachweis einer Übereinstimmung mit Aristoteles. — Vgl. über Addison auch A. H a n s e n : Addison som letteraer Kritiker, Kopenhagen 1883. — E. S a u d e : Die Grundlagen d. liter. Kritik bei J . Addison, Bln. 1908. — Im weiteren Umkreis: J . V u l l i a m o z : Zur Geschichte d. Imitationsgedankens in England von 1500—1750 (1930). S. 86. A n r e g u n g e n d. i t a l . K u n s t t h e o r . — J . G. R o b e r t son: Studies in the Genesis of Romantic Theory in the Eighteenth Century, Cambridge 1923, S. 265f., 272f. S. 89.

„ E r w e i s . . . " — Die Belegstellen beziehen sich auf d. Urausgabe, Hbg. u. Lpz. 1743, bzw. f. d. „Fortsetzung des Erweises" auf d. Ausg. Bln. 1744.

S. 89.

Pope u. V o l t a i r e : — Auf diese Anlehnungen weist u.a. hin Alb. K ö s t e r : Die dt. Liter, d. Aufklärungszeit (1925), S. 58.

S. 89.

E n t w u r f einer D r a m a t u r g i e . — Außerordentlich hoch schätzt J . N a d l e r : Liter.-Gesch. d. dt. Stämme u. Landschaften, Bd. II, S. 439 die dramentheor. Verdienste Pyras ein, ebenso dessen „Tempel d. wahren Dichtkunst", a. a. O., S. 436/7. J . Nadler betont die Einwirkung d. Schweizer Poetik. Doch wäre darüber hinaus f. d. „Erweis . . . " Pyras bereits G. A. Baumgarten zu berücksichtigen. J . Nadler bewertet, gemäß seiner Gesamtkonstruktion, in Pyra den Neuerer aus dem „Siedelraum". Im einzelnen kann hier zu Nadlers Konstruktion, die Bestände teilw. nach Belieben biegt (bis sie brechen!), nicht Stellung genommen werden.

S. 90. N a c h s c h r i f t des E r w e i s e s . . . " — Der Fortsetzung d. „Erweises.. ." ist eine halbe Seite als Postskriptum angefügt, das Brämer immerhin zu einem erneuten u. gründlichen Studium der „Meditationes . . . " Baumgartens anregt. Pyra verwirft außerdem Brämers Nachweisversuch, daß eine bestimmte „poetische" Schreibart nicht bestände, daß also auch die Schreibart kein entscheidendes Bestimmungsmerkmal für die Poesie (in Abhebung v. d. Prosa) abgeben könne. J . I. Pyra möchte hier einfach empirisch entscheiden u. fragt deshalb: „Ist nicht die Schreibart poetischer u. prosaischer Schreiber würklich unterschieden? Brauchts mehr zur Widerlegung? Was ist, kann seyn", a. a. 0., S. 110. Hierin dürfte Pyra, der 32 M a r k w a r d t , Poetik II

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hastig a m Schlüsse diese merklich improvisierten Argumente noch am W e g e aufrafft, Brämer nicht ganz gerecht werden. Dies zugleich als Ergänzung der sonst recht tüchtigen u. das Gebiet der Poetik vielfach berührenden Sonderarbeit von W a l t . B r a u e r : Geschichte des Prosabegriffes von Gottsched bis zum Jungen Deutschland, F r a n k f u r t a. M. 1938. S. 92.

E i n h e i t e n u. W a h r s c h e i n l i c h k e i t . — D a s Argument d. Wahrscheinlichkeit war schon vorher gegen starre O r t s e i n h e i t ausgespielt worden; so in Frankreich durch Fontenelle u. bes. L a Motte: „ I I n'est pas naturel que tantes parties d'une action se passent dans un même appartement ou dans une même p l a c e " ; vgl. G. H a i n l e i n : Die vorromantischen Angriffe in Frankreich auf d. klass. Tragödie (1932), S. 12 u. a . ; vgl. J. I. P y r a „Erweis, Fortsetzung", S. 79. — Weitergehende Lockerungen der Einheiten, P y r a S. 103.

S. 93.

Exkurs: Baumgarten-Meier. B a u m g a r t e n s „Meditat i o n e s . . . " . — Alexander Gottlieb Baumgarten als B e gründer der Ästhetik geht von der Poetik aus. Seine einflußreichen „Meditationes philosophicae de nonnullis ad poema pertinentibus" (1735) zielen vorerst ab auf eine „Philosophia P o é t i c a " , ein Umstand, der davor warnen sollte, von „Literaturphilosophie" dort zu reden, wo man in Wirklichkeit liter. Methodik oder ein Ähnliches meint. (Sammelband „Literaturphilosophie", Bln. 1930.) Diese „Philosophia P o é t i c a " treibt aus ihren reichen Anregungskräften erst den vielästigen B a u m der „ A e s t h e t i c a " empor. Die Literaturphilosophie in diesem prägnanten Sinne (und damit auch die Poetik) darf sich mit Genugtuung dieses innigen Entwicklungszusammenhanges bewußt bleiben und die Ästhetik als Sonderdisziplin gelegentlich daran erinnern, aus welchen Wurzelkräften deren W a c h s t u m ursprünglich gespeist worden ist. Wurzelschicht : Leibniz-Wolff, französ. u. teilw. italien. Kunsttheoretiker; Ausgangspunkt: Vorstellungslehre (in A b h e b u n g von G. Sulzers Empfindungslehre). Die „sensitiven Vorstellungen" gelten dabei als Urbereich des Poetischen (repraesentationes sensitivae). D i e „sensitive R e d e " (oratio sensitiva) bedeutet demnach für B . eine Rede (also ein Wortgebilde bzw. Wortkunstgebilde), deren einzelne Bestandteile fähig und bes. geeignet sind, die Erkenntniskraft sensitiver Vorstellungen z u fördern (also nicht nur eine „sinnliche R e d e " ) . Ein

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Gedicht ist um so vollkommener, desto reicher an sensitiven Vorstellungen es ist. Nur so will die bekannte Definition verstanden werden, die B. stufenweise untergründet (Med., § i — 9 ) u. die lautet: Poema est oratio perfecta sensitiva ( a . a . O . §9), also: Ein Gedicht ist eine vollkommene, sinnliche (sensitive) Rede. Teilweise knüpft A.-G. B. an Leibniz an, um über Chr. Wolff hinaus (repraesentationes confusae) zu der Zwischenstufe „clair-obscur" (verworren-klar, unbegrifflich, nichtdistinkt, jedoch „lebhaft") zu gelangen. Demnach bestimmt der Grad an „extensiver Klarheit" den Wertgrad eines Gedichts: Wert der Beschreibungen, Ansatz f. d. „malende Poesie". Die rein begrifflichen u. abstrakt begreifbaren, also „distinkten" Vorstellungen stiften i. d. Poesie eher Schaden als Nutzen (§14f.). Damit erfolgt eine Lockerung der rein rationalen Wertungskriterien. Die Oberbegriffe bedürfen nämlich jeweils der Veranschaulichung. In dieser Umsetzung liegt und bewährt sich eine große Kunst u. Kunstfertigkeit des Dichters (Med. § 58 u. Zusätze). Auf der anderen Seite sind die nur „dunklen" Vorstellungen auch nicht vorteilhaft, bleiben aber immerhin vorteilhafter als die „distinkten" Begriffe (das übersieht z. B. Brämer). Selbst i. d. „Aesthetica" (§ 80) gesteht Alex. Gottl. Baumgarten (wie u. a. A. Riemann nachweist) den „dunklen" Vorstellungen eine gewisse poetische Wirksamkeit zu. Method. werden die Gegenstände u. die Gestaltungswerte d. Poesie überprüft an den Baumgartenschen Kriterien: „sensitive Vorstellung" einerseits u. „extensive Klarheit" andererseits. Dabei bemüht sich B., im einzelnen abzustufen, um Härten in der Zuordnung zu vermeiden (schwach poetisch, poetisch, sehr poetisch). Manches von dem, was hier „poetisch" genannt wird, heißt dann in der „Aesthetica" verallgemeinernd „ästhetisch", dergestalt daß im „Poetischen" weitgehend das „Ästhetische" auch im Einzelfalle vorgebildet erscheint. Gleichzeitig werden Bezüge hergestellt zu LeibnizWolff. So werden z. B. „utopische" Erdichtungen abgewehrt, weil sie in allen möglichen Welten dennoch unmöglich bleiben. Dagegen werden „heterokosmische Erdichtungen" (figmenta heterocosmica) geduldet; vgl. Gottsched (mit Rücksicht auf d. Tierfabel); aber sie sind den in dieser Welt möglichen Erdichtungen (figmenta vera) nicht ebenbürtig. Dabei ergeben sich: Anschaubar32*

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keit (hohe Bewertung der Beschreibung), Abhebung von Poesie u. Malerei (Laokoon, vgl. Med. § 40), relative Geltung des Wunderbaren (Überkreuzung des Wunderbaren als Motiv mit dem Wunderlichen als Eindruckswirkung), Abwehr einer zu gegenstandsnahen Poesie (Parteinahme als Gefahr), zwiespältige Einstellung zur Mythologie, Ansatz zur Schöpfervorstellung (Medit. § 68 u. Zusätze), Ansatz zur Bewertung des Besonderen, Individuellen u. Konkreten. An Definitionen von dritter Seite werden v. A. G. Baumgarten überprüft die von Gottsched, Walch, Arnoldt u. a. Besonderen Dank bekundet er Daniel Heinrich Arnoldt u. dessen „Versuch einer systemat. Anleitung zur dt. Poesie überhaupt" (Königsberg 1732, 1741). Immerhin ist bei Arnoidts etwas umständlicher Definition des Gedichts (a. a. 0. § 4) die Einwirkung „in das Gemüt des Lesers" bemerkenswert (Einfluß Dubos'?). Entwicklungsgeschichtl. gehört D. H. Arnoldt in die Reihe Gottsched-Brämer. Dabei ist in Rechnung zu stellen die frühe Einsatzzeit unmittelbar nach Gottsched einerseits u. noch vor Brämer andererseits. Baumgartens „Meditationes . . . " boten einen gewissen eigenen deutschen Halt gegen den Einbruch Batteux', der im wesentlichen erst später erfolgte. Dieser Ersatz war recht eigentlich schon vorhanden, bevor jener Gegensatz sich entfalten konnte. Sowohl J. I. Pyra als auch Brämer nehmen um 1740 Bezug auf Baumgarten. Die sog. „Kritischen Versuche" von 1742 (6. Stück) in Greifswald bringen einen Auszug der „Meditationes . . . " in deutscher Sprache. Man übersetzt dort Baumgartens „Philosophia Poetica" als „philosophische Dichtkunst", wobei die innige Verbindung der Dichtkunst mit der Philosophie sogleich erkannt wird. Doch wird die „krit. Dichtkunst" (Gottsched, Breitinger) als überholt empfunden. Vorerst wird richtig übertragen: „Vollkommene, sinnliche Rede", noch nicht wie später schief: sinnlich vollkommene bzw. vollkommen sinnliche Rede, Durch diesen Auszug wird z. B. Breitinger mit Baumgarten bekannt. Als Vorspiel f. d. „Laokoon" sei vermerkt, daß schon Baumgarten der Poesie die Fähigkeit zuerkennt, eine „Bewegung fürstellen" zu können, und zwar in Abhebung von der Malerei. Die Greifswalder „Versuche" betonen die Verbesonderung in nachdrücklicher Anpassung an die „Muttersprache". Nicht zufällig kam jener „Versuch" heraus im größeren Rahmen eines „Kritischen Versuches

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zur Aufnahme der deutschen Sprache". D a ß die Poesie der Philosophie untergeordnet blieb, wie sie im Chr. Weiseschen Zeitalter der Rhetorik untergeordnet geblieben war, beweisen in jener Greifswalder Zeitschrift die „Unparteiischen Gedanken von dem Werte der Dichter" (1742). Dort steht die Poesie weit unter der Philosophie. Ergänzend sei erwähnt G. Fr. M e i e r : Verteidigung der Baumgartenschen Erklärung eines Gedichts (1746) mit ihrer Kampfstellung gegen Gottsched u. Th. Joh. Quistorp, der hinter Bacon von Verulam Deckung gesucht hatte, freilich ohne Brämers Geschicklichkeit aufzuweisen. G. Fr. Meier strebt wieder von der philos. zur angewandten Poetik hinüber, indem er bei A . G. Baumgarten die „geheimsten Kunstgriffe" u. alle wesentlichen „Regeln", zudem in einer systemat. Verknüpfung anzutreffen meint u. diese entsprechend anpreist. G. Fr. Meier ist allen Ernstes überzeugt, daß man „nach der Baumgartenschen Erklärung ein Gedicht verfertigen" könne. Quistorp hatte vereinfachend u. entsprechend vergröbernd gefragt, ob etwa dank dem neuen Kriterium der „Sinnlichkeit" am Ende „unser plattdeutscher Landsmann . . . Lauremberg" ohne weiteres Männer wie Opitz, Fleming, v. Canitz, Besser, Breitinger u. Albrecht v. Haller übertreffe; denn „er schreibt oftmals so sinnlich, daß man die Nase vor dem Dichter zuhalten m u ß " . Etwas ernster zu nehmen war in der Nachfolge A . G. Baumgartens der Poetiker M. C. Curtius: „ V o n dem Wesen der wahren Begriffe der Dichtk u n s t " (1753), wobei Curtius gar ein wenig in das auch sonst mannigfach bestellte Vorfeld J. J. Rousseaus hineingeriet. Alex. Gottlieb Baumgartens „Aesthetica" bringt u. bedeutet die systematisierte Lehre von dem sensitiven Erkenntnisvermögen. Diese „Aesthetica" ist trotz ihrer zwei Teile (1750 u. 1758) immer nur u. immer noch Fragment geblieben. An sich hatten schon die „Meditationes . . . " das Kenn- u. Merkwort Aesthetik gebracht (§ 116). Die Schaffung einer Logik des ästhetischen Sinnes (u. damit eben der sensitiven Vorstellungskraft) sollte ganz bewußt eine Lücke im System der Philsophie Chr. Wolfis ausfüllen helfen (Ansatz dazu bereits i. d. „Meditationes . . . " , § 115). A l s Entwicklungsvorstufen sind zu verzeichnen: Bilfinger (Bülfjnger) i. s. „Dilucitationes philosophicae de Deo, anima, humana mundo et generalibus rerum affectionibus" (1725, §268); J. J. Breitinger: „ V o n

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der Natur, den Absichten u. dem Gebrauche der Gleichnisse" (1740); dort gefaßt als eine Logik der „Einbildungskraft". Weiterhin Alex. Gottl. Baumgartens Zeitschrift „Philosophische Briefe von Aletheophilus"

Jg- I74iDer ästhetische Sinn wurde bei A . G. Baumgarten einerseits der Vernunft nahegerückt (ars analogie rationis; Aesthetica § 1), andererseits jedoch auf eine nur vernunftä h n l i c h e Schicht verlagert. Gewisse fortschritt. Elemente treten — von Riemann u. Bäumler beachtet — z. B. in der Abwehr der bloßen Abstraktion (§ 559) zutage. Im Bereich der Poetik indessen reicht das Kennwort „Auflockerer" auch für den „ V a t e r " der Ästhetik Baumgarten aus. Als Einzelwerte der „Aesthetica" seien hervorgehoben: die Betonung der Begabung (§28f.), die Würdigung der Begeisterung (impetus aestheticus, § 78f.), das Herausstellen des Erhabenen u. a. m. A n den Beispielen i. d. Aesthetica übte Kritik G. E. Lessing i. d. Vorrede zum „ L a o k o o n " , weil sie durchweg aus zweiter Hand (Joh. Math. Gesner, Neubearbeitung d. Rob. Stepanus, 15. u. 16. Jh.) herrührten. Gegenüber Robertson u. a. muß bei alledem die Position Baumgartens als des Begründers der Ästhetik verteidigt werden und damit ein unzweifelhaftes Verdienst der deutschen Kulturleistung, das nicht ernstlich gefährdet werden kann durch an sich zugestandene Einflüsse der italienischen Kunsttheorie. Mit Zustimmung A. G. Baumgartens durfte dessen Schüler Georg Friedr. Meier die der Baumgartenschen ,,Aesthetica" zugrundeliegenden Vorlesungen verwerten u. sie in deutscher Sprache vermitteln. Das geschah in Meiers „Anfangsgründen aller schönen Wissenschaften" (1748 u. 1750). Diese Übersetzung wurde zu einer Übertragung bes. dadurch, daß an Stelle der antiken Belege B.s nun bei M. Proben aus der zeitgenöss. Dichtung traten, so aus A . v . Haller, S. G. Lange, Gleim u. auch schon Klopstock. Hinsichtlich Klopstocks sei erwähnt G. Fr. Meiers „Beurteilung des Heldengedichts: der Messias". Eine teilweise Auswertung der Lehren Baumgartens ist zu beobachten auch in G. Fr. Meiers „Abbildung eines Kunstrichters" (1745). Es läßt sich ein lebhaftes liter. Anteilnehmen G. Fr. Meiers verfolgen, so etwa in seinem

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Bemühen um Wieland (anders bedingt als bei Schubart), in seinem Eingreifen in den Reim-Streit u. d. Theorie des „Scherzes" (vgl. Abschnitt: Rokoko). Hinsichtlich der Sprachtheorie entwicklungsgeschichtlich wesentlich (aber unterschätzt u. kaum beachtet) G. Fr. Meiers ,, Versuch einer allgemeinen Auslegungskunst" (1757), darin Verschmelzung von Poetik, Rhetorik u. Sprachphilosophie unter hermeneutischer Zielsetzung. G. Fr. M. ist sich bewußt, daß diese Wissenschaft „gewissermaßen noch neu ist". Aus dem Loslösungsversuch von Charles Batteux i. d. „Betrachtungen üb. d. ersten Grundsatz aller schönen Künste u. Wissenschaften" (1757) verdient Beachtung der Terminus „schöne sinnliche Erscheinung", und zwar u. a. im Vorausblicken auf Schillers Ästhetik. E r n s t B e r g m a n n : Die Begründung d. dt. Ästhetik d. Alex. Gottl. Baumgarten u. Georg Friedr. Meier (Anhang: G.F.Meiers Briefe), Lpz. 1911. — A l b e r t R i e m a n n : Die Aesthetik Alex. Gottl. Baumgartens u. bes. Berücksichtigung der Meditationes Philosophicae de Nonnullis ad Poema Pertinentibus nebst einer Übersetzung d. Schrift, Halle 1928, in: Bausteinez. Gesch. d. dt. Lit. X X I . — B e r n h a r d P o p p e : A. G. Baumgarten, s. Stellung u. Bedeutung i. d. Leibniz-Wolffischen Philosophie u. s. Beziehung z. Kant, nebst Veröffentl. einer bisher unbek. Handschrift d. Ästhetik Baumgartens (Kolleg-Nachschrift), Diss. Münster, gedr. Lpz. 1907. — H a n s G e o r g P e t e r s : Die Ästhetik A. G. Baumgartens u. ihre Beziehungen zum Ethischen, in: Neue dt. Forschung I, Bln. 1934 (teilw. Polemik geg. A. Baeumler). — C a r l K n ü f e r : Grundzüge einer Gesch. d. Begriffes Vorstellung von Wolff bis Kant, Halle 1911. — R u d o l f B o s c h : Die Problemstellung der Poetik, eine histor.-krit. Untersuchung üb. d. Methoden u. Grenzen wissenschaftl. Wertbestimmung, in: Beiträge zur Ästhetik X V I I I , Lpz. 1928 (über A. G. Baumgarten, S. 59—79). — Allg. vgl. J. K o l l e r : Entwurf z. Gesch. u. Liter, d. Ästhetik v. Baumgarten bis auf d. neueste Zeit, Regensburg 1799. — R. S o m m e r : Grundzüge einer Gesch. d. dt. Psychologie u. Ästhetik von Wolff-Baumgarten bis Kant-Schiller, Würzburg 1892. — H. L o t z e : Gesch. d. Ästhetik i. Deutschland, München u. Lpz. 1868. — K. H e i n r . v. S t e i n : Die Entstehung d. neuen Ästhetik, Stuttgart 1886. — H a n s G e o r g M e y e r : Leibniz u. Baumgarten als Begründer der dt. Ästhetik, Diss. Halle 1874 u. a. m.

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„Greifswalder Critische Versuche", Greifswald 1742, d. Übers.-Auszug findet sich a. a. O., S. 573—604 ohne Namen u. ohne Zeichen; G. Fr. Meier kommt als Verf., bzw. Übers, nicht in Betracht. — Diese „Critischen Versuche" enthalten an Beiträgen, die f. d. Poetik beachtenswert sind, weiterhin Rezensionen üb. d. „Breslauer Anleitung" (S. 314—334, vgl. Bd. I dieser Darstellung), über Gottscheds „Krit. Dichtkunst" (S. 413—456), über die Sammlung kritischer Schriften der Schweizer (S. 510 bis 514) u. die Abhandlung „Von dem Werte der Dichter" (S. 617—637). Die Bedeutung von G. Fr. Meiers „Auslegungskunst" im Rahmen der sog. „Zeichenlehre" übergeht sowohl E. J e n i s c h : Die Entfaltung des Subjektivismus v. d. Aufklärung zur Romantik, Königsberg 1929, in: Königsberger Dt. Forschungen VI, der an sich erfreulicherweise die Zeichenlehre einbezieht, und auch O s k a r W a l z e l : Grenzen von Poesie u. Unpoesie (1937), der, ohne E. Jenich zu kennen, sogar der Zeichenlehre einen Sonderabschnitt einräumt und der zwar Mendelssohn (a. a. O., S. 72) für 1758 anführt, n i c h t aber Meiers „Versuch einer Auslegungskunst" von 1757. Allg. wird vermißt eine Sonderuntersuchung üb. Baumgartens Einwirkung auf die Poetik des 18. Jh.s. S. 96.

J. E. Schlegel u. J. A. Schlegel: Mag auch im Gesamt ihre Bedeutung mit dem Merk- u. Kennwort „Auflockerer" hinreichend gewürdigt sein, so darf ihre Geltung im Gottschedischen Raum dennoch den ihnen blutsverwandten beiden Theoretikern der Romantik weitgehend gleichgesetzt werden. Und wenn Wieland-Eschenburgs Shakespeare-Übersetzung f. d. Aufklärung ein Ähnliches bedeutete wie die Schlegel-Tiecksche Übers, in der Romantik, so bedeutet die J. E. u. J. A. Schlegelsche Kunsttheorie f. diesen Entwicklungsausschnitt der AufklärungsKunsttheorie ein Ähnliches wie Fr. u. Aug. Wilh. Schlegels Kunsttheorie u. Literaturprogrammatik f. d. ältere Romantik. Eine Sonderarbeit über diesen Problemkreis wäre erwünscht, da die vorlieg. Gesamtdarstellung nur andeuten, nicht ausführen kann.

S. 96.

Joh. E l . S c h l e g e l s B e i t r ä g e . — Grundlegend immer noch J. E. Schlegels Aesthetische u. Dramaturgische Schriften i. d. DLD, Nr. 26 (1887) mit einer Vorbild, gründlichen E i n l e i t u n g von Joh. v. A n t o n i e w i c z . — T e x t

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der haupts. theor. Schriften sonst auch J. E. Schlegels Werke, hrsg. v. Joh. Heinr. Schlegel, Kopenhagen u. Leipzig, III. Teil (1764). H. B ü n e m a n n : Elias Schlegel u. Wieland als Bearbeiter antiker Tragödien, Lpz. 1928, bes. S. 12 f. Hermann Schonder: Joh. El. Schlegel als Übergangsgestalt, Diss. Berlin, gedr. Würzburg-Aumühle 1940 bes. d. Abschn.: Schlegels Beitrag zur Ästhetik, a. a. 0., S. 2—24. H. Schonder verwertet auch einige Privatbriefe Schl.s. In d. Materialverwertung brauchbarer als in der Tendenz, die eine Hinwendung z. „Irrationalismus" überbetont, ganz zu schweigen vom Problem der Rassenl e h r e " als Grundlage einer Ästhetik (S. 63/4). — H. M. W o l f f : Die Weltanschauung d. dt. Aufklärung (1949) ist mehr für die ethische Leistung als für die ästhetische interessiert. S. 98. N a c h a h m u n g s - A b h a n d l u n g . —Ausgabe Antoniewicz a. a. 0., S. 96ff., abgedr. aus d. Neuen Beyträgen zum Vergnügen d. Verstandes u. Witzes, S.Stück. 1745; danach erfolgen d. Zitate. Etwas vereinfachende Erläuterung bei H. Schonder a. a. 0. (1940). S. 99

N e b e n b e w u ß t s e i n d. Illusion (B.Brecht). — Es kann kaum einem Zweifel unterliegen, daß Bert. Brechts „Episches Theater", insbesondere seine Theorie vom Verfremdungseffekt, einen frühen Traditionsträger in J. E. Schlegel hinsichtlich der bewußten Brechung der Illusion aufzuweisen hat. Auch J. E. Schi, fordert das Bewußtbleiben der Illusion als Illusion. Auch für ihn soll der Zuschauer gleichsam krit. diskutierfähig bleiben. Und die reizvolle Uberschneidung von Nachahmung d. Natur u. Aufhebung dieses Bemühens durch das illusionbrechende Bewußtsein, immer doch nur eine Fiktion u. Illusion vor sich zu haben, wird begrüßt u. nicht verworfen. Gewiß geht Brecht seinen eigenen Weg, ohne sich des Wegbereiters J. E. Schi, bewußt zu sein. Auch ist dort nur angedeutet, was hier zum Prinzip erhoben worden ist. Es handelt sich bei J. E. Schi, um einen Ansatz, nicht um eine Vorwegnahme. Die Ähnlichkeitsthese J. E. Schlegels weicht sehr deutlich ab von der Brechtschen Konzeption, soweit es sich um das Verhältnis von Urbild u. Nachahmung handelt u. bes. um „idealisierende" Elemente.

506 S. 99.

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T e r m i n u s „ V e r g n ü g e n " . — H. M. W o l f f : Weltanschauung d. dt. Aufkl. (1949) behandelt auch J. E. Schi, in seinem hauptsächl. f. d. Poetik in Betracht kommenden Kap. 7: „Fortbildung d. Wölfischen Intellektualismus; Problem des Vergnügens"; indessen geschieht das so, daß er die Ähnlichkeitstheorie unterschätzt u. d. Umklammertsein durch das System Chr. Wolfis überbetont. So „gering" ist nämlich der „Unterschied von Gottsched" denn doch nicht.

S. 101. M e t r i s c h e F o r m u n g s f r a g e n . — V g l . A n d r e a s H e u s l e r s Dt. Versgeschichte, passim. — H. S c h o n d e r : J. E. Schlegel (1940) S. 8—10 u. Anmerkg. dazu S. 59/60. S. 102. F o r m u l i e r e n d e C h a r a k t e r i s t i k . — Es soll darunter verstanden werden die bewußte Aussage über den Charakter einer Dramen-Gestalt seitens anderer DramenGestalten. Diese „formulierende Charakteristik" ist abzuheben von der „ g e s t a l t e n d e n C h a r a k t e r i s t i k " , die durch Handlungen, Verhalten oder (gemäß d. zeitl. u. räuml. Konzentration d. Dramas) durch rückgreifende, episch vermittelte, anschauliche Kurzberichte (bes. d. charakterisierende Episoden aus der Vorfabel) erfolgt. Bezeichnungen wie „direkte" u. „indirekte" Charakteristik wirken nicht allein vulgär, sondern auch leicht irreführend, weil im Drama nichts „direkter" (vom Kunstschaffen her gesehen) sein und wirken kann, als das Handlungsmäßige. J. E. Schlegels Bevorzugung aufklärerischer „Verständlichkeit" u. d. klar ausgesprochenen Meinens und Wertens führt ganz folgerichtig zu einer relativ hohen Bewertung der formulierenden Charakteristik, bes. auch der „motiviert formulierenden Charakteristik" (Befragen der Personen untereinander über den Charakter Dritter usw.). Diese wertvollere „motivierte formulierende Charakteristik" wall dabei freilich unterschieden werden von der nur der Verständniserleichterung dienenden, merklich vom Dichter erzwungenen, an sich jedoch „unmotivierten formulierenden Charakteristik". — T r o t z der Unsicherheit J. E. Schlegels in der Bewertung geht es nicht an, wie H. B ü n e m a n n : Schi. u. Wieland (1928) nun auch die eigene, relativ originale Charaktergestaltung Schlegels ganz auf das Formelhaft-Überkommene zurückzuführen. H. Bünemann, der es themagemäß zwar nicht mit den Hauptdramen zu tun hat, verweist Schi, zu sehr in eine bloße Abhängigkeit von der zeitgenöss., bes. d. franz.

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Poetik u. Dramaturgie. H. Bünemann unterschätzt Schi., den er recht schematisch als „gefühllosen" Rationalisten abtun zu dürfen glaubt; eine Unterschätzung, von der auch H. M. W o l f f (1949) nicht völlig frei ist. S. 102. H i s t o r i s c h e r S i n n . — Z u m mindesten in bescheidenen Ansätzen nachweisbar, wenngleich nicht in dem Grade wie bei Th. Abbt oder J. Moser. Im Entwicklungsvorraum Herders jedenfalls bemerkenswert in Teilabwehr des vermeintlich so gänzlich „unhistor." u. „geschichtslosen" Typus des von der früheren Lit.-Wiss. allzu sehr normierten „Aufklärers" (zugunsten einer wirksamen Gegenüberstellung mit dem Sturm u. Drang). Im Bemühen um ein Gegengewichtschaffen übertreibt G. L u k ä c s zwar seinerseits nun wiederum etwas zugunsten des „histor. Sinnes" d. Aufklärung (in: Fortschritt u. Reaktion i. d. dt. Lit., Bln. 1950, S. 23, Montesquieu, Voltaire, Gibbon u. a.). S. 102. D i c h t u n g u. D a t e n t r e u e . — In „Demokritus, ein Todtengespräche" (1741) verwirft Schi, hinsichtlich der histor. Gestalten eine willkürliche ungeschichtliche Veränderung der „Hauptumstände" bei einem Charakter, der „in den Geschichten ( = Historie) bekannt" sei, eine Kritik, die im Vorausblicken auf G. E. Lessing bemerkenswert erscheint; vgl. auch im 19. Jh. Joh. H e i n r i c h Riehl. S. 103. K o m b i n i e r e n d e P h a n t a s i e . — Bei Chr. Wolff sind selbst schon gewisse Ansätze gegeben, das „Neu"-Zusammensetzen nach dem „Zerteilen" des Vorgestellten nicht nur, sondern auch des „Empfundenen" zur Geltung zu bringen, wobei allerdings der Terminus „Empfindung" i. d. Bedeutung schwankt zwischen „Gefühl" u. „Vorstellung" (Eindruck). Aber ein willkürliches u. freies phantasiemäßiges Kombinieren (Gestalten wie etwa die Engel od. auch d. Melusine) gilt noch als minderwertig. Vielmehr müssen die neu entstandenen Bilder immer folgerichtig sein gemäß dem Satz vom zureichenden Grunde, was an Gottscheds „hypothetische" Wahrscheinlichkeit betreffs der redenden und menschlich sich verhaltenden u. handelnden Tiere i. d. Tierfabel denken läßt. Es überwiegt eben doch die Vorstellung eines bloßen Kombinierens nach logischen Gesetzen bei Zugabe gewisser Lizenzen in den Prämissen; vgl. auch S. B i n g : Die Naturnachahmungstheorie . . . (1934), S. 78.

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S. 103. D a s K n u t d r a m a . — J . Moser nennt mit Bezug auf das Drama „Canut" J. E. Schi, einen „deutschen Racine"; er deutet damit zugleich an, daß Schi, trotz gewisser Teilerkenntnisse i. s. Dramentheorie (national bedingte Dramenform) demgegenüber in seiner Dramenpraxis noch merklich den Franzosen nacheifert. (Germ. Dramenform im Verhältnis zur romanischen Dramenform.) Dieser Hinweis erfolgt i. Justus Mosers f. d. Hanswurstfrage wichtigen ,.Harlekin"-Abhandlung von 1761. — H. M. W o l f f a. a. O. (1949), S. 168 deutet den „Canut" vom Moralischen her u. lehnt daher ein Sympathisieren J. E. Schlegels mit der Ulfo-Gestalt rundweg ab. Gewiß mußte Schi, vom aufklärerischen Erziehungsoptimismus her Ulfos Unerziehbarkeit (etwa durch den Vertrauensappell Knuts) verwerfen. Es fragt sich nur, ob hier nicht eine dem tragischen Skeptizismus angenäherte Spielform als ein zum mindesten betont „kritischer Erziehungsoptimismus" vorliegt u. auch von Schi, absichtlich zum Ausdruck gebracht worden ist. Streckenweise u. in Ansätzen nähert sich dabei Schi, auf einer entwicklungsgeschichtlich interessanten Frühstufe dem Thesen-Drama, in dem eine These teils demonstriert wird am Schicksal der handelnden Personen, teils formuliert wird durch den Mund einiger Thesenträger. Anders als später bei J. M. R. Lenz, wo gleichsam schon eine Arbeitsteilung eingetreten ist (These: an Zentralgestalten demonstriert, durch Nebenpersonen formuliert), tragen hier die Zentralgestalten noch die Hauptlast sowohl der an ihnen demonstrierten als auch der durch sie formulierten These (maßloses Geltungsstreben führt ins Verhängnis). Erziehungsskeptizismus galt eben f. d. Aufklärung letztlich als tragisch u. konnte also in einer Tragödie in Erscheinung treten, ebenso wie die Diskrepanz von Kausalität u. Moralität. S. 107. S i e b z e h n t e s Jh. — Ergänzend sei verwiesen auf Schlegels R e z e n s i o n üb. Joh. K l a j s (1616—56) „ H e r o d e s " , die im 27. Stück d. „Beiträge zur Kritischen Historie . . ." (1741) erschienen war u. d. abgedruckt worden ist i. d. DLD. Nr. 26, S. 61 ff. Dabei geht Schi. u. a. auf die Klangmalerei ein, an der die Nürnberger Arbeitsweise leicht zu erkennen sei. Gemäß seiner aufklär. Einstellung tut Schi, den „Herodes" als lächerlich ab, vgl. darüber Wolfg. Kayser: Die Klangmalerei b. Harsdörffer, in: Palaestrai79 (1932), S. 279 u. Anmerkg. — Für Schlegels „Herodes"-

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Rez. ist kennzeichnend das Abmessen der dramatischen Leistung bzw. Fehlleistung an der Dramentheorie, wobei gegen Harsdörffers wohlwollende Beurteilung des „Herodes" (den Klaj durchgängig aus Heinsius übers, hatte) Stellung genommen wird unter positivem Verweisen auf den theor. Gewährsmann Hidelin d'Aubignac (u. selbst noch auf Heinsius). Eine zudem im Wirkungswert angezweifelte Charakteristik der Redeweise der handelnden Personen durch Wechsel des Metrums verwirft der Rezensent Schi, offensichtlich um der vom Frühklassizismus angestrebten Stileinheit willen. Für die kunsttheor. Terminologie sei hinsichtlich der theatralischen Dramaturgie im Unterschied zur literarischen Dramaturgie wie besonders hinsichtl. des Begriffes des „Theatralischen" (trotz R. P e t s c h : Das Wesen u. die Formen des Dramas, Allg. Dramaturgie, Halle 1945, der das „Theatralische" nur recht oberflächlich auffaßt, auch heute noch ungeklärt) angemerkt die Schlegelsche Bezeichnung „theatralischer Poet" (für: Dramatiker), vgl. Gellerts angesichts des Primats der Stilgerechtigkeit d. Schäferspiele als Entschuldigung (nicht als Zielsetzung) gedachte und gebrauchte Benennung „theatralisches Landgedicht" (für d. Sonderform einer realistischer gefärbten Dialog-Idylle), Schillers „theatralischer Roman" usw. S. 108. K o m ö d i e o d e r L u s t s p i e l . — M a r y B e a r e : Die Theorie d. Komödie von Gottsched bis Jean Paul, Diss. Bonn o. J. (1928), S. 31 stützt sich im wesentlichen auf H. Hettners Literaturgeschichte d. Aufklärungszeit III, 1, wenn sie etwas überschätzend u. nicht recht klar bemerkt: „Wir spüren hier schon Ansätze der Schillerschen, ja sogar der romantischen (?) idealistischen Richtung d. Kunst." Hat die „Romantik" denn stärker „idealisiert" als die „Klassik" ? Oder ist gar der transzendentale „Idealismus" Schellings in die Vorstellung vom „Idealisieren" hineingeraten? Philosophie und Poesie dürfen nicht einfach gleichgestellt werden in diesem Betracht. Verwirrend wirkt weiterhin die Bezeichnung „Charakterkomödie" für jene (vor Lessings „Minna" liegenden) vorwiegend französierenden Lustspielformen, die mit Vorliebe zu bloßen Norm-Gestalten griffen, ja sich teilweise noch mit bloßen Personifikationen von Einzel-Eigenschaften begnügten (als Frühformen auch bei J. E. Schi. „Der Geheimnisvolle", „Der geschäfftige Müßiggänger"). Dabei

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wurde das vermeintlich „Typische" verfrüht und also verbildet als bloße „Norm" dargeboten. Selbst Schlegels „Triumph . . . " hat mit diesen Schwächen zu rechnen und zu ringen u. bringt erst Ansätze zur Charakterkomödie (Vorstufe z. Lessings „Minna"). Dagegen ist der Versuch eines „gemischten", in sich gebrochenen u. mehrschichtigen Charakters im Ulfo des „Canut"-Dramas (Vorstufe: der Flavius i. Schlegels Frühwerk „Hermann") entwicklungsgeschichtlich recht bemerkenswert. Diese Bedeutung wird nun auch von H. Schonder a. a. 0., S. 34 erfreulich hervorgehoben. Dagegen überzeugt bei Schonder nicht völlig die Zurückführung der Norm-Figuren auf die Ähnlichkeits- bzw. Unähnlichkeits- (oder Ungleichheits-)Theorie, wonach nur in den Hauptzügen Ähnlichkeit (bzw. Naturgleichheit) zu bestehen brauchte (H. Schonder, a.a.O., S.6). Denn dieselbe normierende „Typisierung", die nur sehr bedingt als eine primitive Vorstufe des Typushaften der Klassik im Räume des Gottschedischen Frühklassizismus gelten kann, trifft man etwa bei Uhlichs „Unempfindlichen" wie überhaupt i. d. satirischen Verlach-Komödie der frühen Aufklärung. Die Theorie könnte also nur eine nachträgliche Rechtfertigung darstellen. Sie zielt aber über das von H. Schonder an sich richtig Erkannte hinaus auf die kritisch-ästhetische Illusions-Brechung unter absichtlicher Bewußthaltung des betrachtenden und besonnen beurteilenden Abstandes (Richtung B. Brecht). S. 109. Joh. A d o l f S c h l e g e l s B e i t r ä g e . — H. B i e b e r : J. A. Schi, poetische Theorien, in: Palaestra Nr. 114, 1912. — A. T u m a r k i n : Die Uberwindung der Mimesislehre i. d. Kunsttheorie d. 18. Jh.s, in: Singer-Festschrift, Tübingen 1930, S. 40—55. — B. R o s e n t h a l : Der Geniebegriff des Aufklärungszeitalters, Bln. 1933, berührt J.A.Schlegel nur kurz (S. 54/5) im einleitenden geschichtl. Uberblick. — W. B r ä u e r : Geschichte des Prosabegriffes v.Gottsched bis z. Jg. Deutschi. (1938) geht bes. auf die BatteuxUbers. ein u. ihre Anmerkg., a . a . O . , S. 21 f., berücksichtigt ihn aber auch weiterhin. S. i n . A u s d r u c k ( A u s d r u c k s l e h r e ) . — In ihrer Abhandlung: Die Überwindung der Mimesislehre i. d. Kunsttheor. d. 18. Jh.s, zur Vorgeschichte (?) der Romantik (SingerFestschrift, s. o.) hebt A. T u m a r k i n die Bedeutung Joh. Adolfs Schlegels für die Ansätze zu einer Überwindung

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der Mimesislehre (Naturnachahmungstheorie) nachdrücklich hervor u. bringt dort auch die entscheidende Belegstelle f. d. Ansatz zur Ausdruckslehre, der freilich ein wenig überschätzt sein dürfte. Danach ist 0. W a l z e l : Grenzen von Poesie u. Unpoesie, Frankf. a. M. 1937 (S. 68, einzige Erwähnung J. A. Schlegels) entsprechend zu berichtigen. 0. Walzeis Interesse ist nur sehr unzulänglich auf die Vorleistungen der Aufklärung gerichtet (bloße gelegentliche Rückgriffe). Betr. des Zusatztitels bei A. Tumarkin sei erinnert an R. U n g e r s Zusatztitel zu seinem Hamann-Werk, der späterhin auch widerrufen werden mußte (hins. Hamanns Einwirkung auf die Romantik); wenn schon Hinweis auf die Romantik, dann bei Herders Sprachtheorie jenseits der Preisschrift „Über d. Ursprung d. Sprache"; vgl. die Herder-Arbeit d. Verf.s üb. d. „Kritischen Wälder" (1925). S. 114. R o m a n t h e o r i e . — Für J. A. Schlegel vertritt der Roman weniger die „Poesie des Ausdrucks" als vielmehr die „Poesie der Sachen"; bemerkenswert ist gerade für die Aufklärung die Verteidigung d. Satire als „poetisch". Die komischen Gattungen u. Gedichtarten (kom. Romanze, komisch. Heldengedicht, komisch. Vers-Erzählung, komisch. Roman) gewannen, gemäß der krit. Grundhaltung d. Aufklärung, überhaupt merklich an Geltung, und zwar auch in d. Kunsttheorie, ganz abgesehen von der werkimmanenten Poetik bei Liscow, Rabener, Kästner, M. v. Thümmel, Wieland u. a. — Hervorzuheben ist J. A. Schlegels Abwehr einer Diskreditierung des „Romanhaften" (noch in J. G. Sulzers großem kunsttheor. Lexikon nachweisbar). S. 116. J. Th. Hermes. H e r m e s R o m a n t h e o r i e . — Sie findet noch keine Berücksichtigung bei G r e l l m a n n im Reallex.Artikel: Roman (Theorie) u. ist auch deshalb hier einbezogen worden. S. 119. C. F. Brämer. C. F. B r ä m e r s A b h e b u n g v o n P o e s i e u. P r o s a . — Sie findet keine Berücksichtigung in an sich einschlägigen Arbeiten wie der 0. W a l z e i s (Poesie u. Unpoesie, 1937) oder der sonst recht gründlichen Sonderuntersuchung v. W. B r a u e r (Gesch. d. Prosabegriffes 1938). Überhaupt scheint Brämer (unverdient) in Vergessenheit geraten zu sein. Daher ist das nähere Eingehen berechtigt u. a. auch wegen der Stellungnahme zum „Laokoon"

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Lessings. Seine Sonderstellung neben Gottsched u.d.Schweizern ist auch entwicklungsgeschichtl. bemerkenswert. — An sich hatte unmittelbar nach dem Erscheinen d.Brämerschen Poetik J. I. Pyra i. d. „Fortsetzung des Erweises . . . " (1744), II. Stck. Anhang (S. 110) in einem Postskriptum sofort krit. Stellung genommen zu dem „wahren Begriff von der Dichtung", den „Herr Brämer in Danzig" i. s. Poetik verheißen, aber verfehlt habe auf Grund falscher Prämissen u. unzulänglicher Kenntnis v. Baumgartens „Meditationes". Die Problematik von Poesie u. Prosa wird als müßig abgetan. S. 120. D i e B e w e r t u n g der T i e r f a b e l . — Brämer hebt also vor Geliert den volkserzieherischen Wert der Tierfabel frühzeitig hervor trotz seiner rein kunstth. Bedenken gegen Gottsched u. Breitinger. S. 121. K r i t i s c h e Ü b e r s c h a u . — Gewisse Ansätze zu einer Skizze d. Poetik, wenngleich unter bestimm. Gesichtspunkt sind Brämer zuzuerkennen. S. 122. V o r s p i e l f. d. „ L a o k o o n " . — Die „Laokoon"-Sonderforschung vernachlässigt Brämers Vorarbeit z. T. völlig oder berücksichtigt sie doch nur recht unzulänglich. Auch Verf. macht darin keine Ausnahme in seiner HerderArbeit von 1925. Gebotene Einschränkungen sind im darstellenden Text selber erfolgt. S. 125. N ü c h t e r n e Gesamthaltung Brämers (Regelg l a u b e ) . — Bereits i. d. Vorrede d. „Gründl. Untersuchung . . . " (1744) wird klargestellt, daß das Mittel der „philologischen Wissenschaften", die „uns lehren sollen, Vernunft u. Tugend unter den Menschen durch die Sprache fortzupflanzen" notwendig „untüchtig" bleiben müssen, solange die R e g e l n noch mangelhaft u. ungewiß sind". Ohne Regelkenntnis tappen wir nach Brämer hilflos im Dunklen u. vermögen also weder Darstellungsabsicht noch „Sicherheit" zu erreichen. Im „kritischen" Zeitalter d. Aufklärung bes. bemerkenswert erscheint die i. d. Vorrede ausgesprochene Überzeugung, daß auch eine liter. Kritik ohne Regeln sinnlos bleiben müsse; denn die Kritik sollte doch „alle Arten von Schriften nach den Regeln beurteilen". Daher kommt es für jeden, der „vernünftig critisiren" soll und will, vorab darauf an, „ausgemachte u. gründlich bewiesene Regeln"

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zur Verfügung zu haben. Die sehr häufig u. zudem betont verwendeten Attribute „vernünftig" u. „gründlich" kennzeichnen zugleich die aufklärerische Grundeinstellung. Trotzdem ist es für eine Geschichte der Poetik nicht unerheblich, wenn ein Poetiker so relativ frühzeitig den entscheidenden Rückhalt der liter. Kritik in den Regeln u. Gesetzen d. Poetik sucht. Der Primat der Kritik führt folgerichtig zu einer Rangerhöhung der Poetik, die erst die Voraussetzungen für eine verläßliche Kritik zu schaffen hat. In diesem Zusammenhange jedenfalls bedeutet „kritisch" für Brämer wirklich die liter. Kritik betreffend u. nicht wie sonst häufig im Gottschedraum „philosophisch". S. 125. E r g ä n z u n g zu B r ä m e r : Abhebung von Poesie u. Prosa. K. Borinski: „Die Poetik d. Renaissance" (1886, S. 383) bringt die Auffassung: „ E r bekämpft die Definition . . . der Erdichtung i. g e b u n d e n e r R e d e (nach seiner Ansicht „Aristotelischer Begriff"), . . . " Das erweist sich bei näherer Nachprüfung als eine fehlgehende Auslegung Brämers, um so mehr als Borinski das Attribut „gebundene" sperrt. Brämer hebt vielmehr schon im histor. Teil seiner Poetik nachdrücklich hervor: „Wer siehet nicht vielmehr, daß er (Aristoteles) die Verse in der That vor was zufälliges, obgleich gewöhnliches bey einem Gedichte halte?" (S. 34), vgl. auch: „so ist klar, daß er (Aristoteles) das Beständige u. Wesentliche einer Poesie in die Nachahmung setze" (Brämer, S. 19, vgl. auch S. 23, 24, 31/32 u. ä.). Als das Wesentliche gilt nach Brämers Aristotelesdeutung die Nachahmung als eine „wahrscheinliche Erdichtung" (S. 23). Im dogmatischen Teil, u. zwar im entscheidenden Schlußkapitel stellt Br. noch einmal den Aristotelischen Begriff in seinem Sinne klar: „Wir haben oben alles zum Aristotelischen Begriffe gerechnet, was wahrscheinliche Erdichtungen zur Poesie erfordert" mit der ausdrücklichen Betonung „und wir haben auf den übrigen Unterschied, den man noch dabey antrift, nicht gesehen" (Brämer S. 270). Und „Nach dem Aristoteles selbst ist eine Poesie eine wahrscheinliche Fabel, die angenehm u. erbaulich ist"; also auch das „Zufällige" der Versform wird nicht mehr einbezogen. Es scheint bei Borinski geradezu eine Verwechslung vorzuliegen. Denn er schreibt „Unterhaltung durch wahrscheinliche Nachahmung (Horazisch-Boileauscher Be33 M a r k w a r d t , Poetik II

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griff)" der Brämerschen Horazlinie zu. Für Brämer ist aber gerade der Horazische Begriff mit dem falschen Wesensattribut des Verses, also der „gebundenen Rede" belastet. Da Br. nicht zum wenigsten das Kriterium der gebundenen Rede ausmerzen will, so erforderte dieses Mißverständnis Borinskis eine eingehendere Darstellung; denn es betrifft eine der Kern- u. Leitideen Brämers. S. 138. Justus Moser. — Die Belegstellen beziehen sich noch auf die Ausgabe „Justus Mosers Sämtliche Werke, neu geordnet u. a. d. Nachlasse desselben gemehrt durch B. R. Abeken", 10 Tie. Berlin 1842/43; dort in Bd. 10 die M.-Biographie v. Fr. Nicolai. Die umfassend angelegte, auf 14 Bde. berechnete hist.-krit. Ausgabe „J. Mosers Sämtliche Werke", hrsg. v. d. Akademie d. Wiss. zu G ö t t i n g e n , Oldenburg u. Berlin 1943ff., ist bislang nur mit 3 Bdn. (1, 4, 5) verfügbar. Für eine erste Orientierung ist gedacht d. v. Curt Loehning besorgte u. eingeleitete Auswahl „Advocatus patriae J. Moser" (Schriften), Berlin 1948 (= D. klass. Reihe). Peter Klassen: J. Moser, Frankfurt a. M. 1936 ( = Studien z. Gesch. d. Staats- u. Nationalgedankens II); dort weitere M.-Literatur (S. 444—47), darunter die Sonderforschungen von Möbius (Pädagogik) u. Schierbaum (M.s Stellung i. d. Literaturströmungen), beide 1909, L. R u p p r e c h t 1892 (soz. Anschauungen) u. a. — Günther W e y d t : Friedrich d. Gr. u. Moser, Zum Problem einer nat. Kultur, Brüssel 1944 (zeitgebunden: Veröff. d. Dt. Inst. Brüssel, Kl. Schriften III). — Heinrich Simon (Hrsg.): Über die dt. Lit. von Friedrich d. Gr.; übers, u. m. J. Mosers Gegenschrift hrsg. Leipzig 1886 (= Reclams UB 2211). S. 138. F. K. v. Möser-Rezension. — Möser-Ausgabe (Abeken) Bd. 9 S. 240—43; Mosers Rez. e. Gegenschrift Bülows, a. a. 0., S. 243—49. S. 138. „Arminius", Vorrede. — J. M. wägt dort (AbekenAusg. Bd. 9 S. 201/02) Vorteil u. Nachteil e. Verwendg. v. Heldengestalten a. d. Antike ab, wobei der Vorteil u. a. i. d. Aufhöhung z. Wesentlichen u. Würdigen (durch den Zeitabstand erleichtert) läge, d. Nachteil aber in dem geringen Vertrautsein d. Aufnehmenden m. d. tatsächl. kulturhist. Verhältnissen. Die Relativität d. hist. Wahrheit i. Wirkungsreflex d. Bühne wird noch recht kritisch betont.

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S. 138. A u f k l ä r e r . H e m m k r ä f t e . — C. L o e h n i n g a. a. 0., Einleitung S. 13 u. a. versucht durch Unterscheidung v. vernünftig und „vernünftierisch" M. abzuheben v. d. Aufklärung i. engeren Sinne, berücksichtigt aber andererseits die enge freundschaftl. Beziehung zu dem „Berliner Rationalisten Nicolai" (über die Beziehungen z. Kunst wird i. dieser vorwiegend Journalist. Skizze nur wenig ausgesagt: S. 30/31). — Merklich aufklären wirkt z . B . der Nachdruck, mit dem die Belehrung als Wirkungsziel d. Erzählung, u. zwar auch der i. gesell. Kreise vermittelten, betont wird: „Eine Erzählung, wie es viele gibt", dort i. Rahmenbemerkung (Abeken-Ausg. Bd. 3 S. 152—56). S. 139. „ H a r l e k i n " . — M.-Ausg. (Abeken) Bd. 9 S. 63—104 (m. Nachspiel). Es sei zurückverwiesen auf Joh. Christian Krüger (1723—50), Verf. v. standessatir. Lustspielen, der i. Vorwort zu seiner Marivaux-Übertragung (1747 u. 49) nicht nur den Dreiakter (gegen Gottscheds Forderung d. Fünfakters) befürwortet, sondern auch die schroffe Abwehr des Harlekins als unberechtigt bekämpft u. also vor Lessing u. Moser i. gewissem Grade eine Rettung d. Harlekins vorgenommen hatte. Es darf i. diesem Zshg. daran erinnert werden, daß sich M. andernorts mehrfach auf Marivaux (wie übrigens auch auf St. Evremont, Montaigne) bezieht. Eine unmittelbare Beeinflussung soll damit nicht behauptet werden. — Eine tendenziöse Deutung erfährt bzw. erleidet die Schrift Mosers durch P. K l a s s e n : Justus Moser 1936, S. 91—114, gemäß dem Tenor der betreff. Kapitelüberschrift „Altertümer u. volkhafte (!) Gegenwart". Doch weist P. Klassen (S. 113) auf Übersetzungen ins Englische (mit Widmung an Garrick), Französische u. Dänische hin, freilich gestützt auf die M.-Ausgabe (Abeken) IX, S. 63 Anmerkung. S. 145. „ P a t r i o t . P h a n t a s i e n " . — Man darf sich weder durch den Gesamttitel, den nicht M., sondern seine Tochter, Frau v. Voigts, gewählt hatte, irreführen lassen noch durch die einzelnen Untertitel, die mehr als kostprobenhafte Stichworte für die einzelnen polit. u. kulturpolit. Plaudereien gemeint waren. So hat z. B. die Plauderei „Der hohe Stil der Kunst unter den Deutschen" (AkademieAusg. Bd. 4 S. 263t.), die über das Faustrecht handelt und es „als ein Kunstwerk d. höchsten Stils" bezeichnet, mit „Kunst" im Sinne der Ästhetik kaum etwas zu tun, wenn auch einmal in Vergleichsbildform ein „flämische? 33

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Stilleben" herangezogen oder Homers Darstellungsfähigkeit beiläufig berührt wird. Umgekehrt werden künstler. u. selbst kunsttheoret. Fragen erörtert od. zum mindesten gestreift i. Abschnitten, deren Zwischentitel es nicht vermuten lassen. S. 146. V o r b e r e i t u n g des G e n i e b e g r i f f e s . — P a t r i o t . Phantasien I S. i i 4 f . — I n Unterscheidg. v. Thomas Abbt werden M.s Beiträge z. Vorbereitung d. Geniebegriffs ein wenig überschätzt v. B. R o s e n t h a l : Der Geniebegriff des Aufklärungszeitalters ( = German. Studien 138), Berlin 1933, S. 137 u. 143. S. 149. K u l t u r p a t r i o t i s c h e Z i e l s e t z u n g e n . — Hinsichtlich der Schrift Friedrichs II. verweist man selbst in Schweden bei aller betonten Wertschätzung den Preußenkönig auf seine deutsche Muttersprache (Rez. i. d. „Stockholms Posten"); näheres bei L e o p o l d M a g o n : Eine unbeachtete Fern Wirkung von Friedrichs des Großen „De la litterature allemande", in: Aug. Sauer-Festschrift, Stuttgart 1925, S. 181—201. — Mosers Gegenschrift gerät in eine entsprechend schiefe Sicht bei P. K l a s s e n a. a. O (1936) S. 175—78, wobei die erwähnte Tendenz bes. S. 178 nackt zutage tritt. S. 149. E r g ä n z u n g . — Aus der Wochenschrift „Die deutsche Zuschauerin" (1747, 15. Stück), also aus d. Frühzeit M.s, ist im Gespräch „Der heutige Geschmack", AkademieAusg. Bd. I (1944), der die Wochenschriften enthält (bearb. v. W. K o h l s c h m i d t ) , S. 348—51 der Ausdruck „neue Sittengemälde" (S. 349) erwähnenswert im Vorausblicken auf Gerstenbergs „Bilder der sittlichen Natur" u. in gewiss. Grade auch auf Lenz' Prägung „Maler der menschlichen Gesellschaft" (i. „Pandämonium"), wenngleich die Bezeichnung beim frühen Moser mehr krit. belichtet u. zudem schon landläufig erscheint. — Hinsichtlich des Verhältnisses u. z. d. Wellenlinie Hogarths sei vermerkt die Skizze „Die Hogarthische Linie der Schönheit sollte noch weiter angewandt werden" (i. d. „Patriot. Phantasien" II). Dort fordert M., man müsse gegenüber der Naturnachahmung als Nachahmung der schönen Natur (Batteux) zunächst einmal die Vorfrage aufwerfen und zu beantworten versuchen, nach welchen Gesetzen denn nun die schöne Natur selber verfahre u. sich richte, ob ihrerseits ebenfalls nach der schönen Wellenlinie Hogarths;

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zugleich wird der Einheitsbegriff betont, Akad.-Ausg. Bd. V (1945) S. 230—32. — Auf die weltanschauliche Seite (Verteidigung Luthers gegen Voltaire; Anti-Candide, Ausspielen Voltaires gegen Rousseau im Schreiben an den Savoyardischen Vikar usw.) kann hier nicht eingegangen werden. Dagegen sei M.s Interesse für den Minnesang verzeichnet: „Ein westphälisches Minnelied", i. d. „Patriot. Phantasien" III, M.-Ausgabe (Abeken) III S. 234—240. Exkurs: G. Sulzer S. 149. Johann Georg Sulzers „ A l l g e m e i n e T h e o r i e der s c h ö n e n K ü n s t e " (1771 u. 1774) wurde von Frhr. v. Blankenburg mit „ L i t e r a r i s c h e n Z u s ä t z e n " versehen (1796—98) u. darüber hinaus noch durch sog. „ N a c h t r ä g e " vermehrt. Schon dieser weitgespannte Zeitraum macht es weniger verwunderlich oder bewundernswert (als es manchen Sonderforschungen erscheint), wenn neben aufklärerischen auch geniezeitgemäße und nicht zum wenigsten vorklassische Anschauungen in den mit reichen Lit.-Angaben versehenen Artikeln des berühmten kunsttheor. Lexikons zur Geltung kommen. Aber es ist zuzugestehen, daß G. Sulzers Beiträge auch jenseits und vor dieser „Allg. Theorie" teilweise über den Sturm und Drang hinweg und auf die Klassik vorausweisen, obwohl dieser Zugang zum Kunstwollen der Klassik nur recht schmal bleibt. G. Sulzer verfaßt etwa zur Zeit des I. Teils von Baumgartens „Aesthetica" eine Abhandlung psycholog. Art über die „Empfindungslehre" (1751/52), wobei er in Auseinandersetzung mit Descartes und Wolff zu einer Höherbewertung der „Empfindung" gelangt. Seine „Untersuchung des Genies" (franz. Fassung 1757, deutsche 1762) gibt sich nicht mehr zufrieden mit der „vivida vis animi" des Lucrez (wie d. jg. Nicolai) ; trotzdem sieht S. in dem Genie eine bloße Kombination von Teilkräften: Witz, Urteilskraft, Ordnungssinn, bzw. „Fassung" (contenance). Fast noch behutsamer wirkt der Artikel: „Genie" im Rahmen der „Allg. Theorie", obwohl von Originalität und Gefühl die Rede ist. Die geniezeitgemäße Ehrfurcht weicht merklich einem psychologischen Ergründenwollen (insgesamt : Standort der Auflockerer). Der Geschmack gilt als Regulativ für das Genie, fast wie bei Charles Batteux („le goût, qui le guide"). Dieser Artikel hält weniger, als jene Abhandlung von 1757 bzw. 1762 zu versprechen schien, weil

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offenbar inzwischen der Geniekultus abschreckend gewirkt hat und zu Einschränkungen zwingt. Abhandlungen G. Sulzers wie die „Anmerkungen über den verschiedenen Zustand . . ." (1763) oder „Von der Kraft (Energie) in den Werken der schönen Künste" (1765), diese letzte von der Sulzer-Forschung bisher kaum hinreichend ausgewertet (aber auch in meiner früheren Herderarbeit noch unterschätzt), bestätigen den Gesamteindruck, daß S. an sich (M. Mendelssohn benachbart) von der Psychologie ausgeht; dabei ergänzt er die Vorstellungstheorie durch die Empfindungstheorie. Gerade in seinem Spätwerk, der „Allg. Theorie" lenkt er indessen merklich auf A. G. Baumgarten zurück. Sobald Empfindung hinüberwechselt zum Gefühl, macht sich das Bedürfnis nach Abhebungsformen bemerkbar, wie etwa „Fühlbarkeit" und „Empfindsamkeit", (nicht gleichbedeutend mit der literar. Richtung) oder „Empfindnis". S. kennt auch eine „denkende Empfindung", setzt also nicht so ohne weiteres „Empfindung" mit „Gefühl" gleich (wie manche Sonderarbeiten etwas vorschnell annehmen). Was S. „Empfindung" im moralischen Sinne nennt, nähert sich unserem „Gefühl"; die psychologische „Empfindung" dagegen meint mehr eine bloße „Vorstellung" (angenehmer oder unangenehmer Eindruck), weicht also von unserem „Gefühl" ab. Einen stark erzieherischen Wert legt S. den „moralischen Empfindungen" bei. Als Wertungskriterium der Künste gilt geradezu ihre Eignung zur Förderung und Übung der Empfindungsfähigkeit. Ziel ist eine „ L e n k u n g d e s G e m ü t s durch Erregung angenehmer und unangenehmer Empfindungen", und zwar bes. f. die Poesie („vorzüglich aber für Dichter"). Man darf von einer Kernposition der Empfindungstheorie in Sulzers Gesamtsystem reden. Und nicht zufällig wird i. d. „Allgem. Theorie . . ." gerade unter dem Stichwort „Empfindung" Entscheidendes ausgesagt über sein kunsttheor. Wollen. Übrigens ist auch der Terminus „Gemüt" (bedeutsamer f. d. Romantik) ähnlichen Schwankungen unterworfen wie der Terminus „Empfindung" (bes. der Plural scheint abzuweichen). Den inneren Anlageplan d. „Allgem. Theorie" entwickeln bes. die Artikel: „Ästhetik", „Künste" (neben dem Artikel: „Empfindung"). Uber den Artikel „Genie" s. o. Für die Wendung zur angewandten Poetik wichtig die Artikel: „Einheit, Erfindung" u . a .

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Grundsätzliches darüber a u c h im A r t i k e l „ D i c h t k u n s t , P o e s i e " , gewisses Eingehen auf den W e r t der frühen E n t wicklungsstufen („ehe die K u n s t sich d e m Genie zur Gehülfin angeboten h a t " ; aber E i n f l u ß Montaignes „poesie populaire et purement naturelle"). I m Hintergrund steht der Volkslied-Gedanke. Die Ausdruckslehre erfährt F ö r d e r u n g i. d. A r t i k e l n „ A u s d r u c k in der S p r a c h e " und „ L e b e n d i g e r A u s d r u c k " . A . P a l m e : J. G . Sulzers Psychologie u. d. A n f ä n g e der Dreivermögenslehre, Diss. B l n . 1905. — K . J. G r o ß : Sulzers Allgemeine Theorie der schönen K ü n s t e , Diss. B l n . 1905. — A n n a T u m a r k i n : D e r Ästhetiker Joh. G . Sulzer, Frauenfeld-Lpz. o. J . (1933), i n : D i e Schweiz i. dt. Geistesleben Nr. 79/S0. — 0 . W a l z e l : Joh. G . Sulzer ü b e r Poesie, in: Zs. f. dt. Phil., B d . 62 (1937) S. 267—303. — D e r s . : Poesie u. Unpoesie (1937), passim, bes. S. 64t. S. 152. C. F. Geliert. K . M a y : D a s W e l t b i l d in Gellerts D i c h t u n g , D t . Forschungen Nr. 21, F r a n k f u r t a. M. 1928, bes. S. 1 — 5 9 ; dort weitere Gellert-Literatur. — Weitgehend folgt dieser sehr dankenswerten Darstellung K . M a y s der knappe Gellert-Abschnitt in H a n n s M. W o l f f : Die W e l t anschauung d. dt. A u f k l . , Bern 1949, S. i 7 S f . , abgesehen v o n einer krit. A n m k g . S. 190, die aber zugleich den berechtigten D a n k an K . M a y abstattet. D i e Fortschritte der Gellertforschung (z. B . auch hinsichtl. seines Sprachstils vgl. F r i t z H e l b e r : D e r Stil Gellerts, Diss. Tübingen 1937) werden bes. erkennbar, wenn man auf den sehr schmalen Gellert-Abschnitt bei F r . B r a i t m e i e r (iSSS), a. a. O. I S. 3 0 S — 3 1 2 z u r ü c k b l i c k t . S. 154. L e i p z i g e r H a b i l i t a t i o n s s c h r i f t . — E t w a s näher geht ein auf Gellerts Disputationsschrift „ D e poesi a p o l o g o r u m " M. S t a e g e : D i e Gesch. d. d t . Fabeltheorie, Diss. Basel, gedr. B e r n 1929, S. 33. — Mit Breitinger u n d w o h l unter dem Einflüsse v o n B o d m e r s Verteidigung des W u n d e r b a r e n fordert G. die Einbeziehung des W u n d e r baren. E i n Herausstellen der Schlußmoral ist erwünscht. Gellerts Neigung zur Breite, die sich auch i. d. Erörterungen d. Disputationsschrift k u n d t u t , r ä u m t der e t w a s längeren F a b e l den Vorteil der Spannungserhöhung ein. M. Staege hebt die umfassende Belesenheit G.s i. d. Fabelliteratur, bes. auch d. Auslandes hervor. — K . M a y : a. a. 0 . , S. 18 stellt m i t R e c h t klar, d a ß G. zur Zeit der Disputations-

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abhandlung seine eigene Vorstellung v. d. Fabel u. s. eigene Darstellung der Fabel noch gar nicht gefunden hatte. S. 154. . „ N a c h r i c h t . . . v o n a l t e n d e u t s c h e n F a b e l n " . — Zit. n. d. „Fabeln u. Erzählungen v. C. F. Geliert", Upsala 1799; als Einleitung vorangestellt. Bereits diese historisch-krit. Überschau ist von Beispielen durchflochten. Erwähnt werden u. a. Hugo v. Trimberg („Renner"), der dem Werte nach unter dem „Ungenannten" (Boner) rangiert, Burkard Waldis, dessen „weitläufige und oft müßige Art zu erzählen", aufgewogen werde durch „muntere Einfälle und lebhafte Beschreibungen" S. X X I als zu spielerisch Harsdörffer („Nathan Jotham", Lehrgedichte), J.G.Rabener („Nützliche Lehrgedichte", 1691), von dessen „fruchtbaren Erfindungskraft" G. trotz vermuteter ungünstiger Einflüsse seitens Harsdörffers und Joh. Val. Andrea dennoch merklich sich beeindruckt zeigt; zum mindesten „etliche Blätter" dieses J . G . R a bener (17. Jh.!, nicht K. Wilh. Rabener) seien „voller äsopischen Witzes" und daher einer Erneuerung würdig. S. 155. F a b e l u. m o r a l . S y s t e m . — Gelegentl. d. Würdigung Justus Gottfried Rabeners i. d. „Nachricht" stellt G. den Vorteil d. belebten Verdichtungsform gegenüber breit ausladenden Systemen klar und nachdrücklich heraus: „Etliche Blätter voller äsopischen Witzes, den ein kurzer und muntrer Vortrag belebet, stiften bey der Jugend u. bey tausend Erwachsenen vielleicht mehr Nutzen als große Werke, worinnen man die Moral gründlich ausdehnet, mit einer tiefsinnigen Miene seicht u. mit einem systematischen Geschreye trocken abhandelt", a. a. 0., S. X X X V . Es überwiegt also wiederum das Wirkungskriterium folgerichtig im Rahmen d. Wirkungspoetik u. d. Wirkungsästhetik d. Aufklärung. S. 155. G r e n z e n d. F a b e l w i r k u n g . — Auf jene Szene aus d. „Zärtlichen Schwestern" (1,10) weist hin K. M a y , a. a. O., S. 20/21. Charakteristisch erscheint von der Leitidee der Wirkungspoetik her, daß auch das Unzulängliche d. Fabel nicht aus ihrem Wesen oder Werden, sondern aus ihrem Wirken, aus ihrem Versagen beim Aufnehmenden abgelesen wird. Doch darf die kunsttheor. Bedeutung dieser Stelle nicht überschätzt werden. K . May selber erkennt, daß dabei Polemik gegen Triller oder Stoppe vorliegt, es

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also letztlich um Wirkungsgrenzen einer mangelhaften Fabel geht. G. hat überall den volkstümlich-gesellschaftlichen Funktionswert im Auge (vgl. „Das Kutschpferd" u. ähnliche seiner Fabeln). S. 156/57. N i c h t „ p r o " ; K. B o r i n s k i . — K. Borinski: Die Antike in Poetik und Kunsttheorie" II (1924), S. 183 spricht von einem „Tic der Zeit auf das Rührende", von der theor. Forderung des „Rührstücks" Nivelles u. Chassirons ( ? — Ch. jedoch war Gegner!), der „comoedia commovens" Gellerts. Obgleich aus dem Zusammenhange nicht ganz klar wird, ob ihm ein Rührstück Chassirons bekannt gewesen ist, scheint er doch, vielleicht verleitet durch die Zusammenstellung in Lessings „Theatral. Bibliothek", Chassiron für einen theor. Verfechter des Rührstücks zu halten. Auch H. Rempel glaubt übrigens an einen Irrtum K . Borinskis u. bietet einen knappen, aber guten Einblick in Chassirons Ansichten; vgl. H a n s R e m p e l : Tragödie u. Komödie im dramatischen Schaffen Lessings, (1935), S. 3 i f . S. 157. W e n d u n g d. L u s t s p i e l m o t i v e : Diese Wendung ins Ernsthafte und Rührende verfolgt M. B e a r e : Die Theorie d. Komödie von Gottsched bis Jean Paul, Diss. Bonn 1928, S. 19—25 ; dort auch über G. und weitere Sekundärliteratur. Für die Entwicklung in Frankreich sei verwiesen auf P. K o h l e r : L'Esprit Classique et la Comédie, Paris 1925; G. L a n s o n : Nivelle de la Chaussée et la Comédie Larmoyante, Paris 1887. — Die werkimmanente Poetik (das im Werke hervortretende Kunstwollen) Gellerts bezieht erfreulich ein K. M a y s erwähnte Geliert-Arbeit, und zwar i. d. Abschnitt über das Lustspiel, a. a. 0., S. 28—47. Dagegen wendet K. May, der Grundhaltung seiner Untersuchung entsprechend, der eigentlichen theor. Abhandlung von 1751 weniger Aufmerksamkeit zu. S. 160. Q u e r e l l e : H. G i l l o t : La querelle des anciens et des modernes en Françe, Paris 1914. S. 161. E r g ä n z u n g z u m G e l l e r t - A b s c h n i t t : Allgemein kann gesagt werden, daß G.s Kunstwollen in seinen Fabeln auf breite Schichten gerichtet ist im Sinne der Wirkungspoetik. Seine vermeintlichen Tierfabeln sind oft bloße „Gegenstands"-Histörchen, seine rührenden Lustspiele nehmen manches von der satir. Verlach-Komödie einerseits u. v. d. comédie gaie andererseits an Wirkungswerten

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mit, um die „rührende" Komödie leichter in Umlauf und vorteilhafter in Wirkung zu setzen. Vor Lessing kommt ihm immerhin eine entwicklungsgeschichtl. bedeutsame Durchbruchsleistung bei der Durchbrechung des Standeskriteriums zu. E r verbindet glücklich das Volkstümliche mit dem Volksfördernden und dem Volkswürdigen. Sein Roman „Die schwedische Gräfin", weltanschaulich das Rassenvorurteil bekämpfend und das Standes-Vorurteil weitgehend überwindend, bezieht i. d. Nebenhandlung das Leidenschaftsproblem im Konflikt mit dem Tugendproblem nicht ohne Kühnheit und Konsequenz ein, so daß er auch von dieser, bei ihm kaum erwarteten Seite her die den Aufklärern im engeren Sinne oft abgesprochene Gefühlswertung wie in seiner Kunsttheorie (Kenn- u. Merkwort „Herz") auch in seiner Kunstleistung weitgehend verwirklicht. Der skizzenhafte Charakter und der Berichtston des Romans seien hervorgehoben. — Im Gesamt vertritt G.s Darstellungsabsicht und sein werkimmanentes Kunstwollen eine behutsame „Als-Ob"-Natürlichkeit, die auch in seiner Theorie (und Praxis) des Briefstils einleuchtend zur Geltung kommt. Man soll schreiben, „als o b " man spräche, nicht jedoch so, wie man spricht. Der Schein der „Natürlichkeit" genügt. S. 164. Friedrich Nicolai. — M a r t i n S o m m e r f e l d : Friedr. Nicolai und der Sturm und Drang, ein Beitrag zur Geschichte d. deutschen Aufklärung (im Anhang: Briefe aus Nicolais Nachlaß), Halle 1921. M. Sommerfeld geht stärker als die frühere Arbeit von K a r l A n e r : Der Aufklärer Fr. Nicolai, Gießen 1912 auf die Kunsttheorie ein, bes. in d. Abschnitten: Zur Kunstanschauung Nicolais a. a. 0., S. 22—52 bzw. Nicolai als Kritiker (S. 53—65), wobei der Kritiker freilich etwas kurz abgetan wird. Sommerfeld betont an sich die Widersprüchlichkeit N.s, neigt aber dazu, ihn, seiner Themastellung entsprechend, zu sehr auf den Sturm und Drang zu beziehen und vielleicht ein wenig zu nahe an M. Mendelssohn heranzurücken, dessen Postulat einer „theatralischen Sittlichkeit" N.s Streben nach einer aufklärerischen Eintracht von Kausalität und Moralität einiges Kopfzerbrechen verursachte. Bes. wertvoll bleibt Sommerfelds Eingehen auf die nationale (besser vielleicht: kulturpatriotische) Tendenz, auf N.s Zentralisationsbestrebungen, N.s Ausweitung der Poesie zur Literatur u. a. Erinnert sei daran, daß N. der

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eigentliche Anreger beim Zustandekommen der „Literaturbriefe" gewesen ist. Angenehm hebt sich die ruhige krit. Einsicht Sommerfelds ab von anderen Sonderforschungen, die ihren „Helden" zu überhöhen trachten. S. 165. „Mittelstraße."—Sowohl die realist.Naturnähe als auch die freie Phantasieentfaltung („imaginative" Darstellung, „Hirngespinste")" wird von N. vorsichtig abgewehrt. Sein Reich liegt in der Mitte, aber auch in der Mittelmäßigkeit. (M. Sommerfeld a. a. 0., S. 28L) S. 166. A b h a n d l u n g vom T r a u e r s p i e l . — Neudruck DNL., Nr. 72, S. 327ff. — M. S o m m e r f e l d darf hervorheben, daß es sich dabei um die einzige kunsttheor. Schrift N.s handelt, die systematisch angelegt und durchgeführt worden ist (a. a. O. S. 22), wobei er anschließend die schwankende Haltung N.s zum Werte der kunsttheoret. Systematik erörtert und mit Beispielen widersprüchlicher Art belegt. Bemerkenswert ist der Umstand, daß N. einen Aufsatz über das „bürgerliche Trauerspiel" geplant hat, ein Plan, der nicht zur Ausführung gelangte, aber bestätigt, daß der frühe N. einen Blick besaß für das Entwicklungsgeschichtlich-Zeitgemäße. Ob sein geplantes „Lehrbuch" eine Poetik oder eine Kunstgeschichte geworden wäre, läßt sich nicht so ohne weiteres entscheiden, wahrscheinlich aber eine Art von Poetik oder Ästhetik. Was N. ablenkt von diesen Plänen., ist mehr praktisch gerichtete Tätigkeit des in seiner Art sehr bedeutenden Zeitschriftenorganisators und Verlegers. Ihn interessiert dabei vor allem die Seite der Literatur, die Menschheitsfragen betrifft, während er die Seite vernachlässigen müsse, „die Geisteskräfte u. d. Gesellschaft nicht unmittelbar verbessert oder verschlimmert"; vgl. M.Sommerfeld a. a. 0., S. 51 (N. an Herder, d. 18. März 1773, ähnlich an v. Gebier schon 3. Nov. 1771). — Freilich bleibt der schlichte Hügel, den Lessing in der Vorrede zu seiner „Erziehung des Menschengeschlechts" bestiegen hat, entwicklungsgeschichtlich weit bedeutsamer als der riesige Berg, der sich von den zahlreichen Bänden der Allg. Dt. Bibliothek Nicolais errichten läßt. Trotzdem darf die kulturgesch. Bedeutung der Verlagsunternehmen N.s nicht unterschätzt werden; F. C. A. P h i l i p p s : Fr. Nicolais literarische Bestrebungen, Haag 1926; G . O s t : Fr. Nicolais Allgem. Dtsch. Bibliothek, Bln. 1928.

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S. 167. O p p o s i t i o n u m j e d e n P r e i s . — Dieser Grundzug N.s wird von der Sonderforschung nicht erkannt; er kennzeichnet aber sowohl den frühen N. als auch den mittleren und älteren. N. glaubte seine Position am ehesten abheben zu können durch Opposition, weil er einmal in der Jugend damit Erfolg gehabt hatte, ohne zu bedenken, daß als hemmend eben das wirken mußte, was einst fördernd gewesen war. Die weltanschauliche Tapferkeit N.s darf bei alledem nicht unterschätzt werden. E r bleibt der Grundanschauung treu, daß die Bekämpfung der Vorurteile der beste der möglichen Wege in die beste der möglichen Welten sei. Das gilt auch von seinem „Sebaldus Nothanker"-Roman, der vor dem gesellschaftskrit. Anklagen (etwa i. d. Episode in Holland betr. d. Ostindische Compagnie oder betr. d. Verlagswesen) nicht zurückschreckt. Die werkimmanente Poetik dieses Romans hält den Glauben an den Tendenz- und Thesen-Roman aufrecht, wobei i. d. Nebenhandlung das Motiv der verfolgten bürgerlichen Unschuld sich durchsetzt. Curtius. — Dieser zeitliche Vorsprung Curtius' vor N.s „Briefen über den itzigen Zustand der schönen Wissenschaften in Deutschland" (1755) wird von der Sonderforschung nicht berücksichtigt. Es soll auch hier nicht ein Einfluß konstruiert, sondern nur der zeitparallele Vorstoß registriert werden. Übrigens bekundet schon die Titelgebung jener bemerkenswerten Abhandig. N.s seine kulturpatriotische Einstellung und das Reagieren seines kulturellen Gewissens. Dieses allgem. kultur. Gewissen ist bei N. schärfer ausgeprägt als sein ästhetisches Empfinden. Der angetroffene Zustand und dessen Veränderung beschäftigt sein kulturpolit. Anteilnehmen letztlich weit mehr als einzelne Kunstfragen und Kunstgesetze, die ihm nur Mittel zum Zweck bleiben. S. 168. E r l e b n i s m ä ß i g e V e r a r b e i t u n g . — D e n Mangel daran teilt N. mit manchem anderen Aufklärer. Das unterschätzt z . B . G e o r g L u k ä c s : Größe und Grenzen der deutschen Aufklärung, abgedr. in Fortschritt und Reaktion i. d. dt. Liter.; Bln. 1950. Lukäcs möchte die unverkennbare Abstufung zwischen Aufklärung und Sturm und Drang, die dichtungsgeschichtlich ganz unleugbar besteht, trotz der teilweise gemeinschaftlichen Tragschicht (teilweise, weil religiöse Kräfte sich verstärkt i. d. Geniezeit zu regen beginnen) fortargumentieren unter anderem

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durch den Hinweis auf mancherlei persönliche Verbindungen zwischen Aufklärern und Stürmern und Drängern. Wenn er dabei auf die Beziehung Fr. Nicolai — Joh. Heinr. Merck verweist (a. a. 0 . , S. 14), so wäre weit eindrucksvoller gewesen ein Hinweis auf die Beziehung Nicolai — Lavater (Briefwechsel, 1770f.). Ebenso hätte dort auf das Achtungsverhältnis Herder-Mendelssohn u. a. verwiesen werden können. Aber auch, wenn die Belege schlüssiger und reicher ausgefallen wären, sagt das über die Kunstanschauung immer nur wenig aus. Über den Abstand in Lebensgefühl und Lebensauffassung wie auch in der Kunstauffassung können derartige Beziehungen nicht ernsthaft hinwegtäuschen. Mag auch die Aufklärung im engeren Sinne mehr Sinn für das „ G e f ü h l " oder „ G e m ü t " bekunden, als man ihr vielfach zugestanden hat, so heben sich beide Richtungen dichtungsgeschichtlich und kunstgeschichtlich dennoch unzweideutig ab durch die Einstellung zur „Leidenschaft" trotz N.s Festlegung des Wirkungsziels des Trauerspiels als Erregung von „Leidenschaften". Die Leidenschaft wird von den Aufklärern teils kritisch abgewehrt (Lessing), teils ins Komische reflektiert (Wieland), teils ins Gemütvolle verharmlost (Geliert). S. 170. M. Mendelssohn. M e n d e l s s o h n s W e r k e . — Zit. wird unter gleichzeitiger Zugrundelegung der früheren M.-Ausgabe, hrsg. v. G. B. Mendelssohn. Lpz. 1843 f. nach der sog. Jubiläumsausgabe „M. Mendelssohns Gesammelte Schriften", h r s g . v . D . E l b o g e n , J . G u t t m a n n , E . M i t t w o c h Bd. I (1929) II (1931) III, 1 (1932) usw., die, als „Schriften zur Philosophie und Ästhetik" von den übrigen Bänden abgehoben, hauptsächlich für die Ästhetik und Kunsttheorie in Betracht kommen. Die Jubiläumsausg. ist zum 200jährig. Geburtstag 1929 von der „Akademie f. d. Wiss. d. Judentums" u. d. „Gesellschaft z. Förderung d. Wiss. d. Judentums" herausgebracht worden, als ein würdiges Denkmal für das Gedenken eines ihrer geistig Großen. S. 170. Fr. B r a i t m a i e r . — Gesch. d. poet. Theorie u. Kritik, Teil I I (1889) widmet M. Mendelssohn eine umfassende Darstellung, a. a. 0., S. 72—279 (über die Hälfte des II. Teiles u. etwa ein Drittel der Gesamtschrift); so verdienstvoll diese Würdigung damals war, so ergänzungsbedürftig ist sie heute. L. G o l d s t e i n : M. Mendelssohn u. d. dt. Ästhetik ( = Teutonia III), 1904, A n n e m a r i e

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D e d i t i u s : Theorien üb. d. Verbindung von Poesie und Musik. M. Mendelssohn, Lessing, Diss. Masch. 1918; gegen Goldsteins Annahme, daß M.s „Briefe über Kunst" ein minderwertiges Erstlingswerk seien, datiert A. D. diese „Briefe" später, vgl. dazu Bambergers Einleitung zu Bd. II (Jubiläumsausg.) S. X X X f . — F r i t z P i n k u s : M. Mendelssohns Verhältnis zur engl. Philos., Diss. Würzburg 1929. — L i s e l . R i c h t e r : Philosophie der Dichtkunst, Moses Mendelssohns Ästhetik zwischen Aufklärung und Sturm und Drang, Bln. 1948 (L. R. geht bes. auf d. Geniebegriff M.s ein). Exkurs: Moses Mendelssohn S. 170. P h i l o s o p h i s c h e P o e t i k . — Da das Kapitel „Von der philosophischen zur angewandten Poetik. Der Baumgarten-Sulzersche R a u m " wegen Raumersparnis ausgeschieden werden mußte, so sei hier als Exkurs betreff. M. folgendes erwähnt: M.s „Briefe über d. Empfindungen" sind angeregt worden von Sulzers Akad.-Abh. ü. d. „Ursprung d. angenehmen und unangenehmen Empfindungen" (1751/52) u. v. L. Jean Levesque de Pouillys „Theorie des sentiments agréables" (1747). Es ging vor allem um eine Theorie des „Vergnügens". Die relativ neuerdings aufgefundene stichworthafte Disposition „Von dem Vergnügen" (abgedr. i. d. Jubiläumsausgabe) stellt das klar und läßt die Bindung zu Sulzer enger erscheinen als die zu Baumgarten. Er erweist sich i. d. Ästhetik als Auflockerer der Vollkommenheits-Ästhetik Wolffscher Art unter Auswertung der Emotions-Psychologie. Davon zeugt u. a. die sogen. „Rhapsodie", bes. i. d. Fassung v. 1771 (Einwirkung E. Burkes). Ebenso ist zu beachten die Vorstufe der „Hauptgrundsätze d. schönen Künste und Wissenschaften" (1761, 1771), die vorliegt i. d. „Betrachtungen üb. d. Quellen u. d. Verbindungen d. schön. K . u. Wiss." (1757/58) sowie der Aufsatz „Über die Mischung der Schönheiten" (krit. Auseinandersetzung mit Ed. Burke, Abwehr d. Garveschen „Delikatesse"Begriffs u. a.). Es geht teilw. um eine Ausgleichung der oberen und unteren Seelenkräfte. Hinsichtlich d. Rangordnung der Künste wird die Musik der Poesie untergeordnet. Denn die Musik, getrennt von der Poesie, besitze „keinen Nutzen i. d. Moral". Die Loslösungsversuche von der Mimesislehre stellen wertvolle Beiträge M.s zur Ästhetik dar. Teils benutzt er

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dabei Winckelmanns „idealische Schönheit" (jedoch nur als Mittel zum Zweck, nicht als Richtpunkt), teils argumentiert er mit Hilfe der „besten der möglichen Welten" (die höheren Ziele der Natur konnten das„Nur-Schöne" nicht immer berücksichtigen u. verwirklichen, so daß hier dem Künstler ein Entfaltungsraum bleibt), teils berührt er sich auch mit den Lockerungsversuchen Joh. El. Schlegels hinsichtlich der Naturnachahmungstheorie u. deren Überwindung (der „unfruchtbarste Grundsatz", gegen Batteux). So gelangt er zur Theorie des „Vergnügens", die er wesentlich vorangetrieben hat u. die ein starkes Gegengewicht stellte gegen die Naturnachahmungstheorie. Man dient schwerlich dem wirklichen Ansehen M.s, wenn man wie Goldstein u. Bamberger zu einseitig auf die Vorbereitung des „interesselosen Wohlgefallens" (Kant) hinzielt. Darin wäre Fr. J. Riedel sogar überlegen, der bereits definierte: „Schön ist, was ohne interessierte Absicht sinnlich gefallen und auch dann gefallen kann, wenn wir es nicht besitzen". Höchstens kämen hier M.s Kollektaneen-Bücher aus s. Nachlasse in Betracht, die aber ihrem Charakter nach teilw. Aufzeichnungen aus zweiter Hand enthalten dürften. Es wäre zu erwähnen ein kurzer Entwurf „Über das Erkenntnis-, das Empfindungs- u. d. Begehrungsvermögen" (1776). Doch liegt Riedels „Theorie d. schön. Künste u. Wissenschaften" bereits vorher, und zwar mit ihren beiden Ausgaben (1767, 1774). Aber i. d. Gesamterscheinung ist M. weit weniger Eklektiker als Fr. Justus Riedel, dessen Briefe „Über das Publikum" (1763) M. kritisch abgewehrt hatte. M. bietet vor allem ein Beispiel dafür, daß die Beschäftigung mit d. Psychologie (Theorie der „Empfindungen") die Ästhetik u. Poetik entwickeln helfen konnte. Jenes psychologische und moralische Interesse bleibt seinen kunsttheoret. Beiträgen übergeordnet. Neben der Hauptansatzmöglichkeit f. d. „Idealismus" ist auch eine gewisse, bislang unterschätzte Anknüpfungsmöglichkeit f. d. „Realismus" in seiner Ästhetik u. philos. Poetik gegeben. S. 171. „ I n t e r e s s e l o s e s W o h l g e f a l l e n " . — M.s Mittlerstellung ähnelt in dieser Hinsicht etwa seiner entwicklungsgeschichtlichen Zwischenstellung i. d. sog. „Zeichenlehre" (willkürl. oder natürliche „Zeichen"). Eine Überbewertung dieser Mittlertätigkeit (für Kant und vor Kernt) wurde bereits angesichts der Bemühungen Gold-

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steins u. Bambergers auf das gebotene Maß zurückgeführt. Auch L i s e l . R i c h t e r : Philosophie der Dichtkunst, Moses Mendelssohns Ästhetik zwischen Aufklärung und Sturm u. Drang, Bln. 1948 folgt den Spuren Goldsteins u. Bambergers (a. a. 0., S. 33); doch gibt sie bei dieser Gelegenheit einen dankenswerten Hinweis auf das sogenannte „Billigungsvermögen", das M. zwischen „Erkenntnis" u. „Begehrungsvermögen" ansiedelt („zwischen dem Erkennen und Begehren liege das B i l l i g e n , der Beifall, das Wohlgefallen der Seele, welches noch eigentlich von Begierde weit entfernt ist"). Die NachlaßKollektaneen wurden bereits oben erwähnt. S. 174. H e m m u n g e n u. W i d e r s t ä n d e . — W e n n man wie Lisel. R i c h t e r a. a. O. (1948), schon in der Wahl des Untertitels wie auch im Inhalt Mendelssohn möglichst weit zum Sturm u. Drang hinüberdeuten will, so vergißt man, daß er weit weniger zum „Irrationalismus" des Sturmes u. Dranges als zum Ausgleichsstreben der Klassik hinneigte und also weiter reicht. S. 181. G. E. Lessing. — Die Lessing-Darstellungen Fr. S c h l e g e l s , W. S c h e r e r s (Kleine Schriften), E. S c h m i d t s , W. O e h l k e s , R. M. W e r n e r s u . a . ; ebenso die einschlägigen Einleitungen bzw. Anmerkungen i. d. grundlegenden Lessingausgaben v. L a c h m a n n - M u n c k e r , u. noch umfassender v. J. P e t e r s e n u. W. v. O l s h a u s e n dürfen als bekannt vorausgesetzt werden. — G . K e t t n e r : Lessings Dramen, Bln. 1904; W. D i l t h e y : Das Erlebnis u. d. Dichtung; K. M a y : Lessings u. Herders kunsttheor. Gedanken in ihrem Zusammenhange, Bln. 1923, German. Studien 25. — B . M a r k w a r d t : Herders Kritische Wälder, Lpz. 1925 (S. 129—163). — 0. W a l z e l : Lessings Begriff des Tragischen (1908), in: Vom Geistesleben alter u. neuer Zeit (2. Aufl. 1922), S. 231—261. — C l i v i o : Lessing u. das Problem der Tragödie, 1928. — W i e s e : Lessing, Dichtung, Ästhetik, Philosophie, Lpz. 1931. — A. M. W a g n e r : Lessing, das Erwachen des dt. Geistes, Bln. 1931. — H. L e i s e g a n g : Lessings Weltanschauung, Lpz. 1931. — J. P e t e r s e n : Goethe u. Lessing, in „Aus der Goethezeit", 1932, S. 1—18. — A. B a r t e l s : Lessing u. d. Juden, 2. Aufl. Lpz. 1934. — F r a n z M e h r i n g : Die Lessinglegende, Stuttgart 1893, Basel 1946, Bln. 1953. — H. O e r t e l : Lessings Theorie d. Tragödie als I.Teil in: Schillers Theorie d. Tragödie, Lpz. u. Dresden 1934. —

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W . D o e n h a r d t : Lessing u. Corneille,Diss. Münster 1934.— B. v. Wiese: Die dt. Tragödie von Lessing bis Hebbel, Hbg. 1948 (2 Bde), I, S.41—46. — R. Petsch: Das Wesen u.d. Formen d. Dramas, Allgem. Dramaturgie, Halle 1945. — F e r d . J . Schneider: Die dt. Dichtung d. Aufklärungszeit (2. Aufl. 1948) S.241 f.u.öfter (passim). — H a n s M . W o l f f : Die Weltanschauung d. dt. Aufklärung (1949) S.238f. S. 183. L e s s i n g s S p r a c h g e s t a l t u n g . — Verf. hatte in den Jahren 1923—30 eigene Studien zu Lessings Stil u. d. Stil der Aufklärung vorgenommen. Eine Inhaltsangabe zu den Gesamtstudien neben dem Abdruck des VI. Kapitels („Die Kampfprosa") i. d. „Wiss. Zeitschrift d. Universität Greifswald", Ges. u. sprachw. Reihe, Jg. III, 1953/54 u. IV, 1954/55. Es kam Verf. (methodol.) darauf an nachzuweisen, daß der Personalstil erst verläßlich zu ermitteln ist in Abhebung vom Zeitstil, der durchweg in stilgeschichtl. Sonderforschungen vernachlässigt worden ist. Diese Vernachlässigung wirkt sich auch in den bisherigen Darstellungen über L.s Stil recht nachteilig aus; so ist z. B. die Ausschaltung von, .haben'' (von A. Lehmann, E. Schmidt, H. Blümner, Aug. Langen, 1952, u. a. m. beansprucht als Merkmal des Lessingschen „Lakonismus") bei den Zeitgenossen überall nachweisbar, und Lessings Stilkorrekturen zeigen sogar eineTendenz zur Aufhebung dieserAusschaltung. Ebenso ist die These vom, .werdenden*' Stil Lessings (zurückzuführen auf Herders der Lehre des „Laokoon" angeglichenes Urteil bei Übertragung des eigenen Stiltypus Herders) oder vom „rhetorischen" Stil abzuwehren. Die positiven Erträge müssen einer späteren Publikation vorbehalten bleiben. In Ergänzung jener „Studien" vgl. A.Langen: Dt. Sprachgesch. in Dt. Philolog. im Aufriß (1952) Sp. 1202. S. 185. L a o k o o n , A b h e b u n g v. d. bild. K ü n s t e n . — E r n s t Georg W o l f f : Ästhetik der Dichtkunst, Systematik auf erkenntnistheor. Grundlage, Zürich 1944 (bespr. v. Verf. i. d. Dt. Literaturzeitung, Jg. 1949) rechtfertigt nach manchen Meinungen anderer Art erneut die Berechtigung des „Laokoon", wenn er S. 456 i. einer Anmerkg. ausführt: „Analogie zwischen dichterischer Anschaulichkeit (Sinnlichkeit) u. der bildenden Kunst lassen wir (mit Lessing, wenn auch auf Grund anderer Erwägungen) nicht gelten", betr. „Laokoon", vgl. a. a. 0., S. 447. Zum „Laokoon" vgl. M. K o m m e r e l l : Lessing u. Aristoteles, Frankf. a. M. 1940. — Mit überwiegendem Bezug auf die bildende Kunst 34 M a r k w a r d t , Poetik II

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W. D. E i c h h o r n : Auffassung der Darstellung der Bewegung i. d. bild. Kunst bei Lessing, Diss. Göttingen 1927. S. 185. A n s ä t z e im „ F a u s t " - u. „ K l e o n n i s " - F r a g m e n t . — H a n s R e m p e l , a. a. 0., S. 72 glaubt vor allem den „Faust" der Richtung d. engl. Tragödie zuweisen zu können. R. hebt davon betont ab die Angleichung an die griechische Vorbildlinie in „Philotas" u. „Das Horoskop", während endlich „Kleonnis" u. „Fatime" als Mischform beider Stilrichtungen erscheinen. H. Rempels Konstruktion übersieht die Bedeutung von „Emilia Galotti" als Durchbruch zur Hochstiltragödie mit latenter Anklage, die dem Charakterlustspiel mit „spezifisch temporärem Gehalt" (Goethe) durchaus ebenbürtig ist. Ebenso wird die Vorform im „Befreiten Rom" vielfach übergangen, ganz abgesehen vom „Spartakus"-Entwurf. S. 186. A u f k l ä r e r i s c h e H e m m k r ä f t e . — Das Vorwärtsweisende der Aufklärung hat in Lessing als Dramatiker, Kritiker, Stilist u. Weltanschauungskämpfer eine eindrucksvolle Bewährung gefunden. Tendenziöse Darstellungen der „Hemmkräfte", wie sie bei A. B a r t e l s , aber auch etwa bei E. S u t e r : Lessing, politisch (!) gesehen, Z. f. DK., Jg. 52 (1938), S. 4i4f. peinlich deutlich hervortraten, sind wiss. abzuwehren. Lessings Eintreten für unterdrückte Rassen wurde ihm nicht zur Hemmung, sondern zum weltanschaulichen Antrieb u. ethischen Auftrieb. Eine entsprechende Kritik ist auch zu üben an F r z . K o c h u. dessen Lessingabschnitt i. s. Gesch. deutscher Dichtung (1937), S. 120. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhange die Vernachlässigung des Jugendlustspiels „Die Juden", welches das „Volk" verteidigt u. nicht nur die Religion. S. 187. Ü b e r w i n d u n g d. R a t i o n a l i s m u s . — Von einem schiefen Ansatz geht in sensationeller Deutungsfreudigkeit aus Frz. K o c h : Lessing u. d. Irrationalismus, in: Dt. Vjschrft. V I (1928). Es wurde damals Mode, alles Mögliche u. Unmögliche dem „Irrationalismus" zuzuordnen. Nicht ganz frei davon hält sich z. B. auch die Arbeit von M. S o m m e r f e l d über Nicolai u. d. Sturm u. Drang u. selbst noch Fr. B r ü g g e m a n n , Einleitung i. d. Reihe „Aufklärung" d. „Entwicklungsreihen d. dt. Lit." hrsg. v. H. Kindermann, so etwa in: Das Weltbild d. dt. Aufklärung, philos. Grundlagen u. liter. Auswirkung, hrsg. v. F. Brüggemann

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oder: Die bürgert. Gemeinschaftskultur der vierziger Jahre, I. Teil: Lyrik u. Roman, hrsg. v. F. Brüggemann u. H. Paustian, Lpz. 1933. Allzu deutungsfreudig wird dabei für die frühe Aufklärung in Anspruch genommen, was weit überwiegend erst dem Sturm u. Drang zukommt. — Viel behutsamer u. treffsicherer urteilt über den kunsttheoret. Sondertypus Lessings (in Abhebung von dem Herders) H. A. K o r f f : Geist der Goethezeit I (1923), S. i20f., indem er weit mehr in der Art der „Begründung" als der Entfaltung der Kunstlehre das Charakteristische erkennt: L. begründe die irrationalen Werte noch rationalistisch. L e s s i n g k e i n S y s t e m a t i k e r . — D a r a u f , daß L. kein Systematiker der Kunsttheorie im strengeren Sinne gewesen ist, daß L. kein umfassendes, in sich geschlossenes Kunstsystem vorgelegt hat (während der jg. Herder immerhin einen kühnen Anlauf dazu unternommen hat im 4. der Krit. Wälder), daß vielmehr manche tragenden ästhetischen Grundbegriffe teils nur eine spärliche, teils sogar gar keine Berücksichtigung bei ihm gefunden haben, während etwa Herder das ganze weitreichende Gebiet mit einem vielseitigen, universalen Anteilnehmen umgriffen habe, weist mit Nachdruck hin K. M a y in s. erwähnten Gegenüberstellung von Lessings u. Herders kunsttheor. Gedanken (1923). Doch darf nicht übersehen werden, daß auch Herder in seiner Art ebensowenig Systematiker war als L. Man darf die latente Systematik i. L.s Kunsttheorie u. Literaturprogrammatik ebensowenig unterschätzen wie die stileinheitschaffende Kraft systematisierender Art in seiner Sprachgestaltung. Nur eben, daß L. seine latente Systematik (allg. Gesetz d. Poesie im Laokoon, Sondergesetze i. d. Fabelabhandlungen, der Hamburg. Dramaturgie, d. Eprigrammabhandlung) mit Vorliebe von der Kritik herleitet u. sie, von der Opposition zur Position gelangend, nahe an die Praxis im Sinne einer angewandten u. anwendbaren Poetik heranrückt. S. 193/4. G e n i e v o r s t e l l u n g . — D a s „Schwankende", z. T. auch Widerspruchsvolle in L.s Aussagen über das Genie hat die Sonderforschung vor schwierige Aufgaben gestellt. Die recht gebrochene Linie der Lessingschen Genie-Auslegung sucht z . B . K . M a y zu rekonstruieren: nach recht revolutionär wirkenden Äußerungen der Frühzeit, die aber nur einen radikalen Standpunkt vortäuschen u. zudem von gegensätzlichen Bemerkungen neutralisiert werden, erfolge

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etwa um 1759 i. d. „Literaturbriefen" u. d. Fabelabhandlungen ein tatsächlicher Umschwung. Die äußerste Position (zur Geniezeit hin) werde i. d. Hbg. Dramaturgie erreicht, während am Schlüsse eben dieser Dramaturgie angeblich ein jäher Frontwechsel erfolge, der jene Eroberungen aufgebe u. einen entsprechenden Rückzug auf die alte Linie (der Aufklärung, die übrigens i. d. Definition des Geniebegriffs weiter vorgestoßen war, als K . M a y annimmt) antrete. F r a n z K o c h wendet recht einseitig, seiner sensationellen Themastellung gemäß, die Blickrichtig vor allem auf die Annäherungsformen zum sog. „Irrationalismus". B. R o s e n t h a l trägt eifrig Material zusammen, ohne es indessen deutend bewältigen zu können. Doch indem diese Deutung L. im Verband anderer Aufklärer und also unbewußt entwicklungsgesetzlich sieht, erklärt sich schon aus diesem Material manches vermeintlich Widersprechende als in Wirklichkeit durchaus zeitgegeben. L.s Sonderstellung zu diesen Fragen wird weiter unten noch zu würdigen sein. Die Genievorstellung klärt sich vielleicht am besten im Verhältnis zum Organismusgedanken, wobei stets zu berücksichtigen bleibt, daß die Genievorstellung als höchster Grad der bürgerlichen Selbstbewußtwerdung vor der französ. Revolution aufgefaßt werden will u. nicht als bloße „individualistische Extravaganz". Das schrittweise Aufrücken, wie die frühe Aufklärung verhieß (Erziehungsoptimismus), genügte nicht der revolutionären Ungeduld der Geniezeit, die gleichsam mit einem Ruck erreichen wollte, was dort mühsam zu erklimmen war. Vielmehr: jedes bürgerliche Genie war dem ungenialen Adel überlegen. S. 198. „ Ä s t h e t i s c h e H u m a n i t ä t " . — Nach dieser Richtung hin drängt allzu primitiv u. einseitig ab B. v. W i e s e : Lessing, Dichtung, Ästhetik, Philosophie (1931), der L.s Mitleidsbegriff als ein bloßes „Erbe der Sentimentalität, wie wir es in „Miß Sara Sampson" analysiert haben" hinreichend erklären zu können glaubt (merklich vorsichtiger geworden ist B. v. W. in seiner neueren Darstellung d. Tragödie von Lessing bis Hebbel, die indessen weltanschaulich nach wie vor sehr eng gebunden bleibt). Das würde notfalls zutreffen f. d. Vorrede zu „Thomsons Trauerspielen", wo die „Absicht" des Trauerspiels noch ausschließlich auf die „Tränen des Mitleids und der sich fühlenden Menschlichkeit" beschränkt bleibt, nicht je-

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doch f. d. „Hamburgische Dramaturgie". Dabei ging das eigene Kunstschaffen L.s der theoretischen Formulierung voran. Es steckt in L.s Mitleidsforderung vielmehr ein stark m ä n n l i c h e r Zug zum tätig-tüchtigen Anteilnehmen an dem Schicksal des „Anderen", der jederzeit (und weil er jederzeit) dem eigenen Ich des Zuschauers (mahnend zum Altruismus) ähnlich, ja gleich werden kann (Furcht = das auf uns selbst bezogene Mitleid). L. berücksichtigt bereits in gewissem Grade den gesellschaftlichen Wirkungswert des Tragischen. Das übersieht B. v. Wiese, der zum Konstruieren neigt, ohne auch nur entfernt über die Fähigkeiten H. A. Korffs zu verfügen. Zudem wirkt B. v. Wiese weltanschaulich recht eng umschränkt, dergestalt daß er einem Lessing schlechthin verständnislos gegenübersteht. S. 199. W e c h s e l s p i e l des E r h a b e n e n u. N a i v e n . — Fr. J. Riedel führt aus: Das Erhabene verträgt sich sehr gut mit dem Naiven, und oft ist das eine auch das andere. Wenn Mellefont die unschuldige Sara fragt: 'Wenn Sie sich selbst mit so grausamen Augen ansehen, mit was vor Augen müssen Sie mich ansehen', und sie antwortet: 'Mit den Augen der Liebe', so ist dieses Sentiment (zeitgenössisches Fachwort) so erhaben und zugleich so naiv, als irgend eines unter solchen Umständen sein kann, zit. nach d. 2. Aufl. der „Theorie der schönen Künste . . . " von 1774, S. 86. — Riedels Hinweis bezieht sich auf „Miß Sara Sampson" I, 7 (dort übrigens bei der Wiederaufnahme „betrachten" statt „ansehen"). S. 199. M i t l e i d als „ E i n f ü h l u n g " . — 0. W a l z e l : Lessings Begriff des Tragischen (1908 mit Nachwort von 1921) in: Vom Geistesleben alter u. neuer Zeit, 2. Aufl., Lpz. 1922, S. 232—261. Walzel beugt freilich diesem Einwände vor mit der einschränkenden Bemerkung: „Ganz ausgeschlossen ist bei meiner Deutung von Lessings „Mitleid" eine sittliche Wirkung nicht'' (aber eben doch weitgehend!). Es kommt 0. Walzel merklich auch darauf an, den Begriff L.s möglichst gewissen damals „modernen" Deutungen anzunähern, so etwa der kritischen Katharsis-Deutung A l f r e d v. B e r g e r s (S. 255) und (im Nachwort von 1921) der dunklen Deutung O s w a l d S p e n g l e r s (S. 258). Demgegenüber ist Lessings Mitleidsbegriff entschieden in den ethischen Wertbereich zu stellen. Die „Übung im Mitleidhaben" ist das Entscheidende, nicht die bloße „Einfüh-

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lung". Freilich liegt in gewissem Grade eine christl. Nächstenliebe vor. Im Mitleidhaben steckt für L. ein aktiver Anteil des Helfenwollens. Die werkimmanente Poetik seiner Dramen zielt allenthalben ab auf dieses Helfenwollen, das L.s „Rettungen" im literar. Bereiche entspricht. Dieses Helfen wollen bezieht sich nicht zuletzt auf das Hinweghelfen über vorgefaßte (irrige) Meinungen und Vorurteile gemäß dem Satz der Aufklärung, daß der K a m p f g e g e n die V o r u r t e i l e der b e s t e der m ö g l i c h e n W e g e in die „ b e s t e der m ö g l i c h e n W e l t e n " darstelle. S. 199. „ E r b s c h u l d der W i l l e n s s c h w ä c h e " . — Mit diesen schiefen Begriffen arbeitet H. O e r t e l im einleitenden Lessing-Abschnitt seiner Untersuchungen über „Schillers Theorie d. Tragödie" (1934), soweit die „Gegenstandsseite d. trag. Dichtung" in Frage kommt. Als „Gegenstand" der Tragödie schränkt freilich H. Oertel die „Erbschuld" selber wieder etwas ein (S. 15), wohl weil ihm seine Konstruktion d. Tragödie als „Darstellung der Erbschuld einer allgemeinen menschlichen Willensschwäche" (S. 13) zu erzwungen erscheint. Sie konstruiert fraglos über Lessings eigenes Aussagen und Meinen nicht unbeträchlich und unbedenklich hinaus. Auf der „Erlebnisseite d. trag. Dichtung" unterscheidet H. Oertel hinsichtlich der allgemeinen Tragik die anklagende Haltung des Verstandes und die tiefere Einsicht der Vernunft in die höheren Notwendigkeiten. Doch besteht bei L. eine derartig klare Scheidung von „Verstand" u. „Vernunft" schwerlich. Dagegen dürften die speziellen Definitionen des tragischen Mitleids im wesentlichen wenigstens annähernd diskutabel sein, jedenfalls brauchbarer als die trüben Vorstellungen B e n n o v. W i e s e s . Indem H. O e r t e l Erträge aus der bekannten Briefdebatte von 1757 (mit Mendelssohn u. Nicolai) mit Erträgen aus der „Hamburg. Dramaturgie" (Stck. 76) zusammenrückt, gelangt er zu einer „Zusammenschau" hinsichtlich der Begründungen für das Lustgefühl des Mitleids, von der er zugibt, daß sie sich bei L. selbst nicht (!) vorfinde. Wie es aber bei einer derartigen „Zusammenschau" leicht vorkommt, „schielt" man ein wenig. In diesem Falle zu Fr. Schiller hinüber, was jedoch, da es sich hierbei um den Eingangsteil zu einer SchillerArbeit handelt, wenigstens einigermaßen verständlich ist.

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Gestützt auf L.s Forderung: „Die Tragödie verlangt einen, der unverdient leidet" (Hbg. Dramaturgie, Stck. 74) u. a. Umschreibungen L.s kommt H. Oertel an sich durchaus folgerichtig zu dem Ertrag: „Das Unverdiente dieses Leides besteht in seinem Maßlosen als Sühne." Es muß aber die eingebaute sittliche Bedingung L.s berücksichtigt werden, wonach eine derartige Maßlosigkeit an Grenzen gebunden bleibt, die der Tragiker nicht ungestraft überschreiten dürfe. Wie wachsam L. diese „maßlose Sühne'" umgrenzt wissen will, bekundet z. B. seine krit. Stellungnahme zu dem Übermaß des Erleidens in G e r s t e n b e r g s ,, Ugolino"-Tragödie (Brief an Gerstenberg, 25. Febr. 1768). Hier kommt zugleich zum Ausdruck, wie fern ihm i. d. Zusammenhange die Vorstellung der vielfach mißbrauchten „Erbschuld" in Wirklichkeit liegt: „Kinder müßten die Schuld ihres Vaters nie mittragen". S. 200. A n r e g u n g s e i t e n s D i d e r o t s . — Trotz der hohen Bedeutung D i d e r o t s u. a. auch für die Einwirkung seiner Forderung eines Berufsmilieus wird dieser Einfluß etwas überschätzt im Lessing-Abschnitt d. Arbeit von B. R o s e n t h a l : Der Geniebegriff d. Aufklärungszeitalters (L. u. d. Popularphilosophen), Bln. 1933, in: Germ. Studien Nr. 138. S. 204. N a t u r n a c h a h m u n g s - L e h r e . — Die Untersuchungen von A n n e l i e s e K i e m l e m. d. etwas großzügigen Titel „Anschauungen über das Wesen des dichterischen Kunstwerks von 1750—1920" schränkt zwar im ersten Satz d. „Einleitung" diese Titel-Kühnheit ein durch d. Zusatz, daß sie sich nur (!) mit der „Frage des Verhältnisses von Kunstwerk u. Wirklichkeit" befassen wolle. Da für den „Rationalismus" nur 6—7 Seiten zur Verfügung stehen, so muß sich L. (Lessing!) mit einer Anmerkung (!) begnügen. Das stoffliche Schwergewicht liegt im 19. Jh.; a. a. O., S. 24ff. Sollte am Ende 1750 nur ein „Druckfehler" für 1850 sein? (fast möchte man es meinen!) Die einschlägigen L.-Zitate finden sich jetzt ausführlich abgedruckt bei H. R e m p e l : „Tragödie u. Komödie..." (1935), S. 58—60, freilich ohne eingehenden Deutungsversuch. H. R. läßt die Zitate im wesentlichen für sich selbst sprechen, da es ihm themagemäß auf andere Fragen ankommt (das naturgegebene Nebeneinander des Komischen u. Tragischen im Sinne L.s). H. Rempels Lessing-

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deutung wirkt weit verständnisvoller und daher auch weit fruchtbarer als das Zerrbild, das B. v. Wiese entworfen hat. S.205/6. H i s t o r . G e s c h e h e n u. h i s t o r . P e r s o n . — Vgl. d. Garve-Abschnitt. Seit Garves Rezension d. Hbg. Dramaturg. i. d. „Neuen Bibliothek" (1770) u. vollends nach E. S c h m i d t s entsprechender Beanstandung i. s. L.-Monographie ist dieser Vorwurf i. d. L.-Würdigungen zu finden. C l i v i o s L.-Arbeit (1928) beobachtet richtig, daß der Charakter (als dramat. Gestalt) gegenüber der Handlung v. L. besonders dann bevorzugt wurde, wenn es sich um einen histor. Charakter handelt; Cl. gibt aber nur die übliche Erklärung dafür. Die Prävalenz des Charakterdramas zum mindesten i. d. kunsttheor. Forderung L.s (nach Vorgang J. E. Schlegels: „Vergleichung Shakespears und A. Gryphs" (1741), dürfte in der Tat die tiefere Ursache angeben. S. 206. W e r t d. d r a m a t . „ F a b e l " . — V o r einer Uberschätzung d. „Fabel"-Bewertung i. L.s Dramaturgie warnt u. a. J. C l i v i o : L. u. d. Problem d. Tragödie (1928), S. i62f. Anmerk. unter Hinweis auf L.s Rücksichtnahme auf d. Aristoteles-Autorität. Das Verhältnis von Handlungsbegrenzung u. Charakterbewertung deutet Clivio etwa so: dort, wo L. mehr die Leidenschaftserregung als Wirkungsziel sehe, stehe die Handlung im Rang höher; dort jedoch, wo ihm die „Reinigung" der Leidenschaften vorschwebe, überwiege entsprechend die Bewertung der Charaktere. Entscheidend für diese wechselnde Bewertung sei die jeweilige Einlagerung in den Sinnzusammenhang (Einlagerung i. d. Stellen-Milieu). S. 206. Exkurs: Werkimmanente Poetik. — Die werkimmanente Poetik, das Kunstwollen als Darstellungsabsicht u. im Sinne d. Aufklärung als Wirkungsabsicht, wird in den D r a m e n L.s verhältnismäßig deutlich sichtbar u. ideenmäßig begreifbar als ein zielstrebiges Hinführen zu einer „Erziehung des Menschengeschlechts", an der seine „ F a b e l n " auf anspruchsloserer Schicht ebenfalls mitzuarbeiten versuchen. Zwar Damis im „Jungen Gelehrten" ist als Gestalt (i. Drama) unbelehrbar im Sinne der satirischen Verlach-Komödie. Aber das Lustspiel selbst belehrt den Zuschauer durchaus erzieherisch, wie es L. als Warnbild u. Abschreckbild vorschwebte. Adrast aber im „Freigeist" läßt sich von Theophan belehren wie späterhin der Tempel-

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herr durch Nathans überlegene Lebensweisheit. Der Baron erhält in den „Juden" zum mindesten seine erzieherische Ermahnung, die gewiß ernster ist als Wumshäters Belehrung im „Misogyn". Das „Samuel //««¿"-Fragment will im Ansatz zum polit. Anklagedrama erziehen zur polit. Einsicht, u. S. Henzi erfährt ein Schicksal, das seine polit. Sendung mehr bestätigt als in Frage stellt. Das Kunstwollen bewegt sich i. d. Richtung der „Rettung". Minna u. d. Major erziehen einander (Minna v. Barnhelm) wechselseitig zur menschlichen Reife der Ehewürdigkeit u. Menschenwürdigkeit, und die demonstrative protestierende Entschlossenheit Odoardos (freilich nur im Familienbereich) wird dem Prinzen zum mindesten eine gewissenschwere Ermahnung, die freilich mehr erbittertohnmächtig anklagt als zur Besserung aufruft (Emilia Galotti), weil das Erziehungsobjekt i. d. Falle als Fürst ebenso untauglich ist wie Damis weiland als Gelehrter. Im „Nathan" weitet sich die Erziehung aus von der Charaktererziehung (Tempelherr, Daja, Recha) zur Erziehung des Menschengeschlechts überhaupt im Sinne der Humanität. Im Kunstwollen u. i. d. Wirkungsabsicht verbinden sich dergestalt der Anspruch des Rechtschaffenen u. der Widerstand u. Widerspruch des irgendwie Verbildeten. Damis, Wumshäter, Adrast, der Baron, Mellefont, Minna u. Teilheim, der Prinz H. v.Guastalla, der Tempelherr, Daja: sie alle sind irgendwie verbildet, d. h. im Sinne d. Aufklärung mit Vorurteilen belastet. Der eine mit dem Vorurteil, daß die Nichtgelehrten nichts taugen, der andere mit dem Vorurteil, daß die Frauen nichts taugen, wieder der andere mit dem Vorurteil, daß die Juden nichts taugen (d. Baron i. d. „Juden") oder daß die Theologen nichts taugen (Adrast) oder daß die anderen Religionen nichts taugen (bes. d. Patriarch i. „Nathan"). Auch das Vorurteil der Ausschließlichkeit der Offiziersehre („Minna") gehört hierher. Der Kampf gegen diese Vorurteile u. d. Einsicht darin, daß diese Vorurteile (auch das Bestechende der „soldatischen" Ehre, Tellheim) eben doch bloße Vorurteile sind, ist die gesinnungsäubernde u. einsichtfördernde Darstellungs- u. Wirkungsabsicht. Und wenn nicht die Menschen im Drama selber, so sollen die Menschen im Zuschauerraum einsichtsmäßig u. charakterlich gefördert u. entwicklungsmäßig vorangebracht werden. Auf der anderen Seite sollen die vom Vorurteil zu

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Unrecht Betroffenen unser Mitgefühl wachrufen (Ansatzpunkt für die Übung im Mitleid-Haben der Kunsttheorie). Auch L.s Anklagen sind immer noch u. immer auch „Rettungen". Die Warnung des Menschen vor seinem Schicksal u. d. Rechtfertigung d. Menschen vor seinem Schicksal ist ihm wichtiger als das tragische Zusammenbrechen unter dem Schicksal. Der Trost im Tragischen ist ihm wichtiger als die Trostlosigkeit u. „Ausweglosigkeit". Denn längst vor der vollen Herausbildung der Humanitätsidee (Herder, W. v. Humboldt) führt L. auch als Dramatiker das Verworrene, Unzulängliche, Gebrechliche u. durch Vorurteile Verbildete zuversichtlich zurück auf die Heilkraft des unverlierbaren, eben nur tapfer wiederzugewinnenden Menschentums. Warnbild u. Vorbild sind i. s. Dramen ausgerichtet oder doch allenthalben greifbar vorgebildet, bevor er auch prinzipiell an die „Erziehung d. Menschengeschlechts" herangeht. Und die mahnende Forderung, den anderen, auch den andersartigen Menschen, zunächst einmal als Menschen zu sehen u. zu verstehen, bestimmt überall das Kunstwollen u. d. Darstellungsabsicht des Dramatikers. Das Sich-Üben in der Fertigkeit u. Bereitschaft, Mitleid zu haben u. gesinnungsmäßig wie tatbereit u. hilfsbereit zu bewähren (Antithese: andächtig schwärmen u. gut handeln aus d. „Nathan") ist dergestalt nur eine, wenngleich unerläßliche Vorschule für eine wirksame Erziehung des Menschengeschlechts, weil es die unerläßliche Voraussetzung ist für ein zwischenmenschliches Verstehen und Geltenlassen (aber nicht Gehenlassen). Nach alledem zielt L.s Darstellungs- u. Wirkungsabsicht als schaffender Dichter (u. er war kein bloßer Paradigmenschreiber, kein bloßer „Verdichter" seiner kritisch-kunsttheor. Leitsätze) ab auf die Hebung der Menschlichkeit zur Menschenwürdigkeit u. z. Menschenwert. So läuft seine werkimmanente Poetik weniger auf eine Formästhetik als Gestaltästhetik, sondern auf eine Gehaltsästhetik als dichterisch geformte Ethik hinaus, insbesondere auf einen aktiven Humanismus im Vorfelde der Entwicklung zur dt. Klassik. Und in diesem Sinne ist Lessing, auch von seinem Kunstwollen aus betrachtet, weit mehr ein „Vorklassiker" als mancher der „Stürmer u. Dränger". In anderer Weise u. doch verwandt mit Wieland umgeht er gleichsam die Geniezeit, um ideelich u. teilweise auch schon formungstechnisch der Klassik

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zuzustreben. In der Zeitsymbolik der Uraufführung der Prosafassung der Iphigenie im Jahre des „Nathan" (1779) spiegelt sich diese Entwicklung. Sie wird formungstechnisch bestätigt durch die Entwicklung zur vorklassischen Dramenform, wobei die stileinheitschaffende Grundkraft der Ordnung u. Anordnung, der Proportionalität u. Symmetrie als ein die latente Dynamik einfangender u. ausbalanzierender „Gewichtsausgleich" frühzeitig wirksame Vorarbeit leistete. So willig Lessing seiner Zeit diente, so weit stößt er doch zugleich über sie hinaus. Sein Werkwille bleibt überall bedingt u. bestimmt vom Zukunftswillen. Sein Kunstwollen bleibt allenthalben lebendig bewegt und durchregt vom Kulturwillen. Der kritische Erziehungsoptimismus der deutschen Aufklärung erreicht in Lessing, dem Kritiker, der zugleich Dramatiker war, den höchsten Grad seiner Entfaltung. Die Erziehung durch den anderen (Minna, Nathan), die Erziehung durch sich selber und durch das Leben (Minna, Emilia, Nathan) bleiben immer der kritischen Kontrolle aus wachem Abstand unterworfen. Auch als Erzieher des Menschengeschlechts durch das Drama, das dennoch keine bloße „Tugendschule" bleiben darf, ist L. immer auch und nicht zuletzt Kritiker. Und nicht nur die Kritik, auch und gerade auch die Selbstkritik hat ihm etwas zu geben vermocht, „was dem Genie sehr nahe kömmt". Der Dramatiker Lessing erschöpft sich nicht im Kritiker; aber er läßt sich vom Kritiker her besser erklären. Die werkimmanente Poetik in Lessings künstlerischer Produktion geht nicht nur und nicht einmal im ersten Betracht vom Kritiker aus; aber sie geht im Ertrag auf den Kritiker zu, auf den Kunstkritiker, aber auch auf den Kulturkritiker. Lessing bietet in seinen künstlerischen Werken keineswegs nur Beispiele für eine abstrakte Poetik, sondern er bietet ein Beispiel für den Dauerwert einer konkreten Poetik, die dem Kunstwerk praktisch eingekörpert bleibt, ohne es zu sprengen. Durch das Werk wird dabei evident, was ihm als Kunstwollen immanent war. Und im Konstruktiven des Kunstwollens vollendet sich das Instruktive des Erziehungswillens. Indem er sich zum Ästhetischen erzog, diente er so einer ästhetischen Erziehung. Und seine Größe und Grenze liegt eben darin, daß er damals keine besseren Beispiele für die programmatische Poetik antraf und vorfand als die Beispiele, die er selber geschaffen hat und die dergestalt in der werkim-

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manenten Poetik seiner Kunstleistung vorlagen. Aber seine Werke sind schon deshalb nicht bloße Belege seiner Theorie, weil sie weit mehr in sich bargen, als der bloße Theoretiker damals erkennen konnte u. erklären durfte. Lessing wurde nicht ein Künstler, weil er Kritiker war, sondern er blieb auch dort Kritiker, wo er Künstler war. S. 206f. Christian Garve. — Wenig Literatur; über den G e n i e b e g r i f f Garves handelt B. R o s e n t h a l : Der Geniebegriff des Aufklärungszeitalters ( = German. Studien 138), Berlin 1933, S. 9 8 — 1 1 1 ; Garves Fortschrittlichkeit wird dabei etwas überschätzt, dagegen dürfte die Beziehung zu Mendelssohn im Ganzen richtig gesehen worden sein, obwohl G. etwas mehr Selbständigkeit einzuräumen ist. S. 207. R e z e n s i o n e n . — Garve als Verfasser der Riedel-Rezension : Fr. J. Riedel bemerkt in der Vorrede z. 2. Aufl. s. „Theorie" (1774), daß eine Reihe von „unparteyischen Richtern" über ihn in philosophischer Weise geurteilt hätte: „ A u f diese A r t betrachte ich das, was Klotz, Lessing und Garve i. d. Hallischen Journalen, in den antiquarischen Briefen und in der neuen Bibliothek der schönen Wissenschaften von meinem Buche gesagt haben." Auch K . F. W i z e nimmt in seiner Diss. über Riedel (1907) Garve als Verfasser jener Rezension an (a. a. 0., S. 40/41). Unbedingt beweiskräftig ist jene Annahme Riedels indessen nicht. Goedeke verzeichnet diese Rezension nicht unter Garve. S. 207. R a m l e r s O d e n a u s d e m H o r a z : Garves Rezension folgt unmittelbar dem Erscheinungsjahr (1769) in der „Neuen Bibliothek d. sch. Wiss. u. d. fr. K ü n s t e " X , 1. Stück. (1770), S. 58—90. Im ersten Teil zugleich Grundsätzliches zur Frage des Übersetzens: „Genie und Dichterfeuer" müssen ergänzt werden durch dienende sprachliche Kleinarbeit, „ F e u e r " u. „Bedachtsamkeit" müssen sich vereinigen. E s kommt darauf an, daß sich bei solcher Arbeit das Genie nicht „entkräften" lasse. Eingangs berührt Garve die Fragwürdigkeit der Regelsetzung (S. 59); über Akzent besonders S. 69—81. W . B r a u e r : Geschichte des Prosabegriffes (193S), S. 70/71 würdigt nachdrücklich die Ramlerkritik Garves im Rahmen der metrischen und stilistischen Theorie. Brauer sieht bei Garve den „ K e i m zu einer organischen Betrachtung der Stilistik, die allen Theoretikern damals

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so völlig abging". Es muß begrüßt werden, daß Garve nicht übergangen wurde, obgleich die Arbeit einen recht weiten Zeitraum (von Gottsched bis zum Jungen Deutschland) zu bewältigen hatte. Es handelt sich bei W. Brauers Untersuchung überhaupt um eine sehr dankenswerte Leistung, die mit Sorgfalt, Umsicht u. Liebe ein sprödes Gebiet in Pflege genommen hat. S. 208. „ L a o k o o n " - B e s p r e c h u n g : Allgemeine Deutsche Bibliothek IX, 1. Stck. (1769), S. 328—358, davon eigene Erörterungen Garves S. 348—358. S. 209. „ A u s d r u c k " u. „ S c h ö n h e i t " : Die betr. Definition Garves lautet: „Bey den Künsten, die das Vergnügen durch die Illusion würken, ist der A u s d r u c k , bey denen, die es durch den hervorgebrachten Gegenstand selbst unmittelbar ohne Beziehung auf das, was er vorstellt, würken, ist die S c h ö n h e i t d a s h ö c h s t e G e s e t z " (Allg. Dt. Bibl. IX, 1, S. 355). Für die Dichtkunst darf es deshalb „Ausnahmen vom Gesetz der Schönheit zum Vorteil des Ausdrucks" geben. Vorbereitet hat Garve diese L e h r e v o m A u s d r u c k schon etwas vorher dort, wo er von der „Gestalt" spricht, die vielfältig mit der Lebenswirklichkeit und auch mit unseren Interessen verflochten sei: „ . . . da werden wir diejenigen Eigenschaften (gegenüber dem nur Formschönen) vorziehen, die zugleich die Principien von Handlungen seyn können, durch die unser Zustand wirklich verbessert wird; und die Gestalt wird nicht an und für sich, sondern nur als Zeichen (Annäherung an den Symbolbegriff), nur insofern sie die F ä h i g k e i t e n o d e r die G e s i n n u n g e n , die wir verlangen, a u s d r ü c k t , in Betrachtung kommen" ( a . a . O . , S. 350) — und: „Je genauer ein Mensch mit unser würklichem Interesse verbunden i s t . . ., um destoweniger sehen wir auf die bloße Form" (S. 351). S. 209. V e r s u c h ü b e r die P r ü f u n g der F ä h i g k e i t e n : Neue Bibliothek VIII, 1 Stück, S. 1—44 u. VIII, 2 Stück, S. 201—231, als Eingangsabhandlung hervorgehoben. Zugleich enthalten in der Garveschen „Sammlung einiger Abhandlungen aus der neuen Bibliothek der schönen Wissenschaften u. d. freyen Künste" (1779). S. 210. E i n s c h r ä n k u n g des „ W i t z e s " : „Mit dem philosophischen Geiste verträgt er sich selten; eine sehr feurige

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Imagination verzehrt ihn sozusagen" (S. 213); dort auch Kernstelle über Oberflächlichkeit des „ W i t z e s " . — Seit Lessings unzweideutigem Vorstoß i. d. „Hamburgischen Dramaturgie" und Nicolais Vorgefecht i. d. „Abhandlung vom Trauerspiel" verliert der „ W i t z " schrittweise an Geltungsraum; vgl. auch P a u l B ö c k m a n n : das Formprinzip des Witzes i. d. Frühzeit d. dt. Aufklärung, Jb. d. Fr. Dt. Hochstifts 1932/33, S. 105/6. Garve berücksichtigt B ö c k m a n n i. ds. Zusammenhange nicht. — In Frankreich hatte T r u b l e t ,,Essais sur divers sujets de Litterature et de Morale" (6. Aufl. Amsterdam 1755) das Werk des Geistes bzw. „ W i t z e s " abgehoben vom Werke des Genies unter Zurückdrängung des Espritwertes. S. 210. H a m b u r g i s c h e D r a m a t u r g i e . — Garves Rezension, zit. nach „Neue Bibl.", X , 1. u. 2. Stück (1770), S. 117 bis 141 u. 211—244; vgl. E . S c h m i d t ; Lessing, 3. Aufl., Bln. 1909, I S. 634. S. 211. „ K r i t i s c h e W ä l d e r " . — Auf die bislang übersehene (oder doch vernachlässigte) R e z e n s i o n G a r v e s über Herders „ K r i t . Wälder" ist näher eingegangen B . M a r k w a r d t : Herders Kritische Wälder, Leipzig 1925, S. 30—33. Ebenso wurde dort mehrfach auf die kaum irgendwo bemerkte und berücksichtigte Rez. Garves zurückgegriffen a. a. O., S. 68, 76, 85, 99, 125 (über Oden), 129 usw., bes. i. d. Anmerkungen. — Garves Rez. findet sich: „Neue Bibl." I X , 1. u. 2. Stück (1769/70), S. 20—63 u. 250—280, umfaßt also mehr als 70 Seiten. Trotzdem ist sie auch von R. H a y m u. dessen immer noch grundlegender HerderMonographie übersehen worden; ebenso in der von W o l f g . H a r i c h besorgten Neu-Ausgabe des Haymschen Werkes, Bln. 1954 (vgl. W. Harichs Einleitung). S.214/5. G e n i e b e g r i f f : Das „Genie" wird als eine Idealgeistigkeit gefaßt, bei der die sonst nur auf verschiedene Träger verteilten geistig-seelischen Fähigkeiten, und zwar gerade auch einander scheinbar widerstreitende Fähigkeiten in einem Idealfall zusammenwirken: „ A b e r wenn dieselben in einem bestimmten Falle diesen Streit aufheben ; wenn sie in einer gewissen Seele zusammenkommen und sich einander das Gleichgewicht halten, wenn sie sich endlich alle zusammen auf einen gewissen Gegenstand vereinigen: alsdann bringen sie ein Genie hervor" (a.a.O., S. 2x8/9) — Das entspricht etwa Sulzers Geniebegriff, der

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noch in Sulzers Lexikon als „eine vorzügliche Größe des Geistes überhaupt" definiert wird, Allg. Theorie d. schönen Künste (2. Aufl. 1792), S. 363. Zu berücksichtigen bleibt, daß Garve hier nur beiläufig den Geniebegriff einbezieht. — Etwa wie Winckelmann die höchste ideale Schönheit nur vorstellbar erscheint durch Verschmelzung (und ein wenig auch noch durch bloße Summierung) von getrennt in der Wirklichkeit auftretenden schönen Teilzügen, so sieht man Genie als eine Summierung von Fähigkeiten. Zugleich spielt Analogiebildung des „vollkommenen Charakters", für dessen dichterische Verwendbarkeit Garve ebenfalls eintrat, mit. S.214/15. „ B e t r a c h t u n g e i n i g e r V e r s c h i e d e n h e i t e n . . . " , zit. nach „Neue Bibliothek" X (1770), S. 1—37 u. 189 bis 210; als Eingangsabhdlg. hervorgehoben, zugleich enthalten i. d. „Sammlung einiger Abhandlungen" Garves von 1779. S. 215. A n n ä h e r u n g an S c h i l l e r : Bes. beachtenswert im Hinblick auf Schillers Abhdlg. „Über naive und sentimentalische Dichtung" (1795) erscheint Garves Bemerkung: „Der alte Dichter sah die Natur, ohne zu wissen, daß er diese Betrachtung als seine Bestimmung oder als das Mittel zu gewissen Absichten zu betrachten hätte. Sie malte sich also in seiner Seele ab, ohne daß er einen einzigen Pinselstrich beygetragen oder sie in ihrer Zeichnung geleitet hätte. Unsre Dichter, wenn sie die Natur beobachten, tun es schon immer in der Absicht, sie zu schildern; sie wollen sie gerne schön sehen oder wenigstens so, wie sie sich schön ausdrücken läßt; und dadurch wird das Gemälde ein Gemische von wahren Eindrücken, von bloß eingebildeten Zügen ihrer Imagination und von abstrakten Begriffen, die sie durch Unterricht und Überlieferungen bekommen haben"; Neue Bibl. X , S. 14. S. 215. B e r ü h r e n des W o r t - S y m b o l w e r t e s : Garve vergleicht die Wörter im Reiche der „Güter des Geistes" und im Verhältnis zu den Ideen mit dem Gelde im Bereich der materiellen Güter: „einer Art von conventionellen Zeichen, die man im gesellschaftlichen Verkehr an die Stelle der Sache selbst setzt". Aber ausgehend von der üblichen Zeichenlehre der Zeit führt er das Vergleichsbild fort, indem er sich der Auffassung des Symbolbegriffs, zwar zaghaft noch und im metaphorischen Bereich, an-

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nähert. Die Wörter nämlich ruhen manchmal ungenutzt wie das Geld der Reichen „und befriedigen ihre Besitzer nur mit der bloßen Möglichkeit, sich die Vorstellungen oder Vergnügungen zu verschaffen, d e r e n S y m b o l e s i e s i n d " . (Neue Bibl. X , S. 27). Garve begnügt sich aber dann mit der Umschreibung „allegorisch", wobei eine Abhebung von „hieroglyphisch" erfolgt; a . a . O . , X , S. 207: „ . . . die Sprache nicht bloß allegorisch, sondern zum Teil noch hieroglyphisch". — E s ist bemerkenswert und wird häufig übersehen, daß schon die Aufklärer, jedenfalls die Auflockerer gelegentlich die für die Geschichte der Sprachphilosophie recht bedeutsame Bezeichnung „hieroglyphisch" verwenden, die also längst vor dem Sturm und Drang und der Romantik begegnet. S. 215. O r i g i n a l i t ä t : Indem Garve (einseitig) die Überlegenheit der Neueren in der Seelenkunde (verglichen mit den Alten) für die Dichtkunst auswerten will, macht er die Originalität fast zu einer A r t von S p e z i a l i t ä t . Die modernen Dichter haben sich gleichsam auf die Schilderung verwickelter und dennoch gut motivierter Seelenregungen zu spezialisieren (Bedeutung der „vermischten Empfindungen", vgl. M. Mendelssohn). Trotz des Anteils Verinnerlichung, die aber mehr auf Erkenntnis als auf Erleben beruht, überwiegt die mechanische Kausalität gegenüber dem organisch Gewachsenen. Die Organismusästhetik, obgleich von Herder bereits vorwärtsgetrieben, will sich noch nicht recht durchsetzen und stößt auf mancherlei Hemmungen. Der Aufklärer bemüht sich jedoch, den Mechanismus der Seelenanalyse so weit zu verfeinern, daß er sich in der Wirkung dem Organismus annähert. Auch in dieser Hinsicht wird die Nähe Lessings spürbar. S. 216. Blankenburg: Die Anregung durch Garve wird ablesbar an Blankenburgs „Versuch über den R o m a n " (1774), z. B . S. 60 u. 187. Es handelt sich vorwiegend u m Garves Abhandlung über das Interessierende. Doch stützt sich die Bezugnahme Blankenburgs (S. 60) ausdrücklich auf Garves Forderung, das Interesse nicht so sehr an ein äußeres Geschehen (Vorfälle u. Veränderungen) als vielmehr an inneres Seelengeschehen (Gesinnungen u. Begierden) zu binden. S. 217. F r . v. B l a n k e n b u r g : „ V e r s u c h üb. d. R o m a n " . Zitiert wird nach der Ausgabe „Versuch über den R o m a n " , Leipzig und Liegnitz 1774.

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S. 2i7f. A n n e l i s e F l o e r s h e i m : Der „Versuch über den Roman" des Freiherrn Chr. Fr. v. Blankenburg, ein Beitrag zur Geschichte der Romantheorie, Diss. München (Masch.), Auszug gedr. München 1927 — Mir lag nur der 3 Seiten umfassende Auszug vor, demzufolge A. Floersheim Blankenburg „der Übergangszeit vom Klassizismus zum Sturm und Drang" zuweist. „Wesentlich Neues hat Blankenburg nicht zu sagen", er habe nur die allg.gültigen Kunsttheorien „auf die bisher verachtete Gattung des Romans angewandt" und so die Rangstufe des Romans gehoben. A. Fl. will an W o l f i s Geschichte der Romantheorie anknüpfen (Wolff schließt mit Blankenburg ab). Richtig hebt A. Fl. das stark ausgeprägte Kausalitätsprinzip Blankenburgs hervor, ebenso die „Forderung eines nationalen Romans". Was allerdings Bl. „von den übrigen Theoretikern der Zeit" unterscheiden soll, ist — wie oft in derartigen Sonderuntersuchungen — notwendig schief gesehen, weil eine hinreichende Kenntnis der „übrigen" Theoretiker nicht vorliegt und ja auch gar nicht erwartet wird. Die Lockerung der AristotelesAutorität, Einwirkung Shaftesburys u. a. finden Erwähnung. „Wesentlich Neues" hat aber Bl. trotz Annelise Floersheim schon in seiner Vorrede „gesagt", indem er aus dem Umstände, daß der Roman die Lektüre der breiten Schichten darstellt, die Folgerung zieht, sich eben deshalb eingehender mit der Romangattung zu befassen und ihre Entwicklung verantwortungsbewußt zu fördern. Bl. bezieht damit einen k u l t u r p o l i t i s c h e n Standort der Bewertung, und zwar gerne bewußt und betont, wie seine Abwehr der bisherigen Vernachlässigung der Romantheorie (auf Grund einer bildungs- u. standesstolzen Mißachtung der Massen-Lektüre) hinreichend beweist. Ein gewisser s o z i a l e r S i n n ist dem Freiherrn v. Bl. zuzubilligen. S. 2i7f. M a r t i n S o m m e r f e l d : Romantheorie u. Romantypus der deutschen Aufklärung, in: Dt. Vjschr. f. Lit. u. Geistesgesch., Jg. 1926 S. 477 bis 480, hält sich streckenweise merklich an die Rezension i. d. „Neuen Bibliothek", Bd. 17 u. 18, zieht aber auch die Quelle selbst heran. Sommerfeld weist außerdem hin auf Rezensionen im „Teutschen Merkur" (1774), als deren Verfasser er Wieland vermutet, sowie in der „Allgem. Deutschen Bibliothek" X X V I . Anders als A. Floersheim sieht 35 M a r k w a r d t , Poetik II

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Sommerfeld Blankenburg als Krönung der aufklär. Romantheorie, nicht so sehr als Übergangserscheinung zum Sturm und Drang. Der nationalen Teilkraft in Bl.s Romantheorie wird S. nicht hinreichend gerecht. Dagegen trifft er Wesentliches, wenn er betont, daß in Blankenburg die Theorie den Anschluß finde an die tatsächlich geübte Praxis (S. 480). Die Deutung der Romantheorie Gottscheds, die hier anklingt (S. 478), hat bereits weiter oben eine kritische Ergänzung gefunden (Abschnitt J. A . Schlegel ds. Arb., S. 116). S. 221. S c h a u s p i e l e u. R o m a n e : Die oben mehrfach herangezogene Darstellung M. Sommerfelds über die Romantheorie der Aufklärung bedarf der Ergänzung u. a. dahin, daß halb uneingestanden dennoch der Roman sich schon vor Blankenburg etwas mehr Ansehen verschafft. Auch J. R i e d e l stellt (wie gelegentlich Gottsched, Brämer u. a.) einmal unbedenklich Roman und Lustspiel bzw. Tragödie zusammen; Riedels „Theorie", S. 222, ebenso Roman, Epos u. Theatralisches Stück, S. 330. Was das scheinbare Ubergehen einer vielgelesenen Gattung anbetrifft, so sei erinnert, daß selbst die Allg. D t . Eibl. Nicolais zum mindesten gelegentlich unter ihren „ K u r z e n Nachrichten" einen Abschnitt „ R o m a n e n " der Romankritik widmet, a. a. 0., Bd. I X , 2 Stück (1769), S. 2 5 8 - 2 6 4 . S. 222. D e u t u n g d e r O d e : Garve meint zu Herders Bemerkungen über die Ode: „Diese Ideen gesammelt und in Ordnung gestellt, würden ein kleines System der Ode veranlassen" (N. Bibl. I X , S. 278). S. 224. G. Chr. Lichtenberg. — Belegstellen beziehen sich auf Georg Christoph Lichtenberg: Vermischte Schriften; neue vermehrte . . . Originalausgabe, Göttingen 1844 f. — Aphorismen-Ausgabe besorgt von A l b e r t L e i t z m a n n , D L D d. 18. u. 19. Jh.s, Nr. 123, 131, 136, 140, 141 (1902 bis 1908). P. R i p p m a n n : Werk u. Fragment; Georg Christoph Lichtenberg als Schriftsteller, Bern 1953 (Baseler Studien z. dt. Sprache u. Lit. 13). H e l m u t h E g g e r t (Hrsg.): G. Chr. Lichtenbergs ausführliche Erklärung der Hogarthischen Kupfer-Stiche, Erfurt 1949, mit einem Nachwort des Herausgebers, das kurz über Hogarth (der mehr von moralischen als von

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ästhetischen Leitmotiven bestimmt sei) u. Lichtenbergs Deutung unterrichtet. Zeitlich sind die „Erklärungen" nach der Epoche des Sturmes u. Dranges erschienen (1794f.); seit 1782 wurde bekannt, daß L.Erklärungen zu H o g a r t h verfaßt habe; die Kenntnis Hogarths geht aber schon aus dem Göttinger Taschenkalender, den L.seit 1777 herausgab, hervor. Deutlicher bei P. R e q u a d t : Lichtenberg. Zum Problem d. dt. Aphoristik, Hameln 0. J. (1948), S. 63, wonach seit 1784 die Hogarth-Erklärungen im „Göttinger Taschen-Calender" veröffentlicht worden sind. Bei P a u l R e q u a d t a. a. 0. 1948 findet sich eine erfreulich eingehende Zusammenstellung der wesentlichen Publikationen über L. (S. 172—74); daraus seien hervorgehoben außer den früheren Arbeiten von R. M. M e y e r : Swift u. L., Bln. 1886, R. Focke: Chodowiecki und L., Lpz. 1901, W. A. B e r e n d s o h n : Stil u. Form d. Aphorismen L.s (1912), E r n s t B e r t r a m : G. Chr. L. —• Adalb. Stifter (zwei Vorträge Bonn 1919), R. K l e i n e i b s t : L.s Stellung z. dt. Lit. in: Fr. Forschung z. dt. Lit. Gesch. 4, 1915, V. B o u i l l i e r : J.Christ. Lichtenberg, Paris 1914, an relativ neueren oder durch ihre Spezialisierung bemerkenswerten Publikationen W. G r e n z m a n n : G. Chr. L., Salzburg-Wien 1939, A. L e i t z m a n n : Aus Lichtenbergs Tagebüchern, Zs. f. dt. Phil., Jg. 67, 1942, H. S c h ö f f l e r : Lichtenberg, Lpz. 1943, W. M a t z : L.s Verhältnis zur Sprachphilosophie, Bln. 1913, K. H a a r : Der Einfluß Montaignes auf L., Diss Prag (Masch. Expl.) Auszug 1925/26, W. A. B e r e n d s o h n : L. u. d. jg. Goethe, Euphor. Jg. 23 (1921); D e r s . : Euphor. Jg. 24 (1922); Beziehungen zu Goethe; vergl. auch W. Matz i. Zschr. f. dt. Unterr. Jg. 28 (1914). über P. R e q u a d t s Literaturangaben hinaus sei u. a. verwiesen auf P. R i p p m a n n (1953), s. o., u. M a r g a r e t L. Mare and W. H. Q u a r r e l : Lichtenbergs Visite to England as described in his Letters and Diaries (in: Oxford Studies 1938). Die neuere Sonderforschung von P. R e q u a d t neigt dazu, entsprechend seinem Ausgangspunkt (Anregung R. Ungers) Lichtenbergs Verhältnis z. Pietismus u. Empfindsamkeit zu untersuchen, Rez. R. Ungers zu W. G r e n z m a n n s L.-Arbeit v. 1939 i. d. Göttg. Gelehrt. Anzeigen 1940, vgl. Anmerkg. P. R e q u a d t , a . a . O . , S. 149/50, allzu stark die Verflechtung L.s mit Pietismus

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und Empfindsamkeit und damit die Säkularisierung christlicher Vorstellungen bei L. hervorzuheben (Frühzeit und Spätzeit L.s hätten christlich-religiöse Färbung; dabei übrigens gute Definition von Säkularisierung, S. 16). Demgegenüber dürfte der Aufklärer L. denn doch etwas zu kurz gekommen sein. Wertvoll ist das Herausarbeiten: der Bezüge L.s zu S t e r n e einerseits u. M. W i e l a n d andererseits sowie Vergleiche m. K a r l P h i l i p p M o r i t z und eingehend mit J u s t u s Moser; aber auch (hinsichtlich der Systemfeindschaft u. der aphorist. Denkart) mit B a c o n v o n V e r u l a m , sodann Einflußnachweise betr. A d a m B r a n d u. a. Ebenso ist bemerkenswert: d. Abhebungsversuch von säkularisiertem Pietismus u. Empfindsamkeit, das Einwirken der engl. Assoziationsphil., das Erkennen der „Improvisation" als Grundkraft bei L. und deren Verwandtschaft m. dem naturw. Experiment. Die gesellschaftskrit. Anklage (verwandt mit Hogarth), die Ehrfurcht vor dem Kleinen und die zugeordnete Meisterschaft im Detail, die „empirische Menschenkunde", die Abhebung von Lavater, die Abhängigkeit von der Umwelt, das Wechselspiel von Sensibilität und Sentimentalität, von Abstand und Nähe im Verhältnis zu Ding und Mensch, die krit. Beobachtungsgabe und die Fähigkeit zur Verdichtung, die sprachphilos. Ansätze: Problematik des Wortes, Problematik des Verstehens, Wertschätzung der volkstümlichen Sinnennähe auch im Spracherleben — um hier nur einiges herauszustellen. Etwas zeitbedingt wirkt die Formulierung „Ethos des Konkreten" u. „Ethos der Wirklichkeit", das angeblich bei L. anzutreffen sei; dagegen ist instruktiv die Stellung L.s zur Naturw. erläutert worden, zudem gestützt durch Literaturnachweise (Naturw. Schrifttum a. a. 0., S. 174.) Leider findet sich bei P. Requadt kein Abschnitt (auch kein Unterabschnitt) üb. das Verhältnis L.s zur Poesie oder gar über seine kunsttheoret. Anschauungen. Hierin kann also der obige Abschnitt des darstellenden Textes ergänzend wirken, obwohl er z. T. früher entstanden sein dürfte als P. Requadts recht dankenswerte Gesamtleistung. Was hierbei einmal angedeutet wird, kann als ein allgemeiner oder doch häufiger Mangel verzeichnet und bedauert werden, daß nämlich f. d. Verf. eigene Untersuchung von Fall zu Fall auch dort erforderlich war, wo erleichternde Vorarbeit erhofft oder erwartet werden

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konnte. Das gilt für Justus Moser sowohl als für G. Chr. Lichtenberg u. a. m. S. 224. Ü b e r d. dt. R o m a n . — L.-Ausgabe v. 1844, Bd. II, S. 215—221. S. 225. P a r a k l e t o r . — L.-Ausgabe v. 1844, Bd. II S. 207—214. S. 226. A n t i - Y o u n g . — P. Requadt: Lichtenberg (1948) S. 3yi. dürfte im Bemühen, die Parallele der Pastorensöhne (Young-Lichtenberg) durchzuhalten, diese Gegenbewegung aus der aufklärerischen Haltung L.s denn doch beträchtlich unterschätzen. Melancholie u. Hypochondrie dürfen nicht einfach miteinander gleichgesetzt werden. Das Einmündenlassen der Enderträge in Kierkegaard (a. a. O., S. 139) bestätigt diese Tendenz der LichtenbergDeutung P. Requadts. Wieweit der Anti-Young Lichtenbergs Beziehung aufweist zum Anti-Candide J. Mosers, sei hier nur beiläufig zur kritischen Erwägung gestellt. S. 227. „ F r a g m e n t v o n S c h w ä n z e n " . — L.-Ausg. v. 1844, Bd. IV, S. 109—119. S. 228. H e r g e b r a c h t e U r t e i l e . — Lichtenbergs Kampf gegen die Vorurteile mündet ein in die beherrschende Grundüberzeugung d. Aufklärung, daß der K a m p f g e g e n d i e V o r u r t e i l e der b e s t e der m ö g l i c h e n W e g e in die b e s t e der m ö g l i c h e n W e l t e n darstelle. Dieser Grundzug Lichtenbergs, der auch bei anderen Aufklärern u. Auflockerern nachweisbar ist und der gerade auch für das Kunstwollen und das Wirkungswollen entscheidend ist, wird von der L.-Sonderforschung durchweg unterschätzt, bes. auch durch die letzte (vorläufig letzte) zusammenfassende und fraglos erfreulich und anerkannt geistvolle L.-Darstellung Paul Requadts von 1948. Der Umstand nämlich, daß L. auch die Vorurteile des Sturmes u. Dranges einbezieht in seine Gesamtpolemik, darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß trotz unverkennbarer pietistischer Einflüsse der Frühzeit L.s sein entscheidender Ansatz von der Aufklärung her bestimmt bleibt. Zuzugestehen ist bei alledem seine Ansicht und Einsicht, daß die Moral der Aufklärung bei allem Bemühen um Säkularisierung dennoch durchweg doch nur die zehn Gebote der Bibel ersetzt und philosophisch umsetzt (Transponieren in die Transzendenz).

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S. 228. B e z u g auf Fr. N i e t z s c h e . — D e n Leichtsinn und recht relativen „Tiefsinn** einer Umwertung aller Werte macht Lichtenberg nur mit vielen Vorbehalten mit; denn Vorbehalte sind für ihn nicht dasselbe wie Vorurteile. Die Vorurteile sind zu bekämpfen; die Vorbehalte aber zu respektieren. Das Verwandte und Vorgeformte mit Bezug auf Fr. N i e t z s c h e bleibt die aphoristische Form der Gedanken u. Bedenken. Hinsichtlich der aphoristischen Fassung vgl. K . B e s s e r : Die Problematik der aphorist. Form bei Lichtenberg, Schlegel, Novalis, Nietzsche, Bln. 1935. — Inhaltlich liegt in L.s Einstellung der Anteil der aufklärerischen „Humanität", von der Fr. Nietzsche notgedrungen und weltanschaulich gezwungen sehr weit entfernt bleibt. Die Kritik am Menschentum schließt nämlich bei Lichtenberg die Liebe zum Menschentum in sich ein. Kritik wird bei L. geübt, um das Menschentum in seiner würdigen Ausprägung zu erreichen, nicht aber (wie bei Nietzsche) ein letztlich abstraktes „Übermenschentum" zu erreichen und zu forcieren. Auch die Einstellung zum Christentum bleibt bei L. trotz aller Einschränkungen weit positiver als bei Fr. Nietzsche; denn der Übertragung in das Profane (Lichtenberg) steht die Übersetzung ins nur Polemische (Nietzsche) schroff gegenüber. Lichtenberg ringt trotz aller Aufklärung ständig mit dem Christentum, Nietzsche spielt damit. Lichtenberg hofft ergänzen zn können (wenngleich nicht ersetzen zu können), was Nietzsche entbehren zu können glaubt. S. 228. G e n i e v o r s t e l l u n g . — Die „Schnelligkeit" als Merkmal des Genies war schon im „Geschmacks"-Begriff Joh. Ulrich Königs (1728) vorgebildet worden. Diese Wurzel erkannte der üppige Freiwuchs der Geniezeit freilich nur ungern an; trotzdem ist sie entwicklungsgeschichtlich unleugbar und unverkennbar vorhanden. Den rationalistischen Zug würde Lichtenberg mit jenen frühen Ansätzen teilen. Die Genie-Vorstellung L.s ist von der Sonderforschung bis hin zu P. Requadt durchweg nicht oder doch nicht hinreichend berücksichtigt worden. Trotz zeitbefangener Gesamttendenz ist P. G ö t t s c h i n g : Schubart (1939) zuzugestehen, daß er wenigstens im Zusammenhange mit der Würdigung der „Kaplieder" Schubarts eingesteht, daß es nicht nur darauf angekommen sei, in diesem Sonderfalle „Trost und Mut in manches zagende Herz auszugießen", sondern daß überhaupt der „Zweck

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der Dichtkunst" nicht darin bestehe, „mit Geniezügen zu prahlen, sondern ihre himmliche Kraft zum Besten der Menschheit zu gebrauchen"; vgl. P. G ö t t s c h i n g a. a. 0., S. 181. Insofern kann auch eine an sich tendenziös verzerrte Deutung dennoch rein materialmäßig gewisse Aufschlüsse vermitteln. S. 229. I m m a n u e l K a n t . — A . Neumann: L. als Philosoph u. seine Beziehungen zu Kant, Kantstudien Bd. 4 (1900), u. P. R e q u a d t a. a. 0., S. j8i. — Das Verhältnis L.s zu Kant erörtert u. a. J. D o s t a l - W i n c k l e r : Lichtenberg u. Kant, München 1924. Doch greift diese Erörterung themagemäß schon über den Sturm u. Drang im engeren Sinne hinaus. S. 229. Naturwiss. Können. — Die Sonderarbeiten von S. G ü n t h e r (1900), E. E b s t e i n (Farbentheorie, 1910), P. Hahn (Physik 1926); Derselbe (exakte Wissenschaften, 1927); Derselbe (Der Forscher Lichtenberg 1939), K. P r z i bram (d. Physiker L. 1927), G. Neugebauer (L. u. d. exakte Naturwiss. 1928), G. v. Seile (d. Univers, zu Göttingen 1737—1937, Göttingen 1937) verzeichnet P. Req u a d t a. a. 0., S. 174. S. 230. Interesse f ü r Rousseau. — Es wird durchweg v.d. Sonderforschung üb. L. vernachlässigt, auch bei P. Requadt nur allzu flüchtig erwähnt. Das „Natürliche" besitzt bei L. eine hohe Geltung. Das ist schon gegeben durch L.s Abwehr des nur „Systematischen" u. nur „Artifiziellen", das als naturfern und als volksfremd beurteilt u. verurteilt wird. S. 231. „ E m p f i n d u n g " u. Gefühl. — „Empfindung" steht vielfach noch für „Vorstellung" im Sinne des Empirismus u. d. Sensualismus. Dennoch ist unleugbar, daß L. die Stimme des „Gefühls" keineswegs überhört hat. Der Nachhall des Pietismus u. der Empfindsamkeit kommt an derartigen Stellen unverkennbar zur Geltung. S. 231. S p r a c h t h e o r e t i s c h e Überlegungen. — Gewisse Berührungen mit der Sprachauffassung d. jg. Herder jenseits dessen „Preisschrift" sind schlechthin unverkennbar. Die Ausdrucksgrenze der Sprache (den Ausdruckscharakter der Poesie gegenüber den anderen Künsten hatte schon Garve hervorgehoben) wird mehrfach spürbar. O. Walzel: Poesie u. Unpoesie (1937) hat das völlig übersehen. Denn

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Lichtenberg wird von 0. Walzel nicht einmal einer Erwähnung für würdig befunden dort, wo von „Zeichenlehre" einerseits u. „Ausdruckslehre" andererseits die Rede ist. Um so beachtlicher erscheint es, daß P. Requadt a. a. O., S. 52f. (Unzulänglichkeit der Sprache betr. d. adäquaten Ausdrucks) u. S. 100 f. (Stilprobleme) das Verhältnis Lichtenbergs zu Sprache u. Stil in seine umfassende Gesamtdeutung L.s einbezieht. Hierher gehört auch das an sich zunächst überraschende Verständnis L.s für Jakob Böhme. S. 233. B r i e f e a u s E n g l a n d . — L.-Ausgabe v. 1844 u. M. L. Mare u.W.H.Quarreil: Lichtenberg's Visits to England as described in his Letters and Diaries, in: Oxford Studies, Oxford 1938. S. 233. E n g l i s c h e B ü h n e , Garrick. — Während P. Requadt die Kunsttheorie L.s recht stiefmütterlich behandelt, geht er erfreulicherweise an dem Garrick-Eindruck nicht achtlos vorüber, sondern würdigt ihn a. a. O., S. 56f. unter Bezug auf John Alex. Kelly: German Visitors to English Theatres in the 18 t h Century, Princeton 1936. Bes. f. d. Gesch. d. Schauspielkunst sind diese Bemerkungen L.s dankenswert; vgl. auch A. Leitzmann: Notizen üb. d. engl. Bühne aus L.s Tagebüchern; in: Shakespeare-Jahrbuch Nr. 42 (1906) u. Mare-Quarrell a. a. 0 . (1938). S. 234. E r k l ä r u n g d. H o g a r t h s c h e n K u p f e r s t i c h e . — V g l . die Ausgabe d. Erläuterungen L.s zu d. Kupferstichen Hogarths von H. Eggert, Erfurt 1949. S. 234. K u n s t d e u t e r . — In diesem Betracht würde sich G. Chr. L. also Joh. Heinr. Merck und Wilh. Heinse annähern, doch so, daß bei Lichtenberg das krit. Element überwiegt, obwohl es auch bei J. H. Merck u. Wilh. Heinse unverkennbar mitwirkt. S. 236. G r e n z e n d e s V e r s t e h e n s . — Diese Grenzen des Verstehens übersieht P. Requadt, wenn er L. zu sehr in die religiöse Nebenströmung des Sturmes u. Dranges einbezieht. S. 236. N e b e n w e r k e u. G r e n z w e r t e d. P o e t i k u. a l l g . K u n s t t h e o r i e . — Im Gefolge von G. Fr. Meiers „ A n fangsgründen aller schönen Wissenschaften" (1748—50) und unter dem Eindruck des Baumgartenschen Systems

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breitete sich eine Fülle von Literatur zur Ästhetik u. Poetik aus, vielfach aus Vorlesungen hervorgegangen oder für Vorlesungen bestimmt. Die sog. „Theorien der schönen Künste" wurden zeitweise geradezu Modeerscheinungen. Einiges sei mehr datenhaft verzeichnet. Im Jahr der Riedeischen Theorie (1767) sind zwei weitere Arbeiten herausgekommen. Joh. Heinr. Faber: Anfangsgründe der schönen Wissenschaften, die nicht nur in der Titelgebung von G. Fr. Meier abhängig sind, und C. H. Schmid: Theorie der Poesie nach den neuesten Grundsätzen. Als Dritter folgte unmittelbar Joh. Gotthelf Lindner: Lehrbuch d. schön. Wissenschaften, insonderheit d. Prosa u. Poesie (1767/68). Der Freund Hamanns u. Herders hat als Königsberger Prof. um diese Publikation zweifelhaften Wertes noch andere Arbeiten einschlägigen Inhalts herumgeschrieben, so einen „Kurzen Inbegriff der Ästhetik, Redekunst u. Dichtkunst" (1771/72) wie vorher eine Art von Stilkunde. Schon die zeitgenöss. Kritik wurde angesichts dieser Bemühungen Lindners lebhaft an Uhse, Hübner u. Chr. Weise (vgl. Bd. I) erinnert. Der Verstand, so beruhigt Lindner, erleidet keinen Abbruch, wenn Baumgarten mit den „unteren Seelenkräften" arbeitet. Batteux u. Baumgarten werden unbedenklich vermischt, ohne Gefühl für die Reichweite Baumgartens über Batteux hinaus; Romane zu Lande und zu Wasser werden feierlich unterschieden usw. Obwohl von Lindner abgetan, ist doch Joh. Bernhard Basedow: Lehrbuch prosaischer u. poetischer Wohlredenheit (1756), verwandter mit ihm, als er annimmt, schon durch den Bezug auf Poesie u. Prosa. Hier hätte die an sich recht tüchtige u. tapfere Arbeit von W a l t e r B r a u e r : Geschichte des Prosabegriffes von Gottsched bis zum Jungen Deutschland, Quellen u. Forschungen, Frankf. a. M. 1938 noch eine gewisse Ergänzung finden können. Eine starke Annäherung von Poesie u. Rhetorik wird allenthalben bei Basedow, der als Pädagoge bedeutender gewesen sein dürfte als auf dem Gebiet der Poetik, spürbar. Die negativen Merkmalsbestimmungen (was denn nun Prosa oder Poesie sei) überwiegen (vgl. Linie: Charles Batteux, J. A. Schlegel, Brämer u. a.). Auch die „sinnliche Vorstellung" (Abwehr Baumgarten-Meier) und die Begeisterung (Abwehr der Enthusiasmuslehre) finden Gnade vor dem gestrengen Schulmeisterauge. Die „vernünftige Absicht" ist letztlich entscheidend, wenn auch das Darstellungsziel „gefallen

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oder vergnügen" immerhin bemerkenswert bleibt. Basedow greift zu französ. Belegen, weil er die dt. Dichtung nur unzulänglich kennt. Mit Auszügen aus bekannteren Kunsttheoretikern in Verbindung mit einer stichworthaften Lit.-Gesch. versucht es Chr. Heinrich Schmid: Theorie der Poesie nach den neuesten Grundsätzen u. Nachricht von den besten Dichtern (1767), anfangs relativ wohlwollend beurteilt, dann jedoch, als „Zusätze zur Theorie der Poesie" hinzutraten, bereits von d. zeitgenöss. Kritik erfaßt i. d. zahlreichen Irrtümern u. Unrichtigkeiten. Mit der Vermittlung der Lehren Sulzers versucht es Friedr. Ant. Büsching: Geschichte u. Grundsätze d. schön. Künste u. Wissensch. (1772/74), der er einen Auszug „Ästhetische Lehrsätze" (1774) folgen läßt (Sulzers Lexikon geht darauf ein). Etwas rokokohaft gebärdet sich im Jahre d. 2. Aufl. der Riedeischen Theorie Joh. Justus Herwig: Grundriß der eleganten Literatur (1774). Auf Riedels Geschmackstheorie griff zurück Chr. Meiner: Grundriß d. Theorie u. Geschichte d. schön. Wiss. (1787). Da begegnet ein Schubart mit „Vorlesungen üb. d. schön. Wiss." (1777) oder Lorenz Westenrieder (,,Engelhof"-Rom.) m. s. „Einl. i. d. schön. Wiss." (1778) oder C. G. Schütz, der schon i. s. Diss. „De origine ac sensu pulchritudinis" (1768) das zeitgemäße Gebiet der Ästhetik angesteuert hatte, mit einem Lehrbuch zur „Bildung des Verstandes u. d. Geschmacks" (1776 bis 1778). Gelegentlich gibt man wohl auch noch unbekümmert Anweisungen nach Poetikerart vergangener Zeiten, so etwa Heinrich Braun: Anleitung zur dt. Dicht- u. Versekunst (1771, 78) oder Frz. Serg. Haase: Kurzer Inbegriff der Kenntnisse u. Lehrsätze zur Einsicht (!) u. Verfassung (!) aller notwendigen (!) Gattungen der Gedichte (1778). Dieser Heinr. Braun, der sich im Gefolge Lessings auch als Fabeldichter versucht hat in „Prosaischen Fabeln u. Erzählungen", handelt in einem theor. Anhang (nach größerem Muster) denn auch „Von der äsopischen Fabel" (1772), was kurz verzeichnet sein mag, weil Goethe in einer Rezension der „Frankfurter Gelehrten Anzeigen" (Mai 1772) kritisch auf H. Brauns Fabeldefinition eingegangen ist, die ihm reichlich Verblasen vorkam. Angesichts eines Machwerkes wie dem F. S. Haases reißt selbst Sulzers zähem Sammlereifer die Geduld, dergestalt, daß ein Zusatz vermerkt: „Nicht bloß für, sondern auch von einem wirklichen Anfänger geschrieben." Über eine

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ganze Reihe weiterer Theoretiker wie Ernesti, J. C. König (nicht zu verwechseln mit Joh. Ulr. König), Gang, Steinbart, Meinecke, Schott, Eulogius Schneider u. a. läßt sich diese geistig durchweg dünne Linie verfolgen bis hin zu Carl von Dalberg u. dessen Beitrag von 1791, also bis in die Spätaufklärung hinein. Etwas näher zu würdigen wäre höchstens die Dreiergruppe des Jahres 1783: Eschenburg, Engel, Eberhard. Exkurs: Eschenburg-Engel-Eberhard D i e s p ä t a u f k l ä r . P o e t i k e n d. J a h r e s 1783. — D e r Shakespeare-Übers. J. J.Eschenburg (Wieland ergänzend), der Verf. d. theatergesch. bedeutsamen „Ideen zu einer Mimik" (1785/86), J. J. Engel (Dichter des „Lorenz Stark" u. d. Singspiels „Die Apotheke") u. Joh. Aug. Eberhard (1739—1809) legen in diesem denkwürdigen Jahre jeder eine „Theorie" vor. Es kann damals nicht Wunder nehmen, daß manches Fortschrittliche dabei zu Geltung kommt. Man hat von d. liter. Programmatik des Sturmes u. Dranges auch in Aufklärerkreisen inzwischen doch einiges gelernt, ohne alles vorbehaltlos anzunehmen u. gutzuheißen, u. manches deutet schon auf die Klassik voraus, der sich Goethe damals teilw. unter Herders Einfluß mehr und mehr näherte. Kurz, wir stehen an einer der zeitlichen u. ideelichen Überschneidungsstellen der Literaturepochen. Wenn z. B. Joh. Jakob Engel (1741—1802), der vorwiegend für die Gattungstheorie sich interessiert zeigt, von der „Fülle des Herzens" spricht, aus der heraus der echte Dichter allein wirksam reden könne u. müsse, so mag freilich G. E. Lessings Mahnung an die Schauspieler, alle „Moral" stets „aus der Fülle des Herzens" zu sprechen, mitwirken; aber die Überzeugung, daß „kein andrer Ton . . . wahrhaft dichterisch" sei, dürfte eben doch eine Erkenntnis geniezeitgemäßer Art sein, die vom Spätaufklärer in seiner Art verwertet wird. Auf der anderen Seite deutet jene zeitliche Überschneidung der Umstand an, daß Kants „Kritik der Urteilskraft" nicht zum wenigsten gegen J. A. Eberhard u. dessen spätaufklärer. Ästhetik gerichtet war. Eine über die Jahrhundertwende hinwegreichende Nachwirkung der Ästhetik- u. PoetikLehrbücher Eschenburgs, Engels u. Eberhards läßt sich verfolgen bis hin zu den Ästhetik-Vorlesungen G. A. Bürgers, die freilich mehr dem notgedrungenen Göttinger Dozenten Bürger als dem Dichter angehören.

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Zeitlich geht Joh. J o a c h i m E s c h e n b u r g (1743—1820) mit seinem „Entwurf einer Theorie u. Literatur d. schön. Wissenschaften" (1783) insofern voraus, als er die „ersten Grundzüge" seiner Theorie schon „vor zwölf Jahren", also etwa 1771, zur Zeit der „Allgem. Theorie" G. Sulzers, entworfen haben will. Voraus gingen zudem eine Übersetzung von „Horazens Episteln an die Pisonen u. an den Augustus mit Kommentar u. Anmerkungen nebst einigen krit. Abhandlungen von R. Hurd" (1772). Eschenburg spielt u. a. Lessing u. Sulzer gegen Einzeldefinitionen Hurds aus; teils handelt es sich um die Frage der Duldung von Grausamkeiten auf der Bühne (Abwehr französ. Theoretiker), teils um die Frage des Chors im Drama, dessen von Hurd und Vatry empfohlene Wiedereinführung Eschenburg ablehnt, eine Auseinandersetzung, die gestreift werden mag im Vorausblicken auf Schillers Vorrede zur „Braut von Messina". Weiterhin hatte Eschenburg Daniel Webbs „Observationes on the correspondence between Poetry and Musik" (1769), die teilweise auf J. J. Harris zurückgingen, ins Deutsche übersetzt (1771). Die Einwirkung Webbs auf den jungen Herder ist unabhängig davon, da sie schon für die „Kritischen Wälder" nachzuweisen ist. — D e r „Entwurf . . ." von 1783 gliedert sein Gesamtthema auf in eine Ästhetik, Poetik u. Rhetorik. Darstellungsziel der Poesie ist (unter Verbindung der Zeichenlehre, d. Ästhetik Baumgartens u. d. Kraftbegriffs Herders?) „Rührung u. Ergötzung der Sinne u. Phantasie", die Erreichung des „höchsten u. zweckmäßigsten Grades sinnlicher Kraft" und unter Einbeziehung der Sulzerschen Lehre von einer „Lenkung des Gemüts" die „Bewegung u. Lenkung des Herzens". Das Eklektische wird weiterhin erkennbar, wenn nun der „Darstellungs"-Begriff einmündet (Klopstock, Stolberg u. a.) u. anstelle von „sinnliche, vollkommene Rede" (Baumgarten) gesetzt wird „sinnlich vollkommene Darstellung", die über die bloße „Nachahmung der schönen Natur" (Batteux) gestellt wird. Hinsichtlich der Lyrik spricht Eschenburg unter Einwirkung der Ausdruckslehre wohl auch vom „sinnlich vollkommenen Ausdruck". Es ist immerhin bemerkenswert, daß Baumgartens Terminus „Rede" ersetzt worden ist durch die Termini „Darstellung" einerseits u. „Ausdruck" andererseits. Die Poetik definiert Eschenburg so: „Der Unterricht in den Regeln der Dichtkunst überhaupt und jeder Dichtkunstart ins-

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besondere wird mit einem Worte Poetik genannt." Zugleich gilt die Poetik (wie schon bei Brämer) als unentbehrliche Hilfswissenschaft für den Kunstrichter, den Kritiker, dem sie zu einer erhöhten „Gründlichkeit u. Bestimmtheit seiner Urteile" zu verhelfen vermag. Lessing wirkt bes. hinsichtl. d. Fabeltheorie nach (in wörtl. Anklängen). Sonst beruft sich Eschenburg auf Aristoteles u. Horaz, Vida (auch am Schluß der Vorrede), Scaliger, Vossius, Boileau, Gottsched, Breitinger, Marmontel u. a. Die reichlich beigegebenen Lit.-Angaben reichen etwa bis zu G. Sulzer und Gerard bzw. Garve. Der Hinweis auf praktische Beispiele (eigentl. Dichtproben fehlen) erfaßt noch Klopstock u. Wieland. Vereinsamt taucht bereits bei Lustspiel u. „komischer Oper" (!) der Name Goethe, zwischen wesensfremde Namen eingestreut, auf. Von den französ. Theoretikern wird Jean François Marmontel mit seiner „Poétique françoise" (1763) merklich bevorzugt. Doch bleibt Sulzers kunsttheor. Lexikon die Hauptquelle. Hinsichtlich der Gattungsgliederung wirkt Buchner (u. das Redezuteilungskriterium des Barock) nach. Die lyrische Poesie wird der epischen Gattung zugewiesen (Fabel, Erzählung, Schäfergedicht, Epigramm, Satire, Lehrgedicht u. Epistel, Elegie, die „lyrische Poesie u. d. Heldengedicht"-Epos). Immerhin wirkt die Geniezeit soweit ein auf die Bestimmung der Lyrik, daß der Dichter in ihr „sein volles Gefühl ausdrücken" soll. Die Ausdruckslehre spielt merklich hinein, wenn E. definiert, daß „sinnlich vollkommener Ausdruck leidenschaftlichen Gefühls die ganze Seele des Dichters einnimmt". Sulzers Stichwortartikel: Lyrisch, Hymne, Ode, Lied tauchen dabei nicht zufällig i. d. Anmerkungen auf. Eine Nachwirkung der Ausdruckslehre J. A. Schlegels ist um so wahrscheinlicher, als E. merklich J. A. Schlegel heranzieht. Das Sonett wird noch notdürftig untergebracht, wie es denn Sulzer zu den „poetischen Tändeleien" rechnete („Allgem. Theorie") oder Gottsched vollends verständnislos als bloßen „poetischen Unrat" abgetan hatte. Die Dramentheorie folgt Aristoteles, Dryden, Diderot, Mercier u. überwiegend Lessing (Hamburg. Dramaturgie). Der Katharsisbegriff wird nicht als Reinigung, sondern als „Lenkung" der Leidenschaften gedeutet (vgl. Sulzers „Lenkung des Gemüts"). Der Dramatiker bedarf des ordnenden Verstandes u. anordnenden Kunstverstandes. Handlungseinheit ist wichtiger als Orts- u. Zeiteinheit.

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Vermeidung des „Wunderbaren" (in Abhebung vom Epos). Bemerkenswert ist die Verbindung von Ausdruckslehre und Berücksichtigung des Nationalcharakters u. Zeitcharakters (Drama: „eigentümlicher Ausdruck jeder Nation u. jedes Zeitalters"). Im Verhältnis von Dichtung u. Datentreue verschiebt sich die Wertung etwas zugunsten der Datentreue (histor. Drama). Hinsichtlich der Oper (vgl. Wieland) gewisse Ansätze zum Gesamtkunstwerk (Richard Wagner; G. E. Lessings geplanter 2. Teil des „Laokoon"). Der Geniebegriff wird reguliert durch Geschmack u. „Besonnenheit" (Herder?). Joh. J a k o b E n g e l (1741—1802) steuerte wie für die Theatergeschichte die „Mimik", für die Geschichte der Poetik die „ A n f a n g s g r ü n d e e i n e r T h e o r i e der D i c h t u n g s a r t e n , aus deutschen Mustern entwickelt" (erster u. einziger Teil, 1783) bei. In der Geschichte des Romans erwarb sich sein fast nach Lustspieltechnik recht straff aufgebauter psychologisch-pädagogischer Familenroman „Herr Lorenz Stark" (1795/96) ein solches Ansehen, daß später noch Garlieb Merkel in den „Briefen an ein Frauenzimmer . . . " den Romandichter Engel gegen Goethe ausgespielt hat. Fragen der Gattungsgliederung war schon die fragmentarische Abhandlungsreihe „ Ü b e r H a n d l u n g , G e s p r ä c h u. Erzählung" (1774) nachgegangen im merklichen Bemühen, Lessing u. Sulzer zu ergänzen. Hinsichtlich der „Handlung" wählt er den vertieften Handlungsbegriff der Fabelabhandlung Lessings; denn der eigentliche „Schauplatz aller Handlung" sei eine „denkende u. empfindende Seele". Ein Gliederungskriterium versucht er zu gewinnen, indem er Sulzers Stufung nach der verschiedenartigen „Laune" ersetzt durch den Grad und die „Natur der Begeisterung". Einen anderen Zugang versucht er über A. G. Baumgartens Gedicht-Definition, einen weiteren mit Hilfe der Dreiteilung der Seelenkunde. Unklarheit entsteht u. a. dadurch, daß J. J. E. stets von den Begriffen „Handlung" u. „Gespräch" ausgeht, statt etwa das Drama als Ganzes mit der Erzählung als Einheit zu kontrastieren. Eine tragfähige Grundlage wäre höchstens dann gegeben gewesen, wenn er das Gespräch im Drama mit dem Gespräch im Roman (bzw. i. d. Erzählung) verglichen haben würde. Der Herausgeber der Zeitschrift „Der Philosoph für die Welt" ließ jedoch sein Interesse für das philosophische Gespräch (Auflockerungsform f. d. aufklär. Erörterungs- u. Abhand-

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lungsprosa) merklich überwiegen. Aber selbst sein „Lorenz Stark" ist überwiegend in Gesprächsform aufgebaut (entgegen den früheren Begrenzungen des Romandichters gegenüber dem Dramatiker). Gemäß dem Kausalitätsgefühl des Aufklärers besitzt E. wie Blankenburg ein Organ für die innere Motivierung der Erzählung. Schon jene Fragmente „Uber H a n d l u n g . . . " bemühen eine ganze Reihe von Gewährsmännern: Lessing, Sulzer, Diderot (als Theoretiker u. zugl. als Beispiel f. d. poetische philosophische „Gespräch"), Garve („Laokoon"-Rez.), Herder („Krit. Wälder") u. greifen auch auf Bacon, Sokrates u. Plato zurück, berichtigen Batteux u. ziehen Homer u. Milton, Shakespeare u. Molière als Muster heran. Hinzu treten Rezensionen üb. K. W. Ramlers „Lyrische Gedichte" u. üb. Diderots „Contes moreaux" im Rahmen d. „Neuen Bibl." (1772—74). Bes. war die D i d e r o t - R e z e n s i o n von 1773 die erste Keimzelle für alle weiteren Gedankenreihen, auch f. d. „Theorie der Dichtungsarten". Um das philosophische u. zugleich poetische Gespräch hat sich E. besonders bemüht, ähnlich um Gesetze für ein wertvolles „Lehrgedicht", wobei er Baumgartens Kriterien des „Sensitiven" umsetzte in „Lebhaftigkeit" und Gegenständlichkeit („Materie"). Den Begriff „Materie" gewann er im wesentl. von Diderot. So gelangt er schließlich zu der Bestimmung: „Wenn jedes Gedicht eine lebhafte Ideenreihe in Worten ist, so ist Materie das beherrschende Gesetz dieser Reihe." Zudem muß der „Faden der Erfahrung" den Poeten in das „Labyrinth" der Geistigkeit führen. Die Zauberformel heißt bei alledem „Lebhaftigkeit". Den bloßen Rationalismus hatte schon der Empirismus der Diderot-Rezension in seine Schranken verwiesen. Entwicklungsgeschichtlich bemerkenswert : Engel im Rahmen der Lehrgedichte (Lichtwers „Recht der Vernunft" gilt als zu wenig „lebhaft", zu sehr als Versifizierung eines philos. Systems) vermißt die Ausprägung von „sogenannten Kunstgedichten" (wobei offensichtlich Berufsgedichte, Fachgedichte, Arbeitsgedichte gemeint sind). Die Ursache dieses Mangels Hege darin, daß die Dichter „heutigestages in zu weniger Gemeinschaft mit Arbeitern und Künstlern" leben, dergestalt, daß die „Begriffe von den Verrichtungen derselben" nicht mehr hinreichend bekannt u. daher auch vermeintlich nicht interessant seien. (Ähnliche Klänge bei Fr. v. Hagedorn, Garve u. a.) Den Roman berücksichtigt

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Engel in diesem ersten Teil (der j a der einzige blieb) s. „Theorie d. Dichtungsarten" noch ebensowenig wie Sulzer i. d. ersten Ausgabe seiner „Allgem. Theorie". Innerhalb seiner Artgliederung möchte J. J. Engel Drama u. Epos unter dem Handlungsbegriff zusammenfassen; doch will ihm die Bezeichnung „handelndes" Gedicht (Lessing) oder „energisches Gedicht" (Herder) nicht recht zusagen, so daß er die Verlegenheitslösung „pragmatisches Gedicht" (als Oberbegriff) wählt. Besonders stolz ist er auf seinen „Materie"-Begriff. Einiges fällt für die Ausdruckslehre ab, anderes für die Unterscheidung von Poesie u. Prosa. Die aufklärerische Umschränkung verrät sich in der verständnislosen Abwehr des Religiösen u. Volkstümlichen: Erfindung kann nicht das entscheidende Kriterium sein, da Heiligenlegenden u. „Koboldmärchen" unleugbar mit „Wesen der Erfindung" arbeiten, aber doch eben keine Dichtungen seien. Vielmehr biete die Wirklichkeit hinreichend Materie, um „Einbildungskraft u. Herz zu erwärmen". Der Sprachrhythmus, den Arno Holz noch ganz neu erobern zu müssen meinte, findet schon bei Engel eine beachtenswerte Würdigung. Im Gesamttypus will Engels „Theorie" möglichst anwendbare Poetik bieten, mehr kunsttechnisch beratend, als normativ verfahren. Ähnlich wie die „Ideen zu einer Mimik" (1785/86) zwar dem begabten Künstler einen gewissen zeitlichen Vorsprung einräumen, der aber bald eingeholt und auf die Dauer selbst überholt werde vom Künstler, der zugleich Kenner (der Kunstgesetze) sei wie etwa Konrad Ekhof, so sucht die „Theorie" die theoretischen Einsichten „ans Praktische" zu knüpfen. Dadurch hebt sich Engel merklich von Eschenburg ab. J o h . A u g . E b e r h a r d folgt mit s. „ T h e o r i e d. s c h ö n e n K ü n s t e u. W i s s e n s c h a f t e n " (1783) grundsätzlich A . G. Baumgarten und in manchen Fragen der Gattungsbestimmung zudem J. J. Engel (vgl. dessen frühere Fragmente „Über H a n d l u n g . . ."). Zudem wirkt M. Mendelssohn deutlich nach, indem nun über dessen „theatral. Sittlichkeit" hinaus schon von einer „ästhetischen Sittlichkeit" gesprochen wird. Eine bloße Tugendschule wird abgelehnt; doch sei es vorteilhafter, wenn ein Kunstwerk den Tugendgesetzen wenigstens „nicht zuwider" verfährt. Hinsichtlich der Naturnachahmung muß der Künstler eine Auslese treiben. Genie u. Geschmack stehen nahe beieinander. Und die „ästhetische Weisheit" darf auch

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dem „fruchtbaren Genie" nicht fehlen. In einem Sonderabschnitt wird das „ästhetische Genie" behandelt als Kombination von Fähigkeiten, darunter auch „sinnliche Beurteilungskraft" (sinnlich bedeutet sensitiv, Beurteilungskraft bedeutet Geschmack, vgl. Kants „Kritik der Urteilskraft"); erst an letzter Stelle der üblichen Kette stehen die „Leidenschaften", die ethisch gemildert werden müssen, um künstlerisch verwertbar zu sein. Der Sonderteil „ D i c h t k u n s t oder P o e t i k " , der also „Dichtkunst" noch i. d. älteren Wortbedeutung (gleich Poetik, wie Gottsched, Breitinger u. a.) anwendet, unterscheidet Poesie in „weiterer Bedeutung" (Baumgarten: sinnliche vollkommene Rede) u. „engerem" Sinne, die darüber hinaus eine äußere Formvollendung (Metrum, Rhythmus) erfordere. Teils von hier, teils von den Stufen der Seelenkräfte aus sucht Eberhard dem Unterschied von Poesie u. Prosa beizukommen (z. T. ist schon das Poetische u. Prosaische gemeint). Trotz Lessings „Laokoon" kennt Eberhard noch eine „malerische Dichtkunst"; doch mögen dazu die „Laokoon"-Rezensionen Herders u. Garves ermutigt haben. Die „pragmatische" Gruppe (vom Drama in Epik übergreifend) ist von J. J. Engel zugestandenermaßen übernommen worden. Eberhards „Handbuch der Ästhetik" (als mehrbändiges Werk in Briefen angelegt), schon ins 19. Jh. hinüberragend (1805), setzt sich u. a. mit Blankenburgs Romantheorie krit. auseinander. Eberhard (nicht Blankenburg!) steuerte dann auch den Artikel „Roman" bei für die „Nachträge" zu Sulzers großem kunsttheor. Lexikon. Der Roman wird als moderne Ablösungsform des Epos angesehen. Für den historischen Roman besteht kein rechtes Verständnis. Eberhard brachte bes. das Attribut „ästhetisch" verstärkt in Umlauf. Seine Theorie von 1783 hatte bereits den vorkritischen Kant (Abhandlung vom Schönen u. Erhabenen) herangezogen neben Herders Geschmacks-Abhandlung (Ursachen des gesunkenen Geschmackes). Kants „Kritik der Urteilskraft" war nicht zuletzt gegen Eberhards spätaufklärerische Ästhetik gerichtet. S. 236. R ü c k b e z i e h u n g e n v o m R o k o k o z u m B a r o c k . — Besonders stark herausgestellt und grell belichtet bei H. C y s a r z : Deutsche Barockdichtung (1924), Abschnitt: Barock u. Rokoko, S. 275, 277, 281, 282 u. ö. Gedämpfter hinüberwirkend in die allgemeine Literaturgeschichtsdar36 M a r k w a r d t , Poetik II

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Stellung z. B. bei F r a n z K o c h : Geschichte deutscher Dichtung, Hamburg 1937, S. 116. Bald nach Cysarz vertrat der Romanist Friedrich Schürr: Barock, Klassizismus u. Rokoko i. d. französ. Literatur (1928), S. 39 ähnliche Anschauungen für das französ. Rokoko. W e i t e r e L i t e r a t u r z. französ. Rokoko, darunter Arbeiten von Fr. N e u b e r t (1929), E r w i n Rohrmann (französ. Rokoko-Lyrik, 1930) verzeichnet die Sonderabhandlung H. H e c k e i s in der Siebs-Festschrift von 1933, S. 225, Anm. Heckel selbst arbeitet bereits überwiegend die Abhebung des Rokoko vom Barock heraus, ohne die Teilbindungen zu übersehen. F r a n z P o m e z n y : Grazie und Grazien (1900), Kap. II.: Die Entwicklung des Anmutsbegriffes in d. Theorie des 18. Jh. a. a. 0., S. 32—92, eine für den damaligen Stand der Forschung beachtenswerte Leistung. — E. Merker: Graziendichtung, Reallex. Merker-Stammler, Bd. I (1925) berücksichtigt den Anmuts-Graziebegriff mit fraulicher Einfühlsamkeit. S. 238. P o l e m i k G. A. Bürgers. — Über Anweisung zur deutschen Sprache und Schreibart auf Universitäten; Einladungsblätter z. s. Vorlesungen, vgl. Bürgers sämtliche Werke, hrsg. v. Wolfgang v. Wurzbach, Bd. III, 22, Anspielung auf Hogarth. Die Grazie des Stils um jeden Preis wird abgewehrt, die thematische Bedingtheit des Stilgebildes will berücksichtigt sein. S. 238. „ U b e r L a o k o o n " . — Über den Anteil A l o y s H i r t s unterrichtet bes. der A n h a n g zu der Sonderuntersuchung F e r d i n a n d D e n k : Das Kunstschöne u. Charakteristische von Winckelmann bis Friedr. Schlegel, Diss. München 1925. S. 241. „ s c h e r z e n " gleich „ s p i e l e n " : Daß die Wortbedeutung von der heutigen wesentlich abweicht, wird natürlich besonders deutlich an den Stellen, wo dem heutigen Sprachgebrauch nach ein „scherzen" als eigenartig empfunden wird. E w a l d v. K l e i s t z. B. bringt unter seinen bevorzugten Bildern vom Meere das Bild vom Walfisch, der sich in den Abgrund des Meeres stürzt und „Strudel erregt, indem er scherzt", E. v. Kleist sämtl. Werke, hrsg. v. W. Körte, II. Teil, Berlin 1803, S. 220 (improvisierte Übersetzung aus dem Englischen). Die weitreichende Nachwirkung ist noch in S c h i l l e r s „Wallenstein" erkennbar; Wallenstein: „Wie? Sollt' ich's nun im Emst erfüllen müssen / Weil ich zu frei gescherzt mit dem Ge-

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danken? / Verflucht, wer mit dem Teufel spielt!" (Wallensteins Tod, I, 3) Säkular-Ausgabe V, S. 192. Exkurs: Fr. J. Riedel S. 244 Fr. J. R i e d e l : G l e i c h s e t z u n g d e s S c h ö n e n m. d. (bzw. G e f a l l e n d e n . — Indem Friedrich Justus Riedel in seiner 246). „Theorie der schönen Künste u. Wissenschaften" (1767, 1774) die sogenannte Dreivermögenslehre relativ geschickt auszuwerten versteht, gelangt er zu einer „Philosophie des Geistes, Philosophie des Herzens und Philosophie des Geschmacks" (etwa: Logik, Ethik, Ästhetik). Georg Heinrich Feder („Oratio de sensu interno", 1769) nimmt unmittelbar darauf diese Lehre an unter Zitierung der „Theorie" Riedels von 1767. Wie über Feder nach Göttingen wirkt Riedel über Joh. Justus Herwig nach Würzburg hinüber. Tetens ähnliche Ansätze folgen erst 1777. Bei M. Mendelssohn wird die Dreivermögenslehre (Denken, Wollen, Fühlen) recht eigentlich erst in den „Morgenstunden" (1785) etwas greifbarer. Zeitlich früher als die Riedels lagen die Ansätze an sich bei J. G. Sulzer (1751/52, 1759, 1763). Als Auslandseinfluß für die Konzeption eines eigenen „Grundgefühls des Schönen" kommt Hutcheson, aber auch in gewissem Grade Edm. Burke in Betracht. C. F. Flögel (für die Entwicklung des Geniebegriffs bemerkenswert) sprach angesichts der Annahme besonderer „Grundtriebe" geradezu von „Hutchesonisten". Riedel setzt gleichsam a priori einen eigenen (sowohl vom Wahren des Denkens als vom Guten des Wollens abgehobenen) Schönheitssinn, den vielbespöttelten „sechsten Sinn" Hutchesons mehr keck als kühn aufgreifend. Baumgarten bleibt ihm zu sehr in der Nähe der Logik. Mögen auch die „Schönphilosophen" Darjes und Crusius ermutigend eingewirkt haben: entscheidend stand dahinter die Lebensstimmung u. das Kunstwollen des Rokoko. Aus dieser Welt erwächst dem Freunde Wielands (u. Klotz') seine Ästhetik u. Poetik, so sehr sie im einzelnen eklektisch wirken mag. Diese „Philosophie des Geschmacks" geht von einem „sinnlichen Wohlgefallen" aus und als ausgeprägte Wirkungsästhetik aufklärerischer Art auf das Gefallende zu. Der „Trieb des Wohlgefallens" ist streng zu unterscheiden vom „Triebe des Interesses" (Wollen), aber auch von „Vernunftschlüssen" (Denken); er zielt ab auf ein spontanes Fühlen. So gelangt Riedel aus anderen Voraus3«

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Setzungen doch bereits zu einem interesselosen Wohlgefallen, und zwar längst vor Kant. Daher sei die Definition festgehalten: „Schön ist also, was ohne interessierte Absicht sinnlich gefallen und auch dann gefallen kann, wenn wir es nicht besitzen; häßlich, was auch dann mißfällt, wenn wir uns nicht vor dem Besitze desselben fürchten." Die früheren Ansätze Sulzers zum Kontemplationsbegriff führten nicht entfernt zu so weitreichenden Folgerungen und so klaren Formulierungen. In Auseinandersetzung mit Home und Mendelssohn (also nicht zu einem bloßen, seiner leichtbeschwingten Art sonst recht gemäßen Zufallstreffer!) gelangt Riedel zu der weiteren Formulierung: „Fragt man nach dem P r o b i e r s t e i n der S c h ö n h e i t , so ist dieser das aus der Schönheit entspringende und an sich u n i n t e r e s s i e r t e W o h l g e f a l l e n . " Auf Vorstufen bei E. Burke, dessen „Philosophical Inquiry" Riedel erwähnt, bei Home „intrinsic beauty", bei Hutcheson „distinct from prospects of interest" (H. steht wohl am nächsten), kann hier nicht eingegangen werden. Eine glatte Übernahme aus E. Burke liegt jedenfalls nicht vor. Das Starre im Grundgefühl des Schönen bekämpft Herder bes. von seinem Entwicklungsgedanken her. Darin liegt die tiefere Ursache seiner Kontroverse mit Riedel. Bemerkenswert sind weiterhin: Riedels Bewertung des Schöpferischen im Verhältnis zur bloßen Naturnachahmung; das Verhältnis von Genie u. Geschmack (wobei sogar Morhof neben Dubos, Helvetius, Sulzer, Baumgarten u. Wieland bemüht wird); der Maßstab der „klassischen Richtigkeit": Genie ohne Geschmack schafft „ungeheure Schönheiten ohne klassische Richtigkeit". (Abwehr des geniezeitgemäßen Größenkultus.) Ein Mann von Geschmack ohne Genie gibt uns Werke, die durch ihre Regelmäßigkeit eher abstoßen als anziehen; die Abwehr des Allegorie-Begriffs Winckelmanns (bei sonstiger Wertschätzung Winckelmanns); die „Zeichenlehre", das „Zeichen im Verhältnis zu Kunst u. Wirklichkeit" (Abwehr „hieroglyphischer Bedeutungen"). Lessings „Laokoon" wird durchweg genutzt u. überwiegend gutgeheißen (trotz Einzeleinwendungen Abwehr der „Furien"-Theorie Lessings u. a.). Eine national bezogene Poetik wird gefordert, die „auf den Charakter und die Denkart der Nation gegründet" sei, wie denn unter den verschiedenen Typen der Schönheit neben der allgem. auch eine national

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bedingte anerkannt wird. Dank Herder, aber auch Montesquieu, Flögeis „Geschichte des menschlichen Verstandes" (schon i. d. „Theorie" erwähnt), durch Fergusons, Iselins und Zambaldis kulturgeschichtl. Versuche usw. weiß R. um die histor. u. kulturhistor. Verschiedenheiten, ohne sie wie Herder einfühlsam nachzuerleben. Das wird u. a. erkennbar durch die Essays „Über das Publikum, Briefe an einzelne Glieder desselben" (1768), durchweg zit. als „Briefe üb. d. Publikum", als deren Empfänger Wieland, Jacobi, Nicolai, Klotz, Kästner, Thümmel u. a. angenommen wurden (diese Riedeischen „Briefe" sind nicht zu verwechseln mit den wahrscheinlich von dem KlotzAnhänger Schirach herrührenden „Literarischen Briefen an das Publikum", Altenburg 1769, die gegen Herders „Krit. Wälder" polemisieren u. — darin verwandt .mit Riedel — den Publikumsgeschmack als „höchste Instanz" anerkennen). Weder der Ausgangspunkt Aristoteles', noch der Baumgartens, noch der Homes werden gutgeheißen. Der rokokohaften Grundhaltung entspricht der Sinn für Komik u. Humor, den Riedel auch kunsttheor. bewährt: „Über die Laune" bzw. „Vom Lächerlichen u. Belachenswerten" (Bemühung um den Begriff des Humors, über den einst schon Fr. v. Hagedorn u. Gottsched korrespondiert hatten). R.s Gedicht-Definition lautet: „Die Poesie ist die Kunst u. Wissenschaft, vollkommen sinnliche, schöne, imaginative und sukzessive Produkte vermittels einer vollkommen harmonischen Rede darzustellen"; an sich eklektisch (Baumgarten, Lessing, Winckelmann, Darjes u. a.), aber erwähnenswert wegen gewiss. Ansätze zum Kunstwollen der Klassik (Darstellungsbegriff u. vollkommen harmonische Rede). So bestätigt auch diese „Theorie" die Keimkräfte des klass. innerhalb des rokokohaften Kunstwollens. Die Poesie wird übrigens noch als Grenzwert von freier Kunst u. schöner Wissenschaft aufgefaßt. (Spuren dieses Ringens auch noch b. jg. Herder.) K . F. Wize: Friedrich Justus Riedel u. seine Ästhetik, Diss. Leipzig, gedr. Berlin 1907. — R. Wilhelm: Fr. Justus Riedel u. d. Ästhetik d. Aufklärung, in: Beiträge z. neueren Lit.-Gesch. Nr. 23, Heidelberg 1933. S. 244/ „ g e f ä l l i g " g l e i c h „ b i e g s a m " : Goethes „Götz", vgl. 245. Liebetraut in der Schachspielszene zu Beginn des 2. Aktes über den Erfinder des Schachspiels: „ E r . . . hatte Milchhaare im B a r t . . . er war so gefällig wie ein Weiden-

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Schößling und spielte gern Dame und mit Damen, nicht aus Leidenschaft, behüte Gott!, nur zum Zeitvertreib." Die Stilstimmung der Stelle deutet zugleich auf das Rokokohafte hin. S. 248. S i n g s p i e l t h e o r i e . — J. Mattheson im Anhang zu seiner mit Muratoris und Gottscheds Operngegnerschaft abrechnenden „Neuesten Untersuchung d. Singspiele", Hamburg, 1744, wo er eine „Musikalische Geschmacksprobe" bietet u. „Wege zur Niedlichkeit des Gesanges u. Klanges" merklich ironisch zwar, aber doch „nachdrücklichst anpreiset". — Auf Fr. v. Hagedorns Gleichnis vom „niedlichsten Gerichte der Perser" (vgl. S. 258 dieser Darstellung) sei hingewiesen. S. 249. G o e t h e s G e ß n e r - R e z e n s i o n . — Die Geßner-Rezension, die unverkennbare Einschläge der Herderschen Kunstanschauung aufweist (das N u r - S e h e n als „geringster Anteil, den wir an einer Sache nehmen können", ist recht eigentlich ungoethisch), hebt die Schweizer Idyllen wegen ihrer Lebensfrische und wegen ihres „Nationalinteresses" aus der Reihe der allzu steif-staffierten Idyllen Geßners hervor. Daneben aber wird den Einzelheiten und Kleinigkeiten ein „wahres Dichtergefühl" zugesprochen. Bei dieser Gelegenheit begegnet die Wendung „Einzelne Stellen sind vortrefflich, und die kleinen Gedichte machen jedes ein niedliches Ganze. Hingegen die größeren . . . " , W. A. Bd. 37, 287. S. 252. V o r r e d e z u r S c h e r z - A b h a n d l u n g . — G. Fr. Meiers Vorrede greift gelegentlich d. Aufgabenumschreibung d. „Kritik" über das Dichterische hinaus ins Gesellschaftliche so hinüber: „Sie fängt von den Heldengedichten an und geht bis auf die Haarlocken der Stutzer und Schminkpflästerchen auf den Wangen der Schönen herunter", also eine allgemeine Geschmackskritik, nicht nur eine liter. Kritik. — Bemerkenswert ist, daß Meier bereits für „Scherz" und neben „Scherz" die Bezeichnung „Spaß" anwendet. Er fordert z. B., „daß ein feuriger Spaß die Schönheit eines Gedichts haben müsse". Die Wertmerkmale von G. A. Baumgartens Definition des Gedichts werden ganz unverkennbar auf die „Scherz-Definition" übertragen. S. 253. S p ä t e r e R ü c k s c h a u . — Gleims Vorbericht z. einer späteren Ausgabe d. „Versuchs in scherzhaften Liedern"

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trägt die Kennzeichnung „Halberstadt 1776", liegt also etwa um drei Jahrzehnte nach d. Hauptansatz d. Anakreontik. S. 254. Meiers „ R e i m " - V o r r e d e . — Die Bedeutung wird hervorgehoben durch Hineinnehmen i. d. Haupttitel „Samuel Gotthold Langens Horazische Oden nebst Georg Friedrich Meiers Vorrede vom Werte der Reime", Halle 1747. Die Vorrede selbst nimmt den Untertitel nicht auf; sie ist Okt. 1746 gezeichnet. S. 258. „Schreiben an einen F r e u n d " . — Schon in seinen „Moralischen Gedichten" (1750) verteidigte Hagedorn das Recht des Dichters, seine Gedichte selbst mit knapp gehaltenen Anmerkungen zu erläutern. Das „Schreiben . (1752) spinnt nun diesen von Wemickes Vorbild angeregten Leitgedanken weiter aus, berührt also nur beiläufig Fragen des Rokoko. Das V e r h ä l t n i s v o n D i c h t k u n s t u. B i l d u n g wird nicht als Gegensätzlichkeit gesehen, sondern als eine leistungsteigernde Wirkensgemeinschaft. Die dichterische Wahlfunktion setzt, gerade um frei beweglich sein zu können, einen gewissen Reichtum an Sachkenntnis voraus. Im 19. Jh. begegnen ähnliche Gedanken, z. B. bei Adalbert Stifter. S. 261. K o m i s c h e s Epos. — Hermann K a s p a r : Die komischen Epen von Fr. Wilh. Zachariä, Breslau 1935, in: „Sprache u. Kultur d. germ. u. rom. Völker", Germ. Reihe 26. — H. Kaspar bringt erfreulicherweise einen Sonderabschnitt über d. „Theorie des komischen Epos", a. a. O. S. 7 — 1 1 ; dort weitere Literatur, darunter Hans R o c h o : M. A. v. Thümmels „Wilhelmine" u. d. komische Heldengedicht des 18. Jh., Diss. Leipzig 1921. S. 261. E r g ä n z u n g e n bei G o t t s c h e d und S u l z e r . — Gottsched hebt gelegentlich d. Neugliederung i. d. 4. Aufl. s. Krit. Dichtkunst (1751) bereits ein neues Sonderkapitel über Scherzhafte Heldengedichte vom eigentl. Epos-Kapitel betont ab. In Sulzers „Allgemeinen Theorie d. schönen Künste" erfährt 1792 noch das Stichwort „Comisch", das Sulzer im wesentlichen auf die Komödie bezogen hatte i. d. „Zusätzen...", eine kritische Ergänzung (durch B l a n k e n b u r g ) dahin, daß „wir das Wort Komisch nicht bloß von Dramen, sondern auch von epischen Gedichten u. Erzählungen allerlei Art" zu ge-

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brauchen pflegen, daß es „komische Lieder, Sinngedichte" usw. mit umfasse. S. 262. R a n g h ö h e des k o m i s c h e n E p o s . — D u s c h begründet: „Und weil jede Erzählung oder Geschichte den Leser (stärker) einnimmt als eine Reihe von Vorschriften, ja sogar vonExempeln undCharacteren,so ist die komische Epopee die vollkommenste und angenehmste Art von Satyre"; vgl. H . K a s p a r a . a . O . , S. 8. Doch mag ergänzend auf die Möglichkeit einer unmittelbaren oder mittelbaren Nachwirkung Chr. Wolfis hingewiesen werden ; vgl. M. S t a e g e : Die Geschichte d. dt. Fabeltheorie, Diss. Basel, gedr. Bern 1929, Ausführungen über Wolff S. 22/23. Eine mittelbare Einwirkung war ohne weiteres für Dusch über Gottsched gegeben. S. 269. N a t u r - S t a d t - G e g e n s a t z . — Geßner ist sich des eigenen Gemütsanteils dabei durchaus bewußt. Im Vorausblicken auf J. J. Rousseau sei die betr. Stelle d. Vorrede vollständig eingerückt: „Oft reiß ich mich aus der Stadt los und fliehe in einsame Gegenden; dann entreißt die Schönheit der Natur mein Gemüt allem dem Ekel (sie!) und allen den widrigen Eindrücken, die mich aus der Stadt verfolgt haben; ganz entzückt, ganz Empfindung über ihre Schönheit, bin ich dann glücklich." Sowohl ein Rückblick auf Haller wie ein Hinblick auf Rousseau liegt von derartigen Stellen aus nahe. S. 269. A m y o t . — S. Geßner war ausgegangen von einer später auch durch Goethe anerkannten Übersetzung von L o n g u s Schäfergeschichte (Daphnis u. Chloe) seitens des Franzosen Amyot. Trotz dieses französischen, durch Amyot (stets neben Theokrit u. Vergil) gegebenen Anteils an Muster-Poetik bildete Geßners vom deutschen Gemüt entsprechend abgewandeltes Kunstwollen eine eigene Form und Haltung des Rokoko-Klassizismus heraus. S. 269. G e l l e r t s „ B a n d " . — G. benutzt offenbar auch die Gelegenheit, die verhältnismäßig neuere Quelle R. d. St. Mard (Saint Mardin) auszuspielen gegen einen der Gewährsmänner Gottscheds, den „ A b t Genest"; Ch. Cl. G e n e s t „Diss. sur la poésie pastorale ou de l'Idylle et de l'Eclogue, Paris 1707; bei Gottsched zit. nach Fénélon „Reflexions" von 1717. — Die einzelnen Stilwidrigkeiten seines „Bandes" führte Gellerts spätere Vorrede übrigens selbst an, so daß K . May hier Vorarbeit antraf für seine

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entsprechende Analyse, vgl. K. M a y s Geliertbuch; vgl. auch H. Heckeis Rokoko-Abhandlung (Th. Siebs-Festschrift 1933), S. 24 Anm. S. 270. B o d m e r s S t r e i t s c h r i f t . — „Vom Natürlichen in Schäfergedichten . . . , vom Nisus, einem Schäfer in den Kohlgärten, einem Dorfe vor Leipzig" angebl. 2. Aufl. 1746. In dem angehängten „Brief an die Phillis" war der Angriff ausgebaut worden zu einem schonungslosen Aufstechen all der stillosen Realismen aus Gottscheds fünfaktigem Schäferspiel „Atalanta". Nisus war eine Gestalt i. d. „Atalanta". S. 270. Z e m i t z . — Hinweis bei Karl Aug. Kütners anonym erschienener Literaturgeschichte „Charaktere teutscher Dichter und Prosaisten" Berlin 1781, Bd. I, S. 242/43. S. 270. S u l z e r s L e x i k o n . — Das betreffende Urteil findet sich i. d. „Allgemeinen Theorie" Ausg. von 1792, Bd. II, 622. S. 270.

„ H i r t e n g e d i c h t e " . — Der Zitatteil bez. s. auf „Allg. Theorie" (1792) Bd. II pass, und soll nach Seuffert, Budde u. a. von Wieland herrühren.

S. 271. A n m u t s b e g r i f f , S o n d e r f o r s c h u n g . — Zum Folgenden vgl. F r z . P o m e z n y : Grazie u. Grazien, S. 32ff. Offenbar hat Pomezny in seinem umfassenden „Anmuts"Kap. Stützung gesucht bei d. Lit.-Angab. zu G. Sulzers Stichwort-Artikel „Anmutigkeit". Sulzer nennt noch aus dem 17. Jh. R. de Piles, der auch sonst mehrfach i. d. Kunsttheor. d. Zeit wieder aufgegriffen wird, so z. B. i. d. Watelet-Rezension d. Bibl. d. schön. Wiss. VII, 1 u. der vor allem mit der „Idée du peintre parfait" (1667) in Betracht kommt. Auch Chr. Ludwig v. Hagedorn nennt ihn unter seinen Gewährsmännern; ebenso erwähnt ihn bekanntlich der jg. Goethe im Eingangsteil des „Werther"Romans. S. 272. H. B e a u m o n t : W i l h . N e u m a n n : Die Bedeutung Homes f. d. Ästhetik (1894), S. 122/23; Pomezny geht auf Beaumont nicht hinreichend ein, wahrscheinlich weil er ihn in den Lit.-Angab. z. Sulzers Artikel „Anmutigkeit" nicht erwähnt gefunden hat. S. 272. H o g a r t h : H. berücksichtigt vor allem die f. d. Malerei wesentlichen Schönheitsformen. Frühere Gewährsmänner waren: Lamozzo, Du Fresnoy: „De arte graphica", 1668.

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S. 273. V o l t a i r e . — V.s Artikel „Grâce" kennt zwar auch den „charme secret" und das „sentiment doux" ; aber das war nach Geßners „Daphnis-Vorrede" nichts Neues u. Eigenes. Außer Voltaire u. Watelet sei kurz erwähnt P . A n d r é : Essais sur le Beau (1763) mit rationalist. Einstellung u. kunsthist. Bezug auf d. Grazien. S. 274. J u s t u s R i e d e l . — Die Belegstellen beziehen sich auf die Ausgabe seiner „Theorie" von 1774; vgl. auch den RiedelExkurs (s. 0.). S. 279. Chr. M. Wieland. — Für die Kunstth. besonders in Betracht kommen W e r n e r B o c k : Die ästh. Anschauungen Wielands, Berlin. 1921; F r z . P o m e z n y : Grazie u. Grazien (1900) Kap. „Wielands Grazien", a. a. O., S. I47ff.; L e o S t e t t n e r : Das philosophische System Shaftesburys u. Wielands Agathon, Halle 1929. — E r i c h G r o ß : Wielands „Geschichte d. Agathon", Entstehungsgeschichte (Teildruck), Diss. Berlin 1930 (vollständig i. d. Germ. Studien); auf den Aufklärertypus „europäischen" Gepräges, den bes. Wieland repräsentiert, weist mit Nachdruck hin G e o r g L u k â c s : Größe u. Grenzen der Aufklärung (in „Fortschritt u. Reaktion . . .", Bln. 1950). Fr. S e n g l e : Wieland, Stuttgart 1949. — H a n s W e r n e r S e i f f e r t : Der junge Wieland, Diss. Greifswald 1950 (Masch.), wenig über Poetik. Fr. S e n g l e : Wieland, Stuttgart 1949. S. 283. „ T h e o r i e der R e d e - und D i c h t k u n s t . " — M a n c h e s von den Theorien der Schweizer wird einbezogen, so etwa die Anschauung von der „malenden" Dichtung u. v. ihrer Überlegenheit über die Malerei. Wielands sinnenhafte Schilderungsfreude hat dieses Wechselspiel von Malerei und Poesie auch später beibehalten. Und die gelegentliche spätere briefliche Erwähnung an J. Fr. Riedel (Okt. 1768) der „sehr richtigen Grundsätze" Lessings (Laokoon) beweist nur ein verstandesmäßiges Kennen der Grenzziehung Lessings, während selbst an dieser Stelle stimmungsmäßig „gleichwohl" an dem Anrecht zur schönen Schilderung festgehalten wird. — Gelegentlich des recht altfränkisch klingenden Titels jener Wielandschen „Theorie der Rede- und Dichtkunst" sei daran erinnert, daß z. B. im mehrbändigen „Abriß einer allgemeinen Historie der Gelehrsamkeit" (1752—54) von Joh. A n d r e a s F a b r i c i u s nur wenige Jahre vorher die „Dichtkunst" ( = Poetik)

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noch definiert wurde als „eine Wissenschaft der Regeln der Dichterei" und die Dichterei als „eine Art der Beredsamkeit, etwas mit artigen Erdichtungen oder Bildern vorzustellen" (Bd. I, 1752, S. 273). Selbst der junge Wieland war denn doch schon wesentlich weiter. S. 283. I n S h a f t e s b u r y s Sinne. — Aus dem „Gespräch des Sokrates mit Timoclea von der scheinbaren w. wahren Schönheit" (1754) deutet nicht nur die Prägung „moralische Grazie" auf Shaftesbury hin, sondern auch — was W. Bock übersieht — die Prägung „inwendige Schönheit" gerade m. d. Attribut: „inward beauty". — Daß Wieland schon z. Z. d. „Noah"-Rezension (1752) Shaftesbury bekannt war, dürfte feststehen. — Angemerkt sei in diesem Zusammenhang, daß i. d. fragm. Dialog „Theages oder Unterredungen v. Schönheit u. Liebe" (1758) die an sich nicht ungewöhnliche Anschauung, daß der Künstler die Natur „kopieren" müsse, sehr wohl — was W. B o c k entgangen zu sein scheint — aus einer den eigentlichen Sinn Shaftesburys zwar verkennenden, aber das Kunstwort übernehmenden Anlehnung an Shaftesburys „copist after nature" abgeleitet werden könnte. S. 284. „ G e i s t i g e " E m p f i n d u n g . — Im Zurückblicken auf Shaftesbury, der sich seinerseits auf den Neuplatonismus, bes. auf P l o t i n stützt, sei angemerkt, daß man z. T. Shaftesburys in der Sinngeltung nicht ganz einheitlich gebrauchtes Attribut „moral" mit „geistig" übertragen hat. „Moral sense" würde demnach etwa mit „geistiges Gefühl" zu übertragen sein; doch ist diese Deutung innerhalb der Wielandforschung umstritten. Für jenes geistige Sehen stände Shaftesburys „mind's eye"; für die „schöne Seele" bekanntlich „beauty of mind" u. „aspiring soul". S. 285. „ U n t e r r e d u n g e n . " — W., der sonst die verschönernde Naturnachahmung vertritt, sucht hier das Recht des Sinnlichen im engeren Sinne in Anspruch zu nehmen. Zugleich möchte er im „Feuer der Komposition" sich reinbrennen, also den ihm kaum gemäßen Schaffensrausch als Rechtfertigung einbeziehen. Das Rauschhafte, und zwar sowohl im religiösen als auch im nationalen Bereich war Klopstock gemäß, aber schwerlich Wieland. S. 285. „ N e c k i s c h e S e i t e n b e m e r k u n g . " — Auf einen verwandten Seitenhieb G. A. Bürgers gegen die Schönheitslinie Hogarths konnte hingewiesen werden.

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S. 285. „ N e u e r A m a d i s . " — Vorwiegend begegnet, so etwa auch in H. Cysarz' Rokoko-Abschnitt s. Barockbuches (S. 276), das „Idris"-Zitat. Wohl noch charakteristischer als diese Bemerkung, die noch manches rein Aufklärerische („Unterricht") mit hineinnimmt („Ergötzen ist der Musen erste Pflicht, doch spielend geben sie den besten Unterricht") erscheint die Stelle im „Neuen Amadis" (1771), die das tänzerisch Beschwingte mit einbezieht: „Ergötzt dein Lied, so wird kein Kluger fragen / Ob Aristoteles ihm — sich so zu ergötzen erlaubt / Die Grazie tanzt nach unstudiertem Gesetze." S. 286. W i e l a n d - R e z e n s i o n . — Eine Rez. des „Neuen Amadis" erschien im März 1772 i. d. „Breslauischen Nachrichten v. Schriften u. Schriftstellern". Diese sehr knapp gehaltene Rez. zitiert doch gerade jene Selbstverteidigung Wielands, vgl. H. J a n t z e n : Proben der Breslauer Literaturkritik d. 18. Jh., in Th. S i e b s Festschr., Breslau 1933, S. 253/54. S. 286. A g a t h o n . — Näheres bringen L. S t e t t n e r : Das philos. System Shaftesburys u. Wielands Agathon, Halle 1929. — E. G r o ß : Wielands „Geschichte des Agathon", Entstehungsgeschichte. Diss. (Teild.) Berlin 1930; vollständig i. d. „Germ. Studien". S. 286. F r a n z ö s i s c h e A u f k l ä r e r . — Die Umweltlehre verbindet sich mit der „Fibern"-Lehre des mechanistischen Sensualismus. Die physiologisch eingestellte Psychologie des Sensualisten B o n n e t „Essai de psychologie" (1755) u. „Essai analytique sur les facultés de l'âme" (1760) war Wieland leicht zügänglich, in dessen Bücherverzeichnis sie genannt werden. Für Bonnet sind die Nervenfibern gleichsam Saiten eines Klaviers („clavessin"), das das Gehirn darstellt, das wohl auch einfach als kleine Maschinerie („une petite machine") umschrieben wird. Auch Einbildungskraft u. Geistigkeit („génie") bedeuten nur „une certaine nature des fibres". In eine andersgerichtete theol. bestimmte Weltanschauung (Sinnlichkeitsgebundenheit des Menschen seit dem Sündenfall) eingelagert, begegnen ähnliche Ansätze zur Fibernlehre schon in M a l e b r a n c h e s „De la recherche de la vérité" (1674), wo feine oder grobe Fibern die Verschiedenartigkeit der Menschen bestimmen sollen.

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Während Wieland sich im Briefwechsel mit Z i m m e r m a n n anfangs gegen die Psychologie des Engländers D a v i d H a r t l e y ,,Observations on Man . . ." zur Wehr gesetzt hatte, öffnet er sich doch mehr und mehr dem französischen, teilw. d. materialistischen u. d. mechanistischen Sensualismus. Neben der Umweltlehre und Klimalehre hatte auch M o n t e s q u i e u „Esprit des lois" (1748) die Fibernlehre einbezogen. Mit H e l v e t i u s ' „De l'esprit" (1758) beschäftigt sich W. anfangs eifrig, plant dann aber eine Widerlegung Helvetius'. Für H e l v e t i u s bedeutete auch der Mann von Geist bzw. Genie (,,l'homme de génie") nicht viel mehr als ein Erzeugnis der Lebensverhältnisse („produit des circonstances"), ähnlich B o n n e t s Betonung der „circonstances" unter Verbindung mit der Temperamentenlehre. Das Temperament ist abhängig vom Klima, von der Ernährung, vom ganzen Lebenskreis und den Lebensbedingungen. Nicht in Betracht zu kommen scheint für Wieland der physiologische Psychologismus de P o u l l y s , der auf M. M e n d e l s s o h n s Empfindungstheorie {„Lehre vom Vergnügen") einwirkte. Exkurs: Werkimmanente Poetik. — Es geht nicht an, das gesamte Kunstwollen Wielands auf das Rokokohafte einzuengen. Wohl aber ist es berechtigt, Wieland als den stärksten Träger und reinsten Auspräger des Rokoko in Anspruch zu nehmen. Soweit Rokoko mehr sein konnte als eine stilvolle Modeform, hat Wieland dieses „Mehr" sowohl im Kunstwollen als im Kunstkönnen verwirklicht. Erst Wieland wurde (nach mancherlei Ansätzen) zum gleichsam leibgewordenen Beleg und Beweis dafür, daß auch in Deutschland ein bel esprit möglich sei. Und nicht mit Unrecht macht z. B. Georg Lukâcs geltend (in : Größe u. Grenzen d. dt. Aufklärung, a. a. 0. 1950, S. 22), daß W. den in Deutschland höchst seltenen T^ pus des „innerlich wie äußerlich harmonischen" Aufklärers darstellt, als dessen „eng-kleinbürgerliche Variante" L. allenfalls noch Geliert anerkennt. Darüber hinausgehend führt W. das Kunstwollen der Aufklärung unmittelbar und unter Umgehung des Sturmes und Dranges an die Klassik heran (z. B. im lyrischen Drama „Alceste"), wie denn sein Bildungsroman „Agathon" in voller Bedeutung eine Vorstufe zum „Wilhelm Meister" genannt werden darf. Das betrifft auch das Kunstwollen, was sogleich deutlich

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wird, wenn man K. Phil. Moritz' „Anton Reiser"-Roman daneben hält, der inhaltlich näher, im künstlerischen Formgesetz jedoch entfernter wirkt. Im Rahmen der Aufklärung führt Wieland so den Bildungsroman zur Vollendung, aber auch den Erziehungsroman („Der Goldene Spiegel"). Ebenso schafft er aus aufklärerischer Sicht die Vollendungsform des satirischen Romans („Geschichte der Abderiten") nach früherer versuchsweiser Erprobung („Don Sylvio von Rosalva"). Und endlich bewährt sein vielgestaltiges Kunstwollen im „Oberon"Epos die Kraft, eine Vollendungsform des „komischen Heldenepos" zu schaffen und sie bis in das Vorfeld der Romantik hinüberzubilden. Gewiß ist der „Oberon" mehr als ein „komisches Heldenepos", aber er verleugnet doch nicht sein Herkommen aus dieser letztlich aufklärerischen Wurzelschicht, wenn auch eine weite Entwicklungsspanne zwischen Zachariä und Wieland liegt. Das Kunstwollen des Rokoko findet seine reinste Ausprägung in der Graziendichtung Wielands, in den „Komischen Erzählungen", in den „Grazien" u. in „Musarion oder die Philosophie der Grazien". Daß besonders in der letzten Dichtung „gewissermaßen eine neue Art von Gedichten" gewollt und erreicht war, betont W. selber, der dieses Neue als ein „ziemlich systematisches Gemisch von Philosophie, Moral und Satire" zu umschreiben versucht. Letztlich handelt es sich wieder um die Vollendungsform einer aufklärerischen Gedichtart, nämlich des Lehrgedichts, das hier seine Wandlung zur graziösen Auflockerung erfahren hat in einem Grade, den die Praktiker und Theoretiker des Lehrgedichts kaum für möglich gehalten hätten. Auch das Grenzgebiet zur Idylle hin, einst schon angedeutet in A. v. Hallers „Alpen", wird dabei künstlerisch fruchtbar gemacht. Gattungstypologisch ist das Vorherrschen der epischen Gattung ganz unverkennbar. Die dramatischen Versuche mißlingen durchweg, wenn auch wieder das formkünstlerische Streben zu dem Teilerfolg in der Entwicklung der dramat. Versart führt, daß gelegentlich der Aufführung d. „Lady Johanna Gray" in Winterthur (1758) zum ersten Male der Blankvers von einer deutschsprachigen Bühne (Aufführung: Ackermann) erklingt (der von Fr. Brüggemann angesetzte Termin: Chr. Fei. Weißes „Atreus und Thyest", Leipzig 1769, hegt erst ein Jahrzehnt später). Das Lyrische verleugnet durchweg nicht den versepischen

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Grundzug. Durch Wielands Kunstwollen wird der Rokokoklassizismus zu einer Entwicklungshöhe emporgetrieben, die der Klassik nahekommt. Das ist sonst eigentlich in demselben Grade nur hinsichtlich der Sonderform der Idylle bei Salomon Geßner nachweisbar. Schon die großen Romane sollten davor warnen, das Kunstwollen Wielands zu sehr auf Formungsbereicherungen festzulegen. Und das „Frivole" in der Graziendichtung sollte nicht übersehen lassen, daß auch Wieland in seiner Art, wenn auch mit anderen Waffen als Lessing, den aufklärerischen Kampf gegen die Leidenschaften fortsetzt. Wieland sucht die Leidenschaft durch Komik zu entwaffnen, wenn es sein muß, auch durch das Groteskkomische. Sturm und Drang

Grundlegend Ferd. Jos. Schneiders oben erwähnte Neuauflage seiner Darstellung über die Geniezeit (1952); dort z. B. auch schon erfaßt P. B ö c k m a n n : Formgeschichte der deutschen Dichtung, Bd. I, Hamburg 1949. Soweit zeitlich später liegende Publikationen in Betracht kommen, wie etwa die von Josef Nadler hrsg. histor.-krit. Hamann-Ausg. (abgeschl. 1953), sind sie nach situationsbedingter Möglichkeit in den folgenden Anmerkungen berücksichtigt worden. Ältere Sekundärliteratur wurde zusammengestellt von B. M a r k w a r d t : Reallexikon (Merker-Stammler) Bd. III, Artikel: Sturm und Drang (Theorie); eine Neuauflage des Reallexikons ist in Vorbereitung. H. A. K o r f f s 1923 erschienene Würdigung des Sturmes und Dranges (im „Geist der Goethezeit", Bd. I) liegt in neuer Auflage vor (Leipzig 1954). Leider konnten dort nur die Überschriften verändert werden, so sehr Korff selber die Notwendigkeit einer grundlegenden Umgestaltung der Darstellung betont (Vorwort zur 2. Aufl.). Die neue Gesamt-Einleitung a. a. 0., S. 3—66, ein Meisterwerk von würdiger Selbstbewahrung einerseits und von willigem Verstehenwollen andererseits, hat vornehmlich ihr Augenmerk gerichtet auf die großen Grundkräfte und beherrschenden Leitideen der „Goethezeit". Unter ihnen sind hervorzuheben: die Widersprüchlichkeit eines „gebildeten Bürgertums" (überbürgerlicher Idealismus im Verhältnis bzw. Mißverhältnis zur bürgerlich „materiellen" und realen „Basis"), das Ausgehen der Kunst von einem „Leiden an der bürgerlichen Gesellschaft" (Gewinnung der künstlerischen Position aus der ideellen Opposition gegen den

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eigenen „Stand" als zu überwindenden Zustand), die Spannung in diesem Verhältnis, die dennoch als werkschaffende künstlerische Anspannung produktiv wird (zugleich ein „Grundmotiv der Dichtung"), die Abhebung und Ablösung von Kirchenreligion und Kunstreligion, das Verbindende und Verbindliche des Religiösen schlechtweg jenseits des Konfessionellen, aber auch der allzu anspruchsvollen Sonderreligion, die nur herrschen will, aber nicht zu dulden versteht im Sinne der Toleranz und Humanität (das Transponieren der Transzendenz in den Pantheismus und die Säkularisation der christlichen Heilslehre), die vereinsamende Flucht des Künstlertums (Geniebegriff) aus der beschränkenden Umschränkung des bloßen Bürgertums. Die Ausweitung des Religiösen auf alle geglaubten und offenbarten Religionen, und zwar nicht nur im Sinne der Toleranz, sondern darüber hinaus im Sinne einer funktionellen Ersetzung oder doch Ergänzung der Religion des bloßen Glaubens durch eine Religion der „bloßen Vernunft" und damit durch eine der Philosophie angenäherte sakrale Kunst und Kunstreligion, der „Humanitätstraum des gebildeten Bürgertums", das Hineinstellen der Dichtkunst in den bewegten und künstlerisch durchregten Kraftraum und das in sich gespannte Kraftfeld von Religion und Philosophie in ihrer didaktischen und dialektischen Zweipoligkeit (die „philosophische Umwandlung der christlichen Religion"), das Verhältnis von abstrakter „Weltanschauung" und konkreter, dichterisch vergegenständlichter sinnenhafter „Anschauung" der wirklichen Welt. Die „Humanität" als „irdisches Seelenheil" (das Transponieren der Transzendenz in die Weltwirklichkeit) und viele andere Gesichtspunkte mehr. Kurz, diese tiefgründige Gesamteinleitung ist, soweit sie den literaturhistorischen Bezug zu den einzelnen Stilepochen sucht und findet, weit überwiegend auf Klassik und Romantik eingestellt und ausgerichtet. Immerhin wird die entwicklungsgeschichtliche Sondersituation des S t u r m e s u n d D r a n g e s mehrfach einbezogen; so etwa als eine „Empörung einer neuen Jugend gegen die Inhumanität der bürgerlichen Gesellschaft" (Prägung und Ausprägung für den Sturm und Drang: „natürliche Humanität" = individuelle Freiheit zur Selbstentfaltung), der geniezeitgemäße Jugendrausch im erlebnismäßigen und kunstgemäßen Verhältnis zum „Dichtungsrausch", das Überwiegen der Subjektivität und gefühlsmäßigen Parteiergreifung (z. B. im Bauerbacher Aprilbrief des jungen Schiller von 1783) und der individuellen Freiheit (Prävalenz des bloßen, aber auch großen Phantasieerlebens) a. a. O., S. 31t. Dankenswert ist in diesem Zusammenhange besonders der Rückgriff auf die Humanitätsvorstellung der A u f k l ä r u n g (S. 30).

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An Einzelhinweisen auf den S t u r m u n d D r a n g seien aus dieser nachträglichen Einleitung von 1954 neben der bereits angegebenen Kernpartie (S. 3if.) vermerkt die Stellen: a . a . O . , S. 12 (ungebildetes Kleinbürgertum, Reflex bei J. M. R. Lenz u. H. L. Wagner) und S. 26/27 (Genievorstellung, „Schöpferkraft"). Daß die Ideen der Aufklärung einerseits und der Sturm- und Drang-Bewegung andererseits „einer im Grunde gleichen Gesamteinstellung" entspringen, darüber ist sich bei aller Betonung des „scharfen Gegensatzes" schon Bd. I des „Geistes der Goethezeit" durchaus klar (a. a. 0., S. 234). — Soweit bei der Darstellung der Klassik (Bd. II des „Geistes der Goethezeit") das Bild der Aufklärung deutlicher hervortritt, wird dies an entsprechender Stelle (Bd. III der „Geschichte der Poetik") im einzelnen zu würdigen sein. Das Bewußtsein, daß jeder wissenschaftlich-exakte Sonderbeitrag zugleich der Möglichkeit und Notwendigkeit einer „Geschichte der deutschen Poetik" dienen soll und kann, tritt erfreulich klar zutage in der Sonderforschung K a r l A u g u s t S c h l e i d e n s über „Klopstocks Dichtungstheorie" (Saarbrücken 1954). Wenn alle Sonderuntersuchungen derart zielbewußt auf eine zusammenfassende Poetik-Geschichte eingestellt und ausgerichtet wären wie diese neuerdings vorgelegte Spezialforschung, wäre dem Verf. manche Mühewaltung erspart geblieben. Dankenswert erscheint hier nicht zuletzt die weitgehende Klärung des „Darstellungs"Begriffes, vor allem auch in der Schlußzusammenfassung (a.a.O., S. 145). Besonders erfreulich wirkt in dieser sauberen Sonderarbeit die Erkenntnis, daß der junge Herder als Begründer der geniezeitgemäßen Ästhetik anzusetzen und zu bewerten ist. Weiterhin sei verwiesen auf die Behandlung der „Gattungspoetik", soweit sie von Klopstock herausgebildet worden ist (a. a. O. S. I28f.). Derartige Sonderforschungen sind in der Tat ein wirklicher Beitrag zu einer „Geschichte der dt. Poetik". In diesem Falle verbürgt die zeitliche Vorgerücktheit erfreulicherweise zugleich den ideelichen Fortschritt. Das bestätigt sich nicht allein in der teilweise recht kritischen Einstellung zum Kirchenliede (a. a. 0. S. 135/36). Das Herzbewegende überwindet und überwältigt das Vernunfterleuchtende, Klopstock will nicht allein richtig urteilen, sondern auch willig und warm „empfinden". Längst vor der Romantik überwindet dabei die Weite des Wunders den wundervoll klaren und aufgeklärten Weitblick. Der Seherblick des echten Dichters reicht weiter als die beschränkte Umsichtigkeit des bürgerlichen Banausen. Und — um es mit eigenen Worten zu sagen — die Weite des Wunders geht schon bei Klopstock über in das Wunder der Weite. 37 M a r k w a r d t ,

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Indessen: nur rauschhaft, noch nicht realistisch vermag er diese Weite des Wunders und dieses Wunder der Weite zu erfassen. Und der Dichter als Priester bleibt für Klopstock immer nur ein tröstlicher Träger jener Erhabenheit, die den Poeten auch dort adelt, wo ihn die urteilslose Menge tadelt. Dergestalt bleibt die „heilige Poesie" zugleich die erhabene Poesie und die fromme Prosa, was uns allein frommt und befriedigt. Gewiß ist die geniezeitgemäße Literatur keine bloße Erbauungsliteratur. Aber gemäß der Säkularisierung ergreift sie mit Vorliebe Themen, die sonst der Heilslehre vorbehalten waren. Nicht nur J. M. R. Lenz verbürgt jenen Rückbezug des Lebens auf die Religion. Selbst Fr. Max. Klinger stellt, etwa im „Simsone Grisaldo", die duldsame Nächstenliebe höher als die herrische Eigenliebe. Das Verstehen der anderen wiegt schwerer als das Bessern der anderen. Der Primat des aufklärerischen Erziehungsoptimismus erscheint in skeptischer Brechung. Unbewußt stand hinter dem Sturm und Drang die Einsicht und Ansicht, daß eine Veränderung der Verhältnisse mehr zu bewirken vermochte als eine Veränderung und Verbesserung der Menschen, die immer noch und immer doch diesen oft menschenunwürdigen Verhältnissen anheimgegeben, ja oft als individuell ohnmächtige Opfer preisgegeben blieben. Die Genievorstellung freilich versprach, dem Bürgerlichen ruckhaft jene Macht und Ubcrmacht zu vermitteln, die ihm der aufklärerische Erziehungsoptimismus nur mühevoll und stufenweise zucrteilte. Und was jener Erziehungsoptimismus an Trost bot, eben das ließ sich nun an Genialität und Originalität ertrotzen. Man war der langsamen und langwierigen Entwicklung müde. Man hoffte in einem kecken und kühnen Sprung eben das zu erreichen, was sonst nur mühevoll auf vielen Stufen zu erklettern war. Der „notgedrungen flüchtige Überblick üb. d. Gesch. d. Poetik" bei F r i t z M a r t i n i a. a. 0., (1952) Sp. 224t. bleibt wiss. eben doch unzulänglich; für unseren Berichtsraum kommt in Betracht Sp. 230—32, wobei die Würdigung d. Aufklärung ertragreicher wirkt als d. d. Sturmes u. Dranges. — P a u l B ö c k m a n n : Formgeschichte d. dt. Dichtung I (1949) greift f. d. Aufklär, die alte (durch d. Abhandlung im Freien dt. Hochstift Jg. 1932/33 bekannte) These vom „Formprinzip des Witzes" wieder auf (a. a. 0., S. 471 f.), die jedoch durch den Hinweis auf das Formprinzip der „Ordnung" innerhalb der Aufklärung überwunden werden kann. Denn der „Witz" ist letztlich nur eine Spielform der sog. „künstlichen Unordnung" (desordre artificielle). P. B. spricht streckenweise (z. B. a. a. O., S. 507) vom „Leitbegriff des Witzes", der eben doch nur recht bedingt ein bloßes Formprinzip darstellt.

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Freilich wird die Klarheit d. Deutung u. Deutbarkeit durch das ständige Wechselspiel zwischen „innerer" u. „äußerer" Form wesentlich eingetrübt. — Immerhin wird G. E. Lessing die „Überwindung" dieser „Formtradition des Witzes" zugestanden (a. a. 0., S. 53of.). Das entspräche etwa meiner These im stilgeschichtlichen Bereich von der Vollendung u. Überwindung d. rational. Sprachgestaltung durch Lessing, vgl. jetzt die Inhaltsangabe meiner „Studien über Lessings Stil im Verhältnis zur Aufklärungsprosa", abgedr. in d. Wiss. Zschr. d. E. M. Arndt-Univ. Greifswald Jg. III, Gesellsch. u. sprachwiss. Reihe Nr. 3/4 (1953/54) S. 151—58. — Nach der Würdigung der Befangenheit des jg. Goethe in d. Leipziger Zeit bringt P. Böckmann die „Entwicklung d. liter. A u s d r u c k s h a l t u n g durch Klopstock u. d. Sturm u. Drang (a. a. O., S. 553!) zur gebührenden Geltung, wobei die „weltimmanente Ausdruckshaltung durch Herder" (a. a. 0., S. 598) einen fraglos verdienten entwicklungsgeschichtl. Akzent trägt. — Nähere Aufschlüsse über d. Kunstgespräch i. d. Dichtung d. Sturmes u. Dranges (formulierte Poetik i. Kunstwerk) sind zu erwarten v. d. im Werden begriffenen Diss. m. Schülers A l f o n s Eichstaedt. S. 309. Ü b e r den M a n g e l des e p i s c h . G e i s t e s (Merck). — Jetzt leicht zugänglich in: Joh. Heinrich Merck „Essais", hrsg. von C. H. S c h r ä d e r m. Nachw. von W i l h . M i c h e l , Mainz 1947, S. 29 f. — Daneben enthält die Sammlung kunstwiss. Aufsätze Mercks, darunter bes. die bild. Kunst betreffende, aus den Jahren 1776—87. Mit dem mangelnden Kunstsinn i. Deutschland u. der geringen Bewertung des „Einflusses des Intellektuellen" setzt sich auseinander das allgemein gehaltene Essay „Ein Gespräch zw. Autor und Leser". Auch innerhalb der Sonderaufsätze aus dem Bereich d. bild. Künste weitet M. gern die Fragestellung auf allgemeine Dinge des geistigen Lebens aus, insbesondere interessiert er sich für den „Fortgang des wahren Geschmacks und Gefühls bei dem großen Haufen" (Essay: „Für das Andenken Albrecht Dürers"); Herder dürfte nachwirken, wenn d. „allgemeine Charakter des damaligen Zeitalters" berücksichtigt wird. Durchgängig verfolgbar ist die Polemik gegen Theorie u. Ästhetik, so etwa entschuldigt sich M. wegen des „Straftons gegen Theorie u. Charakteristik der Kunst", so etwa spricht er vom „Glückstopf der Terminologie eines Theoretikers" (d'Argenville) oder vom „Theoretiker u. Mäkler mit Kunstworten" (Essay: „Über Maler u. Malerei"). — Das Nachwort W i l h . 37 *

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M i c h e l s bezieht die Eigenart Mercks vielleicht etwas einseitig auf die Darmstädter Verhältnisse („Darmstädtisch ist bei ihm die eigenwillig scharf umrissene Persönlichkeit, die Weltoffenheit . . ."!), hebt aber mit Recht die bekannte Umschreibung der Sonderart Goethes durch Merck hervor, daß Goethe „dem Wirklichen eine poetische Gestalt zu geben versuche", während „die anderen . . . das sogenannte poetische Gros, das Imaginative zu verwirklichen" suchten. Im übrigen stellt W. Michel den Wert der „schöpferischen Kritik" in M. heraus. — Etwas allzuweit zur Klassik hinüber verwiesen wird J. H. Merck durch F e r d . D e n k : Das Kunstschöne und Charakteristische von Winckelmann bis Friedrich Schlegel, Diss. München 1925, S. 30/31. F. Denk neigt überhaupt dazu, die Dinge auf eine Antithese um jeden Preis zu bringen, ohne die mannigfachen Abstufungen und vielfach fließenden Übergänge zu berücksichtigen. S. 312. V o l k s l i e d e r u n d B a l l a d e n . — Maler Müller ist nur als ein Beispiel für viele gewählt worden. — Als formulierte Poetik innerhalb des Kunstwerkes (die von der gestalteten, werkimmanenten Poetik als latente Kunstgesetzlichkeit im Kunstwerk zu unterscheiden ist, vielfach als Kunstgespräch auftretend) begegnet ein programmatisches Eintreten für Volkslied und Volksballade etwa auch in Goethes Singspiel „Claudine von Villa Bella" (1. Fassung von 1774/75), und zwar in zentraler Stellung (etwa i. d. Mitte dieses „Schauspiels mit Gesang") als Dialog zwischen Crugantino u. Gonzalo. Gonzalo bedauert dort, daß die alten Lieder, Mordgeschichten (Moritaten, Bänkelgesänge), Gespenstergeschichten usw. ausgestorben oder doch mißachtet seien. Sein Gesprächspartner Crugantino kann ihn beruhigen u. dahingehend aufklären, daß im Gegenteil „Balladen, Romanzen, Bänkelgesänge" eifrig gesammelt würden: „Unsere schönen Geister beeifern sich darin um die Wette". — Die anfangs überraschende Verwendung des Merkwortes „schöne Geister" an dieser Stelle darf nicht irreführen; denn der junge Goethe will offenbar in diesem eingelagerten Kunstgespräch die Propaganda für das Volkstümliche geniezeitgemäßer Art verbinden mit der entsprechenden Polemik gegen die rokokohafte Unnatur, wie Gonzalos Antwort bestätigt: „Das ist doch einmal ein gescheiter Einfall von ihnen, etwas Unglaubliches, daß sie wieder zur Natur zurückkehren (J. J. Rousseau);

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denn sonst pflegen sie immer das Gekämmte zu frisieren, das Frisierte zu kräuseln und das Gekräuselte am Ende zu verwirren und bildeten sich Wunderstreiche drauf ein. Crugantino: Grade das Gegenteil . . . " In der 2. Fassung (in Versform von 1788) ist dieses Kunstgespräch oder genauer Volkskunst-Gespräch kennzeichnenderweise fortgefallen in Anpassung an das klassische Kunstwollen. Die Wandlung der Kunstgesinnung wird dergestalt aus dem Unterschiede jener durch mehr als ein Jahrzehnt getrennten Fassungen recht instruktiv ablesbar. Der Ausdruck Schöngeister bzw. schöne Geister begegnet bei G . A . B ü r g e r in dessen „Ankündigung einer Neubearbeitung von Tausend u. einer Nacht" (1781), u. zwar i. d. franz. Form „beauxesprits", die nahegelegt worden war, weil es sich um einen Bezug auf die von Joh. Heinr. Voß verdeutschte Bearbeitung der orientalischen Märchen durch den franz. Orientalisten Antoine Galand (1646 bis 1715) handelte; auch G. A. Bürger gebraucht es nicht im spez. rokokohaften Wortsinne; Bürgerausgabe von Wurzbach Bd. III, S. 185. S. 313. I d y l l e n f o r m . — Mein verehrter Lehrer P a u l M e r k e r hat eine instruktive Textsammlung herausgegeben unter dem Titel: Deutsche Idyllendichtung 1700—1840 nach stilgeschichtl. Gesichtspunkten, Berlin 1934 im Rahmen d. Literarhistor. Bibl., hrsg. von G. F r i c k e , begründet von M a r t i n S o m m e r f e l d . P. M e r k e r übersieht selbst in dieser Textproben-Sammlung nicht die entwicklungsgeschichtliche Bedeutung d. Idyllentheorie; denn er vermittelt dort im Anhang II, betitelt „Aus d. Theorie d. Idylle", einschlägige Textproben aus den Beständen: Gottsched, Ramler-Batteux, Salom. Geßner, Herder, sowie einen Hinweis auf Schillers Abhandlung: Über naive u. sentimentalische Dichtung, a. a. 0., S. 91—101. P. Merker deutet damit bewußt an, daß ein rechtes Verstehen der Idyllen-Praxis ohne hinreichende Kenntnis d. IdyllenTheorie schlechthin unmöglich ist. S. 313. D e r D i c h t e r d e s „ G ö t z " . — A l f r e d N o l l a u : Das literarische Publikum des jungen Goethe von 1770 bis zur Übersiedlung nach Weimar, mit einem Anhang: Neudrucke zeitgenössischer Götz- und Werther-Kritiken, Weimar 1935 (Literatur und Leben Bd. V) sieht sich geradezu genötigt, neben den von Lempicki übernommenen Typen der normativen und der programmatischen Kritik einen weiteren

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Typus, nämlich den der patriotischen „Kritik", einzuführen, wobei das „öffentliche, vaterländische Interesse" gegenüber dem nur ästhetischen überwiegt. Der deutsche Patriotismus trete nicht nur „auch", sondern „immer" zutage gelegentlich der „Götz"-Kritiken, A. Nollau: a.a.O., S. 28f. Doch komme dieser „patriotischen" Kritik noch keine gesellschaftliche Funktion im engeren u. strengeren Sinne des Wortes zu. Das bleibe mehr Angelegenheit einer „literarischen Elite". U. a. wird Chr. Daniel Schubarts Kritik i. dessen „Deutscher Chronik" (Jahrg. 1774, 10. Stück) hervorgehoben. Schubart fordert bei dieser Gelegenheit „mehr patronymische Stücke" in Abwehr der „Mißgeburten des Auslandes" u. appelliert an Klopstock, Lessing, Goethe, a. a. 0., S. 30. S. 316. E d w a r d Y o u n g . — Neudruck der „Conjectures . . ." m. Einleitung von A. B r a n d t i. Jahrb. d. ShakespeareGesellschaft Bd. 39 (Berlin 1903), S. 1—42. — Gedanken über d. Originalwerke, übers, von H. E. v. Teubern 1760, hrsg. von K . J a h n (Kleine Texte f. theol. u. philos. Vorlesungen, hrsg. von H. Lietzmann, H. 6o, Bonn 1910). — E d g a r Z i l s e l : Die Entstehung des Geniebegriffs, Tübingen 1926. — H a n s T h ü m e : Beiträge zur Geschichte d. Geniebegriffs in England, Halle 1927 ( = Stud. z. engl. Philologie Nr. 7). — Sudheimer: Der Geniebegriff d. jg. Goethe 1935 u. a. — Angesichts der Problematik d. Übers, wurde i. d. Zitaten auf den englischen Text zurückgegriffen; vgl. auch A m e l i e W i c k e : Die Dichter des Göttinger Hains in ihrem Verhältnis z. engl. Lit. u. Ästhetik, Diss. Göttingen 1929, S. 56ff. S. 316. S e n d s c h r e i b e n . — Es war an Richardson gerichtet als „ A Letter to the Author of Sir Charles Grandison" und beanspruchte nur die Geltung eines „Versuches", wirkte aber nachhaltig auf den dt. Sturm u. Drang. Eingehend berücksichtigt bei F. J. S c h n e i d e r : Die dt. Dichtung der Geniezeit 1750—1800, Epochen der dt. Lit. III, 2 (1952), S. 18—20. Schneider hebt den Bezug auf Rousseaus späteres Naturideal hervor. S. 316. M u s t e r w e r t d e r A l t e n u n d M o d e r n e n . — Die „Alten" hatten von vornherein den Vorteil der Ausgangsstellung: „ A f t e r all, the first ancients had no merit in being Originals: they could not be imitators". Die Modernen dagegen hatten die Wahl. Die Neueren sollten den

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Alten insofern nacheifern (statt sie nur nachzuahmen), indem sie wie jene (bes. wie Homer) an der „Brust der Natur zu trinken" versuchten: „drink where he (Homer) drank . . . at the breast of nature. Imitate: but imitate not the composition, but the man". Die Alten sind einzuholen, aber auch zu überholen. Noch wird dabei das „Übermenschliche" (d. jg. Herder u. Goethe) nicht so ohne weiteres für das Genie beansprucht. Denn übermenschlich (more than men) seien die Alten auch nicht gewesen. Da die Modemen auf einer höheren Entwicklungsstufe stehen, ist der Wettbewerb m. d. Alten durchaus erfolgversprechend im Erstreben des Originalgeistes („an original spirit"). Shakespeare gilt von den Neueren vor allem als Originalgenie in Abhebung von Ben Jonson. Z. T. arbeitet E. Young mit der Gegenüberstellung von „imitation" u. „emulation" („imitation is servile, emulation generous"). Die Beobachtung der Sonderforschung, daß der Geniebegriff in den sechziger Jahren zur Abhebung des Originals von der Nachahmung dient, in den siebziger Jahren aber als Schöpfungskraft Eigenwert erhält, ist schon von F. J. S c h n e i d e r : Geniezeit (1952) mit Hinweis auf die „fliehenden Grenzen" gebührend eingeschränkt worden (S. 17/18). S. 317. O r g a n i s m u s g e d a n k e . — Das Originalgenie wird aufgefaßt als ein Wachstümliches und gleichsam Pflanzliches, das triebhaft wächst und nicht nur „gemacht" wird: „ A n original may be said to be a vegetable nature, it rises spontanously". S. 319. S. M e r c i e r . — Das Fortschrittliche liegt vor allem in der klaren Erkenntnis der gesellschaftlichen Funktion des Theaters, das eine demokratische Einrichtung u. kein Institut für Privilegierte sei. Relativ eingehend handelt üb. Mercier die bek. Lenz-Monographie M. N. R o s a n o w s ; vgl. die Sonderarbeit v. J. S a n G i o r g i u : Seb. Merciers dramaturgische Ideen im Sturm und Drang, Diss. Basel 1921 und den Lenz-Abschnitt dieser Darstellung. S. 321. P r o m e t h e u s s y m b o l . — Vor allem wird Shakespeare mit Prometheus verglichen, weil er seinen Gestalten mit Hilfe des himmlischen Feuers nicht allein Leben, sondern auch Unsterblichkeit verleihe. — E . Young benutzt dann schon das neu gewonnene Kriterium d. Originalität als Wertmaßstab, um die englischen Dichter rangmäßig ein-

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zustufen (Swift, Pope, Addison u. a.). Ja, er dürfte von diesem Bedürfnis nach einem verläßlichen Maßstab ausgegangen sein bei seinem Versuch über die Originalwerke. S. 323. G ö t t i n g e r „ H a i n " . — A. W i c k e : Die Dichter des Göttinger Hains in ihrem Verhältnis z. engl. Lit. u. Ästhetik, Diss. Göttingen 1929. — R. B a e s k e n : Die Dichter des Göttinger Hains u. d. Bürgerlichkeit, Diss. Königsberg 1936. S. 325. Fr. L. Stolberg. — Stolbergs Aufsätze erschienen 1777 f. im „Deutschen Museum"; hier zitiert nach: Gesammelte Werke der Brüder Christian u. Fr. Leopold, Grafen zu Stolberg, 10. Bd., Hamburg 1827, S. 355ff. unter dem Titel: Einige ältere Aufsätze von Fr. Leopold Grafen zu Stolberg (S. 351). Der erste Aufsatz „Uber die Fülle des Herzens" findet sich abgedruckt in: Der Göttinger Dichterbund, Hrsg. A. S a u e r , Bd. III, S. i8f. (Dt. Nat.-Lit. Nr. 50, 52). Für die Poetik der Geniezeit sind die anderen drei Aufsätze indessen noch aufschlußreicher, während dieser erst mehr die allgemeinen Tendenzen der Geniebewegung vertritt. S. 325. E i n f a l t der S i t t e u. H e r z l i c h k e i t . — In dem Aufsatz „Über die Sitte der Weihnachtsgeschenke" (1781), der ein gewisses volkskundliches Interesse bekundet, spricht Stolberg von der „edlen Einfalt und Herzlichkeit unserer Väter" und gelangt zu der allg. Bemerkung über den Volkscharakter. „Es ist die Haupteigenschaft der deutschen Nation, daß sie herzlich ist, und dieser Charakter zeigt sich auch in der Feier dieses Festes bei uns" (a. a. 0., S. 394); im weiteren Umkreis wird das „Bürgerliche" des Göttinger Kreises selbst bei Stolberg bedingt spürbar; vgl. B a e s k e n , a. a. 0. S. 326. „ D i c h t e n " . — Fr. L. Stolberg stellt im Aufsatz „Dichter und Darstellung" von vornherein klar, daß er in diesem Zusammenhang unter „Dichten" etwas Besonderes, eben d. Konzeptionsvorgang verstanden wissen will: „Ich nehme hier das Wort Dichten nicht in seinem ganzen Umfang, in welchem es Gedichte machen heißt und das Darstellen in sich faßt. Ich bezeichne nur mit diesem Wort den Zustand des Dichters, wenn schon die Seelen werdender Lieder ihm das Haupt umschweben, eh' das nachahmende Gewand der Sprache sie umfasset" (a. a. O., S.375). — Die Wendung vom „Zustand des Dichters" bei der Empfängnis entspricht etwa dem „Zustand des Dichters" i. d. dritten

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der Aufsätze „Über die Ruhe nach dem Genuß" (S. 382!). Ähnlich kehrt auch der Gedanke, daß die Verwirklichung nicht eine volle Erfüllung der ursprünglichen Eingebung zu bringen pflegt, in zwei Aufsätzen wieder. S. 326. „ D a r s t e l l e n " . — Trotz d. Verehrung f. d. Griechen hebt Stolberg die Eignung der dt. Muttersprache hervor (S. 379). S. 330. Fr. Gottl. Klopstock. — K l o p s t o c k s W e r k e , zehnbändige Ausgabe 1854/5. — F. M u n c k e r : Friedr. Gottlieb Klopstock, Geschichte seines Lebens und seiner Schriften, Berlin 1900 (zitiert nach d. Ausg. Stuttgart 1888). 0. Th. S c h e i b n e r : Über Klopstocks Gelehrtenrepublik, Diss. Jena 1874. A. P i e p e r : Klopstocks „Deutsche Gelehrtenrepublik", Diss. Marburg 1915. — M a r t h a H a e b l e r : Klopstocks Anschauungen v. Wesen d. Dichtung, Diss. Erlangen 1923 (Masch.). — M. K i r s c h s t e i n : Klopstocks Deutsche Gelehrtenrepublik, Germ. u. Deutsch III, Berlinu. Leipzig 1928. — P a u l H e r z o g : Die Wirkung von Klopstocks Gelehrtenrepublik auf den Sturm u. Drang, Diss. Basel (ungedr.). — Über Kl. in Kopenhagen L e o p o l d M a g o n : Ein Jahrhundert geistiger u. liter. Beziehungen zw. Deutschland u. Skandinavien 1750—1850, Bd. I (1926); dort über Klopstocks „Dichterauffassung" christl.religiöser Prägung in Abhebung von der „Renaissancepoetik" (S. 84/85). L. Magons weitgespannter, das Geistige betonender Titelgebung für das großzügig geplante Gesamtwerk entspricht leider nicht durchgängig die in wesentlichen Teilen auf eine gewiß reiche Materialsammlung beschränkte Ausführung dieses ersten Bandes, der geistigkonstruktive Leitideen und eine begrifflich klare Terminologie vermissen läßt. So kann streckenweise der Eindruck eines Mosaiks fremder Meinungen überwiegen, die freilich i. jed. Falle korrekt belegt werden, was i. ähnl. Zshg. auch d. Rez. v. P. Merker (Z. f. d. Phil. 52,1927, S. 501) hervorhebt. Ein näheres Eingehen auf M.s Arbeit behält sich Verf. für die Anm. zu Bd. III bzw. Bd. IV dieser Darstellung vor in der Hoffnung, daß bis dahin von den 1926 (im Vorwort) von M. in Aussicht gestellten zwei weiteren Bänden wenigstens der eine vorliegt und damit die Gesamtkonzeption des M.schen Werkes klarer zutagetritt.— F. J. S c h n e i d e r : Aufklärung (1948) hebt wohl doch etwas über Gebühr i. der Einschätzung rückwärtiger Beziehungen Kl. als „Höhepunkt des literarischen Barocks" schon in seiner Vorrede (S. 10) hervor. Die neuere Sonderforschung über die Poetik

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Klopstocks hat eine wertvolle Bereicherung u. Zusammenfassung erfahren durch K a r l A u g u s t Schleiden: Klopstocks Dichtungstheorie, Saarbrücken 1954; darüber Näheres unter d. allgemeinen Literatur zum Sturm u. Drang (s. o.). Mit Recht wendet K. A. Schleiden gegen d. frühere Sonderuntersuchung von W. L i e h : Klopstocks Dichterbegriff, Diss. Frankfurt a. M. 1934 ein, daß deren Titelgebung irreführend sei, da dort weit mehr die Dichtungsart als die Kunsttheorie berücksichtigt worden sei, a. a. O. S. 16. — Ohne K. A. Schleiden (1954) gekannt u. vermerkt zu haben, bietet unter religiösem Aspekt doch auch Ästhetisches u. Kunsttheoretisches P a u l Menzer: Kl. u. Lavater in ihrem Einfluß auf die Sturm- u. Drangperiode, in Wiss. Zschr. d. Univ. Halle, Jg. 1954/55. S. 330. Zuordnung z. R a t i o n a l i s m u s : Die frühere Klopstockforschung erkennt vor allem die fraglos starken Bestände einer rationalistischen Kunsttheorie in Klopstocks keineswegs eindeutigen Äußerungen, so F. Muncker u. A. Pieper. Die späteren Sonderarbeiten von M. H a e b l e r u. M. K i r s c h s t e i n berücksichtigen stärker die vorwärtsweisenden Kräfte in Klopstocks Poetik. Dieser Widerspruch erklärt sich, abgesehen von Widersprüchen bei Kl. selbst, letztlich daraus, daß in der Tat beide Befunde sich aus Kl.s kunsttheoretischen Beiträgen rechtfertigen lassen. Die jüngere Forschung hält manches für neu, was zu der Zeit, als Kl. es äußerte, durchaus nicht so neuartig war u. was auch bei hinreichendem Überblick über die weitgespannte Kunsttheorie der Aufklärung nicht notwendig als geniezeitgemäß gedeutet werden würde. Trotzdem hat sie dankenswerte Fortschritte erzielt. Die ältere Klopstockforschung schloß zu verallgemeinernd von Merkmalen rationalistischer Art auf die Grundhaltung u. Gesamteinstellung Klopstocks. — Eine recht eigenwillige und z. T. phantastische Kl.-Deutung gibt von einem merklich zeitgebundenen Standort K a r l K i n d t : Klopstock, Berlin 1941 (mit Akzent auf d. Mischform von Antike u. Christentum und auf d. Begründung einer sog. „evangelischen Klassik"); jetzt 2. Aufl. 1948. S. 331. Goethes U r t e i l : Es findet sich in Goethes Brief an Schönborn vom 8. Juni 1774. Auf Bemerkungen Goethes u. Schubarts weist hin M. Kirschstein a. a. 0., S. 160, Anm. Dort auch der Hinweis auf eine M. K. nicht erreichbar

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gewesene (weil ungedruckte) Baseler Diss. von P a u l Herzog über die Gelehrtenrepublik (s. o.). Wesentlich kritischer ausgefallen als Goethes warmherzige Zustimmung ist M. Wielands kühles Erstaunen (an Jacobi, 28. Mai 1774). S- 333- „Heilige Poesie". — Der Aufsatz „Von der heiligen Poesie" wird zitiert nach der Hallischen Ausgabe „Der Messias", 2. verb. Aufl. Halle 1760. Den Erhabenheitsbegriff dieses Aufsatzes berücksichtigt K a r l V i e t o r : De Sublimitate, in Havard Studies XIV (1937) S. 273; dort werden auch weitere Aufsätze Klopstocks überprüft hinsichtlich der Erhabenheitsvorstellung, während die werkimmanente Poetik der Oden S. 274 berührt wird, soweit es um die Erhabenheit geht; vgl. jetzt K. V i e t o r : Die Idee des Erhabenen i. d. dt. Lit.; in: Geist u. Form, Bern 1952. — Über die „Weihe d. Dichters", K. Aug. Schleiden a.a.O. (1954), S. 86—89; über d. Primat d. „heiligen Poesie" a. a. 0., S. 128. S- 335- „Griechisches Silbenmaß". — Über Klopstocks Beiträge zur Metrik u. Rhythmik, Andreas Heusler: Deutsche Versgeschichte III (1929) S. 247t. (Hexameter); die Theorie wird unter Berücksichtigung der Abwehr J. Fr. Christs gestreift S. 83/84, Einzelnes S. 76 (Gelehrtenrepublik). E . B u s c h : Klopstocks deutscher Hexameter, Zschr. f. dt. Bildung, Jg. 14 (1938). — Allg. üb. Kl.s Verhältnis z. Antike bringt Siegfried L e v y : Kl. u. d. Antike, Diss. München 1923 (Masch.-Exempl.). S- 335- „Nordischer A u f s e h e r " . — Einen Gesamtüberblick bietet Th. M. Luehrs: Der Nordische Aufseher, ein Beitrag zur Geschichte der moral. Wochenschriften, Diss. Heidelberg 1909. Einiges über Klopstocks Beiträge, S. 101/102. — F r a n z Muncker, Stuttgart 1888, S. 339f. S. 337. „ G e l e h r t e n r e p u b l i k " . — Über die kunsttheoretischen Einschläge vgl.M.Kirschstein, Gelehrtenrepublik (1928), der Abschnitt „Die Poetik", S. 160—191 greift freilich über die Gelehrtenrepublik hinaus u. bietet wohl vorerst die beste Deutung, neigt jedoch dazu, zu überreden, statt zu überzeugen. Die Arbeit von Martha Haebler (s. o.), die beachtliche Vorarbeit leistet, ist leider ungedruckt geblieben, wurde jedoch von Kirschstein einbezogen. K a r l K i n d t : Klopstock, Berlin 1941 (S. 706) handelt über die „Gelehrtenrepublik" S. 615—^633 und sieht darin

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(gemäß der pathetischen Klopstock-Apologie der Gesamtdarstellung) gleichsam die herrscherliche Gebärde (eines im „Zenit seines Ruhmes stehenden"); Gesetzgebers nachdem von „antikem und germanischem Urgestein", auf dem die Dichtung Klopstocks gegründet sein soll, die Rede war, erfahren wir, daß Klopstock um diese „bekrönte Stadt des deutschen Geistes" nun „die eherne Fortifikationslinie" mit seiner „Gelehrtenrepublik" ziehe (S. 618). Trotz oder wegen der ihm zur Verfügung stehenden 700 Seiten kommt das kunsttheor. Sonderthema nicht recht zur Geltung („Der weitgesteckte Rahmen unserer Darstellung verbietet uns, auf Einzelnes einzugehen"). D i e t e r E b e r l e : Die publizist. Situation i. Sturm u. Drang nach K.s dt. Gelehrtenrepublik (Autor-Ref. über eine Diss. Leipzig), in: Wiss. Zschr. d. Univ. Leipzig, Jg. 1951/52, S. 121 f. D. Eberles Deutung, die K.s gesellsch. Tendenz u. seine Bedeutung f. d. „revolutionäre" Kritik hervorhebt, bestätigt die Berechtigung, K. als Poetiker f. d. Sturm u. Drang in Anspruch zu nehmen. S. 337/38 E r f i n d u n g s b e g r i f f . — Anders als M u n c k e r u. A. P i e per will K i r s c h s t e i n den Abschnitt „Von d. Entdeckung u. d. Erfindung" nicht auf den Dichter bezogen wissen. Und er nimmt Anstoß vor allem an dem Satz Klopstocks „Wer erfindet, setzt Vorhandenes auf neue Art und Weise zusammen", (a.a.O., S. 169). Er meint, daß mit diesem Satz, falls er auf die Dichter Bezug hätte, die Ableitungen d. Schweizer aus Milton u. ihre Theorie des Wunderbaren geradezu „verleugnet" worden wären. Diese indirekte Beweisführung ist indessen nicht so schlüssig, wie K. annimmt, denn die Schweizer suchten teils das Wahrscheinliche am Wunderbaren dadurch zu retten, daß sie das Neuartig-Ungewöhnliche in seinen Einzelbestandteilen vom Bekannten u. wirklich Bestehenden ableiteten. Klopstock drückt Ähnliches nur etwas vereinfacht in seinem umstrittenen Satz aus, der durchaus nicht so unversöhnlich abweicht von den betreffenden Lehren der Schweizer, u. es fällt nicht schwer, etwa in der Sonderarbeit S. B i n g s : Die Naturnachahmungstheorie bei Gottsched u. d. Schweizern, Diss. Köln 1934 wesensverwandte Äußerungen der Schweizer anzutreffen (a.a.O., S. 102). Nicht verkannt soll werden, daß die Schweizer Theorie über diesen Vermittlungsstand zwischen kombinierender und schöpferischer Phantasie hinausgeht. Die Einwirkung auf ein

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Einzelwerk erörtert E. B u s c h : Kl.s Messias u. d. poetische Theorie von Bodmer u. Breitinger, in: G. R. M., Jg. 29, 1941. — Auf d. Erfindungsbegriff Kl.s geht näher ein K . A u g . S c h l e i d e n : Klopstocks Dichtungstheorie (1954) S. 104—108 (Erfahrung u. Erfindung, Erfindung u. Nachahmung). S. 338. „ D a r s t e l l u n g " . — Klopstocks Werke X , S. I93f. Auch K i r s c h s t e i n (Gelehrtenrepublik) muß zugeben, daß Kl. in diesem Prosaaufsatz von 1779 „an dem Umkämpften (Darstellungsbegriff) auch hier vorbeigeht", übersieht aber, daß selbst damals noch Bestände der Schweizer Poetik weitgehend ausgewertet werden. Man braucht nur einmal Kirschsteins Ausführungen (S. 282/83) mit den knappen u. freilich im Wesentlichen noch von Fr. Braitmaier bezogenen Bemerkungen über die Poetik der Schweizer zu vergleichen, wie sie A. K i e m l e : Anschauungen über d. Wesen des dichterischen Kunstwerks von 1750—1920, Diss. Tübingen 1932, S. 10 vermittelt, um die weitreichende Ähnlichkeit zu erkennen. Kl. ergänzt nur mit Hilfe Lessings („Laokoon") den Bewegungsbegriff. Auf Kl. geht A. Kiemle nicht ein, wie sie denn den Naturnachahmungsbegriff (ihr eigentliches Thema), soweit es sich um das 18. Jhdt. handelt, nur einleitend erwähnt. — Uber die Darstellung vgl. auch Karl Kindt: Klopstock, 1941 (S. 620—622). S. 338. E r s a t z f o r m f. d. a n t i k e M y t h o l o g i e . — In den „größeren" Rahmen einer „deutsch-nordischen Altertumskunde" stellt L e o p o l d M a g o n die Bemühungen um eine „nordische" Mythologie a . a . O . , Bd. I (1926) Kap. III: Johannes Ewald u. Klopstock 1765—70, ohne „diese Frühzeit der nordischen Renaissance erschöpfend darstellen'' zu wollen (vgl. S. 364); dort auch Einzelhinweise auf Klopstocks Kunstauffassung (S. 351 u. a.). Uber Mallet, Schütze u. a. vgl. das Register. Die Bekundungen über Kl.s Kunsttheorie sind inzwischen überholt. S. 339. B e i s p i e l G e r s t e n b e r g s . — Die Priorität Gerstenbergs wird freilich u. nicht so ganz von ungefähr selbst von d. Gerstenberg-Sonderforschung angezweifelt, so von A. M. W a g n e r : H. Wilh. v. Gerstenberg u. d. Sturm u. Drang (1924) S. 258/59: „Da erwiesen ist, daß Klopstock schon vor Erscheinen des „Skalden" die Barden kennt, kann er nicht durch ihn (G.) zu ihnen gekommen sein".

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S. 339. Exkurs: werkimmanente Poetik. — Klopstocks Kunstwollen ist vorab auf das Erhabene gerichtet. Die Wertstufe u. Wirkungsweise des Erhabenen gilt ihm als übergeordnet, verglichen mit der Wertschicht u. Wirkungsweise des Schönen. Aber er verfällt nicht der „lauten Größe" des Sturmes u. Dranges, jener Größe um jeden Preis, die auch das Häßliche, ja Verbrecherische einbezieht. Für Kl. ist das Schöne gleichsam das „Morgentor" zum Erhabenen. Insofern löst sich im Werk weitgehend jener Widerspruch von expressiver Kraftgebärde einerseits u. formpflegender Besonnenheit andererseits. Die Entfesselung der Ausdrucksgewalt findet ihre ausgleichende Gegenmacht in der Bändigung durch die „Darstellung". Von hier aus erklärt sich etwa auch das Widerspiel u. Zusammenspiel von Rhythmik u. Metrik. Klopstock bedarf der rauschhaften Steigerung, um zur vollen Entfaltung seines Kunstwollens im Kunstwerk zu gelangen, ob es sich nun um das rauschhafte Erleben u. Erheben des Religiösen oder des Nationalen oder des Naturschönen oder d. Freundschaft oder d. Liebe handeln mag. Diese rauschhaften Steigerungen zu gewinnen u. diese begeisterten Zustände zu erhalten, reicht das Kunstwollen als solches indessen nicht aus. Es bedarf vielmehr des Antriebes aus anderen (für Kl. letzten Endes übergeordneten) Wertwelten u. Kraftquellen wie Religion, Vaterland, Sittlichkeit der zwischenmenschlichen Bezüge. Selbst die sogen. Revolutions-Oden nähren sich von einer rauschhaften Begeisterung, die sich jedoch ebenfalls in der Besonnenheit eine Gegenkraft selber setzt. In diesem Falle spielt freilich formungstechnisch die Notwendigkeit der Stoffbewältigung mit hinein (epischer Zug). Im kritischen Zeitalter der Aufklärung vertritt Klopstock teils bewußt, teils unbewußt den Gegentypus des schlechthin Unkritischen, leicht Begeisterten, dessen Begeisterungsfähigkeit für den schaffenden Künstler zu einer Begeisterungsnotwendigkeit werden mußte. Die Grundströmung seines Kunstwollens bleibt bei alledem auf das Lyrische gerichtet, dem Klopstock im entwicklungsgeschichtlichen Ablauf der jeweils bevorzugten Dichtungsgattungen sehr frühzeitig zu einem entscheidenden Durchbruch verhilft. Auch das Epos bleibt vom Kunstwollen u. der Wirkungsweise her lyrisch bestimmt, wie es lyrisch gestimmt bleibt. Daher entspricht auch die „echte Lebensvielfalt" des Sturmes u. Dranges (ebenso wie

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die „laute Größe") nicht dem Klopstock eigentümlichen Kunstwollen trotz einiger Realismen in den Eislauf-Oden oder den Natur-Oden („Der Zürcher See"). Das Erhabene strebt irgendwie zur „Einfalt". Und die Begeisterung überrennt gleichsam die Einzelbestände des StofflichGegenständlichen. Der Hang zum Geistig-Visionären (und Mythisch- Visionären) meidet die Anschauungsebene ersten Grades (Wirklichkeit), wie das religiöse Sehertum das Nahe u. wie das Priestertum das Nichtige verschmäht. S. 341. Gerstenberg. — A l b e r t Malte Wagner: H. Wilh. v. Gerstenberg u. d. Sturm u. Drang, Bd. I/II, Heidelberg 1920/24. Bd. I überwiegend biographisch, Bd. II deutet „Gerstenberg als Typus der Übergangszeit" (Untertitel); Richtung: „synthetische Literaturgeschichte", teilw. unter merklicher (u. zugestandener) Einwirkung des Expressionismus (mit Polemik gegen Jos. Nadler, Vorwort). Für die Kunsttheorie kommt bes. in Betracht Kap. 7 (Der Kritiker). Einiges zur werkimmanenten Poetik in Kap. 9 (Ugolino). Im „Kritiker"-Kap. findet sich auch über Gerstenberg hinaus mancher bemerkenswerte Beitrag zur zeitparallelen Kunsttheorie unter Zurückgreifen auf die Kunsttheorie der Aufklärung (etwa Hinweis auf die Gottschedin u. Flögel a. a. 0., S. 23). Hinsichtlich des Prometheussymbols u. des Sprachstils sei verzeichnet der Hinweis (S. 163), daß G. ein „Prometheus der Worte" sein wollte wie Lenz ein „Maler der menschlichen Gesellschaft". Dagegen darf als bekannt vorausgesetzt werden, daß G. etwa Klopstock einfühlsamer verstanden hat, als Lessing es vermochte, was wiederum nicht dazu verleiten darf, seine Einfühlungsfähigkeit selbst noch über die Herders zu stellen. — Hinsichtlich des Verhältnisses Klopstock-Gerstenberg betr. d. Skaldenbzw. Barden-Dichtung bezweifelt A. M. Wagner die absolute Priorität G.s u. dessen „Gedicht eines Skalden" (dies ist auch beim Klopstock-Abschnitt zu berücksichtigen). S. 341. „ M e r k w ü r d i g k e i t e n " . — Neudruck: DLD d. 18. u. 19. Jh.s, Nr. 29 (1888) u. Nr. 30 (1890) hrsg. d. A l e x a n der v. Weilen. Die Briefe stammen keineswegs nur aus Gerstenbergs Feder; bes. zu erwähnen als Mitarbeiter wäre etwa Gottfried Benedict Funk. Zu Alex. v. Weilens Einleitung zum Neudruck nimmt A. M. Wagner (a. a. O., Bd. II, S. 80) krit. Stellung, indem

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er G.s Eigenständigkeit vor einer Überschätzung der Einflüsse zu verteidigen trachtet. S. 352. S h a k e s p e a r e u. G e n i e a u f f a s s u n g e n . — A. M. W a g ner stellt den Geniebegriff voran (a. a. 0., Bd. II, 1924, S. 79—125), wobei er wiederum betr. Ed. Young u. Hamann die Einflußfrage als nicht relevant abwehrt; wichtig erscheint die Berücksichtigung der Frühstufe. Dennoch neigt A. M. Wagner ein wenig dazu, G. mit anderen (bes. überlegenen) Theoretikern werthaft u. teilweise auch wesenhaft gleichzusetzen. S. 354. P o e s i e u. N i c h t p o e s i e . — 0. W a l z e l : Grenzen von Poesie u. Unpoesie (1937) übergeht G. in diesem Betracht; zwar wird G. erwähnt (a. a. 0., S. 45), aber nur ganz beiläufig als Dichter, nicht als Kunsttheoretiker (HerderAbschnitt); vgl. auch A. M. W a g n e r (Bd. II, S. 160). S.356/57 H. P. S t u r z „ J u l i e ' V B e g l e i t b r i e f . — Helfrich Peter S t u r z , in der dt. Stilgeschichte u. d. Sonderforschung bereits gewürdigt, denkt nicht so skeptisch über diedramat. Gattung wie Gerstenberg. Das Widmungsschreiben, das er seiner Tragödie des Vater-Tochter-Konflikts „Julie" mit auf den Weg gibt als „ B r i e f ü b e r d. d e u t s c h e T h e a t e r an die F r e u n d e u. B e s c h ü t z e r d e s s e l b e n in H a m b u r g " (1767) erhofft im Gegenteil Entwicklungsmöglichkeiten der dramat. Wirkungsform. Unter Rückgriff auf Opitz' Vorrede zu dessen „Judith" u. unter Abhebung des dramat. modernen Kunstwollens von dem der Antike vertritt Sturz die Forderung einer Originaltragödie, die der Bemühungen um ein Nationaltheater in Hamburg würdig sein müßte. In einer Anmerkung zum Theaterbrief macht er zudem darauf aufmerksam, daß als eine vernachlässigte Fundstelle für dramat. wirksame Stoffe das Geschehen in den „niedrigeren Ständen" der verschiedenen geschichtlichen Epochen bes. der Kaisergeschichte zu gelten habe u. also zu verwerten sei, denn „in niedrigeren Ständen ist diese Zeit an tragischen Sujets noch weit fruchtbarer"; freilich bleibt unklar, ob Sturz schon so etwas wie ein kulturhistor. Drama gesellschaftskritischer Art vorgeschwebt hat: wenngleich mit Vorbehalt erkennt er die „Possenspiele des Hanswursts" als Entwicklungsvorformen an, deren Überführung in eine feinere Komik indessen nicht recht gelingen wolle. Theaterwiss. bemerkenswert ist Sturz' Eingehen auf die sozialen Verhältnisse u. Bedingtheiten der Schauspieler

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u. bes. auch der Schauspielerinnen (mehr Brot verbürgt mehr Moral). Das Grotesk-Charakteristische (d. Gestalt des Kapitäns aus der „Julie"), an sich seiner bewußten Kunstabsicht folgend u. entsprechend, muß dennoch theor. gerechtfertigt u. psycholog. erläutert werden; J. Mosers Schrift über das Grotesk-Komische steht dabei zeitlich voran, ganz abgesehen von früheren Verteidigungen des Grotesk-Komischen etwa schon bei dem Zeitgenossen Gottscheds Joh. Christian Krüger (1725—1750) in dessen Vorrede zur Marivaux-Übertragung (1747 u. 1749). Stärker noch als bei H. W. v. Gerstenberg wird bei H. P. Sturz, dessen Rousseau-Aufsatz wie seine Schrift über die Kindesmörderinnen gleichermaßen geniezeitgemäß wirken, die Überlegenheit der krit. Einsicht gegenüber dem rein dichterischen Vermögen deutlich. — Vgl. „Schriften", 1. und 2. Sammlung, Leipzig 1779 bzw. 1782; populäre Ausw. daraus: „Vermischte Schriften", hrsg. v. S. S c h a r n a g l (Pseudonym), Starnberg am See 1946. S. 357. Exkurs werkimmanente Poetik: — Kunstwollen u. Kunstleistung gehen bei G. recht weit auseinander; der Kritiker u. Theoretiker ist streckenweise dem Dichter voraus (darin J. E. Schlegel u. G. E. Lessing verwandt). Die „Merkwürdigkeiten" reichen weiter in den Sturm u. Drang hinein als der „Ugolino". Die „laute Größe" kommt noch einigermaßen zur Geltung, nicht aber die „echte Vielfalt". Das Umbrechen des Freiheitsstrebens in Machtstreben, an sich durchaus geniezeitgemäß, wird in die Vorfabel verlagert. Die Deutung, daß die z. T. lyrische Darstellungsweise auf das Seelendrama abzielt, dürfte dem Kunstwollen G.s schon näher kommen, wobei indessen das Erhabene der großen Seele überwiegt. Irgendwie weist die Darstellungsabsicht auf eine balladeske Sonderform des Dramatischen (H. v. Kleist) voraus, wie andererseits auf eine große dramatische Elegie (H. v. Hofmannsthal „Der Thor u. d. Tod"); die gesteigerte Sprachform darf darüber nicht hinwegtäuschen. Die Handlungsarmut scheint auf Klopstock zurückzuweisen, während der vertiefte Handlungsbegriff, wie ihn Lessing etwa ein Jahrzehnt vorher vertreten hatte (Fabelabhandlung), seine Verwirklichung findet (vgl. auch d. „Philotas"). Mit bedingtem Recht darf A.M. W a g n e r (a. a. 0., S. 311) sagen: „Der Ugolino ist das Sprungbrett von Klopstock zu Kleist". Eine gewisse Rhythmik verweist auf die Musik, bes. hinsichtlich 33 M a r k w a r d t , Poetik II

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der Kompositionsart. Trotzdem sollte nicht etwa vom „lyrischen Drama" (Melodrama usw.) die latente Werkgesetzlichkeit abgeleitet werden. Das Erfassen der „Atmosphäre" wird als Darstellungsziel erkennbar; über die „innere Stärke" als Schaffensbedingung u. Wirkungsziel hat G. selber berichtet. Der religiöse Anteil i. d. Kritik u. der Kunsttheorie G.s kommt auch i. d. Kunstleistungzur Geltung. Nach alledem reicht zwar die krit. Theorie u. d. Poetik G.s weiter in die Geniezeit hinein als die werkimmanente Poetik des „Ugolino"; aber der „Ugolino" reicht in gewissem (angedeutetem) Betracht weiter über die Geniezeit hinaus u. damit auch in die ihm eingekörperte werkimmanente Poetik. S. 357. J. G. Hamann. — Die Belegstellenangaben beziehen sich im wesentlichen noch auf die ältere Ausgabe: H.s Schriften, hrsg. von Fr. R o t h , da die schon lange von J o s e f N a d l e r vorbereitete krit.-histor. H.-Ausgabe zur Zeit d. Entstehung dieser Darstellung noch nicht vorlag; vgl. dazu J. N a d l e r : Die Hamannausgabe, Vermächtnis-Bemühungen-Vollzug, in: Schriften d. Königsb. Gelehrten Gesellsch., Jahrg. VIII (1930). Bei Ergänzungen im Verlaufe der Umarbeitung wurde dann herangezogen: Joh. G. Hamann, Sämtl. Werke, histor.-krit. Ausg., hrsg. von Josef N a d l e r , Bd. I — V (1949—1953), Verlag Herder, Wien. Dort finden sich die „Bibl. Betrachtungen" Bd. I (1949), die „Fünf Hirtenbriefe, d. Schuldrama betreffend", d. „Sokratischen Denkwürdigkeiten", die „Aesthetica in nuce" i. d. „Kreuzzügen d. Philologen", Bd. II (1950). R u d o l f U n g e r : Hamann u. d. Aufklärung, Jena 1911. — R. U n g e r : Aufsätze z. Lit.-Geistesgesch.; dort über H. und die Empfindsamkeit in: Gesammelte Studien, Bd. II. — R. U n g e r : Hamann u. d. Romantik, in: Aug.Sauer-Festschrift, Stuttgart 1925. — Selbst R. Unger muß zugeben, daß unmittelbare Bezugnahmen der Romantiker auf J. G. H. kaum nachzuweisen sind. Damit entfällt auch die Schlüssigkeit d. Behauptungen bzw. Andeutungen von G e o r g S t e f a n s k y : Das Wesen der dt. Romantik, Krit. Studien z. ihrer Geschichte, Stuttgart 1923, S. I37f-, wobei übrigens Lavater überwiegt. Mit der Formel vom „transzendenten Symbolismus" (a. a. O., S. 141) dürfte schwerlich das spezifisch Hamannische erfaßt worden sein. G. Stefansky setzt voraus, was sich

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kaum wiss. feststellen läßt. Auch der Brief Hamanns an Lindner (21. März 1759) kann daran nichts Entscheidendes ändern, vollends nicht die Kurzsichtigkeit Hamanns. Es geht nicht gut an, H. einfach als „Vorromantiker" in Anspruch zu nehmen. Andererseits ist H. doch mehr als ein bloßer „Eklektiker" (so G. Stefansky), wenngleich Jos. N a d l e r beträchtlich zu weit geht, wenn er neuerdings (1948) H. zu einem freilich in der Form aphoristischen „System"-Bildner machen möchte: „Hamann hat, allerdings im aphoristischen Stil, ein .System' entwickelt", vgl. Anz. d. österr. Akad. d. Wiss., Phil.-hist. Kl., Jahrg. 1948, S. 372, hervorgehoben auch bei M a r t i n S e i l s : J. G. Hamanns Schrift „Schürze von Feigenblättern", in Wiss. Zschr. d. Univ. Rostock, Ges.- u. Sprachwiss. Reihe, Jahrg. 1954/55, H. 1, S. 9. — Die von G. S t e f a n s k y erwogene Annäherung an Condillac, Diderot und J. J. Rousseau dagegen wäre schon ernstlicher zu erwägen. St. hebt berechtigter als das Vorromantikertum und Eklektikertum rein stofflich neben den „Sokrat. Denkwürdigkeiten" (1759) die „Philolog. Einfälle u. Zweifel über eine akademische Preisschrift" (1772) hervor (a. a. 0., S. 142/43), wobei Herders Preisschrift über den Ursprung d. Sprache gemeint ist. Das Hineinwirkenlassen des Piatonismus in H.s Anschauungen ist nur bedingt überzeugend. M. E. nähert sich Stefansky überdies allzu willig d. „stämmischen" Theoremen J. Nadlers. Eintrübend wirkt weiterhin die fortgesetzte Vergleichung H.s mit Lavater. Mit R. Unger lehnt St. den Charakter des „Mystikers" im strengeren Sinne für H. ab. Wieweit J. N a d l e r s neuerdings erfolgte Einordnung H.s in .eine Sonderform der Mystik (vgl. den Untertitel seines H.-Buches von 1949: „Der Zeuge des Corpus mysticum", dann dort S. 22 u. ö.) und E. Mann a c k s Sonderarbeit über Mystik und Luthertum (1953), die freilich M. Seils als oberflächlich abtun möchte, berechtigt sind, mag hier dahingestellt bleiben. Was G. Stefansky angeht, so erscheint beachtlich der Hinweis auf H.s Forderung einer „poetischen Mythologie", wobei freilich der Vorformcharakter für die Romantik etwas forciert herausgestellt erscheint. Die Abhebung H.s von Kant bleibt St. unklar (a. a. 0., S. 145). Mit Recht wird Hamann von Hegel abgehoben. St. überschätzt offensichtlich die „naive Ursprünglichkeit" Hamanns, die doch eben recht eingetrübt erscheint durch die vielseitige, wenngleich teilw. oberflächlich genutzte Belesenheit H.s. Das Stichwort

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von der „transzendenten Symbolik" ist einseitig und erfaßt keineswegs den ganzen H., dessen diesseitige Realistik nicht unterschätzt werden darf. G. Stefansky nimmt R. Ungers etwas verfrüht und gleichsam probeweise gesetzten Untertitel („Studien z. Vorgeschichte d. romant. Geistes") allzu wörtlich, während R. Unger selber davon abrückt. Man darf keimhafte Ansätze nicht einfach gleichsetzen mit Vorwirkungen. Denn der Realist in H. hält dem , .Romantiker" durchaus die Waage. Man müßte dann schon (und richtiger) an die jüngere Romantik denken, in der frührealistische Einschläge unverkennbar wirksam werden. Ebensowenig wie man den Sturm u. Drang einfach als Vorstufe der Romantik auffassen darf, kann H.s Beitrag i. d. „Vorgeschichte d. romant. Geistes" eingegliedert werden. Das würde nicht nur beträchtlich vergröbern, sondern auch bedenklich vereinfachen. Und selbst der religiöse Sinn H.s ist nicht einfach als „vorromantisch" abzutun; vgl. dazu E. M e t z k e : J. G. Hamanns Stellung i. d. Philosophie d. 18. Jh.s, Halle 1934. — W e r n e r R o d e m a n n : H. und Kierkegaard, Diss. Erlangen 1922. — E. M a n n a c k : Mystik und Luthertum bei J. G. H., Diss. Berlin 1953. — Jos. N a d l e r : J. G. H. Der Zeuge des Corpus mysticum, Salzburg 1949. — M a r t i n Seils: J. G. H.s Schrift „Schürze von Feigenblättern", in Wiss. Zschr. d. Univ. Rostock, Ges.- u. sprachwiss. Reihe, Jahrg. 1954/55, H. 1 (S. 9—47) ist als Theologe nur in unzulänglichem Grade fähig, auch nur annähernd einen Eindruck vom Typus dieser Schrift zu vermitteln, obwohl ihm außer den von Nadler benutzten beiden Fassungen noch eine dritte zur Verfügung gestanden hat. Was Jos. N a d l e r betrifft, so brachte der (weltanschaulich nicht unumstrittene) Gelehrte in seinem Vortrag „Hamann, Kant, Goethe" (gedruckt i. d. Schriften d. Königsb. Gelehrten Gesellsch., Geisteswiss. Kl., Jahrg. VII, 1931/32) eine geisteswiss. bzw. problemgeschichtl. Gegenüberstellung d. Situation von 1759 und 1780, das ideelle Verhältnis H.s zu Kant, Goethe und teilweise auch Herder deutlich herausstellend. Bei dieser Gelegenheit konnte N. aus den Vorarbeiten seiner H.-Ausgabe u. a. berichten über das Wiederauffinden der H.schen Übersetzung von D. Humes „Dialog über die natürliche Religion" (2. Aufl. 1779), die für den Spätsommer 1780 anzusetzen ist, a. a. 0., S. 41, jetzt abgedruckt i.N.shist.-krit.H.-Ausgabe Bd.III (1951), S. 245ff. — K ä t e N a d l e r : Die deutsche Hamann-For-

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schung im ersten Drittel des 20. Jh.s, in: Dt. Vierteljahrsschr., Jg. X V (1937); dort H.-Bibliographie: 1900—1935, S. 64—68. Ohne den schweren wiss. Apparat R. Ungers versucht W a l t e r H i l p e r t : Joh. Georg H. als Kritiker der dt. Literatur, Diss. Königsberg 1933 zu einer eigenen Deutung zu gelangen, wobei für unseren Ideenzusammenhang bes. in Betracht kommt der Abschnitt II: H.sÄsthetik, a. a. 0., S. 40—64. Dabei gliedert W. Hilpert nach Grundanschauungen, Theorie der Dichtkunst und Dichtungsgattungen. W. Hilpert schlägt etwas vereinfachend und also auch vergröbernd den Terminus „Naturästhetik" vor, weil der ästhetische „Naturbegriff" (?) die „Grundlage seiner Kunstanschauung" gewesen sei, a. a. 0., S. 44. Ob dabei der, .Mythos-Begriff'' bedingt-bedenklich zeitgefärbt bleibt (1933!), sei vorerst dahingestellt. Das Ringen um eine „Mythologie" könnte immerhin als „vorromantisch" in Anspruch genommen werden. Aber das Mythologische und das Realistische grenzen bei H. nahe aneinander. So gesehen, gewinnen Nadlers neueste Deutungsaspekte der H.sehen „Mystik" (s. unten) an relativer Berechtigung. Einwendungen gegen J. Nadlers Hamann-Monographie (S. 446—48) macht neuerdings Wilhelm K o e p p : Das wirkliche „Letzte Blatt" J. G. Hamanns, in: Wiss. Zschr. d. Univ. Rostock, Jahrg. 3, 1953/54, S. 71 ff. W. Koepp hält die Fassung im Brief an Fr. Jacobi für d. grundlegenden Text (der Originaltext im Schreiben a. d. Fürstin Galitzin ist verlorengegangen). W. Koepp unternimmt hier eine von der J. Nadlers abweichende eigene Deutung u. beanstandet kritisch, daß N. sich einseitig an die „zugespitzten u. interessantesten" Formulierungen gehalten habe u. zudem seine eigene „barocke Phantasie" habe walten lassen; vgl. hierzu auch M. Seils a. a. O., Jg. 1954/55. — Zusammenfassg.: W. Koepp in „Forschgn. u. Fortschr." 28 (1954), S. 3i2ff.; M. Seils ebda. 29 (1955), S. 178 ff. S- 357- „ I d e e n - G e f ü h l e " . — Dieses für d. Literaturprogrammatik des Sturmes u. Dranges recht treffende Merk- u. Kennwort findet sich als annähernd deutliche Umschreibung in Maler Müllers „Faust"-Drama, in dem freilich, zum mindesten was den überlieferten Teil-Ausschnitt betrifft, weitgehende und tiefgründige „Ideen-Gefühle" nur recht unvollkommen sichtbar und wirksam geworden sind.

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Immerhin deutet die Vision im Turme der „Spieler" auf weitere Teile der geplanten Ausführung, die über das Streben nach Reichtum immerhin nicht unwesentlich hinausweisen (Gelehrsamkeit, Liebe usw.). S. 358. F r u c h t b a r k e i t des S c h ö p f e r i s c h e n . — R. U n g e r verweist im Anmerkungsbande seiner H.-Darstellung in diesem Zusammenhange auf A d r i e n B e v e r l a n d (1653— 1712) und dessen „Peccatum originale . . . " (1678 u. ö.); frz. Ubers. „État de l'homme dans le pêche original". W. H i l p e r t spricht selber von H.s Verliebtsein in die „Beverlandsche Hypothese" (1765) u. belegt, daß H. Beverland noch 1768 halb scherzhaft, halb ernsthaft erwähnt. — Den Primat der Geschlechtsvorstellung betont neuerdings Jos. N a d l e r : J. G. H., Genesis, Gnosis, Agnosia, in: Anz. d. österr. Akademie d. Wiss., Phil.-hist. Kl., Jahrg. 1948. — Jos. N a d l e r : J. G. H., Der Zeuge des Corpus mysticum, Salzburg 1949. — M a r t i n S e i l s : J. G. H.s Schrift „Schürze von Feigenblättern", (a. a. O., 1954/55) geht von Nadlers Ansatz, daß im Zentralpunkt von H.s aphoristischem System der Geschlechtsgedanke stehe, aus, wendet aber im Endertrag ein, daß Nadler eine Dimension nicht gesehen habe: „die der geschlechthaften Heilsgeschichte. Hamanns Geschlechts-Gedanke ist nicht nur auf den Kosmos, sondern auf Christus bezogen. An Stelle des .Corpus mysticum' dürfte das ,Corpus Christi' im Zentrum stehen" (a. a. O., S. 46). Ob durch diese Auslegung die Würde des Christentums gewinnen kann, muß freilich unerörtert bleiben. S. 359. S p r a c h p h i l o s o p h . G r u n d l e g u n g . — R. U n g e r : H.s Sprachtheorie im Zusammenhange seines Denkens, München 1905. — W. H i l p e r t (a. a. O., S. 42) stützt sich auf den, wie er meint, „eigenständigen Sprachbegriff" H.s, wenn er auch f. d. Ästhetik H.s die Ursprünglichkeit der Konzeption gegenüber R. Ungers allzu reichlich fließenden und allzu emsig aufgespürten Einflußströmen (wie sie R. Unger nachzuweisen sucht) hervorheben zu können glaubt. In gewissem Grade mag dieser Einwand gegen R. Ungers immer noch grundlegendes H.-Werk berechtigt sein, bes. dann, wenn man an den allzu weitläufigen Anmerkungsband denkt. Diesem gegenüber will W. Hilpert an sich nicht so ganz mit Unrecht auf den „persönlichen Erlebniskern" in Hamann selber zurückgehen, wobei freilich recht fraglich bleibt, ob ein derartiger „ K e r n " bei H.

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und dessen fluktuierender Geistigkeit überhaupt angenommen werden darf. H. wird von W. Hilpert vielleicht allzu stark als „Künstler" gesehen und gedeutet, und zwar unter Zuhilfenahme des H.-Wortes: „Der erste Mensch ist Künstler." Indessen: H. ist weit mehr Seher als Dichter oder möchte es jedenfalls sein. Seine produktive Kraft erschöpft sich im (unklaren) Denken und im (prophetischen) Deuten, ohne wirklich gestaltenschöpferisch zu werden. Man darf die Grenzen H.s als Gestalter angesichts seiner Größe im Deuten nicht übersehen. S. 360. D a s H i e r o g l y p h i s c h e . — Die Sprachphilosophie der Romantik baut hierin aus, was H. nur als Aspekt annähernd ins Auge faßt. Denn bei H. bleibt das Wort der Heiligen Schrift mehr Symbolwert als Hieroglyphe. Das Kreatürliche bleibt bei aUedem dem Natürlichen weit näher als das „Hieroglyphische" der romantischen Sprachphilosophie; vgl. Eva Fiesel u. a. S. 360. Z e i t p h i l o s o p h i e . — Angesichts H.s prinzipieller Gegnerschaft zur Philosophie dürfte es berechtigt sein, wenn W. Hilpert gegenüber R. Unger geltend macht, daß man nicht jeden gelehrten Bezug H.s gar zu ernsthaft und wörtlich nehmen dürfe, so etwa die Bezugnahme auf Bacon. Ob indessen die Deutung, daß ein solcher Hinweis mehr als eine „gern angebrachte Arabeske zu den eigenen Gedanken" gewesen sei, nicht ihrerseits ein wenig über das Ziel hinausschießt, bleibe unentschieden. Die Wahrheit dürfte in solchen Fällen in der Mitte zwischen R. Unger und W. Hilpert liegen. W. Hilpert folgt zu willig der damaligen Neigung und Nötigung der Forschung, vermeintlich aus dem Werk selber zu interpretieren, und zwar ohne eine hinreichende Berücksichtigung der geistigen (teilweise auch der wirklichen) Umwelt. Mag R. Unger in diesem Betracht ein Zuviel geben, so dürfte W. Hilpert seinerseits in ein Zuwenig zurückfallen. Man kann einen derartig umweltverflochtenen und einflußgeöffneten Geist wie H. eben doch nicht nur aus der Werkinterpretation erklären und verstehen. Mag R. Unger es sich und uns ein wenig zu „schwer" machen; W. Hilpert macht es uns fraglos etwas zu leicht. S. 361. „ f u r o r d i v i n u s " . — Vgl. Bd. I dieser Darstellung. S. 362. „ K o n k r e t e A n s c h a u l i c h k e i t " . — Damit dürfte R. Unger das behutsam angedeutet haben, was W. Hilpert

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(unter fehlgeleitetem Teileinfluß H. A.Korffs ?) nun sogleich zur „Naturästhetik" vereinfacht und entsprechend vergröbert. W. Hilpert unterschätzt im Gesamt seiner H.Interpretation den religiösen Grundzug in H.s Ästhetik, obwohl er ihn keineswegs übersieht. S. 363. „ A e s t h e t i c a in nuce". — Vgl. M. Th. K ü s t e r s : Inhaltsanalyse von J. G. H.s Aesthetica in nuce, Diss. Münster 1936. S. 364. A n r e g u n g Bacons. — Vgl. die Anm. zum Stichwort Zeitphilosophie (Hilpert gegen Unger). S. 365. A n s ä t z e zur G a t t u n g s g l i e d e r u n g . — Dabei freilich der bloßen Übersetzung: Epos-Drama (Wort-Handlung) weitgehend folgend, außerdem nur Andeutungen bietend, wie nach R.Unger auch W.Hilpert (a.a.O.), S.57f. klarstellt. Vollständiges Zitat: „Die Schöpfung des Schauplatzes verhält sich aber zur Schöpfung des Menschen wie die epische zur dramatischen Dichtkunst. Jene geschah durchs Wort, die letzte durch Handlung" (Roth II S. 264, Nadler II S. 200): R. Unger ergänzt dahingehend: Natur = Urbild der epischen Poesie, Geschichte = Urbild der dramatischen Poesie, die Bibel = Urbild der lyrischen Poesie (R. Unger S. 250). Hilpert betont das lyrischmusikal. Element (Roth I S. 430). Demnach sei der Ursprung der Poesie in der „Ode" zu suchen (vgl. d. jg. Herder). Der Lyriker gilt für Hamann als ein „Geschichtsschreiber des menschlichen Herzens". In diesem Zusammenhang ist sogar der Lautenspieler H. bemüht worden; vgl. auch K a r l Joel: Der Ursprung der Naturphilosophie aus dem Geiste der Mystik, Jena 1926, S. 3if., 74; J. M ü l l e r - B l a t t a u : Hamann u. Herder in ihren Beziehungen zur Musik, Schriften d. kgl. dt. Gesellsch. Kgb. Pr., H. 6 (1831). Hilpert (a. a. 0., S. 60) über H.s Stellung zum Roman als Kritiker; z. B. recht hilflos gegenüber J. Rousseaus „Nouvelle Heloi'se", erwähnt Nicolais „Sebaldus Nothanker"-Roman. H. überschätzt z. B. seinen Freund Lindner als Dramatiker (!). H. glaubt, in „Fabel" und „Hauptpersonen" so etwas wie einen Unterschied des „Romanhaften" (nur dieses Stichwort wies G. Sulzers kunsttheoret. Lexikon i. d. ersten Fassung ohne Blankenburgs Zusätze auf, dagegen noch nicht einmal das Stichwort „Roman" selber) gegenüber dem Dramatischen aufzufinden.

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Wie G. Sulzer (u. Bodmer) sieht H. im Drama ein geeignetes Werkzeug zur politischen oder, wie er es ausdrückt : „öffentlichen Erziehung" (Roth II S. 423, Nadler II S. 358, vgl. W. Hilpert a. a. 0., S. 63). In diesem Zusammenhange wird auch längst vor Schiller die Wiederverwendung des Chors der Antike angeregt (Roth II S. 439, Nadler II S. 366), freilich handelt es sich dabei um die Schuldramen oder „Schulhandlungen" im Rahmen der „Fünf Hirtenbriefe, das Schuldrama betreffend". Der Terminus „bürgerliches Trauerspiel" begegnet zwar (Nadler II S. 360), doch wird H.s Einstellung dazu nicht recht eindeutig. Er erwähnt Brumoy : Parallèle des Tragiques Grecs et François, 1760. Im Gesamt erscheint H.s Art zu labil und willkürlich, um wirksame Beiträge zu einer straffen Gattungsgliederung bieten zu können. Immer wieder zieht er sich auf die religiöse Wertungsebene zurück, so etwa, wenn er mit Berufung auf Opitz das Drama als einen Teil der heidnischen Liturgie bezeichnet (Nadler II S. 365). Oder er schweift ab in Bezirke des Urtümlich-Ursprünglichen, des Originellen und Genialen, des Mythisch-Mystischen, Hieroglyphisch-Symbolischen oder auch des Musikalischen. Das Erahnte und Erlebte, das Wunderbare und Wunderliche, das Dunstige und Derbe schwanken und schweben dabei hemmungslos (und begrifflich rettungslos) ineinander über. Und man könnte ebenso berechtigt wie eine „Naturästhetik" eine „Religionsästhetik" für sein Kunstwollen und Kunstdeuten ansetzen, obwohl fraglos gewisse gradweise Unterschiede etwa in Vergleich mit Lavater bestehen. S. 368. Mythologie. — Theologie im Verhältnis zur Mythologie: Nadler-Ausgabe II S. 205, Poesie als „Muttersprache" a. a. 0., S. 197. S. 368. J.G.Herder. — Zitiert nach: Herders Sämtl. Werke, hrsg. von B. Suphan, Bln. i8yyii. — Immer noch grundlegend, wenngleich recht ergänzungsbedürftig, die H.-Monographie von R. H a y m , Bln. I 1880, II 1885; neu eingel., aber im Text unverändert u. leider auch ohne neue Anmerkungen hrsg. von W. H a r i c h , Bln. 1954. Für die Literaturprogrammatik des Sturmes u. Dranges fällt kaum etwas ab, obwohl d. jg. H. gerade auf diesem Gebiet nicht nur A n r e g e r , sondern auch in gewisser Weise Systembildner gewesen ist (4. Krit. Wäldchen).

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S. 369. G e n i e z e i t g e m ä ß e Ä s t h e t i k . — Daß die „Kritischen Wälder" den frühen Anlauf wagen zur freilich nur skizzierten Ä s t h e t i k des Sturmes u. Dranges, konnte schon i. d. Sonderuntersuchung des Verf.s über „Herders Kritische Wälder" von 1922 (gedr. 1925) hervorgehoben werden. Das wird nach der frühen einsichtigen Rezens. K. Mays („Euphorion") neuerdings auch von K. Aug. Schleiden i. d. Sonderarbeit über Klopstocks Kunsttheorie (1954) richtig erkannt. Dieser bemerkenswerte Ansatz d. jg. H. zu einer geniezeitgemäßen Ästhetik liegt zeitlich vor Klopstocks „Gelehrtenrepublik" (1774). Es entspricht R. Hayms (merklich u. einseitig an Lessing orientierter) Einstellung, daß er diese Bedeutung übersieht, während ihr später K a r l V i e t o r wenigstens andeutend (bedingt durch Raumbeengung) gerecht geworden ist. Es muß daher bedauert werden, wenn in der eigenwegigen u. eigenwilligen Sonderarbeit von Gerhard K ü n t z e l : Gottfr. Herder zwischen Riga u. Bückeburg, die Ästhetik u. Sprachphilosophie der Frühzeit nach ihren existenziellen Motiven, Frankf. a. M. 1936 diesem Problem nur ein zudem recht unzulänglicher Exkurs gewidmet worden ist, der ein „Durchbrechen der sinnespsychologischen Methode gegenüber der Poesie" (gemeint ist: zugunsten der Poesie), dieses „Durchbrechen" aber nur nach „existenziellen Motiven" deutet u. mißdeutet unter entsprechender (u. entsprechend schiefer) Polemik gegen frühere und durchweg frachtbarere Erläuterungsversuche d. H.-Forschung. G. Küntzel ist eifrig, aber hoffnungslos bemüht, „das ästhetische Anliegen Herders existenziell zu verstehen". Dabei versucht G. K. die „Plastik" von 1770 u. d. Sprachphilosophie (irgendwie) auf einen Nenner zu bringen. — Übrigens hatte schon Wilh. Scherer klar erkannt : „Herder . . . hat durch seine Anregungen vielleicht am meisten eine neue P o e t i k vorbereitet"; vgl. W. Scherers Poetik, Bln. 1888, S. 58. S. 370. Theorie der L y r i k . — Dem „Herzensthema" Herders, der Lyrik, widmet bes. Aufmerksamkeit Max Wedel: Herder als Kritiker (1928) unter Berücksichtigung d. Nachwirkungen Hamanns u. Ed. Youngs Gedanken über Originalwerke. M. Wedel zieht dabei Herders Würdigung der Dithyramben Willamovs (i. d. Königsberger Gelehrt, u. polit. Zeitungen, Jg. 1764) heran; vgl. German. Studien Nr. 55, Bln. 1928. Dort auch ein dankenswerter Rückverweis auf Gottscheds „Allerneueste Anweisungen auf

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die beste Art, ein Kunstrichter zu werden" von 1742 i. d. „Kritischen Beiträgen" Bd. VIII, S. 56off. S. 371. K e i m ihres Lebens. — Die Keimkraft des Lyrischen betont neuerdings E m i l S t a i g e r : Grundbegriffe der Poetik, Zürich 1951 (2. Aufl.), wobei indessen weit mehr eine Methodenlehre der ästhetischen Gedicht-Interpretation gemeint ist als eine systematische „Poetik". Das gilt auch von dem Aufsatz üb. „Poetik" von F r i t z Martini in: Deutsche Philologie im Aufriß, hrsg. v. W. Stammler, Bd. I (1952), Sp. 215—267, der leider zu einer nicht unbeträchtlichen Verschwommenheit in der Begriffsbildung (u. a. durch Bekämpfung möglichst klarer Begriffe) neigt. Es hat wenig Sinn, üb. d. Poetik zu handeln, wenn man an den Sinn der Poetik nicht glaubt. Unter den Lit.-Ang. vermißt man neben älteren einschlägigen Arbeiten von 0. Walzel gerade dessen f. d. Poetik wichtigen u. unentbehrlichen Beitrag „Grenzen von Poesie u. Unpoesie" bzw. „Poesie u. Nichtpoesie" (Frankf. a. M. 1937). Dankenswert erscheint die Forderung nach einer brauchbaren Terminologie, nach einer Theorie des Romans u. a. — Auch P. B ö c k m a n n : Formgeschichte d. dt. Dichtung, Bd. I, Hbg. 1949 zitiert wohl O. Walzels „Gehalt u. Gestalt" (1923/25) wie auch dessen „Wechselseitige Erhellung der Künste" (1917), nicht aber (soweit ich sehe) das genannte Werk Walzels von 1937. Gerade für P. Böckmanns Themenstellung scheint mir in einem solchen Versäumnis denn doch ein empfindlicher Mangel zu liegen. An sich hat das umfassende Werk P. Böckmanns, das mir leider erst während der Drucklegung d. Bandes zugänglich geworden ist, einen längst erwünschten Beitrag zur Darstellung und Deutung d. dt. Lit.-Wiss. geboten. E. Staiger, um auf ihn zurückzukommen, greift auf die Kunsttheorie d. jg. H. zurück, bes. hinsichtlich der sprachtheoret. Begründung der etwas gewagten Parallele: Lyrik-Silbe, Epik-Wort, Drama-Satz, die nur mit bedingtem Recht gezogen werden kann u. d. vorwiegend auf Staigers antikisierenden Ambitionen u. Konstruktionen (bes. hinsichtl. d. Epos) zurückgehen dürfte. Historisches und Prinzipielles geraten dabei bedenklich durcheinander. Die Kritik, die E. Staigers erste Ausgabe gefunden hat, setzt sich berechtigt zur Wehr gegen eine Eintrübung (ästhetisierend-interpretierender Art) des Begriffes „Poetik". Wohl aber bietet Staiger manche Anregung in der Deutung dichterischer Einzelerscheinungen.

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S. 372. B r i e f w e c h s e l über Ossian. — Dort wird neben „Provinziallied" u. „Popularlied" das Merk- u. Kennwort „Volkslied" vorerst noch versuchsweise erprobt, aber doch eingebürgert, jedenfalls als kunsttheoretisches Fachwort; bes. in Brief 6 u. 10. Bei dieser Gelegenheit wird des „einzigen Lessing" Bemühen um ältere Formen anerkannt (10. Brief). Auch die Variante „Nationallied" begegnet i. d. Zusammenhange. Der Ausdruckstypus tritt zutage in Umschreibungen wie „Notdrang" oder „Ausströmung". S. 373. Hugh Blair. — Christian F e l i x W e i ß e rezensierte die з. engl. Ossianausgabe von 1765 (i. d. Neuen Bibl. d. sch. Wiss.) u. brachte einen Auszug aus d. Abhandlung Blairs (a.a.O. II S.245—261 u. III S.13—38). Durch diese Vermittlung gelangt H. zu Blair, den er dabei zugleich als lit. Kritiker schätzen lernt (Einbeziehung von Zeit u. Umwelt, Ergänzung zu Diderots Hinweis auf die Berufs-Umwelt). Jene dritte (Gesamt-) Ausgabe d. „Fragments of Ancient Poetry" (ursprüngl. 1760) war begleitet von Abhandlungen Macphersons „On the Aera of Ossian" und „On the Poems of Ossian"; darin auch erstmalig H. Blairs „Critical Dissertation". Einzelnes bei A l e x a n d e r Gillies: Herder und Ossian, Neue Forschung Nr. 19, Bln. 1933. S. 373. Herders Ossianerlebnis. — Stofflich vermittelt wurde Ossian in Deutschland durch R a s p e (1763), der auch frühzeitig auf Th. Percy hinweist (1766) u. Blair bereits nennt, и. durch Ch. F. Weiße (s.o.). Herder erwähnt Ossian in einer frühen Rezension (Mallets) i. d. Königsbg. Zeitungen (Aug. 1765). Dagegen ist seine Denis-Rezension f. Fr. Nicolais Allgemeine Dt. Bibl. (1769), die Denis' Hexameter-Ubersetzung ablehnt, angeregt worden durch eine Rezension i. d. von Klotz in Halle herausgegeb. „Dt. Bibl. d. schön. Wiss." (1768), die freilich die Stillosigkeit d. Hexameter-Übertragung Ossians nicht erkannte. Darauf weist hin Max Wedel: H. als Kritiker (1928). Wenn M. Wedel jedoch vermutet, daß Herders Interesse für Ossian „erst durch diese Rezension geweckt" worden sei (a. a. O. S. 82), so dürfte diese Vermutung durch A l e x a n d e r G i l l i e s ' Sonderforschung (1933) überholt u. hinfällig geworden sein. Immerhin ist in d. Zusammenhange bemerkenswert (was auch Alex. Gillies auffällt), daß erst i. d. „Kritischen Wäldern" (1768/69) Ossian ein Sonderabschnitt eingeräumt worden ist (Suphan III S. 27!). — Hinsichtlich der Ossianübersetzung vgl. R. H o r s t m e y e r , Die dt. Ossian-

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Übersetzungen des 18. Jh.s, Diss. Greifswald 1926. P. v a n T i e g h a m : Ossian en France, Bd. I (19x7).

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S. 374. P o e s i e als „ g e i s t i g e " K u n s t . — Auf den geistigen Charakter der Poesie legt (wiederum vom existenziellen Blickpunkt aus) besonderes Gewicht G. K ü n t z e l (Herder zwischen Riga und Bückeburg ,1936), der sich dabei mit Haym, Weber u. auch Markwardt auseinandersetzt (a. a.O. S. 18). Immerhin wird zugestanden die Deutung von Herders „teils richtiger Ahnung von dem geistigen Charakter der Poesie" (Markwardt), woran G. K. offenbar anknüpft beim Betonen des „Geistigen". G. K. macht jedoch bei dieser Gelegenheit Front gegen Haym, Weber und B. Markwardt, soweit sie auch das Moment der Verlegenheitslösimg Herders (alle Sinne bereits vergeben) mitberücksichtigen. Da eine Anmerkung zum Lit. Verzeichnis betont, daß nur diejenigen Herderarbeiten aufgeführt worden seien, die durch „Kritik oder Nachfolge" unmittelbaren Einfluß auf K.s Untersuchung gewonnen hätten, und da meine frühere Arbeit von 1925 (bzw. 1922 als Diss.) dort ordnungsmäßig verzeichnet worden ist, so sei G. K. die Berechtigung zu seinem Vorgehen gern zugestanden. Auch sei anerkannt, daß die Deutung der Sprachtheorie der Rigaer Zeit manches klären hilft auch zum Verständnis d. 4. Krit. Wäldchens. Nur konstruiert die „existenzialphilosophische" Methode manches hinein. Niemand bezweifelt z. B., daß Herder die Sprache der Kultur und nicht der Natur zuordnet und daß Sprache nicht einfach als „Sinn" gefaßt werden kann. Teilw. rennt hier G. K. offene Türen ein. S. 374. E x i s t e n z i a l p h i l o s . K o n s t r u k t i o n e n . — G. K ü n t z e l (a.a.O. durchgehend, bes. S.28) „Die Umbildung ästhet. Gegenstandswerte zu existenziellen bezeichnet ja überhaupt (!) die Richtung, in der sich der ästhet. Ansatz des Vierten Wäldchens vertieft"; vgl. auch die Einleitung betreffs der Zielsetzung der „Haltungen" (Einzelheit, Einsamkeit, Innerlichkeit, Persönlichkeit, a.a.O. S.4). Neben vielen anderen Stellen bes. auch hinsichtlich der Sprachphilosophie (Einsamkeit u. Persönlichkeit im Bilde des sprechenden Menschen) S. 42 t. u. a. m. S. 376. G e s e t z e der N a t i o n . — Die „Idee nationaler Verpflichtung" hebt als einen der Leitgedanken der liter. Kritik Herders hervor M. W e d e l : Herder als Kritiker (1928)

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S. 68. Teilw. bereits tendenziös bei G r e t e E i c h l e r : Der nationale Gedanke bei Herder, Diss. Köln 1934; vgl. auch O. G r u b e r : Herder u. Abbt, Diss. Marburg 1934. Man darf nicht das Nationalgefühl im kulturpatriotischen Sinne ungestraft vernachlässigen gegenüber dem freilich auch nur notgedrungenen historischen Sinn H.s, da Herder eben doch nationalhistorisch denkt und empfindet. Eine Verengung des Nationalen zum Nationalistischen liegt bei Herder umso weniger vor, als er das Kulturgut und die Kulturleistung anderer Völker durchaus warmherzig zu würdigen versteht. Der Inhalt u. d. Anlage z. B. der „Volkslieder" (1778) berechtigte nicht von ungefähr die spätere Umbenennung zu „Stimmen der Völker in Liedern". Ganz abgesehen von Herders hoher Achtung des antiken Kulturerbes. Aber auch seine Achtung und Hochachtung vor dem naturhaften Kulturbeitrag primitiver und „wilder" Völker. Diese Erkenntnis Herders ist so grundlegend, daß sie seine systemphilosoph. Ansätze durchaus aufwiegt. S. 378. O s s i a n als I m p r o v i s a t i o n . — Die Echtheit zweifelte wohl zuerst an M. d. C. im „Journal des Savants". Noch P. v. Tiegham konnte (1917) den Namen des Verfassers nicht feststellen. Alex. Gillies (a. a. O. S. 6, Anmerkung) nimmt als Verfasser an den Bischof von Cloyne (monsieur d. C.) J. O'Brien (gest. 1767). — In Deutschland zweifelt als einer d. ersten Gerstenberg (s. d. Gerstenberg-Abschnitt d. Darstellung) die Echtheit an. S. 378. S c h i l l e r . — In Betracht kommt Schillers Brief an Reinwald vom 14. April 1783 (s. d. Schiller-Abschnitt der Darstellung), der für den letztlich lyrisch gefärbten Subjektivismus des jungen Dramatikers recht aufschlußreich ist, aber auch für die Vorstellung von den günstigen und erforderlichen Voraussetzungen f. d. schöpferischen Vorgang. S. 380. V o r a r b e i t G. V i c o s . — O s k a r W a l z e l : Grenzen von Poesie und Unpoesie (1937) neigt etwas zur Überschätzung von „Einflüssen", so auch betreffs Vicos. Er nennt G. Vico geradezu (u. übertreibend) „den wichtigsten Vorläufer Herders wie Hamanns", a. a. 0., S. 53. Ähnlich wie mit der Vico-Renaissance bei Walzel dürfte es mit der CudworthRenaissance bei S u d h e i m e r stehen, wobei nun O. Walzel seinerseits diesen Cudworth-Einfluß über Gebühr vernachlässigt, wie er den Vicos über Gebühr herausstellt. Vor lauter Einflüssen kommt dergestalt die Herder-Forschung nicht recht in Fluß.

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S. 382. E n e r g i s c h e K u n s t . — J . H a r r i s : Three treatises, the first conceming art, the second concerning music, painting and poetry, the third concerning happiness, London 1744. S. 382. G r u n d l e g u n g e i n e r b e s e e l t e n W o r t w e r t u n g . — Bereits in s. Untersuchung über Herders „Kritische Wälder" (1925) konnte Verf. auf d. Bedeutung d. Sprachauffassung H.s j e n s e i t s der Preisschrift nachdrücklich hinweisen und damit auf eine bis dahin durchweg übersehene Seite der Herderschen Sprachdeutung. 0. W a l z e l geht — wenngleich merklich widerstrebend — , dieser Anregung notgedrungen folgend, in seinem Abschnitt „Herders Zeichenlehre" etwas näher ein auf diese vernachlässigte, aber eben doch fortschrittliche Sprachdeutung d. jg. Herder. Walzel weist zwar auf R. H a y m zurück, möchte aber doch lieber den Wortlaut bei Herder zitieren (weil Haym die entscheidenden Hinweise eben doch nicht gebracht hat). Dieser Wortlaut bei Herder hatte ihm freilich schon früher jederzeit zur Verfügung gestanden. Aber es erfolgt nun ein bewunderungswürdiger Eiertanz, um die Autorität R. Hayms zu retten. 0. Walzel zitiert, weil ihm Herders Prägungen ebensowenig gefallen wollen wie sie seinerzeit R. Haym zugesagt hatten, im wesentlichen nur dieselben Stellen, die sich in meiner Sonderuntersuchung von 1925 finden. Trotz dieser verschleierten Anlehnung genügen mir jene Teilzugeständnisse O. Walzeis nicht. Vielmehr liegt hier ein entwicklungsgeschichtlich sehr beachtenswerter Fortschritt beim jungen H. vor, der wesentlich und weit über Lessings Position hinausgreift, von der sich letztlich 0. Walzel ebensowenig zu befreien vermag, wie dies bei R. Haym der Fall war. Diese Feststellung kann nicht ernstlich beeinträchtigt werden durch Herders etwas gefühlsmäßig verworrene, unbegriffliche und also schwer begreifbare Darstellungsweise, die ihrerseits eben doch nur jene neuartige und eigenartige (eigentümliche) Sprachauffassung bestätigt. Auf W. H a r i c h s Einleitung z. Neuausgabe d. Herder-Monographie R. Hayms, 1954, kann (und soll!) hier nicht näher eingegangen werden. S. 383. E n e r g i e b e g r i f f u. K r a f t b e g r i f f (bzw. Handlungsbegriff). — Die Abhebung des Herderschen Energiebegriffs vom Handlungsbegriff Lessings erörtert B. M a r k w a r d t : Herders Kritische Wälder, Lpz. 1925 (als Diss. 1922 vorliegend), S. 158f.; vgl.dazu R. H a y m , Bd. I, S. 244f.

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Im Hinblick auf eine etwaige Schul-Lektüre des „Laokoon" Lessings muß nachdrücklich auf eine Ergänzung durch die Lektüre (wenigstens auszugsweise!) von Herders Erstem Krit. Wäldchen hingewiesen und hingewirkt werden.Denn erst diese Lektüre vermag einen unerläßlichen Ausgleich zu schaffen gegenüber der Einseitigkeit Lessings, dessen theor. Erkenntnis ständig auf den kritischen Willen zurückbezogen bleibt. Auch H . A . K o r f f s „Geist der Goethezeit", Bd. I, S. i2of. (in der Neuausgabe von 1954 S. 123) hebt hervor, daß weniger i. d. Beständen als in der verschiedenartigen Bewertung dieser Bestände der entwicklungsgeschichtl. Unterschied der Positionen Lessings u. Herders zu suchen sei. „Lessing nämlich begründete die irrationalen Werte noch rationalistisch, Herder aber begründete sie, freilich ohne das volle Bewußtsein der Tragweite seiner Methode, irrationalistisch." Freilich scheint mir in der Impulsivität der jungherderschen Konzeption zum mindesten eine Ahnung der Reichweite seiner Abweichung gegeben zu sein. Der jg. H. ehrt und achtet in Lessing die Autorität, aber er wagt sie doch schon ganz bewußt zu ergänzen. S. 388. S c h w a n k e n d e H a l t u n g im G e n i e b e g r i f f . — K u r t M a y : Lessings u. Herders kunsttheor. Gedanken i. ihrem Zusammenhange, German. Studien Nr. 25, Bln. 1923. Dort weitere Einzelheiten; zeitl. nach der Diss. d. Verf.s von 1922, die indessen erst 1925 zur Drucklegung gelangte. Bei K. May überwiegt das rein Kunsttheoretische erfreulicherweise in einer Epoche, in der die liter. Programmatik u. Kunsttheorie noch wenig Anteilnahme fanden. Doch darf man hinsichtl. d. Genievorstellung u. d. Genieerlebens keine klare Begrifflichkeit erwarten, die i. d. Geniezeit selber vielfach u. durchweg bewußt vermieden wurde, um dem Genie zu geben, was dem Genie nach der Deutung der Geniezeit eigen ist: jenes Schwebende u. Schwankende, das bis i. d. Romantik u. deren Literaturphilosophie hinüberwirkt. — H. A. Korff „Geist d. Goethezeit", Bd. I, der für die Literaturprogrammatik noch weit weniger Raum zur Verfügung hat als Bd. II (Klassik, wo sich erfreulicherweise ein eigener „Poetik"Abschnitt findet, ein wenig wohl doch unter dem Eindruck des inzwischen [1928] erschienenen „Poetik"-Artikels d. Verf.s i. Reallexikon d. dt. Lit.-Gesch., 2. Aufl., i955ff.), weist im wesentlichen mit Recht darauf hin, daß d. Genie-

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begriff weit mehr im Kunstschaffen demonstriert als in der Kunsttheorie formuliert worden sei (a. a. 0., S. 124/25, Neuausgabe von 1954, S. 127/28). S. 390. K u n s t w o l l e n der K l a s s i k . — Schon der jüngere H. bereitet dergestalt vor, was dann der Weimarer Herder der „Griechischen Anthologie" gegen d. Mitte d. achtziger Jahre zum Werden des klass. Kunstwollens in Goethe beiträgt, und zwar ideelich fördernder, als es die erlebnismäßige Stimmungswelt um Charlotte v. Stein vermocht hätte. So gesehen, vertritt H. nicht nur theoret. d. Entwicklungsgedanken, sondern er verwirklicht und bewährt ihn auch praktisch im Anregen der Goetheschen Eigenentwicklung u. im Beschleunigen dieses Entwicklungsvorganges sowohl in Straßburg wie in Weimar. H. scheint überhaupt einen ausgesprochenen Sinn und eine starke Antriebsnötigung zu besitzen, eine ins Stocken geratene Entwicklung durch produktive Kritik neu zu beleben, um eine einseitige Erstarrung zu verhüten. Noch ein drittes Mal greift er in der angedeuteten Weise i. d. Entwicklung ein, als er nun wiederum eine Erstarrung des klass. Kunstwollens nachdrücklich bekämpft (Adrastea, Bekämpfung eines Primats d. Plastik, Freisetzung d. Dichtkunst v. d. bild. Kunst), mag auch eine „moralisierende" Verengung eingetreten sein. Herder v e r t r a t nicht nur als P h i l o soph u. K u l t u r p h i l o s o p h den Entwicklungsgedanken, er v e r k ö r p e r t e ihn auch, soweit er A n r e g e r war. S. 391. S t e l l u n g zu A r i s t o t e l e s . — Die Abhebung H.s von Lessing nicht nur i. diesem Punkt ist v. d. Kritik (K. May i. „Euphorion") anerkannt worden f. d. Untersuchung B. M a r k w a r d t s über Herders Krit. Wälder (1925); sie ist aber auch später erfreulich herausgearbeitet worden von Werner K o h l s c h m i d t : Herder-Studien, Untersuchungen z. H.s krit. Stil u. z. seinen literaturkrit. Grundeinsichten, Bln. 1929, bes. S. 94 t. Wenn W. Kohlschmidt formuliert „Denn wenn es Lessings Leidenschaft war, Anwendungsstoff für den Begriff zu finden, so war es Herders Leidenschaft, den Begriff nun zum Anwendungsstoff des dargestellten Werkes zu machen", so dürfte dabei freilich ein wenig die bekannte Anti-These: Goethe—Schiller betreffs Erfahrung—Idee, die an sich erst nachträglich von Goethe vereinfachend stilisiert sein dürfte (vgl. d. Zweifel Ed. Sprangers) mitgewirkt haben. Auch würde H. R e m pel mit dieser Lessingdeutung nicht so ganz einverstanden 38 M a r k w a r d t ,

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sein. Richtig erkannt wird von K o h l s c h m i d t dagegen die Überlegenheit Herders hinsichtlich des „Mitdenkens der Bedingungen" (Klima, Nation u. Zeit) gegenüber Lessing, obwohl bei Lessing Ansätze dazu vorhanden sind. So unzulänglich mir heute manches an d. Herder-Arbeit von 1925 notwendig erscheinen muß, so viel darf doch gesagt werden, daß man seitdem gelernt hat (trotz Haym), Herder nicht mehr einfach auf Lessings Autorität zurückzuführen, sondern H. als wesenseigen u. wertgleich von Lessing abzuheben; ähnlich wie man seit G. J a c o b y s Werk üb. „Herders u. Kants Ästhetik" (1907) gelernt hat, den reiferen Herder nicht einfach auf Kant zurückzuführen, sondern ihn als wesenseigen u. wertgleich von Kant abzuheben. Die etwas journalistisch stilisierte neue „Einleitung" W. H a r i c h s zur Neuausgabe der Haymschen Herder-Monographie (1954) kann sich dieser letzterwähnten Einsicht nicht ganz verschließen (a. a. O. S. CIV/CV). S. 392. S h a k e s p e a r e a u f s a t z . — W i l h . D o b b e k : Herder und Shakespeare, in: Shakespeare-Jahrbuch, Bd. 91 (1955), S. 25—51; neueste zusammenfassende Darstellung, die auch die kunsttheoret. Seite d. Themas erfreulich einbezieht. — G. W e b e r : Herder u. d. Drama, in: Forschg. z. neuer. Lit.-Gesch. LVI, Weimar 1922. — R u d o l f S t a d e l m a n n : Der histor. Sinn bei Herder, Halle 1928. — Das, was als echte Vielfalt (Lebensvielfalt) von der edlen Einfalt der Klassik unterschieden wurde, deutet, gattungstypologisch gesehen, mehr auf das Epische, während das Lyrische f. H. überhaupt den Zugang zum spezif. Dichterischen aufschließen half. Längst vor den Theorien des 19. Jh.s, die (bes. seit Hegel) i. d. Dramatik eine Synthese von Epik u. Lyrik sahen, hat. d. jg. H. diese Deutung d. Dramatischen ins Auge gefaßt, freilich ohne dem Eigentümlichen des Theatralisch-Dramatischen voll gerecht zu werden; im Hölderlin-Abschnitt bei 0. W a l z e l : Poesie u. Unpoesie (1937), S. 167 berührt. S. 393. A n s a t z s t e l l e n f. d. R o m a n t i k . — Wie im Volksliedgedanken, im Gedanken von einer freilich merklich modifizierten Universalpoesie, im Wechselspiel des Bewußten u. Unbewußten, i. d. Sprachphilos., im histor. Sinn usw. sind bes. auch hinsichtlich der Auffassung d. Dramas mancherlei Keime u. Vorformungen f. d. Romantik gegeben. Teilweise gehen die Wurzeln bis in die Aufklärung

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zurück, deren Ansätze z. B. zum histor. Sinn G. L u k a c s mit Recht berücksichtigt, wenngleich etwas überschätzt. Es sei erinnert an die Abhängigkeit d. jg. H. von Leibniz (ob nun unmittelbar oder nur mittelbar) u. Schlözer (R. S t a d e l m a n n a. a. 0., S. 27), teilweise auch noch von Voltaire u. Montesquieu (R. S t a d e l m a n n a. a. 0., S. 17), wenngleich z. T. im Sinne der negativen Bestimmung einer eigenen Position durch Opposition (Voltaire, Montesquieu, Hume). Gelegentlich spielt d. jg. H. den Generationsbegriff gegen den Klimabegriff aus, vgl. A. E. B e r g e r : Der junge Herder u. Winckelmann, Halle 1903, S. 57. Hinsichtl. d. „Krit. Wälder" kommt bes. der „Spaziergang üb. d. Reichsgeschichte" in Betracht (A. E. B e r g e r a. a. 0., S. 60/61; B. M a r k w a r d t a. a. 0., S. 98—103, „Historisch eingestellte Kritik"). R. Stadelmann erdrückt in seinem starren Systemgebäude allzu sehr die Eigenentwicklung H.s; außerdem weiß der Leser nie so recht (wenn er es nicht schon weiß), ob Stadelmann denn nun jeweils den jüngeren oder reifen Herder meint. So viel wird klar (war aber schon bekannt), daß d. jg. H. z. B. Homer mit historischem Verstehen (nicht doch mehr als Volksdichter?) betrachtete; im übrigen fordere H. vom Kunstrichter, daß er zugleich ein „Richter über Zeiten u. Völker" sei. S. 393. E r g ä n z u n g : „ D e u t s c h e r R o u s s e a u " . — Diese z. T. für d. jg. H. aufgekommene Bezeichnung lehnt als irreführend ab W i l h . D o b b e k : Joh. Gottfried Herder, Weimar 1950, S. 10. Nach W. D o b b e k sei Herder wohl Wegbereiter, aber nicht eigentlich Revolutionär gewesen. Über die Straßburger Begegnung (a.a.O., S.47f.) in instruktiver Zusammenstellung und Gegenüberstellung mit der Weimarer Begegnung der achtziger Jahre. Im wesentlichen behandelt W. D o b b e k , gemäß seiner Leitidee der Humanität, den reifen Herder. Zum mindesten kulturpolit. Reformbestrebungen treten indessen bes. im Reisejournal zutage. Das wird deutlich durch die Neu-Ausgabe: „Herder, Journal meiner Reise im Jahre 1769", hrsg. u. m. Einleitung versehen von Joh. N o h l , Weimar 1949, teilweise auch i. d. früheren Sonderarbeit von W i l h . K o e p p e n : Herders Reisetagebuch, Diss. Greifswald 1926. Wenn schon W. Koeppen auf die Beziehungen H.s zu Ru bland hingewiesen hatte, so sieht Joh. N o h l s Ausgabe von 1949 im Sichtbarmachen dieser Bezüge seine Hauptaufgabe, 20*

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wie er denn auch aus späteren Werken H.s alles zusammenstellt, was auf Rußland hinweist, so etwa aus den „Ideen" u. d. Zeitschrift „Adrastea". Dasselbe gilt v. d. umfangreichen Einleitung, die freilich vereinzelt sich wörtlich an R. Hayms Herdermonographie anlehnt. Bei Übereinstimmungen wie R. Haym, Bd. I S. 334/35 mit Nohl S. 71/72 vermißt man entsprechend schmerzlich den exakten Zitatverweis auf den bedeutenden Vorgänger. Im ganzen aber erleichtert diese Neuausgabe des Reisejournals den wiss. Überblick über den Reichtum jener Zusammenhänge u. Verflochtenheiten. S. 395. Goethe. — Zitiert nach der Sophienausgabe. S. 395. G e n i e z e i t g e m ä ß e S c h ö p f u n g s ä s t h e t i k . — Sehr instruktiv herausgearbeitet von H e l l m u t h S u d h e i m e r : Der Geniebegriff des jungen Goethe, Germ. Studien Nr. 167, Bln. 1935. Im erfreulichen Gegensatz zu mancher anderen Sonderforschung hält der Titel weit mehr als er verspricht. Sudheimers Untersuchungen drängen nicht nur zur Ausweitung, sondern auch zur Vertiefung. Die Titelwahl kann leicht irreführen. Denn, wie S. selber einmal hervorhebt, hat d. jg. G. nur selten etwas Begriffliches u. Begreifbares über d. Geniebegriff ausgesagt. Es geht beim jg. G. wie überhaupt i. d. Kunstprogrammatik d. Sturmes u. Dranges weit mehr um ein Genieerlebnis u. eine Genievorstellung als um einen Geniebegriff. Weit über d. jg. Goethe hinaus erfaßt S. ein gutes Stück des geniezeitgemäßen Kunstwollens u. Kunstforderns überhaupt. Manches muß dabei aus zweiter Hand bezogen werden; anderes geht auf Quellen, und zwar auch abseitige Quellen, zurück. Das Wesentliche u. Wertvolle bleibt der breitschichtig angelegte, aber auch manche Wurzel tiefer senkende Versuch, die gesamte geistig-seelische und dichterische Lebensstimmung, weit weniger freilich die gesellschaftliche Lebensbedingtheit des jungen Goethe einzufangen in einem feinmaschig gesponnenen Netz der Zeitbeziehungen 11. ideelichen Bezüge, einem planvoll u. geistvoll gesponnenen Netz, das zwar nicht allenthalben unverworren wirkt, aber doch insgesamt reiche Erträge einzubringen vermag. Vieles Bekannte, dessen Entfernung das Buch entlastet haben würde, wird mitgenommen u. verdeckt manchen Fund, den der Leser bei strafferer Beschränkung leichter u. unermüdeter entdeckt u. gewürdigt haben

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würde. So liest man das umfassende Werk am besten von den Anmerkungen her, die durchweg klarer enthüllen als der Text der Darstellung selber. Das Buch könnte ohne Schaden um die Hälfte verkürzt werden. Unter den Funden ist der teilw. unmittelbare Einfluß des vitalistischen Neuplatonikers Ralph Cudworth, der schon Gottsched bekannt war (im Zusammenhange mit Leibniz' „Theodicee" hervorzuheben) u. der Goethe u. a. durch Jacob Bruckner bekannt wurde. Leibniz lehnte Cudworth' Begriff d. „bildend. Natur" ab (wie Gottsched). Hineinspielt die Kontroverse: Le Clerc, P. Bayle, Leibniz über Cudworth. Es ging dabei zugleich um die Vorstellung der „plastic nature" (vgl. auch J. H. Z e d l e r s Univ.-Lexikon), von Mosheim übers, als natura genetrix,procreatrix,efficatrix, bei Goethe als „bild. Natur" (Frankfurter Krankheits- bzw. Genesungszeit, Atmosphäre des „Faust"); Nebenzug: Joh. Rajus. Sudheimer glaubt über Shaftesbury auf Cudworth zurückgehen zu sollen, a. a. 0. S. 538, Anm. u. Text S. 96. Shaftesbury nur „like" (wie, ähnlich wie) d. „plastische Natur" unter Rückbezug auf d. „innere Form". Hinzu tritt Cudworth' „Kraft"Begriff des „bildenden Lebens". Goethes „würkende Natur" gehe unmittelbar auf Cudworth zurück, ebenso seine Vorstellung einer „magischen" u. „sympathetischen" Natur (Annäherung an dasEmanationssystem)a.a.O., S.98. Mittelbar erfolgt Einfluß über Shakespeare. Bes. seit Sudheimer kann man von einer Cudworth-Renaissance i. d. Forschung reden. H. S u d h e i m e r wendet gegen 0. W a l z e l ein, daß nicht sowohl Shaftesbury als vielmehr Cudworth die betreffenden Ansichten u. Einsichten d. jg. G. erleichtert u. bewirkt habe. Trotzdem bleibt O. W a l z e l (Poesie u. Unpoesie, 1937) im Wesentlichen beim Shaftesbury-Einfluß stehen, soweit dort überhaupt d. jg. G. Berücksichtigung findet. — Sudheimer arbeitet z. T. mit der Zweipoligkeit: Prometheus-Ganymed-Symbol (a. a. 0., S. 438, 495 u. a. „Der Wechsel beider Haltungen, ihre Systole u. Diastole ist im Rhythmus des Lebens bedingt"). H. A. K o r f f konnte H. Sudheimer in Bd. I des „Geistes d. Goethezeit" (u. damit auch i. d. unveränderten Ausgabe von 1954) nicht verwerten. Doch ist der Anmerkungs- u. Gesamtregisterband demnächst zu erwarten (frdl. mündl. Mitteilung von H. A. Korff). S. 395. F a l c o n e t - A u f s a t z . — Uberwiegend f. G. in Anspruch genommen, so v. S u d h e i m e r a. a. 0. S. 536 u. a. m.

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S. 396. E r l e b n i s s e d. b i l d . K u n s t . — H e r b e r t v. E i n e m : Goethe u. Dürer, Kunstphilosophie, Hbg. 1947 (Festrede 1946 Fr. Dt. Hochstift bzw. Rede i. d. G.-Gesellschaft, Hannover 1934) schwankt teilw. recht unklar zwischen Wortkunsttheorie u. Bildkunsttheorie hin u. her, ohne überall dem Phrasenhaften zu entgehen. Man weiß streckenweise nicht recht, ob von der bild. Kunst od. d. Dichtkunst die Rede ist. S. 51 geht H. v. Einem aus von der Bemerkung d. Encyklopädisten d'Alembert über die allg. Gärung d. Epoche u. man erkennt wiederum nicht, ob von d. bild. Kunst (wie so oft bei G.) oder von der Dichtkunst gesprochen wird. Die „innere Form" wird auf Plotin u. Leibniz zurückgeführt, teilw. auch auf Giordano Bruno. S. 57 heißt es dann, daß die „unendliche Lebensfülle der Welt im eigenen Lebensinnem" das zentrale Erlebnis d. jg. G. sei. Dort kommt auch die Prägung zur Geltung aus d. Brief Goethes an Fr. Heinr. Jacobi (1774), daß es auf die „Reproduktion der Welt um mich durch die innere Welt" ankomme, was jedoch als „Geheimnis" gilt. Entscheidend bleibt vorerst die „individuelle Keimkraft" (Dritte Wallfahrt nach Erwins Grabe). Die bloße Nachahmung erfährt Ablehnung (21. Sept. 1772); auch der Brief an Roederer ist als Beleg f. d. Prinzip der Selbständigkeit zu berücksichtigen (Straßburger Zeit). S. 397. S u l z e r - R e z e n s i o n . — M a x M o r r i s : G.s u. Herders Anteile a. d. Jg. 1772 d. Frankf. Gelehrt. Anzeigen (3. Aufl. 1915). — O t t o M o d i c k : G.s Beiträge z. d. Frankf. Gelehrt. Anzeigen v. 1772, zugl. ein Beitrag zur Sprache d. jg. G., Diss. Jena 1913, S. 4/5 Aufzählung d. f. d. jg. G. in Anspruch genomm. Rezensionen. — O. W a l z e l : Das Prometheussymbol, 1910, S. 10 nimmt d. Sulzer-Rezension f. G. in Anspruch, ebenso H. S u d h e i m e r (a.a.O., S.352) u.a.Nach alledem darf die SulzerRezension dem jg. G. zugeschrieben werden. Die Stürmer u. Dränger gingen rein begrifflich vielfach auf die Kunsttheorie d. Aufkl. (bes. d. Auflockerer innerhalb der Aufkl.) zumindest definitionsmäßig zurück, während die Genievorstellung vielfach über diesen Geniebegriff gefühlsmäßig hinausstrebte, so auch d. jg. G., der impulsiver demonstriert, was Sulzer logischer definiert. Was Sulzer erkennt, das erlebt Goethe. Was Sulzer erkennt, das verwirklicht G. in d. werkimmanenten Poetik seiner Kunstleistung. In der Sophienausgabe (37) ist die Rez. in Petit gesetzt, also

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nicht als völlig gesichert anerkannt, jedenfalls die Rez. üb. Sulzers „Allg. Theorie d. schönen Künste" (ob etwa Garve in Betracht käme?). Bemerkenswert ist der krit. Maßstab der nationalen Zugehörigkeit (Sulzer als Schweizer) a. a. 0., S. 193, vermißt wird ein Anknüpfen an Lessing u. Herder hinsichtl. der Grenzen der Kunst (195). — In der G e ß n e r - R e z . wird deutlich ein gewiss. Vertrautsein mit Lessings „Laokoon",ein Erkennen des Rokokoklassizismus, indem einerseits das „niedliche Ganze", andererseits die Stellungen, „nach der Antike gewählt", Hervorhebung finden (37, S. 286). — H a n s R i c h t e r : J. G. Sulzer „Allg. Theorie . . ." u. d. Bürgertum d. Aufklärungsepoche, in: Wiss. Zschr. d. Univ. Jena, Jg. 1952/53, S. sçff. betont die Fortschrittlichkeit Sulzers u. die Einheit der aufklär. Weltanschauung auch im Sturm u. Drang. Er rennt freilich offene Türen ein, wenn er „entdeckt", daß bereits die Definition d. Geniebegriffs Sulzers recht weit i. d. Sturm u. Drang hineinreicht. Das gilt ganz allgemein f. die Genie-Definitionen der Aufklärung, ganz abgesehen davon (was H . R i c h t e r übersieht!), daß die „Allg. Theorie" zeitlich weit i. d. Sturm u. Drang hineinragt. S. 397. Von d e u t s c h e r B a u k u n s t . — Daß G. im Gegensatz zu der Auffassung von Laugier (Marc A n t o i n e L a u g i e r : Essai sur l'architecture 1753/55 u. Observations sur l'architecture 1765, die gleichsam seinen „Essai" fortsetzen) den prometheischen Charakter (Gott zum Trotz) und den nationalen Charakter (den Franzosen zum Trotz) bes. hervorhebt, ja programmatisch hervorkehrt, kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß schon der jg. G. seine Schöpfervorstellung stark am Bildkünstlerischen orientiert hat. Etwas tendenziös bei E r n s t B e u t l e r : Von dt. Baukunst, G.s Hymnus auf Erwin v. Steinbach, seine Entstehung u.Wirkung, München 1943 (Vorträge u. Schriften d. Fr. Dt. Hochstifts, Frankf., Bd. 4). Trotz d. Datierung 1773 entsprechend dem Brauch d. Verlagswesens (Michaelismesse) 1772 anzusetzen. Der jg. Goethe versteht nicht den religiösen Auftrieb („düsterer Pfaffenschauplatz"), sondern lenkt ab auf den nationalen (u. ästhetischen) Auftrieb, wodurch immerhin das rein Individualistische überwunden wird. Das Religiöse wird dabei teils nationalisiert, teils säkularisiert, indem Erwin nicht nur deutsch, sondern gleichsam auch „göttlich" erscheint. — E d i t h B r a e m e r : Die Geniegestalten des jg. Goethe I. Teil (Ausschnitt aus

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einer Jenaer Diss.), in: Wiss. Zschr. d. Univ. Jena, J g . 1 9 5 2 / 5 3 , Nr. 2, S. i i 5 f f . , betont die Volksverbundenheit d. Genie-„Gestalten"; die 2. Fassung d. „ G ö t z " wird krit. abgewertet. Der Unterschied des „Polierten" vom „Charakteristischen" hätte indessen bei hinreichender Kenntnis d. früheren Poetik auch aus der „Ästhetik" abgeleitet werden können. Im übrigen wäre der Gegenbegriff zum „Polierten" mehr das „ R a u h e " des Sturmes u. Dranges gewesen, das eine Sonderausprägung des „Charakteristischen" darstellt u. i. d. Kunsttheorie mehrfach anzutreffen ist. Das „Polierte" geht letzten Endes auf die Poetik der Übergangszeit zwischen Barock u. Aufklärung zurück. E . Braemer vergröbert hier bedenklich, wo sie tendenziös zu vereinfachen versucht. E s fehlt ihr merklich der Uberblick üb.d. größeren Entwicklungszusammenhang. Auch entgeht ihr die Begriffsverbindung „polit = politisch" (Bd. I meiner „Gesch. d. Poetik"), der gerade für die von ihr eifrig vertretene Tendenz auswertbar gewesen wäre. Dieser Tendenz entspringt die wiederum vergröbernde Konstruktion eines Übergangs vom „Selbsthelfer" („Götz" nach G. L u k a c s ) zum „Volkstribun" (Werther, Prometheus, Faust, Egmont). Erkennt man an derartig zuversichtlichen Konstruktionen einerseits, daß blinder Eifer nur schadet, so sei andererseits anerkannt, daß E . Braemer sich von ihrem Ausgangspunkt doch einer werkimmanenten Poetik (freilich nur im Rohbau) streckenweise annähert. Die These vom „Durchbruch zum Volkstribun" kann nicht überzeugen. W a s E . Braemer an Material bringt, ist durchweg bekannt; was sie an Deutung bringt, ist durchaus befangen. Sie macht es bei aller von sich selber überzeugten Forschheit falsch, ahnt aber gelegentlich das Richtige, so etwa den bürgerlichen Traggrund des Geniebegriffs. 5. 397. „ Z u m S c h ä k e s p e a r s T a g . " — „G.s Rede zum Schäkespears-Tag", Wiedergabe d. Handschrift m. Geleitwort von E r n s t B e u t l e r , Weimar 1938. Beutlers FaksimileAbdruck bzw. d. beigegebenen Erörterungen gehen nur wenig auf die Rede selber ein, berücksichtigen dagegen die Entwicklung d. Sh.-Deutung durch d. späteren G., etwa i. Gegenüberstellung d. Urmeister (5. u. 6. Buch), der jener Rede von 1 7 7 1 wesentlich näher steht (1784/85) als die „Lehrjahre". Hinsichtlich der Rede selbst läßt E . Beutler das „lyrisch-impression. Temperament" d. jg. G. die

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Abwehr d. franz. Klassik u. die Annäherung an Sh. mit beeinflussen. Der jg. G. habe an den Franzosen die „unbedingte, unbarmherzige Wirklichkeit der Weltschau" vermißt, die er dagegen bei Sh. gefunden habe. Ist nicht aber das Streben nach der echten Vielfalt (Lebensvielfalt) u. damit ein epischer Grundzug ebenso bedeutsam? E. Beutler hebt die Sh.-Rede bzw. Sh.-Feier ab von den pietist. Zusammenkünften. — Einiges über d. eigentl. Sh.-Feier noch a. a. 0., S. 14 f. Zudem sieht E. Beutler i. d. Sh.-Rede v. 1771 eine Bekundung des Ehrgeizes u. d. künstl. Strebens u. damit eine Vorstufe des „Götz"Dramas. — Zur Sh.-Rede vgl. auch H. S u d h e i m e r a. a. 0. S. 185, 191, 358, 477 u. a. — Weiterhin: S i e g f r . M e l c h i n g e r : Dramaturgie des Sturmes u. Dranges, Gotha 1929. — B. M a r k w a r d t : Sturm u.Drang (Theorie) i. Reallex. d. dt. Lit.-Gesch. u. a. m. S. 398. „ P r ä t e n d i e r t e F r e i h e i t . " — Durchweg hat diese Prägung i. d. Sekundärlit. die gebührende Berücksichtigung gefunden. Doch bedarf das Ideeliche darin einer nachdrücklichen Hervorhebung. Denn es entspricht dem Ideelichen in der fast einzigen prägnanten Genie-Definition des jg. Goethe als einer „Fähigkeit, neue große Ideen aus der Tiefe zu heben". Diese Definition wird als d. „einzige Definition" des Geniebegriffes d. jg. G. hervorgehoben bei H. S u d h e i m e r a. a. 0., S. 260, wobei der Rückbezug auf J. G. Herder zu beachten ist. Hier ist darüber hinaus der Akzent auf das Ideeliche gelegt worden, das man z. T. beim jg. G. kaum in diesem Grade der deutlichen Ausprägung erwartet. Bemerkenswert bleibt, daß auch dem jg. G. schon der „notwendige Gang des Ganzen" erfaßbar u. erlebbar ist als eine vorerst mehr geahnte als gewußte Entwicklungsnotwendigkeit. Wie brüchig u. billig die übliche Antithese Goethe—Schiller ist, die auch Ed. S p r a n ger krit. beanstandet hat, daß nämlich immer nur Schiller vom Ideelichen, Goethe aber vom Gegenständlichen ausgehe, wird auch an solchen Bekundungen evident. S. 398. D a s „ C o l o s s a l i s c h e " . — Die Beziehungen zum Erhabenheitsbegriff u. damit z. Pseudo-Longin (Plotin: Enneaden, übers, v. H. F. Müller 1878 u. 80, 2 Bde.) hebt hervor H. Sudheimer a . a . O . , S. 81; vgl. auch K a r l V i e t o r : „De Sublimitate", eine sehr instruktive Abhandlung (s. o.). — F r z . K o c h : Goethe u. Plotin, Lpz. 1925 (nur bedingt brauchbar).

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S. 400. „ S c h ö p f u n g s k r a f t . " — Nach Anregungen von B. Suphan u. Th. F r i e d r i c h (Diss. über Lenz 1909) hat 0. W a l z e l diesen Terminus verfolgt i. d. Abhandlung über d. Prometheussymbol (1910, erweitert 1932) ; außerdem H. Sudheimer, aber auch Schönaich: Die ganze Ästhetik in einer Nuß 1754, DLD., hrsg. v. Alb. K ö s t e r , Bln. 1900, bes.d. Stichwörter: Geistesschöpfer, Schöpfungskraft usw. Auch M. Wieland wird als einer der Präger dieser Bezeichnung genannt. Klopstock nähert sich dem Terminus in „An des Dichters Freunde" (1747), bringt aber das. Wort „Schöpfungskraft" noch nicht. Die Bezeichnung „Schöpfergeist" erscheint angeglichen dem franz. „esprit créateur;" „Schöpferkraft" bei d. jg. Herder (V, 604). „Schöpfungskraft" frühzeitig bei J. G. Sulzer 1. d. Allg. Theoried. schönen Künste; vgl. H. W o l f : Gesch. d. Geniebegriffs S. 149. — E d g a r Zilsel: Die Entstehung des Geniebegriffs, Tüb. 1926, H. Sudheimer u. a. Hinsichtlich der Fortschrittlichkeit Sulzers im Geniebegriff jetzt auch Hans R i c h t e r : J. G. Sulzers „Allg. Theorie d. schönen Künste" u. d. Bürgertum d. Aufklärungsepoche, in Wiss. Zschr. d. Univ. Jena, Jg. 1952/53; dabei unterschätzt H. Richter von seinem engen Blickfeld aus freilich beträchtlich die weit früher nachweisbaren Genie-Definitionen der Aufklärung, wie er denn die verhältnismäßig späte zeitliche Einlagerung d. „Allg. Theorie . . . " Sulzers übersieht. Seit etwa 1759 (!) schon setzt die Programmatik des Sturmes u. Dranges ein u. überschneidet sich zeitlich mit der nachwirkenden Kunsttheorie d. Aufklärung. S. 400. Linien zu K l o p s t o c k . — O t t o L y o n : Goethes Verhältnis zu Klopstock, Lpz. 1882; davon macht sich über Gebühr abhängig H. Sudheimer, wie man denn überhaupt bei Sudheimer die kritische Verarbeitung der Sekundärliteratur vermißt. Weit sinnvoller ist die Sekundärliteratur verarbeitet worden von K. A. Schleiden: Klopstocks Dichtungstheorie (1954). S. 401. Ganymedischer Titanismus. — Mit der Zweipoligkeit des Prometheus- u. Ganymed-Symbols arbeitet H. Sudheimer a. a. 0., S. 438', 495 u. a. ; dabei erfolgt (wie überhaupt bei Sudheimer) teilweise eine merklich religiöse Umdeutung. Nicht der irgendwie religiös gefärbte „Titanismus", sondern der Lebenskultus der Größensehnsucht ist kennzeichnend f. d. jg. G. Zudem fragt G. häufiger u. zuversichtlicher beim „Volk" an als bei „Gott". Eine gewisse

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Vergottung des Volkstümlichen ist bei alledem unverkennbar. Und das Nationalpädagogische überwältigt mehrfach das Religionspädagogische. Der Frankfurter Krankenzeit steht die Straßburger Zeit gegenüber, die das Gesunde u. Gesundende im Volkstümlichen begrüßt unter des jg. Herders Einfluß. — Einseitig „politisch" sieht den Bezug des Genialen auf das Volkstümliche E d i t h Braemer: Die Geniegestalten d. jg. Goethe a. a. 0. (1952/53). S. 402. Sonderforschung (Cudworth). — H. Sudheimer a. a. O., unterschätzt von 0. Walzel „Poesie u. Unpoesie" 1937. S. 403. Ideenwelt Herders. — Schon A l b e r t B i e l s c h o w s k y spricht in diesem Zusammenhange in Anlehnung an ein Goethewort von einer deutschen literar. „Revolution" a. a. 0., 35. Aufl., 1918, Bd. I, S. 108. — Georg W i t kowski hebt i.s. Goethe-Monographie (2. Aufl. 1912) S. 7of. die Einsicht hervor, daß die Poesie „eine Welt- u. Völkergabe sei", nicht nur ein bloßes Bildungserbe einiger Bevorzugter des Geistes. Bielschowsky aber betont mehr das spez. Revolutionäre gegenüber dem nur Reformistischen: „Nicht Reformation, sondern Revolution war ihre ausgesprochene Losung" meint er i. diesem Zusammenhange von der geniezeitgemäßen Jugend. Trotz seines betont biograph. Interesses bringt Bielschowsky mehr kunsttheoret. Bezüge als G. Witkowski, dem freilich weniger Raum zur Verfügung steht. R i c h a r d M. Meyers G.Monographie (3. Aufl. 1905) S. 84! hebt den Einfluß Herders als wesenhaft anders ab von Einflüssen, wie sie etwa von Geliert oder Oeser ausgegangen waren; sein Begriff d. „Volksindividualität" ist freilich reichlich unklar. Vollends verschwimmt die Besonderheit der Herderschen Konzeption bei Fr. Gundolf. Im allgemeinen v e r n a c h lässigen die G.-Monographien in erstaunlichem Grade die kunsttheor. Werte gegenüber den rein biogr. Faktoren; dafür mag das Beispiel der Herder-Anregung in Straßburg hier als Paradigma gelten. Dabei ist zu berücksichtigen, daß in diesem Falle noch das Biographische so stark hineinspielt, daß auch das Kunsttheoretische billigerweise nicht ganz übergangen werden kann (noch trauriger steht es mit der Vernachlässigung der Herderschen Anregungen durch d. „Griechische Anthologie" usw. für d. Klassik). S. 403. F r ü h z e i t (vor 1770). — Der rokokoklassizist. Wertungsstab wird i. d. Leipziger Epoche als derartig verbindlich

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empfunden, daß frühere Dichtungen verbrannt werden, weil sie diesem Maßstab nicht entsprechen. Selbst die „komische Romanze" erlebt ihre Aufwertung ebenso wie das Schäferspiel. Zeitparallele Erscheinungen bei Wieland erklären die starke Geltung der Graziendichtung, die indessen länger in G. nachwirken kann, weil ein eigener Zug des Anmutig-Graziösen in Goethes Wesen ihr immer wieder entgegenkam, nicht nur in der Lili SchönemannGruppe. S. 406. Exkurs: Werkimmanente Poetik. — Der Konfessionscharakter, bes. in bezug auf die Geschlechter (FriederikeErlebnis) darf nicht darüber hinwegtäuschen, daß zwischenmenschliche Verhältnisse (Götz, Clavigo) zur Geltung drängen, d. d. Gemeinschaftsproblem einbeziehen. Darauf weist nicht allein das „Selbsthelfer"-Motiv (Götz, Urfaust) hin, sondern auch das Abschätzen d. Einlagerung d. Individualerlebens in das Gemeinschaftserleben (Clavigo, z. T. auch Stella u. vor allem der Werther). Wie ein menschenwürdiges Leben möglich sei, wird vorerst noch abgemessen daran, wie eine menschenwürdige Liebe möglich sei. Wie eine menschenwürdige Freiheit möglich sei, wird vorerst noch abgemessen daran, wie ein vollwertiges Leben und Erleben möglich sei. Das eine i. d. Stella u. im Werther, das andere im Götz u. Clavigo. Beides verbindet sich im Urfaust. Das Kunstwollen erprobt sich als Freiheit um jeden Preis im Götz, der manches der lauten Größe geniezeitgemäßer Art in sich birgt, während der Urfaust außer der lauten Größe u. der echten Vielfalt des „Götz" bereits neben der Geistestragödie die Seelentragödie ankündigt (Gretchentragödie). Die „Stella" (Frühfassung) erzwingt eine Bejahung der Leidenschaft, die der „Werther"-Roman ins Tragische wendet ebenso wiedie Gretchentragödie und die Marie-Tragödie (Clavigo). Die Leidenschaft, die in der Aufkl. teils durch Vernunft (Lessing), teils durch Komik (Wieland) entwaffnet worden war, erhält vorerst vom geniezeitgemäßen Kunstwollen ihre volle Machtgeltung eingeräumt. Daß sie nicht Raum finden kann, gilt als zum mindesten latente Anklage gegen die _ Lebensbedingtheiten u. Lebensverhältnisse, ob es sich nun um die Leidenschaft der Freiheit (Götz) oder der Liebe (Stella, Werther) oder des Geistes (Urfaust) handeln mag, wobei die Gretchentragödie zugleich auf das Problem der Liebes-Freiheit übergreift. Das Kunstwollen des „Clavigo"-

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Dramas schließt diese Problematik des Liebesanrechts in sich ein, hebt sich jedoch formungstechnisch ab durch eine bewußte Rückbesinnung auf die theatralisch-dramatische Wirkungsform. Gegenüber dem jg. Schiller wird bei alledem spürbar, wie d. jg. Goethe von vornherein stärker auf die psychologischen Wahrscheinlichkeiten Rücksicht nimmt als auf die dramatisch-theatralischen Wirkungsmöglichkeiten. Das gilt selbst noch vom „Clavigo". Die Spannungsweite des Kunstwollens u. der Darstellungsabsicht wird vollends erkennbar im Bereich der Lyrik, wo das Volkslied neben der freirhythmischen Hymne steht, wie das „Volksstück" (Götz, so gedeutet von Justus Moser) neben dem Ansatz zum Ideendrama halb visionärer Art (Urfaust) steht. Der grandiose Durchbruch zur Prometheus-Hymne oder zum „Mahomet" oder zu „Wanderers Sturmlied" ist nicht kühner als die Ermutigung zum Liedhaften im „Mailied" oder im „Heidenröslein". Was sich damit anmeldet, ist der Reichtum der Erlebnisweise und der Darstellungsvielfalt, die laute Größe und die echte Vielfalt des Sturmes u. Dranges, die durch Goethe ihre höchste Aufgipfelung erfährt. Selbst die „Farcen" bestätigen diese Vielfalt, die frühzeitig zur Stileinheit strebt, indem die charakteristische Besonderheit überall Ansätze bereit hält, an die das Allgemeingültige anknüpfen kann. Die zunächst scheinbar destruktive Kritik geht dabei unversehens in produktive Kritik über. Das Kunstwollen erfaßt alle wesentlichen Dichtungsgattungen und erzwingt vermöge des ebenso vielseitigen Kunstkönnens eine beispielgebende Bewährung sowohl im Drama (Götz, Clavigo) als in der Lyrik (Liedlyrik u. hymnische Lyrik, Ansatz zur balladesken Lyrik) und endlich auch in der Epik (Werther)! Kein Dichter vor G. hatte (bis zum 25. Lebensjahr) Meister- u. Musterwerke in jeder der Hauptgattungen aufzuweisen gehabt. Und selbst Schiller hat auf entsprechender Altersstufe bei deutlichem Überwiegen des Dramas kein episches Großwerk vom Range des „Werther"-Romans u. letztlich auch keine größeren Bestände an reiner Lyrik hervorgebracht, so hoch man immer seinen Typus des Geistig-Visionären u. des „öffentlichen" i. d. ihm gemäßen Sonderbezirk der Lyrik schätzen mag und muß. Wie das spätere Erproben der Ballade oder der Novelle u. des Märchens, wie selbst ein Hinübergreifen des Kunstwollens auf das Schaffensgebiet der bildenden Kunst ergänzend bestätigt, handelt

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es sich bei dieser g a t t u n g s m ä ß i g e n V i e l f a l t u n d Vielg e s t a l t durchaus nicht um etwas Selbstverständliches, sondern um ein Eigentümliches, das mit dieser Kraft bislang nirgends in der deutschen Dichtungsgeschichte ausgeprägt erschienen war (bei A. Gryphius tritt die Epik zurück). In dieser schöpfungskräftigen Vielfalt dürfte der eigentliche Keim zur späteren Auflockerung der Gattungsgrenzen (auch i. d. Kunsttheorie Goethes) zu suchen sein u. nicht — oder doch nicht in erstem Betracht — in bloßen Einwirkungen der romantischen Literaturphilosophie. Der „Faust" bringt das große Beispiel; in ihm erfährt diese Erscheinung ihre vollendete Verwirklichung; die Ansätze sind aber wiederum bereits im „Urfaust" der Frühzeit nachweisbar. Wie angedeutet, scheinen die Grundkräfte geniezeitgemäßen Kunststrebens: echte Vielfalt u. laute Größe vorerst etwa gleichwertig und gleich gewichtig am Kunstschaffen des jungen Goethe beteiligt gewesen zu sein. Aber eben der Umstand, daß schon im „Götz" neben der Größe deutlich die Vielfalt (etwa in der Vielfarbigkeit des kulturhistor. Zeitbildes) zur Geltung drängt u. zur Wirkung gelangt, legt den Gedanken nahe, ob nicht die „laute Größe" im Verhältnis zur „echten Vielfalt" innerhalb der Gesamtentfaltung dennoch (zum mindesten graduell) zurücktritt. Der bes. seit Gundolf eingebürgerte Terminus „Titanismus" (ob nun „prometheischer" oder „ganymedischer" Art) kann darüber nicht hinwegtäuschen. Mag auch Gundolfs Gegenüberstellung von „intensiver" (Pindar) u. „extensiver Riesigkeit" (Shakespeare) manches einfangen u. gleichsam entschärfen an latenter Widersprüchlichkeit, so gibt das von Gundolf selber richtig beobachtete „Ablenken" u. Ableiten der großen Motive (durchweg dramatischer Art) in „pindarische Lyrismen" doch zu denken, u. zwar nicht allein hinsichtlich des gattungstypologischen Vorranges (Überwiegen des Dramatischen, Lyrischen oder Epischen). Ein Vergleichsblick etwa auf Fr. M. Klinger läßt das Zurücktreten der lauten Größe i. d. werkimmanenten Poetik des jg. Goethe ohne weiteres erkennen. Und die Annäherung Lenz' an Goethe bestätigt auch von dieser Seite her das Überwiegen der „echten Lebensvielfalt". Wenn Lenz i. d. formulierten Poetik seines „Pandämoniums" die überlebensgroßen Gestalten herbeischleppt, sie aber in seinem Kunstschaffen keineswegs be-

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vorzugt (Ansatz: „Katharina von Siena", aber Fragment), so sind freilich beim jg. Goethe die überlebensgroßen Gestalten auch im dichterischen Werk weit reicher vertreten u. häufiger anzutreffen: sie überwiegen aber im unvollendeten Werk (selbst die Prometheushymne steht in Beziehung zum dramat. Fragment, ähnlich zum mindesten die eine der Mahomet-Hymnen). Letzten Endes ist hinsichtlich der „Größe" das teilweise noch unbewußte u. ungeklärte Kunstwollen bereits bei dem jg. Goethe des Sturmes u. Dranges nicht sowohl auf das „Große" als vielmehr auf das „Bedeutende" gerichtet. In der Antithese: das „bedeutende Rauhe" u. die „unbedeutende Glätte" klingt das auch in der Formulierung schon an. Und der Größenkultus ist auch schon auf das entwicklungsgeschichtlich „Bedeutende" aus einem seiner eigenen Gegenwart als verwandt empfundenen Jahrhundert (Götz, Faust) gerichtet. Weil aber diesem „Bedeutenden" noch die große Ergänzungskraft des „Bildenden" (zum mindesten im prägnanten Sinne der Klassik) fehlt, verharrt es streckenweise beim „Riesigen" u. „Colossalischen" u. damit i. d. Zeitbefangenheit. Das „Eigentümliche seines Ichs" stößt dabei eben auch mit dem „notwendigen Gange des Ganzen" zusammen. In der Programmatik folgt der jg. Goethe weitgehender der allg. Zeittendenz (Größenkultus) als dem eigenen Kunstwollen. Im Kunstschaffen erprobt er gleichsam jene Zeitu. Streitthese (Streitthese mit Bezug auf den bürgerlichen Durchschnitt) bes. i. den Fragmenten u. Dramenplänen, ohne sie i. den vollendeten Werken wirklich zu vergegenständlichen. Die Kritik des Schaffenden erweist sich als feinnerviger, als die streckenweise relativ kritiklose Anpassung an die modischen Merk- u. Kennwörter u. Programmsätze vermuten lassen könnte. Und nicht zufällig wird im besonnen u. kunstverständig geformten „Clavigo" die an sich vorhandene Größensehnsucht kritisch enthüllt u. sittlich entwertet als Ehrgeiz, der dem Liebesehrgeiz entspricht (Marie-Handlung). Die Reproduktion der äußeren Welt durch die innere Welt bewährt sich auch im Verhältnis von Größe des inneren Lebensgefühls u. Weltgefühls einerseits u. bloßer Demonstration der „großen Gestalt" (des geniezeitgemäßen Kraftkerls) andererseits, wobei folgerichtig das große Gefühl überwiegt: etwa die Freihcitssehnsucht im „Götz" oder „Prometheus", die Erkenntnissehnsucht u. Lebenssehnsucht im Urfaust, die

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Liebessehnsucht im „Werther", i. d. Gretchentragödie, i. d. „Stella". Das Erhabene (Klopstock, Shakespeare, Pindar) wird vom Kunstwollen schon damals an die „innere Welt" verwiesen zur kritischen Klärung (Kritik des reinen Gefühls) seines Wertanspruchs. Auch der jg. Goethe ist niemals so kritiklos begeistert wie Klopstock, nie so berauscht um des Rausches willen. Überhaupt treten Kunsttheorie u. Kunstwollen als werkimmanente Poetik näher zueinander, wirken inniger ineinander, als es auf den ersten Blick hin scheinen könnte. Jedenfalls gilt dies, wenn man innerhalb der theor. und programmat. Bekundungen die merklich eigenen Funde oder doch dem Eigenen anverwandelten Fassungen abzuheben versteht von dem nur am Wege gleichsam probeweise u. vorübergehend Mitgenommenen, wobei jene Funde u. Fassungen nicht zufällig überwiegend die angewandte (u. anwendbare) Poetik betreffen. Freilich unterliegt es kaum einem Zweifel, daß jene sich sogleich empfehlenden hochwertigen Bekundungen u. Bekenntnisse ihrerseits hervorgegangen sein dürften aus den unmittelbaren Begleiterlebnissen beim Kunstschaffen. Daher kann es nicht eigentlich überraschen, wenn formulierte u. werkimmanente Poetik sich gerade beim jg. Goethe weitgehend i. Einklang miteinander bringen lassen. S. 406. J. M. R. Lenz. Zitiert nach J. M . R . L e n z : Gesammelte Schriften, hrsg. von F r a n z B l e i , München u. Lpz., 5 Bde. (1909—1913), vgl. Ausgabe von E r n s t L e w y , 4 Bde. (1909) u. öfter (1917). — 0. A n w a n d : Beiträge zum Studium der Gedichte von J. M. R. Lenz, München 1897. — K a r l W e i n h o l d (Herausg.): Gedichte von J. M. R. Lenz mit Benutzung d. Nachlasses . . . , Bln. 1891. — M a t v e j N i k a n r o v i c R o s a n o w : J. M. R. Lenz, der Dichter der Sturm- u. Drangperiode. Sein Leben u. seine Werke; dt. Ubersetzung durch C. v. G ü t s c h o w , Lpz. 1909 (immer noch grundlegend in seiner Gründlichkeit). — K. F r e y e u. W o l f g . S t a m m l e r : Briefe von u. an J. M. R. Lenz, 2 Bde., Lpz. 1918. — H. K i n d e r m a n n : J. M. R. Lenz u. d. deutsche Romantik, ein Kapitel aus der Entwicklungsgeschichte romantischen Wesens u. Schaffens, Wien u. Lpz. 1925. — Betr. d. „Anmerkungen" bes. Th. F r i e d r i c h : Die Anmerkungen übers Theater des Dichters J. M. R. Lenz (zugl. Neudruck), Probefahrten X I I I (1908). — Einbezogen i. d. allgem. Darstellung b.

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S i e g f r i e d M e l c h i n g e r : Dramaturgie des Sturmes u. Dranges, Gotha 1929. Die umfassende u. materialreiche Lenz-Monographie M. N. R o s a n o w s berücksichtigt erfreulich eingehend die Bestände der Kunsttheorie u. d. liter. Programmatik, so in Kap. V I (Theorie des Dramas u. Vorspiel in Frankreich in Kap. V ) ; dabei wird u. a. der Rückbezug auf Hans Sachs u. damit die nation. Tendenz hervorgehoben (S. 159). Die Bedeutungen der „Anmerkungen . . ." im Rahmen der „Poetik der Sturm- u. Drangperiode" arbeitet zudem das Schlußkap. (XVI) noch einmal heraus (S. 449f.), wobei Rosanow freilich die neuere Sekundärliter, noch nicht auswerten konnte. Auch das X . Kap. (Liter. Kämpfe) S. 268ff., kommt bes. f. d. liter. Programmatik („Pandaemonium Germanicum", aber auch „Briefe über die Moralität Werthers") in Betracht. Das ästhet. Verständnis f. d. künstl. Werte u. Darstellungsweisen der Werke dürfte dagegen jener Berücksichtigung der Kunsttheorie nicht ganz gleichkommen, um so weniger, als Inhaltsangaben überwiegen. — Weitere Sonderlit. wie: P. H e i n r i c h s d o r f f (1932), J. K a i s e r (1917) u. a. sind verzeichnet und verwertet worden von F. J. S c h n e i d e r : Geniezeit (1952); dort auch eingehende Lit.-Bezüge zu Fr. M. Klinger, S. 356/57. Eine wirklich zeitgemäße Lenz-Interpretation dürfte, soweit ich sehe (u. situationsbedingt sehen kann), fehlen. S. 408. L. S. M e r c i e r s S o n d e r a b h a n d l u n g . — Lenz versucht die grundlegende Bedeutung dieser Vorarbeit abzuschwächen durch den Hinweis darauf, daß seine „ A n merkungen . . . " schon zwei Jahre vor dem Erscheinen der „Blätter von deutscher A r t und K u n s t " u. d. „ G ö t z " in „einer Gesellschaft guter Freunde" vorgelesen worden seien. Lenz will sie aufgefaßt wissen als das „erste ungehemmte Räsonnement eines unparteiischen Dilettanten". Mercier wird an dieser Stelle nicht erwähnt. Vorausgeschickt sei, daß Mercier politisch weit fortschrittlicher wirkt als rein kunsttheoretisch. Daher mußten im darstellenden T e x t die aufklärerischen Hemmkräfte zur Geltung gebracht werden, soweit es um rein Kunsttheor. ging. Hier muß dagegen das Programmatische u. Propagandistische sein Recht finden. Berücksichtigt man, daß Lenz' „Anmerkungen nicht entfernt so politisch radikal wirken wie Merciers „Nouvel essai . . .", während L . sich sonst dem Fortschritt40 M a r k w a r d t , Poetik II

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lichen aufgeschlossen zeigt,so spricht manches für Lenz' Betonung der Unabhängigkeit der ursprüngl. Fassung seiner „Anmerkungen . . . " . Dabei ist zu beachten, daß Merciers Schrift i. d. Wagnerschen Übersetzung (oder mündlichen Vorformen d. Übersetzung) im Straßburger Kreise schon zugänglich war, bevor Lenz' „Anmerkungen" erschienen. Und L. konnte also nicht gut wiederholen, was dort vorher schon gesagt worden war. Trotzdem bleibt die Frage offen, warum denn Lenz jene Vorstöße nicht voll ausgewertet hat. Nicht zuletzt wohl deshalb, weil seine „Anmerkungen . . . " mehr auf die geniezeitgemäße Schöpfungsästhetik eingestellt waren, während Mercier (nicht zuletzt aus polit. Antrieben) streckenweise, u. zwar überwiegend auf die Wirkungsästhetik abzielte. L o u i s S é b a s t i a n M e r c i e r , der etwa zwei Jahrzehnte vor der franz. Revolution einen utopischen Zukunftsroman „Das Jahr 2440" („L'an deux mille quatre cent quarante") herausgebracht u. schon 1763 als Prof. d. Rhetorik in Bordeaux eine Akademierede mit bemerkenswerten Ansätzen zum Geniebegriff gehalten hatte (wobei die einschlägige Sonderforschung freilich teilweise übersieht, daßEdw. Youngs „Conjectures . . . " bereits 1759 vorangegangen waren), knüpft seinerseits z. T. an Diderot an, drängt aber im Weiterentwickeln des „bürgerlichen Schauspiels" über Diderot hinaus, dessen Forderung einer E i n b e z i e h u n g der B e r u f s - U m w e l t schon auf die aufklärerische Dramatik (z. B. Lessings „Minna") eingewirkt hatte. Mercier, der nicht zufällig den Ehrentitel (denn so faßte er es auf) eines „wahren Verkünders der Revolution" („le véritable prophète de la révolution") für sich in Anspruch nahm, arbeitete vor allem heraus: 1. den gesellschaftlichen Funktionswert des Dramas u. Theaters, 2. die Demokratisierung v. Drama u. Theater, 3. die entsprechende Vorrangstellung des bürgerlichen Dramas, auch über das sog. „genre sérieux" hinaus, 4. die kritische Abwehr des Klassizismus, 5. die Freiheit des Genies, um hier nur einiges Wesentliche hervorzuheben. Mercier versucht durch Theorie u. Praxis (eigene Tendenzstücke: Der Deserteur, Der falsche Freund, Der Karren des Essighändlers, dieses Werk von Labsin ins Russische übersetzt u. 1787 in Moskau wie überhaupt in Europa aufgeführt) eine beschleunigte Entwicklung zu erzwingen, ohne ein Genüge zu finden an der bereits von Diderot gewonnenen Position. Der Typus des Lenzschen

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Thesendramas dürfte auch von Merciers Praxis mancherlei Anregungen erfahren haben. — Frz. B l e i , Lenz-Ausg., Bd. I, Anm. S. 535ff. — M. N. R o s a n o w , Lenz-Monographie, Kap. V (Französ. Versuche zur Reform d. Lit.), S. I27ff., bes. 128—144. — J. S a n G i o r g i u : Sebastian Merciers dramaturgische Ideen im Sturm und Drang, Diss. Basel 1921; bislang leider wenig beachtet. S. 408. „ A r i s t o t e l i k e r " . — Die modernen „Herrn Aristoteliker" (bes. d. Franzosen) haben als peinlichen Ersatz für echte Charaktere eine Art von starrer Normen-Psychologie eingeführt, angesichts derer Lenz ärgerlich die Frage aufwirft: „wo bleibt aber da der Dichter?". — Die HalbCharaktere oder etikettierten Normen des franz. Dramas bleiben dergestalt (von der Sicht des Sturmes und Dranges aus) bloße Kompromisse, sind oft nichts weiter als „personifizierte Gemeinplätze", vielfach auch bloße Abklatschbilder vom Autor selber wie etwa Voltaires tolerante Freigeister. — Betr. der Ablehnung der „Basis seines kunstrichterlichen Gebäudes" (Aristoteles) u. des Zitates im darstell. Text, vgl. B l e i I, S. 237. Erst d. Gesamtüberblick über das jeweilige Verhältnis d. Poetiker zur Aristoteles-Autorität läßt erkennen, was ein derartig resoluter Vorstoß bedeutete. S. 409. H e l d u n d H a n d l u n g . — Im größeren Entwicklungszusammenhange von Charakterdrama u. Schicksalsdrama verdient diese Prägung vom Helden als Schlüssel des Schicksals bes. Hervorhebung, B l e i I, S. 254. Die werkimmanente Poetik freilich bekundet allenthalben in Lenz' Dramen (nicht nur. in „Die Freunde machen den Philosophen"), wie wenig der letztlich labilen Grundhaltung Lenz' diese theor. konzipierte Schicksalsüberlegenheit des „Helden" lag. Theoretisieren u. Produzieren gehen bei Lenz weniger konform als etwa bei Goethe oder Schiller. S. 410. S t e l l u n g zu den „ E i n h e i t e n " . — H e i n z K i n d e r m a n n : J. M. R. Lenz u. d. deutsche Romantik, ein Kapitel aus d. Entwicklungsgesch. romant. Wesens u. Schaffens, Wien u. Lpz. 1925, S. 117 f. — Kindermann hat den Einfluß Merciers recht wenig berücksichtigt, wo er von den „Anmerkungen . . . " Lenz' handelt, a . a . O . , S. 107—121. Wenn Kindermann nicht nur rhetor. bekundet, daß keine andere Schrift so sehr in die „geistige Struktur" Lenz' u. in seinen „Schaffensvorgang" hineinleuchtete wie eben 40

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die „Anmerkungen . . .", so hätte er sie wesentlich gründlicher behandeln müssen. Dankenswert ist dagegen Kindermanns Hinweis auf die Übersetzung Plautinischer Komödien als Bestätigung des gesellschaftskrit. Interesses Lenz' (a. a. 0., S. 123). Die Abwehr der „Einheiten", im Kunstgespräch der „Theatralischen Sendung" Goethes ablesbar, begegnet weiterhin bei Lavater u. a. S. 410. „ T u g e n d h a f t e r V e r b r e c h e r " . — In der Rezension des „Tugendhaften Verbrechers" (französ. Theaterstück) bezeichnet Lenz das „Vergnügen der Täuschung" geradezu als das „heiligste Grundgesetz aller Poeterei". Ein schlüssiger Beweis dafür, daß Joh. Elias Schlegels Teilgewinn unter der realistischen Neigung wieder verlorengegangen war. — Die Rez. findet sich bei F r z . B l e i IV, S. 256ff. Dort auch die zit. Wendung betr. einer Verinnerlichung des Einheitsbegriffs, IV, S. 259. S. 411. N a t u r n a c h a h m u n g . — Die Naturnachahmungslehre bzw. Mimesislehre u. Illusionstheorie wirkt außer i. d. erwähnten „Verbrecher"-Rez. noch nach in den „Anmerkungen übers Theater" selber. Immerhin soll dort die Poesie nur das wesenhaft „scharf Durchschaute" in getreuer Wiedergabe reproduzieren. Aber schon die Folgerung, daß jenes Wesen-Erkennen die „Poesie d. Sachen" (Gehalt) und die nachahmende Gestaltgebung die „Poesie des Stils" (Gestalt) ergebe, verrät, daß Lenz hier mit übernommenen u. ihm überkommenen älteren Theorien arbeitet. Und das ungeduldige „oder umgekehrt, wie ihr wollt" bestätigt vollends, daß L. derartige Einteilungsprinzipien nicht recht ernst (u. nur beiläufig am Wege mit-) nimmt. S. 411. R e a l i t ä t ( R e i c h t u m im C h a r a k t e r i s t i s c h e n ) . — Das Unschöne ist mutig einzubeziehen in die künstlerische Schöpfung. Der Dramatiker z. B. soll u. darf „unekel", d. h. im Sprachgebrauch der Zeit: nicht allzu wählerisch, nicht empfindlich sein bei seiner unbestechlichen Charakterisierungskunst; er darf also auch (gegebenenfalls) das „Unschöne" unbedenklich einbeziehen. In diesem Falle besteht eine Übereinstimmung von Theoretisieren u. Produzieren, von programmat. u. werkimmanenter Poetik. Denn gerade die werkimmanente Poetik bestätigt die Entfaltungsfülle des Charakteristischen, ob nun i. d. „Soldaten", im „Hofmeister", im „Neuen Menoza", in „Die

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Freunde machen den Philosophen" u. selbst i. d. „Sizilianischen Vesper". S. 411. „ P u l s der N a t u r " . — Ausgabe von F r a n z B l e i Bd. I, S. 241. — Das Vergleichsbild „Puls" begegnet auch beim jungen Schiller. S. 412. D a s C h a r a k t e r i s t i s c h e u n d d a s I d e a l i s c h e . — Letzten Endes wird dabei i. d. Sturm u. Drang nur das übertragen, was G. E. Lessing schon i. d. Vorrede zu Thomsons Trauerspielen ausgesprochen hatte. Der Begriff des „Idealischen" dürfte immerhin von Winckelmann her vertraut sein, aber er wird nicht als Forderung, sondern weit mehr als Herausforderung aufgegriffen (und angegriffen). Das Charakteristisch-Realistische gilt von vornherein als wertvoller, sowohl im Spiegel der werkimmanenten Poetik als auch in der formulierten Programmatik u. Poetik etwa der literatursatir. Komödie „Pandaemonium Germanicum". S. 412. „ S u b j e k t i v i s t i s c h e s W a h r h e i t s b i l d " . — H. K i n d e r m a n n a. a. 0., S. 116: „Also nur das subjektivistische Wahrheitsbild des Ich hat für Lenz Geltung"; vgl. auch a . a . O . , S. 141, 147 („Gegenwartsweltbild"), 207: „Subjektivierung des Weltbildes" u. a. m. S. 412. R e a l i s t i s c h e T ö n u n g . — Ob freilich mit der anschauenden Erkenntnis dasselbe gemeint ist wie in der philosoph. Poetik (Ästhetik) der Aufklärer u. bes. der Auflockerer unter den Aufklärern, bleibt einigermaßen unklar. Ebenso das andere: ob jenes Rückspiegeln und Aufs-Neue-Vergegenständlichen bereits über das Realistisch-Charakteristische hinaus — und auf den Typusbegriff (als latenten Ansatz zur Klassik) vorausweist. Das Zwischenglied würde ein „ideeller Realismus" bieten (daher der Unterscheidungsversuch „ideal-realistisch"). Über die Klassik hinweg deutet dieser Ansatz auf den Typusbegriff Otto Ludwigs (19. Jh.) voraus. Die werkimmanente Poetik läßt keinen Zweifel über diese realistische Triebkraft des Kunstwollens u. d. Darstellungsabsicht. Das „Romantische" bleibt Ansatz u. wird überschätzt sowohl bei H. K i n d e r m a n n als auch bei H. H ü c h t i n g : Die LiteraturSatire der Sturm- und Drang-Bewegung, Diss. Münster 1941. Denn die Position des „Romantischen" setzt in gewissem Grade die Opposition gegen das „Klassische" voraus, die damals bestenfalls in der Form einer Opposition gegen das Früh-Klassizistische der Aufklärung gegeben war.

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S. 413. „ Ü b e r G ö t z " u n d „ V e r ä n d e r u n g des T h e a t e r s " . — Ausgabe von F r a n z B l e i , Bd. IV, S. 222f. u. S. 254t. S. 414. W o h l g e f a l l e n am C h a r a k t e r i s t i s c h e n . — Gerade die dramat. Wirkungsform hat auf diese „Erregung des Interesses" hinzuarbeiten. Die Freude an d. Einprägsamkeit d. Charakteristischen spielt merklich hinein, da ausdrücklich betont wird, daß ohne die „Ausmalung gewisser Charaktere" jenes Interesse „nicht erhalten werden kann". Ob u. wieweit dabei Gedanken Chr. G a r v e s über das „Interessierende" nachwirken, bleibe dahingestellt. Aber man muß sich klar darüber sein, daß die Stürmer u. Dränger v. d. Auflockerern d. Aufklärung lernten, was sie nur irgendwie gebrauchen konnten. Auch die werkimmanente Poetik in Lenz' Dramen verrät diesen Hang zum „Interessierenden". Er bevorzugt die außerordentlichen Situationen u. Charaktere, um das „Interesse" zu wecken u. wachzuhalten. Es muß bei alledem bewußt gehalten werden, daß die Umschreibung des „Interessierenden" als „Wohlgefallen am Charakteristischen" eine tragfähige Brücke schlägt von der Kunsttheorie d. Aufklärung im engeren Sinne zu der Liter.-Programmatik des Sturmes u. Dranges. Die Sonderuntersuchung von H. R i c h t e r über J. G. Sulzers „Allg. Theorie d. schönen Künste", Diss.-Auszug i. d. Wiss. Zschr. d. Univ. Jena, Jg. 1952/53 glaubt etwas „Neues" zu entdecken, während sie in Wirklichkeit doch eben nur auf eine dieser Brücken stößt. S. 414. „ I n t e r e s s e " ; Ü b e r s t e i g e r u n g des I n t e r e s s a n t e n z u r „ S c h r u l l e " . — G e o r g L u k ä c s : Größe und Grenzen der deutschen Aufklärung, abgedr. i. d. Sammlung „Fortschritt und Reaktion in der deutschen Literatur" (Bln. 1950), spricht trotz Anerkennung Lenz' als des bedeutendsten Dramatikers neben Goethe und Schiller etwas übereilt von einer „aufgeregt-philiströsen, anspruchsvoll-sinnlosen Schrulle" (a. a. 0., S. 21) hinsichtlich der Tendenz-Thesen Lenz'. Dazu wäre, diesen Vorwurf abwehrend, zu sagen: sowohl die Problematik der Privaterziehung („Der Hofmeister oder Die Vorteile der Privaterziehung") als auch die Problematik der Ehelosigkeit der „Soldaten" berühren Brennpunkte des bürgerlichen Selbstbewußtseins im Zusammenstoß mit d. Adel: der Hofmeister einerseits u. die vom Adel verführte Bürgertochter andererseits versinnbildlichen gleichsam den Z u s a m m e n s t o ß v o n A d e l u.

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Bürgertum an jenen Stellen, die dem Bürger am unmittelbarsten fühlbar werden u. situationsgemäß fühlbar werden mußten. Das waren also z. T. schon von der Aufklärung erkannte Schulbeispiele (Nicolais „Nothanker"Roman, J. K. Wezeis „Hermann und Ulrike"-Roman) und keineswegs bloße „Schrullen". Und mögen diese Motive dem Modernen auch als bloße „Schrullen" erscheinen: dem Zeitgenossen waren das recht ernste Probleme. Eben deshalb nahm sie Lenz in Angriff. Es zeugt also vielmehr für die Wachheit Lenz', daß er und wenn er gerade diese Reibungsflächen als Motive bevorzugte. Wenn ein Dichter eine drastische selbstkritische Prägung für angebracht hält, so wie etwa auch Lessing mit Bezug auf den „Laokoon" (bzw. dessen geplante Fortsetzung) von einem „Kram" sprach, so darf ein Interpret derartige Wendungen nicht unbesehen übernehmen. Auch in dem Drama „Die Freunde machen den Philosophen" spielt Standesunterschied der Liebenden (Strephon-Seraphine) eine wesentliche Rolle. Durch das Individuell-Pathologische bei Lenz, das nicht rundweg geleugnet werden soll u. kann, leuchtet dergestalt das Gesellschaftlich-Pädagogische allenthalben hindurch. Auch die vermeintlichen Grillen u. Schrullen Lenz' haben ihrei Ursache in unzulänglichen Lebensverhältnissen. S. 416. Gesellschaftskrit. dramat. Satire; sozialkrit. Anklagedramatik. — Sie entfaltet sich freilich erst mit u. nach Lenz' Hauptwerken aus den Jahren 1774/75. Ansätze dazu sind erkennbar als „latente Anklage" in Lessings „Emilia Galotti" (1772) und im „Götz" (1771 und I 773). i a bereits in Helfrich Peter Sturz' „Julie" (1767), wo die Armut des Bewerbers eine wesentliche Rolle spielt, und in Gerstenbergs „Ugolino" (1768), dessen Vorfabel nicht von ungefähr mit Schillers „Fiesco" verwandt erscheint und wo gleichsam die Lehre der zeitparallelen „Hamburgischen Dramaturgie" vom Sich-Üben in der Fähigkeit und Fertigkeit, Mitleid zu haben und zu bewähren, an einem Musterfall demonstriert wird. Lessing hat freilich das Schuld-Sühne-Verhältnis bes. betr. d. Kinder Ugolinos als unvorteilhaft kritisiert; denn das bei Dante angedeutete Verschulden (Landesverrat Ugolinos) war bei Gerstenberg weitgehend fortgefallen, dergestalt, daß ein Mißverhältnis von Schuld und Sühne bestand; vgl. dazu die Motiv-Abwandlung bei Ph. L. Hahn (18. Jh.) u. Graf v. Schack (19. Jh.).

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Unter den frühen Stürmern und Drängern kommt weiterhin Joh. A n t o n L e i s e w i t z nicht nur mit den frauenrechtlerischen Einschlägen seines „Julius von Tarent" (Cäcilie: Anklage gegen die Ehe), sondern vor allem auch mit den dramat. Fragmenten „Die Pfändung" (religiöser Ansatz f. d. gesellschaftskrit. Anklage) sowie dem „Besuch um Mitternacht" (nationaler Ansatz f. d. Anklage, Polemik gegen die Maitressenwirtschaft) in Betracht; vgl. D L D d. 18. u. 19. Jh.s Nr. 32 (1889), S. 131 bzw. 133/34. Die Farben werden dabei fast noch greller aufgesetzt als in Lenz' Kurz-Drama „Die beiden Alten", das sich i. wesentl. mit einer Bloßstellung der Geldgier begnügt. Eher wäre an Lenz' Plautus-Übertragungen zu denken, wo die sozialkrit. Elemente merklich betont herausgestellt worden sind. Im übrigen stellt Lenz auch in den ausgeführten Dramen das Muster des sozialkrit. T h e s e n s t ü c k s auf, so etwa i. d. „Soldaten", wo u. a. Stolzius fast wie eine Vorstudie zu G. Büchners Woyzeck wirkt, oder im „Hofmeister", den nicht zufällig B. B r e c h t 1950 ungearbeitet hat (Polemik gegen Klopstock und Kant), so im „Neuen Menoza", wo Prinz Tandi recht eigentlich weit mehr als „reisend aus philosophischen Absichten" bezeichnet werden könnte, als Strephon in „Die Freunde machen den Philosophen", wo das Problem der Weltverbesserung kritisch belichtet wird nicht ohne Seitenhieb auf Wielands Fürsten-Erziehungsroman „Der Goldene Spiegel" (teilweiser Einbruch von Erziehungsskeptizismus i. d. Erziehungsoptimismus: EmirEpisode, Tifan-Handlung). — Weiterhin wäre H. L. Wagner heranzuziehen, bes. mit der „Reue nach der Tat", bis hin zur Vollendungsform des sozialkrit. Anklagedramas i. Schillers „Kabale u. Liebe" nach Vor-Ansätzen in den „Räubern". Einzelheiten bringt jenseits der Typenbildung, auf die es hier ankam, C l a r a S t o c k m e y e r : Soziale Probleme im Drama des Sturms und Drangs, Frankfurt a. M. 1922. S.418. Exkurs: werkimmanente Poetik.—Das Kunstwollen Lenz', soweit es aus der Kunstleistung ablesbar wird, zeigt die Neigung und Nötigung, vom Ästhetischen aus zur ethischen und sozialen Problemstellung vorzustoßen, z.T. ohne Rücksicht auf reine Schönheitswerte. Dabei erfolgt eine weitgehende Annäherung von Theorie und Praxis. Dennoch ist etwa die Theorie des Thesendramas nicht entfernt so klar herausgearbeitet worden wie die Praxis des „Thesen-

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stücks", das L. besonders instruktiv ausgeprägt hat. Denn nicht nur „Der Hofmeister" oder „Die Soldaten" verfechten eine bestimmte These; in gewissem Grade gilt das auch von dem „Neuen Menoza" oder „Die Freunde machen den Philosophen" und selbst von den „Catharina von Siena"Fragmenten. Gern gewinnt L. seine neue oder doch von ihm als neu erkannte und erlebte Position aus der Opposition : Opposition gegen die Privaterziehung (Hofmeister), Opposition gegen die Ehelosigkeit der Offiziere (Soldaten), Opposition gegen die Lenkbarkeit durch die Erwartung anderer, gegen die kampflose Anpassungswilligkeit (Die Freunde machen den Philosophen), Opposition gegen die Unselbständigkeit der Frau bes. in der Wahl des Ehepartners (Catharina von Siena-Fragmente). Als latente kompositionelle Forderung für die Personengruppierang ergibt sich dabei etwa folgendes: an der Z e n t r a l g e s t a l t wird die These anschaulich d e m o n s t r i e r t , von N e b e n g e s t a l t e n wird die These begrifflich f o r m u l i e r t (Marie Wesener bzw. Stolzius: Demonstration der These; Feldprediger Eisenhardt bzw. Obrist: Formulierung der These — Läuffer bzw. Gustchen: Demonstration der These; Geheimrat v. Berg: Formulierung der These). Was hier vereinfachend und also notwendig vergröbernd herausgestellt und bewußt gemacht erscheint, liegt dennoch unverkennbar als i n n e r e K o m p o s i t i o n s g e s e t z l i c h k e i t im Werke selber bereit. So labil und teilw. willensschwach L. als Mensch und z. T. auch als schaffender Künstler erscheinen mag, sein Kunstwollen ist durch eine dunkle, aber lebhafte Zielstrebigkeit (bei allen Schwankungen in den Einzelausprägungen) ausgezeichnet. Umstritten mag von mancher Seite werden, ob diese Thesengerechtheit den Kunstwert steigert oder schwächt, ob sie das Kunstwollen klärt oder das Kunstgewissen eintrübt, indem sie ihm andere Werte nicht nur einordnet, sondern teilweise auch als Leitmotiv überordnet. Bedenkt man, daß L. auch programmatisch sich das Ziel gesetzt hatte, „ein Maler der menschlichen Gesellschaft" zu sein oder doch zu werden (Pandaemonium Germanicum), wie denn die Selbstrezension mit Bezug auf das „Menoza"Drama definiert: „Komödie ist Gemälde der menschlichen Gesellschaft", (vgl. H. Kindermann a. a. O., S. 175 u. Werke II S. 334) so wird die Nähe von Theorie und Praxis auch von dieser Seite her sichtbar. Dagegen ist die dort (im „Pand.Germ.") vertretene Anschauung von den Überlebens-

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großen Gestalten nicht so voll ausgebildet worden ; denn L.' Dramen streben weit mehr der echten Vielfalt des Lebens als der lauten Größe des Strebens zu. Demgemäß besteht z.T. eine Diskrepanz von Theoretisieren u. Produzieren bei J. M. R. Lenz, die dem Zwiespalt seiner in sich gebrochenen Persönlichkeit durchaus entspricht. Schon das stichworthaft eben Angedeutete widerlegt die gelegentlich begegnende Auffassung, als könne von einem eigenständigen und eigenwertigen Kunstwollen bei L. gar nicht gesprochen werden, sondern bestenfalls von einem Nacheifern (wenn nicht gar Nachahmen) Goethes. Im „Pand. Germ." hat L. selber recht gut teils demonstriert, teils formuliert, was ihn von Goethe abhebt trotz allen Wetteifers im künstlerischen Streben. Aber noch mehr als in seiner gesondert als Kunstbewußtsein hervortretenden und programmatisch formulierten Poetik setzt sich jenes Eigene durch in seiner werkimmanenten (künstlerisch gestalteten) Poetik, mögen auch Anregungen von Diderot, Mercier und anderen (natürlich auch von Goethe, aber von ihm weniger hinsichtlich des Dramas als der Lyrik) ausgegangen sein. Wieweit manche Übersteigerung des Grotesken schon ins Pathologische hinüberschwingt, kann hier nicht im einzelnen entschieden werden. Doch mahnt der Vergleichsblick auf andere Stürmer und Dränger in diesem Betracht zur Vorsicht gegenüber einem Vorurteil, das vom Biographischen her allzu leicht sich aufdrängt. Die Bewußtheit des Kunstwollens, bes. im Thesendrama, tritt u. a. zutage in der Umschreibung der Kunstleistung als eines „Experiments", so erkannt u. in Zukunftsbezug gesetzt zu Émile Zola von F. J. S c h n e i d e r : Geniezeit (1952), S. 210. — Zukunftsbezug hat auch der Typusbegriff (Klassik u. bes. O. Ludwig), und zwar auch hinsichtlich der satirischen Steigerungsform der Karikatur. S. 418. Joh. Caspar Lavater. — C h r i s t i a n J a n e n t z k y : J. C. Lavaters Sturm u. Drang im Zusammenhang seines religiösen Bewußtseins, Halle 1916. Chr. J a n e n t z k y : Joh. Caspar Lavater = Die Schweiz im dt. Geistesleben, Nr. 53, Frauenfeld u. Lpz.,o. J. (1928). — H a n s S c h n o r f : Sturm u. Drang i. d. Schweiz, Zürich 1914. — G. B o ß : Goethe u. Lavater i. d. Werdezeit ihrer Freundschaft, Diss. (Masch.) Erlangen 1920. — P a u l W e r n l e : Der schweizerische Protestantismus im 18. Jh. (1923t.), Bd. III. — Chr. J a n e n t z k y stellt das „Erlebnis des Irrationalen"

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sehr betont heraus, ohne den realen Bezügen, die freilich weit schwächer ausgeprägt erscheinen als etwa bei J. G. Hamann, die aber dennoch vorhanden sind, gerecht zu werden. Chr. J. stellt L. zwischen die Einflußgruppen: Shaftesbury, Leibniz, Pope u. die „Gegenwartsströmung": Swift, Mandeville, Voltaire, Hogarth, die indessen nicht zur vollen Einwirkung u. Auswirkung gelangt, dergestalt, daß der Optimismus Leibniz' überwiegt, soweit bei J. C. Lavater neben den weit überwiegenden christl.-religiösen Kräften philosophische überhaupt zur Geltung gelangen. Das nationale Element schafft sich neben dem religiösen einen gewissen Entfaltungsraum i. d. „Schweizerliedern" (1767), aber nur vorübergehend (späteres Abrücken von dieser national. Tendenz). Das Künstlerische war für L. nicht Eigenwert, sondern nur Beziehungswert des Ästhetischen. Und mit einer weitgehenden Berechtigung wird die Verlagerung aufklärerischer Eindrücke u. Einbrüche i. d. Frühzeit L.s auf die tragende Schicht des C h r i s t l . R e l i g i ö s e n umschrieben mit der Analogie-Bildung: so wie die bestehende Welt die beste der möglichen Welten darstellt, so stellt das Christentum die beste der möglichen Religionen dar. Auch die werkimmanente Poetik, soweit von einer solchen angesichts der geringfügigen (u. geringwertigen) dichterischen Produktion L.s überhaupt die Rede sein kann, rechtfertigt Chr. J a n e n t z k y s Leitsatz: „Lavater blieb als Dichter stets Prediger und Seelsorger", a. a. 0. (1928), S. 74. Immerhin darf Goethes Anteilnehmen für L. nicht aus dem Blickfeld der krit. Bewertung verloren gehen. Freilich verehrte der „Augenmensch" Goethe in Lavaters „Physiognomik" weit mehr das Sehen als den „Seher", u. vom „Propheten" hebt sich das „Weltkind" nicht nur im Scherz, sondern auch ernsthaft ab. Eine gewisse Sichtfreude ist bei alledem jedoch auch L. nicht abzusprechen, dessen Sehertum irgendwie (und spürbar) doch mit dem Streben nach innerer u. äußerer V e r a n s c h a u l i c h u n g verschmolzen war. Aber seine ästhet. Ansichten u. Einsichten wurden zuletzt doch immer „Aussichten in die Ewigkeit" (Titel eines Werkes v. 1768—78). Sein Individualismus greift selbst in die Jenseitsvorstellung über. Ansätze einer' geniezeitgemäßen Sprachauffassung (das, was hinter dem Wort wirkt, vgl. Herder) werden mit Recht abgehoben von der auf klär. „Zeichenlehre", a . a . O . , S.47/48, O . W a l z e l : Grenzen von Poesie

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u. Unpoesie (1937) übersieht das. Auf Bonnet reagiert L. wesentlich anders als etwa Wieland. J. C. L a v a t e r kommt bei 0. W a l z e l noch weniger zu seinem Recht als J. G. H e r d e r , man kann dem Irrationalen (so sehr es G. L u k á c s grundsätzlich bekämpft u. von seinem weltanschaul. Standort aus bekämpfen muß) eben doch nicht beikommen mit einer letztlich rational. Transponierung. Klarer sieht die Zusammenhänge P a u l M e n z e r : Klopstock u. Lavater . . ., Wiss. Zschr. d. Univ. Halle, Jg. 1954/55. S. 418. R e l i g i ö s e r I m p u l s . — Chr. J a n e n t z k y legt besonderen Wert auf die protestantische Ausprägung dieses grundlegenden christl. Gefühls, a. a. 0., S. 6; den christl.religiösen Antrieb hebt auch hervor P a u l M e n z e r : Klopstock u. Lavater . . ., Wiss. Zschr. d. Univ. Halle, Jg. 1954/55, S. 439; dort auch einige Andeutungen über Lavaters reichlich dunkle Dramen-Theorie, S.440/41: „Pontius Pilatus oder von dem Dramatischen der biblischen Geschichten" (1781—85). S. 418. P h y s i o g n o m i s c h e F r a g m e n t e . — Auch Chr. J a n e n t z k y sieht vor allem i. d. vier Bänden der „Physiognom. Fragmente" die aktive Fühlung Lavaters mit dem Sturm u. Drang, a. a. O., S. 5 u. a. Doch knüpft sich daran nicht allein die Beziehung zu Goethe, sondern auch die zu Fr. Nicolai. S. 422. J . W H h . H e l n s e . — Die Belegstellen beziehen sich auf: Wilhelm Heinses sämtl. Werke, hrsg. von C a r l S c h ü d d e k o p f , Lpz. 1913—1924. — G e o r g S t e f a n s k y : Theorie des Paradoxen, eine bisher imbekannte Schrift Wilh. Heinses, in: Euphorion Jg. X X V (1924), S. 379—89; G. Stefansky nimmt eine Einwirkung auf Fr. Schlegel (Romantik) an. Doch sei vorsorglich hingewiesen auf die Problematik eines Nachweises von unmittelbaren Einwirkungen d. Sturmes u. Dranges auf die Romantik (etwa auch in betreffs Hamanns oder Lavaters u. a.). — W a l t h e r B r e c h t : Heinse u. d. ästhetische Immoralismus, zur Geschichte der italienischen Renaissance in Deutschland, Bln. 1911. — W. Heinses entwicklungsgeschichtl. Bedeutung innerhalb der K u n s t k r i t i k (bild. Kunst u. .Musik) ist weder von der im Kunstwerk (u. dessen Kunstgesprächen) formulierten Poetik, noch von der im Kunstwerk gesetzmäßig verwirklichten, also der werkimmanenten Poetik, hinreichend gewürdigt worden trotz gewisser Ansätze i. d. Sekundärliteratur.

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S. 422. J u g e n d s c h r i f t e n ; U n t e r s c h ä t z u n g k u n s t t h e o r e t . Ä u ß e r u n g e n d. F r ü h z e i t . — Die Dissertation A r t h u r S c h u r i g s : Der junge Heinse u. s. Entwicklung bis 1774, Lpz. 1910, die frühere Sonderforschungen wie die E m i l U t i t z : J. W. Heinse u. d. Ästhetik zur Zeit d. dt. Aufklärung, Halle 1906 u. andere von R e u ß u. K. D. J e s s e n bereits einbezieht, vertritt diese irrige Auffassung u. zeigt überhaupt wenig Spürsinn für die zeittypischen Elemente der Frühzeit Wilh. Heinses. S. 423. E r s t e S p u r e n . — Noch nicht das bekannte Gedicht „Empfindungen, in einem einsamen entzückenden Tal im Mai 1766 niedergeschrieben von einem Jünglinge" prägt derartige fortschrittliche Züge aus, wenngleich sich die „Anakreon, die Homere" bereits die Nachbarschaft eines Edw. Young gefallen lassen müssen: „Young und Plato, eurer Schwärmerey / Stimmet man nur mit dem Munde bey!". — Anakreontisch tändelnd u. rokokohaft bzw. Wielandisch wirken noch diese Verse, obgleich der Einbruch des Todesproblems in seiner ganzen Art fast schon mehr auf die Anthologie-Gedichte vorausdeutet als auf Höltys gedämpftere Kirchhofsstimmungen in dessen Elegien. S. 424. A n p a s s u n g an die f r a u l i c h e W e s e n s a r t . — Die „zärteren und feineren Nerven" der Frauen, die über ein „feineres Gefühl" verfügen u. d. dergestalt der Erschütterung zugänglicher sind, werden f. d. ästhet. Aufnahmefunktion mehr als für den eigentlichen Produktionsvorgang berücksichtigt. Trotz des psycho-physiologischen Ansatzes wacht W. Heinses idealer Aufschwungswille über das Bewahren der menschlichen Würde, die durch Mächte u. Übermächte wie Liebe oder Kunst über das nur Tierische zum wahrhaft Menschlichen sich zu erheben hat (Ansatz zur Humanitätsidee d. Klassik). Schon der Aufsatz „Vom Jagdgedichte" war gerade in der Liebesvorstellung von dem offenbar einseitig gedeuteten J. J. Rousseau insofern abgerückt nach der idealischen Seite hin, als echte Liebe „nicht bloß tierisch, Rousseauisch!", sondern „menschlich", und zwar „halb platonisch und halb tierisch" sich beweisen sollte. S. 425. G e n i e b e g r i f f . — Werke I, S. 215, 260/61. S. 425. B a r o c k p o e t i k . — Vgl. Bd. I dieser Darstellung, system. Register.

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S. 427. A b r ü c k e n v o m N a t u r k u l t u s ( I d e a l i s i e r e n d e H a l tung). — Vielleicht noch straffer sprechen die bei allem Realismus erkennbaren idealisierenden Teiltendenzen grundsätzliche Prägungen aus, wie etwa: „Gedicht ist ein Gesicht eines aus der Wirklichkeit entrückten Menschen . . . , wobei ihn sein Geist wie eine Gottheit erleuchtet. Poesie hat bloß (!) mit dem Unsichtbaren zu tun" (Werke, VIII, 1, S. 124). Von hier aus wird denn auch fast schon im romantischen Sinne die enge Verbundenheit der Dichtkunst mit der Religion einerseits u. d. Musik andererseits erläutert. Diejenige Dichtung wird vom berauschten Schönheitskultus für vorzüglich schön erklärt, „die einer heiligen Trunkenheit gleicht", vgl. die Aphorismen „Aus Düsseldorf 1774—80". — Das Bedürfnis, ja das Streben nach einer Steigerung in das „Rauschhafte" bietet bei allen weltanschaulichen Gegensätzen dennoch gewisse extreme Berührungen zwischen Klopstock u. W. Heinse. Der ästhetische Moralismus (Klopstock) u. d. ästhetische Immoralismus (W. Heinse) berühren sich indessen nur in den Extremen. S. 427. W i r k l i c h k e i t s n ä h e . — Werke III, 2 S. 466, 471; wiederum berühren sich die Extreme; in diesem Falle etwa Hamann—Heinse. Die Wirklichkeitsnähe Hamanns transponiert das Mystisch-Magische ins Reale; die Wirklichkeitsnähe W. Heinses transponiert das Reale ins Ästhetische u. Heidnische. S. 429. D i e n e u e n I d e e n . — Werke VIII, 2, S. 215. S. 429. W. B r e c h t . — W a l t e r B r e c h t : Heinse u. d. ästhet. Immoralismus, Bln. 1911. Mit d. ästhet. Immoralismus ist nicht nur ein Schlagwort gefunden worden, sondern ein Schlüssel zum Wesen u. auch z. künstler. Wirken W. Heinses. S. 431. K r i t i k v. Moli6res „ T a r t u f f e " . — Werke VIII, 3, S. 79 f. S. 431. T e n d e n z e n d. G e n i e b e w e g u n g . — Darunter auch die Berücksichtigung des Unschönen (trotz d. „Ästhetizismus"). Dem entsprechend ist es „einem Genie also erlaubt, alles zu beschreiben u. zu malen, was geschehen ist u. geschehen sein kann (Einschlag älterer Lehren der Poetik). Es ist ihm erlaubt, die schönsten und häßlichsten Handlungen und Gedanken der Menschen in den ausdrückendsten Worten zu erzählen und zu malen (Lenz: „Maler der menschlichen Gesellschaft", Gerstenberg:

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„Bild der sittlichen Natur", „Charakterstück"). Nur allein dann ist er strafbar, wenn er „die abscheulichsten Laster als gute Handlungen anpreiset" (Werke II, S. 11/12). Und nicht darauf braucht der schaffende Künstler ängstlich Rücksicht zu nehmen, ob etwa „ein Narr oder Geck Gift für seines Geistleins Seligkeit" aus kühneren Dichtungen ziehen könnte. Die ästhetische Würde steht über dem ethischen Wert. S. 432. E r g ä n z u n g . — Wilh. Heinse als einer der frühesten Interpreten der Werke d. bildenden Kunst (eingehende Analysen) hat neben sich in gewissem Grade J o h . H e i n r . . M e r c k anzuerkennen, wie die von C. H. S c h r ä d e r besorgte Sammlung der „Essais" Mercks (Mainz 1947) leicht überblickbar erkennen läßt. Die innige Beziehung Merck— Goethe bestätigt sich also auch von dieser Seite her. Schon rein stofflich bietet W. Heinse dergestalt deutliche Ansätze f. d. Klassik, wie er andererseits Ansätze f. d. Romantik (Musik-Interpretation) aufweist, ganz abgesehen von dem in seiner werkimmanenten Poetik allenthalben spürbaren Stimmungsvirtuosentum. S. 433. G. A. Bürger. — Die Belegstellenangaben beziehen sich auf: G. A. Bürgers sämtl. Werke, hrsg. von W o l f g a n g v. W u r z b a c h (Hesse) I902f. S-433- „ W i e d e r in d e n S p i n n s t u b e n g e s u n g e n " . — Dieser Wunsch klingt bei Bürger weit echter u. glaubhafter als etwa Gleims Wunsch mehr geziert-eitler Art, daß seine komischen Romanzen (1756) von echten Bänkelsängern übernommen werden möchten, ein Hinweis Gleims, den z. B. F r . B r ü g g e m a n n viel zu ernst u. nun vollends zum Anlaß nimmt, A l b e r t K ö s t e r s einfühlsamere Deutung zu widerlegen, indem Brüggemann die fraglos weitgehende u. überwiegende Ironisierung des volkstümlichen Bänkelgesanges durch die frühen Romanzen-Dichter der Aufklärung abzuleugnen sucht. Bürger hatte wirklich vor, für das Volk zu dichten, Gleim war sich nur so vorgekommen, „als ob" er für das Volk zu dichten das Zeug hätte. Der Als-Ob-Natürlichkeit seiner Briefe entsprach die Als-Ob-Volkstümlichkeit seiner Romanzen u. Lieder. Eine nähere Kenntnis der zeitgenöss. Theorie d. komisch. Romanze hätte Fr. Brüggemann davor bewahren können, allzuviel Ernsthaftigkeit in die überwiegend „komische" Romanze hineinzudeuten.

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S. 434. J o h a n n e s S c h l a f . — Im Bemühen um eine letzte Konsequenz im sog. „konsequenten Realismus" (Naturalismus) fordert Joh. S c h l a f einen bedingungslos naturechten u. redegerechten Dialog mit starker Berücksichtigung des stummen Spieles, der Sprechpausen, der Naturlaute u. Begleitgeräusche. Er geht darin zum mindesten als Dramentheoretiker über Arno Holz hinaus. S. 434. J a n e n t z k y . — C h r i s t a n J a n e n t z k y : G. A. Bürgers Ästhetik, Forschungen z. n. Liter.-Gesch., Bln. 1909. Im Gesamt seiner Einstellung dürfte J. C. Lavater (s. d.) Chr. Janentzky weit gemäßer sein als G. A. Bürger. Um so anerkennenswerter ist seine liebevolle u. klare Darstellung, die ihn freilich des öfteren vor der letzten Entscheidung ausweichen läßt. G. A. Bürgers „Ästhetik" ist eben doch nicht seine entwicklungsgeschichtlich allein bedeutsame geniezeitgemäße u. „volksmäßige" Programmatik. S. 439. G ö t t i n g e r D o z e n t . — G. A. Bürger hält Vorlesungen über Ästhetik im Sommer-Sem. 1788 u. i. Winter-Sem. 1889/90, die indessen wenig original sind u. sich vorwiegend stützen auf E b e r h a r d s „Theorie der schönen Wissenschaften" (1783) u. E s c h e n b u r g s „Entwurf einer Theorie u. Literatur der schönen Wissenschaften" (1783). Und wenn R e i n h a r d als gewiß gutgemeinte Ergänzung zu Bürgers Werken dessen „Ästhetische Schriften" (Bln. 1832) u. das sog. „Lehrbuch der Ästhetik" herausbrachte, so wäre dieser Eifer des Herausgebers schwerlich von G. A. Bürger selbst gutgeheißen worden. Denn was dort mit merklicher Hast für Vorlesungszwecke zusammengetragen wurde, vermittelte durchweg ältere, teilweise damals schon überholte Anschauungen G. A. Baumgartens, G. Fr. Meiers, M. Mendelssohns, Fr. Justus Riedels, J. J. Eberhards, J. J. Eschenburgs, J. Ul. Königs, G. Sulzers, K. H. Heydenreichs u. a., ohne daß G. A. Bürger überall Zeit gefunden u. Gelegenheit genommen hätte, den bereits inzwischen von ihm selbst gewonnenen Neuerwerb — aber etwa auch Lessings Korrektur der franz. klassiz. Zweckbestimmung der Tragödie — mit hineinzuverarbeiten. Kaum, daß gelegentlich die Behauptung Eschenburgs über die Beliebtheit des Hexameters im Deutschen (der „unserer Nation allgemein der liebste sei") Abwehr erfährt u. bei der R o m a n z e n f o r m der eigene selbstkritische Gedanke sich Geltung verschafft in der Fülle einer bloßen Stoff- u. Belegvermittlung, der Gedanke nämlich, daß die Romanzen-

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form nur recht bedingt rein lyrische Ausdrucksmöglichkeiten zu bieten vermöge u. überwiegend episch-dramatisch eingestellt sei (wobei mehr die Ballade als die eigentliche Romanze gemeint sein dürfte). Insofern könnte sich E r n s t H i r t : Das Formgesetz der epischen, dramatischen u. lyrischen Dichtung, Lpz. u. Bln. 1923, auf Bürger berufen. S. 439. „ V o l k s p o e s i e " . — Die bekannte Prägung über das Volksmäßigsein-Sollen aller Poesie findet sich nicht i. d. „Herzensausguß", sondern als betonter Schlußsatz in den mehr aphoristisch gehaltenen Notizen „ V o n der Popularität der Poesie", W u r z b a c h III, S. 20, die im darstellenden Text zitierte Variante „darstellende Bildnerei" bei W u r z b a c h III, S. 151. In beiden Fällen aber wird Volk u. „Pöbel" betont unterschieden: „Unter Volk verstehe ich nicht Pöbel". Die Wortbedeutung „Pöbel" im 18. Jh. scheint aber Schwankungen unterworfen zu sein (in allen Ständen gibt es „Pöbel". Belege für eine nicht an den Stand gebundene Bedeutung des Wortes „Pöbel" finden sich u. a. bei Lessing, aber auch schon beim jg. Wieland i. d. „Ankündigung einer Dunciade f. d. Deutschen" [1755], vgl. Fr. S e n g l e : Wieland, Stuttgart 1949, S. 83) u. ist m. W. bislang nicht eindeutig erhellt worden. — Bürger setzt in der Kunsttheorie nicht einfach Natur u. Volk gleich; vielmehr kombiniert er Natur mit Geschmack, wobei Natur gleichsam als „monarchisch", der Geschmack dagegen als „demokratisch" (aus vielen Stimmen zusammengesetzt, kein Dauerwert wie die Natur) umschrieben wird: „Natur u. Geschmack sind die Gesetzgeber in der Poesie", W u r z b a c h III, S. 16. S. 440. A b w e h r der p h i l o s o p h . P o e t i k . — G. A. Bürger bestätigt die schon vermerkte Neigung der geniezeitgemäßen Programmatik, der angewandten (weil anwendbaren) Poetik mehr Geltungsrecht einzuräumen als der „reinen" philosophischen Poetik. B. polemisiert dagegen, ja er spottet darüber, daß die vornehm philosophisch aufgemachten Theoretiker sich selten „zur Anwendung auf das Besondere u. Einzelne" herablassen, „vermutlich um die Unbrauchbarkeit ihrer Theoreme nicht zu verraten". Gerade aber für die „Kritik des Kleinen u. Einzelnen in Ansehung der Diktion, des Verses u. des Reimes" müssen die werdenden Dichter dankbar sein, da ihnen — wie B. es einmal umschreibt — „gleichsam eine Stimmflöte" 41 M a r k w a r d t , Poetik I {

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geboten werde, „wonach sie ihre oft so unreinen Instrumente stimmen könnten" (III, S. 91). — Das starke metrische Interesse hindert B. indessen nicht, sich im „Hübnerus redivivus" mit J o h . H ü b n e r s „Praktischem Handbuch, d. i. ein vollständiges Reimregister . . . " (1696, noch 1743 als „Neu vermehrtes praktisches Handbuch" erschienen!) kritisch auseinanderzusetzen. — Noch F r . S c h i l l e r steht der bloßen Kunstphilosophie recht skeptisch gegenüber; und zwar nicht nur im Entwicklungsraume des Sturmes u. Dranges, in dem durchweg der Einzelhinweis der krit. Kunsttheorie höher bewertet wurde als das von der Aufklärung so heiß umstrittene u. so sehnsüchtig umworbene „Gesetz", sondern auch noch später, so etwa im Briefe an Wilh. v. Humboldt (27. Juni 1798). S. 444. Christoph Kaufmann. — W e r n e r M i l c h : Chr.Kaufmann, Frauenfeld/Lpz. 1932. Lavaters Beziehung zu Chr. K a u f mann berührt freilich nur beiläufig P a u l M e n z e r : Klopstock u. Lavater in ihrem Einfluß auf die Sturm- u. Drangperiode, in Zschr. d. Univ. Halle, Jg. IV (1954/55), S. 439. S. 446. Chr. Fr. Daniel Schubart. — S. N e s t r i e p k e : Schubart als Dichter (1910). — K o n r a d G a i s e r : Chr. Fr. Daniel Schubart, Schicksal, Zeitbild, ausgewählte Schriften, Stuttgart 1929. — Insgesamt hat Schubart bislang keinen verständniswilligen Interpreten gefunden; denn auch K . Gaiser wird Schubart schwerlich gerecht, wenn er ihn im wesentlichen als bloßen Mittler zwischen der großen dt. Lit. u. Schwaben betrachtet u. einstuft (K. Gaiser, S. 108). Gewisse Ansätze zu einer werkimmanenten Poetik sind zu verzeichnen, a. a. O., S. 1 1 3 — 1 1 9 ; aber mehr im Sinne einer bloßen Charakteristik des Dichters, wobei der Zwiespalt zwischen dem Derb-Volkstümlichen einerseits u. d. Forciert-Pathetischen andererseits immerhin einiges Wesentliche andeutet wie auch die Unrast, die zu größeren Werken nicht ausreicht. Der „Ideendrang", den Schubart u. a. an Herder begrüßt (m. Bezug auf „Auch eine Philosophie der Gesch. z. Bildg. d. Menschheit") Dt. Chronik 1775, 36. Stück, untersteht bei ihm selbst nicht der werkvollendenden Bändigung. Aber es ist rührend zu beobachten, wie gern Schubart seinem „Landsmann" Wieland das Verlegen eines Romanschauplatzes auf den deutschen Boden zuschreiben möchte, obwohl der betreffende Roman „Tobias Knant" (1773) in Wirklichkeit

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von J. K . W e z e l herrührte (die Vorrede war mit W . . . 1 unterzeichnet). Dennoch übersieht der Rezensent Sch. nicht Wielands Schwächen; worunter er kennzeichnenderweise die „Menge eingestreuter Reflexionen" rechnet, vgl. K . Gaiser, S. 180/81. Ergänzendes erwarte ich von der Untersuchung eines meiner Hilfs-Assistenten üb. den Publizisten Chr. Fr. Daniel Schubart. — Zur Sprache Schubarts vgl. W i l h . F e l d m a n n : Chr. Schubarts Sprache, in Zschr. f. dt. Wortforschg. Jg. 11 (1909), S. 97—149 (beschränkt auf Zusstellg. d. Wortbestandes, darunter „Geistschöpfer" S. 110). S. 446. F ä h i g k e i t z u r K r i t i k . — Sch.s „Memento mori für die Krittler" berücksichtigt verhältnismäßig stark das erzieherische Element der Kritik neben der Frage des rechten Verstehens u. neben der Würdigung des Kreises, für den der Verfasser geschrieben habe. Die krit. Erziehung hat ausgleichend zu wirken: Ermutigung des bescheidenen Anfängers einerseits u. Vernichtung („den wirf, bis er liegt!") des Anmaßenden andererseits: „ N u r Demut verdient Schonung; Arroganz aber Wurf und T o d " . Im übrigen überläßt Sch. „das meiste der richtenden Zeit" (K. Gaiser S. 196/98). S. 447. R e z e n s i o n v o n „ G ö t t e r , H e l d e n u. W i e l a n d " . — Dt. Chronik 1774, 19. Stück. Die Voreingenommenheit für seinen „Landsmann" Wieland läßt Sch. die künstlerische Leistung des „Götz"-Verfassers zwar nicht verkennen, aber die polemische Stoßrichtung doch bedauern; vgl. K . Gaiser S. 207/08. S. 448. S c h w ä b i s c h e B a u e r n l i e d e r . — Die Möglichkeit zur sozialkrit. Anklage, die Sch. sonst etwa in der „Fürstengruft" oder dem „Bettelsoldaten" auszuwerten versteht, tritt hier erstaunlich zurück. Auf die Rückbeziehung des „Bettelsoldaten" auf Volkslied u. Volksballade sei hingewiesen. S. 448. G e n i e - V o r s t e l l u n g . — E s ist bemerkenswert, daß Sch. von Genie-Sein, nicht von Genie-Haben spricht; vgl. K . Gaiser S. 204/05. S. 451. Schiller. — Zit. wird nach d. Säkularausgabe; deren Mängel gegenüber d. immer noch unentbehrlichen Goedeke-Ausgabe fallen f. d. kunsttheor. Abhandlungen weniger ins Gewicht als etwa f. d. Lyrik. — Die auf 33 Bde angelegte National-Ausgabe, hrsg. v. J . P e t e r s e n u . a . liegt bislang nur in Ansätzen vor. Selbst i. d. Anmerkungen kann 41"

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leider nicht erfaßt werden, was in einem Teil Deutschlands geschieht u. geschehen ist, der uns schwer zugänglich ist. S. 452. „ S c h a u s t e l l u n g n a t ü r l i c h e r G r ö ß e " . — H. O e r t e l : Schillers Theorie der Tragödie, Diss. Lpz., gedr. Dresden 1934, S. 39. Dort nähere Ausführungen üb. d. Wirkungsziel „Bewunderung d. natürl. Größe" in Abhebung von G. E . Lessing, a. a.O., S. i 7 f f . — H. O e r t e l trägt manches nach von dem, was H. A. K o r f f i. Bd. I d. „Geistes d. Goethezeit" (u. auch in dessen neuer Ausgabe v. 1954) noch unerörtert lassen mußte; dergestalt ergänzt der Schüler stofflich recht glücklich den Meister. S. 453. G r ö ß e n s e h n s u c h t . — A b e l s Akademierede von 1776 über d. Entstehung u. d. Merkmale d. „großen Geister", die das rechte Verhältnis von genialer Begnadung u. kunsttechnischer bzw. allgem. „Erziehung" situationsgemäß und berufsgerecht abwägt u. unter den Merkmalen d. Genies u. a. Leidenschaft, Lebhaftigkeit (Wurzelschicht: G. A. Baumgarten), Schnelligkeit (Spontaneität d. intuitiven Impulses), das Besessensein (schöpferische Konzentration usw.) hervorhebt, hat fraglos d. jg. Sch. ermutigt u. ermächtigt, das formsetzend zu gewinnen, was er ideologisch wagte. Doch ist billigerweise zu berücksichtigen, daß damals (1776) der programmat. Inhalt u. stimmungsmäßige Gehalt d. Rede zum weitaus größten Teil notwendig e k l e k t i s c h erscheinen muß. R. B u c h w a l d : Schiller Insel-Verlag, Lpz. 1937, Bd. I, S. 192f., der die Fragestellung „Werden große Geister geboren oder erzogen, und welches sind die Merkmale derselbigen?" aufgreift, aber kaum zeitgeschl. erfaßt, übersieht das nicht unbedingt, unterschätzt aber den Grad der A b h ä n g i g k e i t A b e l s v . d. damals bereits landläufigen Ideen. Gibt es doch kaum einen einzigen Punkt in Abels Rede, der nicht auch vorher schon ins Blickfeld d. kunsttheor. Betrachtung gerückt worden wäre. R e i n h a r d B u c h w a l d verkennt, daß d. Sturm u. Drang bereits vor dem Nachzügler Schiller, der freilich zum dramat. Vollender wurde, kein Genüge gefunden hatte an der zwar verläßlichen, aber umständlichen u. langwierigen „Erziehung" einer überdurchschnittlichen Kunstleistung, daß schon ein G. Hamann, zeitnah dem Auslandseinfluß Ed. Youngs, die Kraftquelle der „Leidenschaft" den Primat eingeräumt hatte gegenüber einer methodischen „Erziehung", die dem Sturm u. Drang zu langsam vorwärtsschritt, um die „Schnelligkeit" des ge-

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borenen „ G e n i e s " einzuholen, das über den „Schöpfungsg e i s t " verfügte. A u c h die „ K r ü c k e n " Y o u n g s f e h l e n in dieser Rede A b e l s nicht, die sich damals und damit als durchaus z e i t g e m ä ß kennzeichnet. U n d schon klingt der Begriff des „ N a i v e n " vor, wenn es in dieser denkwürdigen, aber k e i n e s w e g s o r i g i n a l e n Rede des Akademielehrers A b e l heißt: „ N a i v m u ß jedes wahre Genie sein, oder es ist k e i n s " (vgl. R . B u c h w a l d : Schiller I, S. 197). Abels Rede von 1776 erleichterte Schiller den Z u g a n g zu zeitgenössischen Leitideen, indessen nicht weil sie originell war (wie R . Buchwald vermuten lassen könnte), sondern weil sie zeitläufig war. U n d irgendwie ist in dieser Rede schon die „ästhetische E r z i e h u n g " vorgezeichnet, eben weil sie noch einen Anteil „ E r z i e h u n g " retten wollte für das, was im Sinne d. Geniezeit zuletzt u. zuerst doch Begabung u. Begnadung war u. sein mußte. Dergestalt kündigt sich bei Schiller die spannungsreiche, aber auch ertragreiche Eintracht v o n E t h i k u. Ästhetik schon recht frühzeitig an. Die Schönheit als eine „Freiheit i. d. Erscheinung" m u ß über eine zunächst volkswürdige und dann weiterhin menschheitswürdige Erscheinung u. dichterische Vergegenständlichung der Freiheit führen. Vgl. d. A u f s a t z d. Verf.s über: Schillers Kunstanschauung im Verhältnis z. seinem Kunstschaffen, in: Wiss. Zschr. d. U n i v . Greifswald, Jg. 1954/55, S. 259ff. S. 454. T r a u m i d e a l i s m u s . — E d . S p r a n g e r : Schillers Geistesart, gespiegelt i. s. philos. Schriftenu. Gedichten, in: Preuß. Akademie d. Wiss., philos.-histor. K l . , Nr. 13, Bln. 1941 unterscheidet im Zurückgreifen auf d. z. Z. verfehmten, indessen einflußreichen A s p e k t W i l h . D i l t h e y s den obj. u. subj. „Idealismus", bzw. „Idealismus der Freiheit". Berücksichtigt man, d a ß Sch. über Jahre hinweg sich der Philosophie u. begabungsgemäß d. Kunstphilosophie aus innerer Nötigung u. Neigung zuwandte (ähnlich wie Goethe sich d. bild. K u n s t zugekehrt hat), so wird man auch auf den Frühstufen seiner Entwicklung den vorerst noch latenten H a n g zum Meditieren u. Philosophieren gerade auch im R ä u m e d. Literaturphilos. nicht unterschätzen. — Mag auch R . B u c h w a l d : Schiller Bd. I, Der junge Schiller, Lpz. 1937 nach d. Vorspiel dieser Schiller-Deutung bei J a k o b M i n o r : zum Jubiläum d. Bundes zwischen Goethe u. Schiller, in: Pr. Jbb., Nr. 77 (Bln. 1894) die Nachwirkung d. frühen Akademie-Abhandlung „Über d. Zusammenhang d. tierischen Natur d. Menschen mit seiner

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geistigen" (1779) etwas zu hoch anschlagen, wie E d . S p r a n g e r mit Recht geltend macht, dürfte, kritisch bewertet, bei R. B u c h w a l d dementsprechend die Nachwirkung d. „angelernten" Schulphilosophie d. Karlsschule bzw. d. Militärakademie u. bes. d. Einwirkung u. Nachwirkung des v. R. Buchwald merklich über Gebühr hervorgehobenen Akademielehrers J a k o b F r i e d r . A b e l überschätzt werden, dergestalt daß z. B . die „Briefe des Julius .. .", deren ersten Ansatz E d . S p r a n g e r bis in das Jahr der „ R ä u b e r " zurückverlegt, nicht ausschließlich von dort her zu erklären seien: es bleibt dennoch bestehen jenes frühe Vorspiel eines spez. philosophischen Anteilnehmens. R. Buchwald setzt z. B. Raphael geradezu gleich mit Schillers Lehrer auf d. Akademie Jakob Friedr. Abel. Z u welchen mehr trübenden als klärenden Folgerungen eine derartige Finderfreude im engen Spezialbereich führen kann, beweist R. Buchwalds mehr gewagtes und verfehltes als wiss. gewonnenes u. überzeugungsmäßig gewinnendes Unterfangen, den Einfluß J. Fr. Abels auf d. jg. Schiller (unter Berufung auf d. Shakespeare-Vermittlung) unbesehen u. unbekümmert gleichzusetzen mit der viel tiefer greifenden Einwirkung des jungen Herder auf den jg. Goethe (Straßburger Begegnung). R. Buchwald vergißt dabei völlig, daß J. Fr. Abel nur zusammenfaßte, was bereits geworden war, während d. jg. H e r d e r d a s v o r a u s n a h m , was erst im Werden war. Kurz, Abel im Verhältnis zu Schiller war der Eklektiker; Herder im Verhältnis zu Goethe war der geniale Anreger. — Dieser „Traumidealismus" d. jg. Schiller hebt sich von dem „Willensidealismus" d. reifen Schiller unverkennbar ab, wobei „Idealismus" keineswegs im Kantischen Sinne verstanden sein will. Denn längst bevor er Kants „Kritik der Urteilskraft" kennen lernt, bewegt sich Schiller, gemäß der Vorformen d. Kantischen Ästhetik (Ed. Burke, M. Mendelssohn, Fr. Justus Riedel u. a.) auf Kants recht unselbständige „Ästhet i k " zu; und sobald er sie kennen u. verstehen gelernt hat (u. Schiller versteht sie besser als die meisten Zeitgenossen), bewegt er sich bereits wieder von ihr fort u. nicht nur von der ,,Kritik der praktischen Vernunft". E s darf ohne Übertreibung gesagt werden, daß Schiller zum mindesten die Ästhetik Kants ebenso bald u. leicht überwindet, wie sie von dem späten Herder überwunden worden ist. Die Erkenntnistheorie (Kritik d. reinen Vernunft) Kants zu überholen, war nicht die Gabe u. Aufgabe Schillers. Aber mit

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der „Kritik der Urteilskraft" vermochte er sehr wohl u. durchaus wirksam seine Kräfte zu messen. Das gilt um so mehr, als Schiller damals den Subjektivismus seiner Frühzeit überwunden hatte, wenngleich A l e x . A b u s c h in seiner populärwiss. Schiller-Darstellung von 1955: „Schiller — Größe u. Tragödie eines deutschen Genius", AufbauVerlag, die „Wendung zum Realismus" etwas zu früh anzusetzen geneigt ist. S. 454. E r t r ä u m t e L e b e n s e r f a h r u n g , P h a n t a s i e . — Weit über die Schweizer hinaus verstärkt sich bereits f. d. jg. Sch. die Bedeutung d. Phantasie, wie Sch. später selber zugesteht: „Mein Herz suchte sich eine Philosophie; und die Phantasie unterschob ihre Träume; die wärmste war mir die wahre"; dichterisch-deutend hervorgehoben bei E d . S p r a n g e r : Schillers Geistesart (1941) S. 13 unter Hinweis auf zeitparallele Gedichte Schillers. Der „Idealismus der Freiheit", i. d. „Briefen des Julius an Raphael" stark subjektiv eingefärbt u. teilw. auch entsprechend eingetrübt, nähert sich nach Ed. Spranger damals einem neuplatonischen Pantheismus. Einerseits wirken ein Leibniz, Shaftesbury, Ferguson; aber andererseits wirkt auch der Materialismus nach. Der Einfluß Buffons ist vor allem durch G. J a c o b y gebührend in Rechnung gestellt worden. S. 455. D r a m a t i s c h e S i t u a t i o n e n . — W i l h . S p e n g l e r : Das Drama Schillers; seine Genesis ( = Von dt. Poeterey Nr. 13) Lpz. 1932, der d. jg. Schiller möglichst klar vom reifen Sch. abheben möchte (und dergestalt die verbindenden Kräfte etwas unterschätzt), glaubt in dieser Erscheinung einer Bevorzugung von „Situationen" einen ausgeprägt epischen Hang des jg. Schiller beobachten zu können. Das Positive an dieser Beobachtung liegt in der Bestätigung dessen, was hier etwa als Streben nach „echter Vielfalt" (neben dem Streben nach lauter Größe) umschrieben wurde. Es ist dabei indessen zu berücksichtigen, daß „Situation" teilw. einfach (oder doch annähernd) für,, Szene'' steht, und zwar auch noch im späteren Wortgebrauch. So findet sich z. B. in den Vorstudien zum „Warbeck"-Fragment eine Stichwortliste mit der Überschrift „Rührende Situationen" und eine zweite etwas kürzere Stichwortliste mit der Überschrift „Sonst wirksame Szenen"; der Rückbezug „sonst" ( = außerdem) deutet dabei hinreichend an, wie nahe damals der Begriff „Situation" bei dem Begriff „Szene" stand. Überdies ist jener epische Zug der echten Lebensvielfalt (mittelbarer

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Reflex: Shakespearedeutung) nicht eine Eigentümlichkeit Schillers, sondern allgemein oder überwiegend geniezeitgemäß. Wohl aber hatte d. jg. Sch. noch zu ringen mit der allg. geniezeitgemäßen Vorstellung vom „dramat. Roman" und episch-dramat. „Gemälde", vgl. auch J. Mosers Verteidigungsschrift d. dt. Literatur (gegen Friedrich II.) von 1781. Immerhin hebt bereits d. jg. Sch. das „theatralische Drama" vom bloßen „dramat. Roman" (ebenfalls als Drama gedacht) deutlich genug ab. Auch ist er sich im Brief an Fr. Ludwig Schröder (Dez. 1786) durchaus klar über seine eigene „Fertigkeit oder Fühlbarkeit für das, was in Schauspielen wirkt". Er fühlte, daß er gleichsam hinreichend innere Bühnennähe besaß, um die äußere Nähe der Bühne entbehren zu können, die Fr. L. Schröder forderte. Schiller fürchtete, daß jenes Bühnenmäßig-Theatralische das Dichterisch-Dramatische und dessen Dauerwert überwuchern u. überwältigen könnte. Und er scheute sich, jenen Dauerwert des Dichterischen der Publikumswirkung des Theatralischen aufzuopfern. S. 457. E r z i e h u n g s m ö g l i c h k e i t . — E i n s c h l ä g e von Erziehungsskeptizismus in Abhebung vom Erziehungsoptimismus der Aufklärung. Bestenfalls vorübergehende erzieherische Einflüsse werden vorerst zugestanden; indessen mit der skeptischen Wendung: „Bald schwemmt ein lärmendes Allegro die leichte Rührung hinweg" (XI, 82). Ja, oft genug müsse die Tragödie zur „Gelegenheitsmacherin verwöhnter Wollüste" sich hergeben, wobei freilich die Wortbedeutung „Wollust" z. T. noch schwankt („geistige Wollüste" usw.). S. 457. P u b l i k u m und B ü h n e . — Einwirkungen Lessings und Mendelssohns auf diesen etwas hastig hingeschleuderten Entwurf, der zudem Teilglieder der unterdrückten „Räuber"-Vorrede in sich aufnehmen mußte, hat bereits 0. W a l z e 1 einleitend vermerkt (XI Einleitung S. X X I V ) , der den stofflichen Gehalt des ganzen Aufsatzes zurückführen zu können glaubt auf Lessings bekannte Prägung: „Wir haben keine Dichter. Wir haben keine Schauspieler. Wir haben kein Publikum" (Hbg. Dramaturgie, Muncker VIII, 216, 35f.). Denn der dritte Punkt der Anklage Schillers betrifft eine unzulängliche, teilw. auch unwürdige Schauspielkunst. S. 459. D i c h t k u n s t und G e s c h i c h t e ( D i c h t u n g u n d D a t e n treue). — Die Vorrede zum „Fiesko" (XVI, 4 1 ! ) beansprucht das Recht der dichterischen Freiheit in Anlehnung

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an Lessings Leitsatz: „Der Dichter ist Herr über die Geschichte." Der Ausgang nicht nur Fieskos, sondern auch Leonorens (die ein zweites Mal heiratete) ist eigenmächtig verändert worden. Anderes wieder hält sich wörtlich an die Hauptquelle. Das kulturgeschichtl. Kolorit ist unzulänglich trotz eifrigen Quellenstudiums. Liter. Vorbilder, bes. Lessings „Emilia Galotti", wirken stark abwandelnd ein. Die Geschichte ist vorerst mehr Gelegenheitsmacher für die Tragik der „lauten Größe" und für die Eintrübung des Freiheitsstrebens durch Machtstreben. — Bemerkenswert der Satz der „Fiesko"-Vorrede: „Der Künstler wählt für das kurze Gesicht (die Kurzsichtigkeit) der Menschheit, die er belehren will, nicht für die scharfsichtige Allmacht, von der er lernt", herangezogen bei J . A . H e i d : Schillers Arbeitsweise auf Grund eigener Äußerungen, ein Beitrag zur Poetik, Diss. Gießen 1908, wo sonst überwiegend der reife Schiller zum Untersuchungsgegenstand gemacht wird. — E . K l o t z , Das Problem der geschichtl. Wahrheit im histor. Drama Deutschlands von 1750 bis 1850, Diss. Greifswald o. J. (1927) S. 43—45; knappe Einblicke bietend — gerade auch für den Berichtsraum dieser Darstellung. S. 459. „ M o r a l i s c h e A n s t a l t " . — Die denkwürdige Rede von 1784 steht an einem Entwicklungs-Wendepunkt; sie weist nach rückwärts auf die damals bereits vorliegende Bewährung im Bereich der sozialen u. sozialpädagog. Funktion d. Bühne (bes. „Die Räuber" u. „Kabale u. Liebe"), u. sie deutet zugl. voraus auf die spätere Verwirklichung der nationalpädagogischen Funktion d. Bühne (bes. „Jungfrau v. Orleans" u. „Wilh. Teil"; aber Ansätze auch im „Wallenstein" einerseits u. „Demetrius"-Fragm. andererseits). Näheres darüber u. über das Verhältnis von „Schillers Kunstanschauung im Verhältnis zu seinem Kunstschaffen", in meinem Aufsatz i. d. Wiss. Zschr. d. Univ. Greifswald, Ges.- u. sprachw. Reihe, Jg. IV, 1954/55, S. 259—283, in dem auch f. d. Kunsttheorie manches Ergänzende sich findet. Es darf bei alledem nicht übersehen werden, daß n a t i o n a l e Bezüge sich einerseits schon i. d. Dramen der Frühzeit finden, z. B. in d. „Räubern" (Ideal-Ziel: deutsche Republik), wie andererseits sich allg. Menschheitsbezüge nachweisen lassen i. d. Dramen der Reifezeit, und zwar selbst im „Wilhelm Tell"-Drama. Der Patriot u. der „Weltbürger" spielen immer wieder bei Sch. ineinander über.

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S. 460. R ü c k b e z u g auf d. A u f l o c k e r e r - G r u p p e . — Jedenfalls würde man nach d. heutig. Stand d. Forschg. Bedenken tragen, Schillers frühe dramaturgische u. dramentheor. Abhandlungen u. bes. d. Rede v. 1784 so ohne weiteres unter das Kennwort „Sturm u. Drang" zu stellen, wie es z. B. bei K a r l B e r g e r : Die Entwicklung v. Sch.s Ästhetik, Weimar 1894 geschehen konnte zu einer Zeit, als d. Liter.-Wiss. noch nicht so empfindlich auf den EpochenTypus eingestellt u. eingestimmt war. H. A. K o r f f : Geist d. Goethezeit I (1923, textl. unveränderte 2. Auflage v. 1954) kann im freilich räumlich beengten Entfalten der „Irrationalistischen Kunstauffassung" (Kap. III, jetzt m. d. Überschrift: „Die Revolution d. Kunstanschauung", a. a. 0., 1954, S. 122ff.) Schillers zudem zeitlich verspätete Beiträge z. dichter. Kunstwollen d. Geniezeit relativ weitgehend entbehren. Doch ist zu erwarten, daß H. A. Korff in d. geplanten Anmerkungs- u. Registerbande z. s. Gesamtwerke einiges Wesentliche nachzutragen Gelegenheit nehmen wird. Korffs Schüler H e r m a n n Oer t e l bringt immerhin schon vorläufig eine Ergänzung im Eingangsteil seiner bereits oben angeführten Leipziger Diss. von 1934. — R e i n h a r d B u c h w a l d : Schillerl: Der junge Schiller dürfte auch in der neu bearbeiteten Ausgabe von 1953 die Einwirkung der Genie-Rede des Akademielehrers Jak. Fr. Abel, trotz einer nun neu hinzugekommenen, die EigenBedeutung Abels etwas einschränkenden Anmerkung (Anm. zu Bd. I S. 189 in Bd. II, 1954, S. 470) nach wie vor zu hoch einschätzen. Immerhin bleiben die betreffenden Hinweise, a. a. 0., I, S. 184!, 197/98 (neue Ausgabe v. 1953) dankenswert. Daß Schillers „phüos. Entwicklung ganz und gar (!) in der Philosophie seines Lehrers Abel wurzelt" (a. a. O., S. 198), bleibt als übertreibende Behauptung auch in der neuen Ausgabe v. R. Buchwalds Schiller-Monographie stehen, ja diese Meinung scheint sich gegenüber der ersten Ausgabe sogar noch etwas versteift zu haben. Wenn Abels Genie-Rede, die R. Buchwald aus den „Karlsschulakten d. Württembergischen Staatsarchivs ans Licht gezogen" hat, nun — wie er selber bedauert — „fast mehr beachtet worden ist als meine ganze übrige Darstellung" Schillers, tatsächlich dergestalt nachhaltig auf den jungen Schiller als Theoretiker eingewirkt hätte, wie Buchwald seinerzeit annahm (in verständlicher Finderfreude), dann würde jener deutliche Rückbezug auf die Auflockerergruppe zu Beginn der achtziger Jahre d. 18. Jh.s dop-

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pelt unverständlich erscheinen. In Wirklichkeit dürfte es so stehen, daß R. Buchwald zunächst einmal die Originalität jener Abel-Rede v. 1776 nicht hinreichend kritisch kontrolliert hat mit Hilfe der zeitgenössischen (u. vorherigen!) Genielehre, daß er jetzt aber, u. a. leise erschreckt durch die weitgehenden Rückschlüsse, die z. B. M e l i t t a G e r h a r d von jener neu aufgefundenen Rede Abels auf das Kunstschaffen d. jg. Sch. im Motivumkreis der „Räuber" (d. Dramengestalt Karl Moor u. das Begleitgedicht „Monument Moors des Räubers"), übereifrig jenen Fund ausschlachtend, gezogen hat (Dt. Viertelj.-Schr., Jg. 1953), zurückgeht auf die Bescheidung, daß jene Abel-Rede eben doch nur ein wenngleich wichtiges Zeugnis bedeutet „zur Erhellung v. Schillers geistiger Umwelt in seiner Karlsschulzeit" (nebenbei erfolgte die Benennung der Militärakademie zu „Karls Hoher Schule" erst n a c h dem Ausscheiden Schillers, dergestalt, daß H. L a u b e s Theaterstück — denn viel mehr ist es nicht — „Die Karlsschüler" nur cum grano salis zurecht besteht (mag auch immer das Abgangsdiplom nachträglich auf „Karlsschule" lauten). Leider ist es R. Buchwald erst jetzt selbstkritisch aufgegangen, daß man, bevor man weitgehende Perspektiven mit Hilfe eines gewiß erfreulichen Fundes eröffnet, die wiss. unerläßliche Kontrollfrage stellen muß, ob denn jene Rede wirklich mehr biete als die damals landläufige Genielehre des Sturmes u. Dranges. Immerhin zeigt sich R. B. auch jetzt noch nicht ganz frei von dem unbewußten Bestreben, für die Wichtigkeit jenes Fundes zu retten, was nur irgend zu retten ist, indem auch diese Anmerkung i. d. neuen Ausgabe Bd. II (1954) S. 470 nur zugibt, daß jene anderen Stimmen der Genielehre „ungefähr (!) gleichzeitig" ertönt seien. Wie schon angemerkt, sind jene zeitgenössischen Stimmen durchweg schon w e s e n t l i c h f r ü h e r erklungen. Ja, es ergibt sich darüber hinaus, daß in Abels viel (u. über Gebühr!) erörterter Genie-Rede von 1776 unverkennbare Merkmale u. Restbestände der Geniedefinitionen der Auflockerer-Gruppe d. Aufklärung (i. engeren Sinne) stehengeblieben sind. Und da die rein definitionsmäßige Erfassung des Geniebegriffs schon vor dem vollen Einsatz der Geniezeit nachzuweisen ist, und da Abel als Erzieher sich nicht frei machen konnte von der Hoffnung auf eine zum mindesten relative u. anteilige Mithilfe der Erziehung, so könnten sogar jene Rückgriffe auf die Auflockerer-Gruppe ihrerseits auf gewisse Nachwirkungen

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jener Schulrede von 1776 zurückgeführt werden. Mit anderen Worten, wenn seinerzeit R. Buchwalds Anspruch eingeschränkt werden mußte, so jetzt der Grad seines selbstkrit. Rückzuges. Die Wahrheit dürfte in der Mitte liegen. Jene eigenartige Mischung von Fortschrittlichkeit einerseits u. Rückbezügen andererseits i. d. Kunsttheorie d. jg. Schiller geht in ihren frühen Ursachen nicht unwahrscheinlich zurück auf Abels Akademie-Rede von 1776. Aber diese Rede Abels ihrerseits war nicht irgendwie revolutionär, sondern eben doch nur sekundär im Sinne d. Sekundärliteratur. Und H a n s R i c h t e r i. s. Sonderarbeit üb. J. G. Sulzers „Allgem. Theorie d. schön. Künste" u. d. Bürgertum d. Aufklärungsepoche (Diss.-Auszug i. d. Wiss. Zschr. d. Univ. Jena, Jg. 1952/53) hätte bei hinreichendem Überblick mühelos nachweisen können, daß selbst von G. Sulzer manches bei Jak. Fr. Abel wiederkehrt. S. 464 Exkurs: Werkimmanente P o e t i k . — Dem Ausschnitt des vorliegenden Bandes entsprechend muß es sich vor allem um die werkimmanente Poetik seiner Jugenddramen u. seiner Jugendlyrik handeln; denn die Epik tritt von vornherein zurück. Da es um Werke der Frühzeit geht, kann es nicht Wunder nehmen, wenn sich die werkimmanente Poetik dabei nicht selten deckt mit der Vorbild-Poetik, die f. d. Dramatik vor allem von Shakespeare (u. d. deutschen Stürmern u. Drängern) unter streckenweiser, nicht zuletzt stilistisch-dialogischer Nachwirkung Lessings, f. d. Lyrik vor allem von Klopstock (bzw. Petrarca), Chr. Fr. Daniel Schubart, teilweise auch noch von Wieland ausging. Aber die Abwandlung der Schubartschen Stoffskizze „Zur Geschichte d. menschl. Herzens" (1775), die Abwandlung der Stoffvorlage O. v. Gemmingens (,,D. dt. Hausvater" 1782) in „Kabale «. Liebe", die Abwandlung der historischen Stoffvorlagen im „Fiesco"-Drama, bekunden hinreichend das Vorhandensein einer eigenen u. werkeigenen Gesetzlichkeit im Sinne einer werkimmanenten Poetik. Und wie Sch. i. d. Lyrik der Frühzeit etwa den Typus des Geistig-Visionären bevorzugt (Lauraoden, Leichen-„Phantasien", Morgen-„Phantasie") u. die Lyrik bewußter in den Dienst der Öffentlichkeit stellt, so auch bevorzugt er bereits in der Dramatik d. Frühzeit die freilich oft noch recht turbulente Ineinsbildung von Ästhetik u. Ethik, dabei wiederum die Öffentlichkeit ansprechend und ihr demonstrativ-dramatisch zuredend. Unerbittlicher

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als andere Stürmer u. Dränger und ungestümer als sie stellt er von vornherein die Frage nach dem Verhältnis von Sitte und Sittlichkeit, die er schon damals zugunsten der Sittlichkeit unter teilw. recht kühner Preisgabe der Sitte entscheidet. Das nur Hergekommene (Konventionelle) gilt im Sinne der Anklagedramatik als das Verkommene. Das Tragische wird frühzeitig dort gesehen und gesucht, wo nicht wie bei Lessing eine Diskrepanz von Kausalität und Moralität besteht, sondern wo eine Diskrepanz von Sittlichkeit und Sitte (von Ethik u. Moralität) unversöhnlich sich auftut. Immer schon kreist die tragische Problemstellung um den Zwiespalt von „Ideal und Leben", von zukünftigem Ideal und gegenwärtigem „Leben". Bemerkenswert erscheint nun aber im Vergleich mit Goethe, daß der Dramatiker Schiller das Freiheitsproblem nicht in die Vision hinüberflüchtet wie Goethe (Götz, letzte Worte des sterbenden Götz; Egmont: Freiheitsvision vor der Hinrichtung, „Faust" II, Freiheitsvision Fausts, mit „freiem Volk auf freiem Grund" zu stehen), sondern es vorerst noch resolut in die Wirklichkeit hineinstellt („Räuber, Fiesco, Kabale u. Liebe"). Nur das Werk des Übergangs zur Klassik „Don Carlos" verbindet das Geistig-Visionäre der Freiheitsvision (Marquis Posa) mit der wirklichen Freiheit (Don Carlos, Niederlande). Hier schon leuchtet die Erkenntnis auf, daß der Weg zur Freiheit der „Menschheit" nur gangbar wird über die vorher zu erringende „nationale" Freiheit, eine Erkenntnis, die dann die Dramen der Reifezeit mehrfach variieren. Vorerst erscheint Schiller die soziale Freiheit als unerläßliche Voraussetzung für den Willen zur nationalen Freiheit, wie ihm später die nationale Freiheit als unerläßliche Voraussetzung für die „menschheitliche" Freiheit erscheint. Der „Don Carlos" bildet auch in diesem Betracht den entwicklungsgeschichtlich notwendigen Übergang. Vereinfacht und vergröbert gesagt: nationale Freiheit kann nur errungen werden, nachdem die soziale Freiheit erreicht worden ist; und „menschheitliche" Freiheit kann nur errungen werden, wenn vorher „nationale" Freiheit erreicht worden ist (Dramen d. Reifezeit). Die Lyrik darf die Wirklichkeit notfalls durch die „Vision" ersetzen. Aber die Dramatik muß die „Vision" in der Wirklichkeit durchsetzen. Daß sie es nicht und wenn sie es nicht vermag, bedingt das Tragische („Räuber, Fiesco, Kabale u. Liebe, Don Carlos"). Der junge Schiller sieht u. sucht das Tragische dort, wo sich der Traumidealismus verflüchtigt, ja wo er flüchtet vor

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der rauhen u. realen Lebenswirklichkeit. Damals bricht sich der holde Wahn noch an der herben Wirklichkeit, so vor allem der holde Wahn der Freiheit an der Unfreiheit der Wirklichkeit. Hier liegen die tieferen Wurzeln der Anklagedramatik d. Frühzeit, ob es sich nun im einzelnen um individuelle oder politische oder allgemein-menschliche Freiheit handeln mag. („Räuber" bzw. „Kabale u. Liebe" einerseits u. „Fiesco" bzw. „Don Carlos" andererseits). Die werkimmanente Poetik läßt gleichzeitig erkennen, daß nicht im ersten Betracht die echte Vielfalt, die z. B. vorherrscht bei Maler Müller oder J. M. R. Lenz, sondern die „laute Größe", die neben Sch. bes. Fr. M. Klinger kennzeichnet, dem jungen Sch. gemäß ist. Nicht nur Franz Moor u. Karl Moor wetteifern im Grad der „Größe", der eine als Schuft, der andere als „Held", auch zwischen Fiesco u. Andreas Doria wird streckenweise ein Wettbewerb der Größe u. d. Großmut (von R. B u c h w a l d wenigstens erkannt, a. a. 0., Bd. I, 1953, S. 381/82) ausgetragen, ganz abgesehen von dem Wettbewerb um die wirkliche polit. Freiheit zwischen Fiesco u. Verrina oder das Ringen um die Freiheit des Herzens zwischen den Ständen u. ihren Vertretern in „Kabale u. Liebe" (Präsident—Ferdinand bzw. Luise u. Lady Milford). Und selbst noch im „Don Carlos" geht es um das Ringen der Größe der Liebe (Carlos—Elisabeth) mit der Größe der erstrebten Gedankenfreiheit (Marquis Posa—König Philipp). Kurz, das „Bildende" der Klassik tritt vorerst noch zurück; aber das „Bedeutende" der Klassik kündigt sich, freilich in geniezeitgemäßer Modifikation, bereits an. Nur daß die symbolische Deutung (bes. greifbar im „Wallenstein" u. d. „Braut von Messina", teilw. aber auch im „Demetrius"- u. ,,Warbeck"-Fragment) noch gegenüber die wirkliche Geltung zurücktritt. Der jg. Schiller hoffte noch zu ertrotzen, was der reife Schiller sich mühevoll erobert. Aber auch die werkimmanente-. Poetik beweist schon damals den Willen u. d. Fähigkeit, das Menschliche mit dem Politischen zu verschmelzen in einem Grade, der auch in unserer Gegenwart u. ihren dramat. Versuchen zum Vorbild dienen könnte. Und in diesem Sinne ging die werkimmanente Poetik der Dramatik der Frühzeit Schillers nicht nur von einer „Vorbild"-Poetik aus, sondern sie geht auch auf eine Vorbild-Poetik zu, verstand doch schon d. jg. Sch. das menschlich zu beleben, was polit. belehren sollte. Und die werkimmanente Poetik etwa von „Kabale

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u. Liebe" wird auch heute noch schwerlich von einer werkschaffenden Poesie auf wirklich dramatischem Gebiet wirksam zu ersetzen oder gar zu überbieten sein. Jenes subjektive u. gefühlsmäßige Parteiergreifen, das der Bauerbacher Aprilbrief von 1783 programmatisch manifestierte, bewährt sich in der werkimmanenten Poetik der Dramen d. Frühzeit allenthalben. Und die Darstellungsleistung entspricht insofern durchaus der theoretisch formulierten Darstellungsabsicht, wie denn überhaupt bei Schiller das Theoretisieren und Produzieren, die Kunstauffassung u. Kunstleistung inniger u. organischer ineinandergreifen als bei manchem anderen Dichter-Theoretiker. Die Größe um jeden Preis (zum mindesten um den Preis einer Aufopferung der Sitte zugunsten der Sittlichkeit) ist selten von einem Stürmer u. Dränger so verherrlicht u. so konsequent verwirklicht worden im künstlerischen Werk als von Fr. Schiller. Der subjektive Zug, die „subjektive Sanktion" (im Kunstwollen u. betreff, d. Werkleistung) tritt in der Dramatik (wie z. T. auch i. d. Lyrik) d. jg. Sch. allenthalben in die Erscheinung, in jene „Freiheit in der Erscheinung", die er späterhin mit der „Schönheit" gleichsetzte. Das persönliche u. gefühlsmäßige Parteiergreifen setzt ein Ergriffensein von Leitideen voraus, die von der Phantasie beflügelt, das Wirkliche überwinden oder doch im Geistesschwung, der den Schwung der Begeisterung in sich birgt, und durch das Gefühlspathos, das das Gefühl in sich bewahrt, ohne den Geist zu knebeln, überflügeln möchten. Dem materialist. Anteil i. d. Frühphilosophie entsprechen die realistischen Elemente i. d. frühen Dramatik (und z. T. auch d. frühen Lyrik). Gegenüber der überwiegend erotischen Konfession (Goethe) überwiegt die politische Konfession („Räuber, Fiesco, Kabale u. Liebe, Don Carlos"). Daher geht es nicht an, der jung-Schillerschen Dramatik den Konfessionscharakter kurzerhand abzusprechen, wie es die aus der Ermantinger-Schule stammende Arbeit von K a r l G . S c h m i d : Schillers Gestaltungsweise, Eigenart u. Klassik (1935) für berechtigt hält, die fortgesetzt Sch. an Goethe (u. Th. Mann) wertend u. merklich entwertend mißt u. das „schöne" Bekenntnis eines berufenen (?) Sch.-Interpreten ablegt: „Wir (!) wissen (allzu vieles scheint K. G. Schmid übrigens nicht zu wissen!), daß er (nämlich Schiller) nie jenes Poetische (sprich: Psychologisierende bis Psychoanalysierende) hat geben können, das wir (sprich K. G. Schmid!) zunächst

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lieben" (a. a. 0., S. 182). Es handelt sich um eine derjenigen Arbeiten, die schon E d u a r d S p r a n g e r als spezifisch „schillerfremd" bezeichnet hat (E. Spranger meint freilich vor allem Gebilde u. Mißbildungen wie die „SonderDeutung" von W. Deubel). Auch H e r b e r t C y s a r z ist mit seinem weit wertvolleren Schiller-Werk von 1934 zuletzt doch recht schillerfremd geblieben, obwohl er ein ganz anderes u. ungleich höheres geistiges Niveau einer trotzdem immer noch u. immer auch verzerrten Schiller-,,Deutung'' erreicht hat. Als vermeintlicher Tempelwächter des Ästhetischen (sprich Ästhetisierenden) orakelt K. G. Schmid von einer „expressionistischen Verzerrtheit des Schillerschen Frühwerkes". Dabei vertrete der „Held" immer nur einen „VernunftAnspruch", wobei in plumper Weise H. A. K o r f f s Konzeption des „Vernunft-Idealismus" merklich auf den jg. Sch. übertragen wird. Man sollte aber Korff zunächst einmal richtig verstehen, bevor man ihn grobschlächtig „auswertet" u. ausschlachtet. K. G. Schmid (u. er steht für andere) meint, weil Frauen keine Ideenträger sein können (?), mißlingen sie dem jungen Sch. Und weil die „Helden" an einer psychologischen „Borniertheit" leiden, verfallen sie dem „Irrtum" einerseits u. d. „Intrige" andererseits. Das billige Kriterium der „Borniertheit" ist uns seitdem (etwa auch bei der Kleist-Interpretation, vgl. Gundolf) mehr leid als geläufig geworden! Von der werkimmanenten Poetik aus ist nun bes. kritisch zu beanstanden, daß K. G. Schmid — wie oben bereits erwähnt — behauptet, Schillers dramatische Dichtung sei „keinesfalls" u. niemals „Konfession" (Maßstab: Goethe). Bei näherem Zusehen ergibt sich vielmehr folgender Ertrag: Goethes „Konfession" bezieht sich vorwiegend auf die „erotische" Konfession, auf das Verhältnis vom Ich zum Du, bes. hinsichtl. d. Geschlechter. Schillers zu Unrecht geleugnete „Konfession" bezieht sich vorherrschend auf das Verhältnis des Ichs zu den Anderen, ist also im ersten Betracht „politische" Konfession. Der jg. Goethe will vorab das Verhältnis vom Ich zum Du einrenken. Der jg. Schiller will vorerst das Verhältnis vom Ich zu den Anderen einrenken. Schillers Dramatik bietet sich demnach dar als Anklage-Dramatik. Goethes Dramatik dagegen als eine Dramatik der Selbstanklage (teilw. auch der Selbstentlastung: Marie im „Clavigo" z. B. ist krank im Gegensatz z. d. Quelle, den Memoiren d. Beaumarchais). Man

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darf den Konfessions-Charakter eben nicht individualistisch einengen. Zudem begegnet auch bei dem jungen Sch. die „erotische" Konfession, z. B. in „Kabale u. Liebe" (Charlotte v. Wolzogen, Bauerbach) oder in „Don Carlos" (Charlotte v. Kalb leiht gewisse Züge sowohl der Eboli als auch der Königin Elisabeth), wie denn andererseits der junge Goethe durchaus einen gewiss. Grad von politischer („Götz") bzw. kulturpolitischer („Clavigo") Konfession aufweist. Peinlich lokalpatriotisch wirkt es zudem, wenn K. G. Schmid zu allem Überfluß Gottfried Keller gegen Schiller auszuspielen versucht (a. a. 0., S. 176). G.Kellers — freilich auch bei H. Cysarz unberücksichtigt gebliebene — Abhandlung „Am Mythenstein" (1860) bekundet eine wesentlich andere Gesinnung (Anlaß: „Tell"-Aufführung von 1859 I 0 ° - Schiller-Gedenk-Jahr). Mitgeteilt sei noch der erhebende Satz: „Wir haben schon früher angedeutet, daß die Verwandtschaft Schillers mit Thomas Mann keine unbedingte'(Stil!) ist" (a. a. 0., S. 192). Nun, das ist eben Schicksal und „kein schönes" (Stil!). Und schwerlich dürfte die eindrucksvolle Gedenkrede Th. Manns auf Fr. Schiller von 1955 mit K. G. Schmids dunkelsinniger Vorahnung von 1935 zu tun haben, waren doch inzwischen zwei Jahrzehnte vorübergegangen, und gewiß nicht spurlos (und erkenntnislos!) vorübergegangen. Zusammenfassend kann gesagt werden: das Wertverhältnis ethisch—ästhetisch ist längst vor dem Intervall von 1789 (bzw. 1787) bis 1795 (bzw. 1799) sichtbar gegeben. Und wie Philosophisches von dem jg. Sch. über dieses Intervall auf den reiferen Sch. übergreift (vgl. R. Buchwald, teilw. auch Ed. Spranger u. a.) u. auch i. d. werkimmanenten Poetik sich bewahrt, so etwa im „Subjektivismus" eines gefühlsmäßigen Parteiergreifens (MaxThekla-Teilhandlung i. „Wallenstein", Mortimer-Teilhandlung i. d. „Maria Stuart", Bertha-Rudenz-Teilhandlung im „Teil"), ebenso wirkt die werkimmanente Darstellungsabsicht als eine gleichsam im Kunstwerk gestaltete (und nicht nur in eingelagerten „Kunstgesprächen" formulierte) Poetik im „Fiesco"-Drama als Vorstudie zum „Wallenstein", in der Gruppengestaltung der „Rüuber"Szenen als Vorstudie zu der Gruppenpersönlichkeit (mit tragischer Gebrochenheit) in „Wallensteins Lager", die kleinbürgerliche Gebundenheit in „Kabale u. Liebe" als Vorstudie zu der kleinbürgerlichen Umschränkung in iL „Jungfrau von Orleans" (nach Rückbruch aus der Hr42 M a r k w a r d t , Poetik II

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höhung durch religiös-nationale „Sendung"), das Motiv der „feindlichen Brüder" aus den „Räubern" als Vorstudie z. d. „feindlichen Brüdern" i. d. „Braut von Messina". Kurz, der jg. Sch. nimmt als ein künstlerisch „Vorläufiges", aber sozial „Vordringliches" vorweg, was der reife Schiller auf entsprechend höherer Entwicklungswende der Entwicklungsspirale erneut wiederaufnimmt. Und selbst in dem Verhältnis der geliebten und ungeliebten Frau: von Leonore—Julia Imperiali („Fiesco") bzw. Luise Millerin— Lady Milford („Kabale u. Liebe") oder Prinzessin Eboli— Königin Elisabeth („Don Carlos") klingt manches wieder an und auf in „Maria Stuart" (Maria-Elisabeth). Das Gesetz der Motiv-Abstufung auf der Entwicklungskehre der Entwicklungsspirale tritt bei Sch. deutlicher zutage als bei manchem anderen Dramatiker (von Fr. Hebbel etwa abgesehen). Bei alledem bleibt das hohe Tempo der Entwicklung u. Entfaltung Schillers trotz der großen „Pause" (Kunstphilosoph, Historiker), die eben doch als eine im besten Sinne „schöpferische Pause" sich erwies, bemerkenswert u. bewunderungswürdig. Es scheint fast, als ob Schiller geahnt hätte, daß er das fünfundvierzigste Lebensjahr nicht allzu weit überschreiten würde. Die Gruppen-Szenen der „Räuber" finden nicht nur in „Wallensteins Lager", sondern auch im „Demetrius"-Fragment ihre entwicklungsmäßige und im Entwicklungstempo ruckhaft aufgesteilte Entsprechung. Gerade aber an derartigen Bezügen von Dramatik der Frühzeit u. d. Reifezeit wird zugleich deutlich, daß die werkimmanente Poetik der Dramatik der Jugendzeit weder den Typus der dramatischen Gestalt (Held), noch den Typus der dramatischen Handlung im Sinne einer überindividuellen Notwendigkeit (das Überindividuelle, Schicksalshafte) in der Gewalt (und „Gestalt") hat, weil es noch kaum jenen subjektiven Drang u. idealistischen Überschwang zu bändigen versteht. Und wie vom Philosophischen her die Träume der Phantasie eingreifen (Ed. Spranger), so auch kann allgemein von einem Traumidealismus der Frühzeit gesprochen werden, der vom Willensidealismus der Reifezeit unverkennbar und z. T. recht weit absteht. Karl Moor, Fiesco, Ferdinand (und selbst Carlos) verfügen noch nicht über den Willensidealismus, sondern nur über den Traumidealismus einer (zudem noch recht relativen) Freiheit. Der philosophische Idealismus Kants aber ist sowohl von diesem Traumidealismus der Frühzeit, die uns hier vor allem angeht, als auch vom

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Willensidealismus der Reifezeit, die im einzelnen noch zu würdigen sein wird, deutlich und nachdrücklich abzuheben. Und solange man diese Abhebung nicht vornimmt, wird man weder den jungen, noch den reifen Sch. recht verstehen. Die werkimmanente Poetik aber ist vor allem berufen u. befähigt, eine derartige Abhebung vorzunehmen. Die Macht der Verhältnisse und ihre Übermacht wird i. d. Dramen des jungen Sch. gleichsam realisiert, in den Dramen der Reifezeit (wie z. T. schon i. d. Balladen d. Übergangszeit) dagegen symbolisiert. Schiller sieht Tragik dort, wo sich der „Traum" verflüchtigt (d. jg. Sch.) oder aber dort, wo der Wille versagt (d. reife Sch.). Die Freiheit, die erträumt wird (d. jg. Sch.), weicht mehr u. mehr der Freiheit, die erkämpft wird (d. reife Sch.). Im ganzen aber führt der Weg über eine verfrühte soziale und individuelle „Freiheit" (d. jg. Sch.) zu einer „Menschheitsfreiheit" (vorweggenommen im „Don Carlos") über die nationale Freiheit (d. reife Sch.). Die werkimmanente Poetik bekundet, daß der junge Schiller bereits zum Volke u. zu der Menschheit sprechen wollte, bevor er noch zu der Nation gesprochen hatte, was der reife Schiller nachholte. Aber das Produzieren des jungen Schiller entspricht ebenso dem Theoretisieren wie die Kunstauffassung des reifen Sch. dessen Kunstleistung entspricht. Wer bewußt (Rudenz, ,,Tell"-Drama) oder unbewußt (Demetrius, ,,Demetrius"-Fragment) gegen das nationale Interesse verstößt, kann dem menschheitlichen Interesse nicht wirklich und wirksam dienen. Aber schon beim Schiller d. Sturmes u. Dranges kündigt sich diese Einsicht, entsprechend verworren zwar, aber dennoch unverkennbar an: dort, wo nur „Die Räuber" frei sind oder sich „frei" vorkommen (Traumidealismus), kann keine deutsche „Republik" entstehen u. bestehen u. vollends keine Befreiung der „Menschheit" errungen und robust ruckhaft erzwungen werden. Dort, wo der Freiheits-Vertreter Fiesco dem Machtgefühl anheimfällt u. selbst Verrina „zum Andreas" geht, kann keine Freiheit wachsen, ebensowenig dort, wo die Menschheit „befreit" werden soll, aber noch nicht einmal die nationale Freiheit der Niederlande sich durchsetzen läßt („Don Carlos").

Verzeichnis der Begriffe, Merk- und Kennwörter (Versuch einer systematischen Gliederung) Gegenüber Bd. I dieser Darstellung liegen für diesen Zeitraum bereits philosophisch untergründete Begriffsbildungen wenigstens teilweise vor. Trotzdem kann es sich wiederum nur um einen Versuch handeln, weil eine „Geschichte der Poetik" nicht gut gleichzeitig ein „System der Poetik" darstellen kann. Immerhin mag dieser Versuch andeuten, daß die chronologische Abfolge der Darstellung ein systematisches Durcharbeiten des historischen Bestandes nach prinzipiellen Gesichtspunkten nicht ausgeschlossen, vielmehr in sich eingeschlossen hat im Sinne einer gleichsam latenten Systematik. Dergestalt soll das Historische durch das Prinzipielle auch äußerlich sichtbar ergänzt werden. Ereilich konnte eine Vollständigkeit um so weniger erzielt werden, als die endgültige Ausfüllung mit den Belegstellen erst möglich war nach Vorliegen des Umbruchs (mit den Seitenzahlen). Und insofern muß der Leser „produktive Kritik" von sich aus leisten, indem manches mehr anregend als abschließend verzeichnet werden konnte. Sollte die Drucklegungszeit, bei der der Verlag eine wahrhaft bewunderungswürdige Geduld bewährt hat, nicht noch weiter ausgedehnt werden, so mußte ein technisch bedingter Kompromiß zwischen der idealen Forderung und den technischen Erfordernissen und Möglichkeiten gewählt werden. Für diese Notlösung, die dennoch mehr bieten dürfte als ein bloßes Sachregister, bittet der Verf. seinen einsichtigen Leser (und wer wäre es nicht ?) um Verständnis. Gegenüber Bd. I wurde bei Bd. II schon das Manuskript vorbereitend für die Sammlung der Belege immer wieder durchgearbeitet; aber die Übertragung auf die Endfassung und die entsprechende Ergänzung forderte eine (gegenüber dem Verlage) eigentlich unverantwortliche Zeit. Das einerseits schuldbewußte, andererseits hoffnungsvolle „u.ö." dürfte das kunsttechnische Dilemma hinreichend umschreiben. Das eingeklammerte T weist auf das Vorkommen des Begriffswortes im Titel einer zeitgenössischen Publikation hin.

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Poetik: Typus, Anlage- und Äußerungsform A l l g e m e i n e s S. 77, 89, 93, 118, 121, 126, u. ö., 212, 289/90, 295/96, 299, 350, 380, 397, 442, 468, 523, 539, 556 u. ö. S o n d e r f o r m d e r lcrit. P o e t i k S. 25, 55, 119, (121, 127), 160, 299. P o e t i k i n n e r h a l b d e s p h i l o s o p h . S y s t e m s (u. philos. Poetik) S. 55/56, 62, 76, 193, 240, 252, 299, 526f., 556, 641/42. P o e t i k i n n e r h a l b d e r „ T h e o r i e n d. s c h ö n e n K ü n s t e " S. 114 (T), 174, 175 (T), 344/45 (T), 5 1 7 - 1 9 (T), 5 5 2 - 5 5 (T), 555/56 (T), 560/61 (T), 563 (T) f. P o e t i k i n A b h a n d l u n g s - u. A u f s a t z f o r m (bzw. Briefform) S. (sehr häufig, als Beispiele) S. 100/110, 121, 127, 166, 167, 207, 233 (T), 280, 292, u. ö„ 388, 393,461 (T), 461, 657. P o e t i k i n V o r r e d e n (bzw. in Anmerkungen) S. 58 (T), 6i, 62, 195, u. ö., 306, 388, 407f., 422/23, 430, 436, 451, 452, 458, 459, u. ö. 648. P o e t i k a l s M a n i f e s t u. L i t e r a t u r p r o g r a m m S. 293, 323, 325, 326, 331, 352, 388, 390, 392, 397 u. ö. (durchweg im Sturm u. Drang), (423), 441, 450, 460, 464, 612, 615, 618, 625, 628, 629. F o r m u l i e r t e P o e t i k i m K u n s t w e r k (Kunstgespräche, Gedichte bs. Lehrgedichte usw.) S. 117/18, 155 u. ö., 267, 289/90, 296/97, 3 " / i 2 , 332 u. ö., 580, 624, 628, 629, 634, 636, 657. W e r k i m m a n e n t e P o e t i k (gestaltete Poetik im Kunstwerk u. latente Gesetzlichkeit) S. 9, 17, 20, 24 u. ö., 160, 191, 199/200, 265, 392, 418, 464, 521, 522, 524, 534, 538, 539, 540, 587. 59°. 59 1 ' 593/94. 614. 616, 620, 622, 624, 628 t., 632—34, 635/36, 641, 642, 652, 659 (vgl. die Exkurse der Anmerkungen). P o e t i k i n R e z e n s i o n e n S. 31, 116, 208, 210, 222, 223, 300, 351, 397, 402, 410, 431, 441, 456, 459, 463 u. ö., 604, 614, 628. G e w ä h r s m ä n n e r u n d Q u e l l e n (wechselseitige Einflüsse u. Abhängigkeit) S. 27, 40, 41 f., 67/68, 73,.77, 86f., 90, 98, 108, 109, 120, 122,136, 140, 154, 157, 161, 165, 166, 167, (210), 214, 219/20, 230, 321/22, 340, 364, 367, 373, 377, 392, 442. 459- 460, 515, 557, 559, 569, 581, 595, 611, 613, 614, 619, 634/35. 640, 646, 647.

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VERZEICHNIS DER BEGRIFFE, MERK- UND KENNWÖRTER

W i r k u n g s p o e t i k u. W i r k u n g s ä s t h e t i k S. 2, 3, 4/5, 6, 25f., 7 8 , 1 0 4 , 1 0 8 , 1 1 8 / 1 9 , 1 2 0 , 1 2 8 , 1 3 4 , 1 3 6 , i87f., 197, 200,211, 219, 281, 305, 326, 329, 349, 354, 379, 395, 435, (453), 494, 520, 521, 626. S c h ö p f u n g s p o e t i k u. S c h ö p f u n g s ä s t h e t i k S. 2, 3, 6, 9, u. ö., 152, 187, 2 1 1 , 244, 301/02, 305, 325, 326, 328/29, 354, 395. 435. 457- 459. 461, 463. 612, 626. A n w e i s u n g s p o e t i k (Rückgriff) S. 25, 38, 108, 487, 554. R ü c k g r i f f a u f d i e G e s c h i c h t e d e r P o e t i k S. 39—45, 62/63, 72/73, 1 2 1 , 154, 291, 297, 338, 339/40 u. ö. D a s V e r h ä l t n i s v o n G e s e t z u n d R e g e l (u. Abwehr der Theorie) S. 146 (T), 150, 154, 160, 193t., 196, 298, 300, 301/02, 404, 434, 443, 444, 579, 642. Vorbild- und Musterpoetik (bes. das vorbildgebende Gesetz des Auslandes) A l l g e m e i n e s S. 5, 18, 118, 136, 148, 230, 267, 396, 442, 554, 568, 654 u. ö. D i e A n t i k e a l s V o r b i l d (u. Lockerung des antiken Vorbildes) S. 5, 8 , 1 4 , 45, 54, 56, 57, 60, 67, 68, 71, 9 1 f., 100 (103,107, 108, 120, 121), 127, 129, 131, 132, 151, 152, 227, 243, 271, 278 (T), 290, 298, 338f., 342, 343. 373. 385, 417/18, 432, 554. 615. W e t t b e w e r b d e r „ N e u e n " u. d. „ A l t e n " (Nachwirkung des „Querelles des Anciens et des Modernes") S. 44, 152, 160 (T), 161, 207 (T), 214/15 (T), 218, 261, 316, 318, 323, 397. 454. 521, 582, 585S t e l l u n g n a h m e z u r A r i s t o t e l e s - A u t o r i t ä t S. 1 u. ö., 246, 285, 287, 291, 321, 351, 373, 391, 392, 397, 408/09, 458, 536, 545. 609, 627. F r a n k r e i c h a l s V o r b i l d (u. Loslösung) S. 7, 39/40, 41, 46t., 51, (53. 61, 65), 67/68, 73, (89), 90, 92, 100, 132, 184, 200, 238—40, (256), 268, 271, 327, 350, 374, 452, 453, 458, 535, 551. 559- 572. E n g l a n d a l s V o r b i l d (Shakespeare usw.) S. 5, 39, 42, 76, 86, 87, 88/89, (93). 94. 101 (T), 118, (132), 140, 184, 195, 230, 233, 272, 298f., 310, 3 i 6 f „ 351/52, 390, 396, 397 (T), 434. (453). 455, 552, 563, 571, 604, 606, 613, 616/17, 646, 648, 652. I t a l i e n u n d S p a n i e n a l s V o r b i l d S. 39, 4of., (40—45), 86, 87, 140, 233, (256). 263, (264) u. ö„ 468/69, 482/84, 497.

VERZEICHNIS DER DEGRIFFE, MERK- UND KENNWÖRTER

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Vorformen und Ansätze f. d. Entwicklung in späteren Epochen (bzw. Rückgriffe auf frühere Epochen) Ansätze f ü r die Geniezeit S. 1 2 , 1 4 , 2 5 , 1 2 5 / 2 6 , 1 2 8 , 134, 1 3 7 , 138, (145), 156, 1 9 0 , 199. 209> 257. 305. 314. (315). u. ö. A n s ä t z e f ü r die Klassik (u. Erwähnung d. Klassik) S. 1, 2 , 3 , 4 , 8, 9ff., 2 5 , 1 3 1 , 132, 1 3 6 , 137, 174, 1 8 5 , 1 8 8 , 2 1 3 , 2 1 4 , 2 2 2 , ( 2 3 0 ) , 2 3 8 , 2 4 5 , 2 5 7 , 2 7 1 , 2 7 3 , 276/77, 2 8 8 , 3 0 5 , 3 0 6 , 3 x 0 , 3 1 4 , 3 1 5 , 3 2 1 , 3 2 6 , 3 2 9 , 3 3 0 , 3 3 3 , 3 5 1 , 3 9 0 , 3 9 3 , 395, 396, 442, 444, 450, 462, 464, 517, 528, 538, 539, 555, 564, 565. 575. 581, 609, 619, 623, 629, 634, 637, 639, 653. H u m a n i t ä t s i d e e (Ansätze u. Vorstufen) S. 30, 1 3 1 / 3 2 , 1 3 5 , 1 3 7 , 1 8 S , 1 9 9 , 219, 2 2 2 , 3 2 6 u. ö., 5 3 2 , 5 3 3 , 5 3 4 , 5 3 7 , 5 3 8 , 5 5 0 , 576, 611, 637. A n s ä t z e f ü r die R o m a n t i k (u. das „Romantische") S. 4 , 5 , 7 , 9, 1 2 , 1 3 , 2 5 , 5 2 , ( 8 3 , 1 7 4 ) , 1 8 5 , 2 0 4 , 2 9 4 , 3 0 5 , 3 1 4 , ( 3 2 0 ) , 330, 393. 429. 431. 544- 576. 577. 594. 596, 6 0 8 , 6 1 0 , 6 2 2 , 629, 636, 638, 639. A n s ä t z e f ü r den R e a l i s m u s (u. Materialismus bzw. das Realistische) S. 2 1 , 2 4 , 1 6 5 , 1 7 9 , 2 2 5 , 2 6 6 , 2 7 0 , 3 0 8 , 4 2 7 , 4 3 2 , 527. 569. 578. 58o, 591, 596/97, 628/29, 634, 638, 640, 647, 655. 659. Rückgriff auf die B a r o c k z e i t u. d. „galant-kuriöse'* E p o c h e S. 5 4 , 7 2 , 7 4 , 79, 8 0 , 8 3 , 9 3 , 1 1 5 , 1 1 7 , 2 3 6 , 2 3 8 , 241, 250, 267, 333, 361, 364, 483/84. 557- 56I, 562, 585. 616, 637. R ü c k g r i f f auf die A u f k l ä r u n g S. 5 7 6 , 5 7 7 , 5 7 8 , 5 8 6 , 5 9 1 , 6 1 0 , 614, 616, 618, 629, 630, 650, 651. Rückgriff auf das R o k o k o (Anakreontik, Graziendichtung usw.) S. 1 4 3 , 1 5 1 , 1 8 4 , 1 8 6 , 2 0 9 , 2 1 3 , 236—88, 3 0 3 , 3 0 6 , 307, 324, 422, 425, 561/62, 563, 565/66!, 573, 619/20, 637. R ü c k g r i f f auf die L i t e r a t u r g e s c h i c h t e (frühere Dichtung, allgemein) S. 6 4 , 6 8 (T), 1 2 1 , 154, 2 1 9 , 2 2 5 (T), 2 2 7 , 2 5 2 , 2 8 1 , 3 7 4 , 375 (T) u. ö., 5 1 7 , 5 2 0 Nation und Dichtkunst Allgemeines S. 7 , 1 0 , 1 4 , 1 6 , 2 1 , 2 3 , 4 5 , 64/65, 7 1 , 8 5 , 8 9 , 1 2 4 , 1 3 0 , 1 3 1 (T), 134 (T), 1 3 7 , 1 3 8 (T), 1 4 9 , 1 5 0 , 1 5 1 , 2 1 8 , 2 1 9 , 2 6 0 , 3 0 8 / 0 9 (T), 3 2 0 , 323, 3 3 0 , 3 3 1 , 339, 3 4 6 , 373. 375. 376/77, 3 9 3 , 396/97- 423. 446, 4 4 9 , 450/51. 610, 6 1 1 , 619, 625, 632, 635, 642, 649.

120, 215, 348, 590.

664

VERZEICHNIS DER BEGRIFFE, MERK- UND KENNWÖRTER

Entwicklung und Stärkungdes Nationalgefühls S. 1 4 , 1 6 , 4 5 , 7 1 , 85, 89, 1 3 3 , 1 3 8 , 1 4 5 , 1 4 8 , 149, 2 x 4 , 2 1 8 , 2 1 9 , 3 0 8 , 313, 320, 339. 340, 34i. 342, 344. 346, 348, 374/75, 376/77, 3 9 3 , 396/97, 423, 4 3 9 , 446, 4 4 9 , 450/51, 6 1 5 , 653. Ausprägung und Abhebung des Nationalcharakters S. 8, 92, 1 0 5 , 129/30, 132, 139, 1 5 0 , 1 5 1 , 2 1 8 , 2 2 4 (T), 2 2 5 , 2 3 8 bis 240, 2 5 9 , 260, 2 7 3 , 309, 3 2 0 , 323, 349/50, 390, 3 9 4 , 396/97,439, 447, 558, 564,566, 5 7 1 , 5 8 4 , 6 0 4 , 6 0 5 , 6 1 0 , 6 1 6 , 619. Kulturpatriotische und kulturpolitische Leitidee S. 4, 1 6 , 2 1 , 3 6 , 4 1 , 4 3 , 46, 48, 64/65, 92, 1 0 2 , 1 1 2 , 1 3 0 , 131 (T), 1 3 3 , 1 3 9 , 1 4 9 , 1 5 1 , 1 5 2 , 1 6 3 , 183, 2 1 7 , 219, 2 6 5 , 3 1 0 , 3 2 3 , 3 4 8 / 4 9 , 374f., 3 9 3 / 9 4 , 396/97. 439. 447. 449. 49i. 515, 5i6, 5 4 5 . 558 (T). 5 8 2 , 5 8 4 . 6 4 9 u. ö. Nationale Originalität S. 7 , 8, 4 5 , 1 0 5 , 1 3 3 , 1 4 5 (T), 148, 1 5 0 , 218/19, 2 2 4 / 2 5 , 2 3 8 / 3 9 , 3 0 9 / 1 0 , 3 1 3 , 3 2 0 , 3 8 8 , 3 9 5 , 3 9 7 , 423. 447/48 u. ö. Nationaler Wettbewerb mit dem Ausland S. 8, 64, 6 8 , 132, 148/49, 2 3 7 — 2 4 0 , 2 5 1 , 265, 309/10, 342. 376, 423. 439. 49i u. ö. Nationalliteratur und Nationalsprache S. 1 8 , 1 3 9 (T), 148 (T), 376/77. 38I, 396. Grenzen von Nationalgeist und Nationaldünkel (Ansätze) S. 131, 1 3 3 , 1 8 3 , 3 2 3 , 606. Verhältnis von Nation und Menschheit S. 8, 1 6 , 1 3 1 , 150, 152, 187, 218, 323. Verhältnis von Nation und Volk (vgl. Volk und Dichtkunst). Nationalerziehung (vgl. Erziehung und Dichtkunst). Volk und Dichtkunst Allgemeines S. 7, 1 4 , 1 6 , 20, 1 3 1 , 1 3 8 , 139f., 1 4 3 , 1 4 9 , 1 5 3 . 2 1 7 / 1 8 , 3 0 3 , 306f., 3 2 5 , 3 7 4 , 376/77, 3 9 6 , 4 1 3 , 4 2 3 , 4 3 2 ! , 4 4 8 , 4 7 2 u. ö. Volk und Nation S. 7, 138, 1 3 9 , 1 4 9 , (153). 2 1 9 , 3 1 0 , 3 1 3 , 4 2 3 , 4 3 6 , 4 3 9 u. ö. Volk und „Pöbel" (Vermischung und Unterscheidung) S. 106, 1 3 5 , 202, 203, 436, 4 3 9 / 4 0 . Volkstum und Bürgertum S. 1 3 0 , 1 4 7 , 1 5 3 , 216/1.7, 2 2 2 , 2 3 7 , 2 6 0 u. ö., 4 3 6 , 4 3 9 , 4 4 3 , 5 7 5 , 576, 6 1 5 , 6 1 6 , 6 1 8 , 6 2 3 , 630/31. 657.

VERZEICHNIS D E R BEGRIFFE, MERK- UND KENNWÖRTER

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A b w e h r v o l k s t ü m l i c h e r B e s t ä n d e S. 58, 83, 90, 106, 135, 141, 262, (310), 431. W ü r d i g u n g v o l k s t ü m l i c h e r B e s t ä n d e (u. Ansätze) S. (106), 114, 129, 138, 139, 202/03, 257, 263, 306f., 396, 413, 431, 432, 433f., 448, 616, 639, 641. „ V o l k s t ü m l i c h " , „ v o l k s w ü r d i g " u n d „ v o l k s f ö r d e r n d " S. 8,16, 30,107, 217, 313,442, 522, 580, 619, 641, 642. V o l k s d i c h t u n g als V o r b i l d (Primat des „Volksmäßigen" und „Volkssinnigen") S. 7, 218, 307/08f., 312, (344), 347/4«. 374/75, 396, 432, 433f., 437, 45. D a s Volk a l s K r i t i k e r S. 8, 308, 313, 442, 443, 578, 579, 618 (vgl. auch Kritik und Dichtkunst). V o l k s k u n d l i c h e E l e m e n t e S. 146, 325, 448, 584. D a s V o l k s t ü m l i c h e in D r a m a u n d T h e a t e r (Hanswurst, Harlekin usw.) S. 7, 107, 131, 136, 139 (T) f., (287), 356, 432, 515,

592/93-

D a s V o l k s t ü m l i c h e in d e r L y r i k (Bänkelgesang usw.) S. 7, 202/03, 257, 258, 263, 312, 313, 374, 396, 433, 491, (vgl. auch Gattung und Dichtkunst: Sonderformen der Lyrik). D a s V o l k s t ü m l i c h e in d e r E p i k S. 7, 131, 309—11. V o l k s e r z i e h e r i s c h e F a k t o r e n (vgl. Erziehung u. Dichtkunst). Gesellschaft und Dichtkunst A l l g e m e i n e s S. 4, 21, 24, 25, 41, 50, 85, 139, 145, 150, 159, 198, 203, 218, 222, 223/24, 259, 286, 287, 306, 324, 351, 413, 430/31. 450. 461. 462, 465/66, 481, 515, 523, 524, 537, 588, 612, 617, 620, 626, 633, 638, 655, 656. Das S t a n d e s k r i t e r i u m , seine Gültigkeit, A u f l o c k e r u n g u n d A u f l ö s u n g S. 25, 67, 70, 106—08, 135, 157, 202, 203, 324, 470, 480, 522, 532, 575, 576, 577, 592 (vgl. auch Volk und Dichtkunst). P o e s i e im D i e n s t e d e r G e s e l l s c h a f t (Gemeinschaftswert und gesellschaftliche Funktion der Dichtkunst) S. 25/26, 30, (61), 70, 85, 139, 149, 159, 179, 187, 188, 198, 203, 216, 218, 223/24, 259, 351, 521, 524, 532, 533, 534, 537, 538, 549, 559, 582, 583, 600/01, 632, 649, 652. Berücksichtigung der gesellschaftlichen und kultur e l l e n „ S i t t e n " S. 105, 106, 133, 142, 145, 188, 219, 225, 257, 287, (351), 431, 452, 462, 487, 516, 523, 566, 578, 583. 588, 591. 653, 655-

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VERZEICHNIS DER BEGRIFFE, MERK- UND KENNWÖRTER

Lebensbedingung und Lebensbedingtheit, Lebensverh ä l t n i s s e (Umwelt, Klima, Wirtschaft usw., bes. i. d. werkimmanenten Poetik) S. 145, 151, 157, 161, 203, 219, 2 2 1 , 286, 4 3 1 , 470, 535, 573, 604, 6 1 1 , 620—23, 626, 6 5 1 .

G e s e l l s c h a f t s k r i t i k u n d s o z i a l e A n k l a g e S. 24, (162/63), 306, 4 1 3 , 452, 458, 459, 462, 465/66, 524, 530, 534, 535, 537. 548, 628, 630, 631, 632, 643, 653, 654-

Bevorzugte

Dichtungsgattungen

der

Gesellschafts

k r i t i k S. 70, i 6 i f . , 287, 306, 4 1 3 .

A n s ä t z e zu s o z i a l e n R e f o r m e n S. (24), (85), 145, 150, (223), (287), 458, 630/31, 653-

E i n g l i e d e r u n g d e s D i c h t e r s in die G e s e l l s c h a f t (Einsamkeit und Gemeinsamkeit; Problematik des „ästhetischen Menschen") S. 85, 133, 149/50, 187, 198, 203, 218, 413. D a s G e s e l l s c h a f t l i c h e u n d G e s e l l i g e S. 133, 145, 159, 243, 244, 252, 256, 278, 324, 418, 459, 461, 620, 626 (vgl. auch Rokokohafte Wirkungswerte und Leitsätze). Geschichte und Dichtkunst A l l g e m e i n e s S. 7, 16, 58, 102, 121, 206, 213, 304, 312, 377, 395, 406, 4 7 1 , 565, 600, 6 1 1 , 658.

D i c h t u n g u n d D a t e n t r e u e (Geschichtliche Wirklichkeit u. poetische Wahrscheinlichkeit) S. 58, 82, 102, 121, 206, 210, 459, 558, 648, 649. G e s c h i c h t e a l s d i c h t e r i s c h e s M o t i v (u. gattungsmäßige Zuordnung) S. 102, 206, 222, 304, 312, 395, 407. V e r h ä l t n i s v o n h i s t o r i s c h e m G e s c h e h e n u. h i s t o r i s c h e n G e s t a l t e n S. 102, 206, 210, 407, 514, 536. U n z u l ä n g l i c h e s h i s t o r . B e w u ß t s e i n u . V e r s t e h e n S.65,129. A u s b i l d u n g d e s h i s t o r . V e r s t e h e n s (u. Ansätze) S. 84,102,136, 1 3 8 , 154/55. (206), (312), 377, 395, 406, 407, 606, 610, 6 1 1 .

N a t i o n a l g e s c h i c h t e , U n i v e r s a l g e s c h i c h t e u. K u l t u r g e s c h i c h t e S. 16, 21, 23, 84, 151, 394/95. 523. 622, 649. Religion und Dichtkunst A l l g e m e i n e s S. 1 5 , 1 6 , 19, 2 1 , 23, 30, 82, 89, 9 3 — 9 5 , 1 5 1 , 1 6 2 / 6 3 , 232, 252, 324, 227/28, 330—336, 361—368, 406, 408/09, 4 1 3 , 422. 435. 445, 463, 466/67, 469, 479, 481/82, 488, 492, 524, 548, 549, 550, (552), 571. 576. 578, 586, 590/9 1 - 594596, 598, 600, 601, 6 1 5 , 618, 619, 632, 635, 636, 649.

VERZEICHNIS DER BEGRIFFE, MERK- UND KENNWÖRTER

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L o c k e r u n g d e r r e l i g i ö s e n G e b u n d e n h e i t u. S ä k u l a r i s i e r u n g (Umsetzung religiöser in ethische Werte) S. 15,188, (252), 460/61, 481, 534, 548, 549, 578, 583, 59*. 615. A b w e h r v o l k s t ü m l i c h e r S p i e l f o r m e n des R e l i g i ö s e n (des Wunderbar-Legendenhaften usw.) S. 58, 82, 83, 90, 135, 310, 431, 488, 560. R ü c k w e n d u n g z u m C h r i s t l i c h - R e l i g i ö s e n (Priesterliche Würde des Dichtertums, Schöpfervorstellung, Erhabenheit usw.) S. 81, 82, 151, 232, 324, 327, 330f., 334 (T), 340, 361 f., 368, 406, 408, 413, 418—422, 445, 466/67, 469, 470, 495, 587, 591, 595, 599. Verhältnis von „heidnischer" und „christlicher" Mythologie S. 10, 22, 84, 168, 262, 338—348, 364, 583, 591, 595. 597. 601, 613, 615, 618, 622. D a s T r a n s p o n i e r e n d e r T r a n s z e n d e n z (Umsetzung religiöser in poetische Vorstellungen u. umgekehrt) S. 198, 199, 200, (252), 327/28, 361, 363/64. 368, 418—422 (bes. 419). 576, 635. A n e r k e n n u n g v o l k s t ü m l i c h e r S p i e l f o r m e n des R e l i g i ö s e n (positive Bewertung des Wunderbaren, z. T. auch des „Aberglaubens") S. 35, 94, 114 (T), 431/32, 435, 492, 495. 500, 519. Das Christlich-Religiöse als W e r t m a ß s t a b des Poet i s c h e n S. 150/51, 340, 361, 419, 586, 649. P i e t i s m u s S. 90, 94, 332, 363, 368, 422, 547, 548, 549, 551, 617 u. ö. Philosophie und Dichtkunst A l l g e m e i n e s S. 18, 19, 20, 25, 55, 56, 79, 155, 190, 289, 290, 359. 375. 402, 419, 498f., 500, 501, 548, 550, 551, 576, 599, 622, 635, 645, 646, 650, 657, 658. P o e s i e im D i e n s t e d e r P h i l o s o p h i e (bzw. als Ersatz und Ergänzung) S. 30, 155, 156, 252 u. ö., 498f., 501. L o s l ö s u n g d e r P o e s i e v o n d e r P h i l o s o p h i e (u. deren Entwertung) S. 291, 295, 301, 362, 365, 375, 402, 419, 435, 441/42. Ä s t h e t i k S. 6, 7, 9, 11, 13, 16, 27, 55, 72 u. ö„ 442, 443 (T), 451, 457, 463. 483/84, 498f., 501 f., 518, 523. 525Ì-. 538. 553, 555. 556, 561 (T), 563, 601, 640, 646.

668

VERZEICHNIS DER B E G R I F F E , MERK- UND KENNWÖRTER

V e r h ä l t n i s v o n Ä s t h e t i k u. E t h i k S. 5, 12, 20, 26, 28, 29, 90, 93, i n , 128, 143, 144, 150, 154, 155, 156, 158, i 6 i f . , 164, 165, 166, 171, 177, 178, 188, 191, 198, 199, 202, 203, 204, 210, 213, 223, 224, 234, 238f., 247, 249, 259, 265, 295, 321, 323, 430, 442, 447, 451, 487, 538, 632, 639, 645, 652, 653, 657. P s y c h o l o g i e (als Voraussetzung oder Ertrag u. allg. Interesse f. Psychologie) S. 121, 124, 155, 167, 170, 173, 206, 209, 302, 379 u. ö., 517, 518, 527, 544, 572, 621, 655. N a t u r w i s s e n s c h a f t u n d B i o l o g i e (Ansätze) S. 129, 210, 229, 231. 301, 308, 548. 551R a t i o n a l i s m u s (Bewertung u. Entwertung) S. 81, 124, 125, 137, 167, 181, 187, 195, 216, 220, 231, 254, 290, 330, 381 u. ö., 460, 530/31. 535. 550, 559. 586, 608, 620. I r r a t i o n a l i s m u s (u. Gefühlsbewertung) S. 137, 231, 380, 403, 435. 460, 505. 530, 532. 608, 634, 636, 650. E m p i r i s m u s (u. Sensualismus) S. 77, 113, 120, 220, 229, 231, 286, 364, 419, 424, 559, 589, 609. „ U r t e i l s k r a f t " S. 46, 53, 55, 56, 214, 449, 487, 561. S e n s i t i v e V o r s t e l l u n g (u. „anschauende Erkenntnis") S. 37, 90, 125, 127, (136), 169 u. ö., 498/99, 501.

Erziehung und Dichtkunst A l l g e m e i n e s S. 13, 16, 26, 30, 66, 141/42, 149, i52f., 159, 187 (T), 213, 260, 287, 324, 430, 462, 485, 522, 539, 609, 619, 649 u. ö. M o r a l p ä d a g o g i s c h e F u n k t i o n der D i c h t k u n s t S. 4, 16, 43, 58, 66, 115, 131, 141/42, 145, 152, 156, 159, 178, 197/98, 213, 241, 260, 320, 324, 335, 347, 413, 430, 460, 462, 480, 485, 518, 519, 522, 536, 537, 538, 609, 649. L o c k e r u n g der m o r a l p ä d a g o g i s c h e n F u n k t i o n S. 105, 141, 171, 177, 179, 198, 255, 522, 539 u. ö. Nationalpädagogische und volkserzieherische Funktion der D i c h t k u n s t S. 24, 105/06, 120, 131, 139, 145, 149, 150, 151, 152f., 163, 187, 219, 287, 413, 446, 480, 619. S o z i a l p ä d a g o g i s c h e F u n k t i o n der D i c h t k u n s t S. 41 u. ö., 465/66, 480, 649 (vgl. auch: Gesellschaft u. Dichtkunst). Absoluter, relativer und kritischer Erziehungsoptim i s m u s S. 26, 30, 105,159, 160, 198, 239, (246), 287, u.ö., 456, 459, 480/82, 532, 539, 578, 632, 644, 648, 651.

VERZEICHNIS DER BEGRIFFE, MERK- UND KENNWÖRTER

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A b s o l u t e r u n d r e l a t i v e r E r z i e h u n g s s k e p t i z i s m u s S. 480, 481, 578, 632, 644, 648. E r z i e h u n g d u r c h „ g u t e n " G e s c h m a c k (Ansätze zu einer „ästhet. Erziehung des Menschen"; „Geschmack" als „Tugend" auf ästhet. Gebiet) S. 5, 15/16, 57, 107, 154, 287, 352, 461, 485, 539, 645. „ B i l d u n g " s t a t t „ E r z i e h u n g " (u. Spezialbildung; Übergänge u. Mischformen) S. 9, 10, 11, 12, 119, 156, 424, 485, 558 567Natur

und Dichtkunst (Wirklichkeit u. Wahrscheinlichkeit; Naturnachahmung und Naturnacheiferung)

A l l g e m e i n e s S. 6, 24, 57f., 96/97, 109, 120/21, 126, 159, 161, 165, 204/05, 214, 230/31, 307, 341, 352, 365, 368, 377, 386, 391, 402, 405, 411, 418, 423, 424, 425, 426, 428, 433, 435, 438» 439- 448. 470. 486, 527. 568, 571, 589. 59°. 6 o ° . 6 i 3 . 628, 638, 641. N a t u r n a c h a h m u n g u n d W a h r s c h e i n l i c h k e i t s p r i n z i p S. 5, 21, 35, 54, 57/58, 59 (T), 70, (79), 92, 94f. (bes. 96/97), 99, 100, 109, 114, 1x7, 120, 121, 127, 144, 161, 165, 174, 196, 204/05, 321/22, 335/36. 454. 486, 487, 489, 490. A u f l o c k e r u n g u n d A u f l ö s u n g d e r M i m e s i s l e h r e S. 5, 57/58, 95. 98/99. I o 8 . 109, i n , 119, 120, 144, 205, 208, 290/91, 307, 321/22, 354/55. 364/65. 464. 526/27, 614 R e l a t i v i t ä t d e s „ N a t ü r l i c h e n " (Als-Ob-Natürlichkeit u. echte Natürlichkeit; Auslesevorgang aus d. „vernünftigen" u. „schönen" Natur) S. 6, 31, 56, 58, 159, 165, 232, 244, 294. 307. 315. 365, 423, 427, 486, 516, 522, 543, 551, 560, 639. E c h t e N a t u r n ä h e S. 6, 59, 215, 216, 230/31, 307, 311/12, 328, 34i. 352. 368, 377. 39 6 . 398, 402, 409. 4 i i . 419. 423, 424, 426, 433, 435, 470, 523, 580 u. ö. N a t u r a l s W e r t m a ß s t a b (u. als Verkörperung echter Lebensvielfalt) S. 6, 165, 214, (230/31), 290/91, 294, 307, 312, 325, 352. 376/77. 395/9 6 . 398, 402, 411, 418, 419. 423f-. (bes. 426), 428, 433, 435, 438, 441, 456, 470, 590/91. N a t u r n a c h e i f e r u n g s t a t t N a t u r n a c h a h m u n g (Natur als Muster, nicht als Modell) S. 126, 161, 230, 307, 377, 386/87, 391/92, 398, 402, 411, 423, 424, 516, 582, 583, 613.

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VERZEICHNIS DER BEGRIFFE, MERK- UND KENNWÖRTER

N a t u r v o r s t e l l u n g u n d O r g a n i s m u s g e d a n k e (Beziehung zur Originalitätstheorie) S. 8, 230, 290/91, 294/95, 307, 317/18, 395, 402, 423; vgl. auch: Einzelbegriffe (Organismusgedanke und Originalität). V e r h ä l t n i s v o n N a t u r u n d K u l t u r S. 16, 230, 231, 294, 315/16, 340/41» 352. 376¡77. 423» 426, 439, 452, 457, 551. Kritik und Dichtkunst A l l g e m e i n e s S. (5, 22, 24), 29, 30/31 (T), 35, 36 (T), (41), 43, 53 (T), 56, 57. 65 (T), 67 (T), 69, 74, 78 (T), 80 (T), 82 (T), 88, 89 (T), 90, (91, 92), 101, (107), 112/13, (119), 121, 127 (T), 147, 173, 176 (T), 181 f., 188f„ 207 (T), 213, 252. 291, 304/05, 387, 425, 426 (T), 441 (T), 448, 450, 502 (T), 512, 513, 522, 539, 540, 552, 588, 591, 593, 596, 600, 602, 611, 623, 636, 643. K r i t i k a l s V o r a u s s e t z u n g d e r P o e t i k (vgl. Poetik als Voraussetzung der Kritik) S. 43, 57, 112, 113, 164/65, 167, 182, 184/85, 189, 190, 252 u. ö. K u n s t e r f a h r u n g als V o r a u s s e t z u n g einer w e r t v o l l e n K r i t i k (und Poetik) S. 113, 120, 147/48, 182, (233), 44i (T), 454. (462) u. ö. K r i t i k als a n g e w a n d t e Poetik und Poetik als s y s t e m a t i s i e r t e K r i t i k S. (33), 35, 38, 56, 62, 113, 124, 164/65, 184/85, 189, 190, 252, 512, 513 u. ö. G e s e t z e s k r i t i k u n d E i n f ü h l u n g s k r i t i k S. 101/02, (106), 113, 116, (124/25), 173, 177, 234, 295, 297, 450, 512, 581. V e r h ä l t n i s v o n K r i t i k u n d G e s c h m a c k S. 39, 61, (68), 86, 113, 190, u. ö., 448. V e r h ä l t n i s v o n K r i t i k u n d G e n i e S. 112/13, 146, 168, 173, 186, 189, 191 u. ö., 387, 425. D a s U r t e i l des „ K u n s t r i c h t e r s " u n d d e s P u b l i k u m s S. 44, 61, 85, (99), 118/19, 140, 142, u. ö., 435, (442), 444. A b w e h r d e r K u n s t k r i t i k S. 112, 124, 173, 291, 308, 425, 441 (T). E i g e n w e r t d e r K r i t i k S. 164t., 190, (304), 425, 440, (502), 611. K r i t i k a u s P o s i t i o n u n d O p p o s i t i o n S. 119, 165, 167, 190, 228 u. ö. P r o d u k t i v e u n d d e s t r u k t i v e K r i t i k S. 189, 190 u. ö., 434, 580, 609, 621, 623.

VERZEICHNIS DER B E G R I F F E , M E R K - UND KENNWÖRTER

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Nachbarkünste und Dichtkunst A l l g e m e i n e s S. 78, 114, 208, 321 (T), 335 (T), 382, 422, 427, 431, 451, 529, 552, 579, 614, 638, 645. R e d e k u n s t u n d D i c h t k u n s t S. 25, 49 (T), 56 (T), 60, 64 (T), 123, 125, 176, (230), 252/53, 274, (440), 487, 490, 492 (T), 501. 503. 553 (T), 570 (T). M a l e r e i u n d D i c h t k u n s t (Bildende Kunst u. Poesie) S. 7, 9, 78, 79, 80, i n , 112, 122, 123, 206, 208, 210, 2 1 1 , 232, 272, 273 (T), 274, 277 (T), 321 (T), 382, 396, 401, 427, 451, 500, 529, 546, 547, 552, 570, 579, 609, 614, 615, 621, 645. Musik u n d D i c h t k u n s t S. 62, 63, 80, 231/32, 280, 321 (T), 382, 422, 425, 427, 446, 449, 526, 556, 593, (601), 638. T h e a t e r u n d D i c h t k u n s t (Theorie der Schauspielkunst und des Theaters) S. 42/43, 53, 68/69, 7°. I 0 3 . I04> I Q 6. I 2 7 . 139, 145 (T), 149/50, 166, 198, 233, 264 (T), 302/03, 306, 398, 406 (T), 430, 431, 434, 455, 456/57. 459 ( T ). 460, 482, 484, 505, 522, 552, 555, 556, 583, 592, 593, 610, 626, 648. Wesen, Wert und Wirkung der Dichtkunst (als Sonderkunst) A l l g e m e i n e s S. if., 20, 21, 23, 54, 60, 110, 114/15, 126 (T), 149, 155. 179. I9Ö/97- 2 " . 258, 325. 326, 371, 383, 386, 395, 430, 437, 439, 489, 494, 519, 531, 556. E i n l a g e r u n g d e r P o e s i e in a n d e r e W e r t b e z i r k e (Nation, Religion, Gesellschaft, Philosophie, Sprache usw.; vgl. die entsprechenden Kennwörter) S. 25, 30, 44, (104), 106, 124, 130/31, 132, 149 u. ö., 423, 430, 439, 459, 590, 610. W e s e n d e r P o e s i e (Definitionen und andeutende Umschreibungen) S. 54, 59, 60, I I I , 119 (T), 121, 126, 127, 196/97, 208, 209, 211, 213, 253, 258, 325, 327, 335 (T), 336, 363, 374. 380, 383. 384, 387, 395, 396, 437/38, 463/64, 494, 498/99, 501 (T), 513, 541, 557, 559, 565, 566, 571, 576, 584, 592, 605, 614, 638. Zweck u n d W i r k u n g d e r D i c h t k u n s t S. 1, 3, 5, 12, 20, 21, 23, 102, 105, 121, 183/84, 208, 2 1 1 , 246, 371, 378/79, 430, 433, 437, 446, 450, 467, 468, 470, 481, 486, 490, 494/95, 500, 513, 516, 518, 521/22, 532, 533/34, 536f„ 541, 553/54. 556, 564, 565, 573 f., 576, 590, 605, 621/22, 631, 641, 649. W e r t u n d W ü r d e d e r D i c h t k u n s t (Rangstufe usw.) S. 18, 30, 93. 94. 123, 184, 213, 214, 253 (T), 324, 326, 327, 331, 335 (T), 462, 526.

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VERZEICHNIS DER B E G R I F F E , M E R K - UND K E N N W Ö R T E R

S o n d e r w e r t d e r D i c h t k u n s t (Lockerung der Zweckbindung bis zur Zweckfreiheit) S. 20/21, 179, 302—306, 650. „ D i c h t k u n s t " a l s S y n o n y m f ü r „ P o e t i k " S. 55 (T), 123, 126, 127, 255, 561, 570/71. „ V e r g n ü g e n " u n d „ E r g ö t z e n " S. 13, 41, 63, 64, 78, 81, 85, 99, ioo, 105, 136, 137, 141/42, 151, 159. I 7 I > x74» 208, 246, 249, 253, 260 (T), 283, 430, 431, 494, 495, 506, 526, 527, 554. 556, 572, 573H a n d l u n g s b e g r i f f S. 35, 36, 91, 201, 206, 211, 214, 276, 297, 321, 365, 392, 410, 558, 560, 589, 593, 607, 628. E n e r g i e b e g r i f f (u. Kraftbegriff) S. 36, 201, 297, 321, 369, 383, 385. 445. 556, 560. E m o t i o n s b e g r i f f S. 4, 8, 12, 13, 85, 166, 171, 179, 212, 254, 427, 526. T e m p o r a l e B e d i n g t h e i t (Zeitheimat) S. 44, 58/59, 84, 129, 150, 214, (250), 398, 408, 409, 558, 579, 604, 610, L o k a l e B e d i n g t h e i t (Ortsheimat) S. 8, 14, (17), 22, 148,

213, 124, 611. 150,

430, (447). 604, 6x0. Sprache u n d Dichtkunst (einschl. Stil) Allgemeines: Sprachauffassung und Sprachtheorie; Ans ä t z e z u r S p r a c h p h i l o s o p h i e S. 10, 18, 21, 36, (56), 60, 65, 72, 80/81, 123/24, 135, (155), 206, 2IX, 215, (227), 232, 327, 333, 359/60, 376/77. 380/81, 382, 393 (T). 423. 460, 595. 598. 602, 605, 607, 610. Z e i c h e n l e h r e (das Wort als „Zeichen") S. 36, 57, (63), 80, 123, 171, 175/76, 186, 197, 206, 209, 211, 215, 232, 321, 342, 359. 36O, 381. 382, 504. 527. 543. 552. 556, 607, 635. A u s d r u c k s l e h r e (das Wort als „Ausdruck") S. 5, 13, 62, 63, 111/12,148,182, 206, 208, 232, 276, 342, 356, 359, 381—83, 396, 440, 450, 519, 541, 551, 552, 556, 557, 558, 560, 564, (579), 604, 635. B e g r i f f d e r „ H i e r o g l y p h e " S. 215, 342, 544, 564, 599. V e r h ä l t n i s v o n „ P r o s a " u n d „ P o e s i e " S. 119, 121, (455), 4S7/SS, 511, 512, 513, 553, 561. V e r h ä l t n i s v o n S p r a c h e u n d S p r a c h s t i l S. 49, 72, 159, 161, 1S2/S3, 20S, (225), 227, 228, 231/32, 248, 276, 280, 2S1, 327, (426), 440/41, 451, 497, 529, 540, 552, 553, 562, 579, 585, 591, 609, 628, 638.

VERZEICHNIS DER BEGRIFFE, MERK- UND KENNWÖRTER

673

S t i l t y p u s u n d S t i l h ö h e S. 72, 114, 117, 121, 141, 222, 226, 230, 233, 248, 276, 278, 281, 423, 497, 522. S p r a c h s t i l u n d D i c h t u n g s g a t t u n g S. 119,144, 248, 440, 522. S p r a c h e a l s D a r s t e l l u n g s m i t t e l d e r P o e s i e (und als Urform des Poetischen; Ansätze f. eine Identitätsvorstellung von Sprache und Poesie) S. 49/50, 111, 115, 125, 359, 364, 380, 553, 560. Metrik, Rhythmik und Dichtkunst A l l g e m e i n e s S. 94, 121, 206, 288, 299, 427, 439, 440/41, 506, 540, 574, 587, 590, 591, 604, 640. D a s V e r s k r i t e r i u m (mit Bezug auf die Poesie als solche) S. 60, 115, 121, 281, 288, 427, 5I3/I4V e r s k r i t e r i u m bzw. R e i m k r i t e r i u m (mit Bezug auf die Dichtungsgattung) S. 60, 98, 100/01 (T), 115, 641. D a s V e r s m a ß als S t i m m u n g s t r ä g e r S. 101, 207/08. D a s M e t r u m (Quantität, Akzent, Takt usw.) S. 61, 75, 94, 207/08, 427, 506, 540, 574, 640. B e w e r t u n g bzw. E n t w e r t u n g v o n R e i m (und Metrum) S. 60/61, 94, 100 (T), 101, 253 (T), 254/55, 427, 439, 440 (T), 441 (T), 567. M e t r u m o d e r R h y t h m u s S. 9 4 , 1 0 1 , 1 1 5 , 253, 276,462, 561,593. Der dichterische Schaffensvorgang (und seine Voraussetzungen) A l l g e m e i n e s S. 1—3, 79, 80, 93, 110, 128, 167/68, 171/72, 188f., 192, 199, 201, 205, 212, 326, 395/96, 401, 405, 422/23, 464. 557. 584, 585. 627, 644. B e g a b u n g u n d A n l a g e S. 2/3, 60/61, 62, 73, 75, 77, 87, 162, 191 u. ö., 401, 424, 446, 448, 461, 502, 645. S c h ö p f e r i s c h e P h a n t a s i e , E i n b i l d u n g s k r a f t (und nachschaffende Phantasie beim Kunstwertaufnehmenden) S. 18, 44, 73, 75, 76 (T), 77, 79, 8i, 82, 87 (T), 90, 96, 99, 144/45, 146, 171/72, (200), 208/09, 211, 326, 328, 332, 395. 396. 401, 439, 461, 490, 492, 564, 572, 576, 5S0, 583, 58S, 594, 598, 606, 618, 619, 647. K o m b i n i e r e n d e „ P h a n t a s i e " S. 41/42, 60/61, 62, 77, 87, 103, 167/68, 192, 201, 2S6, 507. P r o d u k t i o n s f ö r d e r n d e bzw. p r o d u k t i o n s h e m m e n d e F a k t o r e n S. 110, i n , 162, 166, 171/72, 189—91, 192, 212, 328/29, 387, 401, 405, 439, 446, 597, 624. 43 M a r k w a r d t , Poetik II

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VERZEICHNIS DER BEGRIFFE, MERK- UND KENNWÖRTER

V e r h ä l t n i s von P r o d u z i e r e n u n d T h e o r e t i s i e r e n (bzw. Kunstwollen und Kunstschaffen) S. 2/3, (24), 62, 69, 91, 103, 108, 113, 116, 118, 132, 147/48, 153, 157, 160, 164, 171/72, 181/82, 185, 190, 193, 195/96. 199. 201/02, 218, 220, 221, 224, 233, 235, (237), 239/40, 260/61, (263), 265, 269, 280, 409, 437, 450/51. 533. 546. 593. 627, 628. 632, 633. 634 W e r k i m m a n e n t e P o e t i k (vgl. Exkurse). Erfindung und Formung Allgemeines S. 167/68, 170, 184, 326, 335, 395, 427, 518, 520, 560, 603. E r f i n d u n g s b e g r i f f S. 60, (64), 79, 92, 165, (167), 170, 291, 327. 333. 358E r f i n d u n g u n d Stoff S. 11, 60, 71, 79, 83, 92, 165. E r f i n d u n g u n d E i n f a l l (bzw. Eingebung) S. 61/62, 73, 132, 168, 244, 327, 354, 445, 490, 588, 589 (vgl. auch Einzelbegriffe). V e r h ä l t n i s von E r f i n d u n g u n d F o r m u n g S. 1—3, 60, 170, 212, 220, 266, 395, 539. F o r m b e g r i f f (Formungswille, Komposition usw.) S. 1, 8, 10, 11, 13/14, 15, 27/28, 31, 37, 57, 60, 62, 68, 91, 184, 191, 220/21, 266, 281 f., 287, 436, 437, 444, 561, 603, 613, 614, 654. D a r s t e l l u n g s b e g r i f f S. 326 (T), 327, 330, 355, 415, 429, 436, 437/38, 440/41. 563. 577, 584, 585, 589, 590. F o r m e n d e P r ä g u n g (Sentenz usw.) S. 212, 219, 390, 405, 413, 427/28. B i l d l i c h e r F o r m u n g s w i l l e (Metapher, Allegorie, Symbol und Allgemeines) S. 9, 49, 80, 82, 84, 93, 110, 120, 122, 123, 130 (T), 155, 1S9, 209, 211, 212, 215, 232, 366, 381, 386, 390 (T), 437/38, 458, 495. 54i. 543. 544. 563. 594. 596K l a n g l i c h e r F o r m u n g s w i l l e (Klangmalerei, akustischer Formungswert) S. 80, 176, 208, 281, 381 u. ö. (für die metrische und rhythmische Formung vgl. auch: Metrik und Dichtkunst). V e r h ä l t n i s von O r d n u n g u n d A n o r d n u n g (und von Ordnungssinn und Schönheitssinn) S. 33/34. 57. 63/64, 70, 115, 167, 181, 192, 268, 324, 487, 490, 539, 578.

VERZEICHNIS DER BEGRIFFE, MERK- UND KENNWÖRTER

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A u f l o c k e r u n g der O r d n u n g („künstliche Unordnung") S. 28, 34, 192, 268, 294, 363, 551, 578.

S p r a c h s t i l i s t i s c h e F o r m u n g (vgl. Sprache und Dichtkunst). Geschmack und Dichtkunst Allgemeines S. 19, 20, 38t., 46, 48, 49f., 76/77, 86, 89 (T), 91, 147, 156, 190, 196, 214, 274, 277, 290, 352, 389 (T), 436, 442, 484, 486, 489, 516, 517, 550, 554 (T), 558, 560, 561, 563. 564. 579. 641-

G e s c h m a c k s t h e o r i e u n d G e s c h m a c k s d e b a t t e S. 38!, 46, 48, 49 (T), 50—54, 62, 76 (T), 86 (T), 91, 153/54, 241, 243, 250, 261 (T), (268), 274 (T), 279, 282, 343, 352, 436, 443 (T), 484. 486 u. ö.

W o r t b e d e u t u n g (metaphor.) S. 49, 50, 147, 484. „ G u t e r G e s c h m a c k " S. 39, 49 (T), 50, 53 (T), 54, 56, 68, 89, 161, 268, 449, 484.

V e r h ä l t n i s von Geschmack u n d V e r n u n f t S. 50—54, 56, 62, 64, 86, 161, 230, 243, 252, 448, 486.

Geschmack als T u g e n d auf ä s t h e t . Gebiet S. 5, 53,154, 315. E n t w e r t u n g des Geschmacks S. 20, 55, 277, 290, 292, 397, 410, 436/37. 443. 449-

R e l a t i v i t ä t des Geschmacks S. 38!, 48, 52, 61, 436, 437, 443. E n t w i c k l u n g des G e n i e b e g r i f f s aus der Geschmackst h e o r i e S. 19, 38, 39, 50/51, 61, 86, 97, 154, (333), 389, 403, 418, 550.

E r z i e h u n g s f u n k t i o n des G e s c h m a c k s (vgl. Erziehung und Dichtkunst). Genie und Dichtkunst Allgemeines S. 2, 3, 19, 133, 146, 165, 166, 169 (T), 174, 175, 188, 193/94. 226f., 249, 328, 336, 351 f., 355, 356, 379, 387f., 403, 405, 412/13, 420, 422/23, 428, 471, 473, 526, 561, 582, 608, 618, 638 u. ö.

D e f i n i t i o n des G e n i e b e g r i f f s (kunstverstandesmäßig) S. 31, 110, 209, 561. 644, •3«

(146), 165, 166, 168, 169 (T), 170, 175, 199/200, 201, 215/16, 316, 352—355. 387. 403. 516, 526, 540, 542/43. 573. 577. 578, 582, 592, 608, 612, 615, 618, 626, 637, 645, 651.

676

VERZEICHNIS DER BEGRIFFE, MERK- UND KENNWÖRTER

U m s c h r e i b u n g der G e n i e v o r s t e l l u n g (kunsterlebnismäßig) S. 1 1 2 ,

420,

133,

(168, 173),

1 7 5 , 3 1 6 , 3 5 3 , 387, 505/06,

412,

425, 448/49, 4 6 3 , 4 7 1 , 4 7 3 , 5 3 1 / 3 2 , 5 7 8 , 5 8 3 , 6 0 8 , 6 1 2 , 6 1 4 , 617, 6 5 1 . M e r k m a l e des Genies (Autonomie, Selbstherrlichkeit, Schnelligkeit usw.) S. 1 3 3 , 1 5 0 / 5 1 , 1 6 6 , 1 6 7 / 6 8 , 1 6 9 , 1 7 0 , 1 9 4 , 2 2 8 , 421,

424,

(249), 3 0 5 , 3 2 8 , 3 5 3 , 3 5 5 , 3 6 6 , 3 7 9 , 4 0 1 , 4 1 2 , 4 2 0 , 4 2 1 , 4 2 2 ,

424, 449, 473, 517, 526, 531/32, 550. 558. 561, 601, 644 (T). A b h e b u n g u n d A b l ö s u n g des Genies von „ G e s c h m a c k " u n d „ T a l e n t " (bzw. „Witz") S. 2 0 , 3 2 / 3 3 , 1 3 4 , 1 5 1 , 166, 1 7 0 , 200, 3 5 2 , 3 6 7 , 4 1 2 , 4 2 1 , 448/49, 550.

A b h e b u n g v o n G e n i a l i t ä t u n d G e l e h r s a m k e i t (Verhältnis von Genie und Gesetz bzw. Regel) S. 1 6 7 , 1 6 8 , 1 7 1 / 7 2 , 1 7 3 , 1 7 4 , 1 9 3 , 194, 1 9 5 , 196, 200, 2 0 1 , 207 (T), 297, 3 1 6 t . , 3 1 9 , 328, 387, 425, 448,

(582/83), 599,

644.

Genie u n d O r i g i n a l i t ä t (und Verhältnis von Genie-„Haben" und Genie-,,Sein") S. 3, 113, 144/45. !4 6 . 166, 169, 194, 2 0 0 , ( 2 2 5 ) , 226 (T), 2 2 7 / 2 8 , 2 3 3 , 3 0 2 , 3 1 6 (T)f., 3 5 5 , 385/86, 387, 391, 405, 421, 422/23, 425, 429, 442, 446, 4 4 9 , 5 4 4 , 5 7 8 , 583, 5 9 2 , 6 0 1 , 6 4 3 . Genie u n d P r o d u k t i v i t ä t (Schöpfungskraft) S. 2, 15, (74), 191,

326, 358, 362/63, 391,

395,

401, 405, 412,

420/21,

461 (vgl. auch: Der dichterische Schaffensvorgang). G e n i e k u l t u s S. 172, 187, 191 u. ö., 405, 413, 420/21, 423, 424, 444—46 u. ö. Genie u n d N a t i o n (Nationalgenie) S. 20, 133/34, 180, 350, 423, 449,

619.

Das Schöne, Erhabene, Wunderbare usw. D a s Schöne S. 11, 51, 54, 61, 93, 111, 130 (T), 137 (T), 140, 186, 2 0 7 (T), 2 0 8 , 2 1 0 , 2 7 2 (T), 2 7 4 (T), 2 7 5 , 2 7 9 , 2 8 4 , 2 8 6 , 330 (T), 334. 354, 395. 397. 4 " . 427. 440, 443/44- 484, 4 8 5 , 527, 5 4 1 , 5 4 3 , 5 6 1 , 5 6 3 , 5 6 4 , 571 (T), 5 9 0 , 6 4 5 . D a s E r h a b e n e S. 11, 77, 83, 85, 127 (T), 128, 130 (T), 135, 144, 1 5 1 , 199, 207 (T), 2 i o , 330f., 4 1 9 , 440, 467, 533. 561, 578,

587, 590, 5 9 3 , 6 1 7 , 6 1 8 , 6 2 4 . D a s W u n d e r b a r e (vgl. unter dem Merkwort: Religion und 2 Dichtkunst) S. 1 6 / 1 7 , 3. 35. 5®, 58, 8 2 , 8 3 / 8 4 , 8 9 , 90, 93, 94, X14 (T), 1 3 5 . 227, 230, 3 1 0 , 3 1 9 , 4 3 1 / 3 2 , 488, 492, 495, 500, 5 1 9 , 558, 560, 588,

601.

435,

VERZEICHNIS DER BEGRIFFE, MERK- UND KENNWÖRTER

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D a s „ W i t z i g e " (Espritvolle) S. 15, 27/28, 39, 62, 70, 77, 96, 98 (T), 105, 132, 135. 153/54. 156, 209, 2io, 243, 334, 354, 403, 426, 439, 448, 489/90, 578, 579, 580, 581. D a s „ R ü h r e n d e " S. 77, 83, 131, 132, 141, 156—59, 199, 273, 417. 453. 556, 647, 648. D a s N a i v e (Einfalt, „Simplicität" usw.) S. 4, 7, 14, 155, 199, 215 (T), 243, 264, 266, 268, 271, 275/76, 282, 288, 440, 450, 470. 533. 645. D a s T r a g i s c h e (u. seine Spielformen) S. 85, 107, 142, 157, 199, 406, 434/35. 454. 533. (642). 653. D a s K o m i s c h e (u. seine Spielformen) S. 6, (83), 107,135,139(T), 141—43, 154 (T), 157 (T), 264—66, 434/35, 440, 563, 565, 567. 575. 592. 620, 639. D a s S a t i r i s c h e S. 71 f., 162,163, 164, 481, 511, (515), 546f., 557, 574. 631. D a s C h a r a k t e r i s t i s c h e S. 195, 208, 209, 220/21, 397, 399, 410, 411/12, 414, 421, 439, 441, 442, 449, 458, 494, 475, 500, 531. 562, 59°. 593. 616, 621, 628, 629/30. D a s T y p i s c h e (Ansätze zum Typusbegriff) S. 8, 188, 212, 213, 214, 510, 629, 634. D a s A n m u t i g e u n d „ G e f ä l l i g e " (vgl. Rokokohafte Wirkungswerte). Rokokohafte Wirkungswerte (Anmut, Grazie, „Scherz", das „Gefällige" usw.) A n m u t u n d G r a z i e (moralische Grazie usw.) S. 6, (11), 209, 237, 240, 243 (T), 245, 246, 247 (T), 249 (T), 250, 260, 272, 273 (T), 274, 275 (T), 276 (T), 277 (T), 278, 283, 285, 562, 569, 570, 572, 574. A n m u t u. S c h ö n h e i t , „ R e i t z " u. G r a z i e (Verhältnis u. Abstufung) S. 247, 272, 273 (T), 274, 274,275, 276, 283, 284, 417. D a s „ S c h e r z h a f t e " u n d „ W i t z i g e " (Verhältnis u. Abstufung) S. 6, (15), 38, 237, 2 4 1 - 4 3 (T), 251, 252 (T), 265, 275, 315, 324. (334). 562/63, 566. D a s „ G e f ä l l i g e " , A n m u t i g e u. S c h ö n e (Verhältnis u. Abstufung) S. 6, 237, 244, 245, 246, 247, 258, 273, 278/79, 282/83, 285, 565. D a s „ K l e i n e " , „ N i e d l i c h e " , S p i e l e r i s c h - T ä n d e l n d e (zugleich Vorform des Spieltriebes u. d. „romantischen Ironie", d. rokokohafte Ironie als Entwicklungsvorfonn

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der „romantischen" Ironie) S. 238, (242), 243 (T), 247

bis 249 (T), 258/59, 261, 275, 566, 615.

Sonderform der Anakreontik u. Graziendichtung (u. deren theor. Rechtfertigung) S. 249, 250, 252, 257, 267 bis 271, 275, 283, 289, 620, 637. „ F r e u d e " als Lebensfreude u. als „ S p i e l f r e u d i g k e i t " („Laune" u. „Humor") S. 247, 251, 259 (T), 275. H o g a r t h s „Wellenlinie" (u. Schönheitsspirale) S. 238, 272, 285, 516, 546/47. 552, 562, 569» 571Abwehr des Rokoko-Geschmacks S. 347, 348, 354, 417, 442, 449, 450, 580. Dichtungsgattungen (Sonderformen und Arten) Allgemeines S. 13, 77,179, 197, 202, 353 (T), 354, 356, 357, 371, 379. 392, 393 u. ö., 455, 555, 557, 590, 597. G a t t u n g s g l i e d e r u n g (Wahl der Gattung u. genetische Wesensbestimmung d. Gattungen, Sonderformen u. Arten) S. 1x4, 115, 130, 158, 197/98, 202, 353, 354, 365, 371, 379 u. ö., 558—60, 590, 600, 621/22.

G a t t u n g s b e w e r t u n g (Rangstufung d. Gattungen; Lockerung d. Gattungsgesetzlichkeit) S. 65/66, 96, 113 u. ö., 351, 354, 356, 371, 379. 434. 455/57. Billigung u. B e f ü r w o r t u n g neuer Gattungen (bzw. neuer Sonderformen) S. 44, (100), 113, 114, 141, 148, 160 u. ö., 574Dramatische Gattung (Dramen-Theorie) Allgemeines (u. Rangstufe) S. 68—71, 89, 91, 101/02, 149, 158, 196, 202, 206, 210, 216, 287/88, 319, 351, 354, 358, 393,

406f„ 430/31. 434. 452. 454. 462, 463, 497. 556/57. 592. 600, 603, 636, 610, 621, 622, 625, 647, 653, 656.

Wirkungsziel d. D r a m a s S. 1, 85, 107, 127, 132, 166 (T), 171, 179, 197, 198/99, 210 u. ö., 434, 452, 456/57. 525. 534. 535. 631, 640.

Inhalt u. Personenbestand (bzw. Personengruppierung) S. 5, 85, 92, 136, 138, 141, 199, 213, 303, 406, 409/10, 455 u. ö., 600, 627, 633, 656, 657, 658,

Komposition (u. Gebrauch d. Chors) S. 92 u. ö., 515, 556, 601, 633, 640.

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Gesetz d. drei Einheiten (Handlungseinheit, Ortseinheit, Zeiteinheit) S. 59, 92, 1 0 0 , 1 8 0 , 1 8 6 , 193, 1 9 7 , 2 6 8 , 2 9 2 , 3 2 0 , 3 9 8 , 410/11, 488, 489, 4 9 8 , 557. Tragödie, Bürgerliches Trauerspiel u. Schauspiel (Sonderformen d. Dramas) S. (85), 1 5 7 , 1 8 0 , 1 9 7 , 2 2 7 , (265), 407, 4 3 4 , 4 5 5 , 5 2 3 , 5 2 5 , 5 3 4 , 5 3 5 , 5 3 6 , 5 7 3 , 5 9 3 , 6 0 1 , 6 2 0 , 6 2 1 , 6 2 6 , 6 2 7 , 6 3 0 , 6 3 2 , 633. Komödie (Lustspiel, Sonderausprägung) S. 1 0 0 (T), 1 0 7 , 1 2 7 , 1 4 3 , 158 (T), 159,198, 2 3 1 , 4 8 1 , 5 2 1 , 5 3 6 , 546. Satirische „Verlachkomödie" u. Literatursatir. Komödie S. 88, 1 8 8 , 1 9 8 , 290, 5 2 1 , 5 3 6 , 6 3 1 , 6 3 4 . Rührendes Lustspiel S. 1 1 3 , 1 3 1 , 1 4 1 , 1 5 7 (T), 1 5 8 , 1 8 0 , 1 8 8 , 193. 434. 453. 481. Schäferspiel S. 89, 1 3 1 , 1 5 3 , (236), 266, 2 6 8 , 2 6 9 , 2 7 0 , 4 3 4 , 4 8 9 , 620. Singspiel u. Oper S. 4 3 , 4 4 , 59, 6 3 , 6 5 , 1 3 0 , 1 4 0 , 1 4 4 , 1 4 6 , 2 3 3 , 248 (T), 2 6 3 , 2 6 7 , 4 2 6 . Epische Gattung (Epos und Roman) Allgemeines S. 1 2 , 64, 1 2 0 , 206, 2 3 1 , 3 0 9 , 3 4 6 , 3 5 7 , 3 6 5 , 3 9 2 , 3 9 3 . 4 0 7 . 4 3 0 / 3 1 . 4 4 7 (T), 488, 4 9 J / 9 2 , 5 * 5 . 5 4 4 . 5 4 6 . 5 5 7 . 5 5 8 , 5 7 4 . 5 9 ° . 600, 6 0 3 , 6 1 0 , 6 2 1 , 6 2 2 , 6 4 2 . Verhältnis von Epos und Roman (Rangstufe, Roman als Ablösungsform d. Epos usw.) S. 6 5 — 6 7 , 9 2 , 1 1 4 , 115, 1 1 6 , 1 1 7 , 1 1 8 , 2 x 7 / 1 8 , 219, 2 2 2 , 3 5 4 , 5 6 1 . Wesen und Wirkungsziel von Epos und Roman S. 1 1 8 , 1 4 4 , 197/98, 2 1 6 — 2 2 6 , 447, 561, 574. Sonderformen des Romans (u. Roman-Komposition) S. 1 1 8 , 2 2 0 , 2 2 2 , 223, 286, 5 2 2 , 5 2 4 , 5 4 5 , 546, 5 6 1 , 5 7 4 , 648. Das „Romanenhafte" S. 9 2 , 1 1 4 , 1 1 6 , 117, 2 2 5 , 600. I n h a l t und Personen im Epos (auch im komisch. Epos) S. 1 1 4 , 127, 143, 144, 222, 481. Mythologie im Epos S. 1 4 3 , 346/47, 4 0 7 , 4 9 1 / 9 2 . I n h a l t und Personen im Roman S. 1 1 4 , 1 1 5 , 1 1 8 , 2 2 0 , 2 2 3 , 2 2 4 , 2 2 5 , 2 3 1 , 5 4 5 . 546, 558/59Komisches Epos (u. komische Romanze) S. 6, 6 3 , 1 3 4 (T), 144, 2 3 6 , 261/62, 262—64, 4 8 1 , 5 6 7 , 5 6 8 , 5 7 4 , 6 2 0 , 6 3 2 . Prosa- und Versidylle S. 2 4 2 (T), 2 4 3 , 249, 2 6 9 , 270 (T), 5 7 4 , 575. 581.

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VERZEICHNIS D E R B E G R I F F E , M E R K - UND K E N N W Ö R T E R

P r o s a - u n d V e r s - S a t i r e S. 136, 161 (T)f., (225, 227), 261, 262, 263, 320 (T), 460, 557, 574. P r o s a - u n d V e r s - T i e r f a b e l (u. sonstige Kleinformen, Anekdote usw.) S. 115, 120, 122, 131, 143, 153, 154 (T), 195, 198, 262, 447, 453, 487, 520, 521, 531, 554, 557. M ä r c h e n S. 262, 312, 581, -Epigramm S. 197 (T), 531, 557, 621. Lyrische Gattung (und Sonderformen der Lyrik) A l l g e m e i n e s S. 8, 63 (T), 96, 109/10, 112, 180, 181 u. ö., 308, 319. 336, 342, (358). 370. 378, 379. 392, 393. 407. 433. 434. 456, 556, 557. 577. 59°. 6 o ° - 6 o 2 - 6 o 3 . 610, 621, 622, 641, 655W e s e n u n d W i r k u n g d e r L y r i k S. 110, 180, 181, 182, 308, 369, 370f., 393, 407, 557, 559, 652. L i e d h a f t e L y r i k (Lied, Volkslied usw.) S. 7, 142, 181, 202, 238, 257, 258, 308, 3i2f., 370. 372, 393. 396, 433, 471, 557. 580, 584, 604, 606, 610, 621. O d i s c h e u n d h y m n i s c h e L y r i k S. 60, 63, 130, (180), 181, 207 (T), 222, 256 (T), 316 (T), 354, 356, 371, 378, 407, 456, 464, 467, 542, 546, 557, 577, 587, 590, 591, 600, 621. E l e g i s c h e L y r i k S. 60, 63 (T), 136, 181, 370, 557, 593, 637. S k a l d i s c h e u n d b a r d i s c h e L y r i k S. 22, (319), 323, 375, 424, 448, 450, 468, 589, 591. Einzelbegriffe D e l i k a t e s s e u. P o l i t e s s e S. 46, 50, 52, 154, (247), 250, 526. D a s „ R a u h e " S. 154, 268, 314, 399, (449), 616, 623. D a s D y n a m i s c h e S. 228, 378, 384, 395, 401, 414, 432, 539. D a s „ I n t e r e s s i e r e n d e " S. 206, 207 (T), 208, 212 (T) u. ö., 544, 609, 630. E n t h u s i a s m u s - L e h r e S. 389, 462, 492, 495, 502, 553, 558, 590, 638. D a s „ H e r z " (als Gefühlskriterium) S. 152, 153, 156, 208, 234, 289, 308, 325 (T), 326, 334, 426, 435, 448, 454, 470, 522, 555. 560, 647. E m p f i n d u n g (als Gefühl einerseits, als Vorstellung u. Eindruck andererseits) S. 57, 76, 231, 235, 236, 259, 371, 390, 393, 517, 518, 526/27, 551. E m p f i n d u n g s - T h e o r i e (u. Schwanken der Bezeichnung) S. (56). 76, 83, 85/86, 171 (T), 209, 212, 231, 389.

VERZEICHNIS DER BEGRIFFE, MERK- UND KENNWÖRTER

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I n t u i t i o n S. 228, 354, 355, 363, 366, 390, 421, 445, 644. I m a g i n a t i o n S. 76, 86, 87 (T), 291 u. ö., 523, 542, 543. I l l u s i o n s - T h e o r i e S. 99, 351, 353—55, 412, 505, 541, 628. D a s „ S e n t i m e n t " u. d. „ S e n t i m e n t a l i s m u s " S. 47, 51, 56, 61, 76, (159), 1 6 0 , 1 9 9 , 2 1 5 (T), 254, 3 1 1 , 3 4 2 , 350, 5 3 2 , 5 3 3 .

I n d i v i d u a l i s m u s (u. Subjektivismus) S. 42, 230, 355, 380, 385 u. ö., 4 1 0 , 421, 4 2 2 , 4 2 9 , 430, 4 6 1 , 4 6 2 , 6 4 7 , 6 5 7 . O r g a n i s m u s g e d a n k e S. 27, 329, 391, 395, 426, 428, 463, 532, 544.

583-

V e r h ä l t n i s von O r g a n i s m u s u. M e c h a n i s m u s S. 32, (59), 186, 200, 201, (363), 381.

„ L a u t e G r ö ß e " (Größenkultus, das Kolossalische) S. 4, 8, 14, 24 u. ö., 418, 432, 452, 453, 454, 456, 463, 464—69, 470f., 475, 564. 583. 590, 591. 593-

„ E c h t e V i e l f a l t " (in Abhebung von der edlen Einfalt der Klassik) S. 4, 7, 14, 16 u. ö., 418, 432, 433, 452, 455, 456, 464, 470, 471, 472, 475, 590, 593, 610, 617, 621, 622, 634, 647.

Begriff des „ S c h e i n e n s " (Reservat d. krit. Poetik gegenüber d. Illusionsbegriffen, etwa entsprechend dem Begriff des „Schwebenden" i. d. Literaturphilosophie d. Romantik) S. 1 5 9 , 204, 2 6 1 , 2 6 2 , 3 6 5 , 5 0 5 u. ö.

Verzeichnis der Namen (Namen moderner Forscher sind nur dann einbezogen worden, wenn sie im darstellenden Text Erwähnung gefunden haben. Vornamen wurden nur in Zweifelsfällen angedeutet, bes. um Verwechslungen zu vermeiden. Die über 476 hinausgehenden Zahlen betreffen die Anmerkungen.) Abbt, Thomas 30, 131, 134—140, 146, 149, 2 1 3 , 223, 369, 382, 386,

507. 5i6. Abel, Caspar 161 Abel, Jak. Friedr. 644, 645, 646, 650, 651, 652

Abraham a Santa Clara S. 252 Ackermann, Konr. E. 574 Addison, Jos. 40, 51, 69, 76—78, 82, 86—88, 108, 436, 493,496/97,

584 Adelung 248, 440 Aeschylos 391 d'Alembert 306, 457, 614 Amyot 269, 568 Anakreon 242,246, 247, 2 5 3 , 2 5 7 , 2 7 5

Andreä, J. v. 520 Anton Ulrich v. Braunschweig 69 Ariost 62, 168, 488 Aristophanes 140 Aristoteles 1—3, 26, 41, 43, 44, 57, 62, 81, 83, 89, 9 1 , 108, 1 2 1 , 122, 126, 127, 140, 143, 1 6 1 , 166, 195, 204, 205, 210, 218, 246, 285, 287, 2 9 1 . 3 1 8 , 3 2 1 , 3 5 1 , 373, 390—392. 397, 409, 4 1 1 , 428, 458, 492, 497, 5 1 3 . 536. 545. 557. 565. 572. 627

Arnim, Achim v. 22, 24 Amold 121 Arnoldt, D. H. 500 Arouet 453 Äsop 120, 197 d'Aubignac Hédelin 68,108, 350, 508 Bach, Joh. Seb. 449, 450 Bacon v. Verulam, Francis 5, 120— 122, 364, 501, 548, 559, 599. 600

Banier, Anton 339, 341 Bartas, du 140 Bartholin 342 Baruffaldi, G. 55 Basedow, Joh. Bemh. 553 Batteux, Charles 35, 58, 72, 95—98, 1 0 9 — 1 1 2 , 1 1 4 , 1 1 9 , 158, 174, 177, 194, 197, 204, 208, 291. 307. 335. 336, 354. 386, 434, 458, 488, 500, 5 1 6 / 1 7 , 527, 553, 556, 559,

165, 269, 365. 503, 581

Baumgarten, Alex. G. 13, 23, 25, 3 7 - 3 9 . 45. 53. 55. 56, 72. 76. 86, 90, 9 1 , 93, 109, i n , 1 1 4 , 1 2 1 , 125, 127, 128, 136, 1 6 5 , 169, 170, 173, 175, 182, 220, 243, 252—255, 280, 328, 354, 380, 382, 477, 483/84, 487, 493.

497, 498—504, 512, 517/18, 526, 552/53. 556, 558/59/60. 563/64/65/66, 640, 644

561,

Bayle, P. 65, 488, 613 Beaumont, Francis 233, 569 Beaumont, Henry 272 Becelli, G. Cesare 44 Benin 140 Besser, Joh. v. 65, 83, 486, 491, 501 Beverland, Adrien 598 Bilfinger 501 Biörmer 342 Birken 93, 94, 333, 361 Blackwell 322, 364 Blair, Hugh 319, 320, 373, 380, 604 Blankenburg, Friedrich v. 30, 116, 206, 216—224, 309, 406, 447, 517, 544—546, 559, 561, 567, 600

VERZEICHNIS DER NAMEN Bodmer, Joh. Jak. 42—44, 49, 53, 55, 71. 72. 76—82, 84—88, 90, 93. 96, 149» 15°. 154. l 6 6 > 217, 243. 248, 249, 253, 270, 287, 351, 400, 459, 461, 468, 482/83, 491. 493— 96. 519. 569. 600 Böhme, Jak. 232, 235, 552 Boie, Heinr. Christian 233, 322, 433. 434. 468 Boileau 44, 46/47, 51, 54, 57, 67, 73, 87. 93. 106, 108, i 2 i , 162, 165, 261, 320, 332, 428, 513, 557 Bölsche, Wüh. 376 Boner 520 Bonnet, Charles de 286,572,573,636 Borck, Willi. v. 101 Borinski 157 Borkenstein, H. 70 Bosch 79 Bossu, Le 62, 67, 350, 486/87, 492 Bouhours 28, 40, 41, 46, 47, 52, 61, 65, 482 Bouterwek, Fr. 17, 18, 126 Brand, Adam 548 Brämer, C. 5, 35, 58, 67, 84, 90, 1 1 5 , 1 1 7 , 119-127, 167, 173, 232, 497, 500, 501, 511/12, 513/14, 546, 553, 557 Braan, Heinr. 554 Brecht, Bertolt 493, 505, 510, 632 Breitinger, Joh. Jak. 76, 78, 80, 82—84, 87, 88, 90, 93, 96, 120, 126, 154, 165, 182, 247, 248, 400, 468, 482/83, 491, 493f., 500Î., 512, 519, 557, 561 Brentano 22, 24 Breslauer Anleitung 31, 54, 77, 250, 319 O'Brien, J . 606 Brockes, Barth. Heinr. 83, 260 Bruck, Engelhart v. 48, 152 Bruckner, J . 6x3 Brumoy 108 Bruno, G. 614 La Bruyère 136 Buchner 4 1 1 , 557 Büchner, Georg 185, 392, 416, 459, 632 Button 647

683

Bülow 138, 514 Bürger, Gottfr. Aug. 7, 8, 71, 83, 148, 153, 203, 238, 249, 262, 264, 293—295, 298, 299, 301, 308, 313. 319. 369. 374. 415. 432—444, 446, 448, 449, 457, 468, 471, 555, 562, 571, 581, 639-642 Burke, Edmund 202, 207, 220, 240, 3°5> 467. 526, 563, 564, 646 Burkhard 442 Buschka 169, 340 Buttler 140 Calepio, Graf Pietro dei Conti di 42—44. 77. 84. 85, 88, 482 Callier 68 Callot 140 Camôës 62, 94 Canitz, Fr. Rud. Ludw. v. 49, 65, 252, 486, 501 Castelvetro 41 Cervantes 66, 140, 144 Chapelain 59, 488/89 Chapelle 257 Chassiron, Pierre M. M. de 132, 141, 157. 521 Chaulieu, G. A. de 257 Chaussée, Nivelle de la 108, 157, 521 Christ, J . Fr. 101 Cicero 207, 252 Claudius, Matth. 291, 310, 446, 453, 467-469 Le Clerc 121, 322, 613 Clodius 17, 18, 402 Condillac 595 Congreve, William 87, 108 Conti, Antonio 42 Corneille, Pierre 42, 43, 59, 68, 85, 108, 140, 195, 200, 320, 488/89 Cramer, Joh. Andr. 53, 89, 200, 335 Creuzer 22 Croce, Benedetto 40 Cronegk, Joh. Friedr. v. 251 Crousac, J . P. 40, 42, 51, 52, 56, 58, 68, 487 Crusius, Christian Aug. 563 Cudworth, Ralph 322, 401, 402, 606, 613, 619

684

VERZEICHNIS DER NAMEN

Curtius, Mich. Conr. 124—130, 167, 501, 524/25 Dach 65 Mme. Dacier 43, 46, 51, 62, 67, 121, 161, 162 Dalberg, Heribert v. 400, 555 Dalin, Olaf 339 Dante 328, 631 Darjes 563, 565 Denis, Michael 344—348, 374, 377, 604 Dennis, John 55, 221 Descartes 40,79,86,254,483,486,517 Deschamps, François 69 Desfontaine 73 Despréaux 140 Destouches, Phil. Néricault 108, 157 Diderot, Denis 157, 193, 200, 219, 221, 287, 434, 470, 535, 557, 559. 595. 604, 626, 634 Dorât 328 Dornbliith 60, 126 Dorset 257 Douw 140 Dryden, John 87, 140, 141, 257, 557 Dubos 40, 46, 51. 55. 57. 85. 86, 88, 104, 115, 117, 137, 156, 165, 175. 336, 351» 483. 500. 564 Ducerceau 322 Dtirer 281 Dusch, Joh. Jak. 140, 144, 261, 262, 264, 568 Eberhard 121, 166, 477, 56of., 640 Ebert, Joh. Arnold 257 Eckhof, Konr. 560 Eichendorff, Jos., Frhr. v. 17 Engel, Joh. Jak. 121, 181, 207, 477, 481, 558—560, 561 Ernesti, J. A. 555 Ernst, Paul 214 Erwin v. Steinbach: s. Steinbach Eschenburg, Joh. Joachim 1, 121, 124, 262, 264— 266, 318, 477, 504, 556— 558, 640 Ettori, Camillo 40 Euripides 91, 10S St. Evremont 68, 140, 515

Faber, J. H. 553 Fabricius, Joh. Andr. 123, 126, 570 Falconet 395, 404, 613 Farquhar, George 233 Feder, G. H. 563 Federmann, Dan. 468 Filibien 272 F6n